Kategorie: Artikel zur Lage

Texte zur Transformation

Russland: Weltmacht auf Rohstoffen (Anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm)

Devisen aus dem Gas- und Ölgeschäft waren bereits für die Sowjetunion ein festes Grundeinkommen. Öl und Gas überquerten die Gräben des Kalten Krieges ohne Unterbrechung. Die Auflösung der UdSSR ließ diese Brücke einbrechen. Die Einnahmen sanken auf 20% ihres Umfanges. Die Privatisierung der Öl- und Gasförderung leitete auch die wenigen Einnahmen noch an den Kassen des Staates vorbei in private Taschen und wurde von dort ins Ausland transferiert. Russland wurde zum Objekt westlicher Interessen.
Diese Phase der nachsowjetischen Transformation endete in der Krise von 1998. Die Krise bildet zugleich den ersten Wendepunkt in der Geschichte des neuen Russland, insofern es sich entschloss zukünftig auf Kredite des IWF und der Weltbank zu verzichten und auf eigene Kräfte zu setzen.
Die Verhaftung des Öl-Oligarchen Michail Chodorkowski 2003 markiert die entscheidende Fortsetzung dieser Politik: Unter Putin übernahm der Staat wieder die Kontrolle über die fossilen Ressourcen des Landes. Heute fließen die Steuern aus dem Gas- und Öl-Export wieder in die Staatskasse. Das Staatsbudget hat sich seit 2000 versechsfacht. Ein Stabilitätsfons, der 2004 für die Ölmilliarden eingerichtet wurde, ist inzwischen auf 108 Milliarden angewachsen. Daneben hat Russland 356 Milliarden $ in Gold- und Devisenreserven angesammelt. Russisches Kapital sucht Anlagemöglichkeiten im Ausland. Aus dem Kreditnehmer ist ein Kreditgeber geworden.
Der „Fall Chodorkowski“ markiert zugleich einen Wandel in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Für die USA war die Verhaftung Chodorkowskis eine Niederlage ihres Versuches, sich die russischen Ressourcen unter Umgehung des russischen Staates verfügbar zu machen. US-Hauptstratege Sbigniew Brzezinski, nach dessen Vorstellungen diese US-Politik entwickelt worden war, warnte daraufhin prompt vor einem russischen „Energiefaschismus“, der die Welt erpressen wolle. Der „Gasstreit“ zwischen Russland und der Ukraine gab dem weitere Nahrung. Als Russland sich erbot, das G8-Treffen als „Energiegipfel“ zu organisieren, auf dem weitreichende Vereinbarungen für eine zukünftige Energieordnung getroffen werden könnten, stellte der Westen dem die Forderungen nach Liberalisierung der Energiemärkte entgegen. Konfrontationen schienen vorprogrammiert. Im Ergebnis verabschiedete man eine Erklärung zur „Globalen Energiesicherheit“, die sich in Floskeln zur „Wichtigkeit offener und transparenter Märkte“ erschöpfte. Die vorher heiß diskutierte internationale „Energiecharta“, die u.a. eine Liberalisierung der Energiemärkte fordert, wurde weder von Russland noch von den USA unterzeichnet.
Umso klarer treten seitdem die weiteren Konfliktlinien hervor: EU und Russland suchen eigene Wege der „Annäherung durch Verflechtung“: Am 8. September 2005 wird der Bau der Ostsee-Pipeline im Beisein von Gerhard Schröder und Wladimir Putin sanktioniert, wenig später bietet Putin Deutschland an, zum zentralen Verteiler der Gaslieferungen aus den noch zu erschließenden Stockmannfeldern in der Barentssee zu werden, eine Option, die man bis dahin den Amerikanern vorbehalten hatte. Auf der Insel Sachalin werden von Russland Öl- und Gasförderprojekte der Konzerne Shell, Mitsui und Mitsubishi in Frage gestellt, deren Hauptabnehmer ab 2008 Japan, Korea und die USA sein sollten. Anfang 2006 äußert Putin seine Sympathie für eine „GAS-Opec“ aus Russland, Iran und Turkmenistan, zusammen 60% der Weltgasvorkommen, 30% davon russisch, noch ohne die vermuteten Vorkommen in der Barentsee und in Sibirien. Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) im Juni 2006 schlägt Putin die Gründung eines „SCO Energieclubs“ vor. Er würde 20% der Gas- und 50% der Ölvorkommen der Welt kontrollieren. Die Rote Karte, die Putin den Raketenplänen der USA bei der NATO-Tagung in München Anfang des Jahres wie auch in seiner jüngsten Rede an die Nation entgegenhielt, spricht von einem Russland, das wieder Subjekt der Geschichte sein will. An diesem Russland führt kein Weg mehr vorbei.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

EU in Nöten: Menschenrechte und polnisches Fleisch – oder was geschah in Samara?

Glaubt man der Presse, dann hat sich bei dem deutsch-russischen Gipfeltreffen in Samara ein „Neuer Realismus“ hergestellt. Andere Meldungen sprechen von „schwerer Krise“ zwischen EU und Russland. Kritisiert wird ein „imperiales“, „arrogantes“ Auftreten Wladimir Putins, der die EU zu spalten versuche und die Menschenrechte verletze. Die Eu-Politik müsse sich darauf einstellen. Andererseits verstehe man ihn, so wird die deutsche Delegation zitiert, weil er „neues Selbstbewusstsein“ demonstriere und sich im Übrigen angesichts der der bevorstehenden Wahlen auf die innere Entwicklung des Landes konzentrieren müsse, um ein Rückfall in das Chaos der Jelzinschen Zeit zu verhindern.
Soviel Kritik bei gleichzeitigem Verständnis gab es lange nicht in der Russland-Berichterstattung. Was geschah also in Samara? Ging es wirklich darum, Putin eine Lehrstunde im Demonstrationsrecht zu geben? Wohl kaum, denn es scheint, dass Putin die Lektionen, was Demokratie für westliche Staaten bedeutet, bereits bestens gelernt hat: Davon zeugt jedenfalls seine Antwort, präventive Maßnahmen gegen potentielle Demonstranten seien doch allgemein üblich und würden ja auch in Deutschland aktuell im Vorfeld des G8-Treffens in Heiligendamm praktiziert. Also, man hat sich gegenseitig nichts vorzuwerfen. Frau Merkels „Kritik“ erweist sich als schlichte PR-Maßnahme, die für sie allerdings eher zu einem Bumerang werden könnte.
Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, wovon die Kritik ablenken sollte. Und da kommt man schnell an den Kern, denn schon im Vorfeld hatte Frau Merkel den russischen Gastgebern gegenüber ausdrücklich klarstellen lassen, dass sie nicht als Vertreterin eines Landes, sondern als Vertreterin der gesamten EU nach Samara komme. Aus Brüssel verlautete ebenfalls im Vorfeld, man habe keine großen Erwartungen an das Treffen, dennoch sei es wichtig, mit den Russen zu sprechen: „Die Botschaft der Europäer muss sein, dass sie sich von Moskau nicht auseinander dividieren lassen,“ forderte der für 2009 designierte Ratspräsident der EU, Sloweniens Ministerpräsident Jansa, EU-Kommissionspräsident José Barrorso erklärte nach dem Treffen, Putin habe „gemerkt, dass die europäische Einheit nicht zu knacken“ sei.
Wo so deutlich die Einheit beschworen wird, tut man gut, nach der Realität der Differenzen Ausschau zu halten.
Tatsächlich kann von Einheit in der Russlandpolitik der EU nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Seit mehr als einem Jahr blockiert Polen die Aufnahme von Gesprächen zwischen der EU und Russland zur Verlängerung des zwischen ihnen bestehenden Kooperations- und Partnerschaftsabkommens, mit einem Veto, solange Russland das Einfuhrverbot polnischer Fleischlieferungen nicht aufhebe. Der Vertrag läuft Ende 2007 ab. Russland begründet das Verbot mit mangelnder Qualität des Fleisches. Wladimir Putin betrachtet die Frage als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und Polen, die die generellen Beziehungen zwischen Russland und EU nicht berühre. Frau Merkel, unterstützt durch Borroso erklärte, die polnischen Lieferungen entsprächen den EU-Standards und diese lägen auf höchstem Niveau.
Eine Einigung war bisher nicht möglich. Die polnische Blockade führte jetzt dazu, dass Putin und Merkel sich nur darauf verständigen konnten, den laufenden Vertrag um ein Jahr zu verlängern. Statt den Vertrag zu erneuern, wurden eine Reihe von Einzelmaßnahmen beschlossen wie Erleichterung der Visaregelung, Verbesserung des rechtlichen Schutzes von Investitionen und ähnliches.
Aber geht es wirklich nur um polnisches Fleisch? Nein, die Fleischfrage ist nur ein Detail. Hinter dem mit der Fleisch-Frage begründeten Veto steht zunächst auch noch die weitergehende Forderung Polens, Russland müsse die internationale Energiecharta unterzeichnen. Das würde bedeuten, das russische Energie-Monopol zugunsten polnischer Beteiligungen zu lockern oder ganz aufzulösen. Polen ging so weit in dieser Frage Sanktionen gegen Russland zu fordern. Dem polnischen Veto könnte sehr bald ein weiteres folgen, das die litauische Regierung für den Fall angekündigt hat, dass die Öllieferungen nicht sofort wieder aufgenommen würden, die Russland Ende 2005 mit der Begründung, die Leitungen sei beschädigt, gestoppt hatte. Litauen bringt diese Maßnahme Russlands damit in Verbindung, dass der Verkauf einer litauischen Raffinerie an das polnische Unternehmen PKN Orlen statt an eine russische Firma erfolgte und spricht von einer russischen Strafmaßnahme.
Polen und Litauer fühlen sich durch die EU in dieser Frage nicht genügend unterstützt. Sie sehen sich durch den Vertrag zwischen Deutschland und Russland zum Bau der Ostseepipeline, welche die baltischen Länder und Polen ausdrücklich umgeht, wie auch durch das Angebot Russlands, die Gas-Vorkommen der Stockmannfelder direkt nach Deutschland als Verteiler zu leiten, vielmehr ausgegrenzt und bedroht. Umso dankbarer wurden die Erklärungen der USA, insbesondere des US-Vizepräsidenten Dick Cheney aufgegriffen, der Russland 2005 vorwarf, Öl und Gas zur Erpressung und Einschüchterung seiner Nachbarstaaten einzusetzen und Rückendeckung aus Washington versprach.
Gegenstand der Auseinandersetzung waren in Samara auch die Konflikte um die Entfernung eines noch aus sowjetischer Zeit stammenden antifaschistischen Kriegerdenkmals in Tallin durch die estnische Regierung; ein Toter ist in diesem Zusammenhang zu beklagen. Gegenstand war des Weiteren natürlich der US-Vorstoß, in Polen und der tschechischen Republik Raketen aufstellen zu wollen. Auch in diesen Fragen stehen alte und neue EU-Länder auf gegensätzlichen Positionen. Das gilt auch, wenn Kommissionspräsident Barroso zu glätten versucht, idem er erklärt, die EU würdige die Leistungen und Opfer Russlands im Kampf gegen den Faschismus, aber jedes EU-Land sei selbstverständlich souverän in seinen Entscheidungen. Für Russland ist dieses Sowohl-als-Auch nicht akzeptabel. Ähnliches gilt für die Raketenpläne der USA, die Russland nach wie vor als überflüssige Aggression begreift, erst recht, wenn Polens Regierung damit droht, sich gegen mögliche Aufrüstungs-Reaktionen der Russen mit der Aufstellung eigener Raketen schützen zu wollen.
Die Summe dieser Widersprüche führte wenige Tage vor dem Russland-EU-Gipfel in Samara zu einem heftigen Streit innerhalb der EU über deren zukünftige Russlandpolitik, als die Botschafter der EU-Staaten sich in Brüssel trafen, um das Treffen in Samara vorzubereiten. Die drei baltischen Staaten sprachen sich in drastischer Weise für eine „Denkpause“ im Ringen um die Erneuerung des Abkommens aus, indem Polen sein Veto bekräftigte, Litauen eines ankündigte und Estland erklärte, ebenfalls über ein Veto nachdenken zu wollen.
Schwere Konflikte deuten sich an, die noch weit über die aktuellen Anlässe hinausgehen: Die alten EU-Mitglieder suchen den Dialog mit Russland unter dem Stichwort „Wandel durch Verflechtung“. Polen, Litauen und Estland sehen sich, durch gute Beziehungen zwischen Russland und den alten EU-Staaten, insbesondere Deutschland bedroht. So warf die polnische Außenministerin Fotyga der deutschen Rats-Präsidentschaft vor, die speziellen Sorgen von Polen und Balten nicht angemessen zu berücksichtigen. Die verlangen deshalb, die bisherige Linie der EU-Russland-Politik zu verlassen.
Die Konflikte konkretisieren sich zudem noch auf die Auseinandersetzung um den durch die „Berliner Erklärung“ angekündigten Grundlagenvertrag, der bis zu den Europawahlen 2009 durchgebracht sein soll. Die polnische Regierung lehnt die in dem Entwurf vorgesehene Beschlussregel ab, die das Gewicht der neuen EU-Länder im Verhältnis zu den alten stark mindern könnte. Die Mehrheit der der EU-Mitgliedsländer lehnt erneute Debatten um diese Frage ab.
Kurz gesagt, der Sloweniens Ministerpräsident Jansa, hat allen Grund, die Einheit der EU zu beschwören, denn alle Zeichen stehen auf Sturm. Objektiv bilden die Neu-Mitglieder der EU, ebenso wie die der EU vorgelagerten Nicht-Mitglieder Weißrussland, die Ukraine und Moldawien, sowie die kaukasischen Staaten, einen sich von der Ostsee bis zum schwarzen Meer hinziehenden cordon sanitaire zwischen den Integrationsräumen Russlands und der Europäischen Union, der im Tauziehen zwischen USA, EU und Russland hin und her gerissen zu werden droht. Einer stabilen Ordnung in diesem Teil der Welt wäre es vermutlich dienlicher, wenn dieser Kordon sich in einen Streifen der Neutralität verwandelte.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Wer und was Ist in Russland heute Opposition?

In den letzten Wochen war viel von der Opposition in Russland die Rede. Gemeint war in der Regel der „Marsch der Unzufriedenen“ mit Gary Kasparow an der Spitze und Boris Beresowski zur Seite, der von seinem Londoner Exil aus zum gewaltsamen Sturz des „Regimes“ aufrief. Aber ist dies „die“ russische Opposition? Sicher nicht. Wer von der Opposition in Russland sprechen will, muss mehr in den Blick nehmen.
Da wäre zunächst zwischen Opposition innerhalb der „Eliten“ und jener aus der Bevölkerung zu unterscheiden: Über Differenzen im Kreml dringt wenig nach außen: schlechte Zeiten für Kremlastrologen. Aber anlässlich der Aufrufe Beresowskis zum Umsturz ließ Außenminister Sergej Lawrow immerhin die Sorge erkennen, gestörte Wahlen könnten dazu führen, dass die noch nicht gefestigten russischen Eliten wieder auf Sonderinteressen wie zu Jelzins Zeiten zurückfallen könnten. Das gelte es zu vermeiden.
Seine Sorge ist berechtigt, ist doch die Disziplinierung der Gebietsfürsten wie auch die der Oligarchen durch die putinsche Administration noch sehr jungen Datums. Der „Fall Chodorkowski“ ist weder juristisch noch politisch abgeschlossen. Gerade eben laufen noch Auktionen des Yukos-Rest-Vermögens. Zwar findet sich die Mehrheit der Oligarchen angesichts der Verurteilung ihres Kollegen Chodorkowski inzwischen bereit, Steuern auf ihre Gewinne zu zahlen. Die von Wladimir Putin angeregte und soeben von der Duma für das Jahr 2008 beschlossene „Steueramnestie“, die es möglich machen soll, im Verlaufe des Jahres 2008 illegale Gewinne nachträglich zu einem minimalen Steuersatz zu legalisieren, zeigt jedoch, wie akut diese Fragen noch stehen.
Ähnliches gilt für Gouverneure, Bürgermeister und örtliche Organe der Selbstorganisation, mit denen die Kreml-Administration trotz der inzwischen bestehenden Regelung, dass Gouverneure vom Präsidenten ernannt werden, nach wie vor im beständigen Tauziehen liegt. Wie aktuell auch diese Problematik ist, zeigen Putins ausführliche Ausführungen zu bevorstehenden Erweiterungen regionaler und örtlicher Kompetenzen in seiner soeben gehaltenen Rede an die Nation, denen die Tatsache gegenübersteht, dass die Justiz, unterstützt durch den Inlandgeheimdienst FSB, mit dem Vorwurf des „Amtsmissbrauches“ und der Korruption in zunehmendem Maße gegen unbotmäßige Bürgermeister vorgeht.
Bei all dem ist schwer zu erkennen, in welche Richtung diese Auseinandersetzungen gehen, ob zu mehr regionaler und privatwirtschaftlicher Kompetenz, wie Putin es in seiner Botschaft ankündigte oder zu wachsender Kontrolle durch den FSB. Sicher ist jedoch, dass hier ein Oppositionspotential liegt, welches von Putin und seinen Leuten höchstes taktisches Geschick erfordert, wenn es sich während der Wahlen und vor allem danach nicht zu einer erneuten Desintegration der russischen Staatlichkeit auswachsen soll.
Die oppositionellen Bewegungen in der Bevölkerung sind ebenfalls zu differenzieren: Da ist zunächst die systemimmanente Opposition der Parteien, die zur Wahl antreten: Ihre Zahl wird sich nach den Reformen des Wahlrechtes stark reduzieren; 2003 waren es 23 Parteien, russische Medien erwarten jetzt eine Verringerung um mehr als die Hälfte. Von ihnen werden es, so die Prognosen, vier in die neue Duma schaffen.
Es wären dies ihrer Größe nach: Die Partei „Einiges Russland“, also die sog. Putin-Partei; sie wurde 2003 mit 37,1% der Wählerstimmen die stärkste Kraft. Weiter die regierungskritische „Kommunistische Partei Russlands“ (2003: 12,7%), sodann die „Liberal-demokratische Partei“ des National-Populisten Wladimir Schirinowski (2003: 11,6%). Neu hinzu tritt die Partei „Gerechtes Russland“, die 2006 mit Geburtshilfe der Kreml-Administration aus der Partei „Rodina“ (2003: 9,1%) hervorging. Die genannten Parteien sind jene, die aus den Regionalwahlen der Jahre 2005 und 2006 gestärkt hervorgingen. Als chancenlos dagegen gelten die beiden bekannten liberalen Parteien „Jabloko“ und „Union rechter Kräfte“.
Alle vier genannten Parteien, in dieser Frage nicht anders als „Jabloko“ und die „Union rechter Kräfte“ sind staatsloyal. „Einiges Russland“, ebenso wie die Partei Schirinowskis können zudem als Stützen Putinscher Politik betrachtet werden. Die neue Partei „Gerechtes Russland“ versteht sich als putinfreundliche linke Alternative zur „Partei der Macht“. Ihre wesentliche Funktion sahen ihre kreml-nahen Initiatoren im Vorfeld der kommenden Wahlen 2006 darin, die KP als einzige parlamentarische Opposition einzuschränken und zugleich weitere tendenziell linke Kräfte wie die relativ starke „Partei der Pensionäre“ sowie der „Partei des Lebens“ ins parlamentarische Geschen einzubinden. Tatsächlich schränkt die neue Partei auch den Spielraum von „Einiges Russland“ ein, wie die Regionalwahlen zeigten.
Im Ergebnis werden in der Duma aller Voraussicht nach drei regierungsfreundliche Parteien, die sich programmatisch wenig, sondern eher in der von ihnen vertretenen Lobby unterscheiden, einer regierungs- und sozialkritischen KP gegenüberstehen.
Das liberale Lager ist durch den Niedergang von „Jabloko“ und der „Union rechter Kräfte“ praktisch auf den Status einer Bewegung reduziert worden. Eine Einigung zwischen den Resten der eher links-reformerisch orientierten „Jabloko“ und der neo-liberalen „Union rechter Kräfte“ kam nicht zustande. Die Gründung des „Komitee 2008: Freie Wahlen“ beim G8-Gipfel 2006 durch Gary Kasparow, dem sich auch extrem rechte Kräfte anschlossen, trug mit ihren radikalistischen Positionen zur weiteren Zersplitterung der liberalen Szene bei. Mit dem „Marsch der Unzufriedenen“ 2007, von dem aus praktisch zum Wahlboykott und Sturz Putins aufgerufen wird, eskaliert die Mischung aus Resten liberaler Bewegung und aktionistischer Kritik des „Putinismus“ zu einer außerparlamentarischen Bewegung der direkten Aktion, die durch keine andere Perspektive als den Sturz Putins miteinander verbunden ist.
Der 1. Mai 2007 hat gezeigt, dass es über die Parteien und auch über den „Marsch der Unzufriedenen“ hinaus einen breiten Boden für spontane soziale Proteste gibt, der sich zurzeit im Rahmen gewerkschaftlicher Forderungen nach Lohnerhöhungen und Kampf um soziale Leistungen hält. Mit den zu erwartenden sozialen Folgen des WTO-Beitritts kann dieser Protest schnell wieder zu Höhen aufflammen, wie sie von den Protesten gegen die „Monetarisierung“ im Jahre 2005 erreicht wurden.
Solange die Einnahmen aus dem Öl- und Gas-Geschäft das russische Staatsbudget weiterhin füllen, ist eine Radikalisierung dieser Proteste und deren Verschmelzung mit den radikalen außerparlamentarischen Aktionen allerdings nicht zu erwarten. Eher wird sich die Tendenz zur Wahlenthaltung fortsetzen, welche die Wahlen zur Duma, wie zuvor schon die Regionalwahlen, mehr zu einem Thermometer der politischen Stimmung im Lande macht, das den politischen Akteuren eine Korrektur ihrer politischen Ausrichtung, vielleicht auch nur deren geschicktere Vermittlung ermöglicht, als zu einer Entscheidung für eine aktive Politik. Über aktive Politik wird erst in der danach folgenden Wahl eines neuen Präsidenten entschieden.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putins Schwerpunkte: Anmerkungen zu seiner Jahresbotschaft an die Nation.

Am Donnerstag der letzten Aprilwoche, wegen der Begräbnisfeierlichkeiten für Boris Jelzin um einen Tag verschoben, lud Wladimir Putin zur Jahresbotschaft in den Kreml. Versammelt waren Duma-Abgeordnete, Mitglieder des Föderationsrates, alle Minister, die Spitzen der Justiz, der Wahlkommission, des Rechnungshofes, die Mitglieder des Staatsrates und die Führer der größeren Konfessionen. Anwesend waren auch die Mitglieder der Gesellschaftskammer, die als Hüterin der Presse- und der Meinungsfreiheit agiert. Es war Putins letzte Rede an die Nation. Die nächste Rede werde, so der Noch-Präsident, ein anderes Staatsoberhaupt halten, da seine Dienstzeit zu Ende gehe. Damit ist allen Spekulationen über eine mögliche dritte Amtszeit Putins endgültig ein Riegel vorgeschoben.

