Tokio Juli 1993, Weltwirtschaftsgipfel der G-7-Staaten. Hat Boris Jelzin es geschafft? Eine halbe Million Unternehmen habe man bereits privatisiert, die Inflation unter Kontrolle gebracht, der Rubel stabilisiere sich, so konnte man ihn dort vernehmen. Mit Dank nahm er ein neuerliches Versprechen auf Einrichtung eines mit drei Milliarden Dollar veranschlagten Privatisierungsfonds entgegen. Im Grunde aber, so Russlands stellvertretender Vizepremier, Alexander Schochin, gehe es schon nicht mehr allein um die finanzielle Unterstützung, selbst nicht um die 50 Milliarden, die die G-7-Staaten Boris Jelzin auf ihrer Sonderkonferenz im April in Tokio versprochen hatten, sondern um die Anerkennung Russlands als Großmacht und als Land mit einer funktionierenden Marktwirtschaft. Dazu gehöre, dass die G7-Staaten ihre Handelsbarrieren gegenüber Russland abbauten. Früher oder später, so Jelzin schließlich gegenüber der Presse, werde es nicht mehr Gruppe der sieben, sondern Gruppe der acht heißen.
Das sind erstaunliche Töne, wenn man bedenkt, was Boris Jelzin sich erst vor ein paar Monaten einhandelte, um das Referendum, das ihn als Präsidenten bestätigen sollte, bestehen zu können: Mit der 50 Milliarden-Stütze des Tokioter April-Gipfels im Rücken versprach er, die Renten an die Inflation anpassen, die Minimallöhne verdoppeln, den Bergarbeitern bessere Arbeitsverhältnisse schaffen, den staatlichen Eigenheimbau finanzieren zu wollen. Die Energiepreise, die soeben erst freigegeben worden waren, sollten wieder eingefroren, den Betrieben die Gelder zur Verfügung gestellt werden, die sie brauchen, um den zu der Zeit eben erlassenen Verordnungen des Präsidenten gemäß bei Verkauf, Sanierung und Rationalisierung ihre Belegschaften halten zu können. Das Niveau der Arbeitslosenzahl sollte auf diese Weise gedrückt werden. Schließlich musste Boris Jelzin den autonomen Republiken und den nach Unabhängigkeit von Moskau strebenden Regierungsbezirken auch noch die Verfügung über ihre wirtschaftlichen Ressourcen zugestehen.
Andererseits war klar: Der Präsident muss den Rubel als Leitwährung im ehemaligen sowjetischen Raum stabilisieren. Er muss die Inflation eindämmen, indem er das Haushaltsdefizit in den Griff nimmt und die zügellos druckende Notenpresse an die Leine legt. Er muss den ins Stocken geratenen Privatisierungsprozess vorantreiben, insbesondere die Privatisierung von Grund und Boden durchsetzen. Gelingt ihm dies alles nicht, wird er nicht in den Genuss der 50-Milliarden-Dollar-Kredite kommen.
Investitionen in die Zukunft seien dies, ließen die Amerikaner auf der Linie ihres um ein Reform-Image bemühten neuen Präsidenten Clinton verlauten. Von Hilfe zur Selbsthilfe war in dem Tagungs-Kommunikee` die Rede, von neuen, am sichtbaren Erfolg orientierten Strategien. Das menschliche Gesicht des Kapitalismus müsse den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion erkennbar werden, damit der Transformationsprozesses erfolgreich verlaufen könne. Andernfalls könne es zu bösen Rückschlägen und antiwestlichen Stimmungen mit unabsehbaren Folgen für die sogenannte Weltgemeinschaft kommen.
Neue Töne in der Russlandhilfe?
Es scheint so. Bei genauem Hinsehen erweist sich das Kommunique` von Tokio jedoch vor allem als ein grandioses Medienmanöver, mit welchen dem wachsenden Unmut über die von der Jelzin-Regierung namens IWF, Weltbank und anderen westlichen Institutionen betriebene Politik der Wind aus den Segeln genommen werden soll. Das gilt insbesondere für die Forderungen der gewerkschaftlichen Opposition nach „Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen“. Die versprochenen 50 Milliarden von Tokio waren zunächst nichts anderes als das nicht eingelöste, mit neuen Aufschriften versehene und noch ein wenig weiter aufgeblasene 24-Milliarden Kreditversprechen, mit dem die „G-7“-Länder Anfang 1991 Boris Jelzins „demokratische Revolution“ honorierten.
