Kategorie: Artikel zur Lage

Texte zur Transformation

Russland – Vielvölkerstaat oder Staat vieler Völker?

Wer Russland denkt, denkt Vielvölkerstaat. Daran hat sich durch die Trennung der heutigen russländischen Föderation von den Ländern der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ G.U.S. nichts Wesentliches geändert; auch in der heutigen russländischen Föderation leben mehr als fünfzig, manche sagen, mehr als hundert Völker; die Angaben hängen von den Kriterien ab, nach denen eine Gruppe von Menschen als Volk klassifiziert wird. In Sibirien und Fernost allein werden schon mehr als dreißig Völker gezählt; in dem kleinen Dagestan, im Süden Russlands, leben Angehörige von rund fünfzig Sprachgruppen.

Aber heute spricht niemand mehr davon, dass die Russisch-slawische Bevölkerung der Russländischen Föderation von ethnischer Überfremdung bedroht sei; sie stellt die unbestrittene Mehrheit der Einwohneri/innen des neuen Staates. Die ethnischen Mehrheitsverhältnisse im heutigen Russland sind derart eindeutig, dass sie in der vorläufigen Auswertung der letzten Volkszählung vom April 2002 nicht einmal erwähnt werden. Es scheint den Zählern offenbar ausreichend, diese Informationen später im Kleingedruckten nachzuliefern.

Einen herausragenden Platz in den Veröffentlichungen der vorläufigen Ergebnisse der Zählung nimmt lediglich die Behauptung ein, die tschetschenische Bevölkerung habe um ca. 300.000 Menschen gegenüber rund 800.000 bei der letzten Zählung in Tschetschenien von 1998 zugenommen. Das ist, bedenkt man den Verlauf der jetzt fast zehnjährigen Kriegsgeschichte, schlicht als dreiste Propaganda zu werten. Darin ist der Gesellschaft „Memorial“ und anderen Beobachtern vorbehaltlos zuzustimmen.

Reale Zahlen zur Gesamtlage der ethnischen Verhältnisse in Russland findet man in den Ergebnissen des Mikrozensus von 1994. Zu der Zeit, also drei Jahre nach der Trennung der GUS-Länder von Russland, standen in der russischen Föderation einem russischen Bevölkerungsanteil von 83% 3,8% Tataren, 2,3% Ukrainer, 1,2% Tschuwaschen und 0,9% Baschkiren als nächst größere Bevölkerungsgruppen gegenüber. Die übrigen ethnischen Gruppen Russlands haben jeweils weniger als 0,7% Anteil an der Gesamtbevölkerung, manche wie die Keten am oberen Jennessej zählen überhaupt nur nach einigen hundert.

Des ungeachtet ist das kartografische Bild des heutigen Russland von autonomen Gebieten, Republiken und ganzen Landstrichen in der Größe Mitteleuropas oder noch größer durchsetzt, die nach nicht-russischen Völkern benannt sind. So die ethnischen Autonomen Republiken an der Wolga, allen voran Tatarstan, Tschuwaschien und Baschkortastan, dazu Utmurtien, Mordawien, El Mari. So im Kaukasischen über Tschetschenien hinaus auch Dagestan und Kalmückien, im südlichen sibirischen Raum die Republiken Altai, Tuwa, Burjätien, Chakasien, schließlich auch das fernöstliche Jakutien, um nur die wichtigsten zu nennen.

Allerdings stellt keines der Titularvölker in den nach ihnen benannten Gebieten oder autonomen Republiken heute die ethnische Mehrheit. Das gilt selbst für Tatarstan, die größte nicht-russische ethnische Republik der russländischen Föderation, in der 48,5% der Bevölkerung Tataren, 43,3% Russen, der Rest Tschuwaschen, Ukrainer usw. sind. Besonders deutlich wird dieses Missverhältnis zwischen Titularvolk und realem Kräfteverhältnis in den Gebieten Sibiriens, die nach indigenen Völkern benannt sind. Im autonomen Bezirk der JamalNenzen und der Chanten und Mansen im Oblast Tjumen in Nord-Westsibirien etwa machen die Titularvölker gerade einmal 4,2%, bzw. 1,4% aus. (In Zahlen: Chanten 22.521, Mansen 8.459; Nenzen 34.665)

Die Politik Wladimir Putins, der das Land nach seinem Amtsantritt quer zu allen gewachsenen Strukturen in sieben Verwaltungszonen einteilte und deren Chefs sich selbst direkt unterstellte, hat die Eigenständigkeit der autonomen ethnischen Bezirke und Republiken weit hinter das Maß zurückgestutzt, das sie nach der Auflösung der Sowjetunion erreicht hatten. 1991 hatten nicht nur die Tschetschenen, sondern auch die Tataren ihre Souveränität erklärt, die Jakuten hatten Moskau die Verfügung über ihre Ressourcen, besonders über ihre Diamantvorkommen abgetrotzt; andere Völker kamen nicht soweit, entwickelten aber immerhin starke „nationale“ Bewegungen, welche die unterschiedlichsten Teilforderungen gegen Moskau durchsetzten. Selbst die kleinsten sog. kleinen Völker Sibiriens erlebten eine kurze Blüte einer ihnen gewidmeten Aufmerksamkeit, die sie vorübergehend aus Elend der Plattenbauten und kulturellen Vergessenheit befreite. So hatten die Keten 1994 in ihrem Dorf am Jenissej eine eigene Schule, in der sich eine junge russische Lehrerin abmühte, sechs Kinder in deren eigenen Sprache zu unterrichten.

Inzwischen sind all diese „nationalen“ Aufbrüche in den Alltag eines bürokratischen Clinches mit Putins neuer Administration übergegangen, der von Dr. Raffael Chakimow, dem politischen Ratgeber des tatarischen Präsidenten Schamijew so beschrieben wird:

„Wir haben eine autoritäre, ziemlich scharfe Restauration, die ist näher am Leben als früher, weil es im Rahmen der Ministerien einen ziemlichen Druck gibt, vertikal. Aber die Bürokratie wächst und wächst und wächst; es entstanden Hunderte neuer Unterabteilungen in den Ministerien, einfach phantastisch. Das bringt keine Stabilität, das ist ein einfacher parasitärer Vorgang. Tatarstan ist dafür vielleicht nicht besonders charakteristisch, aber selbst hier ist das offensichtlich. Wir haben 25 Ministerien. Wir haben jetzt schon mehr als 30 föderale Abteilungen. Und sie wachsen noch! Aber sie regieren nichts, denn wer regiert, das sind nach wie vor wir, der Präsident. Er verantwortet die Entscheidungen. Putin fragt Schamijew, wenn es um dieses Territorium geht. Faktisch behindern die neuen Ministerien die Arbeit nur. Uns kann man weniger behindern, wir haben ein ziemlich dichtes Kommando. Aber in anderen Regionen ist das natürlich schwieriger, dort ergibt sich daraus eine Destabilisierung, Verwirrung (Russisch: Putinitza) Wenn Gelder mit der Administration kommen würden, dann könnte man sagen, es ist gut. Aber Gelder kommen nicht, sie fließen sogar weniger.“

Die Tataren hatten es 1991 immerhin geschafft, ein Sprachgesetz gegen Moskaus Widerstand durchzudrücken, das die Zweisprachigkeit der Republik verankerte. Heute wehrt sich Kasan gegen Beschlüsse der Moskauer Duma, die den Tataren mit der Begründung, die Benutzung der arabischen Schrift untergrabe die Sicherheitsinteressen der Russländischen Republik, dazu zwingen will, die arabische Schrift nicht mehr zu schreiben und sich wieder allein auf die kyrillische Schrift festzulegen.

Andere Völker haben nicht die Voraussetzungen sich zu wehren wie die Tataren. Schon die Tschuwaschen, nach den Tataren die nächst zahlreiche nicht-russische Volksgruppe im Herzen Russland an der Wolga gleich neben Tatarstan ducken sich vor der Moskauer Übermacht. Zudem wird das Vorgehen Wladimir Putins gegen Tschetschenien als demonstrative Warnung verstanden, was mit denen geschehen wird, die sich seiner Linie nicht unterordnen. Wer aufmuckt, sieht sich in gefährliche Nähe der Terroristen gerückt. „Heute die Tschetschenen, morgen wir“, lautet daher inzwischen die oft gehörte Bestandsaufnahme aus den Kreisen, die nach wie vor an ethnischer Autonomie interessiert sind. Unter solchen Umständen gewinnt die „nationale Frage“ in Russland heute erneut an Schärfe. Dabei wächst den Tataren naturgemäß eine führende Rolle zu.

In Kasan, der Hauptstadt Tatarstans treffen die beiden zahlenmäßig stärksten Religionsgruppen der Russländischen Föderation, Islam und orthodoxes Christentum, gleichstark aufeinander. Vier weitere islamisch geprägter Republiken an der Wolga schauen nach Kasan. Zwischen Kasan und den Ländern der G.U.S, insonderheit Usbekistan, bestehen traditionell enge Beziehungen. Die Mehrheit der Kasaner, generell der tatarischen Muftis hat zu Sowjetzeiten zusammen mit islamischen Geistlichen, die heute in den G.U.S. – Staaten die Islamische Renaissance leiten, gemeinsam die Islamische Universität in Usbekistan besucht. In Kasan setzt man sich intensiv mit den radikalen Formen des kaukasischen Islam auseinander. Zwischen 20 und 25 Millionen Moslem aus allen Teilen der russischen Föderation schauen heute auf Kasan. In Kasan entscheidet sich, ob die beiden Religionen friedlich miteinander in einem säkularen Staat existieren können oder ob sich in fundamentalistischer Konfrontation zueinander entwickeln und dabei das gesamte gesellschaftliche Leben radikalisieren.

In Kasan laufen auch die Linien der heute wieder erwachenden Euroasiatischen Orientierungen politischer Kräfte der Russländischen Föderation zusammen. Auch wenn Moskau, aus administrativen und machttechnischen Gründen, der Sitz der beiden zur Zeit existierenden euroasiatischen Parteien ist, ja, der stärkste Fürsprecher einer euroasiatischen Orientierung Russlands, nämlich Wladimir Putin, selbstverständlich von Moskau oder St. Petersburg aus spricht, so ist das wichtigste Aktions- und Rekrutierungsfeld des Euroasiatismus doch bezeichnenderweise immer wieder Kasan.

Kasan ist das historische, ethnische und kulturelle Zentrum der asiatischen Seite der russischen Geschichte. Kasan repräsentiert die tatarisch-mongolische, auch die nomadische Seite der russischen Geschichte, die bis heute für die meisten der nicht-russischen Völker der russländischen Föderation ihr Herkommen beschreibt, auf dass sich ihre Traditionen beziehen, soweit sie noch erkennbar sind.

Kasan ist das ethnische Zentrum eines Gebietes zwischen Wolga und Ural, dessen Völker sich im Lauf der russischen Geschichte immer wieder in blutigen Aufständen gegen die Vorherrschaft Moskaus zur Wehr setzten. Als „Udel Ural“, wie Wolga-Ural im Tatarischen genannt wird, geistert die Vision eines eigenständigen Kulturraums der nichts-slawischen Völker seit dem Ende des Zarentums durch den politischen Untergrund Russlands; mit Einsetzen der Perestroika trat sie als Forderung nach Bildung eines freien „Udel-Ural“, für die aktiv in den „nationalen“ Kulturzentren und Bewegungen der Wolgavölker geworben wurde, offen in die politische Landschaft. Andere Völker anderer ethnisch kompakter Gegenden lehnten sich an diese Vorstellungen an. Treffen, Kongresse, Konferenzen zur Verwirklichung dieser Vorstellungen, an denen Delegierte aus dem Wolgaraum, aus dem Kaukasus, aus Sibirien und aus Fernost teilnahmen, fanden in den Jahren 1990, 1991, 1992 in Kasan statt.

Heute sind die politischen Forderungen nach Verwirklichung einer freien Gemeinschaft der Völker „Udel Urals“ wieder zurückgesunken auf die Träume einiger weniger Aktvisten. Die Dynamik, die sich in diesen Bewegungen äußert, reicht jedoch dafür aus, zwei gesamtrussischen Euroasiatischen Parteien gleichzeitig die Existenz zu ermöglichen, wobei die eine einen anti-russischen, die andere einen russisch-hegemonialen Ansatz verfolgt, das heißt, die eine will die Völker Euro-Asiens ohne die Russen, die andere will sie unter ihrer Vorherrschaft zusammenführen.

Im Euro-Asiatismus laufen zwei widersprüchliche Linien zur Lösung der Vielvölkerfrage Russlands quer zueinander, imperialer Zentralismus und föderaler, ja anarchischer Pluralismus. Zwischen beiden Extremen, aber nicht minder deutlich und von beiden Seiten zum Beweis der eigenen Bedeutung zitiert, steht Staatspräsident Putin mit seiner Position, die er zu seinem Regierungsantritt äußerte und seitdem in verschiedener Form immer wieder erneuert: „Russland hat sich immer als euroasiatisches Land gefühlt. Wir haben nie vergessen, dass ein grundlegender Teil unseres Territoriums sich in Asien befindet. Die Wahrheit ist, das muss man ehrlich sagen, das wir dieses Vermögen nicht immer genutzt haben. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir zusammen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region von den Worten zur Tat schreiten – die Wirtschaft entwickeln, politische und andere Verbindungen. Alle Voraussetzungen dafür sind im heutigen Russland gegeben. Die volle Beteiligung Russlands an der gegenseitigen Wirtschafts-Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raumes ist natürlich und unausweichlich. Ist doch Russland ein ganz eigener Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.“

Der Ort, an dem Euro-asiatisches Gedankengut am nachhaltigsten gedeiht, wo Konferenzen dazu stattfinden, bei denen auch Wladimir Putin zitiert wird, ist auch unter Wladimir Putins Präsidentschaft wieder Kasan. Wer wissen will, wie Russland Problem der Völkervielfalt regelt, schaut nach Kasan.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

www.kai-ehlers.de

Terror, Anti-Terror – und dann?

Die letzten Tage sind von einer erneuten Welle von Terroranschlägen gezeichnet: Tschetschenien, Riad, Casablanca, Israel. Die Botschaft der Anschläge lautet: Es gibt keine Sicherheit. Die Vertreibung der Taliban, die Invasion in den Irak, das Referendum in Tschetschenien, die erneuten Friedensgespräche in Israel/Palästina haben nicht gebracht, was sie aus der Sicht der anti-terroristischen Kriegführung bringen sollten, eine Einschränkung des Terrors. Im Gegenteil, sie demonstrieren, dass der Terror in dem Maße an Intensität zunimmt, in dem der Krieg gegen ihn verschärft wird. Die scheinbaren Erfolge im Kampf gegen den Terror lassen dessen ungebrochene Kraft nur um so krasser hervortreten.

Deutlicher als zuvor zeigen die neuesten Anschläge, worauf der Terror zielt und wo er ins Zentrum trifft: Er zielt und trifft auf die schwächste Stelle in der Ideologie der Anti-Terror-Koalition, nämlich auf das Versprechen, Sicherheit in einer Welt zu garantieren, die sich von Offenheit, Unsicherheit und möglichen globalen Katastrophen bedroht fühlt.

Das gilt insbesondere für die USA. Aus dem Versprechen, Ruhe und Ordnung herzustellen, zieht die „einzige übrig gebliebene Weltmacht“ die Legitimation für ihren globalen Herrschaftsanspruch. Und es gilt in erster Linie für deren eigenen Bürger, denen sie Wohlfahrt und Sicherheit verspricht, während im Fernsehen stellvertretend für sie Krieg geführt wird. Kann die Regierung diesen Anspruch nicht einhalten, geht sie ihrer Legitimation und ihrer Autorität verlustig. Im Prinzip gilt das gleiche Muster auch für die übrigen Koalitionäre des Anti-Terror-Bündnisses. Bezeichnend für Lage der Dinge ist die Argumentation Tony Blairs nach dem Irak-Krieg, der die Begründung für eine unipolare Welt unter zentraler US-Vorherrschaft allein aus der Behauptung herleitet, eine multipolare Ordnung enthalte das Risiko weltweiter Unruhen und globale Sicherheit könne nur durch eine unipolare Welt unter zentraler Führung der Weltmacht USA hergestellt werden. Die nicht zu verhindernden Terroranschläge beweisen, dass diese Argumentation nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt: Afghanistan ist nicht befriedet, vielmehr ist das Chaos in Afghanistan wieder eingekehrt, nachdem die autoritäre Ordnung der Taliban von außen beseitig wurde, ohne dass im Lande entsprechende Verhältnisse herangewachsen waren. Statt zu einer Entmilitarisierung Afghanistans führt die Politik der ISAF und der Westmächte zu einer erneuten Militarisierung des Landes, die sich in zunehmenden Clankämpfen und Anschlägen ausdrückt. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich für den IRAK ab. Bin Laden und Saddam Hussein sind in den Untergrund getrieben; von dort her breitet sich ihr Mythos als unbesiegbare anti-koloniale Kämpfer mit jedem Anschlag weiter aus.

Nicht viel anders in Tschetschenien: Dort sollte das kürzlich von Moskau aus durchgeführte Referendum über eine neue Verfassung den gelungenen Abschluss der Wiedereingliederung der Republik ins Territorium der Russischen Föderation demonstrieren. Die beiden letzten Anschläge demonstrieren jedoch das Gegenteil, nämlich, dass Moskau nicht einmal in der Lage ist, die von ihm selbst installierte Tschetschenische Regierung und seine eigenen Soldaten zu schützen. In Israel sieht man das gleiche Muster: Kaum werden wieder sogenannte Friedensgespräche geführt, beweisen die Anschläge, daß von Frieden nicht die Rede sein kann.

Kurz gesagt: In den neuen Anschlägen offenbart sich nichts anderes als der Bankrott der von den USA, der NATO und dem internationalen Anti-Terror-Bündnis verfolgten Anti-Terror-Linie. Krieg als Antwort auf den Terrorismus kann zu nichts anderem führen als zu einer Eskalation von Terror und Anti-Terror, in welcher der Terror letztlich am längeren Hebel sitzt, weil er sich aus der Wut vor Fremdbestimmung speist, während der Krieg gegen ihn nur Ängste westlicher Gesellschaften vor dem Verlust tatsächlicher oder auch nur vermeintlicher Sicherheit instrumentalisiert.
Diese Klaviatur aber wird in dem Maße unbrauchbar, wie der Krieg eskaliert und das Versprechen auf Sicherheit sich in sein Gegenteil verwandelt, nämlich in die Angst, selbst Opfer von Anti-Terror-Maßnahmen im eigenen Lande zu werden. Diese Maßnahmen beginnen bei wirtschaftlichen Einschränkungen im Interesse der anti-terroristischen Kriegführung und gehen bis hin zum Abbau demokratischer Rechte in den kriegführenden Ländern selbst. In den USA ist das bereits seit längerem zu beobachten, Putins Kurs hat Russland vereist, in Israel herrscht offener Krieg, zunehmend wird die Tendenz zur Einschränkung von Bürgerrechten inzwischen auch in Europa sichtbar.

Bei dieser Linie werden irgendwann auch die Kritiker des eigenen Landes zu Sympathisanten des Terrorismus. Von da zur Eröffnung einer inneren Front gegen den Terrorismus ist es dann nicht mehr weit. Gegen eine solche Entwicklung hilft nur ein deutlicher Paradigmawechsel in der Politik, der den zivilen Weg der gleichberechtigten Kooperation mit den Ländern, aus denen der Terrorismus herüber schwappt, vor dessen militärische Bekämpfung und vor die Erpressung und Bedrohung dieser Länder stellt. Sicherheit kann sich nur aus Vertrauen ergeben. Das könnte die europäische Botschaft sein, die der Eskalation von Terror und Gegenterror entgegengesetzt werden kann.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

Europa – Modell oder Festung?

Europa ist ins Gerede gekommen. Vom alten Europa wird gesprochen, vom neuen, von europäischer Schwäche, von notwendiger europäischer Stärke. Der Euro ist dabei, den Dollar zu überholen, aber die europäischen Kernwirtschaften sind in der Krise. Was ist los mit Europa? Ist Europa das Modell für die Gesellschaft von morgen oder ist es ein Überbleibsel von gestern, das sich gegen den Fortschritt der Globalisierung abschottet?

Europäische Intellektuelle streiten: Der französische Philosoph André Glucksmann nannte Europa einen Vogel Strauß, der seinen Kopf vor der Realität in den Sand stecke. Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger kleidete seine Kritik an einem, wie er meint, handlungsunfähigen Europa in das Bekenntnis, der Fall Saddam Husseins habe ein Gefühl des Triumphes bei ihm ausgelöst. Professor Jürgen Habermas erklärte, zugleich mit dem Sieg über den IRAK hätten die USA ihre moralische Autorität eingebüsst.

In der Welt der ehemaligen europäischen Kolonien sind die Sympathien klar verteilt: Europa ist der Traum, die USA sind die Wirklichkeit. „Europa“, sagte kürzlich der Vorsitzende einer städtischen afghanischen Gemeinschaft zu mir – einer von denen, die nach dem Rückzug der Sowjets aus Afghanistan ins Exil gingen und heute von Europa aus um den demokratischen Aufbau Afghanistans bangen: „Europa, das war für uns in Afghanistan, seit ich denken kann, immer der zivile Weg der Entwicklung: Das war Wohlstand, Frieden und Toleranz, Pluralität. Die USA stehen bei uns für das Gegenteil: Sie stehen für Gewalt, für Zerstörung von Tradition und gewachsener Identität. Das Problem mit Europa ist, dass es dabei zuschaut.“ Solche Töne hört man nicht nur aus afghanischem Munde: „Ihr wachst zusammen, wir dagegen zerfallen,“ so schallte es dem europäischen Reisenden zu Hochzeiten der Perestroika auch aus dem Kernland der Transformation, aus Russland entgegen. Und auch in Russland wird klar zwischen Europa und den USA unterschieden.
Ethnische Entmischung, kulturelle Differenzen, wirtschaftliche Ungleichheiten sind in der globalen Umbruchsituation, welche auf die Öffnung der bi-polaren Welt zur Globalisierung folgte, heute weltweit das Problem Nummer eins. Europa verkörpert die Vision einer Ordnung, die über das gegenwärtige Chaos hinausweist – und zwar nicht trotz, sondern wegen seiner Schwäche. Während der Invasion in den IRAK wurde Europa gerade wegen seiner mangelnden Kriegsbereitschaft für viele zur Hoffnung auf einen zivilen Weg aus der Krise.
Ist Europa heute also der Träger des allgemeinen demokratischen Impulses, während die USA das koloniale Erbe des alten Europa in einem neuen Empire globalisieren? Ist Europa der Phönix, der aus der Asche der europäischen Kolonialordnung als Guru einer neuen pluralistischen und kooperativen, kurz: demokratischen Völkergemeinschaft wiedergeboren wird?

Zunächst muss man wohl wissen, was Europa nicht ist: Europa ist keine feststehende Größe, Europa ist ein Prozess: Europa – das war ein mühsamer, immer wieder von Kriegen und Katastrophen zurückgeworfener Aufstieg vom Spätentwickler der Menschheitsgeschichte zur imperialen Vormacht der Welt, Europa – das ist der Fall von dieser Höhe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – die Weltkriege, der Faschismus, der Stalinismus – und danach der mühsame Wiederaufstieg zum zivilen Partner der Völkergemeinschaft in einer nachkolonialen Welt.