Putins trat, entgegen anderslautender Kommentare, klar und moderat auf, konzentrierte sich auf innenpolitische Fragen. Er eröffnete mit einer Schweigeminute für Jelzin, erinnerte an dessen Verdienste, kam dann jedoch zügig auf die heutige Situation, die sich gegenüber den „schweren Zeiten“ unter Jelzin zum Guten entwickelt habe. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich seit dem Jahre 2000 verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. Aber man stehe dennoch erst am Anfang einer „lange währenden Wiedergeburt des Landes“, habe noch viel zu tun, politisch wie auch sozial. Die „geistig-seelische Einheit des Volkes, sowie die uns vereinenden moralischen Werte“, betonte Putin, seien daher ein „ebenso wichtiger Faktor der Entwicklung wie die politische und die ökonomische Stabilität.“
Bei manchen ausländischen Zuhörern rief diese Einleitung den Verdacht hervor, Putin wolle sich für den Rest seiner Amtszeit an den aktuellen Widersprüchen vorbei stehlen, indem er die „nationale Karte“ ausspiele. Der moralische Einstieg war jedoch nur der Leitfaden, an dem entlang Putin seine strategischen Schwerpunkte setzte.
Die wichtigsten seien hier kurz vorgestellt:
Die zurückliegenden Korrekturen der Wahlverfahren trügen dazu bei, so Putin, die Wahlen demokratischer zu machen, sie von störenden „ungünstigen Methoden“ zu entschlacken. In der zukünftigen Duma werde es dadurch stärkere Oppositionskräfte der „Fraktionen“ geben.
Ob die hinter diesen Ausführungen stehende Hoffnung Putins aufgeht, ein stabiles Parteiensystem, vielleicht gar Zweiparteienwahlsystem nach US-Muster von oben initiieren zu können, werden die Wahlergebnisse zeigen.
Nicht allen gefalle die stabile Entwicklung des Landes, so Putin weiter. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei.
Beresowski war graue Eminenz der oligarchischen Herrschaft während der Zeit Jelzins; seit seiner Flucht vor Verfolgung wegen Steuerhinterziehung usw. betreibt er von London aus, gestützt auf die exportierten Milliarden, seine Rückkehr an die Macht. Kasparow, der von westlichen Medien als „Führer der russischen Opposition“ herausgestellt wird, ist aktives Mitglied des „National Security Advisory Council“ (NSAC) in Washington, einer Neben-Organisation des „US-Centers for Security Policy.“ Diese Organisation ist einer der aktivsten „Think-Tanks“ der US-Neo-Konservativen. Das sind jene US-Kräfte, die ihre Aufgabe darin sehen, weltweit „bunte Revolutionen“ zu exportieren. Man darf sich wundern, wie verhalten, ohne Namen und Länder zu nennen, Wladimir Putin über all diese Aktivitäten spricht; ob Extremistengesetze allerdings das richtige Mittel gegen interventionistische Provokationen sind, wird man bezweifeln müssen.
Eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung des Landes, so Putin weiter, spiele die Entwicklung bürgerlicher, ziviler Vereinigungen. Im letzten Jahr habe sich die Zahl gesellschaftlicher Vereinigungen und der Einsatz von Freiwilligen erhöht, die sich am gesellschaftlichen Aufbau in Russland beteiligten. In demselben Zeitraum seien auch wichtige Vollmachten an örtliche Verwaltungsorgane abgegeben worden, so im Städtebau, im Wald-, Boden- und Wasserwesen, im Tierschutz und in allgemeinen Beschäftigungsfragen der Bevölkerung. Ergänzend dazu sei zudem ein neues Gesetz der örtlichen Selbstverwaltung in Kraft getreten. Er hoffe, dass dies alles zur Entwicklung von Basiskräften beitrage, die Russland dringend brauche.
Nach sieben Jahren putinscher Re-Zentralisierung, in deren Verlauf die Wahl örtlicher Selbstverwaltungsorgane bis hinauf zu den Gouverneuren der Provinzen durch Ernennungen seitens des Präsidenten, bzw. seines präsidialen Verwaltungsapparates ersetzt wurden, wäre dies ein bemerkenswerter neuer Akzent in der russischen Politik. Zu bezweifeln ist allerdings auch hier wieder, ob dies von oben her zu verwirklichen sein kann.
Es stellt sich zudem die weitere Frage, in welchem Verhältnis die von Putin angegebene Entwicklung russischer nicht-staatlicher Vereinigungen zur Verschärfung der Zulassungs-Bedingungen für die Tätigkeit von NGOs steht. Tatsache ist, dass die Aktivität nicht-staatlicher Organisationen durch die gegenwärtige Gesetzeslage nicht nur für ausländische Organisationen, sondern allgemein sehr erschwert worden ist und, sollte nunmehr Extremismus im oben genannten Sinne schärfer verfolgt werden, auch noch weiter erschwert werden wird. Für eine freie Entfaltung von Basisaktivitäten auf kommunaler Ebene ist das mit Sicherheit Gift, auch wenn sie nicht ausländisch, sondern einheimisch sind. Insofern muss man befürchten, dass diese Hoffnungen Wladimir Putins, wenn man denn bereit ist sie ernst zunehmen, Hoffnungen bleiben.
Bleibt noch der außenpolitische Aspekt, der in den westlichen Medien besondere Beachtung fand, obwohl er in Putins Rede eher am Rande auftaucht: Putin beklagt, die EU halte die Verträge der KSE über konventionelle Streitkräfte in Europa nicht ein. Deshalb will er die Verträge zu erneuter Verhandlung in den NATO-Russland-Rat einbringen. Sollte dies nicht akzeptiert werden, dann werde Russland einen einseitigen Ausstieg aus den Verträgen in Erwägung ziehen.
Für westliche Medien ist damit der Tatbestand putinscher Aggression erfüllt. Tatsächlich kündigt Putin nur an, dass Russland über Fragen der Rüstung offene Verhandlungen fordert. Damit knüpft er an den Vorschlägen an, die er kürzlich auf der NATO-Sicherheitskonferenz vortrug: Ende der von den USA betriebenen Militarisierung internationaler Beziehungen, stattdessen Eintritt in Verhandlungen zu Abrüstung auf allen Ebenen, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraumes.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Boris Jelzin – Lebensdaten eines Staatsanarchisten

De mortiis nihil nisi bene – über die Toten nichts als nur Gutes. Das haben wir in der Schule gelernt, gleich ob Russen, Deutsche oder Europäer. An diese Traditionen wollen wir uns halten, auch Boris Jelzin gegenüber, der am 23. April aus dem Leben schied. Wir halten uns daran, auch wenn er im Schatten, den sein Nachfolger Putin inzwischen wirft, in letzter Zeit nur noch schwer zu erkennen war, ja., für manche seiner Landsleute inzwischen vom Helden der von vielen so genannten demokratischen Revolution der 90er Jahre zum Inbegriff des Chaos geworden ist, das man lieber vergessen möchte.
Aber der der Aufstieg Jelzins vom Bauernjungen aus dem Dorf Butka im Bezirk Swerdlowsk der russischen Provinz zum Präsidenten des nachsowjetischen Russland ist aus der Geschichte des Übergangs von der Sowjetunion zum heutigen Russland ebenso wenig wegzudenken wie die amerikanische Story des Tellerwäschers, der zum Millionär aufstieg, nur dass Jelzin die Teller, die ihn an die Spitze führten, nicht wusch, sondern zerschlug.
Wenn irgendjemand das russische Sprichwort: „Der russische Muschik spannt lange an, aber wenn er losfährt, dann fährt er rasant“ verkörpert, dann Boris Jelzin. Und mehr noch, auf ihn trifft auch die Fortsetzung des Sprichwortes zu, die häufig vergessen wird, die aber doch wesentlich zum Verständnis dessen ist, warum viele Menschen in Russland selbst wie auch im Ausland, den „Bären Jelzin“ als einen typischen Russen erlebten. Dieser Zusatz, von Menschen, die ihr Land durchaus lieben bisweilen hinzugesetzt, lautet: Und wenn er dann rast, dann ist es ihm meisten gleich wohin, Hauptsache es bewegt sich.
Gemächlich sehen wir den kleinen Jelzin vom Bauernjungen aus Butka in der Provinz bei Swerdlowsk zum Baulöwen der Region aufsteigen, Stalin überleben, nach dessen Tod 1961 in die Partei eintreten, sich unter Chruschtschow, dann unter Breschnew ebenso gemächlich als Bezirkssekretär der Partei etablieren. Erst nachdem Michail Gorbatschow ihn 1985 aus der Provinz nach in die Moskauer Parteispitze holt, 54jährig, legt Boris Jelzin los.
Schon ein Jahr später, auf dem 27. Parteitag der KPdSU 196, hat Jelzin dazu angesetzt, den vorsichtigen Gorbatschow zu überholen. 1990 hat er seinen Gönner, der seinen Umsturzeifer zu bremsen versucht, bereits hinter sich gelassen. Als Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland gibt er demonstrativ seinen Austritt aus der Partei bekannt. Kurz darauf schafft er sämtliche Privilegien für Führungskader in seinem Machtbereich ab.
Ein letzter Versuch Gorbatschows, Jelzin in sein behutsames Reformtempo durch die Erarbeitung eines gemeinsamen Reformplanes für die nächsten Jahre einzubinden, scheitert 1990, als Jelzin für die sofortige Verwirklichung des „100 Tage-Programms“ plädiert, das die Kommission vorlegte. Statt mit Gorbatschow einen Kompromiss zu suchen, ließ Jelzin sich mit dem Programm nach Harvard einladen, um sich von dort Bestätigung und Unterstützung zu holen. Gorbatschow warb in London vergeblich um Unterstützung für langfristige, allmähliche Reformen.
Damit war der Bruch zwischen beiden perfekt. Der Machtverfall Gorbatschows, später als sog. Putschversuch der kommunistischen Alt-Kader bezeichnet, war vorprogrammiert. Mit seinem Aufruf zur Beschleunigung der Reformen, manifestiert in den von ihm ausgegebenen Slogans: „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“, konnte Jelzin sich als neuer starker Mann etablieren, der dem Putsch Einhalt gebot.
Alles Weitere lief im Galopp: Auflösung der Union, Ablösung Gorbatschows, Umsetzung der „Schocktherapie“ als Regierungsprogramm, das die Bevölkerung ins Elend stürzte und eine Schattenregierung aus IWF, Weltbank und russischen Privatisierungsgewinnlern entstehen ließ.
Hoch ist Boris Jelzin bei aller Überstürztheit indes anzurechnen, dass er den Übergang ohne Blutvergießen und ohne Säuberungen inszenierte. Das Verdienst dafür wird auch durch den späteren chaotischen Verlauf seiner Reformpolitik nicht geschmälert. Blut wurde erst vergossen, als Jelzin gezwungen war, die von ihm gerufenen Geister der Anarchie wieder einzugrenzen: 1993 Panzereinsatz gegen die Duma, 1994 Einmarsch in Tschetschenien, darüber hinaus immer wieder aufflackernde Kriege in Randgebieten wie Moldau, Abchasien, Südossetien, Berg Karabach usw. Nicht alles, heißt das, was Jelzin als Präsident tat, gereicht ihm zur Ehre. Er war Zerstörer einer sklerotisierten Ordnung. das wollen wir hier nicht weiter aufzählen; er war auch Verwalter einer großen Unordnung, sicher kein Demokrat westlichen Zuschnitts, aber ein Mensch, der sich von Spontaneität und Freiheitswillen leiten ließ.
Als genial werden seine Landsleute seinen letzten Schachzug in Erinnerung behalten und vermutlich in die Geschichtsbücher übernehmen wollen: Die Einführung eines unbekannten Mannes Namens, Putin, in das Zentrum der Macht, von dem Jelzin sich und seiner „Familie“, also dem Hofstaat seiner Verwandten, Ratgeber und reich gewordenen Günstlinge lebenslange Immunität zusichern ließ. Dies war gleichbedeutend mit einer Immunitätserklärung für die Generation der Umstürzler und damit Chance für die Einleitung einer relativen Stabilität. Auch hier gelang Jelzin ein bruchloser Übergang ohne Liquidation. Es ist zu hoffen, dass es dieses Erbe Jelzins ist, das weiter wirkt, wenn Russland jetzt wieder einen Machtwechsel zu bewältigen hat, und nicht die andere, chaotische Seite, die sein alter Mitkämpfer Boris Beresowski jetzt erneut zu aktivieren versucht, wenn er zum gewaltsamen Sturz Putins aufruft.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Sturm im Wasserglas – oder Russland in Aufruhr?

Aufruhr in St. Petersburg und in Moskau. Aus der Provinz herbei gekarrte Polizei-Spezialeinheiten prügeln nicht genehmigte Demonstrationen der radikalen Opposition nieder. Man braucht nicht viel, um dieses Vorgehen der russischen Behörden falsch zu finden.
Nicht verwunderlich ist ebenso, dass die Moskauer und St. Petersburger Polizeieinsätze den „entschiedenen Protest“ westlicher Politiker hervorriefen und die westlichen Medien zu Skandalberichten veranlassten, die in Forderungen danach gipfeln, die deutsch-russische Partnerschaft zu überdenken, da Russland nicht mehr zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zähle.
Unabweisbar sind auch die Vergleiche, die einem einfallen, wenn man als politisch aktiver deutscher Staatsbürger die Beschreibungen des russischen Einsatzes liest: weiträumige Absperrungen, Durchsuchungen im Vorfeld, doppelt so viel Polizei wie Demonstranten, in den Seitenstraßen gepanzerte Einsatzfahrzeuge und Fahrzeuge für den Abtransport von Gefangenen, Polizisten in Helm und schusssicheren Westen, die Kessel bilden und auf abziehende Demonstranten und Passanten prügeln.
Auch die offiziellen Verlautbarungen, alles sei „rechtmäßig“ verlaufen, klingen hierzulande vertraut und der gegenwärtige Hauptakteur der Proteste, der ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow, wird nach vorübergehender Festnahme in Moskau gerade so rechtzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt, dass er seinen Zug zur St. Petersburger Kundgebung nicht mehr erreicht. Gegen die 200 Festgenommenen wurden Strafverfahren eingeleitet. Soweit, so normal, könnte man sagen, Zivilgesellschaft: Russland ist – ganz im Gegensatz zur westlichen medialen Empörung – in der „europäischen Wertegemeinschaft“ angekommen, die da heißt: Wer an einer nicht genehmigten Demonstration teilnimmt, muss mit Prügeln rechnen.
Eine andere Frage ist, warum die russischen Behörden diese Demonstrationen verbieten. Warum lässt man diese 1000 „Andersdenkenden“, Ultra-Liberale, National-Bolschwisten, Menschrechtler, Anarchisten und sonstige, die kein politisches Programm, sondern nur ihr Hass auf Putin verbindet, nicht durch Moskau oder durch St. Petersburg marschieren? Was hat das putinsche Russland von diesem zusammengewürfelten Haufen zu befürchten? Haben die Regionalwahlen nicht eben gerade eine überwältigende Mehrheit für die Politik Putins gebracht? Hat Putin nicht durch seinen klare Auskunft, keine dritte Amtszeit zu wollen, den Weg für ruhige Wahlen freigemacht? Hat er nicht vor der NATO in München soeben außenpolitisch gepunktet? Liegt sein Rating nicht immer noch bei 70 %?
Eine erste Antwort ist in den Provokationen des im Londoner Exil lebenden Oligarchen Boris Beresowski zu finden, der seine schon vor einem halben Jahr einmal geäußerte Absicht, das „Regime Putin“ mit Gewalt stürzen zu wollen, wenige Tage vor den jetzigen Vorgängen im Londoner „The Guardian“ wiederholte. Putin habe ein totalitäres Regime errichtet und es gebe keine Möglichkeit, es durch Wahlen zu verändern. Er stehe im Kontakt mit Mitgliedern der russischen Führung, denen er finanzielle Unterstützung angeboten habe. In Russland sei dies der einzige Weg um Veränderungen zu erreichen.
Auch wenn nicht nachweisbar ist, dass der „Marsch der Unzufriedenen“ von Beresowski finanziert wird, so ist doch nicht verwunderlich, dass die russische Regierung Kasparows Leitlinie, Demokratie könne und müsse auf der Straße erkämpft werden, als das Passstück zu Beresowskis Aufruf versteht. Das Problem liegt allerdings weniger bei Kasparow, als in der nach wie vor noch nicht stabilisierten russischen „Elite“: Nach acht Jahren Putin ist die offene Herrschaft der Oligarchie, die sich unter Jelzin gebildet hatte und deren führender Kopf Beresowski war, zwar gebrochen, aber es ist noch keine verlässliche Loyalität gegenüber dem neuen russischen Staat gewachsen. Der bevorstehende Machtwechsel ist für die neue russische Staatlichkeit daher eine äußerst kritische Situation.
Eine zweite Antwort liegt in den sozialpolitischen Aufgaben, die eine nach-putinsche Administration zu erfüllen haben wird, wenn sie Ernst machen will mit dem kürzlich beschlossenen WTO-Beitritt Russlands. Nach den Richtlinien der WTO wird die kommende Regierung tiefe Einschnitte in die sozial-politische Souveränität Russlands vorantreiben müssen.
Das betrifft zum einen den russischen Energiemarkt, der nach diesen Vorgaben liberalisiert werden müsste, im Außen- wie auch im Binnenhandel. Für den Außenhandel könnte das zu Russlands Nutzen geschehen, solange die Energiekonzerne, ein wichter Teil der „Elite“, sich in die staatliche Politik einbinden lassen. Im Binnenhandel käme die Aufhebung der Subventionen jedoch einer offenen Katastrophe gleich, da sowohl die Industrie als auch die kommunale Versorgung auf Vorzugspreise für Gas und Öl aufgebaut ist und für den kommunalen Bereich sogar gilt, das erst Zähler installiert werden müssten, bevor die Gaslieferungen und – preise privatisiert werden könnten. Man möge sich vorstellen, was das für ein Land bedeutet, das ein kollektives Verteilungssystem aufgebaut hat.
Angleichungen an die von der WTO geforderten Normen der Deregulierung und Kommerzialisierung der Dienstleistungen haben schon im Vorfeld des WTO-Eintritts in den Jahren 2005 und 2006 zu breitesten Protesten geführt. Die Regierung musste zurückrudern. Der Nachfolger Putins wird in dieses Erbe eintreten müssen. Ob er bremst oder Gas gibt, bleibt sich in einem gleich: er wird es entweder mit Druck aus der Bevölkerung oder von WTO, IWF, Weltbank, EU usw. zu tun bekommen.
Der Umgang mit den aktuellen Protesten lässt befürchten, dass Putin, allen Schmähungen als angeblicher Diktator zum trotz, die Lage nicht im Griff hat und dass die jetzigen Zusammenstöße die Vorboten weiterer Eskalationen sind.

 

Kai Ehlers
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Darin diverse Bücher zu Russland.

Berliner Erklärung: Pfeifen im Raketenwalde?

Beeindruckend, was da in Berlin am Wochenende von den siebenundzwanzig Mitgliedern der Europäischen Union unterschrieben wurde: „Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war. Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“
Wunderbar! Was für ein großes Wir! Das weckt Erinnerungen und soll es wohl auch. Die Formulierungen erinnern an die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, die ja auch eine europäische Wiedervereinigung wurde. „Wir sind das Volk“ hieß es damals, als die Menschen für die Öffnung der DDR demonstrierten. Es war der Wille des DDR-Volkes, der sich in einer gewaltlosen Revolution von unten so artikulierte. Und es entsprach mit Sicherheit auch dem Willen der Mehrheit der Menschen Europas, insbesondere auch der östlichen Länder Europas, dass mit der deutschen auch die europäische Teilung fiel. Aber wer sind „Wir“ heute?
Sind damit die Franzosen gemeint, die vor zwei Jahren den Verfassungsvertrag per Referendum ablehnten? Oder die Niederländer, die das Gleiche taten? Oder ist die polnische Regierung gemeint, die Bedenken gegen den Verfassungsvertrag vorgebracht hatte? Und was ist mit uns „Bürgern und Bürgerinnen“? Wurden wir gefragt? Ich wurde jedenfalls nicht gefragt, ob ich dieser Erklärung zustimmen möchte; ebenso wenig der von mir gewählte Abgeordnete im deutschen Parlament. Das Gleiche gilt für andere nationale Parlamente im Rahmen der EU. Auch das Europäische Parlament in Brüssel hat den Text vor seiner Unterzeichnung nicht zu Gesicht bekommen. Nicht einmal die nationalen Regierungen der siebenundzwanzig Mitgliedsländer waren in die Erarbeitung der Erklärung einbezogen. Anerkennend schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ dazu: „Dass es bei allen Bekenntnissen zu Transparenz und Bürgernähe gelingt ,Diskretion zu wahren, zeigt die Tatsache, dass der gesamte Wortlaut der Berliner Erklärung – in ihrem letzten Entwurf – erst am Freitag bekannt geworden ist.“
In der Tat, „Diskretion“ ist das am klarsten hervorstechende Merkmal im Entstehungsprozess der „Berliner Erklärung“. Die Diskretion steht im umgekehrten Verhältnis zur dem beschworenen Wir. Der Wille des EU-Volkes ist in diese Erklärung nicht eingegangen. Mehr noch, die Beschwörung des großen Wir erscheint wie das Pfeifen im Walde, wenn man bedenkt, wie uneins die Reaktionen aus der EU auf den Vorstoß der US-Amerikaner sind, in Osteuropa und dem Kaukasus Raketen aufstellen zu wollen. Von Einigkeit auch auf Führungsebene keine Spur! Die Ratspräsidenten der EU und deutsche Kanzlerin Angela Merkel warnt vor „Alleingängen“ und will die Amerikaner auf eine Debatte in der NATO verpflichten. Die polnische und die tschechische Republik folgen dagegen mit ihrer Zustimmung zu den US-Plänen ihren eigenen nationalen Interessen, ganz zu schweigen von der seitens der EU auf Abstand gehaltenen Ukraine, die eine Chance sieht, sich wenigstens für die USA unentbehrlich zu machen. Hinzuzufügen ist, dass die Zustimmung zu den US-Plänen von den Bevölkerungen der genannten Länder nicht geteilt wird. Selbst die deutsche Regierung, obwohl zur Zeit mit der Ratspräsidentschaft der EU betraut, zeigt sich uneins: Der deutsche Außenminister, SPD, warnt vor Wettrüsten und Alleingängen; der deutsche Verteidigungsminister, CDU, möchte die EU in die US-Planung einordnen. Kurz, von einheitlicher Strategie kann so wenig die Rede sein wie von der in der „Berliner Erklärung“ beschworenen „Offenheit“. Die Erklärung ist vielmehr der offensichtliche Versuch, die Strategie- und Legitimationskrise der EU-Bürokratie mit populistischen Floskeln zu überspielen. Anders gesagt: An einer Befragung der Einwohnerinnen und Einwohner der europäischen Staaten zu der am Schluss der „Berliner Erklärung“ in Aussicht gestellten Erarbeitung „gemeinsame(r) Grundlagen“, die ja auf nichts anderes als einen erneuten Anlauf zu einer EU-Verfassung hinausläuft, wird wohl kein Weg vorbei führen können.

