Kategorie: Artikel zur Lage

Texte zur Transformation

Rußland in die WTO – warum jetzt? Oder auch: WTO auf dem Weg in die Transformation?

Am 22.08.2012 unterschrieb Wladimir Putin das Beitrittsdokument Rußlands zur WTO, der Welthandelsorganisation. Was verspricht sich Rußland von diesem Beitritt? Und warum gerade jetzt? Was wird geschehen?

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Auf zwei Beinen steht sich´s besser – Putin und Medwedew in die Werkstatt geschaut. Ein Kommentar zum Besuch Wladimir Putins in Berlin

Allgemeine Freude! Deutsche und Russen, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der russische Ministerpräsident Wladimir Putin treffen sich, wie es scheint, entspannt im Gespräch um eine Vision, die Wladimir Putin als Gastgeschenk mitgebracht hat: eine „Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok“, die auch einen „gemeinsamen Energieraum“ einschließen soll. Die Zeitung „Die Welt“ kann sich die beiden – Angelika Merkel im Abendkleid, Wladimir Putin im Smoking – gar miteinander „tanzend“ vorstellen

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Flucht in die NATO? Anatomie eines politischen Wechselbalgs

NATO Treffen in Lissabon; alle scheinen sich einig zu sein: Die Welt befinde sich im Wandel, „neue Herausforderungen und Bedrohungen“ müssten gemeistert werden. Aufgezählt werden „Weltwirtschaftskrise“, „Umweltprobleme“, „Angriffe aus dem Cyberspace“, „Terrorismus“, gemeint sind, zumindest aus amerikanischer Sicht, wie bei dem Altstrategen Sbigniew Brzezinski nachzulesen, die „politisch erwachten Völker“, die die Welt zunehmend in Unruhe versetzten.

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Putin – ein Fehler?“

in seinem Artikel „Das postsowjetische Russland zwischen Demokratie und Autoritarismus, eine Kritik des Vergleichs der Jelzin- und der Putin-Ära aus zeitgeschichtlicher Perspektive“ im "eurasischen magazin 11/08" macht Dr. Dr. Umland sich die Mühe, das Wirken des ehemaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin historisch neu zu bewerten.

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Öl-NATO contra Gas-Russland Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? Um diese Fragen kreisen die aktuellen politischen Debatten in der Europäischen Union und in der NATO. Zwei Strategien stehen sich gegenüber:
Auf der einen Seite forcieren die USA die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Luger erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Sbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird. [2] Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauchen zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Es gehe darum die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entstehe. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Seit der NATO-Sicherheitstagung 2007 in München stehen sich die Forderungen nach einer „Energie-NATO“ und einer „Energie-KSZE“ gegenüber. Die EU ist in der Frage gespalten.

Die Geschichte der genannten Konzepte ist die Geschichte einer Eskalation.