Europa ist die Kraft der Geschichte, welche die Welt am nachhaltigsten umgestaltet hat, obwohl seine natürlichen Wiegengaben dafür anfangs eher ungeeignet waren: Die zerrissene Insellandschaft zwischen Mittelmeer, Atlantik und den Nordmeeren war noch eine Eis- und Sturmwüste, als andere Teile der Erde bereits erste Kulturen hervorbrachten. Europas Geschichte beginnt erst, als das Eis zurückweicht und Menschen aus wärmeren Gegenden der Erde in die sich erwärmenden Gebiete einwandern. Durch den Golfstrom wurde der europäische Raum dann allerdings zum klimatischen Paradies. Mit anderen Worten: Europa ist nicht erst heute zum Einwanderungsland geworden, die Einwanderung ist der Ursprung seiner Geschichte.

Die Impulse für Europas Entwicklung liegen sämtlich außerhalb des heutigen europäischen Kerngebietes: Aus dem Süden floss der mesopotamische und ägyptische Kulturstrom; aus Zentralasien kamen die Ionier, die Dorer, die Thraker und andere halbnomadische Stämme geritten. In Kleinasien, Sparta, Athen, Griechenland brachten sie ihre Kultur zur Blüte, als im heutigen Europa noch die Bären brüllten Unter Alexander I. drangen sie bis in den persischen Raum vor; die Barbaren des Nordens interessierten sie nicht. Die Römer machten das Mittelmeer zum Binnenraum ihres Imperiums, das sich ebenfalls bis nach Asien erstreckte; die Völker des Nordens grenzten auch sie als Wilde aus der römischen Welt aus. Erst die Teilung in ein ost- und ein weströmisches Reich gegen Ende des vierten Jahrhunderts westlicher Zeitrechnung schuf die Voraussetzungen für den Beginn einer zivilisatorischen Entwicklung des heutigen europäischen Raums.

Richtig los ging es sogar erst mit der noch viel später erfolgten Teilung der christlich-römischen Welt in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinisch-fränkische Entwicklungslinie. Zu dem Zeitpunkt zählte man aber bereits das 8., 9. und 1o. Jahrhundert nach Christi Geburt: Hochkulturen in anderen Teilen der Erde – die mesopotamischen, die asiatischen, die amerikanisch-indianischen – hatten schon mehrere Zyklen hinter sich; die arabisch-islamische Kultur schaute von großer Kultur-Höhe auf die unbehauenen Barbaren im europäischen Norden herunter. Erst in den Kreuzzügen, mit denen es die muslimische Expansion zurückdrängte, entwickelte Europa den Ansatz einer eigenen Identität. Die Kreuzzüge waren die eigentlichen Geburtswehen Europas.

Aber dem Sturm der Mongolen entkam dasselbe Europa ein paar Generationen später dann nur durch einen historischen Zufall: Der mongolische Großkhan starb just zu der Zeit, als die vereinigten Ritterheere des westlichen Europa in der Schlacht bei Liegnitz 1251 von den mongolischen Angreifern vernichtend geschlagen waren. Die europäischen Fürstentümer bis hinein nach Gibraltar lagen offen vor dem mongolischen Heer. Nur durch die Tatsache, daß die feindlichen Heerführer ins ferne Karakorum zurückehren mussten, um bei der Wahl des neuen Khan anwesend zu sein, verdanken die Europäer, daß sie von mongolischer Fremdherrschaft verschont blieben.

Im Treibhaus dieser Enklave am westlichen Rande des mongolischen Großreiches entstand Europa, in einer fränkischen und in einer Moskauer Variante, einer westlichen und einer östlichen also. Verbindendes Element war das Christentum, wenn auch in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinische Linie gespalten. Dazu kam die gemeinsame Feindschaft gegen Asiaten und den Islam. Versuche, das in dieser Weise halb vereinte halb geteilte Europa zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden und als Weltreich zu etablieren, blieben jedoch immer wieder erfolglos, wenn nicht gar in Katastrophen endeten: Die Bemühungen Karl V., ein einheitliches christliches Reich zu schaffen, in dem die Sonne nie untergehen sollte, scheiterten an der Reformation. Der darauf folgende 30jährige Krieg, verwüstete Europa nicht nur, sondern zerstückelte es. Die napoleonischen Träume führten in die mörderischen Kriege der europäischen Nationalstaaten.

Mit Hitler kamen die Versuche, Europa gewaltsam zu einen, endgültig zum Abschluss: Der nationalsozialistische Traum von Groß-Europa, das die Welt beherrschen sollte, hinterließ nicht nur Deutschland, sondern weite Teile Europas in Ruinen, entledigte es seiner Kolonien und vertiefte seine historischen Ost-West-Bruchlinien zur Spaltung in zwei getrennte Welten. Das brachte den Kontinent an den Rand seiner Existenz, während der Kampf um die Weltherrschaft an die beiden rivalisierenden neuen Weltmächte USA und UdSSR überging.

Ungeachtet ihrer Zerrissenheit, vielleicht sogar gerade deswegen entwickelte sich aus der Enklave Europas jedoch eine Expansionsdynamik, die ihresgleichen in der Geschichte der Menschheit bis dahin nicht hatte: Die Chinesen, obwohl hochentwickelt, begnügten sich mit der Sicherung des chinesischen Beckens; zu ihren Hochzeiten hatten sie eine Flotte, sogar Ansätze einer Industrie, aber sie schufen damit kein überseeisches Imperium. Die Pharaonen begrenzten ihre Herrschaft auf ihre Verewigung in den Pyramiden. Die Griechen kamen über die Polis und deren philosophische Begründung letztlich nicht hinaus; Alexander I. war bereits ein Usurpator ihrer Geschichte. Die Römer beließen es bei der Ausgrenzung der von ihnen unterworfenen Kulturen aus dem mediterranen Kern des Imperiums, bis sie von ihnen überrannt wurden. Selbst die überaus mobilen Mongolen erschöpften sich nach wenigen Generationen in der Verwaltung des Eroberten. Darüber hinaus gab es bei ihnen keine verbindende Ideologie. Nur der Islam entwickelte zeitweilig eine annähernd vergleichbare Dynamik wie Europa, bis er sich durch Traditionalismus und Fatalismus ausbremste.

In der europäischen Entwicklung dagegen verband sich die Vielfalt und die Enge des europäischen Kontinentes mit dem missionarischen Impuls des Christentums zu einer durchschlagenden und ungebremsten Herrschafts-Ideologie – europäische Missionare trieb es an alle Höfe, in alle Hütten, Zelte und Krale der Welt in dem Bemühen, auch noch die letzte Seele für Gott zu gewinnen; Politiker und Kaufleute aus Europa sorgten dafür, daß die notwendigen Mittel dafür aus den Weiten des Globus herangeholt wurden – im Westen Europas per Schiff über die Ozeane, im Osten zu Pferde quer durch die Weiten der asiatischen Steppen.

Bei allen Differenzen gleichen sich die zwei Seiten des christlichen Abendlandes letztlich in einem: In dem Willen zur Missionierung und kolonialen Unterwerfung der Welt. Gerade weil er nicht aus einem einheitlichen Kommando kam, sondern aus einem vielgliedrigen, differenzierten und widersprüchlichen Prozess hervorging, verwirklichte er sich umso nachhaltiger und totaler; fünfhundert Jahre benötigte Europa für den ersten Schritt: Das reichte von Karl I. bis Christopher Columbus im Westen Europas, also vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis zum Jahre 1492, das reichte von der Kiewer Rus bis zum Sieg Iwan III. über die Tataren, also von 882 bis 1480, im europäischen Osten. Aber nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus und nach Iwans III. Sieg über die Tataren-Mongolen expandierte der europäische Kolonialismus geradezu explosionsartig, im Westen in seiner maritimen, im Osten in seiner territorialen Variante.

Am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet Europa deshalb vor allem eines: Herrschaft! Im Falle der Russen war es die Selbstherrschaft innerhalb eines Imperiums, im Falle der westlichen Europäer die Fremdherrschaft über Gebiete in Übersee; das Verbindende aber war die Unterwerfung von Kolonien.

Europa, das war bis hinauf zum 1.Weltkrieg der Export des christlich-abendländischen Willens zur Veränderung und zur Beherrschung der Welt. Materiell bedeutete das: Ausbeutung der weltweiten Ressourcen durch die Europäer; ideologisch bedeutete es: Christianisierung oder Unterdrückung traditioneller einheimischer Kulturen bis hin zu deren gezielter Vernichtung. Es war eine rücksichtslose Expansion, die mit brutaler Gewalt durchgesetzt wurde. Produkt dieser Herrschaft war der weltweite Export der Industrialisierung und der damit verbundenen Lebensweise.

Nichts schien diese Expansion aufhalten zu können. Dann aber, im Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert wurde die Welt zu eng für Europas weitere Expansion: In Afghanistan prallten die Landmacht Russland und die Seemacht England aufeinander, in Nordafrika standen sich Briten und Franzosen gegenüber. Als die Deutschen, gestärkt durch die Reichseinigung von 1871, sich anschickten, den Briten mit dem Bau einer eigenen Hochseeflotte die Seehoheit streitig zu machen, war der 1. Weltkrieg praktisch eröffnet. Es bedurfte nur noch des Anlasses. Der Krieg wurde zur Festigung der entstandenen kolonialen Ordnung geführt – was er brachte, war der erste Schritt zur Emanzipation der Kolonien.

Der 2. Weltkrieg vollendete diesen Niedergang der europäischen Kolonialmächte bis zur Unabhängigkeit der meisten Kolonien und der Spaltung Europas. Mit Spaltung war Europa allerdings nicht einfach geografisch geteilt, wie es sich in Stammtisch-Erinnerungen darstellt, also kommunistisch im Osten und kapitalistisch im Westen; es teilte sich vielmehr in einen staatskapitalistischen Osten und einen Westen, der sich auf soziale Marktwirtschaft orientierte.

Die eine Seite Europas war als deren Gegenbild in der anderen enthalten; aber die beiden Seiten waren nicht miteinander vermittelbar, weil jede Seite Vorposten ihres jeweiligen Lagers war. In der Berliner Mauer fand diese Konfrontation ihren schärfsten Ausdruck. Doch die Teilung war nicht nur ein deutscher, sie war ein europäischer Niedergang. Nach 1945 wurde Europa faktisch zum Vorhof der Supermächte USA und UdSSR, Osteuropa und die DDR wurden Satelliten der UDSSR, West-Deutschland und Westeuropa wurden zu Juniorpartnern der USA. Aus Herrenvölkern waren vom Kriege ermüdete mittlere Mächte geworden.

Gerade in Europas Niedergang liegt aber auch der Keim seiner Wiedergeburt als Hoffnungsträger für eine zivile Weltordnung: Der Schock der beiden Weltkriege manifestierte sich am radikalsten in der deutschen Formel: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz und in der Entwicklung West-Deutschlands zum demokratischen Vorzeigestaat der kapitalistischen Welt und Ostdeutschlands zum Aushängeschild des demokratischen Sozialismus. Dass die DDR noch weniger sozialistisch als die BRD musterhaft demokratisch war, ändert nichts an der Tatsache, daß beide Teile Deutschlands die Vorzeigestücke des jeweiligen Systems waren. Mit der Vereinigung beider Hälften 1989 kamen sie zu einem neuen Ganzen zusammen, dessen Charakter, auch wenn die Vereinigung unter der Dominanz des westlichen Teils stattfand, bis heute noch nicht wirklich klar ist.

Die Wiedervereinigung Deutschlands war auch eine Wiedervereinigung Europas. Sie beschloss den schrittweisen Aufstieg West-Europas aus dem Nachkriegschaos zu demokratischer Pluralität. Nie wieder Hegemonie einer europäischen Macht war das treibende Motiv dieses Integrationsprozesses, der 1949 mit der Gründung des Europarates begann, 1957 in die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft überging und zur Europäischen Union führte. Als Michael Gorbatschow mit der Öffnung der Mauer 1989 der Integration Westeuropas die Demokratisierung Osteuropas hinzufügte, wurde Deutschland zum Verbindungsflur des neu entstehenden gesamt-europäischen Hauses. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union sind inzwischen weitere neue Mieter in dieses Haus eingezogen.

Ob dieses Haus sich allerdings bis nach Wladiwostok erstreckt, wie manche meinen, darf bezweifelt werden. Zwar ist Russland bis zum Ural zweifellos Teil der europäischen Geschichte und dies begründet eine besondere Beziehung Moskaus zur Europäischen Union, aber Moskaus sibirische und zentralasiatische Territorien gehören heute ebenso wenig zur Europäischen Union wie die ehemaligen und verbliebenen Rest-Kolonien des westlichen Europa. Die Zeiten, in denen sich Europa als Herz einer weltweiten Kolonialordnung definierte, sind endgültig vorbei.

Der Einfluss Europas auf die Welt ist heute nicht mehr durch koloniale Bindungen vermittelt, sondern durch seine wirtschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus liegt Europas Anziehungskraft heute in seiner nach-kolonialen Botschaft. Die Hausordnung in Europas Neubau, die oft zitierte europäische Wertegemeinschaft, die aus den Trümmern des alten imperialen Europa hervorgegangen ist, enthält diesen Anspruch: Danach ist Europa die Überwindung des Nachkriegs-Chaos durch wirtschaftliche und zivile Kooperation in Europa selbst und darüber hinaus. Europa ist ein Beispiel für die Möglichkeit von Integration in schweren Zeiten. Europa ist Vielfalt der Kulturen und Toleranz. Europa ist eine Gesellschaft, die dem Prinzip des Sozialstaates verpflichtet ist. Europa ist Demokratie. Europa ist Mobilität. Europa ist Regionalmacht im globalen Geflecht. Europa ist Katalysator einer neuen pluralen Weltordnung. In Europa steht Pluralismus nicht nur in der Hausordnung, er wird auch philosophisch, sozial- und bildungspolitisch gefördert. Europas Philosophen treten für eine Kultur der Vielfalt ein, die Europäische Union fördert Programme zum Schutz von Minderheiten aller Art, eine „Pädagogik der Vielfalt“ wird an den Universitäten, Lehr- und Bildungsanstalten auch auf alltäglichem Niveau offiziell gefördert. Mit dem Titel „Herausforderung Vielfalt“ ist beispielsweise eine Internationale Konferenz überschrieben, die vom Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des Landes Schleswig-Holstein unter Beteiligung kirchlicher Träger im Sommer 2003 durchgeführt wurde. Da geht es um „Fremdheit und Differenz,, um „Pluralisierung und ihre Folgen“, um „Strategien gegen Diskriminierung“, um Perspektiven für die Entwicklung einer „Kultur der Anerkennung“, die nicht nur das Fremde dulden und akzeptieren, sondern das Fremde, das Andere als Bereicherung des Menschseins erleben soll.

In Europa finden die Gegenbewegungen zur Globalisierung, die in den USA zur Zeit entstehen, ihren fruchtbarsten Boden: Die neueste US-Botschaft dieser Art schwappt derzeit unter dem Stichwort „managing diversity“ nach Europa hinüber. Sie ersetzt das Leitwort von der „corporate identity“, das bisher im Management gegolten hat. Bemerkenswert daran ist nicht, daß die USA als Stichwortgeber für Europa fungieren, bemerkenswert ist, dass das Stichwort der „managing diversity“ gerade jetzt aus den USA kommt und gerade jetzt in Europa Fuß fasst, da sich eine konservative US-Regierung anschickt, den gesamten Planeten gewaltsam unifizieren zu wollen.

Selbstbestimmung in einer Welt des bewusst gestalteten Pluralismus, der gegenseitigen Anerkennung und Hilfe der Menschen und der Völker, das ist heute Europas gute Botschaft. Sie geht als Impuls auch in die Globalisierung ein: Multipersonal, multikulturell und im politischen Raum schließlich auch multipolar – das sind die Begriffe, auf die sich diese Botschaft bringen lässt. Sie schaffen Identität in Zeiten der Globalisierung, denn sie helfen dem einzelnen Menschen, gleich welchen Geschlechtes oder Alters, welcher Hautfarbe oder welchen Standes den Ort ihrer Selbstverwirklichung und damit ihrer Würde als Menschen zu finden. Politisch gilt das auch für die Völker. Diese Botschaft ist eine echte Alternative zu den Versuchen der unipolaren militärischen Disziplinierung, die zur Zeit von den USA ausgehen.

Aber Europa hat auch ein anderes Gesicht. „Dieser Trend zur Pluralisierung verläuft nicht geräuschlos und schon gar nicht konfliktfrei“, heißt es z.B. in den Kommentaren der an Vielfalt engagierten schleswig-hosteinischen Pädagogen: „Es geht immer um Eingriffe in die bisherige Verteilung von Macht. Prozesse der Fundamentaldemokratisierung stoßen auf das Bestreben, Privilegien zu verteidigen und jene Machtmittel möglichst unsichtbar zu machen, mit denen sie aufrechterhalten werden. Sie werden auch intrapsychisch so versteckt, dass Angehörige des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ihre Privilegien überhaupt nicht mehr wahrnehmen.“.
Die Botschaft der Pluralität, heißt das, kann sich in die Verteidigung der Pluralität gegen tatsächliche oder vermeintliche Gefährdungen von außen verwandeln.

uch dies ist keineswegs neu für Europa: Als Einwanderungsland entstanden, haben die in Europa Ansässigen sich doch immer gegen neue Einwanderer gewehrt: Bereits Rom baute den Limes gegen die Völker des Ostens, gegen die Zuwanderung aus den asiatischen Steppen, gegen die Hunnen Attilas; den Norden Europas befriedete Cäsar durch Unterwerfung, welcher bekanntlich nur ein kleines gallisches Dorf an der Küste der Normandie widerstand… Spätestens mit den Kreuzzügen gräbt sich das Verständnis von Europa als Bollwerk gegen die Ungläubigen tief in dass kollektive europäische Unterbewusstsein ein – in Ost-Europa nicht viel anders als im Westen: Danach waren die Muslime, die Sarazenen, die Türken oder wie immer man sie nannte, gottlose Ungeheuer, welche die Christenheit verschlingen wollten. Vor ihnen galt es die Menschheit zu retten. Die Aufrufe Papst Urban II. und späterer Päpste, zum Töten der Ungläubigen auszuziehen und dafür das ewige Leben zu ernten, lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.

Das ganze frühe Mittelalter, einschließlich der Heldensagen, ist von der Totschlag-Romantik der Kreuzritter geprägt. Auf den Grundsteinen des Kreuzrittertums wurde wenige Generationen später die Festung gegen die Mongolen ausgebaut. Tschingis Chan galt ihren Verteidigern als Kinderfresser, in ihm verschmolzen alle bisherigen Feinde zur asiatischen Gefahr, zur Bedrohung durch das Andere schlechthin, zum Anti-Christ;. Die Kirche erklärte Tschingis Khan zur Geißel Gottes, die Gott zur Prüfung der Menschheit geschickt habe. Besondere Verdienste bei der Verteidigung gegen diese Gefahr nahm dabei Russland für sich in Anspruch, das sich die Rettung des christlichen Abendlandes vor den Mongolen zu gute schrieb, ohne sich daran zu stören, dass dies die historischen Tatsachen zurechtbog, da Europa, wie gesagt, seine „Rettung“ lediglich dem Wechsel der Khane in Karakorum zu verdanken hat. Ungeachtet solcher Feinheiten konnte Joseph Goebbels die Skizzen des von ihm geschaffenen russischen Untermenschen später nach dem mittelalterlichen Klisché von Hunnen und Mongolen fertigen lassen, die sich, krummbeinig, hässlich, mit einem Säbel zwischen den Zähnen in die Mähnen ihrer ebenso hässlichen Ponys klammern, um so das Abendland zu überfluten.

Im Schreckensruf „Die Türken vor Wien“ festigte sich das abendländische Bedrohungs-Syndrom im 17. Jahrhundert weiter. Mit der Niederlage der Türken im Jahre 1683 löste sich zwar der Druck auf West-Europa; für Ost-Europa wurden die Türken und alle mit ihnen verwandten und verbundenen Völker in den folgenden Kriegen zwischen Russland und der Türkei jedoch nicht nur zum wichtigsten Gegner, sondern auch zum inneren Feind. Diese Spur zieht sich bis ins heutige Russland, wo die „Tschornije“, die Schwarzen, das rassistische Hassobjekt für den russisch-orthodoxen christlichen Chauvinismus sind. Auch der gegenwärtige westeuropäische Rassismus ist nicht frei von diesem Klisché.

Im eisernen Vorhang, der West-Europa von Ost-Europa, noch mehr aber den Westen von Asien trennte, fand die Mär vom abendländischen Bollwerk gegen die asiatische Bedrohung seine neuzeitliche Aktualisierung: Im Bild des sowjetischen Kommunismus, der hinter dem eisernen Vorhang nur darauf lauert, das verbliebene christliche Abendland zu verschlucken, verwoben sich die alten Klischés von Attila bis zu den Türken zum kollektiven Wahnbild einer kommunistischen Bedrohung aus dem Osten, für das der US-Präsident Ronald Reagan noch kurz vor Gorbatschows Perestroika-Kurs schließlich die schöne Bezeichnung vom „Reich des Bösen“ erfand, vor dem die USA die Welt beschützen müssten.
Heute ist auch das Böse globalisiert. An die Stelle des eisernen Vorhangs ist die weltweite Front gegen den internationalen Terrorismus getreten. Das „Reich des Bösen“ ist zur asymmetrischen „Achse des Bösen“ geworden. Aber ob asymmetrisch oder nicht, in dem Aufruf gegen die „Achse des Bösen“ treten auch die traditionellen europäischen Bedrohungs-Syndrome in neuer Gestalt wieder hervor, aufgebaut von Ideologen, die den globalen Kampf der Kulturen als Menetekel an die Wand malen und durch einen US-Präsidenten, der zum Kreuzzug gegen das Böse aufruft.

In diesem Kampf wird alles ausgegrenzt und tabuisiert, wodurch sich die christlich-abendländische Wertegemeinschaft bedroht fühlt; das ist, klar gesprochen, alles, was nicht weißhäutig, nicht christlich und nicht hochindustrialisiert ist. Ausnahmen machen die nicht-weißen US-Amerikaner und Amerikanerinnen, aber auch nur, solange sie offizielle Repräsentanten der Supermacht Nr. Eins sind. Ausnahmen machen auch die Menschen und Völker, die man als Bündnispartner braucht, aber nur, solange sie sich gebrauchen lassen. Das erinnert stark an die Praktiken früherer Imperatoren, etwa jene der Römer, welche Germanen, Hunnen und andere so lange hofierten, wie sie als Grenztruppen andere Völker vor den Grenzen aufhielten.

Im Namen von Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung, heißt das, beginnen sich Europäer heute gegen eben diese Vielfalt, Liberalität und Selbstbestimmung zu wenden. Ausdruck davon sind politische Strömungen wie die Partei des ermordeten Niederländers Pym Fortyn, die mit liberaler Argumentation eine im Kern rassistische Ausgrenzungspolitik vertreten: Wohlfahrt, Vielfalt und Selbstbestimmung ja, lauten ihre Parolen, aber nur für Bürger Europas, nicht für Ausländer – die sollen bleiben, wo sie geboren sind. Ausdruck dieser Wende sind auch Positionen wie die des englischen Premiers Tony Blair, der eher bereit ist, die demokratische Grundsubstanz des europäischen Pluralismus den Zentralisierungsforderungen der USA unterzuordnen, als ein „multipolares Chaos“ zu riskieren. Wo diejenigen stehen, die wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der franzöische Statspräsident Jaque Chirac auf der Höhe der IRAK-Krise kurzfristig den Begriff „multipolar“ benutzten, muss sich noch zeigen.