Kai Ehlers
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Kritische Solidarität in Memoriam Anna Politkowskaja

Zum 20.3.2007 ruft die Peter-Weiß-Stiftung für Kunst und Politik, Berlin unter dem Stichwort zweiter „Jahrestag der politischen Lüge“ zu einer weltweiten Lesung in Memoriam Anna Politkowskaja auf. Rund fünfzig Organisationen folgen dem Aufruf allein in Deutschland, darüber hinaus etliche Dutzend im Ausland. Es sollen Texte aus dem Buch Anna Politkowskajas: „Tschetschenien, die Wahrheit über den Krieg“ verlesen werden. Literaten wie Elfriede Jelinek und andere werden gesonderte Lesungen durchführen. Ziel der Veranstaltungen ist, so die Peter-Weiß-Stiftung, an diesem zweiten „Jahrestag der politischen Lüge“ deutlich zu machen, dass die politische Lüge nach wie vor „zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen“ gehöre und diese Lüge einer weltweiten „Kritik zu unterziehen“.
Der erste „Tag der politischen Lüge“ war von der Stiftung ein Jahr zuvor aus Anlass des dritten Jahrestages des Einmarsches der US-Truppen in den Irak ausgerufen worden. Er wurde mit Lesungen von Eliot Weinbergers „Was ich hörte vom Irak“ ebenso weltweit begangen wie das aktuelle Memoriam zu Anna Politkowskaja jetzt.
Die Peter-Weiß-Stiftung ist eine hochangesehene Adresse. 1988 gegründet, war sie Trägerin des großen Peter-Weiß-Kongresses in Hamburg und einer Thomas Bernhard-Ausstellung in Berlin, Sie ist Trägerin des jährlichen Literaturfestivals in Berlin. Mit ihrer Kampagne zum „Tag der politischenLüge“ hat sie eine Protestwelle in Gang gesetzt, der sich niemand entziehen kann, der oder die es ernst meint mit dem Anspruch auf Entwicklung zivilisierter und demokratischer Umgangsformen zwischen den Völkern und innerhalb der eigenen Gesellschaft. Krieg ist Krieg und wird auch dann keine Friedensaktion, wenn er von einer Weltmacht dazu ernannt wird. Das war die Botschaft des letzten Jahres. Politischer Mord an einer kritischen Journalistin ist Mord und darf nicht als Kollateralschaden des politischen Alltags heruntergespielt werden. Folter ist Folter, ob im Irak oder in Tschetschenien, und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das sind ebenso klare Wahrheiten.
Die Fakten, die hierzu im Vorjahr zum Irak vorgebracht wurden, jetzt zu Tschetschenien, sprechen eine unabweisbare Sprache. Auch wenn die „Rebellen“ in Tschetschenien inzwischen bis auf ca. 200 Kämpfer die Waffen gestreckt haben, auch wenn der umstrittene Miliz-Führer Ramsan Kadyrow von Wladimir Putin kürzlich zum zivilen Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik geadelt wurde, auch wenn der Flugverkehr zwischen Grosny und Moskau jetzt wieder aufgenommen wurde und die UNO entschieden hat, ihr Büro in Grosny wieder zu eröffnen und selbst wenn die aktuellste Konferenz zu Menschenrechten in Tschetschenien Anfang des Jahres 2007 wieder in Grosny statt in London oder Paris durchgeführt werden konnte, so sind doch Not, Elend, Krankheiten und Arbeitslosigkeit nach wie vor Alltag in Tschetschenien. Dazu kommen immer wieder aufflackernde Kämpfe und im Gegenzug Repression, gelegentliche „Säuberungen“, Folter in Gefängnissen und Lagern sowie andere Gräuel. Bedrückende Einzelheiten dazu sind u.a. in dem letzten Bericht der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ nachzulesen. Er beginnt mit den Worten: „Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus.“ (GfbV, 29.1.2007) Hierauf mit den Lesungen weltweit aufmerksam zu machen und die Zustände im Südkaukasus auf diese Weise in das Licht der Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist ein großes Verdienst dieser Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung.
In der Gleichstellung des US-Einmarsches in den IRAK mit dem Mord an Anna Politkowskaja, die sich aus der Parallelität der vorjährigen und der jetzigen Kampagne der Stiftung ergibt, liegt jedoch auch ein Problem, das ebenso wenig übergangen werden darf. Der Mord an der dezidierten Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja wird von vielen, selbst ehrlich empörten und gutwilligen Demokraten, umstandslos der russischen Regierung, dem russischen Geheimdienst oder gar dem russischen Präsidenten persönlich angelastet, obwohl dieser sich, wenn auch ungeschickt und taktlos, eindeutig davon distanziert und rückhaltlose Aufklärung angekündigt hat. Formulierungen wie „Putin Mörder“, „Putin Diktator“, „faschistisches Russland“ konnte man in der Folge des Mordes an Anna Politkowskaja immer häufiger lesen. Es besteht erkennbar die Gefahr, dass ihr Tod politisch instrumentalisiert wird, um daran Ängste vor Russland zu schüren. Dieser Gefahr kann nur mit der Frage: Cui bono? Wer hat den Nutzen? begegnet werden.
Der Einmarsch in den Irak war ein klarer imperialer Akt, auch wenn er jetzt chaotisch endet und sich gegen seine Urheber zu wenden beginnt. Aber was war und was ist der tschetschenische Krieg? Da fällt eine Antwort schon wesentlich schwerer. Sicher ist nur eines: Der Beginn des Krieges war Ausdruck des imperialen Zerfalls der Sowjetunion, der von Jelzin befohlene Einmarsch war keine strategische Offensive, sondern die blinde Reaktion einer taumelnden russischen Führung. Die Folge war ein sich im Selbstlauf eskalierendes Chaos, das Russland von Anfang an geschadet hat. Der tschetschenische Krieg ist der mit falschen Mitteln unternommene und gescheiterte Versuch einer Schadensbegrenzung, nachdem Boris Jelzin 1991 mit den beiden Parolen „Bereichert Euch“ und „Nehmt Euch so viel Souveränität wie ihr könnt“ den zögernden Michail Gorbatschow beiseite geschoben hatte. Jelzin konnte die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen. Stattdessen breitete sich das Chaos des tschetschenischen Krieges zu einem Geschwür der sozialen Desintegration aus, das die russische Gesellschaft bis heute vergiftet.
Dies ist der Hintergrund, vor dem zu fragen ist, wem Anna Politkowskajas Tod nützte. Ganz sicher nützte er nicht der russischen Führung. Sie konnte durch den Mord an dieser im Westen bereits vor ihrem Tod schon fast zur Ikone des Widerstandes gegen Putin gewordenen Anklägerin nur Boden verlieren, politisch wie auch kulturell. Und sie hat ihn verloren, wie die zunehmende Russophobie zeigt. Was diesen Punkt betrifft, sollte man wohl aufhorchen, wenn Michail Gorbatschow und andere keineswegs putin-hörige russische Persönlichkeiten die Putin-Schelte, die in den westlichen Medien nach dem Mord einsetzte, als Kampagne zurückweisen und ihrerseits auf Aufklärung setzen.
Ob und wann dieses gelingt, ist eine andere Frage. Anna Politkowskaja kritisierte ja nicht nur Putin, nicht nur den Terror russischer Soldateska, prorussischer tschetschenischer Milizen, des russischen Geheimdienstes, wildernder anonym agierender russischer Spezialtruppen ebenso wie tschetschenischer Banden, sie kritisierte auch die korrupten Militärs, russische und tschetschenische, skrupellose Oligarchen wie auch verkommene Bürokraten, bei denen die ohnehin geringen Moskauer Aufbaugelder für Tschetschenien versickern. Spuren, die zu ihren Mördern oder gar deren Auftraggebern führen könnten, gibt es daher so viele, wie sie Artikel geschrieben hat.
Anna Politkowskaja kritisierte auch ihre eigenen Landsleute, deren politische Apathie sie verurteilte. Der Westen stand ebenfalls in ihrer Kritik. Sie hielt ihm vor, dass er „die tschetschenische Bevölkerung für Öl und für strategische Interessen“ verkaufe, indem er das Chaos verschweige. Recht hat sie mit beiden Kritiken, denn längst betrachtet die russische Bevölkerung den tschetschenischen Krieg nicht mehr als den ihren. In Bezug auf den Westen muss man ein bisschen deutlicher werden: Schon lange könnte man sehen, wenn man es wollte, dass auf dem Rücken der tschetschenischen Bevölkerung wie auch der angrenzenden Republiken Inguschetien und Dagestan ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Kaukasus ausgetragen wird. Mehr und mehr schließt er auch die inzwischen nicht mehr zu Russland gehörigen kaukasischen Nachbarn, Azerbeidschan, Georgiern bis hin zur Ukraine mit ein. In diesem Krieg fällt Russland die Rolle zu, sich gegen verdeckte Interventionen zu wehren, die geeignet sind seine südliche Flanke zu destabilisieren. Nachweise für diese Interventionen können, nicht anders als zu den Hintergründen des Mordes an Anna Politkowskaja, ebenfalls nur über die Frage: Cui bono? Wem nützt es? geführt werden. Dabei ist die Frage nach dem Nutznießer der Interventionen klarer zu beantworten als die nach denen des Mordes: Eine Destabilisierung des Kaukasus nützt weder Russland, noch den kaukasischen Völkern, sondern allein denen, die hier ihre globalstrategischen Interessen durchsetzen wollen. Dazu lese man noch einmal Sbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“, oder höre sich die Reden aus dem neo-konservativen Lager der gegenwärtigen US-Regierung an. Hier schließt sich der Kreis zur vorjährigen Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung, die der Intervention der US-Truppen in den Irak galt.
Wie aktuell die Konfliktlinie im Kaukasus ist, machen die kürzlich erklärten Absichten der USA unmissverständlich klar, Mittelstreckenraketen zunächst in Polen und Tschechien, dann aber auch im Kaukasus aufstellen zu wollen, wo sie angeblich Europa und die USA gegen Angriffe des Iran oder Korea oder sonstiger „Schurkenstaaten“ schützen sollen. Diese Begründung ist so offensichtlich vorgeschoben, dass innerhalb der EU offene Kritik laut wird. Russland kann das nur als einen weiteren Schritt der Einkreisung verstehen. Ein Ende der Unruhen in Tschetschenien und Umgebung ist solange nicht abzusehen, wie diese geopolitische Konfliktlinie aufrechterhalten wird.
Mit Recht prangerte Anna Politkowskaja die Methoden an, mit denen Russland den Krieg führt und wie der Kreml über eine vom Geheimdienst gelenkte Verwaltung Ruhe und Ordnung in der tschetschenischen Teilrepublik herzustellen versucht. Da wird, soweit man erkennen kann, in grober Weise mit Zuckerbrot und Peitsche hantiert, gelenkte Wahlen und eine vom Kreml gestützte Tschetschenisierung der Verwaltung auf der einen Seite, Verweigerung von Personaldokumenten für zurückkehrende Flüchtlinge, Repression für Unangepasste, Strafaktionen gegen den nach wie vor schwelenden Widerstand auf der anderen. Wenn man dies aufzeigt, darf man jedoch auch nicht verschweigen, dass die westlichen Interventionen im kaukasischen Raum einer Entspannung in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken direkt entgegenarbeiten. Eine Verteidigung der Menschenrechte, heißt das, die der politischen Lüge so entgegenwirkt, wie es sich die Peter-Weiß-Stiftung von ihrer Kampagne verspricht, beginnt nicht erst in Tschetschenien; sie kann auch nicht auf Kritik an Moskau, konkret seinen jetzigen Präsidenten beschränkt bleiben; sie beginnt dort, wo jeglicher Interventionspolitik, die lokale Bevölkerungen zur Geisel strategischer Interessen macht, im Ursprung entgegengewirkt wird.

 

Kai Ehlers
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Darin diverse Bücher zu Russland.

US-Raketen auch im Kaukasus: Unter den US-Schirm kriechen oder nicht?

Nach Polen und der tschechischen Republik wollen die USA nun auch den Kaukasus als Basis für die Aufstellung von Mittelstrecken-Raketen nutzen. Einen bestimmten Ort nannte US-Generalleutnant Henry Obering, der diese Absicht in Brüssel Anfang Februar bekanntgab, allerdings nicht. So wie zuvor schon die Anfragen der USA an Polen und die tschechische Republik, so sorgte auch dieser Vorstoß der USA jetzt für Konflikte. Azerbeidschan, Georgien, von den Russen als Adressat der US-Pläne vermutet, dementierten umgehend. Nicht so die Türkei. Ins Spiel gebracht wurde darüber hinaus aber auch die Ukraine, nachdem der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko wenige Tage zuvor erklärt hatte, für die europäische Sicherheit sei eine Raketenabwehr unabdingbar. Jutschtschenkos Gegenspieler, Viktor Januwitsch, erwiderte daraufhin, eine Beteiligung der Ukraine an dem US-Raketen-Abwehr-Schild stehe nicht zur Debatte.
Unberührt von dieser Verwirrung wie auch der Kritik der EU-Partner und der erneuten russischen Proteste, die Einkreisung, Ausspähung und effektive Beeinträchtigung der Sicherheit ihres Landes fürchten, heißt es von Seiten der USA erneut, die Raketen richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen Iran, Korea oder sonstige mögliche „Schurkenstaaten“. Im übrigen handele es sich bei den geplanten Raketen nicht um Offensiv-, sondern um Defensivwaffen. Die Früherkennung diene allein dem Schutz vor atomarer Bedrohung der USA, Europas und, Kooperation vorausgesetzt, sogar Russlands.
Man ist versucht zu lachen angesichts solcher Begründungen, aber leider gibt es überhaupt keine Veranlassung zur Heiterkeit, denn die Aufstellung der Raketen ist allen öffentlichen Beschönigungen zum Trotz alles andere als defensiv. Sie sind vielmehr der aktuelle Ausdruck einer seit dem Ende des Kalten Krieges seitens der USA betriebenen strategischen Umorientierung vom Gleichgewicht des Schreckens durch atomar bestückte Langstreckenraketen auf die Erreichung einer atomaren Erstschlagkapazität durch ein Netz von Mittelstreckenraketen. Die Raketen sollen in einem konventionellen Präventivschlag einen möglichen atomar bewaffneten Gegner so umfassend angreifen, dass er keine Gelegenheit mehr zum Einsatz seiner atomaren Abwehr findet. Folgerichtig bezeichnet der Direktor des Raketenabwehrprogramms der Luftwaffe, US-Oberst Robert Bowman, das Netz der Raketenabwehr als das „Verbindungsglied zum Erstschlag“. So nachzulesen u.a. bei William Engdahl in einem Aufsatz zu Putins Rede vor der NATO-Sicherheitstagung.
Schaut man sich die Lokalisierung der Basen an, die wie ein Ring um Russland gelegt sind, so bedarf es keiner langen Erklärung, gegen wen sie gerichtet sind. Schlag auf Schlag wurden seit Auflösung der Blockkonfrontation die neuen US-Basen implementiert: 1999, nach einer der neuen Lage gewidmeten gewissen Schamfrist, Camp Bondsteel an der Grenze zwischen Kosovo und Macedonien, Einsatzradius mittlerer Osten, Kaspisches Meer, Russland. In den Jahren darauf Stützpunkte in Ungarn, Bosnien, Albanien, Macedonien, später Bulgarien; 2001 in Afghanistan, Einsatzraum neben China, Iran, mittlerer Osten wieder Russland. Die NATO-Erweiterung nach Ost-Europa, in den Kaukasus und nach Zentralasien hinein ist Teil dieser Strategie. Weitere Stützpunkte in Kirgistan, Usbekistan, Pakistan kamen hinzu, unmittelbarer Einsatzraum wieder Russland. Mit Japan wurde 2007 ein Kooperationsvertrag zur Raketen-Abwehr abgeschlossen. Einsatzraum China, aber auch Russland. Japan gilt den USA als Brückenkopf nach Euroasien. Nachdem in Alaska bereits US-Radarstationen von den USA errichtet wurden, die den Norden Russlands ausspähen, fürchten russische Militärs jetzt, dass in Zukunft auch der Süden Russlands ausgespäht werden soll.
Im Zentrum dieses gewaltigen Netzes liegt nicht Korea, nicht der Iran, nicht einmal hauptsächlich China, sondern unübersehbar Russland. Russland ist die einzige Macht, die, gestützt auf ihre atomare Bewaffnung sowie auf ihre potentielle Autarkie als Herzland des rohstoffreichen Eurasiens und allen Schwächen ihrer Transformationskrise zum Trotz dem Weltherrschaftsanspruch der USA bisher nicht untergeordnet ist.
Die aktuellen Vorstöße zur Stationierung von Raketen in Ost-Europa und in der Ukraine wären geeignet den Ring um Russland endgültig zu schließen. Dass sie gerade jetzt bekannt gegeben werden, mag man zum einen der Torschlusspanik der angeschlagenen Bush-Administration zuschreiben, die vor ihrem Ausscheiden noch einmal zu punkten versucht. Aber man täusche sich nicht. Auch über W. George Bush hinaus bleibt die militärische Einkreisung Russlands die zentrale strategische Option der US-Politik. Sie zieht sich von Trumans „Containment“ nach dem zweiten Weltkrieg, über die Kuba-Krise in den 60ern, über Reagans „Reich des Bösen“ und Clintons Entwurf der „Missile defense act“ von 1999 bis zu dem von Bush nach dem 9.11.2001 eröffneten „Krieg gegen den Terror“ als roter Faden durch die US-Politik. Strategen wie Sbigniew Brzezinski oder Henry Kissinger haben als Ziel der US-Politik unmissverständlich die Aufgabe benannt, den Zugriff auf Eurasiens Reichtum an Ressourcen und die globale US-Hegemonie durch Niederhaltung möglicher Konkurrenten, vor allen anderen Russlands langfristig zu sichern. Man muss dafür an dieser Stelle nicht weiter in die Einzelheiten gehen. Der US-Antrag auf Stationierung von Raketen-Abwehr-Stationen an Polen, die tschechische Republik und jetzt die kaukasischen Staaten ist eine eindeutige Aufforderung der USA an die EU wie an diese zwischen EU und Russland liegenden Pufferstaaten, sich dieser Strategie zu unterwerfen.
Entsprechend aufgescheucht reagiert man in der EU, allen voran in Deutschland. Außenminister Steinmeier kritisiert die US-Vorstöße, SPD-Vorsitzender Kurt Beck stellt sich offen gegen die US-Pläne, Frau Künast von den Grünen kritisiert die Bundeskanzlerin, dass sie in ihrer Eigenschaft als Ratsvorsitzende der EU die US-Pläne nicht zurückgewiesen habe. Sogar die FDP fordert Bündnisgespräche, die Russland mit einbeziehen sollen, anstelle von Alleingängen. Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung dagegen möchte am liebsten in den amerikanischen Schirm hineinkriechen.
Die klarste Antwort auf die US-Offensive kam bisher von Russland. Selbst Boris Jeltsin, obwohl in den meisten Fragen wie Wachs in den Händen des Westens, ließ eine atomare Entwaffnung Russlands nicht zu. Putin führt, gestützt auf eine Bevölkerung, die sich vom Westen, insbesondere den USA nicht weiter bevormunden lassen will, seit seinem Amtsantritt 2000 eine Doppelstrategie der Kooperations- und Gesprächsbereitschaft mit NATO, EU und „Antiterror Allianz“ auf der einen und einer Modernisierung der russischen Atomstreitmacht auf der anderen Seite durch. Eine erkennbare Neuorientierung Russland begann mit dem NATO-Einsatz in Jugoslawien 1999. Im Mai 2003, nachdem G.W. Bush den Raketen-Abwehr-Vertrag einseitig gekündigt hatte, in Afghanistan einmarschiert war und Bagdad bombardiert hatte, erklärte Putin dann öffentlich, dass Russland seine atomare Abschreckung so modernisieren müsse, das sie Russland langfristig zu schützen imstande sei. Im Dezember 2006 ergänzte er, die strategische Balance aufrechtzuerhalten, bedeute für Russland, die Fähigkeit zu entwickeln, „jeden beliebigen Gegner zu neutralisieren, gleich welche modern Waffen er besitzen möge.“
Diese Botschaft war unmissverständlich an die Adresse der USA gerichtet. Ihr materieller Ausdruck war unter anderem die Entwicklung eines neuen russischen Raketentyps, Topol-M, der beim Verfolgen der Ziele die Richtung ändern kann. Im Ergebnis konnte Putin auf der NATO-Sicherheitskonferenz am Februar 2007 in Antwort auf die Stationierungs-Offensive der USA in aller Bestimmtheit erklären, Russland werde sich in ein Wettrüsten nicht hineinziehen zu lassen. Es sei technisch in der Lage jeder Bedrohung angemessen, aber asymmetrisch zu begegnen. Stattdessen forderte Putin die USA auf, im Sinne einer Deeskalation weltweiter Konflikte mit den übrigen Weltmächten zu kooperieren und kündigte an, Russland werde eine Initiative zur Beendigung und weltweiten Ächtung der Militarisierung des Weltraumes vorlegen. Europäer wie auch die Länder im Übergangsraum zwischen Russland und der EU sind durch diese Entwicklung aufgefordert sich zu entscheiden, ob sie mit unter den US-Raketenschirm kriechen oder mit Russland, China und anderen neuen Mächten zusammen eine Kraft aufbauen wollen, die den USA Einhalt gebieten können.

Kai Ehlers
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Wahlen in Russland: Putin auf der Zielgeraden?

Wieder einmal erweist Wladimir Putin sich als wahrer Meister des asiatischen Kampfsports, der Gegner nicht frontal angeht, sondern, wenn möglich, ins Leere stoßen lässt: Als er bei der jährlichen Pressekonferenz Anfang Februar 2007, an der 1232 Medienvertreter und –vertreterinnen teilnahmen, gefragt wurde, welches sein Wunschkandidat für die kommenden Wahlen in Russland sei, antwortete er, es werde „keinen ausgewählten Nachfolger“ geben, sondern „Kandidaten“. Im Übrigen hätten die Behörden die Aufgabe, für einen demokratischen Charakter der Wahlen zu sorgen. Darüber hinaus, setzte Putin hinzu, werde er sich allerdings seine Rechte als Bürger Russlands nicht nehmen lassen, beizeiten deutlich zu machen, welcher der Kandidaten ihm besonders zusage.
Auf derselben Pressekonferenz bekannte Putin sich zu der Verpflichtung des Staates Journalisten vor Verfolgung zu schützen. Die „Verfolgung von Journalisten, in unserem Land wie auch in anderen“ erklärte er, sei „eines der gravierendsten Probleme und wir erkennen den Grad unserer Verantwortung dafür an.“ Putin erinnerte in diesem Zusammenhang an Frau Politkowskaja, deren Ermordung er verurteilte, sowie den ebenfalls ermordeten Redakteur der Zeitung Forbes, Paul Klebnikow, der zuvor im Zuge einer Recherche nach den reichsten Russen umgebracht worden war. Klebnikow sei für ein demokratisches Russland gestorben, so Putin. Verantwortung für den Tod des Agenten Litwinenko dagegen wies Putin zurück.
Damit hat der russische Präsident allen bisherigen Spekulationen einer von ihm möglicherweise gewollten dritten Amtszeit, einer möglichen autoritären Inthronisierung eines von ihm abhängigen Nachfolgers oder gar der Errichtung einer Geheimdienst-Diktatur und dergleichen vorerst den Boden entzogen und die letzte Runde seiner Amtszeit so eingeleitet, das eine ruhige Machtübergabe möglich wird. Putin braucht die Ruhe, um die von ihm erreichte Restauration des russischen Staates und der russischen Wirtschaft zu stabilisieren; jede Unruhe wäre für Russland in dieser Situation ein Rückfall. Ob diese Ruhe der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen förderlich ist, wie Putin es selbst sieht oder auch sehen machen möchte, ist eine andere Frage, die mit einem einfachen ja oder nein nicht zu beantwortet ist. Konzentrieren wir uns also auf die Tatsachen:
Da wäre zunächst auf die dreifache Staffelung der russischen Wahlen hinzuweisen. Der allgemein für entscheidend gehaltenen Wahl für einen neuen Präsidenten am 2. März 2008 gehen die Wahlen zur Staatsduma am 2. Dezember 2007 voraus. Beiden Wahlgängen vorgelagert sind die Wahlen zu regionalen Selbstverwaltungsorganen und regionalen Parlamenten, die bereits im Verlauf des Jahres 2006 stattfanden. Die Regionalwahlen werden, obwohl weit vorgelagert, als Testlauf und Experimentierfeld für die Dumawahl und diese wiederum als Start für die Wahl des Präsidenten verstanden.
Das offensichtlichste Ergebnis der Regionalwahlen war ein durchgängiger Sieg der Partei „Einiges Russland“, die als sog. Partei der Macht in alle regionalen Parlamente mit Mehrheit einziehen konnte. In einigen Regionen gewann sie sogar die absolute Mehrheit. (27% – 55%) Zweitstärkste Kraft wurden die Kommunisten der KPRF mit Stärken zwischen 9% und 18%. An dritter Stelle folgte die Partei des ewigen Politclowns Wladimir Schirinowski; sie schrammte allerdings vielerorts gerade an den 5%-Hürden entlang. Achtungserfolge erzielte die „Partei der Pensionäre“ in drei Regionen.
Vollkommen außen vor dagegen blieben die sog. liberalen prowestlichen Parteien, Jabloko, Union rechter Kräfte und andere, die weder einzeln noch in Bündnissen miteinander in auch nur eins der Regionalparlamente einziehen konnten. Bemerkenswert ist die geringe Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen. Der Schnitt lag bei 40%, in Kaliningrad 36% waren es, in Nischni Nowgorod sogar nur 32%. Von den Wählern und Wählerinnen, die zur Wahl gingen, kreuzten im Schnitt zudem noch 6% – 9% „Gegen alle“ als ihre Option an. Dazu trug u.a. auch die Tatsache bei, dass verschiedene Parteien wegen „Verstößen gegen wahlrechtliche Bestimmungen“ nicht zur Wahl zugelassen wurden. Solche Ausschlüsse trafen zumeist national-patriotische und „extremistische“ Parteien, die man offenbar zunehmend aus dem Parteienspektrum auszugrenzen bemüht ist.
Unterm Strich zeigen die Regionalwahlen, dass die Spaltung zwischen herrschender sog. Elite und Bevölkerung sich vertieft: Auf der einen Seite stabilisieren, genauer vertikalisieren sich nun auch die politischen Vertretungsorgane unter Vorherrschaft der Partei der Macht, d.h. der politischen Zentrale, nachdem Putin in der ersteh Hälfte seiner Amtszeit zunächst die Verwaltung restauriert und danach die Oligarchen diszipliniert hat. Auf der anderen Seite kehrt sich die Bevölkerung in wachsendem Maße in passivem Protest von der derzeitigen politischen „Elite“ ab, auch wenn – oder auch gerade weil – keine Alternative zu Putins Politik erkennbar ist.
Mit einer ganzen Reihe von Änderungen des Wahlgesetzes versucht die herrschende Administration schon seit den Wahlen 2004, insbesondere aber seit Beendigung der Regionalwahlen in diesen Prozess hineinzuwirken, wobei nicht klar ist, ob sie ihm entgegenarbeiten oder ihn fördern will. Mit dem Argument, die Übergangsperiode sei nun vorbei, wurde zunächst, noch 2004, die Wahl von Direktkandidaten für die kommende Wahl zur Staatsduma abgeschafft; stattdessen werden die Abgeordneten in Zukunft ausschließlich über Parteilisten in die Duma geschickt. Im November 2006 wurde auch die Direktwahl für Regionalchefs beseitigt.
Ebenfalls im November 2006 wurde die Wahl-Variante “Gegen alle“ endgültig gestrichen, gleichzeitig die Hürde für die Wahl einer Partei ins Parlament von 5% auf 7% angehoben. Seit Dezember 2006 gibt es zudem keine Mindestgrenze mehr für die Wahlbeteiligung. Bis dahin waren Regionalwahlen nur dann gültig, wenn mindestens 20% der Wähler sich beteiligt hatten, für die Staatsduma galten 25%, für die Präsidentenwahlen 50% als Mindestgrenze. Beschlossen wurden außerdem Ausschlussgründe gegen Kandidaten und Parteien wegen Extremismus; Personen, die wegen Schwerverbrechen angeklagt wurden, dürfen nicht mehr an den Wahlen teilnehmen.
Neu gefasst wurde auch das Parteiengesetz: Von den 35 im Jahre 2006 offiziell registrierten Parteien sind danach nur noch 19 zugelassen – insofern sie die neuen Kriterien erfüllen, das heißt, über 50.000 Mitglieder oder eine Parteipräsenz von mindesten 500 Mitgliedern in allen Regionen nachweisen können.
Reform und Repression halten sich in diesen neuen Bestimmungen eine unausgeglichene Waage: Die Direktmandate zum Einfallstor der Käuflichkeit in der Duma geworden. Die Vielzahl der Parteien war mehr als verwirrend, insbesondere wenn – wie häufig – die Programme sich kaum voneinander unterschieden. Die Mindestgrenze der Wahlbeteiligung birgt die Gefahr, dass Wahlen durch Boykott ungültig gemacht werden. Ansätze dazu hat es in der kurzen Geschichte der neuen russischen Gesellschaft bereits gegeben. Eine größere Überschaubarkeit und Zuverlässigkeit der Partei- und Parlamentsorgane herzustellen ist daher durchaus ein sinnvolles Anliegen der russischen Wahlplaner: Mehrere der kleineren Parteien sind bereits dazu übergegangen, sich zusammenzuschließen. Einen Versuch ist es auch sicher wert, dem Wildwuchs käuflicher Parlamentarier durch die Bindung an Parteien Grenzen zu setzen. Andererseits geht die Bodenhaftung der Abgeordneten verloren und die Zusammenschlüsse der kleinen Parteien zu größeren werden von den Zulassungsbehörden als Neugründungen betrachtet; die Parteien müssen also das Risiko einer neue Registrierung durchlaufen, wenn sie sich zusammenschließen. Im Endeffekt werden dabei kleinere politische Gruppierungen auf der Strecke bleiben.
Ob dies alles am Ende tatsächlich einer politischen Aktivierung der Bevölkerung dienlich ist, wird sich beweisen müssen. Die Dumawahlen werden durch die neuen Wahlgesetze jedenfalls einschneidend reglementiert. Von den 19 Parteien, die jetzt übrig bleiben, haben nur drei oder vier die Chance über die neue 7% Hürde zu kommen: Einiges Russland, die neu gegründete Partei der Gerechtigkeit, die KPRF und vielleicht Schirinowskis LDPR. Wo sie für den aktuellen Wahlkampf ihre programmatischen Unterschiede setzen werden, ist noch nicht klar. Außenpolitisch wird es um die Stellung Russlands zum Westen und zu Europa, insbesondere auch in der Energiepolitik gehen müssen; innenpolitisch um die Frage, wie man zu der von Putin und der Regierung eingeleiteten „Monetarisierung“ steht, die der beabsichtigte WTO-Beitritt fordert. Da wird man in den nächsten Monaten nach Unterschieden suchen müssen. Die Grundfrage jedoch, an der man Flagge zeigen muss, ist sehr einfach: Für oder gegen eine Kontinuität der von Putin betrieben Politik der autoritären Modernisierung. Die Entscheidung über Russlands weiteren Weg fokussiert sich unter solchen Umständen auf den dritten Wahlgang, die Wahl des zukünftigen Präsidenten. Auch hier heißt die Frage aber eigentlich nur: Fortsetzung der Putinschen Politik oder nicht? An dieser Frage werden sich auch die zukünftigen Kandidaten ausrichten müssen. Putin kann dann zum Ausklang des Wahljahres seinen Zuschlag an den ihm geeignet scheinenden Kandidaten geben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass der so Ausgezeichnete dann zum neuen Präsidenten Russlands gewählt werden wird.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe auch:
„Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung“, Pforte/Entwürfe

