Kategorie: Analysen

Grundlagentexte

Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russ. Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.05

Anfang des Jahres wechselte der russische Präsident die Pferde. Die neuen Leute hießen Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes, jetzt erster stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Die neue Mannschaft ist im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus an.
Die zurückliegende Privatisierung, daran sei erinnert, bestand bereits aus vier, genauer aus fünf Schüben:
1. Der „wilden Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog;
2. der „kleinen Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche begann; sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe;
3. die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994; sie war als Volksprivatisierung deklariert, welche das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte;
4. Die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Akltienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte.
Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Tatsache ist, daß die Privatisierung nicht das Ergebnis brachte, das sie bringen sollte. Jegor Gaidar mußte bereits wenige Monate nach seinem Antritt das Handtuch werfen. Die darüberhinaus durchgeführten Privatisierungsmaßnahmen führten nicht zu der in Ausssicht gestellten Entmonopolisierung, nicht zur Herausbildung des beschworenen freien Marktes konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht zu der erhofften Entlastung des Staatsbudgets.
Im Gegenteil, zum einen bildeten sich neue Monopole heraus. Sie sind wesentlich Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufgeteilt haben. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte.
Zum Zweiten etablierten sich Schattenwirtschaft und Mafia zum stabilisierenden Element und statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen zum einen und von Staatszuwendungen zum anderen abhängiger, sagen wir, Bereich von  Dienstleistungen.
Zum Ditten endete der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen nicht mit deren Ersetzung durch neue staatliche oder wenigstens private leistunsfähige Träger, sondern mit der katastrophalen Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
In dieser Bewertung waren sich auch so gegensätzliche Autoren in ihren Analysen einig wie Werner Gumpel, der „Rußland am Abgrund“ sieht und Roland Götz, der die neue Mannschaft mit Optimismus begrüßte und sich eine „Fortentwicklung der begonnenen Reformen“ wünschte.
Kein Wunder also, daß sich der Reformschub unter solchen bedingungen an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brach, der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten. Mit formaler Umbenennung taten sie der Privatisierung Genüge, im übrigen aber machten sie weiter wie bisher. Hier und dort ging die Verweigerung sogar bis zum Widerstand, das heißt, der bewußten Aufrechterhaltung oder gar Wiederherstellung der geschädigten oder wie Boris Kagarlitzki es nennt, korrumpierten kollektiven Strukturen.
Wenn jetzt die Privatisierung der „natürlichen Monopole“, die Auflösung von „Subventionsgemeinschaften“ und die „endgültige Entmonopolisierung“ in Ausssicht gestellt wird, dann heißt das praktisch nichts anderes, als daß eben jene nach wie vor bestehenden kollektiven Strukturen jetzt endgültig aufgelöst werden sollen. Nichts anderes verbirgt sich letztlich hinter den Privatisierungsabsichten von Konzernen wie „Gasprom“, den Energie-, Wasser- und Baumonopolen.
Nicht Entmonopolisierung steht im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollen die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr und diverse andere Dienstleistungen, die bisher in vielen Fällen noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für diese Art der Privatisierung steht der Name Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer solchen Politik Modellpolitik machte. Würde dies im großen Maßstab umgesetzt, während gleichzeitig die Produktion schrumpft, Löhne, Pensionen und soziale Unterstützungen nicht oder schlecht gezahlt werden, liefe dies auf eine soziale Explosion hinaus.
Mit der russischen Reform verhalte es sich wie mit der Operation eines Patienten, den man mitten in der Operation auf dem Tisch habe liegen lassen, erklärte mir Leonid Gossmann, psychologischer Berater von Tschubajs dazu im April `97 in Moskau. Jetzt komme es darauf an, die Operation schnell und zügig und noch wesentlich konsequenter durchzuführen als Jegor Gaidar es gemacht habe. Man denke auch daran, ihn wieder enger in die Politik einzubeziehen, wenn er wolle.
Im Westen wurde Zustimmung bis Erleichterung signalisiert. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Denver im Juni wurde der Regierungswechsel für Boris Jelzin zur „Eintrittskarte in die G-8“.  Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen lange eingeklagten „grundlegenden  Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Die russische Opposition kündigte Widerstand an. In landesweiten Streiks rief sie zum Protest gegen das neue Privatisierungsprogramm auf, forderte stattdessen eine konsequentere und gerechtere Steuerpolitik und die Einlösung der sozialen und bildungspolitischen Verpflichtungen seitens der Regierung.

Heute ist von Entmonopolisierung, von zweitem „Reformschub“, von endgültiger Transformation uam. nicht mehr die Rede. Die deutschen Wirtschaftsinstitute konstatierten in ihrem Bericht zur Russischen Wirtschaft stattdessen bereits im Mai `97 den Zusammenbruch des Investitionsmarktes.
Die „Nachrichten für den Außenhandel“, zuvor eher hoffnungsvoll, zitierten Anfang September zustimmend den jährlichen Länderreport der Bundesstelle für Außenhandelsinformationen (BfAI). Darin wurde Nullwachstum, weitere Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes und – als beunruhigender neuer Trend – sogar Stagnation der Importe konstatiert, insgesamt also ein düsteres Bild gezeichnet. ,
Um so mehr sind die neuen Geldmagnaten jetzt in den Blick gerückt, die den „Staat gekauft“ haben, die „großen Sieben“ („G-7)“, wie die deutsche Illustrierte „Stern“ sie kürzlich nannte.   „Die Welt“ sprach von einer „Handvoll Finanzclans“, die „das Land als Selbstbedienungsladen mißbraucht“ hätten.
Der neue Reformschub verwirklichte sich bis jetzt nur als „Krieg der Banken“ und in der öffentlichen Übernahme wesentlicher Regierungsposten durch Mitglieder dieser Clans und er endete zunächst einmal mit der Verdrängung eines von Ihnen, des ehemaligen Autohändlers Boris Beresowski, aus dem Kabinett. Die angekündigten neuen Reformen jedoch blieben auf halben Wege stecken. Das geht von der Steuerreform über die Haushaltsreform bis hin zum neuen Erlaß Boris Jelzins zur Verkaufbarkeit von Grund und Boden, die der Präsident damit nun schon zum sechsten Male seit 1991 erfolglos dekretierte.
Der angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus, bzw. verzehrt sich in lokalen, bzw. regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Die kürzlich nach öffentlichem Säbelrasseln zwischen dem Päsidenten und der Duma schnell beigelegte  Haushaltskrise erscheint sogar eher wie ein Gentlemen Agreement zwischen Teilen des Establishments.