Seit 1991 bemüht sich das „atlantische Bündnis“ unter Führung der USA aggressiv um die Neuaufteilung des zentralasiatisch-kaukasischen Raumes. Dabei ging es vorrangig um Erdöl und Erdgas, die in diesem Raum konzentriert sind. Der führende US-amerikanische Stratege Brzezinski spricht vom „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf das die USA sich den Zugriff sichern müssten. Kernstück der daraus entwickelten Strategie wurde der Ausbau eines Transportkorridors, auf dem Öl und Gas südlich des Bauches von Russland von Ost nach West befördert werden könnten, ohne durch russische, aus der Sowjetzeit noch vorhandene Röhren gehen zu müssen. Das bedeutete, Russland von Zentralasien, vom Süd-Kaukasus und vom Iran zu trennen, den russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk, sowie die Pipelines durch Tschetschenien zu umgehen.
Die EU beteiligte sich an dieser Strategie mit den Programmen TACIS, INOGATE und TRACECA, über welche Milliarden Euro in den Ausbau der Ost-West-Transport-Infrastruktur von Usbekistan bis Europa flossen. TACIS, das ist die Abkürzung für “Technical assistance to the commonwealth on independent states”, INOGATE für “Interstate Oil and Gas Transport to Europe”, TRACECA für “Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia”. Die drei Programme sind ausgelegt als Aktionsbündnisse mit den aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und des Balkan (selbst Griechenland partizipierte) – nur Russland wurde expressis verbis ausgegrenzt.
Wichtigstes Ergebnis dieser Programme waren drei neue Pipelines, die unter Umgehung der bis dahin genutzten sowjetischen Transportwege gebaut wurden:
– Öl von Baku in Aserbeidschan zum Schwarzmeerhafen Supsa – seit 96 in Betrieb,
– Öl von Baku über Tiblissi nach zum Mittelmehrhafen Ceyhan in der Türkei –
„BTC“ genannt nach den drei Städtenamen, seit 2005 in Betrieb;
– Gas von Baku über Süd-Europa in die EU –“Nabucco“– geplant ab 2012.
Nicht erfolgreich war der US-Plan, eine Pipeline durch Afghanistan in den Persischen Golf zu führen. Der in den 90er Jahren gemachte Ansatz blieb in den Kämpfen mit den Mujaheddin stecken. Auch die neueren Pläne, die von Sbigniew Brzezinski kürzlich wieder ins Gespräch gebracht wurden, werden nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn Afghanistan schnell „befriedet“ wird.
Zeitgleich mit der Entwicklung des Ost-West-Transportkorridors unternahmen westliche Öl-Konzerne den Versuch, den innerrussischen Öl- und Gas-Markt zu „liberalisieren“, „für den Weltmarkt zu öffnen“, kurz, unter Kontrolle westlicher Konzerne zu bringen. Das geschah zum einen über Einflussnahme auf den seit 1991 privatisierten russischen Öl-Markt. Der nach-sowjetische private Öl-Konzern YUKOS wurde in de4 Jahren 2003/2004 bereits von New York aus geleitet. Yukos-Chef Chodorkowski stand vor seiner Verhaftung und vor der gerichtlichen Auflösung des Konzerns kurz vor dem Verkauf von Mehrheitsanteilen an US-Texaco.
Es geschah zum Zweiten über Versuche der EU über Verhandlungen mit Russland für eine Europäische Energiecharta, über ein gesondertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen und über die Entwicklung einer „strategischen Partnerschaft“ zu einer „Liberalisierung“ des Öl- und Gasmarktes zu kommen.
NATO-Erweiterung und EU-Erweiterungen flankierten diese Strategie der Einkreisung Russlands, gepuscht von den USA; die EU konnte, sehr zum Ärger der USA keine klare einheitliche Linie zur Energiepolitik gegenüber Russland finden, sondern schwankte immer wieder zwischen aktiver Beteiligung an der US-Einkreisungspolitik und langfristiger Kooperation im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. – was u.a. dazu führte, dass die Nabucco-Pläne nur zögernd voran kamen und kommen.