Kalter Krieg oder frischer Wind? Putin vor der Münchner Sicherheitskonferenz

Recht hat er, aber hat er auch die Macht? So könnte man die überwiegende Mehrheit der Reaktionen auf den Auftritt des russischen Präsidenten vor der alljährlichen NATO-„Sicherheitskonferenz“ in München vom 10./11. Februar zusammenfassen, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er sagte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es eine Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft.
Endlich, möchte man sagen!

Schockierend, meinen andere. Dabei sind die Tatsachen, die Putin vortrug nicht unbedingt neu: Die monopolare Welt, die nach dem Kalten Krieg „vorgeschlagen“ worden sei, sei nicht zustande gekommen. Der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein. Amerikanische Werte würden anderen Staaten übergestülpt; die USA hätten ihre Grenzen fast in jeder Hinsicht überschritten: Militärisches Abenteurertum, ausufernde militärische Gewalt und Missachtung des Völkerrechtes hätten die Welt gefährlicher gemacht. Die Politik der USA heize das nukleare Wettrüsten an. Niemand fühle sich mehr sicher.
Neu ist lediglich Russlands kategorischer Protest gegen aktuelle NATO-Pläne, in Polen und Tschechien neue Stationen für ein europäisches Raketenabwehrsystem zu bauen.
Auch die Alternative, die Putin für das von Kanzlerin Merkel in ihrer Eintrittsrede zur Konferenz mehrfach geforderte „Zusammenrücken“, nannte, bei der sie einer weltweit agierenden NATO, der EU und dem atlantischem Bündnis eine „aufbauende“ Rolle zuschrieb, war im Kern nicht neu, nämlich die Einbindung der USA in das Konzept einer multipolaren und kooperativen Weltordnung. Das Gleiche gilt für Putins Feststellung, dass in einer solchen Ordnung nicht eine Macht allein, sondern einzig die Völkergemeinschaft, die UNO, den Einsatz von Gewalt legitimieren könne.
Neu allerdings ist das Selbstbewusstsein, mit dem Russland diese Sicht dem NATO-Bündnis vorträgt. Das mag für viele, die Russland, speziell auch Putins Politik in den Jahren seit Auflösung der Sowjetunion nur als opportunistisches Taumeln zwischen Ost und West, China und Europa usw. gesehen haben, eine überraschende Wendung sein. Tatsächlich ist Russland seit dem Amtsantritt Putins Schritt für Schritt, systematisch und erfolgreich den Weg der Wiederherstellung gegangen. Als Putin im Jahre 2000 antrat, war das Land am tiefsten Punkt seiner Selbstachtung, Zerfall seiner Staatlichkeit und Wirtschaft angekommen. Sieben Jahre Putin haben gereicht, um Russlands Selbstbewusstsein soweit wieder herzustellen, dass das Land seine historische Rolle als integrierender Faktor zwischen Asien und Europa heute in neuer Weise zu übernehmen in der Lage und bereit ist – nämlich als Impulsgeber und stabilisierender Faktor einer kooperativ organisierten Weltordnung zu wirken, die durch die aggressive Hegemonialpolitik der USA zunehmend gefährdet ist. In diesem Sinne ist Russland schon seit längerem eine heimliche Vermittlerrolle zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wird sie vor aller Augen benannt. Was Russland in die Entwicklung einer neuen Weltordnung einbringt, ist seine historische Erfahrung des Vielvölkerpluralismus, an die das heutige Russland anknüpft. Im Austausch und Kooperation mit westlichem Verständnis von Demokratie, können daraus neue Kräfte erwachsen.
Die Rede des russischen Präsidenten schafft keine neuen Tatsachen – sie ist jedoch Ausdruck einer gewandelten Wirklichkeit: Sie zeigt zum einen, dass dem US-Anspruch auf Alleinherrschaft inzwischen Grenzen erwachsen sind. Russland ist nicht mehr der hilflose Spielball westlicher, insbesondere US-amerikanischer Interessen, der es unter Jelzins Präsidentschaft geworden war: Russische Staatlichkeit, russische Wirtschaft, russisches Selbstbewusstsein ist als Ergebnis der autoritären Modernisierung unter Putins Führung wiederhergestellt, ohne dabei im Sowjetverhältnisse zurückzufallen. Seine Energie-Ressourcen geben Russland eine explodierende Finanzkraft. Mit Russland muss wieder gerechnet werden. Eine weitere Ausdehnung der NATO – ohne Rücksprache und ohne Einbeziehung Russlands – wird Moskau nicht hinnehmen.
Neben den beiden alten Supermächten, die sich heute in neuer Weise gegenüberstehen, sind zudem eine Reihe neuer Machtzentren entstanden. Das beginnt mit der EU, die ihre Bündnisoptionen nicht mehr nur atlantisch definiert. Dazu kommen die neuen Mächte China, Indien, Iran und die Entwicklung der südamerikanischen Staaten, die zu gleichgewichtigen Partnern in der globalen Wirtschaft und Politik herangewachsen sind. Sie sind weder klein zu halten noch aus dem Weg zu bomben, sondern müssen als Mitspieler im „global play“ bei Strafe des gemeinsamen Untergangs als Partner auf Augenhöhe akzeptiert werden. Ihre gleichberechtigte Einbeziehung in die WTO, in die G8, aber auch die UN, selbst die Verwandlung der NATO in ein weltweites Militärbündnis ist unvermeidlich, wenn diese Institutionen nicht zu Instrumenten eines neuen kalten, tendenziell gar heißen Krieges der zur Zeit noch herrschenden Industrieländer gegen den Rest der Welt werden sollen.
Das scheinen auch die westlichen Politiker zu verstehen: Der neue Verteidigungsminister der USA, Robert Gates, der bei seinem Amtsantritt die Forderungen nach weiterer Aufrüstung mit der Unberechenbarkeit Russlands und Chinas begründete, erklärte nach der Putin-Rede, ein Kalter Krieg sei genug gewesen und ließ sich vom russischen Verteidigungsminister Iwanow zu Abrüstungsgesprächen nach Moskau einladen.
Der NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zeigte sich zwar „enttäuscht“ von Russland; zugleich will man sich beim nächsten Treffen des NATO-Russland-Rates in Sevilla jedoch darüber verständigen, wie die militärtechnische Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO weiter gefestigt werden könne.
Die deutschen Politiker können Putins Kritik am Alleingang Russlands in ihrer Mehrheit sogar „verstehen“. Kanzlerin Merkel sicherte Präsident Putin nach seiner Rede noch einmal ausdrücklich die deutsche Bereitschaft zum Dialog zu.
All dies macht deutlich, dass Putins Auftritt nicht die Rache eines Beleidigten ist, der „austeilt, nachdem er viel einstecken musste“, nicht als Provokation, auch nicht als Imageaufwertung für den bevorstehenden russischen Wahlkampf zu verstehen ist, wie manche Kommentatoren meinen, obwohl der innenpolitische Zuspruch nicht übersehen werden sollte. Putin fordert vielmehr nicht weniger als den Eintritt in eine neue Runde der internationalen Kooperation, die den neu gewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht. Wenn allerdings eine Zeitung wie die deutsche FAZ die zurückhaltenden Reaktionen der USA, der EU, insbesondere aber der deutschen Politiker in die Nähe eines Appeasement und damit Putin in die Nähe Hitlers rückt, dann wird deutlich, wie viel noch für die Verwirklichung einer solchen Perspektive getan werden muss.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Weiteres zum Thema:
Kai Ehlers: „Russland: Aufbruch oder Umbruch?“. Pforte/Entwürfe, 2005
Außerdem: www.kai-ehlers.de

NATO-Raketen in Ost-Europa – für oder gegen die Europäische Union?

Erstaunliches geschieht auf der Bühne der globalen Politik: Die USA wollen, so erklären sie, die Europäische Union und sich selbst durch das Aufstellen neuer Abfangraketen in Polen und eines dazu gehörigen Radarleitsystems in Tschechien gegen Angriffe aus dem Iran und aus Nord-Korea schützen. Ab 2011 soll die Anlage einsatzbereit sein. Russland fühlt sich bedroht und protestiert; von Ferne grollt China. Die Regierungen Polens und Tschechiens dagegen wollen zustimmen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung beider Länder gegen die Stationierung ist.
Von der Gefahr eines neuen Wettrüstens ist die Rede, von einer drohenden Neuauflage des kalten Krieges, der die Welt gar in heiße Kriege ziehen könnte. Die deutsche Regierung wiegelt ab, Brüssel hält sich bedeckt. Die Reaktion ist verständlich, denn zwar bündeln sich mehrere Konfliktlinien in diesem Antrag der USA auf Stationierung von Raketen im ost-europäischen Raum in gefährlicher Weise, aber eines kann man mit Sicherheit ausschließen, nämlich, dass die Stationierung von NATO-Raketen in Polen und der tschechischen Republik das Ziel haben könnte, die EU vor möglichen Angriffen aus dem Iran oder Korea zu schützen, ganz zu schweigen von den USA. Ein einfacher Blick auf den Globus reicht, um dies zu verstehen, wenn man weiß, dass weder der Iran noch Korea über Raketen verfügen, welche die in Frage kommenden Strecken zu überwinden imstande wären. Das wird auch durch Erklärungen wie des CDU-Militärexperten von Klaeden nicht anders, Iran und Korea blieben ja sicherlich „nicht faul“ und daher müsse man damit rechnen, dass sie bis zur Fertigstellung der Anlagen 2011 zu einem Bau von Fernraketen in der Lage sein könnten. Diese Begründung wendet sich gegen sich selbst, denn so wie sich iranische, koreanische oder sonstige „Schurken“-Technik bis 2011 verändern kann, so kann es selbstverständlich auch eine NATO-eigene Anlage. Was heute technisch nicht möglich ist, kann es morgen sein. Alle Versicherungen Washingtons, die Raketen seien schon rein technisch nicht gegen Russland einsetzbar, sind damit von vornherein Makulatur – und jeder weiß es.
Worum also geht es, wenn es das öffentlich angegebene Ziel des Schutzes für die EU nur vorgetäuscht ist? Da wäre zunächst auf die langfristige Eigendynamik der US-Rüstung zu verweisen. Zwar nahmen die USA nach dem Ende des Kalten Krieges Abstand von der 1983 durch Ronald Reagan begründeten „strategischen Verteidigungsinitiative“ (SDI), im Volksmund Starwar-Programm genannt; in der Folge rüsteten sie jedoch nicht etwa ab, sie rüsteten lediglich um: Das Star-War-Programm wurde Schritt für Schritt in ein land- und seegestütztes System von Raketenbasen überführt, in das seit 1991 im Zuge der NATO-Erweiterung und der Umwidmung der NATO zu einer weltweit agierenden Organisation der „Friedenssicherung“ in zunehmendem Maße auch Länder des ehemaligen Warschauer Paktes, also der GUS wie auch Osteuropas einbezogen wurden. Erste Beschlüsse für dieses Programm wurden 1999 noch unter US-Präsident Clinton als „National Missile Defense Act“ vom US-Senat gefasst, von der Bush-Administration immer wieder, zuletzt 2006 noch einmal aktualisiert. Im Jahr 2015 sollen die weltweiten Stationierungen von Radarleitstationen abgeschlossen sein.
Parallel zu diesen Maßnahmen sagten sich die USA von allen wesentlichen internationalen Rüstungsbeschränkungen los, einschließlich des Atomwaffensperrvertrages.
Seit 1999 gehören Tschechien, Polen und Ungarn, seit 2004 Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Slowenien der NATO an, allerdings ohne Entscheidungsgewalt und ohne Bündnisverpflichtung. Der Ukraine, Moldawien, Georgien wurde die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, jedoch von der „Klärung ihrer Beziehungen zu Russland“ und ihren „strategischen Entscheidungen“ für den Westen abhängig gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist der US-Antrag an Polen und Tschechien, nun bitte Kooperationsbereitschaft zu zeigen, zwar ein neuer, aber kein überraschender Schritt.
In ein neues Stadium der Entwicklung kommen die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA: In der strategischen Konzeption der USA, wie sie von Sbigniew Brszezinski, Henry Kissinger und den Neo-konservativen Kräften hinter ihnen ausgearbeitet und von der Bush-Regierung umzusetzen versucht wurde, war Europa die Funktion eines “Brückenkopfes“ für die Beherrschung Euroasiens, insonderheit der Niederhaltung Russlands durch die USA zugedacht. Als zweiter Brückenkopf auf asiatischer Seite gilt Japan.
Der Fall des eisernen Vorhangs, die schrittweise Erweiterung der EU bis an die Grenzen Weißrusslands, Moldawiens und der Ukraine, die Entwicklung der „Strategischen Partnerschaft“ zwischen EU und Russland, die in den Jahren, besonders von Deutschland ausgehend, in eine immer enger werdende Energiepartnerschaft zu münden scheint, die Einführung des Euro, sowie die Entwicklung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft als eigener Block in der veränderten NATO haben das Kräfteverhältnis zwischen den USA und der EU soweit verschoben, daß die EU heute aus der Rolle des „Brückenkopfes“ herauszutreten beginnt. Der Euro tritt inzwischen in ernsthafte Konkurrenz zum Dollar als Öl-Währung; die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist, obwohl immer noch mit der NATO verwoben, in eigenen, von der NATO unabhängigen Einsätzen aktiv. Aus US-Sicht ist diese Entwicklung eine ernste Bedrohung.
Gleichzeitig hat die EU mit der Erweiterung um die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes historische Konflikte geerbt, die ihre Beziehungen zu Russland belasten. Hier liegt eine potentielle Bruchstelle zwischen „altem“ und „neuem“ Europa, zwischen russlandfreundlicher und russlandfeindlicher, das heißt zwischen US-bezogener oder US-kritischer Politik. Sie wird noch verstärkt durch die politisch instabilen Pufferzonen zwischen Russland und der EU. Das gibt den USA die Möglichkeit, mit ihrem Antrag auf diese Bruchstelle einzuwirken und so auf diesem Umweg über die neuen EU-Länder Polen und Tschechien zu versuchen, die Europäische Union wieder stärker an sich zu ziehen, nachdem die Frontlinie zwischen EU und Russland, einschließlich der NATO seit Bildung des NATO-Russland-Rates zunehmend zu verwischen schien.
Russland hat diesen Charakter der neuesten US-Intervention erkannt, wie aus Wladimir Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung klar hervorgeht. Er weist die geplante Erweiterung der NATO-Stützpunkte nach Polen und in die tschechische Republik als Aggression der USA und nicht etwa der EU zurück, obwohl Russland durchaus genügend Anlaß zu machtpolitischen Allüren der EU hat und diese bei anderen Gelegenheiten durchaus auch vorbringt. Auch die Kritik an der NATO führt Putin wesentlich als Kritik an den USA, nicht der EU. Diese Schwerpunktsetzung seiner Rede demonstriert das fundamentale Interesse Russlands an der strategischen Partnerschaft mit der EU. Dabei geht es Russland entgegen allen anders lautenden Kommentaren nicht um eine Wiederholung historischer „Achsen“, sondern um die Entwicklung einer multilateralen und kooperativen Völkerordnung, die den heutigen Kräfteverhältnissen entspricht. Das erkennbare neue Selbstbewusstsein Russlands erklärt zugleich, wogegen sich die aktuelle Intervention der USA richtet.
Bleibt schließlich noch darauf hinzuweisen, was nur einen Monat vor dem Vorstoß der USA nach Polen und in die tschechische Republik in China geschah: Am 12.1.2007 wurde in Xichang im Südwesten des Landes eine Rakete gestartet, mit welcher der in ca. 860 Kilometer Höhe fliegende Satellit Fengyun.1C des chinesischen Wetterdienstes zerstört wurde. Der Abschuss war ein erfolgreicher Test. China ist damit nach der Einstellung von Versuchen mit „Satellitenkillern“, wie sie im Rahmen des SDI-Programms vorgenommen wurden und vergeblichen US-Ansätzen, solche Vehikel vom Boden aus zu steuern, das erste Land der Welt, das Satelliten vom Boden aus abschießen kann. Die USA fühlen sich herausgefordert. Die militärischen Satelliten der USA bewegen sich auf der gleichen Höhe wie der abgeschossene chinesische Wetter-Satellit. Als US-Präsident Bush 2006 seine neue Weltraumstrategie vorstellte, hatte er erklärt, man behalte sich das Recht völliger Handlungsfreiheit im All vor und werde dazu „gegnerischen Staaten“ den Zugangs ins All nötigenfalls verweigern, sofern nationale Interessen der USA bedroht würden. Mit dem Test hat China das von den USA beanspruchte Monopol auf Herrschaft im Weltraum gebrochen.
Angesichts des skizzierten Auftretens von Konkurrenten für die USA, vor dem Hintergrund ihrer sich abzeichnenden Niederlage im arabischen Raum, der immer offensichtlicher hervortretenden Krise des Dollars als Leitwährung für das Öl und des katastrophalen Imageverlustes der USA als globaler Leitkultur ist die Anfrage an die osteuropäischen Mitglieder der NATO Polen und Tschechien daher weniger als reale aktuelle Bedrohung Russlands zu werten, wenn auch als politische Provokation, mehr jedoch als der Versuch, Europa wieder enger an die USA zu binden, zumindest aber die Partnerschaft zwischen Russland und der EU zu erschweren, wenn nicht gar zu zerstören. Die tatsächliche Einrichtung der angekündigten Stützpunkte ist demgegenüber ganz offensichtlich verhandelbar, wie die Reise des US-Verteidigungsministers Robert Gates nach Moskau, wie die intensiven Verhandlungen im NATO-Russland-Rat, wie die emsigen Gespräche der europäischen Innen- und Verteidigungs-Minister zeigen. Dies alles geschieht nach der Rede Putins auf der NATO-Sicherheitskonferenz, in der er den US-Vorstoß zurückwies. Diese Gespräche werden geführt, obwohl seit zwei Wochen fast kein Tag ohne scharfe Erklärungen aus Washington und Moskau vergeht und auch wenn Moskau mit dem Ausstieg aus dem Vertrag über den Abbau von Mittelstreckenraketen droht, der 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnet wurde. Selbst wenn der Chef der russischen strategischen Raketentruppen, drohte, man werde die neuen US-Basen in osteuropäischen Ländern „ins Visier“ nehmen und jetzt von neuen Raketen die Rede ist, die eingerichtet würden, so steht dem Putins Aussage entgegen, man werde sich kein Wettrüsten aufzwingen lassen.
In dieselbe Richtung weisen die Debatten in Polen und der tschechischen Republik, in denen trotz Zusagen seitens der Regierungen noch lange nicht ausgemacht ist, ob die Länder dem US-Verlangen zustimmen werden oder nicht. Zuviel könnte auf dem Spiel stehen, heißt es in den Kritiken an den Regierungsverlautbarungen, wenn man sich zwischen die Frontlinien begebe. Die entscheidende Frage, um die es zur Zeit geht, lautet deshalb nicht, vielleicht man sollte besser sagen, noch nicht: Neuer Rüstungswettlauf, neuer „kalter Krieg“ ja oder nein, erst recht nicht Ausweitung des „Vierten Weltkriegs“ der USA auf eine heiße Konfrontation mit Russland oder China. Sie lautet vielmehr, dies aber mit aller Schärfe: Wo steht Europa heute im Kontext der neuen Weltmächte? Wo stellt es sich auf? Ist es bereit, weiter einen „Brückenkopf“ für die Aufrechterhaltung des US-Anspruchs auf globale Alleinherrschaft abzugeben oder emanzipiert es sich – gemeinsam mit den von Putin in seiner Rede genannten BRIC-Mächten, also Lateinamerika, Russland, Indien, China – auf dem Weg in eine Völkerordnung, die den neu herangewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht?

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland in die WTO: Durchbruch oder Einbruch?

Russland wird in den westlichen Medien zunehmend attackiert. Man fühlt sich immer öfter an Methoden des kalten Krieges erinnert, wenn von Putin als „Diktator“, von Russland als „Energiefaschismus“ geredet wird. Zugleich ist von „strategischem Bündnis mit Russland“ von „Energiepartnerschaft“ usw. die Rede. Der deutsche Außenminister Steinmeier spricht von einem „Zukunftsbündnis“ der EU mit Russland. Ende des Jahres 2006 gaben die USA Russland den Weg in die Welthandelsorganisation (WTO) frei. Was bedeutet das für die internationalen Beziehungen, was für Russland selbst?