Das sind unter anderem:
– ein Rubel-Stabilisierungsfond mit 6 Mrd. Dollar,
– ein 4,1 Mrd. Beistandskredit des IWF, sowie ein 4,5 Mrd. Darlehen der Weltbank,
– 14,2 Mrd. für „Strukturreform und essentielle Importe“: Darin verbergen sich 10 Mrd. gewöhnliche Exportkreditzusagen, ebenfalls aus dem Vorjahr, zudem 500 Millionen für (westliche) Investitionen in die russische Ölindustrie sowie „kleinere Posten.
– Schließlich erklärten sich die „G-7“-Chefs bereit, die in diesem Jahr fälligen Auslandsschulden der früheren Sowjetunion zu stunden. Im Gegenzug wurde Russland zur Anerkennung dieser Alt-Lasten gezwungen. Dieser Vorgang wird dem Hilfspaket mit 15 Mrd. dazugerechnet.
Tatsächlich „neues Geld“, in diesem Punkt sind sich sämtliche sonst zerstrittenen Wirtschafts-Berichterstatter und Berichterstatterinnen ausnahmsweise einig, enthält nur der dem IWF von der „G-7“-Konferenz vorgeschlagene neue „Fond für die System-Umwandlung“. Dabei geht es um einen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit, der in zwei Teilen von je 1,5 Mrd. auszahlbar sein soll. Um den ersten Teil zu erhalten, soll in Zukunft das Versprechen genügen, die Geld- und Steuerpolitik, sowie die Hyperinflation in den Griff zu bekommen. Für die zweite Hälfte, die innerhalb eines halben Jahres nachgefordert werden kann, sollen die versprochenen Reformen allerdings schon erste erkennbare Erfolge zeigen müssen.
Dem IWF solle, so hörte man es aus Tokio, damit erleichtert werden, seine Kreditbedingungen herunterzuschrauben, damit aufgestaute Gelder endlich „abfließen“ könnten. Nichtsdestoweniger wurde dies in dem Kommunique` der „G-7“ ausdrücklich daran gebunden, dass Russland seinen politischen Willen zu durchgreifenden Reformen sichtbar mache. Anders gesagt, ob ein Alexander Ruzkoi, zurzeit Vizepräsident und politischer Gegner Boris Jelzins, oder ein durch den Druck der Verhältnisse möglicherweise politisch gewandelter Boris Jelzin selbst die Kredite wirklich erhalten, hängt von ihrem Wohlverhalten gegenüber den westlichen Geldgebern ab.
„Neues Geld“ sind auch die 3,6 Mrd. Dollar „bilaterale Hilfen“, die das Kommunique` ankündigt. Das sind 1,8 Mrd. die Präsident Bill Clinton für Privatisierung und Abrüstung vom US-Kongress beschließen lassen möchte, sowie 1,8 Mrd. die Japan unabhängig von der Rückgabe der Kurilen bereit ist zu geben. Beides sind jedoch Versprechungen, die politisch erst noch durchsetzt werden müssen. Das lässt auch hier alle Hintertüren offen.
Neu ist schließlich die Ankündigung der „Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ (EBRD), kurz Osteuropa-Bank, die im Laufe der nächsten anderthalb Jahre einen Investitionsfond von 300 Millionen Dollar für Klein- und Mittelunternehmen aufbringen sowie eine „Mittelstandsbank“ in der russischen Föderation selbst aufbauen will. Außerdem soll das der Schwerpunkt ihrer Förderungen auf projektgebundene und technische Hilfe gelegt werden. Innerhalb von achtzehn Monaten soll das Programm verwirklicht werden, wie der deutsche Sprecher der Bank, Finanzminister Waigel erklärte – wenn es keine Verzögerungen gibt.
Die Ankündigungen der Europa-Bank, so niedrig das veranschlagte Kapital im Vergleich zu den Größen ist, mit denen IWF und Geldbank rechnen, sind der interessanteste Vorgang im aktuellen internationalen System-Transformationsgeschäft. Hier finden die Probleme, die Hilflosigkeit, aber auch die Suche nach neuen Wegen angesichts einer noch nie dagewesenen Situation ihren ersten institutionellen Ausdruck, mit denen sich die westlichen Finanz-Imperien und ihre östlichen Helfer bei der Aufbereitung der realsozialistischen Hinterlassenschaft gegenübersehen.
Die Bank wurde erst im April 1991 auf Vorschlag des französischen Präsidenten Mitterand gegründet. Die europäischen Länder halten darin die Aktienmehrheit. Die USA sind mit zehn Prozent beteiligt, haben aber kein Vetorecht. Damit ist die EBRF das einzige unter den internationalen Finanzinstituten, in denen die USA nicht mindestens über eine Sperrminorität verfügt. Ungewöhnlich schnell, nämlich innerhalb von drei Monaten nach Gründung, waren seine Statuten verabschiedet. Danach ist ihm die Rolle einer Osteuropabank, faktisch einer regionalen Entwicklungsbank für den Raum der ehemaligen sozialistischen Länder zugeschrieben.