Russlands Antwort

Nach Auflösung der Sowjetunion und Einleitung der Schock-Therapie der Totalprivatisierung war Russland dieser Strategie zunächst weitgehend ausgeliefert. Aus dem Gas-Ministerium der Sowjetzeit entstand Gasprom als eine undefinierbare Mischung aus alten sowjetischen und neuen privatwirtschaftlich genutzten Strukturen. In der Bevölkerung galt diese Organisation als Selbstbedienungsladen ihrer Funktionäre. Die Ölindustrie wurde zum Privateigentum weniger Oligarchien, verquickt mit ausländischem Kapital. Erst mit der Krise 98, als der IWF sich weigerte Russland mit Krediten aus der Patsche zu helfen, bzw. für Russland unannehmbare Bedingungen stellte, begann Russland sich wieder auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die wesentlichen Schritte sind schnell aufgezählt:
– 2002 Reform Gasproms zum internationalen Multi. Die korrupten Funktionäre der 90 Jahre werden durch Vertraute Putins ersetzt, Gasprom zu einem politischen Instrument des Staates und einer Stütze des russischen Budgets entwickelt.
– 2003/4 mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Auflösung des YUKOS-Konzerns nimmt der russische Staat auch die größten Teile der Öl-Wirtschaft wieder unter Kontrolle.
– 2005/6 wird am Plan der Ostseepipeline erkennbar, dass Gasprom die Strategie einer aktiven Vernetzung des russischen Energiemarktes mit der EU verfolgt; mit Kasachstan und Turkmenistan werden alte Verbindungen aktiviert.
– am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline („South-Stream“) zusammen[4]: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga (bei Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen[5].
– 2008 geht es Schlag auf Schlag: Vertrag zum Bau der „South-Pipeline“ mit Serbien im Januar 2008[6], mit Ungarn im Februar[7], mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an der “Nabucco“Pipeline als auch an „North-Stream“ beteiligen. Ein Joint Venture von “Nabucco“ und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Transmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. [8] Im Juli 2008 offeriert Gasprom Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. [10] Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. [11] Gasproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten[12]: Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Ebenfalls im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. [13] Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein. [14] Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“ [15], d.h. ein umfassendes Netz von der Förderung bis zum Endkunden aufzubauen.

Kooperation contra Konfrontation

Zum Gipfel der G8 in St. Petersburg im Mai 2006 legte Russland den Vorschlag vor, eine globale Energiepolitik zu entwickeln. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland brachten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vor und kündigten an, ihrerseits Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So wurden von dem „Energie-Summit“ harte Konfrontationen erwartet. Im Ergebnis verabschiedete der Gipfel überraschend einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben schienen. Nur ein halbes Jahr später, 26.11.2006 forderte US-Senator Luger beim NATO-Gipfel in Riga die Entwicklung einer Energie-NATO, die nach § 5 des NATO-Bündnisvertrages eingreifen müsse, wenn Gas- oder Öllieferungen mit erpresserischer Absicht unterbrochen würden. Auch eine befürchtete „Gas-OPEC“ geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“-Gesetz.
Die Erfolge Gasproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften auch als Hintergrund für die Eskalationen im Kaukasus im August 2008 zu sehen sein. 17] „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ [18] Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive[20]. Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das atlantische Bündnis dürfe „die Fortschritte, die in Aserbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblissi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen“ müsse „die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der “Nabucco“Pipeline gedient“ werde.
Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache liege darin, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ [21] Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Pipeline bombardieren wollen.
Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“ [22], habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der in erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“.
Unter den Bedingungen der globalen Systemkrise entspannte sich die Konfrontation vorübergehend. Auf der Müncher „Sicherheits“-Tagung 2009 standen andere Themen im Vordergrund, insbesondere der Wiedereintritt der USA ins internationale Bündnissystem. Zudem ist Gasprom durch den Preisverfall bei Öl- und Gas vorübergehend geschwächt. Ein neues Anziehen der Öl- und Gaspreise und damit die Aktualisierung des Wettlaufes um die kaukasischen und zentralasiatischen Ressourcen ist jedoch unausweichlich.

veröffentlicht in:  „Neues Deutschland“

GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation? veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

Über GAZPROM zu sprechen, heisst über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gasprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gasprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gasprom nützt, nützt Russland.. Gasprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA, Sbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden. Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gasprom. Was Gasprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, nach der Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte auf 50 Dollar pro Fass, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen. „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein. Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands. Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland. Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem Krieg in Georgien im August 2008 wieder heftig und her bewegt , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gasprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte. Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gasprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hat heute – hatte vor dem Finanzkrach – einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen. Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren. Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen. Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hin gewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gasprom und Rosneft um den russischen Ölmarkt sein. Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gasprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gasproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Djesterepublik, Serbien, selbst noch Georgien. Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren. Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie.“ Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht. Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“.