Unter solchen Voraussetzungen droht sich die schöne europäische Hausordnung in ihr Gegenteil zu verkehren: Aus Freiheit für Europa könnte sehr bald Abschottung gegenüber dem Rest der Welt resultieren. Das Schengener Abkommen von 1985 und seine Folgevereinbarungen hinterlassen bereits eine beängstigende Spur: Aus der Garantie auf Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte, rassisch oder aus anderen Gründen Diskriminierte wird ein ausgeklügeltes System zur Vermeidung von Asyl durch Vorverlagerung der Asylentscheidungen in die Grenzländer der Europäischen Union oder gleich ganz in die Herkunftsländer von Flüchtlingen. Probestrecke für dieses Verfahren war der Krieg im Kosovo, als Bosnische Flüchtlinge gleich vor Ort interniert wurden. Eine Fortsetzung fand das neue Verfahren in Afghanistan und kürzlich wieder im IRAK.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen hässliche Lager in den Randzonen der Europäische Union. Die tschechische Republik zum Beispiel musste sich bereit erklären, wenn sie betrittsfähig für die Europäische Union werden wollte, ein Auffang- und Abschiebelager in Balkowa zu bauen, in dem die Lebensbedingungen bewusst auf Abschreckung angelegt sind. Beobachter humanitärer Organisationen scheuen sich nicht von diesen Lagern als KZs zu sprechen. Ähnliche Lager entstehen in anderen Grenzbereichen der erweiterten Europäischen Union. Die europäische Öffentlichkeit erfährt in der Regel nichts davon. Die Maßnahmen werden auf europäischen Innenminister-Konferenzen vereinheitlicht, die sich der parlamentarischen Kontrolle entziehen. Die Medien berichten kaum.

Noch schwerer erkennbar sind die virtuellen Lager in den nicht-europäischen Herkunftsländern potentieller Flüchtlinge oder Einwanderer. Diese Länder werden über wirtschaftlichen Druck zur Kontingentierung ihrer Auswanderer veranlasst, um nicht zu sagen gezwungen; in der Folge sind die Grenzen nur für eine Minderheit mit Geld oder mit Beziehungen offen. Freizügigkeit und Selbstbestimmung, eines der höchsten Güter im Wertekatalog der Europäischen Union, bleiben bei diesem Verfahren glatt auf der Strecke. Eine solche Politik kann auch für die innere Verfassung Europas auf Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben. Die Konzentration europäischer Innenpolitik auf die Abwehr von Einwanderern und die Bekämpfung des internationalen Terrorismus droht auch Europa in die Sackgasse eines präventiven Sicherheitsstaates zu führen, in dem die Rechte der Bürger das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen.

Was also ist Europa? Ein Modell oder eine Festung?
Als Modell für eine plurale Ordnung könnte Europa zeigen, wie der Verzicht auf militärische Stärke bewusst zum Ausgangspunkt eines zivilen Integrationsprozesses werden kann. Es könnte Impulsgeber für den Weg zur Festigung der pluralen Völkerbeziehungen und kooperativer Entwicklungsstrategien sein, die sich faktisch im letzten Jahrhundert herausgebildet haben. Damit läge im Modell Europa gegenüber der gegenwärtigen Politik der USA eine echte Alternative, die unter dem Motto: `Europa für alle´ Grundlage zukünftiger Politik Europas und der Völkergemeinschaft sein könnte. Sie enthielte auch den richtigen Ansatz zur Lösung der globalen Problems der Migration. Ein Ausbau Europas als Festung dagegen provoziert die Gefahr, dass die Ansätze zu einer multipolaren Ordnung, die real bereits herangewachsen sind, sich gegen den Willen Europas und der auf dieser Linie mit ihm verbündeten USA und hinter deren Rücken durchsetzen, dann aber in scharfen Konflikten, welche die privilegierte Position des Westens mit Gewalt schwächen. Das würde auch auf Kosten der zivilen Werte gehen, für die Europa heute im Gegensatz zu den USA noch steht. Die Wahl, die wir zu treffen haben, ist also nicht allzu schwer, wenn das Modell Europa nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft beschreiben soll.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

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Der Mythos vom Blitzsieg

Der Sieg im Blitzkrieg, wie die US-Führung das Ergebnis ihrer Invasion in den IRAK ohne Scheu vor historischen Parallelen nennt, beginnt schon jetzt zum Mythos zu werden. Fronten verwischen sich. Der schnelle Sieg und die angeblich saubere Kriegsführung, nicht zuletzt auch die zu erwartenden Gewinne führen bisherige Gegner der Invasion an die Seite der USA, andere entwickeln ihren Zorn jetzt daran, daß das nächste Ziel, diesmal Syrien, bereits im Visier des Weißen Hauses erscheint und auch die bekannten Fernziele, Iran , Libyen uam. schon wieder ins Gespräch gebracht werden. Grund genug gibt es ja, bei solchen Tönen aufzumerken, nachdem es den USA nicht gelang Bin Laden zu fangen, und auch nicht Saddam Hussein, dafür aber sehr wohl, die beiden zu einem unsterblichen Saddam Usama zu verschmelzen.

Der Mythos des Blitzkrieges verbindet sich mit dem des gerechten Widerstandes zu einer Eskalation von Terror und Gegenterror. Die Presse lässt zudem erkennen, daß dieses Gift, darin den ABC-Waffen vergleichbar, keine Parteien mehr kennt: In einem US-kritischen Artikel schrieb ein israelischer Journalist namens Uri Avnery: „Nach dem Ende der Kämpfe wird die Welt mit zwei entscheidenden Faktoren konfrontiert sein: Erstens, die unermessliche Übermacht der amerikanischen Waffen kann jedes Volk in der Welt schlagen, so stark es auch sein mag. Zweitens, die kleine Gruppe, die diesen Krieg initiiert hat, – eine Allianz von christlichen und jüdischen Fundamentalisten – ist groß rausgekommen und von jetzt an wird sie Washington ohne Grenzen kontrollieren.“ Die Panik ist unüberhörbar. Aber gleich, ob aus kritischer Distanz oder aus einer zustimmenden Sicht heraus formuliert, die Botschaft lautet: Der Machtentfaltung der USA kann in Zukunft niemand mehr widerstehen.

Übersehen wird dabei selbst von US-Kritikern, dass die USA einen WEHRLOSEN Gegner vernichtet haben, der fast nur noch Worte zu seiner Verteidigung hatte. Die behauptete Hochrüstung, ganz zu schweigen von Waffen der Massenvernichtung, erwies sich als Propagandablase. Ein ähnlicher Sieg mag auch noch über Syrien möglich sein, für einen Kim Jong Il, hinter dem China steht, reicht dieser Ansatz nicht mehr, vermutlich auch nicht für den IRAN und erst recht nicht für Russland oder, noch weit entfernt, aber schon denkbar, für einen Konflikt mit Europa; erst recht nicht, wenn sich Allianzen zwischen diesen Machträumen bilden.
Sehr wohl aber besteht die Gefahr, dass die von den USA ausgehende Bedrohung zu einem Rüstungswettlauf ungeahnten Ausmaßes führt, der unkontrollierbare globale Eskalationen in Gang setzt. Statt die Bedrohung in mystische Bereiche hochzurechnen, die ihrerseits die Mystik von Terror und Gegenterror in Gang setzt, muss man die Schwäche der USA erkennen, die ihre Vormachtstellung nur mit Gewalt aufrechterhalten kann.
Ein weiteres Element des mentalen Giftes, das gegenwärtig verbreitet wird, liegt in der Behauptung, der siegreiche Weg der US -geführten Ordnungskräfte habe bereits mit der Intervention im Kosovo begonnen, sich erfolgreich in der Zerschlagung der Taliban-Herrschaft fortgesetzt und seine vorläufig letzte Bestätigung in der Niederlage des Irakischen Diktators gefunden. Schritt für Schritt seien die USA dabei, Ordnung in der Welt wiederherzustellen, die nach dem Ende der Sowjetunion und durch das Aufkommen des islamischen Terrorismus zusammengebrochen sei, während andere, vor allem die Europäer, kraftlos beiseite stünden.
Wir wissen, dass weder im Kosovo, noch in Afghanistan bisher von Demokratie die Rede sein kann, nicht einmal von Ordnung. Im Falle des Kosovo mag es noch am ehesten Hoffnungen für eine solche Entwicklung geben, einfach deshalb, weil dort die Europäer in eigenem Interesse investieren. Der demokratische Aufbau Afghanistans dagegen ist nur ein Jahr nach dem Krieg auf das geschrumpft, was die einheimischen Kabulistan nennen – auf die Hauptstadt Kabul. Aber selbst in Kabul hat Präsident Karzai nur Hoheitsgewalt, soweit die internationale Schutztruppe Isaf sie ihm verschafft – während US-Spezialtruppen im Lande weiter Krieg führen und die afghanischen Warlords sich neue
Machtkämpfe liefern.
Im IRAK zeichnet sich schon jetzt ab, daß die Zerschlagung der zwar gewaltsamen, aber säkularen Ordnung Saddam Husseins nicht Demokratie nach westlichem Vorbild, sondern religiös aufgeladenen antikolonialen Fundamentalismus hervorbringt. Da hat der israelische Kollege recht: Der christlich-jüdische Fundamentalismus der US-Kriegspartei provoziert unvermeidlich islamistische Massenbewegungen im IRAk, welche bisher schon existierende islamistische Bewegungen des arabischen Raumes, einschließlich des Staates Iran, und nicht nur dort, radikalisiert, statt Impulse für ihre Säkularisierung und zu Demokratisierung zu geben.
Praktisch hat die Blitz-Invasion die Armee Saddam Husseins in den Untergrund getrieben, die Schiiten drückt sie in ein Bündnis mit dem Iran und islamistischen Fundamentalisten drückt und die Kurden in eine neue Runde ihrer Befreiungskämpfe.
Sicher ist bei alledem bisher nur eines: Von der Intervention in den Kosovo bis zum jetzigen Krieg gegen den IRAK zieht sich die Spur einer eskalierenden militärischen Prävention, deren logische Folge nur in ihrer weiteren Steigerung liegt. Die nächsten Kriege sind schon angekündigt. Die überlegene Wirtschafts- und Militärmacht der USA agieren nicht als behutsamer Förderer neuer Partner im globalen Geschehen, sondern als Mittel zur gewaltsamen Aufrechterhaltung der alten Ordnung, genauer der Widerbelebung der untergegangenen europäischen Imperialordnung im globalen Maßstabe.
Von einem Sieg dieser imperialen Ordnung kann trotzdem keine Rede sein: Niemals in der Geschichte hat eine imperiale Macht eine solche Gegenbewegung gegen ihren Machtanspruch provoziert wie heute die USA: Rom, das mongolische Weltreich, selbst der europäische Imperialismus zerfielen von innen, eine umfassende Front von außen gegen sie gab es nicht. Auch die USA kranken heute von innen, aber in ihrem Falle sieht sich ein Imperium, das die ganze Welt umspannen will, erstmals auch einer weltweiten Front gegenüber.
Die Bush-Doktrin des lang andauernden Krieges provoziert das Wachstum dieser Front mit jedem Tag: Die unmittelbar Geschlagenen der kolonisierten Länder treibt sie in den terroristischen Untergrund; sie versammeln sich unter dem Mythos der Saddam Usamas und anderer; die Kritiker der neo-liberalen US-Globalisierung in den Industrieländern selbst treibt sie in den Widerstand; die herrschenden Eliten der Industriestaaten, das heißt, ihre realen und potentiellen Konkurrenten, drängt sie in Bündnisse gegen die hegemoniale Politik Washingtons.
Die verschiedenen Ebenen des Widerstandes werden sich gegenseitig in ihren Wirkungen verstärken, es sei denn, daß es den USA-Ideologen gelänge, Kritik an ihrer Politik total mit dem Terrorismus zu identifizieren. Dies aber ist schon deswegen nicht zu erwarten, weil die Mehrheit der Kritiker/innen, auch in den USA selbst, nicht bereit ist, sich von den USA als Terroristen definieren zu lassen, nur weil sie nicht damit einverstanden sind, dass allein am amerikanischen Wesen die Welt genesen solle.
Darüber hinaus schwindet die Autorität der USA als Garant einer demokratischen Zukunft und Verteidiger der Menschenrechte mit jedem weiteren Schritt ihres imperialen Alleingangs. Die schnelle Invasion der USA in den IRAK, weit entfernt davon ein Sieg der USA zu sein, von den Engländern ganz zu schweigen, ist eine weitere Etappe auf dem Weg der Entzauberung der USA als Garant der Demokratie. Die Verwandlung des IRAK in ein US-Protektorat beschleunigt nur diese Entwicklung.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

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„Europa, ein Vogel Strauss“? – Anmerkungen zu einem Text von André Glucksmann

Unter der Überschrift „Europa, ein Vogel Strauss“ konnte man vor wenigen Tagen einen Kommentar des französischen Philosophen André Glucksmann zum IRAK-Krieg lesen („Die Welt, 12.3.2003). Darin wirft er der Koalition der „Kriegsgegner“ vor, die Augen vor der Realität des weltweiten Terrors zu verschließen. Der Philosoph geht scharf mit den „Heuchlern“ der „Friedenskoalition“ ins Gericht; er erinnert an den Krieg Wladimir Putins in Tschetschenien, an das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in China, er klagt Joschka Fischer an, seine Lehre „Nie wieder Auschwitz“ vergessen zu haben und bezichtigt Jaques Chirac, mit seiner Inkonsequenz „die Entwaffnung eines berüchtigten Kriegstreibers verhindert“ zu haben.

Die Kritik klingt radikal; zudem spricht ein anerkannter Philosoph. Umso erstaunter ist man, dann eine Kritik zu lesen, in der die Namen der kritisierten Chirac, Schröder, Putin und der Chinesen problemlos durch Bush oder Blair ausgetauscht werden können: Es beginnt mit der Feststellung André Glucksmanns, heute gehe ein Riss durch den Westen – Querelen in der NATO, in der EU, sogar in der UNO. Da es den „Ostblock“ nicht mehr gebe, bedeute das Auflösung der bestehenden Ordnung. Stimmt, aber dann man vermisst man doch die Erkenntnis, dass es sich bei diesem Riss nicht einfach um vermeidbare Bündnis-Querelen handelt, sondern um eine grundlegende Krise der heutigen industriellen Welt, in der das Ende des Sowjet-Imperiums, Russlands und auch Chinas Umbrüche dem Westen nur vorangingen: Nach der Krise des „Ostblocks“ nun die Krise des „Westblocks“. Zu diesem Zusammenhang schweigt der Philosoph.

Zuzustimmen ist der Kritik André Glucksmanns, Chirac, Schröder, Putin und die Chinesen hätten allzu stark polarisiert, als sie „Friedenskoalition“ der „Kriegskoalition“ entgegenstellten. In der Tat, die Polarisierung hat etwas von einer Augenwischerei für die ganz Dummen an sich. Doch wird sie ja nicht nur von einer, sondern von beiden Seiten betrieben. Hat man doch einen George W. Bush gesehen, der seit seinem Amtsantritt, und zwar erkennbar weit genug vor dem 11.9. 2001, seine Verbündeten mit Alleingängen der „einzig verbliebenen Weltmacht“ vor den Kopf stößt und seit dem 11.9. 2001 die Welt in Gute und Böse aufteilt.
Eine Heuchelei ist es zweifellos, auch da ist André Glucksmann zuzustimmen, sich eine „Koalition des Friedens“ zu nennen, wenn man wie Putin in Tschetschenien eine ganze Stadt in Trümmern gelegt habe oder, wie die Chinesen, bis heute kein kritisches Wort über das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens zulasse. Aber gehört Vietnam nicht auch mit in diese Aufzählung, wo die USA versuchten, ein ganzes Volk auszurotten? Die „Friedenskoalition“ trete auf wie leibhaftige Apostel des Friedens, polemisiert Glucksmann. Ja, aber hat nicht George W. Bush den Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ verkündet?
Hart kritisiert Glucksmann die Veto-Mächte des UNO-Sicherheitsrates: Die fünf ständigen Mitglieder des Rates, erklärt er, benutzen ihr Vetorecht zur verschleierten Durchsetzung eigener Interessen. Richtig, aber warum zählt der Kritiker nur vier der ständigen Mitglieder des Rates auf? Was ist mit dem fünften, den USA? Wofür benutzen die USA den Sicherheitsrat – wenn sie es überhaupt für nötig befinden, ihn zu benutzen? Etwa zur Demokratisierung der UNO?
Ja, der „Klub der fünf“ ist kein Parlament der Völker. Das ist wahr und die Frage Glucksmanns, wieso die Stimme Brasiliens weniger zählen soll als die der Veto-Mächte, ist mehr als berechtigt. Die Veto-Regelung ist ein Überbleibsel aus dem kürzlich zuende gegangenen Jahrhundert. Doch auch in dieser Kritik sind die Namen der „Friedens-“ und der „Kriegskoalition“ wieder austauschbar. Die Newcomer und die Kleinen in der UNO werden weder von der einen noch von der anderen Seite für voll genommen.
Selbstverständlich war es einfacher, wie Herr Glucksmann bemerkt, mit „Ho, ho, Ho Chi Min“ gegen den Vietnamkrieg auf die Straße zu gehen als mit „Kein Krieg in IRAK“ und „Nieder mit Saddam“ gegen einen Krieg im IRAK; Für ein Volk, das für den Sieg im Volkskrieg kämpft, ist eben leichter Partei zunehmen, als für eines, das sich unter einem Diktator duckt. Invasion bleibt deswegen aber immer noch Invasion. Hieraus abzuleiten, Protest gegen eine Invasion sei gleichbedeutend mit einer Unterstützung für die Diktatur, ist schlicht demagogisch.

Auch in der Kritik, wie Glucksmann sagt, an „meinem Freund Joschka Fischer“ muss man dem Philosophen zustimmen: Fischer war für den Krieg im Kosovo – nun ist er gegen den Irak-Krieg; das ist kurzsichtig, inkonsequent, und vielleicht sogar verlogen. Er hätte wissen können, dass die US-Intervention im Kosovo nur der Einstieg der USA in ein weltweites präventives militärisches Krisenprogramm war. Tatsache ist aber auch, dass die öffentliche Kriegserklärung des George W. Bush gegen die „Achse des Bösen“ nicht vor, sondern nach der Intervention im Kosovo, nämlich nach dem 11.9.2001 erfolgte. Heute ist daher deutlicher als damals, dass die Welt bei Durchführung einer solchen Globalpolitik vor der Perspektive einer unabsehbaren Reihe von Abrüstungskriegen unter US-Vorgaben stünde. US-Politik hat sich vor der Welt in rasantem Tempo als krisen- und inzwischen auch kriegstreibend entpuppt. Jetzt wird bereits Syrien bedroht – wer dann? Wie viele Diktatoren dieser Art sollen auf diese Weise beseitigt werden? Deutlicher gefragt: Welche Despoten sollen beseitigt werden und welche nicht? Wer bestimmt das? Mit welchem Ziel und in wessen Namen?
André Glucksmann gibt keine Antworten auf diese Fragen, er trifft nur die Feststellung, dass wir uns heute in einer „radikal neuen Situation“ befänden. Wahr gesprochen!

Aber ist die neue Situation eine Folge des 11. September 2001, wie Glucksmann meint? Nein, das ist sie nicht. Sie ist eine Folge der Auflösung der bi-polaren Welt-Ordnung und des darauf folgenden Versuches der Amerikaner, das, wie ihre Strategen es nennen, „historische Fenster“ zu nutzen, um sich die globale Vorherrschaft zu sichern und mögliche zukünftige Konkurrenten im Keim zu ersticken…

Ungeachtet dessen sieht André Glucksmann die Amerikaner als Opfer, die nun von den Kriegsgegnern als Täter hingestellt würden, wie das ja öfter geschehe. Absichtlich oder unabsichtlich rückt er „die Amerikaner“ damit in die Nähe der Juden, für die diese Aussage üblicherweise getroffen wird. Tatsache ist, dass am 11,9.2001 tausende Menschen Opfer des Terrors wurden. Sie sind zu betrauern. Aber ist Krieg die einzige mögliche Antwort? Darf man da anderer Meinung sein, ohne gleich zu den Bösen, unterschwelligen Anti-Semiten oder den europäischen Sträußen zu gehören, die den Kopf vor der Realität in den Sand stecken? Von welcher Realität ist die Rede? Dazu hören wir von Herrn Glucksmann nichts, außer dass nunmehr eine Verbindung von Bin-Laden-Terrorismus und Pjön Jang-Verdrängung drohe.

Was also will Andé Glucksmann uns sagen? Ihm wäre zuzustimmen, wenn er es dabei beließe, die allgemeine Heuchelei der Mächtigen zu geißeln. Das ist das Vorrecht des Philosophen. Wenn er dabei aber die USA aus seiner Kritik ausnimmt, dann heuchelt auch er. Das wäre sogar noch hinzunehmen; das Heucheln ist gegenwärtig in Mode. Schlimmer noch ist, dass er den Anschein erwecken möchte, als stünde er über den Parteien – ohne auch nur einen einzigen Gedanken vorzubringen, wie die Welt zu einer neuen Ordnung finden könnte, in welcher der Krieg nicht wieder zu einem Mittel der Politik wird, wie von den USA zur Zeit propagiert.

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Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist

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Memorandum im UN- Sicherheitsrat: Achse des Friedens – oder ernten auf fremdem Feld?

Die USA haben ihre letzte Resolution in den UN-Sicherheitsrat eingebracht. Sie ist faktisch ein Ultimatum an Saddam Hussein. Frankreich, Deutschland, Russland, China haben ein Memorandum vorgelegt, in dem sie weitere und schärfere Kontrollen fordern, um einen Krieg zu vermeiden. Als letztes Mittel jedoch halten auch sie die Option eines Krieges offen. Wie ist das zu verstehen? Will man die Amerikaner aufhalten oder nicht? Nein, will man nicht…

Von Spiegelfechterein befreit läuft die Auseinandersetzung darauf hinaus, die USA in den Alleingang preschen zu lassen. Das wundert nicht, denn weder Deutschland und Frankreich, noch Russland, noch China können ein Interesse daran haben, an der Seite der USA in diesen Krieg gegen den IRAK zu ziehen, der ein Krieg gegen die islamische Welt zu werden droht und der die Entwicklung einer Neuordnung nach dem Ende der bi-polaren Welt bedroht.

Schon der Krieg in Afghanistan stand unter diesen Prämissen: Die USA sind die kriegführende Partei, Europäer, Russen, Chinesen stellen die Friedenstruppe, bzw. helfen mit langangelegten Infrastruktur-Programmen. Die Amerikaner tragen die größten materiellen Lasten des Krieges, verwickeln sich in Bodenkämpfe, laden den Zorn der Besiegten und ihrer Freunde in der islamischen Welt auf sich, die Russen kommen mit Rot-Kreuzwagen. Eine bessere Entsorgung der Rückstände aus der sowjetischen Invasion nach Afghanistan konnte Wladimir Putin sich nicht wünschen.

Noch klarer bei den Europäern, insonderheit bei den Deutschen: Sie sind die Wunschpartner für den Wiederaufbau des Landes. Ihnen wird zugetraut, dass sie bei ihren Bemühungen an den gewachsenen Strukturen anknüpfen. Ähnliches gilt für die Chinesen, die an einer Öffnung des Raumes nach Osten interessiert sind und sich dafür in langfristigen Projekten engagieren. Die Russen sind um konkrete Wiedergutmachung bemüht. Dem amerikanischen Militarismus dagegen, der über die örtliche Kultur und Tradition hinweggeht, schlägt wachsendes Misstrauen entgegen.

Die Konstellationen im IRAK-Konflikt sind die gleichen, nur treten sie jetzt im größeren Maßstabe und schärfer zutage: Die Europäische Union, Russland, China sind nicht weniger interessiert an einer Einflussnahme auf den IRAK, generell gesprochen auf den arabischen Raum als die USA. Aber warum sollte sich Wladimir Putin die Finger an einem Krieg gegen den IRAK verbrennen, der sein langjähriger enger Partner im Ölgeschäft war und es noch immer ist? warum China? warum die EU, wenn Amerika dies Geschäft übernimmt?