Politisch gesprochen, ist der ehemalige sowjetische Raum damit endgültig zum Entwicklungsgebiet erklärt, nachdem der Beitritt der Sowjetunion zum IWF im April 1991, besonders aber die angestrebte Assoziierung mit der Weltbank bereits in diese Richtung zielten. Der neue Entwicklungsraum wird allerdings von den früheren Entwicklungsländern durch die besonderen Konditionen und Aufgaben unterschieden, die aus der System-Transformation entspringen. Der klassischen Definition der Entwicklungsländer wird damit die neue der Transformationsländer hinzugefügt. Auswertende Studien, auf deren Durchführung gerade die EBRF besonderen Wert legt, beginnen bereits mit der Entwicklung entsprechender Theorien.
Praktisch ist die Osteuropa-Bank zugleich Geschäfts- und Entwicklungsbank. 40 Prozent ihrer Aktivitäten sollen in Projekte des öffentlichen Sektors fließen dürfen. Mindestens 60% dagegen müssen satzungsgemäß auf die Förderung privater Unternehmungen entfallen. Auch werden die Mittel ausschließlich zu Marktbedingungen vergeben.
Dieser doppelten Grundkonstruktion entspricht eine doppelte Zielsetzung der Bank, die sich von den rein stabilitätsorientierten Konditionen, nach denen der IWF Kredite vergibt, aber auch von den nur entwicklungspolitischen Kriterien der Weltbank unterscheidet: Auf der Grundlage der Förderung der Privatinitiative soll die Bank einen Beitrag zur Schaffung demokratisch-pluralistischer Gesellschaftsstrukturen leisten. Das soll zum einen durch Bereitstellung von Beratungsdiensten bei der Errichtung entsprechender Institutionen geschehen, zum anderen indem sie nicht rein wirtschaftliche, sondern ausdrücklich „politische Konditionen“ setzt. Das bedeutet, dass sie Kredite nur an Länder vergibt, die demokratisch-pluralistische Grundsätze teilen, beziehungsweise in ihren Reformen aktiv verfolgen. Das ebenso ausdrückliche Bekenntnis zu Erhalt und aktivem Schutz der Umwelt rundet dieses Ziel ab. Man lässt keinen Zweifel: Exportiert werden soll „demokratische Marktwirtschaft“
Auf der ersten Jahrestagung der Bank im Mai 1992 überraschte der Vorstand Jaques Attali, französischer Sozialist wie Mitterand, mit einer erstaunlichen Bilanz: Im Lauf nur eines Jahres hatte die Bank über 2000 Projekte überprüft; ganze 20 hatte sie für förderungswürdig befunden. Das sei, wie Kritiker anmerkten, zwar mehr als der IWF und Weltbank in fünf Jahren an abgeschlossenen Kontrakten zustande gebracht hätten, aber gemessen am Anspruch der EBRF doch mäßig. Obwohl im Vergleich mit dem IWF und der Weltbank nur mit einem schmalen Grundkapital von 14 Mrd. Dollar ausgestattet, hieß das: Die Mittel der Bank überstiegen damit bei weitem ihre Anlagemöglichkeiten, auf Deutsch: Das Geld lag brach. Sollte die Bank einen Sinn bekommen, musste nach neuen Anlagekonditionen gesucht werden.
Jaques Attali machte keinen Hehl aus den Ursachen für die Misere: Es gebe keine Patentrezepte für den Transformationsprozess, ließ er verlauten. Insbesondere die Privatisierung laufe nicht, wie am Schreibtisch geplant. Das gelte besonders für die UdSSR. Ein wesentlicher Grund für die Misserfolge liege im Fehlen wichtiger Voraussetzungen: Keine Infrastruktur, fehlende gesetzliche Rahmenbedingungen, unternehmens- und investitionsfeindliches Klima, keine funktionierenden sozialen Versicherungssysteme, kein Banksektor, der die nötigen Kredite bereitstelle. Dazu kämen die bürokratischen Unklarheiten und komplizierten Privatisierungsregeln.
Soweit es Erfolge in der Privatisierung gegeben habe, dann ohnehin hauptsächlich in der „kleinen Privatisierung“, also der Entstaatlichung von Dienstleistungsbetrieben, Hotels, Restaurants und kleineren Läden. Die „große Privatisierung“ dagegen sei praktisch noch nicht in Gang gekommen. Das gelte insbesondere für die ehemalige UdSSR. Dort seien von den ca. 50.000 Großbetrieben nicht mehr als eine Handvoll verkauft.