Blick zurück
Hier könnte die Darstellung zur Skizze des aktuellen Energiepokers übergehen, denn die Reaktionen auf diese Ankündigungen kamen prompt und sie fielen sehr schrill aus. Es wird aber gut sein, zuvor noch einen kurzen Blick in die Geschichte von Gazprom zu werfen, um besser zu verstehen, an welchem Punkt seiner Entwicklung der Konzern heute steht: Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“ Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf. Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen. André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“ charakterisierte den Konzern Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „eigen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“ Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft. Ein leitender Mitarbeiter von Gasprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“ „Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“, die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse. Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung. Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gasprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gasprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gasprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gasprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“ „Was Gazprom genau ist,“ wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“ Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“

Ein Korridor gegen Russland
Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen. Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinski´s Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen. Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe. Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am azerbeidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhaven Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden. Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013. In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien Ukraine Azerbeidschan, Moldawien und) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN
Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten. Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet. Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:

  • 2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipelene (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
  • Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien, erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Ekundungen“.
  • Beim Petersburger Treffen der G 8 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den Börsennachrichten vom 24.4. 2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
  • Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen : Sie soll vom russischen Schwarzmeerhaven Dschubga (Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 2008 , mit Ungarn im Februar , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom such auch nach Osten : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.. Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“

„Energie als politische Waffe“
Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Ludger auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich. Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“, und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören. Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“_Gesetz. „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Azerbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für gerantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde. Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen. Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, er klärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“

Gebremste westliche Alternativen
Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde. Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, der ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“ Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn Turkmenisches und Kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossteien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen. Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmensiches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen
Wie sehr der Aufruf Brzezinskis Russland zu isolieren von Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen, die nach dem Ende der Kämpfe in Georgien – höchst widerwillig – bekannt gab, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“ Verhängisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco, „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von North Stream und South Stream zeigen ebenfalls in diese Richtung. Okonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind. Muß die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab Vizevorstandschef von Gazprom Alexander Medwjedew, Mitglied des Aufsichtsrates von Gazprom der Presse im Sommer 2007 eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risikos enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird. Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind. Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de Kai Ehlers

veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

 

Medwedjew kündigt ÖL-Rubel an

Eine bemerkenswerte Blindheit hat sich dieser Tage über die medialen Wahrnehmungsorgane des Westens gelegt: Die Rede des russischen Präsidenten Medwedjew an seine Nation – einen Tag nach der Wahl Barak Obamas zum neuen US-Präsidenten – wird in einer Weise zitiert, die nur Erstaunen hervorrufen kann: Von einer Aufstellung russischer „Atomraketen“ an der polnischen Grenze ist die Rede, von Provokation, von Kriegsdrohung. Auch der Vorschlag Medwedjews, die Amtszeit des russischen Präsidenten von vier auf sechs Jahre zu verlängern, ruft helle Empörung der westlichen Kommentatoren hervor und animiert Kremlastrologen aller Couleur zu Spekulationen, Medwedjew sei nur ein Strohmann, der Putins Wiederkehr vorbereiten solle.

Ankündigungen des russischen Präsidenten, die Mandate der Duma-Abgeordneten von vier auf fünf Jahre verlängern, die Staatsbürokratie dezentralisieren zu wollen, indem zukünftig die Gouverneure von Parteien vorgeschlagen, ein Rotationsverfahren für Parteivorsitzende eingeführt, die 7%-Klausel für die Wahl zum Parlament gelockert, NGOs in die gesetzgebenden Verfahren einbezogen werden, tauchen in dieser Berichterstattung nur noch am Rande auf.