Am 19.11.2006 unterzeichneten die USA und Russland am Rande des Asien-Pazifik-Forums (APEC) ein Abkommen für den russischen Beitritt zur Welthandelsorganisation. In dem bilateralen Abkommen sichert Russland die Senkung von Einfuhrzöllen auf Agrar- und Industrieprodukte aus den USA zu. Moskau verpflichtet sich, gegen Raubkopien vorzugehen. Umgekehrt will Russland von niedrigen Zöllen für die Ausfuhr seiner Exportgüter, Öl und Gas, profitieren. Der russische Wirtschaftsminister German Gref bezeichnete die Vereinbarung als einen „historischen“, einen „letzten Schritt“, der die „Rückkehr Russlands zu den Marktprinzipien der Weltwirtschaft bedeutet.“
Was immer German Gref unter „Rückkehr“ Russlands verstehen mag, so viel ist sicher: Mit dem Abkommen wurde ein entscheidendes Hindernis für den WTO-Beitritt Russlands überwunden. Seit 13 Jahren wird verhandelt; vornehmlich die USA hatten den Beitritt Russlands bisher blockiert. Äußerer Anlass waren die Forderungen der USA nach einem Schutz von Urheberrechten; Russland hatte Standards für amerikanische Fleischlieferungen verlangt, welche die USA nicht einhalten wollten. Jetzt scheint man sich einig geworden zu sein.
Ganz offen ist die Tür für Russlands Beitritt allerdings noch nicht. Seit der Wahlniederlage der Republikaner verfügen die Demokraten über die Mehrheit im US-Kongress. Die befürworten eine protektionistische Politik. Es könnte also noch zu einer Ablehnung der Initiative der Bush-Administration in den USA kommen. Ein Hindernis könnten auch Moskaus Konflikte mit Moldawien und Georgien sein. Russland hat Importe aus beiden Ländern drastisch eingeschränkt, was beide Länder als Sanktionen für ihre pro-westliche Politik begreifen. Zu allem Überfluss hat die russische Staatsduma wenige Tage nach der Unterzeichnung des russisch-amerikanischen Abkommens ein Gesetz verabschiedet, das dem russischen Präsidenten die Vollmacht gibt, internationale Wirtschaftssanktionen zu verhängen. Auch damit könne der WTO-Beitritt Russlands noch in Frage gestellt werden, so die russische Agentur „Ria Nowosti“ wenn durch dieses Gesetz Strafmaßnahmen ausgerechnet jetzt legitimiert würden, da Russland sich vorbereite, in den Weltmarkt einzusteigen, „dessen Grundlage gegenseitige Vorteile und Einvernehmen bilden, aber keinesfalls Druck.“
So ganz überraschend ist dieser Duma-Beschluss indes nicht: Noch Anfang des Jahres konnten sich die Vertreter der G8 in St. Petersburg nicht auf gemeinsame Standards einigen. Russland lehnte die vom Westen geforderte Liberalisierung des Energiemarktes ab. Auch für eine „Entmonopolisierung“ der russischen Telefongesellschaft, die Öffnung der Maschinenbauindustrie, die Streichung von Subventionen für die Landwirtschaft und andere Bereiche waren die Russen nicht zu haben. Aus dem gleichen Grund verweigert die Duma seit 1991 die Unterzeichnung der europäischen Energiecharta. Jetzt erklärte Wladimir Putin, die kommenden Verhandlungen würden zu Bedingungen geführt, die den Wirtschaftsinteressen Russlands voll Rechnung trügen. Das Ziel der Verhandlungen bestehe in der „ungehinderten Erschließung internationaler Märkte“ durch russische Erzeugnisse, in der zweckmäßigen Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung und im Erhalt der vollwertigen Vorteile aus der Integration in die Weltwirtschaft.“ (Ria Nowosti).
Was ist gemeint? Was verspricht Russland sich von der WTO? Was wird tatsächlich geschehen? In seiner Jahresansprache vor der Föderalversammlung vom 18.4.2002 erklärte Putin, man habe sich lange in der Illusion gewiegt, dass das Ende der Periode militärischer und politischer Konfrontation in der Welt Russland sozusagen automatisch den Weg zur Integration in des Weltwirtschaftssystem geöffnet habe, und „dass die Welt uns in wirtschaftlicher Hinsicht mit offenen Armen empfangen“ werde. Nun habe sich aber herausgestellt, dass die heutige Welt zugleich von „erbitterter Konkurrenz“ geprägt sei, von „Konkurrenz um die Märkte, um Investitionen, um politischen und wirtschaftlichen Einfluss.“ In diesem Kampf müsse Russland stark und wettbewerbsfähig sein. Niemand wolle Russland angreifen, aber es warte auch niemand auf Russland; Russland müsse sich seinen „Platz an der Sonne“ selber erkämpfen: „Wir müssen lernen, die Vorteile der neuen Situation der Weltwirtschaft auszunützen: Es ist offensichtlich, dass sich für Russland das Problem einer Wahl zwischen Eingliederung in den Weltwirtschaftsraum oder Nichteingliederung nicht stellt.“
Die WTO, so Putin weiter, „ist weder absolut gut noch absolut schlecht. Sie ist auch keine Belohnung für gute Führung. Die WTO ist ein Werkzeug. Derjenige wird stark, der mit ihr umgehen kann. Derjenige, der nicht mit ihr umgehen kann oder will, der sich weigert zu lernen, der sich lieber hinter protektionistischen Quoten und Zollvorschriften verbarrikadiert, wird verurteilt, vollständig verdammt, um strategisch zu sprechen. Unser Land ist noch vom Prozess der Regelformulierung für den Welthandel ‚ausgeschlossen’, dieses Welthandels, in dem wir bereits präsent sind, ohne dass es uns gestattet wird, die Regeln mitzubestimmen. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass unsere Wirtschaft sich nicht entwickelt und das unsere Wettbewerbsfähigkeit abnimmt.“ Es gehe also darum, „die WTO als Instrument zur Verteidigung nationaler Interessen Russlands auf den Weltmärkten“ zu nutzen, sich „neue eigene Nischen zu sichern“. Dafür müssten die „Staatsstrukturen gestärkt“, und „qualifiziertes Personal ausgebildet“ und eine „Plattform entwickelt“ werden, auf der Staat und Geschäftswelt das Pro und Contra zur WTO miteinander entwickeln könnten. Putins WTO-Programm endet mit den Worten: „Das Parlament wird eine große Arbeit auf sich nehmen müssen, um unsere Rechtsprechung mit den Normen der WTO in Einklang zu bringen. Die neue Fassung der Zollgesetze, die Gesetze, die die technischen Reglementierungen betreffen, Protektionsmaßnahmen, Antidumpingregelungen, Entschädigungen und die Rechte auf geistige Urheberschaft sind von äußerster Bedeutung. Wir können nicht mit verschränkten Armen verharren, wir müssen uns bewegen. Es versteht sich von selbst, dass die Führung die Konsultationen mit den Industriellen wie obligatorischerweise auch mit den Gewerkschaften fortsetzen müssen. Alle müssen sich an dem Prozess beteiligen und die Meinung aller muss berücksichtigt werden.“
Ein Gesetz zur Anpassung der russischen Rechtswirklichkeit an die WTO-Normen begleitet dieses präsidentiale Programm. Es wurde bereits 1991 verabschiedet; jetzt steht seine beschleunigte Umsetzung auf der russischen Tagesordnung, wenn der Beitritt tatsächlich vollzogen werden soll. Das würde bedeuten: Unterordnung Russlands unter das zentrale Ziel der WTO, die Liberalisierung des internationalen Handels, Unterordnung unter die Ziele ihrer Teilorganisationen GATT (Allgemeines Zoll- und Handeslabkommen), GATS (Regelungen für den Dienstleistungsverkehr), TRIPS (Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums) und TRIMS (Regelungen für handelsbezogene Direktinvestitionen). Alle vier Organisationen verfolgen besondere Aspekte der Liberalisierung: Von der 1948 durch 23 Industriestaaten gegründeten GATT übernahm die WTO bei ihrer Gründung 1993 die Grundprinzipien des Freihandels durch Abbau von Zöllen und Subventionen. Ausgenommen davon sollen solche Staaten sein, die wirtschaftlich dazu nicht in der Lage sind. Die GATS zielt auf Privatisierung von Dienstleistungen. In der Praxis führt das zu einer Umwandlung von staatlichen oder halbstaatlichen Versorgungs- und Bildungseinrichtungen in „Unternehmen“, das heißt konkret zum Abbau und zur Verteuerung von Leistungen. Ziel der TRIPS ist die Privatisierung geistigen Eigentums. In der politischen Realität führte das ua. dazu, daß Pharmakonzerne sich das Monopol auf Patente für die Produktion dringend benötigter Medikamente, Gentech-Firmen sich Patente für Saatgut sicherten uam. TRIMS schließlich setzt sich für das „Recht“ auf ungehinderte Direktinvestitionen ein. Aus all dem ergibt sich eine allgemeine globale Freihandels- und Privatisierungsoffensive. Im Streitfall wird ein WTO- Schlichtungsgremium aktiv, dem unterzuordnen die Mitglieder der WTO sich verpflichtet haben. 1993 gegründet, gehören der WTO heute 150 Mitglieder an; sie umfasst heute ca. 90% des Welthandelsvolumens. Russland ist nach Chinas Beitritt der letzte große Flächen- und Industriestaat, welcher der WTO noch nicht angehört.
Seit 2001 gibt es in der WTO eine Doha-Runde, benannt nach der Hauptstadt Katars. Ziel der Doha-Runde war es, die Probleme der sog. Entwicklungsländer im Rahmen der WTO zu berücksichtigen; 2006 platzte die Doha-Runde, weil die führenden Industriestaaten zwar freien Handel von allen Mitgliedern forderten, selbst aber entgegen der Satzung der WTO nicht bereit waren, auf die Forderungen dieser Länder nach Abbau der Subventionen und Schutzzölle einzugehen. Ein Sprecher der WTO musste nach der Konferenz 2006 einräumen, man sei „vielleicht zu langsam“ gewesen, habe „zu lange gebraucht“ bis man die „Sorgen der Entwicklungsländer angegangen“ sei. Bis heute wurde keine Einigung in der Angelegenheit erzielt.
Selbst neutrale Stimmen bewerten die Erfolge der WTO inzwischen kritisch. Die WTO habe bisher nicht den Nachweis erbracht, dass die radikale Liberalisierung tatsächlich Vorteile zeige, schreibt beispielsweise die FiFo, Webzeitung für Finanz- und Förderprogramme im Außenhandel mit dem Osten. Die „fortschreitende Liberalisierung“ werde nämlich von einer ebenso „fortschreitenden Reduzierung des wirtschaftlichen Wachstums“ begleitet: „Von 1980-1996 stieg nur in 33 von 130 Entwicklungsländern das Wachstum um mehr als 3% je Einwohner, während das BIP je Einwohner in 59 Staaten gesunken ist. Rund 1,6 Mrd. Menschen geht es 1998 in wirtschaftlicher Hinsicht schlechter als fünfzehn Jahre früher. Allgemein stellt die Weltbank in den Zeiten zunehmender Liberalisierung ein dramatisches Wachstum der Armut fest, allerdings mit Ausnahme von China und Indien.“ Ob Russland, muss man hinzufügen, nach einem WTO-Beitritt auch zu diesen Ausnahmen gehören wird, ist keineswegs ausgemacht.
Zunächst einmal ist festzuhalten: Schon im Vorfeld der jetzt geschlossenen Vereinbarungen hat Russland, WTO-Richtlinien folgend, seine subventionierten Gas- und Ölpreise für das „nahe Ausland“ in Richtung auf Weltmarktpreise angehoben. Nichts anderes ist der Kern des angeblichen „Gas-„ und „Ölkriegs“, der sich in der letzten Zeit zwischen Russland und seinen ehemaligen Republiken entwickelte. Das könnte man auf russischer Seite kurzfristig als Gewinn verstehen. Auf Dauer wird Russland sich jedoch erneut, diesmal unausweichlich, mit der Forderung der WTO und aller ihr angeschlossenen Organisationen nach Liberalisierung und Privatisierung des Energiemarktes konfrontiert sehen, die es bisher abgelehnt hat. Das geht bis hin zu EU-Energiecharta. Dem wird die Forderung nach Liberalisierung der Inlandspreise, also nach Aufhebung der Subventionen auf heimisches Gas und Öl für den Verbrauch im Inland auf dem Fuße folgen. Diese Entwicklung träfe die eigene Industrie, die auf billige Energie angewiesen ist; darüber hinaus würden solche Entscheidungen zu einer Explosion der bisher subventionierten kommunalen und privaten Heizkosten führen. Die wirtschaftlichen und die sozialen Probleme, die daraus in einem Land mit arktischer Kälte und kommunaler Gemeinschaftsheizung folgen, sind fundamental. Es ist schwer vorstellbar, das Russland diesen Weg ohne Schaden für seine Wirtschaft und für seine sozialen Strukturen gehen kann.
Ein Eintritt in die WTO hieße weiterhin, um nur dies noch zu nennen::
– beschleunigte Öffnung für Investitionen in Schlüsselindustrien; Rationalisierungen und Entlassungen werden die Folge sein.
– Öffnung des Marktes für Fleischimporte und andere agrarische Produkte. In Verbindung mit der Forderung nach Streichung von agrarischen Subventionen wird dies zu enormen Druck auf die Landwirtschaft führen, die den Billig-Importen nicht gewachsen sein wird.
– erneuter Anlauf der Regierung zur Kommerzialisierung von bisher immer noch unentgeltlich zur Verfügung stehenden kommunalen Leistungen sowie dem System der staatlichen Sonderzuwendungen, nachdem der letzte Versuch dieser Art im Jahr 2004 und 2005 am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist.
Kurz, wenn Russland sich den Forderungen der WTO nunmehr tatsächlich anschließen sollte, liefe das auf eine Unterwerfung seiner bisher trotz aller Modernisierungen noch halb-kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse unter das Diktat einer allgemeinen „Monetarisierung“ hinaus. Dabei entstünde das Paradoxon einer Privatisierung, welche die Bewegungsfreiheit der Menschen nicht erweitert, sondern einengt und tendenziell beseitigt, in dem es die traditionellen Strukturen der kommunalen und familiären Wirtschaft, also die einer eigenproduktiven Selbstversorgung der Bevölkerung, durch eine Fremdversorgung mit billigen Importen ablöste. Ergebnis: Lokale und regionale Wirtschaftsräume verödeten. Dass eine solche Entwicklung den allgemeinen Wohlstand der russischen Bevölkerung nicht förderte, liegt auf der Hand. Es ist sogar zu bezweifeln, ob sie den herrschenden russischen „Eliten“ den ersehnten „Platz an der Sonne“ einbrächte. Sicher dagegen ist, dass Russland auf diese Weise ins Regelwerk der herrschenden neo-liberalen Globalisierung eingebunden würde. Das mag auch den überraschenden Sinneswandel der scheidenden Bush-Administration erklären: Wenn es trotz aller Interventionen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte nicht gelang, Russland politisch klein zu halten, so besteht mit einem WTO-Beitritt des Landes doch die Möglichkeit, den gefürchteten Konkurrenten wenigstens wirtschaftlich zu disziplinieren. Zur Erreichung dieses Zieles ist man sogar zu Zugeständnissen bereit, wie man es seinerzeit bei Aufnahme Russlands in den Europarat war, wenn es nur gelingt Russland unter Kontrolle zu bringen. In diesem Bestreben dürfte auch eine Portion echter Angst vor einem wirtschaftlich und politisch autarken Russland mitspielen; mit dem Eintritt Russlands in die WTO kann der Westen sich der Hoffnung hingeben, diese Autarkie
brechen zu können. Warum Russland sich darauf einlässt, hat seinen Grund möglicherweise darin, dass die von Putin benannte Illusion vom guten Westen bei Russlands Politikern trotz aller anders lautenden Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre immer noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt worden ist.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Kai Ehlers: „Russland: Aufbruch oder Umbruch?“. Pforte/Entwürfe, 2005

Was kommt nach Putin?

„Fürchtet Russland“, titelte kürzlich die deutsche „Financial Times“. „Ein Gespenst geht um in Europa: Die Russen kommen“, verkündete die „Welt“. Von „Rachelust russischer Agenten“ sprach die „Frankfurter Rundschau“ „Leichen pflastern seinen Weg“, schrieb die „taz“. Als „terroristisches Regime“ bezeichnete Cohn Bendit die russische Regierung. Ein Chor der Warner hat sich gefunden. Sie alle verbindet eines: Die Sorge vor einer weiteren Amtszeit des amtierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin, der, so brachte es die „Financial Times“ auf den Punkt, Russland „zu einem autoritären Land … mit faschistischen Tendenzen“ gemacht habe, das nach dem Motto handle, „wofür Russlands autoritäre Regime in der Vergangenheit stets standen: Repression nach innen und Aggression nach außen.“

Solche Sorge will ernst genommen werden. Schauen wir also, wer Putin ist und wofür er steht: Wladimir Putin erschien zum Ende der Amtszeit des kränkelnden Boris Jelzin als „Mr. Nobody“ aus dem Nichts. Sein Amtsantritt ähnelte dem eines sehr viel älteren Vorgängers, nämlich dem des ersten Romanow nach der in Russland so genannten langjährigen Smuta, der verwirrten Zeit, die dem Ableben Iwan IV., des Schrecklichen im 16. Jahrhundert, genau 1584 folgte.

Smuta nennen die Russen die chaotischen Verhältnisse, die immer wieder aus dem Zerfall der russischen, d.h. letztlich der eurasischen Zentralmacht hervorgegangen sind, bevor eine neue Ordnung gefunden wurde. Eine Smuta war auch die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als der Zarismus zerfiel. Die jüngste Smuta, die zu einer politischen und sozialen Desintegration des eurasischen Raumes in bisher nicht gekanntem Maße führte, folgte auf den Zerfall der Sowjetunion 1990/91.

Der Verlauf der aktuellen Smuta erinnert in Vielem an die Zeit nach Iwan IV.: Wie der junge Romanow seinerzeit, so war auch Wladimir Putin das „Jüngelchen“, auf den die konkurrierenden „Eliten“ sich in dem Glauben einigen konnten, dass er keiner von ihnen gefährlich werden könne. Wie damals der junge Romanow so trat auch Putin ohne erkennbares Programm an, nur gepuscht und legitimiert durch den Segen von oben, in Putins Fall durch Jelzin und seine „Familie“. Der neue Mann sicherte der „Familie“ wie auch allen ihren regionalen wie lokalen Protegés zu, die Ergebnisse der Privatisierung, sprich der räuberischen Umverteilung des Volksvermögens nicht anzutasten – und hielt sich zunächst daran.
Aber ähnlich wie sich die Gönner des ersten Romanow seinerzeit getäuscht hatten, als der unbekannte 17jährige statt die Smuta weiter zuzulassen das Zarentum in neuer Stärke begründete, so erlebten auch die nach-sowjetischen „Eliten“ ihre Überraschung: Mr. Nobody erwies sich sehr bald als entschlossener Restaurator, der die von Jelzin inaugurierte Präsidialverfassung nutzte, um Schritt für Schritt die Handlungsfähigkeit des Zentrums wieder herzustellen.

Von Vielen gar nicht als Programm wahrgenommen, verkündete er per Internet seine Ziele: Wesentliche Bestandteile davon waren:
Eine autoritäre Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe eines starken Staates.
Das Anknüpfen an gewachsenen Strukturen, insbesondere der russischen Gemeinschaftstraditionen, statt der kritiklosen Übernahme westlicher Modelle.

Die Stärkung Russlands als Integrationsknoten Euroasiens
Werfen wir einen kurzen Blick zurück, was davon verwirklicht wurde, ohne uns an Details und einzelnen Unstimmigkeiten festzuhalten:
Russlands Verwaltung bekam mit den von Putin persönlich eingesetzten Gouverneurs-Kontrolleuren ein neues Rückgrat; die Privilegien der Regional- und Lokalmächte wurden soweit zurück geschnitten, dass die Gouverneure heute vom Präsidenten ernannt werden.

Die als Oligarchen bekannt gewordenen Privatisierungsgewinnler wurden zum Steuerzahlen verpflichtet. Mit der Zerschlagung des Yukos-Konzerns nahm die Regierung die wichtigsten Ressourcen Russlands wieder in staatliche Regie.
Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat einen aktiven Spielraum von rund 20 Milliarden Euro, der für Sonderausgaben zur Verfügung steht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet.

Russlands Rolle als Subjekt der Weltpolitik wurde wieder hergestellt, nachdem es unter Jelzin zum Anhängsel des westlicher Interessen geworden war. Eine empfindliche Einschränkung liegt allein in dem nach wie vor ungelösten Konflikt in Tschetschenien. Aus der wieder gewonnenen Stärke Russlands, insbesondere auf dem Energie-Sektor, erklärt sich die neuerliche anti-russische Propaganda..

Aber in einem hat Putin, neben dem Konflikt in Tschetschenien, bisher nicht erreicht, genauer gesagt, nicht getan, was er versprochen hat: in der Sozialpolitik. Mehr noch, die von seinen liberalen Beratern Gref und Co versuchte Einführung der sog. Monetarisierung des gesellschaftlichen Lebens ist als glatter Flop auf die Regierung zurückgefallen. Putin genießt zwar nach wie vor den Zuspruch von 60 – 70% der Bevölkerung, dies jedoch nicht wegen, sondern trotz der von ihm verfolgten sozialpolitischen Linie. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht in den Reformen zur sog. Monetarisierung der „Vergünstigungen“ wie auch der kommunalen und betrieblichen Formen der in der Sowjetzeit entwickelten nicht-monetären allgemeinen Grundversorgung keinen Fortschritt, sondern eine Verschlechterung ihrer Lage und fordert die Beibehaltung der bisherigen Regelungen. Ausdruck dieser Tatsache waren Demonstrationen von Rentnern, dann auch Studenten gegen das Ende 2004 beschlossene Sozial-Programm. Gegen die Monetarisierung von Wohnraum, von Gas-, Wasser-, Stromlieferungen und sonstiger in der Sowjetzeit bargeldloser öffentlicher Leistungen nahm der Protest die Form der stillen Verweigerung an, Motto: Wo kein Geld, da keine Zahlung, wo kein Kläger, da keine Klage. Die Reformen haben sich in diesen Kanälen verlaufen. Mit dem soeben beschlossenen Beitritt zur WTO will Russland jedoch einen erneuten Schritt in diese Richtung gehen. Das wird mit Sicherheit zu erheblichen neuen Unruhen führen.

Nach sechseinhalb Jahren Putin ist damit eine Lage entstanden, die man als Spagat der russischen Führung, namentlich Putins zwischen neuer aktiver Rolle in der Welt des globalisierten Kapitalismus und nicht gelöstem Übergang zum Kapitalismus im Inneren kennzeichnen kann. Putin war der Mann, der diesen Spagat halten und entwickeln konnte. Ausdruck dieser Balance ist die Polarität seiner engsten vertrauten, Innenminister Sergej Iwanow als Vertreter der „Silowikis“, also der vom Geheimdienst durchsetzten konservativen „Staatler“ auf der einen , der eher wirtschaftsliberale Dimitrij Medwedjew auf der anderen Seite. Weder Iwanow noch Medwedjew jedoch wären in der Lage, die von Putin heute gehaltene Balance fortzuführen. Beide haben als Kandidaten für die Nachfolge Putins denn auch abgewinkt. Auch andere in der Debatte um die Kandidatur eines möglichen zukünftigen Präsidenten auftauchende Namen wie der KP-Führer Szuganow, der US-orientierte ehemalige Wirtschaftsminister Michael Kasjanow repräsentieren nur Teilkräfte. Das gilt erst recht für Personen wie den Schachweltmeister Gari Kasparow, der namens der Ultra-Liberalen antreten möchte, um „Schach dem Putin“ zu bieten, ganz zu schweigen von dem unvermeidlichen ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski. Keine dieser Personen wird Putin ersetzen können: Mit dem Abtreten Putins wäre auch dessen „System“ der Balance beendet, es sei denn, es tauchte ein neues „Jüngelchen“ auf, das noch keiner kennt.
Überraschungen wie der bisher weithin unbekannte Alexander Gonskoi, Bürgermeister der nordrussischen Stadt Archangelsk, sind natürlich möglich, aber sechseinhalb Jahre putinscher Amtszeit waren nicht genug, um einen neuen Konsens v o n  u n t e n entstehen zu lassen, der die „Eliten“ Russlands, geschweige denn die Bevölkerung des Landes zuverlässig und dauerhaft auch ohne Autorität von oben verbinden könnte. Zu stark sind nach wie vor die Sonderinteressen, die von einer neuen Smuta profitieren würden. Zu stark sind andererseits die Kräfte, die genau dies mit Gewalt verhindern möchten.