Die USA werden sich mit diesem Krieg, selbst wenn er kurz sein sollte, eine Vertiefung ihrer Krise, langfristige Belastungen, eine weltweite Welle des Anti-Amerikanismus und insbesondere den Haß der islamischen Welt zuziehen, der eine neue Generation von Terroristen hervorbringen wird. Europäer, Russen, Chinesen können auch dieses mal viel mehr gewinnen, wenn sie die Wiederaufbauer sind. Das können sie natürlich nur mit Einverständnis der USA. Hieraus erklärt sich das halbe Ja zu den Bündnisanforderungen der USA.

Die USA befinden sich in einem Dilemma: Ihrem Supermachts-Anspruch folgend müssen sie diesen Krieg führen, die Früchte aber drohen andere für sie zu ernten. Das erklärt nicht nur die zornigen Worte aus dem Weißen Haus, es lässt auch noch weitere Verschärfungen der Fronten für die Zukunft erwarten, selbst wenn man sich im Falle des IRAK-Krieges auf ein Lasse-faire gegenüber den Kriegswünschen der USA einigen sollte, was zu befürchten ist.

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Nie wieder Appeasement? Saddam Hussein – ein neuer Hitler?

Neuerdings werden Stimmen laut, die Friedensbewegung vergesse Saddam Hussein zu kritisieren. Überhaupt sei ihr die irakische Bevölkerung offenbar gleichgültig, sonst müsse sie sich für eine gewaltsame Beseitigung des Diktators Hussein einsetzen.

Der Politologe Iring Fetscher schrieb dieser Tage einen Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift „Nie wieder Appeasement“. Darin vergleicht er die Politik der Alliierten gegenüber Hitler mit der Politik gegenüber Saddam Hussein und folgert, solch einen Fehler dürfe die Weltgemeinschaft nie wieder machen. Weniger ausgebildete Personen, zum Beispiel Stimmen auf meiner Website, werfen Saddam Hussein, Hitler, Stalin, Kim Jong Il gleich ganz in einen Topf, um das Eingreifen der USA im IRAK zu begründen.

Dem ist zunächst zu antworten: Selbstverständlich sind Diktatoren Diktatoren – und müssen entmachtet werden. Da gibt es keine zwei Meinungen unter Menschen, die nicht gerade zu den Nutznießern der Diktaturen gehören.

Das ist die eine, alles umfassende Ebene. Auf der sind alle Katzen grau. Aber schon bei dieser Betrachtung ergeben sich ernste Zweifel an der Richtigkeit der US-Linie:

Erstens wenden die USA das Prinzip, dass Diktatoren mit Gewalt durch demokratische Verhältnisse ersetzt werden müssen, keineswegs durchgehend an, sondern nur dort, wo es ihren Interessen dient. Die Aufzählung dieser Fälle wäre lang. Ich spare sie mir an dieser Stelle.

Zweitens ist sehr zu bezweifeln, ob die gewaltsame Beseitigung Saddam Husseins von außen zu einer Demokratisierung führt. Eher wahrscheinlich ist ein autoritäres Protektorat unter US-Herrschaft, das die widerstrebenden Interessengruppen des irakischen Raums nach dem Sturz der gewaltsamen Klammer Husseins mit militärischer Gewalt zusammen zu halten versucht.

Drittens müsste, wenn man sich für eine allgemeine Demokratisierung und Gleichberechtigung der Völker und Menschen einsetzt, ja wohl auch das Herrschaftsmonopol der USA in Frage stellen; mindestens ihr tödliches Waffenarsenal unter UN-Kontrolle gestellt oder gar vernichtet werden (Chemiewaffen, Atomwaffen, E-Bomben usw.)

Darüber hinaus sind bekanntlich nur nachts alle Katzen grau. Bei Licht besehen gibt es doch gewaltige Unterschiede zwischen den Diktatoren. Hitler war ein imperialer Aggressor mit Anspruch auf Weltherrschaft, er hatte die Macht, die Welt zu bedrohen. Hussein ist an Hitler gemessen ein kolonialer Zwerg. Die angebliche Bedrohung der USA durch Hussein ist ein glattes Märchen. Weiter als 150 Kilometer reichen Saddams Raketen nicht, schlimmsten Falles zehn oder zwanzig Kilometer darüber hinaus. Um den Schutz der Nachbarn des IRAK geht es ohnehin nicht: Um die im Gleichgewicht der gegenseitigen Bedrohung zu halten, vor allem den Einfluss des Iran einzudämmen, hat die USA Saddam Hussein ja erst zum bezahlten Wachhund der Golfregion gemacht.

Die beiden einzigen Möglichkeiten, wie der IRAK die USA oder auch Europa bedrohen könnte, wäre die Verknappung oder Nicht-Lieferung von Öl und die Unterstützung des internationalen Terrorismus.

Dazu ist zu sagen: Öl können sich die Industriestaaten notfalls auch aus anderen Quellen besorgen. Im übrigen wäre die richtige Politik die Förderung alternativer Energiequellen – nicht ein Krieg ums ÖL, der möglicherweise die begehrten Ressourcen auch noch zerstört.

Was den Terrorismus betrifft, so ist unbestreitbar, dass in ihm eine ernste Bedrohung der hoch verwundbaren industriellen Gesellschaften liegt. Eine Zerschlagung der gegenwärtigen irakischen Ordnung, die damit einhergehende Destabilisierung des arabischen Raums und die Auswirkungen auf den gesamten islamisch in Raum in Afrika, Arabien und Asien wird jedoch die terroristischen Energien eher steigern als abbauen. Sie wird Teile der jetzigen irakischen Elite in den Untergrund treiben, sie wird den Zorn derer steigern, die sich von amerikanischer; generell westlicher Vorherrschaft lösen wollen und sich stattdessen mit einer noch stärkeren Präsenz dieser Herrschaft konfrontiert sehen.

Kurz gesagt, die Vergleiche Saddam Husseins mit Hitler, so moralisch und scheinbar einleuchtend sie auch daherkommen, weil sie ja beide Diktatoren sind, stellen die tatsächlichen Vorgänge auf den Kopf.

Noch abstruser sind Vergleiche mit der UdSSR, die immerhin bei aller imperialen Politik, der Hauptgegner Hitlers im 2. Weltkrieg war. Am ehesten kann man Vergleiche zu Korea ziehen, aber selbst für Kim Jong Il gelten andere Bedingungen als für Saddam Hussein. Er kann immerhin mit dem Einsatz von Atombomben drohen. Nein, es geht im IRAK-Konflikt nicht um eine drohende Eroberung der USA durch den IRAK, sondern des IRAK durch die USA.

Die militärische Invasion macht die Entwicklung demokratischer Verhältnisse im IRAK nicht leichter, sondern erschwert sie, wenn man unter Demokratie und Menschenrechten nicht ein amerikanisches Protektorat, sondern die Entwicklung wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit der irakischen Bevölkerung von kolonialer und imperialer Bevormundung versteht.

© kai ehlers

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Danke Uncle Bush!

Lob und Preis für George W. Bush! Ihm verdankt die Welt den Aufschwung einer unvergleichlichen Friedensbewegung, denn er macht klar, worum es heute geht: Die US-Administration will den Krieg. Sie will ihn jetzt im Irak, sie will ihn generell gegen „den Terrorismus“; aber nicht um globale Neuordnung geht es, wie oft in den letzten Monaten geschrieben; es geht um Konservierung der nach dem Ende der Sowjetunion entstandenen Verhältnisse. Der Anspruch ist total. George W. Bush lässt daran keinen Zweifel. Mag die UNO im Fall IRAK entscheiden, was sie will – die USA leiten die Invasion ein. Was danach kommt, bleibt der Völkergemeinschaft überlassen.
Klar wird aber auch, allerdings nicht dank George W. Bush, sondern trotz der Verschleierungsversuche seiner Medien-Strategen und ungeachtet der zu befürchtenden katastrophalen Folgen der Invasion, dass die übriggebliebene Vormachtstellung der USA nicht zu konservieren sein wird, nachdem inzwischen nicht mehr zu übersehen ist, dass der Wirtschafts-Liberalismus der USA als Reparatur-Rezept für den in die Krise gekommene Sowjet-Sozialismus nicht taugt und der „american way of life“ selbst in einer tiefen Systemkrise steckt.
So setzt denn George W. Bush`s Versuch, die Herrschaft, das heißt, Privilegien, Kultur und Lebensweise der „einzig verbliebenen Weltmacht“ mit Gewalt als globale Norm zu konservieren, gerade die Kräfte frei, welche er einzudämmen versucht. Das sind einerseits die Konkurrenten der alten Welt, die sich neu formieren: die Europäische Union und das neue Russland. Es sind weiterhin die neuen Konkurrenten: China, Indien, Pakistan, insgesamt Asien. Und es ist die arabische Welt, dies aber keineswegs nur als Eigner der Erdöl-Ressourcen, sondern mehr noch als Speerspitze der lange kolonisierten muslimischen Welt Afrikas, Arabiens und Süd-Ost-Asiens, die sich heute von westlicher, aktuell insonderheit US-amerikanischer Vormundschaft befreien will. Der islamistische Terrorismus ist nur der radikalisierte Ausdruck davon. Ihm werden durch das Vorgehen der USA gegen den IRAK weltweit neue Kader zugeführt.
Je aggressiver George W. Bush seinen Kreuzzug gegen das Aufkommen dieser neuen Kräfte führt, umso mehr trägt er zu deren Abkoppelung von der US-dominierten Weltordnung und zugleich auch der Verbreiterung der internationalen Friedensbewegung bei, auch in den USA. Das macht die Opfer, die diesen Weg säumen und noch zu säumen drohen, nicht geringer. Es lässt aber erkennen, wohin der Widerstand gegen diese Politik sich entwickeln kann.

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Atempause

Was zu erwarten war ist geschehen: Die UN-Kontrolleure Blix und El Baradei haben dem UNO-Sicherheitsrat jetzt einen zweiten Bericht vorgelegt, der allen Seiten gerecht wird. Die Reaktion war entsprechend: Befürworter wie Gegner eines militärischen Schlages gegen den IRAK fühlen sich bestätigt – die einen allerdings etwas weniger als die anderen. Es heißt, US-Aussenminister Powel habe mit hochrotem Kopf die Sitzung des Sicherheitsrates verlassen. Inzwischen ließ er wissen, man sei von amerikanischer Seite bereit, den Kontrolleuren noch einmal zwei Wochen Zeit zu geben. Am 1. März sollen sie einen dritten Bericht vorlegen.

Es folgten die weltweiten Demonstrationen der Kriegsgegner –500.000 in Berlin, über 750.000 in London… Hunderttausende in den USA selbst. Über elf Millionen Menschen sollen insgesamt unterwegs gewesen sein,
Soweit – so gut. Eine Atempause ist das allemal und man darf sich freuen, dass der gradlinige Durchmarsch für einen Krieg gegen den Irak erst einmal gebremst wurde.

Eine direkte Missachtung dieses UN-Votums und dieser weltweiten Massen-Proteste durch die USA-Administration ist nicht zu erwarten. Der Schaden, den sie selbst und ihr Land durch eine offene Missachtung der Weltmeinung nehmen würden, dürfte selbst für die Bush-Hardliner erkennbar sein.
Gebremst wurden die Kriegsbefürworter jedoch nur für´s Erste.

Die Kriegsgefahr ist nicht gebannt. Es geht der US-Regierung ja keineswegs nur um die Abrüstung des IRAK, noch weniger um die Durchsetzung von Menschenrechten für die Irakische Bevölkerung; es geht ihr erklärtermaßen um die Beseitigung ihres aus dem Ruder gelaufenen ehemaligen Bündnispartners Saddam Hussein, also um die Unterwerfung des Irak unter die Vorgaben der US-Politik – und dies nicht etwa nur, weil sie die Öl-Multis ihre Hand auf das Irakische Öl legen wollen. Das könnten sie auch ohne das Risiko eines Krieges erreichen, bei dem zudem noch die Gefahr besteht, die Ressourcen zu vernichten, die sie sich aneignen möchten und die Rezession zu vertiefen, in der sich die US-Wirtschaft befindet.

Der gegenwärtig herrschenden US-Politik geht es um mehr: Es geht ihr um die Unterwerfung des arabischen Raums unter ihre Vorherrschaft; sie braucht ihn als strategisches Aufmarschgebiet gegen ein boomendes, ihnen unberechenbar erscheinenden Asien. Das ist vor allem China, welches sich anschickt zum wichtigsten Konkurrenten der USA aufzurücken. Mit 10% jährlichen Wachstums des Bruttosozialprodukts steht China zur Zeit einzig in der Welt da. Alle politischen und wirtschaftlichen Prognosen deuten in die Richtung, dass China als Führungsmacht Asiens spätestens in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts mit den USA gleichgezogen oder sie überrundet haben könnte.

China ist wiederum nur die Spitze des Eisberges, den die USA gegenwärtig abschmelzen möchten: Mit Chinas Wachstum ist ein Wachstum der gesamten asiatischen Welt und eine Umgruppierung der globalen Ordnung verbunden, welche die „einzig verbliebene Weltmacht“ tendenziell an ihren Platz als eine Macht unter anderen verweist. Dieser Entwicklung setzen die USA ihren Willen zur Konservierung des Status quo entgegen, der nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden ist. Die aktuelle Allianz gegen die militärische Lösung des IRAK-Konfliktes ist, ungeachtet der Widersprüch-lichkeiten in den Positionen ihrer einzelnen Träger, kein Zufall: China, Russland, Europa. Alle drei sind Anwärter auf dem Feld der Globalisierung, das heißt klar gesprochen, der Neugestaltung der Welt-Herrschaft. Nach ihnen stehen noch andere Länder in der Schlange für einen Platz im globalen Geschehen.

Man mag bezweifeln, dass die Bush-Administration in Zeiträumen eines ganzen oder auch nur eines halben Jahrhunderts denkt – ihre Strategen, aus deren Think-Tanks die Begriffe des „Kampfes der Kulturen“, der „Gelben Gefahr“, des „Weltweiten Terrorismus“ und der „Achse des Bösen“ stammen, tun es ganz zweifellos. Vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtige Atempause nur eine Etappe. Mit Ereignissen, die Anlässe zum militärischen Eingreifen liefern, ist zu rechnen.

Kai Ehlers

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Ein Pyrrhus-Sieg für G.W. Bush – oder wo wollen die USA ihren Limes bauen?

Der Krieg gegen den IRAK rückt immer näher: Vorgestern hat US-Außenminister General Powel seine Beweise für die angebliche Gefährlichkeit des IRAK vor der UNO vorgelegt – Indizien aus Satellitenaufnahmen, interpretationsbedürftig, Geheimdienstinfos über eine islamistische Gruppe, „Ansar“, im kurdischen Grenzgebiet zwischen Iran und Irak, über die Saddam Hussein und Bin Laden in Verbindung stünden.
Kein demokratisches Gericht der Welt würde eine solche Indizienkette für eine Verurteilung des Angeklagten akzeptieren. Den Washingtoner Gralshütern der Menschenrechte aber scheint es als Kriegsgrund zu reichen.
Gestern hat auch George W. Bush noch einmal zugelegt: Aus den bisherigen Drohungen wurde eine Quasi-Kriegserklärung; der Aufmarsch der US-Truppen am Golf ist nahezu abgeschlossen. Es kann also losgehen – und es wird losgehen. Auf niedriger Stufe wird der Krieg ohnehin schon seit längerem geführt. Alles, was jetzt politisch und diplomatisch abläuft, sind Versuche der Amerikanischen Regierung, den politischen Kollateral-Schaden dieses von ihnen gewollten Krieges für sich selbst so gering wie möglich zu halten.
Selbst die Hardliner im Weißen Haus wissen, dass dieser Krieg nicht nur das Image US-Amerikas als Wächterin der Menschenrechte beschädigt, sondern – neben dem erwarteten Zugriff auf das Öl – auch konkrete Verluste für das Land bringt:
Zwar ist es der US-Politik gelungen, die Europäische Union in ein „altes“ und ein neues Europa zu spalten, zudem auch Unruhen in der NATO zu schaffen, so dass die Anwärter auf eine NATO-Erweiterung sich als Vilnius-Gruppe mit einer eigenen Erklärung hinter die Politik der USA gestellt haben, aber was bedeuten den USA bei aller verbalen Aufwertung die Neuankömmlinge der EU real im Vergleich zu den alten Mitgliedern der Europäischen Union und insbesondere gegen deren Kernländer Deutschland und Frankreich? Deren Bedeutung für die USA lässt sich nicht durch die Vilnius-Gruppe und selbst nicht durch Italien oder Spanien ersetzen.
Weiterhin wird es den USA vermutlich gelingen, den ohnehin schwachen und seit dem letzten Krieg durch die Jahre des Embargos weiter geschwächten Irak, niederzuwerfen. Aber zu welchen Kosten?
Der Irak wird brennen – mit ihm aber drohen die arabischen Nachbarn zu brennen. Wenn das nicht sogar im konkretesten physischen Sinne des Wortes geschieht, weil die Ölfelder des Irak brennen und im Zuge des Krieges möglicherweise auch die der Nachbarn, dann doch mindestens im sozialen und politischen Sinne: Die Fackel, welche die Bush-Administration und Tony Blair jetzt anzünden wollen, droht den bisher nur behaupteten Kulturkampf zwischen der arabisch-islamischen und generell der islamischen Welt zu einer weltweiten Tatsache anwachsen zu lassen. Die von den US als Grund für den Krieg angegebene Bedrohung der Zivilisation durch den islamistischen Terror wird so erst richtig provoziert.
Kurz, was die Amerikaner fürchten müssen, ist ein Pyrrhus-Sieg gigantischen Ausmaßes. Zwar können sie die Gunst der Stunde nutzen, in der China, Russland und die EU aus unterschiedlichen Gründen noch nicht gemeinsam in der Lage sind, ihrem Zündeln Einhalt zu gebieten, das Ergebnis des amerikanischen Sieges aber wird eine konkrete Schwächung der US-Wirtschaft und eine gigantische politische, und – was noch entscheidender ist – kulturelle Front gegen die USA und den von ihr repräsentierten „Westen“ sein. Werden die übrigen Industriestaaten sich in diesen Strudel mit hineinziehen lassen? Werden China, Russland und Europa, werden auch die afrikanischen, südamerikanischen and pazifischen Staaten um des lieben Friedens willen zusehen, wie die USA für ihre eigenen Interessen die Weltsicherheit aufs Spiel setzen? Vielleicht noch dieses mal – das ist nicht auszuschließen. Aber ein nächstes Mal wird es schon nicht mehr in derselben Konstellation geben.
Die Römer haben es geschafft, den Untergang ihres Imperiums über mehrere Jahrhunderte auszudehnen. Aber gegen wen wollen die US-Amerikaner heute einen Limes bauen? Wie wollen sie in dem von ihnen beanspruchten globalen Imperium heute „innen“ von „außen“ trennen? Hier liegt das eigentliche Problem der USA, denn je globaler sie ihren Herrschaftsanspruch stellen, umso globaler entwickelt sich der Widerwille und Widerstand der Menschen, Völker, Staaten und Staatenbündnisse dagegen, die eine andere Welt wollen und als neue, aufstrebende Kräfte der nach-kolonialen Welt auch können – wenn sie von den USA und ihren unmittelbaren Parteigängern dabei nicht gestört werden. Das gilt sogar für die eigene amerikanische Bevölkerung. Selbst nach dem Vietnamkrieg war der Protest gegen den Krieg nicht so breit entwickelt wie jetzt bereits vor dem Kriege. George W. Bush, heißt das, wird einen siegreichen Krieg führen, aber er, genauer sein Land, wird ihn verlieren. Es spricht bedauerlicherweise wenig dafür, dass er das begreift.

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Russland, China, Europa – Unipolar, multipolar, neue Achsen?

Altdenker verstehen die Welt nicht mehr: Russlands Präsident Wladimir Putin hat sich der Position Deutschlands und Frankreichs in der IRAK-Frage angeschlossen. Er nannte die Pariser Entscheidung, in der er sich gemeinsam mit Jean Chiraque für eine weitere diplomatische Behandlung der Krise und damit gegen den Kurs der USA aussprach, einen „ersten Schritt zu einer multipolaren Welt“. Bundeskanzler Schröder wiederholte die Formulierung gegenüber seinen Kritikern. Gleichzeitig wandte Wladimir Putin sich gegen das sofort entstehende Gerede von einer „Achse“ zwischen Moskau und Paris, bzw. Moskau und Berlin. Von einer Achse oder einem Block könne nicht die Rede sein, erklärte er und lobte die harte Haltung der USA, ohne die der IRAK, wie er sagte, nicht zur Kooperation hätte gezwungen werden können.
Ist das nur prinzipienloser Pragmatismus? So wie Deutschlands Haltung ein Verrat an den gemeinsamen westlichen Werten, ein Verspielen des politischen Kapitals, eine Ermutigung für Saddam Hussein, ja, gar eine Steigerung der Kriegsgefahr, statt deren Beseitigung?
Und Chinas Position? Blanker Opportunismus und „ohne mich“ Isolationismus?
Nichts dergleichen: In der Konstellation Deutschland/Frankreich/Belgien, Russland, China, die sich dem offenen Kriegskurs der USA entgegenstellen, tritt die real bereits existierende neue Weltordnung erstmals offen in Erscheinung – unbeholfen noch wie im Fall der Europäer, abwägend bei den Russen und zurückhaltend bei den Chinesen. Aber doch eindeutig! Sie ist kein „Block“, keine „Achse“, keine bilaterale Lagerbildung gegen die USA, sie zielt auf die Einbindung der USA in die plurale Machtkonstellation, die aus dem Zerfall der bipolaren Welt hervorgegangen ist. Wer sich in diese neue Ordnung fügt, hat die Sympathie der Völker, die im letzten Jahrhundert nicht zu den herrschenden gehörten, jetzt aber teilhaben wollen an der Gestaltung der Welt, auf seiner Seite. Auf dieser Linie ist die terroristische Bedrohung abzubauen. Sie ist ja letztlich nichts anderes als die irrationale Revolte gegen die Reste der alten europäischen Kolonialordnung, vor allem aber gegen deren Globalisierung durch die USA. Auch die USA können von einer pluralen Neuordnung langfristig nur gewinnen, denn als „einzige Weltmacht“ sind sie absolut überfordert. Es sieht allerdings so aus, als ob die Bush-Administration nicht in der Lage ist, das zu erkennen.

Kai Ehlers

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Deutschland im IRAK-Konflikt – isoliert, ruiniert, Nachkriegs-Erbe verschleudert?