Dies alles läßt den Eindruck entstehen, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Wer in diesem Jahr durchs Land fuhr, erlebte eine Bevölkerung, die sich sogar über die bevorstehende Geldreform nicht mehr aufregen kann. Bei Straßenbefragungen, die ich im Spätsommer in Nowosibirsk, Belowo  und Kemerowo (Kusbass) durchführte, überwogen Antworten wie „Drei Nullen mehr oder weniger – wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“ – das ist – neben dem offiziell ausgeübten Beruf – das „kleine Busyness“, die zweite, oft sogar dritte schwarz ausgeführte Arbeit und die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Wenn man also von Normalisierung spricht, was ist dann ihr Inhalt? Die endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie die Regierungsseite behauptet? Der endgültige Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung des Korporativismus, wie Grigori Jawlinski es nennt?
Es ist Zeit, die neu entstandene Wirklichkeit auch strukturell einer bilanzierenden Analyse zu unterziehen.
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich – Zahlen sind schwer zu nennen – zu mehr als der Hälfte als Barter- Tausch und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft bisher nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze wie Öl, Gas, Wald, Buntmetallen und anderem lebt, die im Raubbauverfahren versilbert bzw. in schweizer und andere internationale Obligationen verwandelt werden.
Mafia? Ja, es gibt die kriminellen „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russ. Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen durchdrungen, als wäre das völlig normal. Soziologen und Politologen, Meinungsforscher und Parteifunktionäre, Opposition, sogar Boris Jelzin selbst sprechen heute gleichermaßen und ohne Scheu von krimineller Privatisierung, krimineller Gesellschaft und krimineller Regierung.
Aber die Mafia ist dennoch nicht alles: Es gibt auch legale Strukturen eines neuen Busyness, es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes, es gibt kontrollierte Staatsbetriebe, es gibt regionale kommunale Wirtschaftseinheiten – allerdings arbeiten diese Kräfte nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen  wildem Kapitalismus und Mafia.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika , Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“  nannte. In einem Aufsatz zur Schattenwirtschaft in der Zeischrift „Osteuropa“ erscheint dieser Tatbestand als „bürokratisch-korporatives Clanregime“.
Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus, die russische, die nachsowjetische Variante des Kapitalismus. Basis sind aber nicht etwa Inkonsequenzen der Reformer, wie immer wieder vorgebracht wird, sondern vor allem die – tief in der russischen Geschichte – verwurzelten Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie vielmehr bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurden sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
Einige Ideologen vergleichen den russischen Koporativismus mit dem italienischen zur Zeit Mussolinis oder gar mit den Vollsgemeinschaftstrukturen des deutschen Faschismus. Damit läßt sich die Notwendigkeit weiterer Privatisierungen dringlich begründen; der historischen Wirklichkeit halten diese Vergleiche jedoch nicht stand. Vergleichbar ist die Übertragung vor- und außerindustrieller Gemeinschaftsformen auf die entstehende Industriegesellschaft.
Darüberhinaus ist aber vor allem anderen festzuhalten: Mussolini und noch mehr die Nazis versuchten solche Strukturen künstlich zu schaffen und mit Gewalt zur Volksgemeinschaft zu überhöhen. In Rußland versucht man, genau andersherum, die gegebenen korporativen Strukturen mit Gewalt zu zerschlagen – und dies nicht erst seit Gaidar: Jegor Gaidars Kreuzzug gegen den Kollektivismus war nur der bisher letzte in einer langen Reihe von Alexander II. über Pjotr Stolypin, von Josef Stalin bis heute.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen.
Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Saslawskajas eine Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Die Stichworte für das, was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, lauten vielmehr: Pluralismus der oligarschischen Klüngel statt Markt und Demokratie;  regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen; Wiedererstarken gemeineigentümlicher Wirtschaftselemente.
Ein Beispiel dafür ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die Stadt Moskau ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.     Ein anderes, scheinbar entgegensgesetztes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt.
So wie in Italien, erst recht aber in Deutschland korporative Strukturen seinerzeit nur mit Gewalt zu etablieren waren, so wären sie in Rußland heute – genau umgekehrt – nur mit Gewalt zu zerschlagen.
Anders gesagt: Eine Widerholung historischer Abläufe ist nicht angesagt. Wir haben es mit einer historisch neuen und bisher einmaligen Konstellation zu tun: Nicht gewaltsame Kollektivierungsstrategien des bekannten mussolinischen oder auch NS-Typs sind zu befürchten. Zu fürchten ist vielmehr – paradox, aber wahr – der neuerliche Versuch der Auflösung bereits vorhandener, gewachsener korporativer Strukturen, denn dies könnte nur, das zeigt der erreichte Stand in Rußland, unter Einsatz rohester Gewalt geschehen.

Veröffentlicht in:  „Blätter für deutsche ind internationale Politik

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