Völlig übersehen werden Mewedjews Ankündigungen einer neuen Geldpolitik. Dankenswerterweise war das Fehlende in der Internetzeitung russland.ru nachzulesen. Hat der Präsident doch wörtlich gesagt, es müssten „nun praktische Schritte zur Verstärkung der Rolle des Rubels als einer der Währungen bei internationalen Verrechnungen unternommen und endlich mit dem Übergang zur Rubelverrechnung begonnen werden.“ Dies gelte insbesondere für den Export von Erdöl und Erdgas durch Gasprom. Und mit Blick auf die Spekulationskrise fügte er hinzu, die Unterbringung von neuen Emissionswertpapieren müsse “gerade in Rubeln und wünschenswerter Weise auf dem russischen Markt“ stimuliert werden. Das Endziel all dieser Prozesse sei, „den Rubel zu einer regionalen Währung zu machen.“ Auch andere sich entwickelnde Länder könnten in dieser Weise aktiv werden. Je mehr starke Finanzzentren in der Welt es gebe, desto sicherer werde die globale Finanzentwicklung sein.

Auch Medwedjews Position zum Krieg im Kaukasus sucht man vergebens in der Berichterstattung unserer Medien: „Wir werden im Kaukasus nicht zurückweichen“, hatte Medwedjew erklärt und – wieder mit Blick auf die weltweite Spekulationskrise – ergänzt, Russland, das „in der Zeit des Wachstums deutliche Vorteile“ gehabt habe, sei „bereit gemeinsam die jetzigen Schwierigkeiten anzugehen.“ Aber es sei auch notwendig „Mechanismen zu schaffen, die die fehlerhaften, egoistischen und mitunter auch einfach gefährlichen Entscheidungen einiger Mitglieder der Weltgemeinschaft blockierten.“

Auf einen Rüstungswettlauf werde Russland sich zwar nicht einlassen, schränkte Medwedjew ein. Die „Installation eines Raketenabwehrsystems in unmittelbarer Nähe zum russischen Territorium“ müsse Russland jedoch als „direkte Bedrohung verstehen und dies bei der Gestaltung unserer Verteidigung berücksichtigen.“

Wer diese Rede nur für „powerplay“ oder Propaganda hält oder aus ihr nur eine blinde Reaktion Russlands auf das Raketen-Programm der USA in Polen und Tschechien heraushört, die aus Reflexen unverbesserlicher kalter Krieger resultiere, dem sei in Erinnerung gerufen, dass Russland unter dem Stichwort der Multipolarität spätestens seit Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung Anfang 2007 in München beständig die Reform der europäischen wie auch der globalen Sicherheits- und Bündnissysteme anmahnt – allerdings nicht in der Bedeutung, wie man es seit der Spekulationskrise und nach der Wahl Obamas neuerdings auch von westlichen Politikern und Medien hört. Sie verstehen unter Multipolarität die Erneuerung der Führungsmacht der USA, die mit „stärkeren Anforderungen“ an ihre Bündnispartner einhergeht.

Das russische Verständnis der Multipolarität beinhaltet demgegenüber eine gleichberechtigte Kooperation der in der Welt herangewachsenen neuen Mächte; das sind im Kern zumindest die BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien, China, zudem die EU und die USA, im Weiteren auch die Staaten des arabisch-iranischen, tendenziell, versteht sich, auch des afrikanischen und Ozeanischen Raums. Im selben Sinne tritt Russland für eine Aktivierung der OSZE/KSZE, für eine Reform der UN, der WTO, des IWF und für eine Öffnung der G7 zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Beratungsgremium ein.