Ist Deutschland isoliert? Sinkt Deutschland zur Bedeutungslosigkeit herab? Nimmt Deutschlands Wirtschaft Schaden durch das NEIN der deutschen Sozialdemokraten und Grünen zum Präventivkrieg gegen den IRAK? Wird das historische Erbe vertan?
Nein, das historische Erbe wird nicht vertan. Das Erbe hieß: Nie wieder Krieg? Nie wieder Faschismus? Im Grundgesetz heißt es immer noch, dass nie wieder ein krieg vom deutschen Boden ausgehen soll. Das NEIN der rotgrünen Bundesregierung zu einem Präventivkrieg Krieg gegen den IRAK ist kein Verrat an diesem Erbe, es ist dessen richtige Nutzung. Fast möchte man sich der Hoffnung hingeben, das es eine Wiedergutmachung für die Fehler der Kosovo-Politik wird.
Und nimmt Deutschlands Wirtschaft Schaden? Mitnichten. Zwar wird Deutschland mit einem Boykott durch die US-Regierung rechnen müssen, auch mit wirtschaftlichen Sanktionen, aber dafür öffnen sich auch wirtschaftlich die Tore all jener Länder, die in Deutschland den Kooperationspartner von morgen erkennen.
Deutschland sinkt nicht zur Bedeutungslosigkeit herab, es outet sich vielmehr als Fürsprecher eines Europa, das sich in seiner neuen Rolle als Teil einer pluralen Weltordnung zurechtfinden muss. Lange war Deutschland in einem geteilten Europa isoliert, so wie Europa in der Welt isoliert war, sofern man unter Isolation die Trennung von Einflussnahme auf weltpolitische Entscheidungen versteht. Jetzt ist Deutschland wieder vereint und damit Europa wieder handlungsfähig, aber auf dem Niveau einer europäischen Union, statt einer losen Ansammlung konkurrirender Nationalstaaten. Herz dieses Einigungsprozesses, ohne den es kein Europa gibt, ist Deutschland. Wobei gleichzeitig klar sein muss, dass Deutschland nichts ist ohne Europa. Deutschland und Europa sind nicht voneinander zu trennen.
Wenn Deutschland in der IRAK-Frage NEIN zu einer militärischen Lösung sagt und dabei Frankreich und Belgien offen an seiner Seite hat, die Regierungen weiterer europäischer Staaten sich zwar bedeckt halten, ihre Bevölkerungen aber klar gegen einen Präventivkrieg eingestellt sind, ja selbst die Falken Großbritannien, Spanien und Polen mit einer Bevölkerung zu kämpfen haben, deren Mehrheit den Präventivkrieg ablehnt, dann ist Deutschland nicht isoliert, sondern Stichwortgeber einer Entwicklung, die das Erbe der bi-polaren Welt der Supermächte zu überwinden im Begriffe ist.
Und was ist das schließlich für eine Isolation, wenn sich Partner wie Russland, China, die afrikanische Union, die arabische Liga samt dem innenpolitischen Widerstand der USA auf derselben Seite einfinden?
Die Welt schaut auf diejenigen, die NEIN sagen zu dem, was Peter Scholl-Latour in seiner bärbeißigen Art den „politischen Exorzismus im Weißen Haus“ nennt. Der Nutzen aus diesem NEIN wird sich langfristig nicht nur in moralischer Zustimmung, sondern selbst in Euro und Cent ausrechnen lassen. Auch dies dürfte einer der Gründe sein, der den USA-Krisenmanagern Um G.W. Bush die Zornesröte ins Gesicht treibt.

Kai Ehlers

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Einzige Weltmacht – oder Anfang vom Ende der amerikanischen Welt?

Über die Entstehung neuer Integrationsräume
in einer nachkolonialen Welt

Vom Ende der amerikanischen Welt zu sprechen, während sich die USA soeben anschicken, der Welt ihren Willen zu einem langandauernden Krieg gegen die „Achse des Bösen“ aufzuzwingen, scheint nicht gerade im Strom zu liegen. Sieht doch alles so aus, als ob die Welt einer Ära der unangefochtenen US-Hegemonie entgegengehe. Selbst das aufmüpfige Europa, obwohl vereint durch den Euro, zeigt sich gespalten, ob es den USA in den Krieg folgen soll oder nicht. Die übrige Welt hält sich bedeckt, wartet ab.
Das martialische Auftreten der USA ist jedoch keineswegs Ausdruck ihrer Stärke, obwohl die USA zur Zeit unzweifelhaft die stärkste Militärmacht der Welt sind, sondern der fundamentalen Krise, in der sich dieses Land nicht erst seit dem 11.9. 2001 und keineswegs durch die Ereignisse dieses Tages verursacht, sondern schon lange davor befand und immer noch befindet. Die Berichte über Reihen zusammenbrechender US-amerikanischer oder US-amerikanisch dominierter Firmen und Finanzholdings, über die Verschuldung der amerikanischen Kommunen, über die wachsenden sozialen Probleme im Lande füllen ganze Bibliotheken. Der Krieg, den die gegenwärtige US-Administration führen will, ist lediglich Ausdruck davon. Er ist der Versuch, die Krise durch eine global angelegte Notstandspolitik zu überwinden. Effektiv wird die Krise der USA jedoch durch jeden weiteren Tag einer solchen Politik vertieft. Die USA betreiben nicht nur ihre eigene Entzauberung als freieste Nation der Geschichte, sondern auch ihre tendenzielle Entmachtung durch die „Bündnispartner“, denen sie heute Zugeständnisse machen müssen, um den geplanten Krieg führen zu können.
Mit dem Ende der UdSSR und dem Eintritt der Länder der ehemaligen UdSSR und ihrer Einflusszone in eine tiefgehende Transformationsphase schien die globale Hegemonie und das Definitionsmonopol für Fortschritt allein an die USA als dem gesünderen und effektiveren System überzugehen. Im Ergebnis machen sich die USA jedoch lediglich auf, das Erbe der kolonialen Geschichte Europas, einschließlich seines russisch-sowjetischen Auslegers anzutreten. Während Europa nach zwei Weltkriegen und am Ende der Systemteilung eine Widerbelebung seiner kolonialen Vergangenheit mehrheitlich ablehnt, während selbst die Engländer zu 50% gegen neue koloniale Abenteuer auftreten, die Deutschen nach zwei schweren Niederlagen im verspäteten Kampf um einen „Platz an der Sonne“ vor weiteren Versuchen dieser Art zurückschrecken und Russland sich um partnerschaftliche Beziehungen zu den GUS-Ländern bemühen muss, schwingen sich die USA zu einer Wiederbelebung imperialen Denkens im globalen Maßstabe auf. Amerikanische Strategen definieren die Welt heute als amerikanisches Imperium, in dem die Tradition des europäischen, speziell auch des englischen Empire im Interesse des Weltfriedens auf globaler Ebene durch die USA fortgesetzt werden müsse. Da gelten die klassischen imperialen Kriterien von innen und außen wie in den finstersten Zeiten des europäischen Kolonialismus: Sicherheit und Wohlstand innen, Unsicherheit, Unterdrückung und Armut außen. Von einer Weltgemeinschaft, die das Wohl und die Freiheit aller Menschen im Auge hat, ist in diesem Weltbild nicht mehr die Rede, ganz zu schweigen von einer Sorge um die ökologische Gesundheit des ganzen Planeten.
Tatsächlich entwickelt sich die Welt aber nicht so, wie amerikanische Strategen es nach dem Ende der Systemteilung, die man wohl als bisher letztes und höchstes Stadium der imperialen Aufteilung der Welt begreifen muß, definierten. Die Staffel der imperialen Hegemonialmacht geht keineswegs geradlinig von den Supermächten, die sie ihrerseits vom alten, durch zwei Kriege entkolonialisierten Europa übernommen hatten, allein auf die USA über. Vielmehr haben sich im Zuge der beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts und noch einmal verstärkt unter den politischen Schirmen der Supermächte, sozusagen in den Nischen der systemgeteilten Welt neue wirtschaftliche und politische Zentren herangebildet, die jetzt soweit sind, dass sie die Ereignisse nicht nur mitgestalten können, sondern auch wollen.
Da sind zuallererst die neuen Integrationsräume Euro-Asiens; das ist das Integrationsdreieck China, Russland, Indien mit der Mongolei als neutraler Mitte. Dieses Gebiet verzeichnet heute die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten der Welt. Das ist – von den US-Strategen arrogant, aber ignorant als „schwarzes Loch“ klassifiziert, der Integrationsraum Russlands und der GUS, der aber allen Unkenrufen zum Trotz ein Entwicklungs- und Wachstumsraum ist, ohne dessen Konsolidierung Euro-Asien im Chaos versinken müsste.
Es ist auch der arabische Raum, der gegenwärtig durch eine schwere Krise geht, der sich aber nichtsdestoweniger in Richtung einer Modernisierung und Selbstfindung bewegt.
Diese regionalen euroasiatischen Integrationsräume werden sich um so schneller herausbilden, ggflls. leider jedoch auch konfliktträchtiger, je massiver die USA versuchen, deren Entwicklung zu hintertreiben, sie einzudämmen oder gar zu verhindern wie das gegenwärtig besonders im Falle des arabischen Raums geschieht.
Zu den Integrationsräumen Euroasiens kommen Entwicklungsräume in Südamerika, Süd-Asien und tendenziell auch in Afrika dazu, die allerdings erst in dem Maße ihre Kraft entfalten können, wie die genannten Euroasiatischen Mächte an Eigenständigkeit und Stabilität gewinnen und sich miteinander in der faktisch entstandenen pluralen Ordnung organisieren. Die Europäer, konkret die entstehende Europäische Union, sind heute Bestandteil dieser Entwicklung.
Die USA sind bei genauer Betrachtung keineswegs die einzig verbliebene Weltmacht, sondern ebenfalls ein Bestandteil in der Pluralität dieser Entwicklung, aber anders als die Russen, die das Problem ihrer Über-Expansion in einer sich globalisierenden Welt erkannten und den risikoreichen Prozess der Transformation einleiteten, akzeptieren die USA die Entwicklung neuer Zentren nicht. Sie erkennen nicht die Grenzen ihrer Expansionsmöglichkeiten, sondern schwingen sich zur einzig verbliebenen Weltmacht auf, die keinen Konkurrenten neben sich dulden will. Damit verwandeln sie sich vom Botschafter und Protagonisten der NEUEN WELT, der sie noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts waren, in eine Bremse für die Verwirklichung der neu herangewachsenen Verhältnisse, die eine plurale und kooperative, keine hegemoniale Weltordnung unter Führung einer einzigen Nation verlangen. Sie werden aber die Entwicklung, selbst wenn sie den Globus mit Krieg überziehen, nicht aufhalten können; zu hoffen ist nur, dass kritische Teile der amerikanischen Gesellschaft dies begreifen, bevor ihre Regierungen die Welt in Brand gesteckt haben.
Den Grenzen zwischen den Integrationsräumen kommt unter diesen Bedingungen eine besondere Bedeutung zu, denn die Beziehungen zwischen den regionalen Integrationszentren können sich nicht friedlich entwickeln, wenn der Status der Grenzländer nicht im Einvernehmen zwischen den regionalen Zentren und den Grenzländern definiert wird. Beispiele für Konflikte in solchen Grenzräumen sind heute Afghanistan, Tschetschenien, auch der Irak. Die Ukraine, Weißrussland und Königsberg sind potentielle Konfliktherde, wenn keine Integrationsmechanismen gefunden werden, die diese Länder aus der Isolation zwischen den Grenzen der erweiterten Europäischen Union und dem des russischen Raumes führen. Lösungen können vermutlich, wenn man sich nicht für den Beitritt zu einen oder anderen Seite entscheiden kann, nur gefunden werden, wenn die Grenzlage zwischen den Integrationsräumen in ihrer besonderen Qualität als neutrale Zone nicht nur akzeptiert, sondern auch gefördert wird.
Aktuelle Friedenspolitik, die nicht nur die gewaltsame Eindämmung dieser Grenzkonflikte im Auge hat, hätte ihr Augenmerk daher mehr als bisher auf die Entwicklung der regionalen Integrationszonen zu richten, auf die Stärkung der Grenzräume als wichtige neutrale Verbindungszonen zwischen den Räumen, sowie auf die Herausbildung des politischen Mechanismus, der die organisierte Kooperation zwischen den regionalen Räumen sowie die Befriedung der Grenzräume fördert und stabilisiert.

Kai Ehlers

 

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Eurasia

Nach drei Monaten Reise-Recherche, die mich durch Russland in die Mongolei, von dort nach China und wieder zurück nach Russland und entlang der russisch-chinesischen Grenze bis nach Wladiwostok geführt hat, möchte ich Ihnen neue Themen für Vorträge, Seminare, Workshops vorschlagen. Aus Gründen Ihrer und meiner Ökonomie gebe Ihnen nur Stichworte und ordne die Vorschläge der Einfachheit halber entlang der Frage und entlang der Route, auf der ich unterwegs war. Sie lautete: Wie weit reicht Europa? Und: Gibt es eine stille Invasion Chinas über die Grenzen in die Gebiete seiner nördlichen und westlichen Nachbarn? Und schließlich: Gibt es Alternativen zum gegenwärtigen Lauf der sogenannten Globalisierung?
Konkretisierungen der Themen oder Erweiterungen – auch über die angesprochenen Themen hinaus – können wir gern und ausführlich mündlich vornehmen.

1. Kasan – 3. Hauptstadt Russlands? Das Thema beinhaltet die Entwicklung des russischen Föderalismus aus der Dynamik der Position Kasans, der Hauptstat Tatarstans im Zentrum Russlands und Euroasiens. Darin enthalten sind u.a. folgende Einzelthemen:
– Tatarstan gegen Putin – Exemplarischer Kampf um die Föderalisierung Russlands.
– Islam in Russland: Modell der Koexistenz, Bezugspunkt für die GUS und Alternative zu Tschetschenien?
– Konföderation „Idel-Ural“, Wolga-Ural – Kampf um die Rechte der nicht-russischen Minderheiten und kleinen Völker Russlands.
– Euroasien der Völker – Alternativen zu russisch-europäischen Visionen russischer und europäischer Rechter.
Basis: Gespräche mit in tatarischen und tschuwaschischen Nationalisten, moslemischen Geistlichen, Regierungsvertretern, Soziologen, diversen NGOs und Privatpersonen.

2. Mongolei – Schweiz Asiens? Hier geht es um die Mongolei als Katalysator einer multipolaren Alternative Asiens im Prozesse der Globalisierung. Darunter fallen u.a. folgende Einzelthemen:
– Zwerg zwischen Giganten – Mongolias eigener Weg der Neutralität im Dreieck zwischen Russland, China und dem Orient.
– Innere Mongolei: Autonomie und Chinesisierung.
– Altai – globale ökologische und spirituelle Ressource.
– Pan-Mongolismus – eine mögliche Variante und Gefahr für Asiens Stabilität?
– Genossenschaften in der Mongolei – Verbindung von Tradition und Modernisierung?
Basis: Teilnahme am 8. Kongress der Mongolenforscher im Sommer 2002 (sowie am 7. im Sommer 1997), Aufenthalt im russ. Altai, Recherche in Ulaanbaator und im Lande.

3. China ante Portas? Gibt es eine stille Invasion aus China in die Nachbarländer? Wohin führt Chinas wirtschaftliche Expansion? Kommt ein chinesisches Zeitalter?
Darunter fallen u.a. folgende Einzelthemen:
– Unterwegs in China – eine Reportage aus der chinesischen Provinz.
– Blagowéschjinsk – Porträt einer russischen Grenzstadt.
– Unterwegs an Russlands Grenzen zu China. Ist Russland ein Einwanderungsland?
– Brücke über den Amur? Chinesisch-russische Zukunft in Fernost?
Basis: Recherche entlang der russ.-chinesischen und russ.-mongolischen Grenzen. Teilnahme an Konferenzen zum Thema in Ulaanbaatar und Irkutsk, Gespräche in Ost-Instituten in Ulan-Ude, Blagowéschinsk, Wladiwostok u.a.

4. Euroasiatische Perspektiven – oder wie weit reicht Europa?
– Modell Europa oder Festung Europa? Europas Rolle im Prozess der Globalisierung.
– Wladiwostok – Fernost oder Vorposten Europas in Asien?
– Eurasien im Umbruch: Russland zwischen EU-Erweiterung und Shanghaier Union.
– Welt-Unordnung: Nach Moskau nun Washington? Fragen nach Richtung und Inhalt der Modernisierungskrise.
Basis (in Ergänzung zum oben schon Genannten): Gespräche in Moskau, Teilnahme an Konferenzen zu Fragen der Integration in Moskau, Russland und in der GUS.

5. Schließlich noch weitere Aspekte, die ich mit Vergnügen bei Ihnen realisieren würde:
– Gegenseitige Hilfe: Moral einer anderen Globalisierung. Befassung mit der notwendigen Einheit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
– Das Leben nach der Privatisierung – Analyse der sozialen Strukturen am Beispiel Russlands, der G.U.S. und der Mongolei, die sich aus der Privatisierung ergeben, mit Ausflügen in andere Länder u.a.. auch des Westens.
– Attila – ein literarisch-musikalischer, politisch-historischer Ausflug entlang des im Westen bisher unbekannten tschuwaschischen Epos von „Atil und Kriemchilt“. (Tschuwaschen = Kinder Attilas, leben heute in der automen Republik Tschuwaschien an der Wolga)
– Tschingis Chan lebt – Identität in Zeiten der Globalisierung am Beispiel der Mongolei und seiner Nachbarn. Zur Rolle des (alt)mongolischen „Tengerismus“, des chinesischen Universalismus und des Buddhismus im euro-asiatischen Osten.
– Babuschkas Töchter – zur Lage und zur Rolle der Frauen in Russland
– Frauen in der Transformation: Neue Weiblichkeit – Rückschritt oder Fortschritt? Frauenbilder aus Russland und der Mongolei.
Basis: Forschungsreisen durch Russland seit 1983, seit 1997 auch durch die Mongolei, 2002 auch nach China; mehrere Bücher, Publizistik, Bildungsarbeit und diverse Projekte zu diesen Themen.

Schließlich auch noch:
Methoden der Selbstfindung im Chaos der Globalisierung:
Ein Experimentelles Seminar (Workshop) zu den archetypischen Figuren Pyramide, Labyrinth, Fraktal. Diesem Konzept liegen eine Reihe von Veranstaltungen zugrunde, die ich dazu in Russland schon durchführen konnte.

Alle Themen stützen sich auf Recherche und intensiven Gesprächen vor Ort, sind diskursiv und multimedial (einschl. Video) angelegt. Das letzte Thema hat zudem eine aktivitätsorientierte und spielerische Dimension.


Bitte nehmen Sie Kontakt für Absprachen auf:
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November 2002 Angebote

Nach drei Monaten Reise-Recherche, die mich durch Russland in die Mongolei, von dort nach China und wieder zurück nach Russland und entlang der russisch-chinesischen Grenze bis nach Wladiwostok geführt hat, möchte ich Ihnen neue Themen für Vorträge, Seminare, Workshops vorschlagen. Aus Gründen Ihrer und meiner Ökonomie gebe Ihnen nur Stichworte und ordne die Vorschläge der Einfachheit halber entlang der Frage und entlang der Route, auf der ich unterwegs war. Sie lautete: Wie weit reicht Europa? Und: Gibt es eine stille Invasion Chinas über die Grenzen in die Gebiete seiner nördlichen und westlichen Nachbarn? Und schließlich: Gibt es Alternativen zum gegenwärtigen Lauf der sogenannten Globalisierung?
Konkretisierungen der Themen oder Erweiterungen – auch über die angesprochenen Themen hinaus – können wir gern und ausführlich mündlich vornehmen.

1. Kasan – Hauptstadt Russlands?

Das Thema beinhaltet die Entwicklung des russischen Föderalismus aus der Dynamik der Position Kasans, der Hauptstat Tatarstans im Zentrum Russlands und Euroasiens. Darin enthalten sind u.a. folgende Einzelthemen:
– Tatarstan gegen Putin – Exemplarischer Kampf um die Föderalisierung Russlands.
– Islam in Russland: Modell der Koexistenz, Bezugspunkt für die GUS und Alternative zu Tschetschenien?
– Konföderation „Idel-Ural“, Wolga-Ural – Kampf um die Rechte der nicht-russischen Minderheiten und kleinen Völker Russlands.
– Euroasien der Völker – Alternativen zu russisch-europäischen Visionen russischer und europäischer Rechter.
Basis: Gespräche mit in tatarischen und tschuwaschischen Nationalisten, moslemischen Geistlichen, Regierungsvertretern, Soziologen, diversen NGOs und Privatpersonen.

2. Mongolei – Schweiz Asiens?

Hier geht es um die Mongolei als Katalysator einer multipolaren Alternative Asiens im Prozesse der Globalisierung. Darunter fallen u.a. folgende Einzelthemen:
– Zwerg zwischen Giganten – Mongolias eigener Weg der Neutralität im Dreieck zwischen Russland, China und dem Orient.
– Innere Mongolei: Autonomie und Chinesisierung.
– Altai – globale ökologische und spirituelle Ressource.
– Pan-Mongolismus – eine mögliche Variante und Gefahr für Asiens Stabilität?
– Genossenschaften in der Mongolei – Verbindung von Tradition und Modernisierung?
Basis: Teilnahme am 8. Kongress der Mongolenforscher im Sommer 2002 (sowie am 7. im Sommer 1997), Aufenthalt im russ. Altai, Recherche in Ulaanbaator und im Lande.

3. China ante Portas?

Gibt es eine stille Invasion aus China in die Nachbarländer? Wohin führt Chinas wirtschaftliche Expansion? Kommt ein chinesisches Zeitalter?
Darunter fallen u.a. folgende Einzelthemen:
– Unterwegs in China – eine Reportage aus der chinesischen Provinz.
– Blagowéschjinsk – Porträt einer russischen Grenzstadt.
– Unterwegs an Russlands Grenzen zu China. Ist Russland ein Einwanderungsland?
– Brücke über den Amur? Chinesisch-russische Zukunft in Fernost?
Basis: Recherche entlang der russ.-chinesischen und russ.-mongolischen Grenzen. Teilnahme an Konferenzen zum Thema in Ulaanbaatar und Irkutsk, Gespräche in Ost-Instituten in Ulan-Ude, Blagowéschinsk, Wladiwostok u.a.

4. Euroasiatische Perspektiven – oder wie weit reicht Europa?

– Modell Europa oder Festung Europa? Europas Rolle im Prozess der Globalisierung.
– Wladiwostok – Fernost oder Vorposten Europas in Asien?
– Eurasien im Umbruch: Russland zwischen EU-Erweiterung und Shanghaier Union.
– Welt-Unordnung: Nach Moskau nun Washington? Fragen nach Richtung und Inhalt der Modernisierungskrise.
Basis (in Ergänzung zum oben schon Genannten): Gespräche in Moskau, Teilnahme an Konferenzen zu Fragen der Integration in Moskau, Russland und in der GUS.

Schließlich noch weitere Aspekte,
die ich mit Vergnügen bei Ihnen realisieren würde:

Gegenseitige Hilfe:
Moral einer anderen Globalisierung. Befassung mit der notwendigen Einheit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Das Leben nach der Privatisierung
Analyse der sozialen Strukturen am Beispiel Russlands, der G.U.S. und der Mongolei, die sich aus der Privatisierung ergeben, mit Ausflügen in andere Länder u.a.. auch des Westens.

Attila
ein literarisch-musikalischer, politisch-historischer Ausflug entlang des im Westen bisher unbekannten tschuwaschischen Epos von „Atil und Kriemchilt“. (Tschuwaschen = Kinder Attilas, leben heute in der automen Republik Tschuwaschien an der Wolga)

Tschingis Chan lebt
Identität in Zeiten der Globalisierung am Beispiel der Mongolei und seiner Nachbarn. Zur Rolle des (alt)mongolischen „Tengerismus“, des chinesischen Universalismus und des Buddhismus im euro-asiatischen Osten.

Babuschkas Töchter
zur Lage und zur Rolle der Frauen in Russland

Frauen in der Transformation: Neue Weiblichkeit – Rückschritt oder Fortschritt?
Frauenbilder aus Russland und der Mongolei.

Basis
Forschungsreisen durch Russland seit 1983, seit 1997 auch durch die Mongolei, 2002 auch nach China; mehrere Bücher, Publizistik, Bildungsarbeit und diverse Projekte zu diesen Themen.

Schließlich auch noch:
Methoden der Selbstfindung im Chaos der Globalisierung:
Ein Experimentelles Seminar (Workshop) zu den archetypischen Figuren Pyramide, Labyrinth, Fraktal. Diesem Konzept liegen eine Reihe von Veranstaltungen zugrunde, die ich dazu in Russland schon durchführen konnte.

Alle Themen stützen sich auf Recherche und intensiven Gesprächen vor Ort, sind diskursiv und multimedial (einschl. Video) angelegt. Das letzte Thema hat zudem eine aktivitätsorientierte und spielerische Dimension.


Bitte nehmen Sie Kontakt für Absprachen auf:

Beobachtungen zur „chinesischen Frage“ – gibt es eine „stille Invasion“ Chinas über seine Grenzen nach Westen?

Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung des Vortrages, den ich auf der Tagung zur Frage der „Integrationsprozesse in Osteuropa und der Europäischen Union“ und deren Bedeutung für die GUS gehalten habe. Die Tagung wurde „Moskauer Staatsinstitut für internationale Beziehungen“ (MGIMO) in Zusammenarbeit mit der Rosa Luxemburg Stiftung vom 30.10. bis 2.11.2002 durchgeführt. Sie ist Bestandteil eines längerfristigen Kooperations-Programmes.

Gibt es eine „stille Invasion“ über Chinas Westgrenzen in den sibirischen Raum und in die Mongolei? In der Öffentlichkeit, international wie auch in Russland, besonders in Moskau, sind solche Warnungen heute zu hören; von drei, vier, fünf und mehr Millionen Chinesen ist die Rede, die sich bereits auf russischem Territorium aufhielten, bereits eigene kommunale Strukturen entwickelt hätten etc. Auch die Mongolei wird angeblich von chinesischen Einwanderern überschwemmt. Wer diese Behauptungen vor Ort überprüft, wie ich es soeben in einer Forschungsreise in die Mongolei, nach Nord-China und entlang der russisch-chinesischen Grenze getan habe, muss sich belehren lassen: Warnungen vor einer unkontrollierbaren, millionenfachen „Expansion“ Chinas gehören in den Bereich der politischen Spekulation. Nicht in Ulaanbaatar, nicht in anderen Teilen der Mongolei, nicht in den Grenzstädte Sibiriens oder des Fernen Ostens gibt es eine bemerkenswerte chinesische Überfremdung oder gar eine China Town. Es gibt keine stille Invasion, vielmehr erhebt sich die Frage, wem Spekulationen darüber nützen.
Tatsache ist, dass China wirtschaftlich expandiert: Eine boomende Wirtschaft, ein wachsendes internationales Handelsvolumen, der Beitritt zur WTO, sowie der sichtlich steigende private Wohlstand einer wachsenden Mittelschicht Chinas legen davon beredtes Zeugnis ab. China steht heute mit einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 8 – 10% an der Spitze der zehn Staaten am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften vor den USA, die den zweiten Platz belegen. Danach folgen Japan, Indien, Indonesien, Süd Korea, dann Deutschland. Danach Thailand als weiter asiatischer Staat.
Kurz: Unter Führung Chinas ist der asiatische Raum heute der am schnellsten wachsende Entwicklungsraum.. Chinesisches Kapital sucht Anlagemöglichkeiten. Zugleich wächst die Massenarbeitslosigkeit in China, die zu Migrationsströmen chinesischer „Gastarbeiter“ in die Nachbarländer führt. Mindestens 120 000 Millionen Wanderarbeiter ziehen heute auf der Suche nach Arbeit durchs China, neun Millionen neue Arbeitsplätze werden zudem jedes Jahr für die immer noch wachsende Bevölkerung benötigt. 1,25 Milliarden Einwohner Chinas stehen 21 Millionen im gesamten sibirischen und fern-östlichen russischen und 2,6 Millionen in der Mongolei gegenüber. Bei Fortsetzung der Ein-Kind-Ehe wird sich der Bevölkerungszuwachs der jetzt 1,25 Milliarden Menschen Chinas mit 1,50 Milliarden nicht vor 2050 stabilisiert haben.
Diese Tatsachen mobilisieren Ängste bei Chinas Nachbarn.
Die Analyse örtlicher Spezialisten, die zu den Migrationbewegungen an den chinesischen Grenzen arbeiten, zeigt jedoch, dass von einer Invasion nicht die Rede sein kann. Die Zahl der sich in den Gebieten des fernen Ostens Sibiriens offiziell aufhaltenden Chinesen hat sich nach vorübergehendem Anschwellen auf ca. 750.000 im Jahre 1993 inzwischen auf den Stand von ca. 250.000 eingependelt. (Das sind gemessen an einer Bevölkerung Sibiriens und des fernen Ostens von 21 Millionen ca. ein Prozent, gemessen an der gesamten russischen Bevölkerung nicht einmal ein halbes Prozent, weit weniger als etwa Türken in Deutschland, die mit etwa 4 Millionen gut 5% der deutschen Bevölkerung ausmachen) In den Zahlen sind chinesische Touristen (ca. die Hälfte) mit enthalten; die große Mehrheit der übrigen Zugereisten rotiert zudem noch aus ökonomischen wie kulturellen Gründen, das heißt, die meisten chinesischen Gastarbeiter halten sich nur übergangsweise in den Gastländern auf, aus denen sie regelmäßig zu ihren Familien in China zurückkehren. Chinas wirtschaftliche Expansion hat bisher nicht zu einer massenhaften Invasion nach Sibirien und in den Fernen Osten geführt – weder chinesischen Kapitals noch chinesischer Arbeitskräfte. Im Gegenteil, nach Wiedereinführung des Visumzwanges Mitte der 90er ist die Zahl der Chinesen, die sich auf russischem Gebiet aufhalten, zurückgegangen.
Die Angaben von drei, vier oder mehr Millionen chinesischer Einwanderer in die westlichen Nachbarländer Chinas sind offenbar von Panik diktierte Hochrechnungen aus der Zeit direkt nach der Öffnung der Grenzen. Mehr noch, wird die Anwesenheit und die Aktivität der Chinesen auf russischem Boden von den örtlichen russischen Spezialisten zudem nicht als Gefahr, sondern als nützliche und sogar notwendige Bereicherung ihres Landes gesehen: Die chinesischen Billig-Waren ermöglichten der Bevölkerung zu Zeiten der Perestroika das Überleben; heute hat sich der Markt differenziert: „Nowi Russki“ decken sich mit Westwaren ein, Mitglieder der Mittelschichten kaufen auf dem russischen Markt (häufig übrigens chinesische Ware); aber die Mehrheit der Bevölkerung deckt die Grundbedürfnisse ihres täglichen Konsums immer noch über den chinesischen Markt. Weiter: Chinesische Gastarbeiter füllen die Lücken auf dem sibirischen, fernöstlichen und mongolischen Arbeitsmarkt – wesentlich in der Bauwirtschaft und im Agrarbereich; chinesische Investitionen halten sich im Rahmen langfristig geplanter staatlicher Kooperationsverträge bilateraler Art oder auch im Rahmen der Shanghai-Verträge. Mongolische Experten machen vergleichbare Angaben für die Mongolei.
Das „chinesische Problem“ besteht somit nicht in einer unkontrollierten Invasion unerwünschter chinesischer Migranten über die Grenzen der Nachbarländer,. Die Ein-Kind-Politik Chinas weist zudem darauf hin, dass China keine ungebremste Expansion seiner Bevölkerung will. Das Problem liegt zur Zeit vielmehr in der Überführung des illegalen Grenzverkehrs mafiotischen und räuberischen Charakters in legale wirtschaftliche Beziehungen mit China zum gegenseitigen Nutzen. Die gegenwärtige Situation nützt den Kräften, die Ressourcen des eigenen Landes – russische Wälder, mongolische Wolle, Felle, dazu Edelmetalle, Gas, Öl in großem Maßstab aus beiden Ländern illegal nach China verschieben, nützt denen, die an den Grenzkontrollen gewaltige Schmiergelder einstreichen, nützt den örtlichen Unternehmern, die ihre minderwertige Produktion, in die sie selbst nicht investieren, gegen die chinesische Konkurrenz abschotten wollen. Statt den notwendigen Austausch in der Region künstlich einzuschränken und in die Illegalität zu drängen, muss eine Politik, die an der Entwicklung des eigenen Landes interessiert ist, daher nicht auf Einschränkung der Verbindungen zu China, sondern eher auf den Bau von Brücken über den Amur, von Bahnlinien, von Fern-Trassen, von Pipelines, kurz, auf den Ausbau einer kontrollierbaren ökonomischen und auch kulturellen Infrastruktur des Raumes zielen, wie es die Verträge von Shanghai vorsehen. Wie die Beziehungen zwischen China und seinen westlichen Nachbarn sich in Zukunft entwickeln, hängt davon ab, ob es der Politik gelingt, die zur Zeit durch mangelnde Rechtssicherheit illegalisierten Beziehungen in eine legale und offene Wirtschaftsentwicklung des Raumes zu überführen.
In diesem Rahmen kommt der Mongolei zwischen den Giganten China und Russland eine besondere Rolle als politisch stabilisierender und neutralisierender Faktor zu. Durch das Hinzutreten der Mongolei als neutraler Transitraum zwischen den Giganten Russland und China, aber auch Japan und Europa/Amerika, erhält die Dualität der chinesisch-russischen, wie auch generell der ost-westlichen Beziehungen den Impuls zur Entwicklung einer multipolaren Neuordnung des sibirisch-zentralasiatischen Raumes, das heißt auch zu einer echten Alternative gegenüber einer unipolaren Neuordnung internationaler Beziehungen und zu der bloß militärischen Lösung . In diesem Sinne ist die Mongolei auch eine Alternative zu Afghanistan.

Aus all diesen Gründen ist es unsinnig, von einer „chinesischen Gefahr“ zu sprechen; zu sprechen ist vielmehr von einer Chance zur multipolaren Entwicklung des zentralasiatisch-sibirische Raums, in dem China eine wichtige Rolle spielen kann. Die russische Politik hat dies klar erkannt. Nicht anders sind die programmatischen Worte Wladimir Putins zu verstehen, mit denen er sich kurz nach seiner Amtsübernahme per Internet einführte. Er erklärte seinerzeit, Russland müsse seine Interessen als euro-asiatisches Land wahrnehmen, indem es Beziehungen nach Westen/Europa wie nach Asien und in den Orient gleichermaßen entwickle. Diese Position hat er seitdem – aller scheinbaren West-Orientierung des „Deutschen im Kreml“ wiederholt und durch Besuche in Sibirien, dem Fernen Osten, China und seine Haltung zu Korea unterstrichen. Die multipolare Orientierung Russlands ist auch unter den Bedingungen der neuen Freundschaft mit den USA keineswegs aufgegeben, sondern wird weiter aktiv verfolgt. Als Präsident Bush nach dem 11. September in Moskau weilte, trafen sich in St. Petersburg die Mitglieder der Shanghai Organisation, um ihre Kooperation zu intensivieren und sich eine Charta zu geben. Auch die europäische Politik ist sich der Bedeutung des nord-west-asiatischen Entwicklungsraumes bewusst und spricht, wenn sie von ihren Interessen spricht, so der deutsche Kanzler Schröder, von der Möglichkeit einer multipolaren Entwicklungschance.
Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, wem der Mythos von einer „chinesischen Gefahr“ nützt. Die Frage ist einfach zu beantworten: Er nützt allen den Kräften, die Interesse daran haben, die Entstehung einer wirtschaftlichen und politischen Alternative im sibirisch-asiatischen Raum, die den Keim einer multipolaren Ordnung in sich trägt, zu stören oder gar zu verhindern. Es ist die Ideologie einer möglichen Konfrontation. Ihr entgegenzutreten liegt im Interesse aller, die an einer friedlichen Entwicklung einer neuen Völkerordnung in Zentralasien und damit verbunden global interessiert sind.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Mongolia and the outside world – a chance for mutual transformation

A short outview to the possibilities of Mongolian development
by Kai Ehlers, researcher and writer, Germany
held on the congress of Mongolists
in Ulaanbaator from 5th to the 12th of August 2002.
The speech was written on the 8th of August during the congress.
It will be added to the congress papers.

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Dear friends
Dear participants of the congress.

Please allow me to introduce myself: My name is Kai Ehlers.
Necessary to say: I´m not a Mongolist, working at University or some special institute; I´m a writer, a publicist, a private researcher, trying to understand today’s transformation – starting in Russia, continuing in Mongolia and central Asia, ending with principle questions of the relationship between globalisation and cultural and national identity.

Although I´m not a Mongolist then – I´m glad to take the opportunity to speek to you, even if it will be a very short speech, as by some misunderstanding I did not know in advance, that I was supposed to have this speech and so only yesterday evening succeeded to write it.

I should explain why I´m glad to speak to you, of course:
I took part in the last congress five years ago. That time I only listened to the speeches, and put questions to participants; after the congress I made researches in the country itself – listening too, this time to the people.
And I may give it to you as a compliment: I learned a lot about today’s transformation in general and about Mongolia’s situation especially by listening to all these knowing and openly speaking people of the congress, and I learned a lot afterwards by speaking to people living in Ulaanbaator and on the countryside, to all these people going around one big question: Where Mongolia is going to and if it will be able to modernize, more exactly said: If Mongolia will be able to find a transformation, which combines modern western industrial life with former soviet and traditional ways of living and understanding of the world, especially if it will be able to find a way to a modern way of nomadic life.

One main thing I noticed already at that time: Mongolia will go it`s own way – BY ALL MEANS. There is no other way. It can´ t be a copy of the western industrial world; this has already been proved by the end of the soviet way of industrialism and urbanism, which was sort of a younger brother of western industrialism, a younger brother, who always wanted to be equal with the elder one and so tried to force things.

Of course I noticed the BUT, too, because there is a big BUT, of course:
I want to say, that Mongolia will find it´s place as a modern nomadic Society only then, when the surrounding world does not disturb it`s development, moreover – when Mongolia finds help from the outside.

THIS TIME – at the 8th congress, which is dealing with the question „Mongolia and the surrounding world“ — I take the chance not only to listen, but to talk to you, because I think I noticed something on my fifteen years lasting way through Russian transformation, which could be worth while to know in any country of the earlier soviet world – and finally not only there, but within the whole process of today´s changes, which are called globalisation.

I would like to put it in this way:
Observing Russian transformation from Michael Gorbatschov to Boris Jelzin, from Boris Jelzin to Wladimir Putin, who is already more of a traditionalist, I found, that a simple copy of the western industrial way of life, like it was brought out by IWF, World bank, including Russian early reformers shows out to be not possible – may it be the American way of life, may it be the German, the Swedish, the French or any other model of so called free market. This free market does not work; it is not, what people want, even if they are fond of democracy and private property; it does not develop at any place – besides Moscow and some big cities. And even in Moscow there is no free market of western type – and will not be. Some special Russian structure shows to be stronger than the ideology of the free market, at least as equal to it. Some specific Russian capitalism is growing, which combines traditional Russian and Soviet structures of social and economic and mental collectivism with new forms of participation in the global market. Russian pupils of the Moscow „School of social economics“, namely the rector of the school Theodor Shanin, teaching economies in Manchester as well, call this the EXTRAPOLAR EKONOMY. It does not work according to classical laws of capitalism of the western type, but follows it`s own laws. The sense of it could be concentrated in the sentence: Money is not all; money is not the only equivalent, but there are values like – mutual favour, connections, moral debts and other forms of equivalent, which do actually work in the Russian society.

I want to give two examples to you:
First: There is the big Russian concern GASPROM. Everybody knows it. GASPROM is a MULTI of a modern type – but yet it is bound to these extrapolarian roots in the grounds of Russian everyday-life and traditional structures – which means: The staff and workers of GASPROM don`t live only on salaries, but on basis of their private gardens, their „Datschas“, their local connections, their moral debts and so on.
There is the second example: Today earlier collective farms, sovchos and kolchos – those which overcame the collapse of agriculture – exist only by combining collective way of work, collective economy like before with the new private form of shareholder organisation and a private economy of families, which is based on their gardens, own animals and so on.

Sort of symbiosis between collective, big, industrial structures and small, private, family-based subsistencial structures has developed in post-perestroika Russian economies. I want to say: Some new reality is growing in Russia, which is not the former soviet – and not the so-called free capitalism. What is coming out of it at long terms is a matter of further serious investigation, especially if You consider, that even western market economies are not really free, but strictly regulated – but one aspect seems clear to me without any question already today: What we find true in Russia, will be more true in Mongolia, as Mongolian traditional social structures are doubtless still farer away from urban capitalism than Russian, of course. Some new combination between traditional nomadic structures and structures of industrialism of the western type will grow, including desasted earlier soviet structures. Let`s say like this: Urban industrialism will not only transform nomadic life, but nomadic life as well the capitalism of today.

Remains the question: HOW? What may be the results of mutual transformation of urban industrialism and nomadic life?
This is, of course, a matter of future investigation, too. But – coming to the end of my speech – I very shortly would like to point out some observations, which can be made already now and which are worth, I hope, to be discussed:

1. Nomadic societies have always been sort of an impulse for the urban societies to develop new mobility. This may occur today, too. In the past this impulse occurred and realized itself by wars. Today it may occur by cultural diversication of global capitalism. Nomadic life may show itself as the strongest power in this process of cultural diversication of capitalism.
The fundamental meaning of this is: Transformation of the capitalism towards a new mobility and nomadic life towards a modern economy, bases on new techniques of today – without liquidation of nomadic culture.
The example for this may be: The Ger with sun collector on one side and a new way of mobile housing and techniques in the industrial centres on the other. In this sense Mongolia, owning the most developed nomadic culture in the nomadic world and situated between different settling cultures from the East and from the West, may not stay only a Buffer between China and Russia, as it is now, but become an impulsator, maybe even sort of a leader of a principle mutual transformation of local cultures and economical globalisation. In political respect Mongolia may develop as an alternative towards Afghanistan, which means, it may become the peaceful variant of the principally inescapable conflict between industrial urbanism and nomadic or half-nomadic cultures, developing as a political and military neutral zone between China, Russia, America, India an Europe and thus forcing a multipolar new order of our today´s world.

I thank you for listening and I hope, that we can have a little discussion.

 

Wladiwostok – Vorposten Europas?

Sieben Zugnächte von Moskau entfernt endet im Osten an der Küste des Atlantic die Fahrt der transsibirischen Eisenbahn in Wladiwostok, dem äußersten Ausleger Russlands im Osten. Umgeben vom Bogen der japanischen Inseln im Westen, der Halbinsel Koreas und dem großen chinesischen Hinterland im Süd-Westen liegt die Stadt als Wachtposten Russlands auf den Hügeln vor dem japanischen Meer. Der Festungscharakter der Stadt ist auch heute nicht übersehbar: Kriegsschiffe, wenn auch manche nicht in bestem Zustande, bestimmen das Bild des Hafens.
Aber nicht russische Kolonisten gründeten die Stadt, sondern französische Händler. Ein Stadtbild europäischen Zuschnitts: Nicht russische Architektur – Holzhäuser, Kuppeln uä., sondern mitteleuropäische prägt das Zentrum; der Hafen erinnert eher an Madrid, Bordeaux oder Hamburg Von Wladiwostok aus ist St. Francisco schneller zu erreichen als Paris, Berlin oder Madrid. Der Westen liegt im Osten, der Osten im Westen. Erst im weiteren Umkreis zieht sich die typische Plattenbebauung der neueren sowjetischen Zeit die umgebenden Hügel hinauf.
Hier in Wladiwostok fühlt man sich ganz europäisch. „Wladi Wostok“, wörtlich „Beherrsche den Osten“ – das war das Programm der Gründer dieser Stadt. Als „Vorposten Europas in Asien“ fühlten sich Wladiwostoks Einwohner/innen zur Sowjetzeit und, das versichern sie schmunzelnd, so verstehen sie sich auch heute. Vorposten war Wladiwostok im doppelten Sinne: Vorposten der europäischen Kolonisation in Asien Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, später Vorposten Russlands, danach der UdSSR und als bedeutendster sowjetischer Kriegshafen bis 1992 geschlossenes Gebiet. Hier erinnert man sich an drei japanisch-russische Kriege, hier ist die Konfrontation des Kalten Krieges noch frisch im Gedächtnis. Erst Perestroika öffnete die Stadt wieder für den Westen. Dem einheimischen Maler Igor Rubaschuk war diese Tatsache wichtig genug, um sie in einem Bild: „Besuch des französischen Kriegsschiffes Jean D`Ark im Hafen von Wladiwostok,“ festzuhalten, das heute in Galerien und Broschüren der Stadt gezeigt wird.
In seiner Doppelrolle als Vorposten Russlands und des Nicht-russischen Westens zugleich hat Wladiwostok immer eine Sonderrolle gespielt. Nicht von ungefähr wurde mit dem Bau der transsibirischen Eisenbahn von hier aus begonnen. Obwohl geschlossene Stadt, beanspruchte Wladiwostok als einziger ozeanischer Hafen der UdSSR auch zur Sowjetzeit eine besondere Rolle. Auch Perestroika nahm in Wladiwostok ihren besonderen Verlauf. Unter seinem Gebiets-Gouverneur Nostratenko galt Wladiwostok als besonders eigenwillig; zur Zeit Boris Jelzins kursierten Gerüchte über Abtrennungstendenzen des „Primorsker Gebietes“.
Von Wladiwostok aus wurde auch die „chinesische Frage“ am schärfsten gestellt. Gouverneur Nostratenko gefiel sich in scharfen chauvinistischen Warnungen vor der „gelben Gefahr“, vor der „chinesischen Expansion“ und „millionenfachen Invasion“, nicht zuletzt, um so von Moskau besondere Zuwendungen und Vollmachten zu ertrotzen. Bis heute geistern die Zahlen aus dieser Zeit durch die westlichen, einschließlich Moskauer wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Medien. Sie differieren von 1,5 bis 6 Millionen Chinesen, die bereits in Russland lebten.
Von Wladiwostok aus wird die „chinesische Frage“ nach ihren chauvinistischen Überreizungen durch Nostratenko jetzt allerdings auch am ernsthaftesten analysiert; der „Hysterismus“ der zurückliegenden Jahre wird relativiert und aktiv bekämpft: Die chinesische Migration, so kann man jetzt von führenden Spezialisten des Ortes, zum Beispiel dem Direktor des „Instituts für Geschichte , Archeologie und Ethnologie der Völker des fernen Ostens“, Prof. Larin, hören, sei keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Erstens sei die Zahl der chinesischen Migranten in der jüngsten Vergangenheit heillos übetrieben worden; tatsächlich hielten sich im gesamten fernen Osten und in Sibirien, einschließlich illegaler Einwanderer zur Zeit zwischen 200.000 und 300.000 Chinesen auf, keines Falles aber mehr als 500.000. Die Zahl der effektiv in Russland siedelnden Chinesen wird von Prof. Larin und Kollegen in anderen russisch-chinesischen Grenzstädten im Bereich von ein, zweitausend angesiedelt.
Entscheidend, so Professor Larin, sei ohnehin nicht die Frage der Zahl der chinesischen Immigranten, sondern die Frage, wie mit ihnen, wie generell mit der Tatsache der Immigration von Seiten der russischen Behörden umgegangen werde. Im Grunde biete das aktuelle Wachstum der chinesischen Wirtschaft und die chinesische Migration nach Russland die Chance einer gemeinsamen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des fernöstlich-sibirischen und zentralasiatischen Raumes – wenn sie von den russischen Behörden für wirtschaftlichen Austausch genutzt und nicht zu nationalistischen Zwecken mißbraucht werde.
Mit dieser Sicht der Entwicklung löst sich Wladiwostok vom „Alarmismus“ der Nostratenko-Zeit. Heute ist die Stadt bestrebt, sich zur vierten Hauptstadt Russlands – neben Moskau, St. Petersburg und Kasan – zu mausern; sie wirbt mit ihrer Weltoffenheit. Sie ist auf dem besten Wege, von einem militärischen Vorposten der Sowjetunion zum Sprungbrett des neuen Russlands nach Asien zu werden – vor allen nach China, aber auch Korea und Japan. Zugleich öffnet sie ein zweites Tor nach Westen. In der Verbindung von beidem liegt Wladiwostoks besondere Chance. Ob es eine Chance für Europa, für Russland oder für eines der asiatischen Länder ist, ist dabei schon nicht mehr wichtig, denn in Wladiwostok verlieren die Ost-West-Koordinaten ihre Bedeutung.