Putin ist sich dieser zwiespältigen Lage offensichtlich sehr bewusst. Geradezu provokativ deutlich lehnte er daher im Spätsommer 2006 das Ansinnen aus den Reihen der Putin-treuen Partei „Einheitliches Russland“ ab, sich als „Retter der Nation“ für eine dritte Amtszeit zur Verfügung zu stellen. Er forderte stattdessen demonstrativ, der Entwicklung einer Opposition eine Tribüne zu geben. Mit der Bildung einer neuen Partei „Gerechtes Russland“, die der bisherigen Partei der Macht, wie „Einheitliches Russland“ kurz genant wird, Konkurrenz machen, im übrigen aber den von Putin eingeschlagenen Kurs unterstützen und auch in Zukunft verfolgen will, auch wenn Putin nicht mehr Präsident sein sollte, wurde jetzt ein Schritt in diese Richtung versucht. Ziel ist ein präsidial geführtes Zweiparteiensystem nach US-Vorbild. Ob dies gelingen kann, ist höchst fragwürdig. Der Westen täte daher besser daran, Putins Bemühungen um einen „Wunschnachfolger“ zu unterstützen, wenn ihm tatsächlich an einer weiteren Demokratisierung Russlands gelegen wäre, statt ihn als „Faschist“, „Diktator“ etc. und durch Aufbau einer inneren „Front“, die zu den „Errungenschaften“ Jelzins zurückkehren will, demontieren zu wollen. Eine solche Demontage Putins kann nur eine neue Smuta fördern oder deren gewaltsame Beendigung provozieren.

Kai Ehlers

Siehe zu diesem Thema:
Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch? Russland zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte/Entwürfe, 2005

Russland: Die Stockmann-Felder – Eskalation des Wahnsinns?

Das Problem der Stockmann- Felder, enthält drei sehr unterschiedliche Aspekte: Eine neue Runde in der Klima-Krise, eine neue Konstellation im „Great Game“ und schließlich eine weitere Stufe auf dem Weg in eine Neuauflage des kalten Krieges mit zeitgenössischen Mitteln. Zusammen bilden die drei Aspekte ein gefährliches Gemisch.
Die Rede ist von Gasfeldern vor Norwegen in der Barentssee, vor allem von den sog. Stockmann-Feldern. Sie allein sollen mindestens 3,4, nach neuesten Meldungen 4 und mehr Trillionen Kubikmeter Gas enthalten. Der Geologische Dienst der USA schätzt sie auf ein Viertel der noch unentdeckten Energiereserven der Welt. Die Vorkommen würden ausreichen, den Bedarf Deutschlands über dreißig Jahre zu decken, den der Welt ein Jahr lang. Die Felder werden seit etwa zehn Jahren erforscht, 2004 fasste Russland den Beschluss zu ihrer Erschließung; ab 2007 soll das erste Gas versuchsweise nach Europa strömen. Diese Entscheidung gab Gazprom im Oktober 2006 bekannt, nachdem bis dahin die USA als Hauptkunde des Projektes galt.
Der Reihe nach: Seit Jahren beunruhigen Klimaveränderungen die Welt. Augenfälligste Zeugin für den Klimawandel ist die Abschmelzung der Pole um jährlich zwei bis drei Prozent. Lediglich „peak oil“, die absehbare Grenze, an welcher der Bedarf an fossilen Brennstoffen die Vorkommen übersteigen wird, gab Umweltschützern bisher eine gewisse Hoffnung auf einen Umschwung in der Energiepolitik. Ausgerechnet von der Abschmelzung der Pole soll nun der Ausweg nahen! Das zurückweichende Eise, so hört man es aus Kreisen der Befürworter des Stockmann-Projektes, mache jetzt die Nutzung der bisher unter dem ewigen Eis verdeckten Gasvorkommen möglich, die vorher nur mit nicht bezahlbarem technischen Aufwand durchführbar gewesen sei. Mit den Stockmann-Feldern erhalte die Welt noch einmal einen Aufschub.
Dieser Argumentation muss man nichts hinzufügen, um sie als wahnhaft zu erkennen: die Krise der Energieversorgung wird nur verschoben, die Abschmelzung der Pole erhält einen weiteren Schub, das Nord-Meer wird in ein ökologischen Risikogebiet verwandelt. Dies alles spielt für die Betreiber des Mammutprojektes keine erkennbare Rolle.
Die Betreiber, das waren bis Ende Oktober 2006 der russische Gigant Gasprom, die norwegischen Unternehmen Statoil und Norsk, der französische Total-Konzern und die US-Konzerne Chevron und ConocoPhilips, seit Ende Oktober nur noch Gazprom. Damit sind wir beim zweiten Aspekt des Problems, der Aktualisierung des „Great Game“: Im April 2006 verkündete das damalige Projekt-Konsortium seine Absicht, im Laufe des Jahres die Gründung einer Betreibergesellschaft bekannt geben zu wollen. Noch bis zum Spätsommer des Jahres 2006 bestand die Option darin, eine internationale Betreibergesellschaft für die Ausbeutung des Feldes gründen zu wollen. Gazprom, das für sich 51% der Anteile der zukünftigen Gesellschaft beanspruchte suchte Teilhaber für die restlichen 49%. Die genannten Konzerne gehörten zum engsten Kreis der Bewerber; als Hauptabnehmer waren die USA im Gespräch. Geplant war, das Gas nicht über Pipelines, sondern über die Perfektionierung der neu entwickelten Technik der Gasverflüssigung per Schiff in die USA zu transportieren. Eine erste Versuchsanlage zur Gasverflüssigung, betrieben von der norwegischen Gesellschaft Statoil und der deutschen Firma Linde AG, sollte 2007 bei der nördlichsten Stadt Hammerfest ihren Probelauf aufnehmen.
Am 9.10.2006 verkündete Gazprom-Chef Alex Miller überraschend, der Konzern werde Ausbau und Ausbeutung ohne ausländische Hilfe in Angriff nehmen. Vorangegangen waren Auseinandersetzungen auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg, dem sog. Energiegipfel im Frühjahr des Jahres, auf dem Putins Angebot, Russland zum Garanten einer globalen Energiesicherheit machen zu wollen mit den Forderungen der West-Mächte nach weiterer Liberalisierung der Ölmärkte zusammenprallte. Man ging mit schönen Worten über gemeinsame Verantwortung, jedoch ohne Ergebnis in der Sache auseinander. Vorangegangen waren auch Erklärungen von Gazprom, dass man die technischen Schwierigkeiten der Gewinnung des Gases aus den arktischen Feldern überschätzt habe. Es sei nicht nötig, das Gas zu verflüssigen, es könne auch über die geplante Ost-See-Pipeline befördert werden. Im Übrigen, so weiter Gazproms Begründungen, habe keiner der potentiellen Teilnehmer ausreichend hohe Angebote für die mögliche Teilhabe gemacht. Unter diesen Umständen sei es für Gazprom günstiger die Finanzierung des Projektes selbst aufzubringen und mit anderen Gesellschaften gegebenenfalls in Teilfragen zu kooperieren.
Schon beim Dreiertreffen mit Jaque Chirac und Angelika Merkel in Paris hatte Wladimir Putin überraschend angekündigt, dass Russland nicht die USA, sondern Europa als zukünftigen Kunden der Stockmann-Gase sehe. Beim Treffen mit Kanzlerin Merkel während der Dresdener „Deutsch-russischen Dialoges“ einen Tag nach Millers Erklärung trat Putin an die deutsche Kanzlerin mit dem Angebot heran, Deutschland zum europäischen Verteiler für die Stockmann-Gase zu machen, indem das Gas aus der Arktis über die geplante Ostsee-Pipeline nach Greifswald geleitet werde.
Politische Beobachter aus Norwegen merkten in der Webzeitung russland.ru richtig an, Gazprom gehe es bei dieser Rochade keineswegs nur um Geld, damit sei Gazprom als drittgrößter Energiekonzern der Welt ausreichend versorgt, sondern in erster Linie darum, einen Handel „Ware gegen Marktzugang und technisches Know how“ zu realisieren. Deutschland verfüge durch seine geographische Lage und seine Position innerhalb der EU über optimale Möglichkeiten, als Verteiler der russischen Gase zu fungieren. Ein Pakt zwischen Deutschland und Russland zur Lieferung der Stockmann-Gase und evtl. weiterer Funde schaffe eine attraktive win-win-Situation, der beide Seiten in eine stabile langfristige Partnerschaft gegenseitiger Verpflichtungen einbinde. Auch Norwegen habe Chancen, in das Projekt einbezogen zu werden, denn es verfüge über langjährige technische Kenntnisse, die für die weitere Erschließung und Förderung der der Vorkommen wichtig seien. Mit einer solchen Entwicklung, so Putin , sei die „Zukunft der Wirtschaft Europas auf Dauer absolut gesichert.“ Das Gleiche erhofft sich Gazprom, versteht sich, das in diesem Zukunftsbild nicht nur Ressourcen lieferte, sondern über seine deutschen Partner Wintershall und EON auch am Verkauf des Gases mitverdienen könnte.
Mit dieser Wendung der Dinge war nicht nur die potentiell internationale Betreibergesellschaft geplatzt; es hatte sich auch ein folgenschwerer Wechsel in der Priorität der russischen Energiepolitik vollzogen: Europäische Union, vertreten durch Deutschland, anstelle der USA. Mehr noch, die USA aus dem Stockmann-Deal zu kicken, so die bereits genannten Norwegischen Beobachter, sei wohl als eigentlicher Zweck der Gazprom-Rochade anzusehen. Stimmt, denn inzwischen wurde die Entscheidung dahin gehend relativiert, dass der Konzern wegen des Umfanges des Projektes selbstverständlich an Kooperationspartnern interessiert sei. Die Option einer Teilhaberschaft ausländischer Konzerne, insbesondere der US-amerikanischen, ist jedoch vorerst vom Tisch.
Dass die USA von dieser Wendung der Dinge nicht begeistert sind, liegt auf der Hand. Damit sind wir beim dritten Aspekt des Stockmann-Deals, den Ursachen für die seit Mitte Oktober 2006 durch die westlichen Medien geisternden Anti-Putin-Kampagne.
Um besser zu verstehen zu können, worum es geht, muss man sich vielleicht noch einmal an den Grundton erinnern, den der US-Stratege Zbigniew Brzezinski nach Beendigung des Kalten Krieges gegenüber Russland vorgab: Ausgehend vom Ende der Sowjetunion entwarf er in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den Euroasiatischen Kontinent und seine Ressourcen als Hauptaufgabe der USA. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine Grundthese. Daher müsse die US-Politik alles unternehmen, was ein erneutes Erstarken Russlands als Rivale in Eurasien verhindere.
Auf dieser Linie betrieben die USA, sekundiert durch eine halbherzige Politik der Europäischen Union ihre Minimierung und Einkreisung Russlands. Sie kauften sich in den russischen Energiemarkt ein, sie bauten neue Pipelines, sie trieben die NATO- und EU-Erweiterung voran und versuchten so, Russland von seinem früheren Monopol auf die eurasischen Öl- und Gas-Ressourcen zu trennen.
Mit der Verhaftung Chodorkowskis, der Zerschlagung des Yukos-Konzerns und der damit verbundenen Rückführung russischer Energiepolitik unter staatliche Kontrolle war diese Politik gescheitert. In dieser Situation legte Brzezinski nach. In der „Wallstreet“ vom 20. September 2004 veröffentlichte er einen Artikel über Wladimir Putin unter dem Titel „Moskaus Mussolini“, in dem er erklärte, Putin sei in Russland dabei, einen faschistischen Staat zu schaffen. Als Kritik am angeblich drohenden „Energiefaschismus“ Russlands fand dieser Tenor ein schrilles Echo in der Berichterstattung der deutschen Medien zu Chodorkowski, zum neuen NGO-Gesetz in Russland und anlässlich des russisch-ukrainischen Gasstreits.
Der Strategiewechsel Russlands in Sachen Stockmann-Feld von USA auf Europa hat eine neuerliche Auflage dieser Kampagne provoziert. „Angst vor Russland“ heißt es jetzt. Aus US-Sicht ist dieser Tenor konsequent. Die Stockmann-Felder geben Russland – im Verein mit den Europäern – einen weiteren Trumpf in die Hand, der die USA ins Abseits einer Abhängigkeit von, statt zu der erwünschten Vorherrschaft über Eurasien bringen könnte. Angesichts des Scheiterns ihrer IRAK-Politik verbietet sich für die USA jedoch jede offene Konfrontation mit Russland; da bleibt nur der Versuch, Putin politisch zu diskreditieren, zu isolieren und nach Möglichkeit innenpolitisch zu demontieren, um Russland auf diese Weise zu schwächen. Die bevorstehenden Wahlen zur Duma und zur Präsidentschaft in Russland geben dazu Gelegenheit.
Verblüffend dagegen ist der Auftritt der deutschen Politiker und Medien, die ebenso zum Medienangriff auf Putin blasen, obwohl er ihnen mit dem Stockmann-Projekt soeben das Geschenk des Jahrhunderts gemacht hat. Das kann nur noch als Übersprungshandlung verstanden werden, mit der man sich von dem Verdacht der Kumpanei reinwaschen möchte, denn sachlich hört und liest man keine Kritik an Putins Geschenk, weder am Ausbooten der USA noch an den ökologischen Konsequenzen des Projektes. Vielleicht möchte man auch Eigenständigkeit beweisen und sich gegen zu enge Umarmung durch Russland verwahren. Wie auch immer, die gegenwärtige Puten-Schelte ist wohl die verlogenste Kampagne, welcher sich europäischen, insbesondere die deutschen Medien sich seit Langem hingegeben haben.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe auch:
„Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung“, Pforte/Entwürfe

Russland – Europa: Osterweiterung der unerwarteten Art

Bemerkenswerte Dinge spielen sich zwischen Russland und der EU ab, ohne dass die Öffentlichkeit beider Länder, ausgelastet mit verständlichen, aber vordergründigen Kritiken an Wladimir Putin und abgelenkt durch das Riesenprojekt der Ost-See-Pipeline es richtig realisiert: Mitte Oktober wurde von der russischen Regierung in aller Stille ein Gesetz zur Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in Hafen.- und Flughafenbereichen Russlands beschlossen. Danach sollen für einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren sog. „Hafen-Zonen“ auf dem Gelände von Fracht- und Flughäfen des internationalen Verkehrs eingerichtet werden. Auf ihnen sollen dort angesiedelte Firmen von Einfuhrzöllen und Mehrwertsteuer für Baumaterialien, technische Ausrüstungen, sowie Anlagen für die Reparatur und die Ausrüstung von Schiffen befreit werden. Von Steuern befreit werden sollen ebenfalls Be- und Entladearbeiten, sowie die Lagerung von Waren, auch Mineralölsteuer muss nicht entrichtet werden. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ansiedelung wird den Investoren darüber hinaus eine Befreiung der Grund- und der Eigentumsteuer in Aussicht gestellt.
Das Gesetz war bereits seit Februar 2006 in der Diskussion, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen der „Föderalen Agentur für Sonderwirtschaftszonen“ und dem Finanzministerium, die beide an seinem Zustandekommen beteiligt waren, nicht verabschiedet werden. Jetzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Danach werden die für die Sonderwirtschaftszone in Frage kommenden Unternehmen in zwei Gruppen unterteilt. Das sind zum einen solche, die sich am Aufbau der notwendigen Infrastruktur der „Hafen-Zonen“ beteiligen müssen und zum anderen Dienstsleister, die auf den so hergerichteten Geländen tätig werden wollen. Mindestens 100 Mio Euro müssen beim den Bau neuer Häfen, mindestens 50 Mio beim Bau neuer Flughäfen hingelegt werden, um in den Genus der Vergünstigungen zu kommen. Für die Aufbereitung der Infrastruktur bereits bestehender Häfen müssen 3 Mio Euro als Minimum faktisch eingesetzt werden. Für Unternehmen der Dienstleistung dagegen reicht es Bankgarantien in Höhe von 7.000 – 900.000 Euro nachzuweisen, um sich in den Sonderwirtschaftszonen ansiedeln zu können.
Russische Experten äußern sich befriedigt. Die Kosten für Neuanlagen seien problemlos aus dem laufenden Betrieb der bestehenden Häfen, bzw. Flughäfen aufzubringen. Das schließt selbstverständlich bestehende staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen an die Hafen- und Flugbetriebe ein. Die ganze Aktion macht den harmlosen Anschein einer einfachen innerrussischen Modernisierung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten sechs Jahre seit dem Amtsantritt Wladimir Putins genauer, dann wird allerdings deutlich, dass der aktuelle Beschluss nur einer der letzten Hammerschläge zu einem seit lange gezimmerten Gebäude einer schrittweisen Erweiterung der EU von ganz neuer Art ist, die über die Ost-Erweiterung in Tempo und Qualität weit hinausgeht und zu weiterer Kapitalflucht aus Europa und Senkung des Lebensniveaus, sprich Arbeitsplatzeinbußen, Lohn- und Sozialabbau führen wird.
Es begann mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftsbedingungen in den Ländern des ehemaligen Comecon, die ihre Steuersätze nach ihrer Lostrennung von der Sowjetunion drastisch, auf 24 (Tschechien), 20 (Ungarn), 19 (Slowakei, Polen) reduzierten. Die baltischen Staaten boten noch bessere Bedingungen für Investoren. In Lettland wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollkommen von Steuern befreit.
Russland zog erst sehr zögernd nach. 1996 wurde ein Ausnahmegesetz zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für die Region Kaliningrad beschlossen. In den letzten Jahren der Jelzin-Ära und noch bis zur Ost-Erweiterung der EU wurden die in dem Gesetz gewährten Privilegien jedoch mit widersprüchlichen Nachbesserungen faktisch immer wieder außer Kraft gesetzt. Erst der Vollzug der Ost-Erweiterung, der die Kaliningrad zu Enklave der EU machte, veranlasste die russische Regierung zu einem Kurswechsel. In dessen Gefolge rückte die Enklave zum Muster für ein gesamtrussisches Entwicklungskonzept auf. Im Juli 2005 lag der Duma ein „Gesetz über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad und über die Änderungen in einigen Gesetzen der russischen Förderation“ vor, am 23. Dezember 2005 wurde es verabschiedet, wenige Tage später von Wladimir Putin gebilligt.
Noch nicht verabschiedet, hatte das Gesetzesvorhaben, wie es die deutsche „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) ausdrückte, bereits „einen wahren Boom von Ideen und Initiativen zahlreicher russischer Regionalverwaltungen und interessierter Investoren ausgelöst“. Anfang Oktober lagen der Regierung bereits 43 Anträge von Regionen für die Gründung solcher Zonen vor. Die erste Gründungswelle von Sonderzonen schwappte um Dezember 2005 / 2006 durch das Land. Nach der Versuchsphase vom Jahreswechsel 2005/2006 soll eine zweite Gründungswelle 2006/2007 folgen. Dabei wird die Zentralregierung einen beträchtlichen Anteil der Anfangsinvestitionen für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur in den Zogen tragen. Im Haushalt 2005 waren dafür 8 Milliarden Rubel (235 Mio Euro) vorgesehen, 2 Milliarden Rubel sollten aus den beteiligten Regionen oder Kommunen kommen. Effektiv lief es dann auf eine Beteiligung von jeweils 8 Milliarden für die Zentralregierung sowie für die Regionen hinaus.
„Nach Berechnungen der Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel“, heißt es in einem bfai-Bericht von 2005 dazu, „können Unternehmen, die sich in einer Industriesonderzone ansiedeln, ihre Aufgaben für die Überwindung administrativer Hürden um 5 – 7% senken, und Unternehmen, die sich in einem Technologiepark ansiedeln, um 3 bis 5%. Des weiteren dürften die Ausgaben für Infrastruktur um 8 bis 12% und die Ausgaben für Produktionszwecke um 5 bis 7 % fallen.“ Dazu kommen Steuer- und Zollvergünstigungen und sonstige Voraussetzungen für Investoren in der Art, wie sie vor wenigen Wochen auch für die „Hafen-Zonen“ beschlossen wurden.
Beteiligt an dem Run auf die Einrichtung von Zonen der besonderen Bewirtschaftung waren zunächst russische Gemeinden, sehr bald aber auch ausländische Investoren, die sich über die Regionen und Kommunen in die Gründungsanträge für die Zonen mit einschalten. So plant die Stadt St. Petersburg zusammen mit finnischem Kapital der Firma „Technopolis“ eine „Technologie-Sonderwirtschaftszone“. Die Stadt Moskau hat gleich fünf Anträge gestellt. In allen Fällen sollen – zusätzlich zu den steuerlichen, den Zoll betreffenden und anderen Vergünstigungen die Entschließungs- und Infrastrukturkosten für die Einrichtung der Zonen von der „öffentlichen Hand“ getragen werden. Ein Eldorado für ausländisches Kapital!
Ende 2005 waren als Ergebnis der ersten Ausschreibung 2005/2006 sechs Sonderzonen vorgesehen. In Tatarstan werden im Gebiet Lipezk elektrotechnische Haushaltsgeräte und Möbel zusammen mit dem italienischen Unternehmen Idesit hergestellt. Vier „Technoparks“ werden in Zelonograd (Moskau) Dubna (Moskau), St. Petersburg und Tomsk gegründet. In Zelonograd ist die Firma Giesecke&Devrient beteiligt, in St. Petersburg handelt es sich, in der Formulierung des bfai, um ein „Projekt mit Beteiligung finnischer Developer“.
Man darf davon ausgehen, dass im Jahr 2006/2007 weitere Zonen zu den bisher sechs beschlossenen hinzukommen werden. Ganz in vorderster Front steht Nowosibirsk mit einem schon lange geplanten „Technopark“ direkt in seiner „Akadem-Gorod“, dem Universitären Forschungszentrum Sibiriens, aber auch der Oblast Kaluga mit der Stadt Obninsk, einem Zentrum der russischen Atomforschung steht in der Reihe, ebenso die Republik Sacha (Jakutien), in der eine „Industriezone für die Produktion von Brillianten und Juweliererzeugnissen“ Das kürzlich beschlossene Gesetz zur Einrichtung von „Hafen-Zonen“ wird die Einrichtung einer weiteren Reihe von Sonderzonen nach sich ziehen.
Befürworter preisen die Einrichtung von Sonderzonen als beste Form der Entwicklungshilfe, die Investoren ins Land ziehe, die Infrastruktur des Landes entwickle, Arbeitsplätze schaffe usw. usf. Gern wird dafür auf die Entwicklung der osteuropäischen Länder verwiesen, sich die jedes für sich als komplette Sonderwirtschaftszone betrachtet werden können, in einigen Fällen noch durch örtliche Super-Sonderkonditionen gesteigert. Ihr Aufstieg wird mit den „asiatischen Tigern“ verglichen. Tatsache ist, dass die Einnahme-Ausfälle, die diesen Ländern durch die steuerlichen Sondertarife und andere Vergünstigungen an die – zumeist ausländischen – Investoren entstehen, zu schweren Belastungen der Haushalte führen. Konsequenz ist eine harte Sparpolitik, die der Bevölkerung aufgelastet wird: niedrige Löhne, Streichung kommunaler und sozialer Leistungen. Die Löcher im Haushalt, die durch zu niedrige Steuereinnahmen entstehen, bergen zudem die Gefahr von Wirtschaftskrisen. Schon vor der Ost-Erweiterung der EU erreichte das Haushaltsdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünfmal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam der Forint unter Druck. Das Außenhandelsdefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland lag es bei 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Entgegen allen Verlautbarungen aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen hat sich die beschriebene Entwicklung mit Eintritt der ost-europäischen Länder in die EU nicht verbessert, sondern im Tempo verschärft, was im Endeffekt bedeutet, dass sich die soziale Differenzierung in diesen Ländern verschärft. Mit der neuen Entwicklung in Russland tritt eine neue Komponente hinzu, die diesem Prozess noch einmal eine weitere Dynamik hinzufügt, denn durch die hohe Kapitaldecke, die Russland zur Zeit aus dem Export seiner fossilen Ressourcen bezieht, ist die russische Regierung in der Lage, die Einrichtung der Sonderzonen finanziell abzudecken, ohne dafür das Budget aushöhlen zu müssen. Im Gegenteil, die hohe Beteiligung an den Infrastrukturkosten gibt der Staatskasse die Möglichkeit, sich von überflüssigen Geldern durch Investition zu befreien und in ihren Sonderzonen Bedingungen anzubieten, bei denen die osteuropäischen Länder nicht mithalten können, ohne dabei die Knie zu gehen. Das ist eine Ost-Erweiterung der unerwarteten Art, die schwere Konflikte innerhalb der EU nach sich ziehen könnte. Was dabei mit Russland geschieht, ist eine zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Eins der letzten Bücher des Autors trägt den Titel:
„Russland – Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte,/Entwürfe, 2005, 8,– €

Angst vor Russland?