Die Abrüstung der NATO von einem globalen westlichen militärischen Interventionsbündnis zu einer regionalen Sicherheitsorganisation spielt in Russlands Anmahnungen einer neuen internationalen Ordnung angesichts der aggressiven NATO-Expansion rund um Russlands Grenzen eine besondere Rolle, versteht sich. Mit seinem jüngsten Eingreifen im Kaukasus, einschließlich der anschließenden Anerkennung der beiden de-facto-Staaten Abchasien und Süd-Ossetien hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht gewillt ist, eine weitere Expansion der NATO hinzunehmen.
Hinter den von Medwedjew vorgetragenen Vorschlägen und Forderungen steht keineswegs nur Luft, wie die Mehrheit der westlichen Beobachter nach wie vor zu glauben scheint. Immer lauter werden in den letzten Jahren, beschleunigt durch die schrittweise Einführung des Euro seit 1999, die Absichten der Öl und Gas exportierenden Staaten, die seit 1972/3 bestehende Koppelung der Öl- und Gaspreise an den Dollar zu lösen und stattdessen in Euro, Yen oder – seit ein paar Jahren geplant und nun offen ausgesprochen – auch in Rubel zu kassieren.

Bisher konnten die USA, deren Dollar-Stabilität und damit weltweite Vormachtstellung mit der Bindung des Ölpreises an den Dollar steht und fällt, eine solche Entwicklung verhindern. Das Schicksal Saddam Husseins, der als erster Öl gegen Euro verkaufen wollte, ist bekannt. Nach ihm plante der Iran eine internationale Ölbörse, die sich vom Dollar unabhängig machen sollte. Solche Pläne dürften die Spannungen zwischen Iran und USA wesentlich mit verursachen.

Mit der Entwicklung Gasproms zum führenden Unternehmen eines eurasischen Gas- und Ölverbundes in den letzten Jahren haben diese Bestrebungen zur Löslösung des Gas- und Öl-Geschäfts vom Petro-Dollar einen neuen, aktuellen Schub bekommen: Hinter Medwedjews Überlegungen zur Umstellung der Öl- und Gas-Verkäufe auf Rubel steht nämlich die bisher weitgehend unbemerkt gebliebene Tatsache, dass die seit 1991 betriebene „atlantische“ Ost-Expansion von US- und EU-Konzernen mit der von Gasprom betriebenen Entwicklung der Ost-See-Pipeline im Norden und einer spiegelbildlichen „South-Pipeline“ im Süden ihre vorläufige Grenze gefunden hat. Beide Gasprom-Projekte werden Europa, in Konkurrenz zu US- und EU-Plänen, mit russischem, bzw. über Russland geleitetem zentralasiatischen Gas versorgen.

Mit der Einbindung von EU-Staaten – Bulgarien, Serbien, Ungarn, Slowakei, Österreich – in Planung und konkrete Vorbereitung dieser Pipelines hat Gasprom die seit 1990/91 verfolgte Strategie der USA und ihr folgend der EU durchkreuzt, durch den Ausbau eines Ost-West-Transportkorridors kaukasisches und zentralasiatisches Gas und Öl unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols an Russland vorbei in den Welthandel einzuleiten. Zwar ist die BTC-Pipeline, benannt nach den Städten Baku, Tiblissi und Ceyhan an der türkischen Küste seit 2005 in Betrieb; durch sie wird Öl aus Azerbeidschan über Georgien an die Türkische Küste gepumpt. In Planung ist zudem die von der EU auf Betreiben der USA projektierte Nabucco-Pipeline, die Gas aus Zentralasien durch das Kaspische Meer ebenfalls über Georgien und die Türkei nach Bulgarien und von dort über Ungarn nach Österreich schaffen soll. Von dort aus soll das Gas dann über Europa verteilt werden. Mit „North-Stream“ und „South-Stream“ wird Gas jedoch nicht mehr allein über die Nabucco-Pipeline in den Handel gelangen, sondern auch über das russische Pipelinenetz. In den Ländern der EU werden die Anlagen streckenweise direkt parallel neben einander verlaufen.