 

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Blagoweschinsk Brücke über den Amur?

In Blagoweschinsk kommen sich Russland und China am nächsten. Diesseits des Amur liegt Blageweschinsk als behäbige Provinzhauptstadt des rusischen Amur-Verwaltungsgebietes; vom gegenüberliegenden Ufer grüsst nachts durch riesige Lichterketten hell erleuchtet, die dynamische Silhouette von ChejChej auf die Uferpromenade von Blagoweschinsk herüber.
CheiChei wurde von der chinesischen Regierung als freie ökonomische Zone deklariert, Blagoweschinsk wartet seit Jahren auf eine entsprechende Moskauer Entscheidung. Die Beziehung zwischen beiden Städten ist schnell erklärt: Blagoweschinsk lebt heute vom Handel mit chinesischen Waren. CheiChei, so erinnern sich die Blagoweschinsker, war noch vor fünfzehn Jahren ein armseliges, gottverlassenes Dorf im vernachlässigten Grenzbereich zwischen Russland und China.
Heute kann Blagoweschinsk ohne den chinesischen Markt, der über CheiChei versorgt wird, nicht mehr existieren. Als der Visazwang für einreisende Chinesen nach vorübergehender Aufhebung 1992 Mitte der Neunziger wieder eingeführt wurde, sank das Warenangebot in Blagoweschinsk vorübergehend auf das Niveau der Krisenjahre der beginnenden Perestroika. Die Bevölkerung von Blagoweschinsk, vornehmlich die weniger verdienenden Schichten, wie auch der übrigen Grenzanrainer im sibirischen Westen sowie im fernen Osten war vorübergehend wieder unterversorgt, weil nur noch Westware auf den Markt kam.
Heute können sich in Blagoweschinsk wieder alle sozialen Schichten der Bevölkerung kaufen, was sie zum Leben brauchen. Es existieren mehrere Märkte nebeneinander, die unterschiedliche soziale Schichten bedienen.
Auf dem chinesischen Markt kauft die wenig oder gering verdienende Bevölkerung der Stadt, vornehmlich aber der ländlichen Gebiete: ein russischer Markt versorgt die zahlenmässig geringe, vor allem städtische Mittelklasse des Gebietes.
Auf dem „Russischen Markt“ werden jedoch nicht vornehmlich russische Produkte, wie man denken könnte, sondern ebenfalls chinesische Waren verkauft – Ware von gehobener Qualität, die länger als die Billigware des chinesischen Marktes hält. Die Chinesen, so die Einheimischen, haben innerhalb kürzester Zeit gelernt, unterschiedliche Märkte mit unterschiedlichen Waren zu beliefern.
Bleibt schliesslich noch der „Jahrmarkt“ zu erwähnen, der die gehobenen Ansprüche der gut situierten Bürokratie und der neuen Reichen bedient, die es selbstverständlich auch am Amur gibt.
CheiChei ist heute eine Stadt von etwa zwei Millionen Einwohnern; viele chinesische Studentinnen und Studenten besuchen die Hochschulen von Blagoweschinsk. Zehn Prozent der Bevölkerung von Blagoweschinsk sind Chinesen. „Unsere Stadt verdankt den Chinesen ihren heutigen bescheidenen Wohlstand“, so ist von russischen Kleinunternehmern und in intellektuellen Kreisen der Stadt zu hören. Andere Töne hört man aus den Kreisen der einheimischen Leichtindustrie. Sie fühlt sich durch die chinesische Konkurrenz bedroht. Sie würden die Chinesen, um den bekannten russischen Volksdemagogen Wladimir Schirowski zu zitieren, am liebsten in den Amur jagen. Auf’s Ganze gesehen aber lebt man gut mit den Chinesen. Von „Gelber Gefahr“ ist hier in Blagoweschinsk nicht die Rede; hier ist die Rede von den Vorteilen gutnachbarschaftlicher Beziehungen.
Drei Vorteile werden vor allen anderen genannt: die Versorgung des Marktes mit Waren, die Aufffüllung des unterversorgten Arbeitsmarktes mit Arbeitskräften, die rege Bautätigkeit chinesischer Eigentümer auf russischem Boden. Dies alles, so das weitgehend übereinstimmende Resumee, gilt als positiv. Als negativ gilt allein die illegale Zuwanderung; die jedoch hält sich nicht nur nach offiziellen Angaben, sondern auch aus Sicht von deren Kritikern, inzwischen in kontrollierten Grenzen.
Da wundert man sich schliesslich, warum das Projekt einer Brücke über den Amur, das bereits seit 1992 zwischen den Vertretern der Städte Blagoweschinsk und CheiChei diskutiert wird, nicht schon lange begonnen wurde. Beide Seiten sind angeblich interessiert, Peking wie auch Moskau haben ihr strategisches Einverständnis erklärt. Der Bau der Brücke wäre ein grosser Schritt zur Entwicklung aktiver wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und China im Amur-Raum und im fernen Osten, zumal noch eine weitere Brücke bei Chararowsk weiter im Osten im Gespräch ist.
Alle Seiten versichern ihr Interesse an einer solchen Brücke. China hält Finanzen und Arbeitskräfte bereit, allerdings mehr Arbeitskräfte als Finanzen. Der russische Präsident ist mehrmals in seiner Amtszeit im fernen Osten gewesen, sein Wirtschaftsminister in den letzten zwei Jahren mehr als ein dutzend mal. Dennoch ist noch kein erster Spatenstich erfolgt. Die Gründe sind schwer zu ermitteln. Die örtliche Bürokratie hüllt sich in Schweigen. Aus Hinterzimmern ist jedoch vernehmbar, Moskau verzögere die Entscheidung.
Örtliche Geschäftsleute, die an der Brücke interessiert sind, noch mehr örtliche Intellektuelle, die sich kritisch mit der Frage der chinesischen Immigration befassen, machen die Unfähigkeit der örtlichen Bürokratie verantwortlich, die keine klare Politik in der Frage der Beziehungen zu China habe.
Die Wahrheit dürfte wohl darin zu finden sein, dass Moskau zwar klare strategische Interessen an einer starken Kooperation mit China hat, allein schon, um den USA etwas entgegenzusetzen, das aber innerrussische Clans und regionale Interessengruppen bei einer solchen Öffnung der Grenzen um ihre Monopolstellung fürchten, die sie jetzt trotz allem immer noch geniessen. Gewiss aber ist: Solche und ähnliche Gründe können den Bau der Brücken verzögern, verhindern können sie ihn nicht.

 

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Einwanderungsland Sibirien?

Beispiel Irkutsk.

Irkutsk ist eine alte russische Kolonialstadt. Sie entstand aus der Zurückdrängung der Taren-Mongolen durch die Truppen des Moskauer Zaren im 17. Jahrhundert, genau 1661. Der Name Irkutsk selbst zeugt von dieser Geschichte. Er geht, so die Erinnerung von mongolischer Seite, auf das mongolische Hauptstadt der Burjätischen autonomen Republik, Ulan Ude, deren Name sich aus dem mongolischen Ulan-Ut herleitet. Das eine bezeichnet einen kräftigen männlichen, das andere einen offenen, weiten Ort. In beiden Orten, östlich und westlich des Baikal, sahen die Nomaden besondere Kräfte des Natur konzentriert. Die russische Geschichte weiß von dieser Namensentwicklung nichts zu berichten.
Bis in die Anfänge des Zwanzigsten Jahrhunderts war Irkutsk eine gemütliche Ansammlung von Holzhäusern am nördlichen Baikalsee. Mit der sowjetischen Entwicklung wurde das alte Zentrum von Industrieanlagen und Plattenbauten eingekreist. Heute ist auch Irkutsk eine der millonenstarken sibirischen Industrieagglomerationen – allerdings immer noch mit einem historischen Kern und malerisch gelegen am Angara, der aus dem Baikal nach Norden fließt, so daß die Stadt seit Jahren wachsenden Zulauf von Touristen aller Ländern hat.
Seit 1991 allerdings, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das hört man von EinwohnerInnen, einheimischen Wissenschaftlern ebenso wie von Geschäftsleuten, verändere Irkutsk sein Gesicht zuehends: Man meint damit die azerbeidschanische Vorstadt, die ethnischen Mafias, vor allem aber den chinesischen Markt. Schanghai, heißt es, liegt heute im Zentrum unserer Stadt.
Seit der Öffnung der Grenzen 1991 wurde und wird Irkutsk zunehmend zu einem Ort der legalen, mehr aber noch der illegalen Einwanderung: Es sind Immigranten aus westlichen Teilen der ehemaligen Union, Armenier, Azerbeidschaner, Tschetschenen; es sind Immigranten aus den GUS-Ländern Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, auch aus den südlichen Teilen des sibirischen Rusland, Tuwa, Chakasien, Altai, vor allem aber sind es Chinesen, die zu Tausenden als Händler und Arbeitsimmigranten in die Stadt und in den Regierungsbezirk Irkutsk strömen.
Genaue Zahlen sind naturgemäß nicht bekannt. Die Zahl der legalen Einwanderer hält sich bei einigen zehntausend für Irkutsk in überschaubaren Grenzen, heißt es in der Gouvernementsverwaltung. Über die illegalen Zuwanderer, die von ethnischen Schlepperbanden ins Land geschleust werden, liegen keine Zahlen vor. Die weitaus größte Gruppe, so viel zeigt schon der Augenschein, stellen jedoch die Chinesen, die scharenweise und in wachsendem Masse ins Land kommen.
Genaue Angaben sind schon deswegen nicht möglich, weil die Mehrheit dieser Menschen unangemeldet in der Stadt und im Land Irkutsk lebt – wie auch in den angrenzenden Gebieten. Zudem ist – vornehmlich bei den chinesischen Immigraten – die Fluktuation sehr stark. Manche reisen – mit zeitlich begrenzten Visen von drei Monaten – mehrmals im Jahr ein und wieder aus; andere bleiben nach Ablauf der drei Monate illegal im Lande, wieder andere kommen völlig ohne legale Papiere oder benutzen die ihrer Verwandten. Die Verwaltung, des Chnesischen nicht mächtig, ist nicht in der Lage diese Vorgänge zu kontrollieren.
Vorsichtige Schätzungen gehen für den gesamten sibirischen und fern-östlichen Raum von gut einer Million chinesischer Immigranten aus. Andere, bemerkenswerter Weise, moskauer Angaben liegen bei sechs Millionen. So oder so: Der objektive Druck, den die 1,2 Milliarden starke chinesische Bevölkerung auf den mit 20 Millionen vergleichsweise unterbesiedelten sibirischen und fern-östlichen Raum ausübt, ist unübersehbar.
In der Bewertung dieser Entwicklung ist man vor Ort jedoch erstaunlich nüchtern: Prof. Djadlow von der historischen Fakultät der Stadt Irkutsk beispielsweise, Spezialist für die Entwicklung von Diasporen, insbesondere der chinesischen, deren Entstehung er seit Jahren mit mehreren Forschungsprojekten verfolgt, sieht keine aktuelle Bedrohung des russischen Lebensraumes durch die Immigration, auch nicht durch die chinesische. Er weist vielmehr auf die unterschiedlichen Phasen hin, welche die Immigration, insonderheit die chinesische, seit 1991 durchlaufen habe:
1991 bis 1993, so der Professor, habe die Immigration durch chinesische Kleinhändler Sibirien und den fernen Osten – vielleicht sogar Russland im großen Maßstabe – vor der totalen Katastrophe gerettet, als chinesische Billigstwaren die notdürftigsten Lebensbedürfnisse der russischen Bevölkerung deckten. Zwar habe sich inzwischen ein russischer Markt für gehobene und mittlere Ansprüche herausgebildet, auf dem – Geld vorausgesetzt – alles zu bekommen sei. Für die unteren sozialen Schichten sei der chinesische Billigmarkt jedoch auch heute noch überlebenswichtig.
Zum Zweiten, so der Professor weiter und liegt damit ganz auf der offiziellen Linie der Irkutsker Politik – würden dem russischen, speziell dem sibirisch-fernöstlichen Arbeitsmarkt durch die Immigration die notwendigen, ohne die Immigranten sonst fehlenden Arbeitskräfte zugeführt.
Ganz im Gegensatz nämlich zu den landläufigen, vor allem im Westen verbreiteten Klischés der wachsenden russischen Arbeitslosigkeit, so der Professor, sei der russische Arbeitsmarkt, vor allem der sibirisch-fern-östliche in gefährlichem Maße mit Menschen unterversorgt, die bereit seien, physische Arbeit zu leisten. Die einheimische Bevölkerung verweigere zu weiten Teilen den Einsatz bei physischer Arbeit, sie bewege sich lieber nach Westen, wende sich dem Kommerz, intellektuellen oder dienstleistenden Arbeiten zu. Die physischen Arbeiten würden zunehmend von Immigranten aus dem Süden und dem Osten übernommen – armenische, azerbeidschanische, tschetschenische Bauarbeiter seien heute die Regel, besonders aber die Chinesen, die durch die hohe Arbeitslosigkeit in ihrem Heimatland über die Grenzen getrieben würden und gezwungen seien, jegliche Arbeit anzunehmen, die sich biete.
Bisher, so der Professor – halte sich die ganze Entwicklung daher in Grenzen. Aktuelle Warnungen vor einer „gelben Gefahr“ hält er für Alarmismus. Bisher sei die Immigration weder für Irkutsk noch für andere sibirisch-fern-östliche Städte gefährlich, sondern immer noch nützlich, zumal Ansiedlung, Eigentumserwerb und Einbürgerung durch aktuelle Gesetze sehr erschwert würden. Für die Zukunft allerdings sieht nicht nur der Professor, sondern sehen auch staatliche Organe Probleme: Bei weiterer Zuwanderung von chinesischen Immigranten, ja, deren zu erwartender St eigerung, so befürchtet man, könnte das kulturelle Gleichgewicht der Stadt Irkutsk wie insgesamt Sibiriens verloren gehen, das sich bisher durch eine ausgewogene Vielfalt an Kulturen auszeichnete. In zehn oder fünfzehn Jahren könnte eine Situation entstehen, daß neben der sibirischen nur noch eine weitere Kultur existiere, die chinesische. In einer solchen kulturellen Doppelstruktur aber liege die große Gefahr von Prioritätskonflikten, die es bisher in Irkuts nicht gebe. Wie dieser Gefahr begegnet werden kann – darüber gibt es keinen politischen Konsens. Die Zeit werde es zeigen. Allein darin ist man sich einig.

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Ausflug nach China

Ulaanbaator,
Samstag, 24. August 2002

 

Von Ulaanbator ist es nur noch eine Tagestour, 600 km, mit der Bahn nach China. Ein Visum ist leicht besorgt: Zwei Stunden Schlange-Stehen vor der chinesischen Botschaft, dreißig Dollar – das ist alles, was an Hürden zu überwinden ist. So leicht ist das also?
Nein, so leicht ist es nicht. Nach dem leichten Auftakt folgt eine Hürde der nächsten: Es beginnt mit den Fahrkarten. Platzkarten für ein Coupé sind nicht zu bekommen. Es gibt nur noch Karten für die „offenen Waggons“. Selbst die erweisen sich als hoffnungslos überfüllt; die Fenster sind trotz glühender Hitze nicht zu öffnen. Auf sechs Plätze kommen acht Menschen. Schon vor der Abfahrt ist die wenige Kleidung, die man trotz der Hitze anstandshalber noch tragen muß, bereits durchgeschwitzt. Männer sitzen mit nacktem Oberkörper, Frauen fächeln sich Luft unter die Blusen.
Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt, wird an der weiter steigenden Hitze und den Staubwolken, die den Zug begleiten, klar: Der Weg führt von Ulaanbaator geradewegs durch die GOBI. Selbst nachts ist vor Hitze an Schlaf nicht zu denken.
Morgens früh um sechs erreicht der Zug den mongolischen Grenzort Saming Ud, was soviel heißt wie Grenztor oder Zolltor. Der Ort liegt mitten in der Wüste Gobi und ist das Tor der Mongolei nach China.
Saming Ud – das ist das Bahnhofsgebäude, darum herum ein paar eingezäunte Höfe mit Jurten. In Saming Ud endet die Fahrt des mongolischen Zuges. Jenseits der Grenze, schon auf chinesischem Staatsgebiet, liegt Ereen. Zwischen Saming Ud und Ereen müssen alle Passagiere umsteigen, um per Bahn, Bus oder in Jeeps die Grenze zu überqueren. Hektik entsteht. Jeder will der Erste sein. Auf der chinesischen Seite der Grenze staut sich die Kolonne mongolischer Jeeps, Busse; dann kommt auch noch der Zug. Alle stehen in glühender Hitze auf freier Steppe.
Mittags machen die chinesischen Grenzer zwei Stunden Pause. Nur chinesische Wagen werden durchgewunken. Antichinesische Ressentiments werden laut. Man schimpft über die schikanösen Kontrollen, über den Hochmut, über die Menschenfeindlichkeit der Chinesen, bei der der einzelne Mensch nicht zähle, über den „Gestank“, der aus der GOBI in die Mongolei hineinwehe. Überhaupt sei der „chinesische Geruch“ für Mongolen nicht aushaltbar. Man schwärmt von der schönen, freien Mongolei. Mentalitäten treffen hier aufeinander. Es ist offensichtlich, daß die Reisenden nur widerwillig die Grenze passieren. Warum tun sie es also? Warum nehmen so viele Menschen diese Fahrt durch die Gobi, die Hektik dieser Kontrollen auf sich? Und das, wie ich höre, jeden Tag?
Es geht um den Grenzhandel, erklären meine Begleiter. In Ereen kann man billig einkaufen. Die Hektik erkläre sich aus der Tatsache, daß diejenigen die besten Chancen hätten, die zuerst in Ereen ankämen.
Am späten Nachmittag, als wir selbst endlich Ereen erreichen, wird die ganze Szene mit einem Schlage klar: Die Stadt ist ein einziger Marktplatz. Anfang der 90er Jahre lebten in Ereen 6 – 7000 Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen; heute leben dort über 80.000, Tendenz steigend. Buchstäblich an jeder Ecke wird gebaut. Ereen lebt und wächst vom Grenzhandel mit der Mongolei.
Altes China – Fahrradrikschas und jämmerliche Armut barfüßiger und halbnackt herumlaufender Menschen, die in elenden, nicht kanalisierten stinkenden Hütten hausen – und modernste Architektur nach westlichem Muster prallen hier brutal aufeinander. Das Alte wird gnadenlos abgerissen, die Entstehung des Neuen kann man von Tag zu Tag beobachten. Meine mongolischen Begleiter sind fasziniert und abgestoßen zugleich von der Geschwindigkeit dieses Wachstums. „Sie verstehen zu bauen, die Chinesen“, sagen sie, „aber wenn wir sie ins Land holen, werden sie uns verschlucken.“
In Ereen, das begreift man innerhalb von wenigen Minuten, hört die westliche Welt auf. Keine russische, keine mongolische Verlängerung dieser Welt reicht bis in diesen Ort. Hier gelten nur noch zwei Werte: Der eine ist der gnadenlose Handel mit Billigware jeglicher Art, die hier aus allen Teilen Chinas angeliefert und von mongolischen Kleinhändlern im täglichen Grenzverkehr in die Mongolei und von dort nach Russland geschafft wird. Als Zwischenhändler und Vermittler nomadisieren die mongolischen Händler zwischen einem von Waren strotzenden China auf der einen und einem darbenden Russland auf der anderen Seite ihrer Staatsgrenze.
Das zweite, was in Ereen zählt, ist China: In Ereen wird nicht mehr Russisch gesprochen, auch nicht englisch, französich oder sonst eine westliche Sprache. Internationale Begriffe sind hier nicht bekannt. In Ereen wird Chinesisch gesprochen. Zahlen werden nicht an den Fingern abgezählt, sondern in Gesten dargestellt. Selbst Mongolisch ist kaum noch zu hören, obwohl Ereen auf den Handel mit den Mongolen angewiesen ist und zudem zur „Autonomen Republik der Inneren Mongolei“ gehört, die verfassungsgemäß über eine eigene Sprachhoheit verfügt.
In Ereen wird zudem weder russisch, noch mongolisch oder sonst irgendwie westlich gekocht und gegessen, in Ereen gibt es ausschließlich chinesische Küche. Unübersehbar ist in diesem Zusammenhang auch der Ursprung mongolischer Ressentiments: Wer jemals chinesischen Reisschnaps getrunken hat, gewinnt vielleicht eine Vorstellung von den Gerüchen, die von dieser Stadt ausgehen.
In Ereen kann es einem passieren, daß jemand lächelnd auf einen zukommt, prüfend den nackten Arm oder das Gesicht betastet, um sich ein Bild von der Andersartigkeit dieses wunderlichen Ausländers zu machen.
Kurz gesagt: In Ereen endet nicht nur sprachlich die westliche, die russische und schließlich die russisch-mongolische Welt, hier endet auch der Geltungsbereich westlicher Mentalität und Psychologie. Gleichzeitig entsteht hier eine Art von aggressivem industriellem Modernismus, die über den im Westen bekannte weit hinausgeht. In Ereen, so scheint es, entsteht die Welt neu.
Was in der Grenzstadt Ereen als Ausnahme erscheint, zeigt sich in der Provinzhauptstadt der Inneren Mongolei, ChuChot als Regel: Auch diese Stadt boomt; gnadenlos wird die Altstadt niedergerissen und durch moderne Wohnblocks ersetzt, um Raum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen, deren Zahl die 2,5 Millionen bald überschreitet.
Aber es ist nicht die mongolische Bevölkerung, die wächst, es sind vor allem aus dem Inneren Chinas hinzuziehende Chinesen. Nur noch 20% der Bevölkerung der ehemals mongolischen Stadt ChuChot sind Mongolen der Inneren Mongolei. Auch für ChuChot gilt: Chinas moderne Welt ist nicht westlich, auch nicht multikulturell, sie ist chinesisch. Wie lange die in China lebenden Minoritäten sich diesem Prozess beugen, ist eine offene Frage. Sie wird zur Zeit aber nur hinter verschlossenen Türen diskutiert. Zu groß ist, bei aller wirtschaftlichen Freiheit, die man für sich in Anspruch nimmt, die Angst vor möglichen Repressionen.