Was Kritiker der Total-Privatisierung im Lande selbst schon längere Zeit mit Begriffen wie nomenklaturische oder bürokratische Privatisierung charakterisieren, was der Volksmund treffend als „Prixwatisierung“ (von „prixwatiwatj = an sich reißen, rauben) bezeichnet, dafür fand Attali vor dem erlauchten Publikum der gut besuchten Banker-Jahresversammlung die Formulierung, die Entwicklung stehe vor der Alternative: „Marktwirtschaft oder eine von der Mafia beherrschte Wirtschaft“. Auch die zu dem Zeitpunkt für Anfang Oktober geplante Massenprivatisierung durch Kupons nach tschechischem Vorbild, sog. „Voucher“, drohe daran zu scheitern, dass die Einzelnen überhaupt kein Verständnis und keine Übersicht über diesen Vorgang hätten, die Mehrheitsanteile in die Hände von Spekulanten kämen und kein starker, produktionfähiger Eigentümer gefunden werde. 1992, schloss Attali, werde nicht die Erfolge bringen, die Boris Jelzin angekündigt habe, sondern werde mit Sicherheit das Jahr der Enttäuschungen sein.
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Der vom Präsidenten der EBRF vorgeschlagene Ausweg offenbarte das ganze Dilemma und auch die Fronten in der gegenwärtigen Transformations-, das heißt nach Lage der Dinge zurzeit, Privatisierungsstrategie: Er setzte sich für die Schaffung eines Sonderfonds für Re-Strukturierungen ein. Im Klartext bedeutet das: für die Aufpäppelung der maroden Staatsbetriebe, bevor sie privatisiert werden, genauer, um überhaupt Käufer für die Privatisierung zu finden.
Ja, mehr noch, Attali stellte die Frage, ob nicht die Erhaltung gewisser staatlicher Sektoren unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des Transformationsprozesses in seiner Gesamtheit sei. Namentlich in der Rüstungs- und Schwerindustrie wie in den Bereichen Stahl, Schiffbau und Kernenergie könne eine solche Restrukturierung nur mit Sondermitteln finanziert werden.
Jaques Attalis Vorschlag wäre in der Praxis gleichbedeutend mit der Korrektur der 40/60-Regelung der „Osteuropa-Bank“. Er war darüber hinaus eine offene Attacke gegen die von IWF und Weltbank vertretene Linie, nach der die Freigabe der Preise und die Total-Privatisierung Voraussetzungen für westliche Kredithilfe sind. Mit dieser Vorgabe hatten die „G-7“-Länder im Juli 1991 den nach einem Weg des schrittweisen Übergangs zwischen staats- und privatwirtschaftlichen Strukturen suchenden Michail Gorbatschow mit leeren Händen von ihrem Londoner Gipfel zurückkehren lassen, während sie parallel dazu mit seinem Konkurrenten Boris Jelzin bereits an der Ausarbeitung eines „Schockprogramms“ nach polnischem Muster arbeiteten, das den allmählichen Weg ausdrücklich verwarf. Einen Monat später war Gorbatschow gestürzt. Boris Jelzin verkündete die Richtlinien des IWF-Stabilisierungsprogramms als Leitlinie seiner Wirtschaftspolitik: Preisfreigabe, Privatisierung, Haushaltsstabilisierung, also Subventionskürzungen und Kürzung der Sozialausgaben, freie Konvertibilität und Stabilisierung des Rubels als Leitwährung im ehemaligen sowjetischen Raum. Innerhalb eines Jahres wollte er die Privatisierung abgeschlossen, die Produktivität auf dieser Basis neu angekurbelt, die Talsohle der Krise durchschritten, die Inflation gestoppt haben.
Das Ergebnis ist genau umgekehrt: Die Inflation beträgt zurzeit 135 Prozent. Das Privatisierungsprogramm stockt. Die Forderung, den Rubel als Leitwährung zu erhalten, erweist sich als Fiktion, für deren Verwirklichung Moskaus Kraft in der G.U.S. und der weiter auseinandertreibenden russischen Föderation nicht ausreicht.
Die Industrieproduktion, so die offiziellen statistischen Daten, ging 1992 um 19 Prozent zurück. Das hat sich zwar in den einzelnen Branchen unterschiedlich ausgewirkt. Im Ergebnis ist aber nicht die erwartete Umstrukturierung in Richtung auf Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung erreicht worden: Vielmehr hat sich der Anteil der Leichtindustrie am gesamten Produktionsvolumen von 16,6 Prozent 1991 auf 7,7 Prozent 1992, der der Nahrungsmittelindustrie von 17,8 Prozent auf 9,6 Prozent verringert. Die landwirtschaftliche Produktion sank um 9 Prozent, in den ersten drei Monaten des Jahres `93 steigerte sich der Schrumpfungsprozess der Nahrungsmittelindustrie auf eine Jahresdurchschnittsrate von 25 Prozent. Im April gab das „Goskomstat“ die Meldung heraus, dass in der Hälfte aller russischen Städte kein Brot, in einem Drittel kein Fleisch zu kaufen sei. Die Weizenernte für 1993 wird nach Erwartung des Landwirtschaftsministeriums 94 – 98 Millionen Tonnen, statt der durchschnittlichen Ernte von 150 Millionen Tonnen betragen. Zur gleichen Zeit aber ist der Anteil der Grundstoffindustrie gestiegen.