Sowohl „North-Stream“ als auch „South-Stream“ sind trotz intensivsten Einsatzes der USA für die Entwicklung eines einheitlichen EU-Energiesicherheitskonzeptes durch Sonderverträge zwischen Gasprom und einzelnen EU-Staaten zustande gekommen. Mit Turkmenistan hat Russland 2008 langfristige Verträge abgeschlossen, die vorsehen, dass turkmenisches Gas (wieder) durch russische Leitungen und später, wenn sie fertig gestellt ist, in „South-Stream“ eingespeist werden soll. Die Verhandlungen dazu begannen vor dem Krieg um Süd-Ossetien; gleich danach wurden sie endgültig abgeschlossen. Die Verwirklichung der Nabucco-Pipeline, die über das Stadium der Planung noch nicht hinausgekommen ist, steht damit in den Sternen, denn ohne turkmenisches Gas ist sie nicht wirtschaftlich zu betreiben.. Aber auch der Betrieb der BTC ist gefährdet, seit Azerbeidschan bestrebt ist, sich vom Diktat des 1991 abgeschlossenen „Jahrhundertvertrages“, der westlichen Multis die alleinige Ausbeutung der Vorkommen garantierte, durch „Diversifizierzung“ seiner Lieferungen an unterschiedliche Abnehmer zu emanzipieren.

Kurz, seit die russische Regierung in den ersten Amtsjahren Putins Gasprom von einem Selbstbedienungsladen zu einem effektiv arbeitenden international agierenden Konzern reformierte, noch einmal verstärkt, nachdem sie 2004 das Yukos-Imperiums aufgelöst und die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder an sich gezogen hat, ist ein Patt zwischen USA/EU und Russland im Zugriff auf die fossilen Energien jenes Raumes entstanden, den US-Stratege Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion unter der Bezeichnung „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“ als neuen Einflussbereich der USA reklamiert hatte.

Bei klarem Verstand ließe diese Sachlage eigentlich nur eine Lösung zu, wenn es nicht zu weiteren militärischen Konfrontationen im Kaukasus kommen soll: die Förderung und die Verteilung der Gas- und Öl-Ressourcen dieses Raumes kooperativ statt nebeneinander oder gar gegeneinander zu betreiben, gestützt auf einen Rat der kaukasischen und zentralasiatischen Anrainer. Medwedjew hat eine klare Ansage gemacht, wie Russland sich die Zukunft des Ölgeschäfts vorstellt: als Kooperation gleichwertiger Partner. Jetzt sind die USA und die EU am Zug, ihr Teil dafür zu tun, die nach der Wahl Obamas viel beschworene „neue Ära“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Zitat des Tages – multipolar

Unter der Überschrift „Die Krise und ihre Folgen“, war im Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2008 Folgendes höchst Interessantes zu lesen:

„Das Epizentrum der Krise liegt in der Wall Street; dort könnte das Ende der finanziellen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten eingeläutet werden. Amerika ist militärisch geschwächt und geopolitisch ermüdet. Die Welt befindet sich im Übergang vom amerikanischen Hegemon zu einer multipolaren Ordnung. Die Rechnung für die Krise wird nicht an einem Tag, sondern über Jahre beglichen. Es wird eine globale Lastenverteilung geben. Amerikas Gläubiger haften mit. Das kommunistische China hat geschätzt 500 bis 600 Milliarden Dollar in der Krise verloren. Die Devisenreserven der Volksrepublik schrumpfen täglich. Kaum besser ergeht es Russland und den Golfstaaten, die ihre Erlöse aus Öl- und Gasgeschäften künftig nicht nur in Dollar anlegen wollen. Diese und viele andere Länder sind der Wall Street gefolgt und enttäuscht worden. Das bevorstehende Gipfeltreffen der G-7-Staten könnte das letzte seiner Art sein. Es ist an der zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden. Das Beben an den Finanzmärkten führt zu einer tektonischen Verschiebung der politischen Machtverhältnisse der Welt. Darin liegen Risiken, aber auch Chancen für Europa.“

Wow! Gestern noch Gegenstand der Hetze, des Hohns oder bestenfalls als russische Marotte belächelt, sieht sich das Unwort der „Multipolarität“ unversehens zum Stichwort einer neuen Ordnung erhoben. Und nicht nur das: Mit einem Mal scheint es auch „an der Zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden.“ Was musste geschehen, damit eine seit zwanzig Jahren real stattfindende, aber beharrlich geleugnete Entwicklung der Diversifizierung, der Pluralisierung der Welt, der Entstehung neuer Zentren im globalen Geschehen plötzlich einen Ehrenplatz im Leitkommentar des konservativsten deutschen Blattes findet?