Putins Russland ist wieder in der Schlagzeilen. Die Ermordung Anna Politkowskajas brachte neben berechtigter Empörung und notwendiger Kritik schrille anti-russische Töne hervor. Mit Anna Politkowskaja sei „das andere, das moralische Russland endgültig gestorben“ schrieb Helge Donath beispielsweise in der taz. Statt Vertrauen in russische Stabilität herrsche zunehmend Angst der Wirtschaft vor einem Russland, das den Energiehahn zudrehe, wenn es kritsiert werde. Die „Frankfurter Rundschau“ erschien mit einem Bild, das den russischen Präsidenten in einer höchst unvorteilhaften Pose mit vorgeschobenem Kinn, bulligem Gesichtsausdruck und halbgeschlossener Faust zeigt. Schaut her, der Aggressor’, ist die Botschaft dieses Fotos. Bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden wurde Putin mit „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen. Ebenso in München. Was spielt sich ab, woher dieser neuerliche Schub an Russophobie?

Eine Erklärung findet man möglicherweise in der Art, wie Wladimir Putin bei seinem jetzigen Deutschlandbesuch in Dresden und München die „Furcht der Deutschen vor seinem Land …,dass im Westen immer häufiger als starker Investor auftritt,“ ( „Süddeutschen Zeitung“, 11.10) zu zerstreuen versuchte und in den Vorschlägen, die er dazu in Dresden machte: Er bot der Bundeskanzlerin Merkel – nach pflichtschuldigem Austausch offener Kritiken in der „Menschenrechtsfrage“, in dessen Verlauf beide den Mord an Frau Politkowskaja verurteilten – eine engere Zusammenarbeit in Energiefragen an. Er stellte Deutschland in Aussicht, als „Hauptkonsument“ und größter Verbraucher russischen Gases „zu einem großen europäischen Verteilerzentrum des russischen Gases“ zu werden – vorausgesetzt, die geplante Ostseepipeline werde zügig verwirklicht.

In dem Falle plane Russland auch das sog. Stockmann-Feld in der Barentsee zu erschließen und dessen Vorkommen anders als in der bisherigen Planung vorgesehen, nicht in die USA zu schaffen, sondern nach Europa, das heißt über Deutschland umzuleiten. Vorstellbar seien in diesem Falle, so Putin, zusätzliche Erdgaslieferungen nach Deutschland von jährlich 50 bis 55 Milliarden Kubikmeter Gas. Das werde das „energetische Gesicht Deutschlands“ verändern wie auch seine Position in europäischen Energieangelegenheiten in Europa stärken.

Frau Merkel, soeben gebeutelt durch den deutschen Energiedialog, zeigte sich erfreut. „Ich gehe für die deutsche Seite ganz fest davon aus, das dieses Projekt verwirklicht wird“, erklärte sie und ergänzte, nicht ohne Grund, das Projekt sei gegen niemanden gerichtet. Grund hat sie, denn es gab und gibt reichlich Unruhe über die neue Rolle Deutschlands in Europa, die sich hiermit abzeichnet und die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Auch England, das von einem eigenen Zugang zum russischen Gas träumte, sah sich düpiert.

Die Ostseepipeline, daran sei erinnert, wurde im Dezember 2005 offiziell in Angriff genommen. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ ist Gerhard Schröder, Generaldirektor Matthias Warnig von der Dresdner Bank. Die Pipeline soll über 1200 km vom russischen Wyborg bis zum deutschen Greifswald verlegt werden. Von Greifswald aus kann das Gas nach Süden und nach Westen quer durch Europa und bis nach Großbritannien transportiert werden. Zunächst ist der Ausbau eines Stranges geplant. Er soll ab 2010 rund 27,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas transportieren. Ein zweiter Strang mit gleicher Kapazität soll später folgen. Der Bau soll 2008 beginnen.

Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet, fürchten auch unabsehbare ökologischen Folgen. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten. So wie jetzt Merkel, hatte seinerzeit Schröder auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“

Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten um das russische Gas wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.

Ein weiterer Aspekt dieses Vorgangs kann erhebliche Auswirkungen haben: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres 2005 sollte ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50. Inzwischen treten Russen immer massiver als potente Investoren an den unerwartetsten Stellen Europas auf wie beispielsweise Gazprom als Sponsor von „Schalke 04“.

Bei all dem wird nun allmählich der unter Wasser liegende Teil des Eisberges erkennbar, von dem offiziell nicht die Rede ist, der aber in den letzten Jahren, speziell seit dem Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine im letzten Jahr, eine immer größere Rolle spielt: Die Europäer beargwöhnen die Russen, sich zu einer auf ihre Energie-Ressourcen gestützten neuen Hegemonialmacht aufbauen zu wollen und sind bereit, das mit allen Mitteln der politischen Intervention zu verhindern; gleichzeitig versuchen sie Russland mit langfristigen Verträgen so an sich zu binden, daß die eigene europäische Abhängigkeit von russischem Gas durch die Abhängigkeit Russlands von seinen Lieferungen an Europa in der Waage gehalten wird. Aus dieser Doppelstrategie heraus bewegt sich Deutschland zwischen den Polen einer besonderen deutsch-russischen Energiepartnerschaft und dem US-amerikanischen Bemühen, Russland als Energie-Diktatur, gar potentiellen Energie-Faschismus international zu isolieren und von seinen früheren Energie-Monopolen zu trennen. Dabei ist die Angst, Russland könnte sich durch Verbindungen nach China, Japan, Indien und anderen Teilen Asiens von Europa unabhängig halten, ein stärker werdendes Motiv.

Deutlichster Ausdruck dieser doppelten Realität war der G8-Gipfel, der im Mai in St. Petersburg erstmals unter russischer Präsidentschaft stattfand. Russland hatte im Vorfeld angekündigt, sich als Garant einer globalen Energieordnung ins Spiel bringen zu wollen. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland hatten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vorgebracht und ihrerseits angekündigt, Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So galt das G8-Treffen allgemein als Energie-summit, von dem globale Entscheidungen, zumindest aber schwere Unstimmigkeiten und Konfrontationen erwartet wurden. Im Ergebnis allerdings verabschiedete der Gipfel einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben scheinen: Einerseits werden „offene und transparente Märkte“, werden „faire Investitionsbedingungen“, einschließlich „effektiven Rechtsschutzes“ vereinbart, andererseits verpflichten sich die G 8 zu den Zielen der „Energieeinsparuung, der Energieeffizien, der erneuerbaren Energien, des umweltschonenden Einsatzes von Energien.“

Zur Krönung heißt es dann auch noch: „Dem Zugang von umweltfreundlichen, erschwinglichen und verlässlichen Energiedienstleistungen als zentralem Aspekt der Armutsbekämpfung wird eine wichtige Bedeutung beigemessen.“ Angesichts solcher Verlautbarungen könnte man schon fast in ein dankbares utopisches Schwärmen verfallen, wenn man nicht wüsste, dass zugleich alle Mittel in Bewegung gesetzt werden, um Russland im Süden von seinen früheren Monopolen zu trennen, Iran von Russland und Russland von China. Hier ist wohl richtig, daran zu erinnern, dass die ermordete Anna Politkowskaja auch den Krieg in Tschetschenien als Kampf ums Öl charakterisierte. Die Janusköpfigkeit dieser Politik spiegelt sich in einer krassen Gesichtslosigkeit der herrschenden deutschen Ost-Politik wieder, die Russland kritiklos umwirbt und zugleich mit politischen Interventionismus zu „Menschenrechtsfragen“ traktiert. Die grellen Töne, mit denen auf den Mord an Anna Politkowskaja reagiert wird, sind, soweit sie über die Mordtat hinausgehen, ein Reflex dieser doppelbödigen Politik.

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Russland ohne Moral?

Gewaltig widerhallte das Echo der vier Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja, eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einer Woche in Moskau im Treppenhaus gleich neben ihrer Wohnung niedergestreckt wurde. Putin erklärte, wenn auch erst zwei Tage später und in einer Weise, in welche er die Bedeutung der Ermordeten herunter zu spielen versuchte, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um diese „Gräueltat“ aufklären zu lassen, denn der Mord schade Russland mehr als die Kritik, welche die Ermordete zuvor an der Regierung des Landes geübt habe. Ihre Veröffentlichungen seien ja nur in einem kleinen Kreis der Menschenrechtler bekannt geworden. Ungeachtet dieser Erklärung wurde Putin bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit wütendem „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen und in deutschen Medien las man Sätze wie: mit Politkowskaja sei auch „das moralische Russland endgültig gestorben“, Angst vor Russland breite sich aus usw.

Was entlädt sich hier? Wofür steht der brutale Mord, wofür die wütende Kritik? Eine Antwort darauf zu finden ist schwer.
Frau Politowskaja hatte so viele Feinde, dass sie nicht an einer Hand abzuzählen sind: Die russische Soldateska in Tschetschenien, die pro-russischen Banden des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow, von Moskau eingesetzter Ministerpräsident Tschetscheniens, die Entführer und Menschenhändler des illegalen Untergrundes in Tschetschenien, der russische Geheimdienst FSB, die kriminellen und menschenverachtenden Zustände in der Armee, die großen und die kleine Korruptionäre auf allen Ebenen der Politik, die russischen Nazis, die Angehörigen der sog. Sicherheitsdienste, die für die Massaker von Beslan 2004 und zwei Jahre zuvor im Theater Dubrowka verantwortlich waren. Russische Kommentatoren halten es sogar für möglich, dass politische Gegner Putins hinter dem Mord stehen könnten, die Putin selbst und seine Politik angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen in Misskredit bringen wollten.

Absurd, möchte man meinen, aber vollkommen abwegig sind selbst solche Spekulationen nicht: Das politische Klima in Russland ist aufgeheizt. Sechs Jahre autoritärer Modernisierung unter Putins Führung haben erkennbare Spuren hinterlassen: Einen übermächtigen Präsidenten, um ihn herum Korruption und konkurrierende Seilschaften, in der Bevölkerung extreme soziale Differenzierung, aufkeimenden Nationalismus und Rassismus und über all dem den verlogenen Frieden in Tschetschenien, der nach wie vor ein Krieg ist und das gesellschaftliche Klima Russlands vergiftet. Die Schüsse können daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen. Das ist fürwahr kein gutes Zeugnis für die Politik Wladimir Putins und die Geister, die er rief. Insoweit gibt es Grund genug für harte Kritik.

Was aber veranlasst deutsche Demonstranten zu „Mörder-Mörder“-Rufen gegenüber einem russischen Staatschef, bevor auch nur ansatzweise klar ist, aus welcher Richtung die Schüsse kamen und was treibt Kommentatoren deutscher Medien dazu, jetzt das Ende des „moralischen Russland“ zu beschwören? Ist es pure Empörung, die sich einfach Luft machen muss, zumal Putin erst zwei Tage nach dem Mord reagierte? Dann sollte man ähnliche Auftritte auch angesichts der Ermordung zweier deutscher Journalisten in Afghanistan erwarten, die fast zur gleichen Zeit um ihr Leben kamen. Die Beteuerung der afghanischen Regierung, die Tat habe keine politischen Hintergründe, ist nicht glaubhafter oder weniger glaubhaft als die Erklärung Putins, dass er den Mord an Frau Politkowskaja verurteile. Oder ist es Sorge um die Freiheit der Presse, die die Kritiker antreibt? Die ist zweifellos berechtigt, denn Frau Politkowskaja war nicht die erste Journalistin, die in Russland umgebracht wurde. In diesem Zusammenhang wäre allerdings mit dem Finger nicht nur auf Russland zu weisen. Vielleicht resultiert die Kritik aber auch aus enttäuschter Liebe, die nach dem Aufbruch unter Gorbatschow anderes von Russland erwartet hat und sich nun überflutet sieht vom Zynismus der neuen russischen Macht? Das wäre verständlich, aber dem wäre entgegen zu halten, dass mindestens 5000 Moskauer und Moskauerinnen am Begräbnis der Ermordeten teilnahmen. Das Ende der Moral scheint zumindest in Moskau also doch noch nicht erreicht zu sein. Darüber hinaus ist Moskau nicht Russland, die putinsche Alleinherrschaft ist keine Diktatur und die Herrschenden sind nicht das Volk.

Und was den Zynismus der neuen Macht angeht, so ist es zwar richtig und notwendig, den Finger auf diese Wunde zu legen, allerdings wäre da genauer hinzuschauen und wahrheitsgemäßer zu berichten, worum es eigentlich geht. Dies wäre die beste Ehre, die man der ermordeten Kritikerin erweisen könnte. Täte man dies, dann würde sehr schnell erkennbar, von welcher „Angst“ tatsächlich geredet werden muss, nämlich der Angst der deutschen Wirtschaft vor einem „Energie-Diktat“ eines starken Russland. Diese Angst bemühte sich Wladimir Putin in Dresden mit dem Angebot zu beruhigen, Deutschland könne zum „Verteilerzentrum für russisches Gas in Europa“ werden, wenn die geplante Gaspipeline durch die Ostsee zügig gebaut werde. Frau Merkel zeigte sich beruhigt und pflichtete ihm bei. Damit war man nach den unvermeidlichen Anmerkungen zur „Menschenrechtsfrage“ auf die Tagesordnung zurückgekommen. Eher hier endet die Moral als in Russland, scheint mir, und das keineswegs nur auf der russischen Seite, sondern ebenso auf der deutschen.

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Mord an Anna Politkowskaja: Ende des moralischen Russland?

Die Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja vor wenigen Wochen am helllichten Tages vor ihrer Moskauer Wohnungstür niedergestreckt wurde, erschütterten die internationale Öffentlichkeit. Der Mord provoziert alle, denen die Freiheit des Wortes über Profit- und Machtkungeleien geht.

Anna Politkowskaja war eine von denen, die sich nicht vor den Mächtigen beugte, die sich auch nicht auf Kommentare beschränkte, sondern die sich darum mühte, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen. Sie war die schärfste öffentliche Kritikerin Putins. Sie war ihm, davon darf man ausgehen, ein Dorn im Auge. Aber folgt daraus, dass er ihr Mörder ist, wie in unseren Medien frei spekuliert wird? Eine „Ikone des moralischen Russland“ wurde Anna Politkowskaja nach ihrem Tod genannt, eine „Instanz in einem Land, in dem sonst alles käuflich ist.“ Richtig. Aber ist mit ihrem Tod „das moralische Russland endgültig gestorben“, wie man auch lesen konnte? Und ist in Russland wirklich alles käuflich? Ein bisschen differenzierter hätte man es schon gern, nicht zuletzt gerade dann, wenn es um die Freiheit des Wortes geht.

Glaubt man der westlichen Presse und den von ihr zitierten russischen Gewährsleuten wie etwa der Moskauer Journalistin Elena Tregubowa, die nach dem Mord in mehreren westlichen Medien mit langen Interviews zu Wort kam, dann gibt es keine Zweifel, dass Wladimir Putin selbst, zumindest aber seine Helfer wie der Leiter der Präsidialverwaltung, Igor Setschin, oder der von Putin eingesetzte Ministerpräsident Tschetscheniens Ramsan Kadyrow die Urheber des Auftragsmordes waren, der an der unliebsamen Kritikerin verübt wurde. Einem Putin, so Frau Tregurow bei einem Spiegel-Gespräch, der den Krieg in Tschetschenien nicht beende, der Ukraine den Gashahn abgedreht habe, der eine rassistische Hetzjagd gegen Georgier im Lande durchführen lasse, sei so etwas ohne Weiteres zuzutrauen. Auf die Erfolge Putins zur Stabilisierung Russlands angesprochen, antwortet sie, Hitler habe auch mit den Autobahnen begonnen. Man wisse ja, was daraus geworden sei.

Vergeblich wiesen besonnenere Geister daraufhin, dass Anna Politkowskaja eine Vielzahl von Feinden hatte, angefangen bei tschetschenischen Banden, offiziellen wie inoffiziellen, über Korruptionäre auf hohen Ebenen der Gesellschaft bis hin zum Inlandgeheimdienst FSB oder selbst der Mafia oder im Ausland lebender Exilrussen, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus ein Interesse an ihrem Tod haben könnten.

Vergeblich erklärte Michail Gorbatschow auf einer Pressekonferenz westlicher Journalisten anlässlich des „Petersburger Dialogs“, dass Putin kein Interesse an einem solchen Mord haben könne, da dieses Verbrechen der Diskriminierung Russlands diene. Es nützte auch nichts, dass er sich ausdrücklich gegen Belehrungen und falsche Verdächtigungen von westlicher Seite verwahrte. Man bedenke, der dies vorbrachte, Gorbatschow, ist immerhin der Deutschen liebstes russisches Kind; als Privatmann ist er aktuell keinem Verdacht der politischen Parteinahme für Putins Regierung ausgesetzt; darüber hinaus hat er als Mitaktionär der Zeitung „Nowaja Gasjeta“ Anna Politkowskajas Engagement aktiv unterstützt; nach dem Mord hat er mit den anderen Aktionären der „Nowaja Gasjeta“ 25 Millionen Rubel (740.000 €) zur Aufklärung des Mordes ausgesetzt. Dies alles wird jedoch in der anschließenden Berichterstattung mit der Bemerkung beiseite gewischt, dass er als Koordinator des Petersburger Dialogs „von Putin eingesetzt“ worden sei.

Was übrig bleibt und der deutschen Leserschaft mitgeteilt wird, ist Gorbatschows Klage, dass mit dem Mord Russlands Demokratie geschädigt werde. Wer es genauer wissen möchte, muss Detailstudien an den unmittelbaren Quellen betreiben. Am Ende dieser Leiter empfangen Demonstranten den russischen Präsidenten bei seinem Besuch zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit „Mörder-Mörder“-Rufen. Die „Frankfurter Rundschau“ erscheint mit einem Bild als Titelaufmacher, das Putin in höchst unvorteilhafter Momentaufnahme mit vorgeschobenem Kinn in der Pose einer Bulldogge zeigt, während Frau Merkel lieblich lächelt. Schaut her, so die Botschaft dieses Bildes, was für ein Aggressor!
Angesichts einer solchen Berichterstattung ist die Frage nach der Moral, aller spontanen Empörung eingedenk, wohl von mehreren Seiten zu betrachten.

Beginnen wir, um keinen falschen Verdacht einer Parteinahme für Missstände in Russland aufkommen zu lassen, mit der russischen Seite. Diese Liste ist lang, zweifellos: Seit 1993 sind laut Statistik, die das von Oleg Panfilow geleitete Moskauer „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ jährlich herausgibt, 219 Journalisten in Russland zu Tode gekommen, 16 davon nachweislich in Ausübung ihres Berufes. Für weitere 20 konnte der direkte Zusammenhang nicht eindeutig nachgewiesen werden, gilt aber als sicher. Ein solcher Fall ist z.B. die Ermordung des in Moskau tätigen US-amerikanischen russisch-stämmigen Chefredakteurs der russischen Ausgabe des „Forbes-Magazins“, Paul Chlebnikow im Jahre 2004, der detailliert über den kriminellen Aufstieg der neuen Reichen in Russland informierte. Die weiter aufgeführten 183 Fälle sind solche, in denen Journalisten unter Umständen zu Tode kamen, die nicht direkt mit ihrer Arbeit zu tun hatten, in denen eine Verbindung zu dem Beruf der Betreffenden aber möglich ist.

Zu den Todesfällen kommen noch 16 Entführungen von Journalisten allein zwischen 2000 und 2006, 46 Durchsuchungen von Redaktionen, 158 Festnahmen; in 379 tätliche Angriffe. Auch wenn man dem Zentrum eine berufsbedingte Ultra-Akribie in der Zusammenstellung seiner Statistiken unterstellen darf, sprechen diese Listen eine klare Sprache. So verwundert es nicht, dass Russland auf der Weltrangliste, welche die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ zur Lage der Presse führt, bei insgesamt 167 Plätzen auf Rang 140 steht und mit Recht trug der im Juni 2006 in Moskau tagende „59. Weltkongress der Zeitungen“ dem Gastgeber Wladimir Putin – in aller diplomatischen Höflichkeit, versteht sich – eine klare Kritik an der Situation der Medien in Russland vor. Besonderer Gegenstand der Kritik war die „Athmosphäre der Vorsicht und Selbstzensur“, die in Russland in der Ära Putin entstanden sei. Eine besondere Frage des Kongresses richtete sich darauf, „warum immer mehr Zeitungen von staatlich kontrollierten Unternehmen aufgekauft würden.“ Hintergrund dieser Frage ist die Tatsache, dass der Kreml während Putins Amtszeit über die Gazprom-Tochter Gazprom-Media seine Kontrolle über die Fernsehmadien stark ausgebaut hat. Der Konzern ist heute Mehrheits-Eigner bei NTW, NTW-Plus, TNT, inzwischen auch bei dem bekannten Radiosender Echo Moskau, sowie zahlreichen Zeitungen, unter anderem auch der bekannten „Iswestija“. Das neueste Beispiel ist die Übernahme der Zeitung „Komersant“ durch den Kreml-nahen Unternehmer Alsher Usmanow und den darauf folgenden Rücktritt des bisherigen Chefredakteurs Borodulin. Russische Medienexperten befürchten, dass der Kreml im Vorfeld der Präsidentenwahlen von 2008 weitere Übernahmen dieser Art planen könnte.

Kritisch zu vermerken ist auch, dass die Arbeit für ausländische Journalisten erschwert wird, indem Arbeitserlaubnisse hin und wieder nicht verlängert, Akkreditierungen nur noch für halbe Jahre ausgestellt werden; frei über Tschetschenien zu berichten, ist auch für Ausländer nicht möglich.
Präsident Putin zeigte sich von der Kritik wenig beeindruckt. Er bekräftigte sein bei Gelegenheit immer wieder von ihm geäußertes Interesse an der Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft mit einer dazu gehörigen freien Presse und erklärte, es gebe heute in Russland 53.000 Publikationen, die man von staatswegen, selbst wenn man es wollte, nicht kontrollieren könnte. Die staatliche Beteiligung an diesen Unternehmen gehe eher zurück. Das Internet und andere elektronische Medien würden im übrigen überhaupt nicht kontrolliert.

Tatsache ist, dass nur 10% der russischen Zeitungen heute wirtschaftlich überlebensfähig sind, die restlichen sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Die überregionalen Fernsehstationen stehen faktisch unter zentraler staatlicher Kontrolle, die lokalen Sender haben eine gewisse Unabhängigkeit von Moskau, sind aber in der Regel von Zuwendungen der Provinzregierungen abhängig. Der Wahrheit näher als Putins Bild kommen daher vermutlich Aussagen wie die des Chefredakteurs der „russischen Newsweek“, der nach seinem Wechsel aus der Fernseh- in die Zeitungs-Arbeit in einem Interview mit der „WELT“ erklärte, er habe deswegen gewechselt, weil er wenigstens in den Printmedien schreiben könne, was er wolle. Untersuchungen russischer Medien-Kritiker relativieren auch dies noch, wenn sie erklären, dass Pressefreiheit in Russland nicht als Grundrecht wahrgenommen werde.

Aus Broschüren des „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen“, die russischen Journalisten als Ratgeber an die Hand gegeben werden, geht hervor, dass der Berufsstand des Journalisten in Russland sich erst entwickeln müsse, dass kaum ernsthaft recherchiert, dafür oft wild drauflos kommentiert werde. In dieser Bewertung stimmen die „Ratgeber“ des Zentrums mit der ermordeten Anna Politkowskaja überein, die ihre Kritik an der politischen Lethargie ihrer eigenen Zunft wie auch der Gesellschaft insgesamt wiederholt in ihren Artikeln ausgegossen hatte. Nicht Mangel an Pressefreiheit, soweit es die Printmedien betrifft, ist also bei genauer Betrachtung das Problem Russlands, sondern zum einen eine mangelnde Qualifikation der Journalisten und zum anderen die fehlende Transparenz und der mangelnde Mitgestaltungswille der Gesellschaft.

Laut einer Umfrage von „Newsweek Russia“ halten nur 9% der Bevölkerung die Massenmedien insgesamt für glaubwürdig und 70% hätten nichts dagegen, wenn die Pressefreiheit eingeschränkt würde – soweit die Medien, speziell auch die lokale und regionale Presse nicht Übermittler konkreter sachlich notwendiger Informationen sind. Diesen Stand gesellschaftlichen Bewusstseins wie die schwache Rolle der Medien selbst darf man zu recht beklagen und sich bemühen – wie die getötete Anna Politkowskaja – dies zu ändern. Russland in Bausch und Bogen als käuflich zu verurteilen, das „System Putin“ in die Ecke totalitärer Diktaturen zu rücken oder gar mit Hitler zu vergleichen ist dagegen wenig hilfreich.