Im Übrigen habe die Talfahrt, so die Zeitung „Ökonomia i schisnj“, aber nicht dazu beigetragen, den Anteil veralteter Produkte zu verringern. Im Gegenteil: Der Rückgang betreffe vor allem die neueren und effektiveren Produktionsbereiche. Das technische und industrielle Niveau sinke beständig. Diese Rückschläge erhöhten zugleich die Abhängigkeit von Importen und gleichzeitig verliere Russland seine früheren Anteile am Weltmarkt.
Das resultiert vor allem, ist hinzuzufügen, aus dem Zusammenbruch des Comecon-Marktes, während der „Weltmarkt“, sprich die Grenzen der führenden Industrieländer, nach wie vor gegen „Billigimporte“ aus dem Osten abgeschottet wird. So hat sich im Zeitraum von 1991 bis 1992 der Anteil der exportierten Produktion an der Gesamtproduktion bei Roheisen beispielsweise von 6,5 Prozent auf 2,9 Prozent verringert, bei Stahlrohren von 0,7 auf O,3 Prozent, bei Drehbänken von 4,3 auf 3,3 Prozent, bei Bussen von 1,3 auf 0,4 Prozent usw.
Die Vertiefung der Strukturkrise der Industrie ist begleitet von einer starken Reduktion der Investitionen. Waren sie im Jahr 1991 gegenüber dem Vorjahr um 11 Prozent gesunken, so erreicht das Minus 1992 bereits 26 Prozent. Die Hoffnung, dass im Zuge der Privatisierung Betriebe, Banken und Privatunternehmer verstärkt investieren würden, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil kam es auch hier zu einem Rückgang um 40 Prozent. Nur 8 Prozent ihrer Gewinne verwenden die Betriebe für Investitionen.
Insgesamt hat die Politik der letzten Jahre, so die mehrheitliche Bewertung im Lande selbst, zur Konservierung der alten industriellen Strukturen geführt. Von der Gewerkschaft hört man es in derberen Formulierungen, die an Attalis Warnung erinnern: Die Staatsmonopole hätten sich in Mafiamonopole verwandelt, die von Kauf und Weiterverkauf profitierten, während die Bevölkerungsmehrheit im Elend versinke.
Statt zu investieren, so kann man im Land selbst von Mitarbeitern großer Werke wie beispielsweise der ehemaligen Panzerschmiede des „Kiewwerks“ in St. Petersburg erfahren, werden die Einnahmen aus der reduzierten Produktion, einschließlich der ebenfalls reduzierten Subventionsgelder nicht erst seit Boris Jelzins neuestem Erlass benutzt, um wenigstens die qualifizierten Teile der Arbeiterschaft und der Führungskräfte weiter im Lohn zu halten. Zu diesem Zweck werden Firmenliegenschaften verkauft, um den Bankrott Monat um Monat hinauszuschieben. Das betrifft vor allem Werte aus dem bisherigen sozialen Bereich wie Ferienhäuser, betriebseigene Krankenhäuser, aber auch Lagerhäuser, lang angelagerte Rohstoffe, kurz, alles, was nicht niet- und nagelfest ist und sich irgendwie zu Geld machen lässt: Man lebt vom Eingemachten! Jelzins Erlass kurz vor dem Referendum war nur die Legitimation einer ohnehin geübten Praxis. Dass er damit gegen die IWF-Auflagen verstößt, der die Streichung der Subventionen verlangt, um durch Verkauf oder Bankrottierung der maroden Betriebe den Naturzustand marktwirtschaftlicher Konkurrenz herzustellen, liegt auf der Hand. Vor dem Referendum hat man ihm das großzügig zugestanden. Wie aber wird es jetzt sein?
Ähnliches gilt auf dem Lande. Dort kommen die früheren Staatsbetriebe, also Sowchosen, Kolchosen, durch die Preisfreigabe in die Zange. Auf der einen Seite sehen sie sich frei ansteigenden Preisen für Industrie- und sonstige Fertigprodukte sowie Strom-, Kohle, Öl und Benzin gegenüber, die sie für ihren Betrieb brauchen. Auf der anderen Seite drücken die monopolisierten Zwischenhändlerringe die Preise für Fleisch-, Milch, Korn- und sonstige landwirtschaftlichen Produkte ebenso frei unter die Selbsthaltungskosten. Unter diesen Umständen sind viele Sowchosen und Kolchosen dazu übergegangen, landwirtschaftlichen Anbau und Tierhaltung zu reduzieren, oder ihre Produkte gar zu vernichten und ihr Vieh abzuschlachten.