 

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Beobachtungen am Rande der zivilisierten Welt…

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

 

Ulaanbaator ist eine Reise wert. Das gilt insbesondere, wenn sich Mongolisten aus aller Welt dort treffen, um zu beraten, wie es mit der Modernisierung des Nomadentums weitergehen kann und welche Beziehung das nomadische Leben zukünftig neben oder im Prozess der Globalisierung der Zivilisation, sprich der Welt des industriellen Fortschritts einnehmen kann oder soll. In dieser Frage ist man, wie aus den Beiträgen und Gesprächen der über 400 Gäste des Kongresses hervorgeht, keineswegs einer Meinung. Die einen zitieren den englischen Staatstheoretiker Thoynbee, der dem Nomadentum zwar eine hohe Bedeutung für die Geschichte der Menschheit beimisst, der aber schon für das letzte Jahrhundert die Zeit gekommen sah, da nomadische Kultur generell in die moderne Zivilisation aufgehen werde.
Kurz gesagt: Die Zeit des Nomadisierens sei vorbei, so Thoynbee; was noch an nomadischen Kulturen existierte, allen voran die zentralasiatischen, im Besonderen die mongolische, betrachtete er als auslaufendes Modell, das der entstehenden städtisch-industriellen Zivilisation weichen müsse.
Töne a la Thoynbee hört man heute keineswegs nur von den Gästen aus dem Westen, aus Russland oder aus den Reihen der zahlreichen chinesischen Delegation. Auch von mongolischen Wissenschaftlern werden solche Positionen vertreten: Die Mongolei, fordern sie, müsse die nomadische Art der Viehwirtschaft durch systematisches Ranching ablösen, wenn sie auf dem globalen Markt bestehen und nicht zwischen den großen Nachbarn China und Russland als Rohstoff- oder Land-Reservoir verbraucht werden wolle.
Eine Modernisierung dieser Art entspräche im Übrigen auch den Vorgaben des IWF, der Weltbank und verschiedner Entwicklungsbanken, die über die Mongolei dasselbe Raster einer „effektiven Reformpolitik“ legen wie sie es über Russland oder irgendein anderes „Entwicklungsland“ gelegt haben – ungeachtet der Tatsache, ob die zugrundegelegten Erfolgsraster auf das jeweilige Land anwnedbar sind oder nicht. Mag man das in Russland noch für strittig halten – hier in der Mongolei ist offensichtlich, daß nicht nur nach-sowjetische, sondern insbesondere die bedingungen des nomadischen Lebens absolut nicht die Vorgaben des IWF erfüllen. „Aber“, so versuchte eine Teilnehmerin des Kongresses aus Holland die Politik des IWF zu erklären, „was ökonomisch effektiv ist, muß nicht immer sozial richtig sein.“ Unklar blieb, ob das als Kritik oder als Rechtfertigung des IWF zu verstehen sei.
Diesen Vertretern einer schroffen Modernisierung stehen naturgemäß ebenso schroffe Traditionalisten gegenüber, die nomadisches Leben, nachdem es durch die sowjetische Modernisierung und Zwangs-Urbanisierung bereits von 80% auf 30% der Bevölkerung reduziert war, heute in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen wollen. Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage, wo die ursprüngliche Reinheit beginnt. Einige Mongolen gehen bis zu den Hunnen zurück. Andere belassen es bei den von Tschingis Chan überlieferten Regeln. Hier trifft sich ethnischer Traditionalismus mit einem neuen nationalen mongolischen Selbstbewusstsein: Ein ganzer Tag des siebentägigen Kongresses war dem offiziellen Gedenken an den 840 Geburtstag Chingis Chans gewidmet. Staatspräsident Nazagiln Bagabandi höchst persönlich und eine ganze Reihe weiterer Persönlichkeiten der Mongolei hielten an diesem Tag lange Reden zu Ehren des archaischen Reichsgründers, der neben der nomadischen Kultur das zweite identitätsstiftende Element für die heutige Mongolei abgibt.
Vertreter traditionalistischer Positionen sind nicht selten schon an ihrer Kleidung zu erkennen. In prächtigen Fest-Dels, den praktischen Umhängemänteln der Nomaden, in malerischen Spitzhüten und Stiefeln beleben sie – unter ihnen nicht wenige westliche Wahlnomaden – die ansonsten eher europäisch-konservative Kleiderordnung des Kongresses.
Seriöse Positionen, will sagen, zukunftsfähige Positionen, liegen zwischen diesen Polen. Die Mehrheit der Teilnehmer/innen des Kongresses ist auf dieser mittleren Linie zu finden: Etwas Drittes müsse entstehen, heißt es, einfach deshalb, weil es nicht anders gehe, weil die natürlichen Bedingungen keine Landwirtschaft des Siedlungstyps zuließen,
weil die nomadische Kultur für die mongolische Bevölkerung lebenserhaltend sei, weil die Mongolei zwischen den Siedler-Imperien China und Russland gar keine andere Wahl habe, als seine Andersartigkeit zu erhalten, wenn es nicht untergehen wolle, weil die Mongolei nicht an die Spitze der Globalisierung spurten könne, aber auch nicht in die Steinzeit zurückfallen dürfe.
Bleibt die Frage: Wie?
Nach zehn Jahren Schock-Privatisierung zeigen sich in der Mongolei ähnliche Phänomene wie in Russland: Aus dem Überschwang einer übertriebenen Privatisierung, die zu erheblichen sozialen Ungleichgewichten geführt, vor allem den Besitz an Tieren so ungleich verteilt hat, daß eine geregelte Beweidung der nicht-privatisierten und nach allgemeiner Übereinstimmung auch nicht privatisierbaren Steppen nicht möglich ist, setzt jetzt eine Etappe der Rückbesinnung auf kollektive Formen der Bewirtschaftung ein. Ansätze von Kooperativen bilden sich, in denen sich drei, vier oder fünf Hirten-Familien zusammentun, um die Steppen gemeinsam zu beweiden und die Weiterverarbeitung der tierischen Produkte und deren Verkauf sowie die Anschaffung der dafür notwendigen neuen Technik, Infrastruktur und sogar Ausbildung gemeinsam zu organisieren. Diese Entwicklung beginnt erst. Hier liegt die Perspektive einer Modernisierung des nomadischen Lebens ohne Liquidierung der nomadischen Kultur.

Ulaanbaator 7.8.2002

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Dritte Hauptstadt – Kasan

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

 

Moskau soll wieder das 3. Rom werden, das wünschen die einen, St. Peterburg wieder das Fenster zum Westen, so hoffen es die anderen. Der Einzug des gebürtigen St. Petersburgers Wladimir Putin in den Kreml verschärfte diese Konstellation zur Konkurrenz zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen Hauptstadt.
In Tatarstan, der automen Republik an der Wolga mit der stärksten ethnischen Minderheit, zudem islamisch, tritt noch ein drittes Element hinzu: Kasan, die Hauptstadt der Republik, sähen viele Tataren, selbst viele Russen Tatarstans gerne als dritte Hauptstadt des Landes. Sie soll den Osten mit dem Westen verbinden, die Tradition der „Goldenen Horde“, aus der das ehemalige Chanat Kasan hervorging, mit dem russischen und europäischen Westen. Kasan, kurz gesagt, versteht sich als das eigentliche euroasiatische Zentrum.
Der Präsident Tatarstans, Mentimer Schamijew orientiert seine Politik mehr als andere Republikpräsidenten an westlichen Reformvorgaben – und ließ den Aufbau von über 1000 Moscheen in den letzten zehn Jahren mit türkischer und arabischer Hilfe finanzieren. Der von der Staatsduma soeben freigegebene Handel mit landwirtschaftlich genutztem Boden zum Beispiel, wurde in Tatarstan bereits vor mehreren Jahren als eigenes Modell beschlossen – konnte allerdings wegen mangelnder Ausführungsbestimmungen nicht durchgeführt werden.
Tatarstan konnte sich unter Jelzin zum Vorreiter innerrussischer Souveränitätsbewegungen entwickeln. Wirtschaftlich, politisch und kulturell erkämpfte es sich Rechte, die ihm weitgehende Unabhängigkeit von Moskau gaben. Raschid Jakimow, politischer Berater des tatarischen Präsidenten, wurde Initiator einer Bewegung für den föderalen Aufbau. Unter seiner Initiative wurde Kasan als Sitz des Föderationssowjets vorgeschlagen.
Beim Vorschlag blieb es allerdings: Wladimir Putin hat es geschafft, Tatarstans neuen Sonderstatus weitgehend wieder einzuschränken. Heute muss Tatarstan seine wirtschaftlichen Überschüsse, besonders die aus seiner reichen Ölförderung, wieder an Moskau abführen; Präsident Schamijew musste sich öffentlich dem Moskauer Inlandgeheimdienst (FSB) und den von Putin eingesetzten, die Republiken übergreifenden Administratoren unterordnen.
„Eine unsinnige Maßnahme“, nennt Raschid Jakimow diese Entwicklung, „die neue Verwaltung hat keine Ahnung von den konkreten Problemen des Landes. Wenn es um ernste Fragen geht, muss der Kreml so oder so mit uns, der Landesregierung verhandeln. Ergebnis ist nur eine weitere Aufblähung der Bürokratie, welche die Entwicklung bremst.“ „Putinitza“, nennt Jakimow das neue Regime Putins mit einem Wortspiel, die reine Verwirrung.
Der letzte Akt dieses Stückes, gerade vor einem Monat gegeben, ist der Beschluss der Moskauer Staatsduma, dass hinfort in Russland nur noch eine Schrift erlaubt sei – kyrillisch, weil andernfalls, so die Begründung, die Sicherheit Russlands gefährdet sei. Raschid Jakimow gibt sich sarkastisch, als er von dieser neuesten Wendung berichtet. Aber faktisch ist damit der Plan Tatarstans, zur lateinischen Schrift überzugehen und sich somit für den außerrussischen islamisch-türkischen Raum zu öffnen,, gestoppt. Wladimir Putin hat vorerst sein Ziel erreicht, keinen Islamischen Stoßkeil im Herzen Russlands zu dulden, der den tschetschenischen Impuls weiter nach Russland hineintragen könnte.
Aller Tage Abend ist damit jedoch für die Freunde des Föderalismus noch nicht: Von einer dritten Hauptstadt Kasan, in der sich der Föderationssowjet niederlassen könnte, ist zur Zeit zwar nicht mehr die Rede. Dafür, so Raschid Jakimow, breite sich nun aber in der russischen Föderation das – ebenfalls aus der Denkschule Kasans stammende – Stichwort der Subsidiarität aus, das den föderalistischen Gedanken nur in anderer Form weiter transportiere.
Nicht so verhalten klingt das Echo auf Putins Rezentralisierung aus den Kreisen der „nationalen Bewegung Tatarstans“. Schon fast vergessene Träume einer Union der nicht-russischen Völker des Wolga-Uralraumes werden wieder wach. Von der Bildung eines Euroasiatischen Völkerbundes ist die Rede. Stark setzt man sich allerdings gegen Alexander Dugin ab, der Euroasien von China bis Europa, Schweden bis Indien unter der Führung Moskaus gegen Amerika vereinigen will. Man träumt vielmehr von drei Völkerbünden, einem kaukasischen, einem sibirischen und dem Wolga-Ural-Bund, die miteinander die Grundlage für eine föderative Ordnung Euroasiens bilden sollen, zu der auch das europäische Russland und die Länder der GUS gehören. Die Vereinigung der Völker des Wolga-Ural-Raumes würde nach diesen Vorstellungen die Tataren, die Tschuwaschen, die Baschkiren, die Utmurten, Moldawier und die Mari umfassen, eben jene Völker, die mit den Hunnen, später mit den Mongolen nach Westen gezogen und dort an der Wolga heimisch geworden sind. Von hier aus, heißt es, seien immer die entscheidenden Impulse zu Veränderungen in Russland ausgegangen. Als vereinigendes Band gilt die Zugehörigkeit der meisten dieser Völker zum Islam und – soweit das wie bei den Tschuwaschen nicht zutrifft – zum turk-tatarischen Sprachraum. Darüber hinaus handelt es sich bei der Mehrheit der Völker, einschließlich der sibirischen und kaukasischen um Angehörige ehemaliger, in einigen Fällen auch noch heute lebendiger nomadischer Kulturen.
Auch wenn klar ist, dass keines dieser größeren oder kleineren Völker heute außerhalb des russischen Zusammenhanges existieren könnte, auch nicht unter Führung eines unabhängigen Tatarstan, Wolga-stan oder wie immer, so ist doch klar, dass die Entwicklung der neuen russischen Staatlichkeit nicht an diesen Völkern vorbeigehen kann. Das gibt der offiziellen tatarischen Politik den Druck von unten, den sie braucht, um Moskau gegenüber zu bestehen und macht Tatarstan zum natürlichen Führer im Kampf um die Föderalisierung Russlands.

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Von Moskau nach Tscheboksary

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

Wo endet Europa? Wo beginnt Asien? Wohin wendet sich Russland nach zwei Jahren autoritärer Modernisierung unter Boris Jelzins Nachfolger Wladimir Putin? Wie orientiert sich Russland heute zwischen Asien und Europa? Welche Bedeutung kommt der Gründung einer euroasiatischen Partei zu, die im Mai den Besuch George W. Bushs in Moskau flankierte? Diesen Fragen gehe ich gegenwärtig in Russland nach. Die Reise führt von Moskau über Tscheboksary an der Wolga, Kasan, Nowosibirsk bis Ulaanbaator und an die russisch-chinesische Grenze.
Moskau, wo ich erste Zwischenstation mache, gibt auf diese Frage nur eine Antwort – die Antwort der Megametropole. Moskau ist nicht Russland. In Moskau stellt sich die Frage „Asien oder Europa“ zwar auch, aber hier klärt sie sich nicht: Moskau ist Zentrum, in Moskau halten sich die unterschiedlichen Einflüsse die Waage, Moskau ist eine Welt für sich, ein einziger Marktplatz heute, der eigenen Gesetzen gehorcht.
Dann aber am nächsten Tag Tscheboksary, die Hauptstadt der autonomen Republik Tschuwaschien an der mittleren Wolga: Auch hier ist die Modernisierung unübersehbar. Aus dem hässlichen Entlein einer mittleren sowjetischen Industriestadt, die noch vor wenigen Jahren an den Folgen der Krise zu ersticken drohte, ist ein geputzter Ort geworden, der sich anschickt, westliche Abenteuer-Touristen auf den Wolgasee zu locken, welcher aus der Aufstauung der Wolga hier in den letzten zehn Jahren entstanden ist. In den Straßen Tscheboksarys westliche Automarken, in den Geschäften westliche Preise, in den Büros Computer. Kurz, man darf sich auch in Tscheboksary an der Wolga als Westler wie zuhause fühlen. Es geht, wie es scheint, alles seinen kapitalistischen Gang. Putins autoritäre Modernisierung trägt ihre Früchte.
Aber dann ist da die Sache mit dem Bier: Bier ist Tschuwaschiens Nationalgetränk; Hopfen und Malz sind sein nationaler Reichtum. Über das ganze Land ziehen sich die großen Hopfenstaffagen. Nicht verwunderlich also, daß Bier überall angeboten wird. Doch das Ausmaß! Rundum Menschen mit der Flasche in der Hand, junge vor allem, viele Betrunkene.
Wer nach den Gründen dafür fragt, erfährt, dass die tschuwaschische Republik gewissermaßen im Biernotstand lebt. Die republikanische Verwaltung hat Bier zum nationalen Exportschlager in andere russische Republiken und ins Ausland machen wollen. Aber der Absatz stockt. Das Bier muss im Lande verbraucht werden. Der tschuwaschische Präsident selbst wirbt im Fernsehen für den nationalen Bierkonsum. Die Folgen sind unübersehbar. Die tschuwaschische, vor allem männliche Jugend säuft sich um ihre Gesundheit.
Wer ins „Tschuwaschische Kulturzentrum“ geht, wird mit weiteren nationalen Notständen konfrontiert, die sich nicht auf den nationalen Bierkonsum beschränken: Michael Juchma, vielfach prämiierter tschuwaschischer Volksschriftsteller, Leiter des Zentrums ist verzweifelt: Die „Bewegung der nationalen Wiedergeburt“, die unter Michael Gorbatschow mit großen Hoffnungen auf eine eigenständige Entwicklung des tschuwaschischen Volkes entstand, noch durch Jelzins Aufforderung an die Völker der Sowjetunion, sich so viel Souveränität zu nehmen, wie sie brauchen, verstärkt wurde, siecht unter dem Druck der von Wladimir Putin neuerlich ausgehenden Zentralisierung und damit verbundenen Russifizierung des Landes dahin. Das tschuwaschische Zentrum, seinerzeit von Perestroika-Demokraten gegründet, bettelt heute umsonst um Unterstützung. Die tschuwaschische Regierung gibt keinen Rubel; sie hat sich voll und ganz Wladimir Putins Kurs unterworfen.
Selbst die Türkei, die den turksprachigen Schriftsteller Michail Juchma als wichtigern Partner umwarb, lässt ihn heute gnadenlos abblitzen. Die Zeiten, in denen es opportun war, innerrussische Souveränitätsbewegungen von außen zu unterstützen, weil man sich davon Einfluss auf ein zerfallendes Russland versprechen konnte, scheinen für´s Erste vorbei. Heute finden sich Russland ebenso wie die Türkei im Bündnis gegen den internationalen Terrorismus. Das verpflichtet zur Zurückhaltung gegenüber innerrussischen, wie es dort heißt, „nationalen“ Souveränitätsbestrebungen.
Eher schon ist die Befürchtung von Michael Juchma und den Seinen berechtigt, dass sie demnächst Objekte des soeben von der russischen Staatsduma beschlossenen Gesetzes gegen Extremismus werden könnten, ohne dass sich von außen Proteste dagegen erheben. Formal mit dem notwendigen Vorgehen gegen rassistische Umtriebe von Nazi-Skinheads und offenen faschistischen Gruppen wie die der „Russischen Nationalen Einheit“ (RNE) begründet, lässt die Praxis der russischen Ordnungskräfte befürchten, dass die eigentlichen Adressaten die ethnischen Minderheiten selbst sein könnten, die angeblich durch das Gesetz geschützt werden sollen. Diese Sorgen haben nicht nur Vertreter der in die Isolation geratenen ethnischen Gruppen, die schon mehr als einmal in letzter Zeit vor den Inlandgeheimdienst FSB (den erneuerten KGB) vorgeladen wurden. Auch die sozial-liberale Partei „Jabloko“, die einzige oppositionelle Kraft in der Moskauer Staatsduma, lehnte eine Zustimmung zu dem neuen Gesetz mit Hinweis auf diese Vorgänge ab. Die einzige Hoffnung der ethnischen Minderheiten liegt darin, paradox wie immer wieder in Russland, dass auch dieses Gesetz nicht das Papier wert ist, auf dem es gedruckt ist, weil es vor Ort schlichtweg nicht befolgt werden könnte.

 

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Russlands Asienpolitik – „Achse der Stabilität“, statt „Achse des Bösen“.

Sechzehn Staaten Asiens und Nordafrikas trafen sich zum ersten Gipfel einer „Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien“ (CICA) am 4. Juni in Alma Ata: Aserbeidschan, Afghanistan, Ägypten, Israel, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisien, China, Mongolei, Pakistan, Palästina, Russland, Tadschikistan, Türkei und Usbekistan. Ein stattliche Liste.
Nur ein paar Tage, später, am Wochenende des 8./9. Mai versammeln sich in St. Petersburg die Vertreter von fünf zentralasiatischen Staaten der Schanghaier Kooperation – Russland, China, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan – zur Unterzeichnung einer Schanghaier Charta, welche die bisher lose Kooperation auf eine vertragsrechtliche Basis stellen soll. Präsident Putin bezeichnete dies der chinesischen Zeitung „Guangming Ribao“ gegenüber als ein historisches Ereignis von größter Bedeutung. Sie sei, so Aussenminister Iwanow, das konkrete exekutive Pendant zur Beratungsrunde von Alma Ata und offen für weitere Partner, die aus den Beratungen die Bereitschaft zu konkreter Kooperation gewönnen.
Wenige Wochen zuvor, am 13. Mai, noch vor der Reise G.W. Bushs nach Europa, war der „Aussen- und Verteidungsministerrat der Teilnehmerstaaten über die kollektive Sicherheit der GUS“ zu einer Aktualisierung des Bündnisses in Moskau zusammengekommen. Man beschloss die Durchführung von Manövern der schon früher gebildeten gemeinsamen „Schnellen Aufmarschtruppen“ (KSAT). Sie sollen in Kirgisien zusammen mit dem Anti-Terrorzentrum durchgeführt werden.
Während westliche Medien von den Treffen nur zu berichten wissen, dass sie sich dem weltweiten Kampf gegen Terrorismus und damit den weltpolitischen Vorgaben der USA angeschlossen hätten, liegen all diese und noch weitere bilaterale oder nachgeordnete Aktivitäten doch voll und ganz auf der Linie der euroasiatischen Orientierung russischer Politik, mit der Wladimir Putin Anfang 2000 angetreten ist.
Russland sei ein „besonderer Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet“, hatte er selbst seinerzeit erklärt und es müsse seine Politik dementsprechend ausrichten.
Mit diesen Worten lässt Putin sich auch widerspruchslos von der neugegründeten Partei „Euroasia“ und ihrer seit anderthalb Jahren unter den Fittichen des Präsidialamtes herangewachsenen nationalistischen „Euroasiatischen Bewegung“ zitieren.
Im außenpolitischen Konzept (Volle komplizierte Bezeichnung: „Konzept für die Aussenpolitik der russischen Föderation, vom russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin am 28. Juli 2000 gebilligt“), das noch heute der Weltöffentlichkeit per Internet als gültige Doktrin angeboten wird, ist neben der Betonung der Wichtigkeit der Beziehungen Russlands zu Europa und zu den USA folgendes zur Asienpolitik zu lesen:
„Asien genießt eine beständig wachsende Bedeutung im Kontext der gesamten Außenpolitik der Russischen Föderation, die durch die direkte Zugehörigkeit Russlands zu dieser sich dynamisch entwickelnden Region bedingt ist und durch die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Aufschwungs in Sibirien und dem fernen Osten. Nachdruck wird gelegt werden auf die Teilnahme Russlands an den Hauptintegrationsstrukturen der asiatisch-pazifischen Region – dem Forum für Asiatisch-Pazifische Wirtschaftszusammenarbeit (APEC), dem Regionalen Sicherheitsforum des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und den fünf von Schanghai (Russland, China, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan), die auf Initiative Russlands und mit seiner aktiven Rolle geschaffen worden sind.“
Als Aufgaben werden ua. formuliert: freundschaftliche Beziehungen zu China und Indien als Elemente weltweiter Stabilität; Unterzeichnung eines Teststoppvertrages durch Indien und Pakistan; intensive Beziehungen zu Japan, Südostasien und zum Iran. Die allgemeine Verbesserung der Lage in Asien sei von fundamentaler Bedeutung für Russland. Und schon damals wird der Export von Terrorismus und Extremismus aus Afghanistan als „ernste Bedrohung der Südgrenze der GUS und Russlands“ bezeichnet und „Lösungen“ angekündigt. Von einem bloßen Einschwenken auf eine US-Linie nach dem 11.09.2001 kann vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein.
Im Vorfeld und während der Tagung von Alma Ata beantwortete Präsident Putin zudem die Frage von „Guangming Ribao“, ob sich seit dem Besuch G.W. Bushs in der russisch-chinesischen Partnerschaft etwas verändert habe, auch aktuell. Er glaube, dass die Situation, die sich gegenwärtig in der Welt herausgebildet habe, Russland und China „die Notwendigkeit der Vertiefung bilateraler Kontakte und ihre Ergebung auf das Niveau der strategischen Partnerschaft gerade diktierte.“ Als die Zeitung den russischen Präsidenten dafür lobt, dass er an die Stelle der „Achse des Bösen“ den Begriff einer „Achse der Stabilität“ in die internationale Diskussion eingeführt habe, antwortet Wladimir Putin, indem er zugleich auf die Kontinuität der multipolaren Orientierung seiner Politik verweist: „Ich denke, dass die `Achse der Stabilität´ eben solche führenden Länder der Welt, wie die Volksrepublik China, westeuropäische Länder und die Vereinigten Staaten bilden können.“
Und damit es gar kein Missverständnis gibt, versichert Wladimir Putin noch einmal:
„Selbst auf Grund unserer geopolitischen Lage (ein Teil des russischen Territoriums befindet sich im Osten, ein Teil – in Europa) betrieben wir immer eine ausgewogene Außenpolitik. Und in diesem Sinne bleibt die Außenpolitik Russlands traditionell. Wir beabsichtigen auch in der Zukunft unsere Beziehungen sowohl mit dem Osten, als auch mit dem Westen zu entwickeln. Und hier sind unsere Beziehungen zur Volksrepublik China von erstrangiger Bedeutung.“
Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass die Konferenz von Alma Ata, auch wenn der pakistanische Präsident Pervez Musharaw und der indische Premier Atal Behari Vajpayee trotz Vermittlung Chinas und Russlands nicht miteinander reden wollten, dennoch ein politisches Faktum ist, das der Aufnahme Russlands als 20. Mitglied in einen NATO-Kooperations-Rat in seiner Bedeutung für die Entwicklung einer neuen stabilen Weltordnung in Nichts nachsteht.

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