Zu beklagen ist in diesem Zusammenhang denn auch eine West-Presse, die genau dieses tut. Welcher Vorgabe folgt die wütende Kritik an Putin, die ebenso wenig recherchiert, wie es der russischen Presse nachgesagt wird? Warum wird verschwiegen, dass Anna Politkowskaja nicht nur Putin, Kadyrow, die Korruption in Russland usw. kritisierte, sondern mit gleicher Schärfe die fehlende Moral des Westens anklagte? „Der Westen hat uns für dieses Gas verkauft“, schrieb sie etwa mit Blick auf die geplante Ostseepipeline: „Unsere Probleme wie in Tschetschenien interessieren niemanden. Alle wollen mit Putin gut Freund sein, wegen Gas und Erdöl.“ Wenn der Tod Anna Politkowskajas Anlass ist, über Moral der Medien nachzudenken, dann sollte das vielleicht doch in ihrem Sinne geschehen?

Zu fragen wäre dann, was schlimmer ist: russische Selbstzensur oder deutsche Konformität? Vielleicht auch andersherum: Russische Konformität oder deutsche Selbstzensur? Anna Politkowskajas Antwort darauf wäre vermutlich, dass die Wahrheit des Elends, die Würde und die Wünsche der einfachen Menschen nicht den angeblich großen Interessen geopfert werden dürfen. Von dieser Art des Journalismus ist die russische Medienwelt nicht weiter entfernt als die deutsche.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Von Kai Ehlers erschien soeben:
Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Verlag Pforte/Entwürfe
Zukunft der Jurte –Kulturkampf auch in der Mongolei?, Mankau-Verlag

Aktuelle Bücher zu Russland finden Sie unter: www.kai-ehlers.de

Schlüssel Russland?

Im Atomstreit mit dem Iran hat Russland dem Iran angeboten, die umstrittene Urananreicherung künftig in Russland vorzunehmen, um somit dem Verdacht zu entgehen, sein Atomprogramm diene der Herstellung der Atombombe. Iran zeigt sich offen für den Vorschlag, vorausgesetzt, weitere Staaten, insbesondere China würden in diese Abmachung einbezogen. China hat sich bisher nicht dazu geäußert, besteht aber auf einer diplomatischen Lösung des Konfliktes. Damit könnte die Eskalation zunächst einmal auf die Bahnen einer zivilen Konfliktlösung verwiesen sein.
Die westliche Diplomatie bemüht sich jedoch wieder einmal Russland – und auch China – „ins Boot zu holen“ oder wenn das nicht gelingt, auszugrenzen. US-Falke Mc Cain forderte auf der Münchner „NATO-Sicherheitstagung“ sofortige Sanktionen und erklärte, Russland verfolge eine Politik, die „sich mit unseren Interessen nicht verträgt.“ Er warf der russischen Führung eine „sowjetische Geisteshaltung“ vor und forderte die G7-Staaten auf, ihre Teilnahme an dem in St. Petersburg geplanten G7/G8-Gipfel zu überdenken.
Es geht offensichtlich um mehr als die Atomfrage, so wie es auch im Fall des IRAK um mehr als die Massenvernichtungswaffen ging. Das ist natürlich zunächst einmal das Ölgeschäft: Der IRAN verfügt über die drittgrößten fossilen Vorkommen und Reserven nach der OPEC und nach Russland. Der Kampf um die Energie-Rohstoffe wird durch das Hinzutreten Chinas, Indiens und anderer Newcomer, durch den steigenden Bedarf der alten Industrieländer und die zugleich sinkende Verfügbarkeit und die ausgehenden Reserven zum beherrschenden Thema der internationalen Politik. Die politischen Ereignisse der letzten Zeit sind davon geprägt: So die von der russischen Regierung erzwungene Widereingliederung des Öl-Multi YUKOS in den russischen Staatsverband; so der Krieg gegen den IRAK, so der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine, um nur die wichtigsten zu nennen. Auf dem G8-Gipfel sollen diese Fragen Hauptthema sein.
Über all dies hinaus hat die Auseinandersetzung inzwischen jedoch das Stadium des Streites um bloße Aufteilung des unmittelbaren Zugriffs auf die Öl- und Gasquellen bereits hinter sich gelassen. Inzwischen geht es um die Frage, ob die USA die Vorherrschaft des Dollar als Öl-Währung aufrechterhalten können. Kern der Sache ist die vom IRAN für März dieses Jahres angekündigte Absicht, eine asiatische Öl-Börse gründen zu wollen, an der Öl- und Gas nicht mehr in Dollar, sondern auch, sogar vornehmlich in Euro gehandelt werden sollen. Die Einführung dieser Börse würde bedeuten, dass der Dollar seine Funktion als Weltleitwährung verliert. Diese Funktion hat er nicht mehr auf Grund der Wirtschaftskraft der USA, vielmehr wird der wirtschaftliche Niedergang der USA dadurch verdeckt und aufgehalten, dass der Welthandel von Öl und Gas an den Dollar gebunden ist. So ist die Welt gezwungen, Dollarreserven zu halten, auch wenn der Dollar ständig und systematisch, das heißt durch Einsatz der Notenpresse, an Wert verliert.
Die Öl-Bindung des Dollar geht auf eine Abmachung zwischen Saudi-Arabien und den USA aus dem Jahre 1972/3 zurück, dem sich die OPEC anschloss. Spätestens seit Einführung des Euro aber rütteln sowohl Öl fördernde Länder als auch Abnehmerstaaten an dieser Vereinbarung, weil die Dollarbindung des Ölhandels sie zwingt Dollarreserven zu halten, die sie nur mit Verlust weitergeben können, was faktisch auf eine versteckte Abgabeordnung gegenüber den USA hinausläuft. Mit dem Erscheinen des Euro und der Stärkung des chinesischen YEN sind aber Alternativen zum Dollar sichtbar geworden, zumal die meisten Öl fördernden Länder intensivere Handelsbeziehungen mit Europa als mit den USA pflegen. Saddam Hussein war der Erste, der es wagte, den Schritt vom Öl-Dollar zum Öl-Euro faktisch zu vollziehen. Die Antwort der USA ließ nicht auf sich warten. Gleich nach der Intervention wurden das „oil for food“-Programm beendet und die auf Euro laufenden irakischen Konten wieder auf Dollar umgestellt: Von Stund an wurde wieder nur gegen Dollar verkauft. Damit war das Ziel des Irak-Krieges erreicht; George W. Bush konnte sich als Retter des US-Imperiums feiern lassen. Ein Exempel war statuiert.
Lange jedoch währte die Freude nicht: Die Yukos-Affäre endete nicht nur mit einer Wiederaneignung der russischen Ressourcen durch den russischen Staat in der Gestalt des Konzerns GASPROM. Kaum war YUKOS-Chef Chodorkowski rechtskräftig verurteilt, beschloss die russische Staatsduma, in Zukunft die Devisenreserven Russlands nicht mehr nur in Dollar anzulegen, sondern ab sofort zu 30% auch in Euro. In wenigen Jahren soll das Verhältnis auf 50:50% gebracht werden. Darüber hinaus ging Russland wieder zur traditionellen Golddeckung für seine eigene Währung über.
Auch in der OPEC wurde die Bindung des Dollar ans Öl brüchig. Es war Hugo Chavez, der 2002 die Öl fördernden Staaten der OPEC aufforderte, Öl an Entwicklungsländer nicht mehr gegen Dollar, sondern im Bartergeschäft, also im Tausch gegen Ware oder auch gegen Euro zu liefern.
Die skizzierten Entwicklungen bündeln sich in ökonomischen und politischen Bündnissen, die sich in letzter Zeit herausgebildet haben, so dem wirtschaftlichen Interessenverband BRIC, benannt nach seinen Mitgliedern Brasilien, Russland, Indien und China, so in der „Schanghai Gruppe“, die Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan verbindet, dazu als „Beobachter“ Pakistan, Indien und Iran. Im Juli 2005 forderte das Bündnis in einem „Appell“ an die USA, dass sie einen Termin setzen sollten, wann sie sich aus Stützpunkten in diesen Ländern zurückzuziehen gedächten.
Aus dieser politischen Gemengelage heraus, deren Speerspitze die Einführung einer asiatischen Öl-Börse wäre, erklärt sich der Kompromissvorschlag Russlands, ebenso wie die hysterische Vorgehensweise der USA. Unklar bleibt, welche Rolle die Europäer sich zumessen wollen. Was Ihnen in dieser Situation am schlechtesten zu Gesicht steht, ist die Rolle des treuen Freundes der USA. Daran wird Frau Merkel zu knacken haben.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sehen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat. Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein, doch hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle ersetzt hat. Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Die für westliche Beobachter z.T. sehr fremden Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind hinlänglich bekannt; sie müssen hier nicht noch einmal erläutert werden.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um eine gigantische Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das gilt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender Kolonialismus“ und schließlich noch der „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.

All dies kann man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation in den „Aufbau des Sozialismus“, Stalin vollendete die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt. Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher kann keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit. Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums heute entgegenarbeitet. Das ist nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese aktuelle russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal vom Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Entstanden sind vielmehr neue Varianten des Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingegangen sind. Viele Analytiker sprechen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Tatjana Saslawskaja charakterisierte die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe.

Tatsache ist: Teile der heutigen russischen Wirtschaft funktionieren nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt.. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man spricht in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltet: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft liegt ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hat wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, hat für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“ geprägt. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgeht. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen.
In der aktuellen Grundkonstellation der gegenseitigen Ergänzung einer zurückgefahrenen Produktion einerseits und der Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft andererseits liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nicht. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend im Sinne neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern bewusst organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur ausgebeutet werden, sondern ihr Gebrauch kultiviert und gemeinschaftlich kontrolliert wird. Unter solchen Umständen bekommt der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin heißt Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin ist die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Die Rede ist von einem Entwicklungsland neuen Typs, das Ansätze für eine neu Wirtschafts- und Sozialordnung zeigt, die eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Das ist auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungs-strukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Hier kommen wir in den Bereich, in dem sich Fragen an die künftige Politik Wladimir Putins und seines Kommandos sowie an politische Klasse Russlands stellen: Sind sie bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?
In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelt sich seitdem ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Sollte die Regierung über diese Proteste hinweggehen oder sie gar niederschlagen wollen, kann das Ergebnis nur eine soziale Katastrophe sein, an deren Ende sich die Suche nach neuen Beziehungen zwischen Produktion und Selbstversorgung umso dringender wieder einstellen wird, allerdings vermutlich zu schlechteren Bedingungen. Es wäre zu wünschen, dass es ohne diese Umwege ginge.

Kai Ehlers
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Europa minus Ukraine?

Die Formel „Russland minus Ukraine“, nach welcher der russische Konzern Gasprom seinen Lieferstop gegenüber der Ukraine betreibt, klingt nach Eskalation: Gasprom beschuldigt die Ukraine, trotz Lieferstop illegal Gas zu entnehmen, die Ukraine bestreitet das. Die westlichen Nachbarn der Ukraine dagegen melden verringerte Gasvolumen. Entsprechend hätte man scharfe Reaktionen seitens der EU erwartet, ähnlich wie seinerzeit zum Fall Chodorkowski; die blieben jedoch aus. Selbst die USA warnten nur vage, es bestehe die Gefahr, dass Energierohstoffe zum politischen Druckmittel würden.
Für die Zurückhaltung besteht guter Grund, wenn die Konflikte nicht aus dem Ruder laufen sollen: Auseinandersetzungen um russische Gaslieferungen an die Ukraine sind nicht neu. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte und in der Hoffnung auf eine Wiederannäherung im Rahmen einer „eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ bestehend aus Kasachstan, Russland, Weißrussland und der Ukraine, lieferte Russland der Ukraine dennoch seit nunmehr fast 15 Jahren Gas zu Sonderkonditionen ohne Gegenleistung. Seit der erklärten Abwendung der Ukraine von der Perspektive einer Union mit Russland, seiner demonstrativen Hinwendung zur EU und zur NATO in und nach der sog. „Orangenen Revolution“ vor einem Jahr ist die Basis für eine Vorzugsbehandlung der Ukraine, die Russland jedes Jahr drei Milliarden Euro kostete, jedoch nicht mehr gegeben. Weißrussland, das die Union mit Russland weiter anstrebt, behält seinen subventionierten Preis.
In der Ukraine stehen zudem neue Wahlen ins Haus. In ihnen sind Aktualisierungen der Auseinandersetzungen um die politische Orientierung des Landes zu erwarten, die zum Sieg der „Orangenen Revolution“ geführt haben. Die Ukraine ist weit davon entfernt, sich demokratisch stabilisiert zu haben: Die Popularitätswerte Juschtschenkos sinken gegen 30%, das Anti-KorruptionsBündnis Jutschtschenko/Timoschenko ist an Korruptionsaffären der neuen Regierung geplatzt. Die Anbindung der Ukraine an die EU ist ein Traum geblieben; bis heute ist die Ukraine für die EU nicht mehr als ein Transitland, über das 80% des aus Russland bezogenen Gases nach Europa kommen. Mit der Ostsee-Pipeline versucht man sich seitens der EU aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Dessen ungeachtet stehen die in- und ausländischen Akteure bereit, die seinerzeit zur Radikalisierung der „Orangenen Revolution“ beitrugen, ihre Interventionen für eine „demokratische“ Ukraine zu wiederholen.
Schließlich sind die Umgruppierungen auf dem russisch-eurasischen Öl- und Gasmarkt, die sich aus dem Verlauf der YUKOS-Chodorkowski Affäre ergeben, keineswegs abgeschlossen, sondern treiben neuen Konflikten zu. Der amerikanische Versuch sich über Yukos-Beteiligungen Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen Russlands zu verschaffen, wurde von Russland mit der Zerschlagung von Yukos vorerst abgeschmettert. Gewinner dieser Runde ist der Konzern Gasprom, der seither auf dem Gas- und auf dem Ölmarkt expandiert. Noch wenige Tage vor dem Lieferstop schloß Gasprom mit Turkmenistan einen Vertrag, der eine Erhöhung der turkmenischen Gaslieferungen von bisher sieben auf dreißig Milliarden Kubikmeter vorsieht – nur einen Tag bevor die Ukraine ihrerseits einen Vertrag mit Turkmenistan über die Lieferung von 40 Milliarden Kubikmetern bekannt gab. Gasprom praktiziert jetzt, was russischen Managern von IWF, Weltbank, WTO usw. seit Jahren als zivilisierter Weg gepredigt wird: knallharte Marktwirtschaft, Einflussnahme über wirtschaftlichen Druck statt Subventionen, Diversifizierung des Energiehandels. Das wirft noch ein weiteres Licht auf die geplante Ostsee-Pipeline: Mit ihr will auch Gasprom sich unabhängig von den Transitländern Polen und Ukraine machen. Bleibt schließlich noch daran zu erinnern, dass Russland nach Abschluß des Yukos-Prozesses Ende letzten Jahres erklärte, seine Devisenreserven zukünftig nicht mehr allein in Dollar, sondern zu gleichen Teilen in Euro anlegen zu wollen. Dies alles mag die vorsichtigen Töne im aktuellen Konflikt erklären. Hinter den Kulissen jedoch rumort es heftig.

Kai Ehlers
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NGOs in Russland: Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten Jahres schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten.
Vehement protestierten über 1300 Organisationen. Der Menschenrechtsbeauftragte Lukin forderte die Duma auf, von weiteren Lesungen der Gesetzesvorlage abzusehen; ebenso der „Rat für gesellschaftliche Fragen“, der erst nach Beslan als Vermittler zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Bewegungen geschaffen worden war. Selbstverständlich sorgen sich westliche Regierungen.
In der russischen Regierung sind die Meinungen geteilt, Finanz und Justizministerium tragen den Entwurf. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern, die vor der Duma gegen die Entwicklung eines „Polizeistaats Russland“ demonstrierte, wurde festgenommen; ihnen droht ein Verfahren wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“. Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung jedoch ist gegen die Duma-Initiative. Präsident Putin verteidigte den Dumabeschluss: Politische Tätigkeit des Auslands in Russland, so Putin, müsse stärker kontrolliert werden, erklärte er. Von einer Aushöhlung der Zivilgesellschaft könne nicht die Rede sein. Er selbst werde dafür Sorge tragen. Politische Aktivitäten in Russland müssten für den Staat jedoch transparent sein, das gelte besonders für Finanzierung politischer Aktivitäten durch das Ausland, wenn sie über öffentliche Kanäle anderer Staaten laufe, „und wenn in unserem Land tätige Organisationen als Instrument der Außenpolitik anderer Staaten benutzt werden.“ Ungeachtet der öffentlichen Proteste und solcher putinscher Differenzierungen will die Duma die 2. und 3. Lesung jedoch am 9. Dezember durchführen; zum 1. Januar 2006 soll das Gesetz in Kraft treten.
Die „Heimlichkeit des Vorgehens“, die „Eile im Gesetzgebungsprozess und andere Begleitumstände“, meint Jens Siegert vom Moskauer Büro der Böllstiftung, erinnere an eine „Spezoperazija“, eine Geheimdienstoperation; im selben Zuge berichtet er allerdings, dass der Antrag von allen fünf in der Duma vertretenen Fraktionen gemeinsam eingebracht wurde. Ausgerechnet Abgeordnete der KP, hört man von anderer Seite, hätten besonders die geplanten Einschränkungen für ausländische, bzw. mit ausländischem Geld geförderte NGOs begrüßt.
Ähnlich widersprüchlich sieht es bei den tatsächlichen Änderungen aus, die das Gesetz bringen soll: Für die russischen NGOs, meint Siegert, werde es wohl „zusätzliche Arbeit“ und „erweiterte staatliche Kontrollmöglichkeiten“ bringen, „aber trotz allem nichts grundsätzlich Neues.“ In der Tat, der größte Teil der Bestimmungen findet sich in ähnlicher Form bereits in einer Reihe von Gesetzen, die während der Amtszeit Putins entstanden sind. So der Steuerkodex oder das Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus. Nach den geltenden steuerrechtlichen Bestimmungen muss sich nicht nur jeder Empfänger auf einer nationalen Liste als steuerabzugsberechtigt ausweisen, es muss auch jedes einzelne Projekt vom Geber her als Non-Profit unternehmen erfasst werden. Andernfalls sind auf alle Gelder 24% Steuern, zusätzlich lokaler Sondersteuern zu entrichten. Zusätzlich muss die Zustimmung der örtlichen Behörden eingeholt werden, die die örtliche Aktivität der NGOs als steuerlich unbedenklich anerkennen müssen.
Dem steht die Entwicklung von Bürgerinitiativen gegenüber, die sich in den letzten Jahren in Russland selbst entwickelt haben. Die erste Stiftung dieser Art wurde als „Fonds der örtlichen Gemeinschaft“ 1998 in Togliatti gegründet; 2004 gab es laut einer Studie des deutschen Maecenata-Institutes bereits fünfzehn dieser Initiativen in den verschiedensten Regionen der Föderation. Die „Fonds der örtlichen Gemeinschaft“, so das Institut, verstehen sich als „Stiftungen, die sich fördernd und operativ für das lokale Gemeinwohl einsetzen. Sie verfolgen einen breiten Stiftungszweck und betreiben einen langfristigen Vermögensaufbau. Sie sind in politischer, wirtschaftlicher und konfessioneller Hinsicht unabhängig und werden von einer Vielzahl und Vielfalt von Stiftern und Stifterinnen errichtet und getragen.“ Auch diese Stiftungen, so der Bericht, litten unter dem zunehmenden steuerrechtlichen Würgegriff; durch ihre „lokale und soziale Bezogenheit und ihren unmittelbar einsehbaren Nutzen wie auch durch die Vielfalt der in sie eingehenden lokalen, bzw. regionalen, d.h. also in großem Umfang auch russischen finanziellen und operativen Initiativen“ seien sie aber weniger gefährdet als die von zentralen und ausländischen Geldern abhängigen klassischen NGOs. Offen sei allerdings, was geschehen werde, wenn sich die Bürgersstiftungen politischen Fragen wie Aktivitäten zu Menschenrechten, zum Zivildienst, zum Presseschutz u.ä. zuwenden würden. Diese Anmerkung betraf vor allem die wachsende Zahl von Stiftungen, NGOs und Bewegungen, die aus Geldern der Stiftung „offenes Russland“, also seitens Yukos und seines Chefs Chodorkowski finanziert wurden.
Hier soll das neue Gesetz offenbar ansetzen: Neu wäre eine Aufteilung, da ist Siegbert zu folgen, zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er soeben aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken. Neu wäre zudem noch, dass bisher informell arbeitende Gruppen künftig verpflichtet werden sollen, spätestens ein halbes Jahr nach Beginn Ihrer Aktivitäten die Behörden von ihrer Existenz zu unterrichten, obwohl offen bleibt, wer in diesem Fall konkret meldepflichtig und juristisch verantwortlich sein soll.
Kurz, den russischen NGOs, einschließlich der nur wirtschaftlich orientierten, würde die selbstständige Tätigkeit weiter erschwert; das ist unbezweifelbar. Das erklärt die Opposition aus dem Wirtschaftsressort. Hauptadressat der geplanten Maßnahmen sind jedoch die ausländischen Organisationen. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein. Dies alles läuft auf ein Abwürgen ausländischer NGO-Einsätze hinaus. Auch da gibt es keine Zweifel. Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer NGO-Einsätze hinaus, sondern auf eine Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.

Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de.

Den gesamten Text können Sie hier herunterladen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Seebeben an der Ostsee?

Seit Anfang Dezember ist die Welt mit einem Vorgang konfrontiert, der die vertrauten politischen Koordinaten nachhaltig verändern könnte: Der Bau einer Gas-Pipeline vom russischen Wyborg zum deutschen Greifswald quer durch die Ostsee wurde offiziell in Angriff genommen. Anwesend waren der neue deutsche Wirtschaftsminister Klos, der Chef des russischen Gas-Konzerns Miller Gasprom sowie weitere Vertreter der von Schröder und Putin eingeleiteten deutsch-russischen Energiepartnerschaft. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ soll Gerhard Schröder werden, Generaldirektor wird Matthias Warnig von der Dresdner Bank.
Die Begleitumstände des Projektes sind außerordentlich, dies aber nicht wegen des Wechsels der deutschen Kanzlerschaft; der ändert nichts an der grundsätzlichen Haltung der deutschen Bundesregierung in Bezug auf das „Jahrhundertgeschäft“, wie die stolzen Verlautbarungen des neuen Wirtschaftsministers Klos zeigen. Auch in den Chor derer, die Schröder „Vetternwirtschaft“ und „Heuchelei“ vorhalten, muss man nicht einstimmen. Die Unterwerfung der Politik unter die Ökonomie ist heute Standard; der ist veränderungsbedürftig, aber da macht ein Ex-Kanzler Schröder keine Ausnahme. Im Unterschied zu anderen politischen Funktionsträgern tritt Schröder aber nicht in eine deutsche, westliche oder US-amerikanische, sondern in eine russisch dominierte Firma ein. Das macht den Vorwurf möglich, hier entwickle sich eine neue deutsch-russische Achse.
Damit sind wir bei der ersten Besonderheit dieses Vorgangs, die erhebliche Auswirkungen haben kann: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres soll ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50.
Der erste, der solch einen Schritt wagte, war Saddam Hussein. Dafür wurde er abgestraft. Nach der Invasion der USA in den IRAK wurde diese Entscheidung des IRAK rückgängig gemacht. Inzwischen haben aber weitere Länder entsprechende Absichten geäußert, unter anderem Venezuela, der Iran, sogar die Saudis lassen solche Absichten erkennen. Wenn jetzt ein deutsch-russisches Konsortium ebenfalls diesen Weg einschlägt, sind harsche Antworten seitens der USA absehbar. Man darf gespannt sein, wie Frau Merkel mit diesem Erbe ihres Vorgängers im Kanzleramt umgehen wird.
Die zweite Besonderheit des Ostsee-Vorganges liegt in der Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten.
Schröder, seinerzeit noch Bundeskanzler, hatte auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“ Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern
wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.
Nachhaltig wird die deutsch-russische Pipeline-Gemeinschaft schließlich weder im Sinne einer dauerhaften Lösung des fossilen Energieproblems, noch für die Entwicklung von weiterführenden Zukunftsperspektiven wirken: Die Pipeline durch die Ostsee erschließt keine neue Gasquelle; sie verteilt nur das vorhandene Gas anders. Sie entwickelt auch keine alternativen Energien, sondern verpulvert unvorstellbare Gelder, die besser für die Erforschung und Entwicklung alternativere Energiequellen eingesetzt würden.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de