Der Aufbau einer privaten Landwirtschaft, der ohnehin zur Zeit nicht mehr als 2 – 3 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion umfasst, verfängt sich notgedrungen in demselben Gestrüpp aus zerfallendem, durch die Privatisierungserlasse der Regierung auch noch bewusst liquidierten Kollektivbetriebe zum einen und dem neu etablierten Mafia-Monopolismus zum anderen. Von Markt, freier Konkurrenz, Demonopolisierung und dadurch entstehenden Anstößen zu neuer Produktivität ist vorerst nur die Rede.
Für die aktuellen politischen Auseinandersetzungen ist es übrigens nicht unwichtig zu wissen, dass die die Verordnung zur Umstrukturierung der Sowchosen die Unterschrift Alexander Ruzkois trägt, der diesen Vorgang bis Ende 1993 abgeschlossen haben wollte.
Ebenso katastrophal sind die Auswirkungen des „Schockprogramms“ auf die Sozialstruktur, die in der Vergangenheit über die Zugehörigkeit zu Arbeitskollektiven, also über Sowchosen, Betriebe, Institute und „gesellschaftliche Organisationen“, also die Partei und ihre diversen Massenuntergliederungen getragen wurde. Wenn diese totale Organisationsform des alten Staatssozialismus jetzt zerrissen wird, müssten der neue von wirtschaftlichen Aufgaben entlastete Staat, bzw. privatwirtschaftlich geführte Institute wie Versicherungen usw. nach der Theorie der IWF-Sanierer die Fürsorgepflicht übernehmen. Praktisch aber wird der Staat durch die Auflagen des IWF der Mittel entblößt, die dazu nötig wären und private Unternehmer verfügen weder über das Kapital, noch das Interesse, sich diese absehbar unprofitablen Verpflichtungen aufzulasten. Praktisch führt das zum Zusammenbruch der sozialen Versorgung. Die Transformation des sozialistischen Versorgungsstaats erweist sich so als Weg in die Wolfsgesellschaft, in der der Staat die Verantwortung für das Individuum ersatzlos abstößt. Was Bill Clinton in Amerika für vorrangig reformbedürftig hält, das brutale System der privaten amerikanischen Sozial- und Gesundheitsversorgung, wird von seinen Emissären als Weisheit letzter Schluss in die
ehemalige Sowjetunion exportiert.
All dies bedeutet nichts anderes, als dass die klassischen Rezepte des Finanz-Imperialismus hier an ihre Grenzen stoßen: Russland ist nicht in der Lage, die Auflagen des IWF zu erfüllen; der IWF ist außerstande, sie durchzusetzen. So bekommt die bekannte sowjetische Redewendung „Der Staat tut so, als ob er zahlt und wir tun so als ob wir arbeiten“ nur ihre zeitgemäße Form, wenn der Verfasser des „500-Tage-Programms“, Grigorij Jawlinski, inzwischen zum Kritiker konvertiert, spottet: „Der Westen tut so, als ob er Kredite gibt und wir tun so, als ob wir reformieren.“
Potemkinsche Züge sind dabei nicht zu übersehen: So berichteten die in Moskau lebenden Kontrolleure auf der Herbsttagung des IWF 1992 über einen bemerkenswerten „Trick“, mit dem die russischen Direktoren der Großunternehmen die Auflagen des IWF, insbesondere die der Subventionskürzung unterlaufen: Sie sind dazu übergegangen, sich untereinander beliebig hohe Lieferantenkredite zu bewilligen – im Vertrauen darauf, dass die russische Regierung bezahlen muss. Auf gute drei Billionen Rubel waren diese Kredite im September 1992 nach IWF-Schätzung angeschwollen. Die dadurch in Gang gesetzte Kreditspirale, klagten die IWF-Kontrolleure, habe nicht nur die wirksame Kontrolle der Geldpolitik ausgeschaltet. Die wenigen mit Gewinn arbeitenden Betriebe subventionierten auf diese Weise auch die große Masse der Verlustunternehmen. Gegen diese Dauersubventionierung hätten private Betriebe keinerlei Chance.
Schaurige Geschichten erzählen sich die Finanzfachleute auch über den Kompetenzwirrwarr in Moskau – aber nicht etwa nur auf der russischen Seite. Das ist angesichts der Machtkämpfe wohl ohnehin klar. Chaos, scheint es, herrscht nicht minder in den IWF-Gremien selbst: Es mangelt, freundlich gesagt, an Koordination. So verlangt die mit den Hauptabwicklungen in Russland betraute Abteilung Europa II den raschen Abbau der Haushaltsdefizite und der Inflation. Die Statistikabteilung besteht darauf, dass erst Daten gesammelt werden müssten, um die Inflationsrate, die Höhe der Staatsverschuldung ua. überhaupt errechnen zu können. Die für die Steuerreform zuständige Abteilung wiederum erklärt ihren russischen Partnern, diese Fragen ließen sich erst regeln, wenn eine Steuerverwaltung aufgebaut worden sei, die neue Einnahmequellen erschließe. Sie alle beraten die Regierung.
Vor diesem Hintergrund sind auch die neuesten Erfolgsmeldungen der russischen Regierungsvertreter in Tokio mit Skepsis zu betrachten.
Es wundert wohl niemanden, dass der Präsident der Osteuropa-Bank mit seiner Kritik auf den erbitterten Widerstand der IWF- und Weltbank-Hardliner stieß. „Ihr sollt die Staatsbetriebe verkaufen, statt sie neu zu finanzieren“, wies ihn der US-Finanzminister Nicholas Bradley vor den 1500 Gästen und 400 Delegierten in aller Öffentlichkeit zurecht. „Sozialistische Träumereien“ entdeckten andere Kritiker bei dem Präsidenten. Inzwischen hat Attali dem Druck nachgegeben und seinen Rücktritt erklärt.
In der Tat, die Vorstellungen Jaques Attalis können ihren Ursprung aus der sozialdemokratischen Tradition nicht verleugnen. Sie decken sich zudem in weiten Strecken mit denen der russischen Opposition gegen die Total-Privatisierung. Das ist die im Westen als alt-kommunistisch beleumundete Direktoren-Union, die sich im Interesse einer anders verstandenen Stabilität und eines langsamen Übergangs gegen die Hauruck-Auflösung der Staatskollektive wehrt.
Ja, es mag ihnen beiden gefallen oder nicht, die Argumente des Bankers decken sich sogar mit denen der gewerkschaftsorientierten Reformlinken des Typs „Partei der Arbeit“, die für eine gemischte Privatisierung eintritt. Darunter versteht sie die Erhaltung, bzw. unter den gegebenen Umständen sogar die Wiederherstellung der Staatslenkung für industrielle Großbetriebe und Teile der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Förderung mittelständischen Privatunternehmertums auf der Basis rechtlicher Garantien des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Übereinstimmung besteht zwischen allen eben Genannten darüber hinaus in der Ablehnung der zur Zeit geübten, durch Bill Clinton soeben wiederholten „Staat-zu-Staat-Hilfe“, des Weiteren in der Kritik an der Zentrums-Fixierung der IWF-Politik, wie sie sich in der an Moskau gerichteten Forderung nach Erhaltung des einheitlichen Rubelraums niederschlägt. Schließlich trifft man sich unter der gemeinsamen Formel „Handel, statt Hilfe“, die nichts anderes besagt, als dass die schönsten Kredite das siechende Russland nur weiter in die Abhängigkeit und Verschuldung stoßen, wenn die Geberländer nicht zugleich ihre protektionistische Politik gegen „Billigimporte“ aus den post-sowjetischen Ländern aufgeben.
Wie wenig diese Positionen jedoch mit den üblichen Links-Rechts-Schemata zu fassen sind, zeigen einschlägige Stimmen von ganz anderer Seite. Alt-Berater Henry Kissinger mahnt die amerikanische Regierung, den Doppelcharakter der „Revolution im Osten“ zu begreifen: die Auflösung des siebzigjährigen Staatssozialismus zum einen und des über hunderte von Jahre alten russischen Imperiums zum zweiten. In einem Land, das niemals Demokratie gesehen habe, hänge deren Entwicklung von komplizierteren Faktoren ab als davon, wie man den Rubel konvertibel machen könne. Auch er fordert den dezentralen Dialog mit den Nachfolgestaaten der Union, anstelle von „Gipfeln“ mit Moskau. Auch er fordert gezielte Hilfe, statt allgemeiner makroökonomisch orientierter Kreditpolitik.
Die „Trilaterale Kommission“, jener halbkonspirative internationale Schatten“gipfel“, in dem sich vornehmlich altgediente bürgerliche Führungskräfte ein Stelldichein geben, appellierte auf ihrer letzten Jahrestagung vor wenigen Wochen an ihre amtierenden Kollegen, sich „gezielten Maßnahmen unter Umgehung der Zentralregierung in Moskau“ zuzuwenden. In Moskauer Machtkampf werde zurzeit nicht zwischen Demokratie und Rückkehr zum Kommunismus, nicht zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus entschieden. Es gehe allein darum, ob Russland sich mit der Rolle eines Nationalstaates unter anderen begnüge, oder ob die Kräfte siegten, die eine Re-imperialisierung anstrebten. Wenn der Westen glaube, er könne Russland beim demokratischen und marktwirtschaftlichen Wandel helfen, verkenne er die Lage. Seine Hilfe könne nur den Sinn haben, Zeit zu gewinnen und darauf hinzuarbeiten, den gemäßigten Kräften zum Durchbruch zu verhelfen, die eine neue russische Gesellschaft ohne imperialen Ehrgeiz aufbauen wollten.
Im theoretischen Corps der „G-7“ werden seit Anfang `92 die Stimmen lauter, die eine Korrektur der Russlandpolitik fordern. Den Einsatz einer „G7 task force“ brachte ein Harald Malmgren im G7-Rat ins Gespräch. „Die Revolution gegen die zentrale Kontrolle“, begründet er seinen Vorstoß, „ist nicht nur eine Revolution gegen den Kommunismus und die Strukturen der Kommunistischen Partei. Es ist eine viel tiefer gehende Revolution gegen die Macht der Zentralbürokratie, die Nomenklatura, und die Clan-Stränge, die Moskauer Entscheidungen lange vor der Revolution von 1917 kontrolliert haben.“ Aufgabe der „G7-task-force“ werde es sein, den Westen von seinem gegenwärtigen Kurs runterzubringen und neue Schwerpunkte zu setzen: Die Unterstützung von selbsttragenden Projekten, die Entwicklung eines Binnenmarktes zwischen den ehemaligen sowjetischen Republiken, die Errichtung eines Büros gegenseitiger Marktkontrolle, eine Clearing-Stelle für den Austausch unterschiedlicher Währungen, eine „Brücke“, über die während einer Übergangsphase der Finanzfluss vom Zentrum zu den ausscheidenden Regierungen geregelt werden könne, wohin immer sie sich wenden wollten.
An Ideen und Erkenntnissen fehlt es nicht, wie man sieht. Auf der im September 1992 stattfindenden Jahrestagung in München aber wurden Boris Jelzins die Bitten um Auszahlung der versprochenen 24 Milliarden abschlägig beschieden. Stattdessen wurde er, nicht anders als ein Jahr zuvor Michail Gorbatschow, mit erneuerten Auflagen nach Hause geschickt. Wenn jetzt neue Töne zu hören sind, könnte das einer Einsicht in die Realität entsprechen, dass eine Fortsetzung der jetzigen Politik die an Weltherrschaft gewöhnten russischen Eliten zu dem Entschluss bringen könnte, die Zuflucht vor dem endgültigen Zusammenbruch der russischen Gesellschaft und damit ihrer Herrschaft in der Mobilisierung ihrer inneren Ressourcen für außenpolitische Abenteuer zu suchen. Ob den Worten der „G-7“ und Co. aber Taten folgen, wird letztlich daran zu messen sein, ob die Märkte des Westens tatsächlich für russische und andere Ost-Waren geöffnet werden. Solange die Transformationshilfen nur darin bestehen, über finanzpolitische Wege eine Zerschlagung der alten Strukturen zu erzwingen, ohne Neues an die Stelle setzen zu können oder – im Fall der eigenen Märkte – zu wollen, ist das ganze Gerede von der Aufnahme der ehemaligen Sowjetunion in den Weltmarkt nur eine Floskel, die verbirgt, dass die ehemalige Sowjetunion in einen neuen Rohstofflieferanten und ein neues Billiglohnland nach dem Muster der klassischen dritte Welt-Länder verwandelt werden soll. Die daraus resultierende soziale Verelendung und moralische Entwürdigung wird sich vermutlich die an den Lebensstandard einer Weltmacht, mindestens entsprechende Ansprüche gewöhnte Mehrheit der russischen Bevölkerung vermutlich auch nicht gefallen lassen. Das könnte ihr Interesse und das ihrer Eliten zu einer unabsehbaren Allianz zusammenführen. Vor diesem Hintergrund haben die Auftritte der russischen Regierung auf der letzten G-7-Tagung im Juli zwar keine ökonomische Glaubwürdigkeit, aber ein großes politisches Gewicht.
Anmerkung
Die Informationen sind der laufenden Presse entnommen, die sich seit 1989 unter den Stichworten „IWF“, „Weltbank“, „Wirtschaft der Sowjetunion“ und neuerdings „Russlandhilfe“ im „Hamburger Weltwirtschafts-Archiv (HWWA)“ einsehen lässt. Dazu kommen einschlägige Fachveröffentlichungen, sowie eigene Recherchen vor Ort.