Bricht sich angesichts der Finanzkrise tatsächlich Bahn, was sich im Georgischen Krieg andeutete, aber noch nicht begriffen, sogar wütend bekämpft wurde? Dass nämlich die USA, die NATO, die Europäische Union nicht mehr allein über die Geschicke der Welt entscheiden? Dass es andere, neue Kriterien in den Beziehungen zwischen den Völkern geben könnte als die unilaterale Durchsetzung hegemonialer Interessen einer „einzigen Weltmacht“, wie die USA von ihrem wichtigsten Strategen, Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion getauft wurde? Kooperative, gleichberechtigte, auf friedliches Miteinander der Völker orientierte Beziehungen in einer gemeinsam gepflegten Welt.

Oder ist der Kommentar vielleicht gar nicht so zu verstehen? Ist mit „Einbindung“ vielleicht gar nicht Kooperation, Gleichberechtigung und friedliches Miteinander gemeint, sondern eben genau das, was Banker uns soeben weltweit vorführen – die Sozialisierung der Verluste, nachdem die Gewinne in Schwindel erregenden Höhen und brutalster jahrelang Weise privatisiert wurden? Soll „Einbindung“ diese Methode nun vielleicht nur in die Politik und auf die internationalen Beziehungen übertragen – Sanierung der USA auf Kosten der Welt, indem der „ermüdeten“ Weltmacht in Zukunft geholfen wird, die schwere Bürde der Weltherrschaft zu tragen? Barak Obamas Botschaft ging schon vor der Krise in diese Richtung.

Die Kritik, die Sbigniew Brzezinski in seinem neuesten Buch „Second Chance“ an Bush I, Clinton und Bush II (wie er sie aufzählt) vorbringt, endet mit dem Aufruf, die „Hybris“ der unilateralen Alleinherrschaft über die Welt hinter sich zu lassen und sich für Bündnispartner zu öffnen – jedoch ohne dabei den Anspruch auf Hegemonie zu hinterfragen, im Gegenteil, um ihn zu erneuern. Im selben Geiste führen Banker, Wirtschaftsbosse und herrschende Politik jetzt reihenweise vor, dass nicht etwa das „System“ die Ursache des Finanzcrashes sei, sondern Gier, Dummheit und Verantwortungslosigkeit einzelner Personen. Einzeltäter.

Mehr noch und wahrlich schon grotesk in seinen konkreten Formen der Darstellung: Um nur „das System“ nicht in Frage stellen zu müssen, verwandeln sich Ideologen und Praktiker des seit dem Ende der Sowjetunion propagierten und praktizierten Neo-Privatismus reihenweise in Fürsprecher eines neuen Etatismus: der Staat soll es richten. Aber wer, bitte sehr, ist heute „der Staat“? Der Staat ist heute mehr denn je nichts weiter als der „geschäftsführende Ausschuss“ des Kapitals. Das war er im „realen Sozialismus“, das ist er allen „Deregulierungen“ und selbst Mafianisierungen zum Trotz auch in der nach-sozialistischen Globalisierung und wird es bleiben – wenn nicht Wirtschaft und Gesellschaft endlich personell und institutionell getrennt werden.

Die Lösung liegt nicht darin, vom Neo-Liberalismus zum Staatsdirigismus zurückzupendeln, um wie Hamster im Käfig dann wieder zum Liberalismus zurückzukehren und so never ending wie eine Ratte immer wieder dasselbe Rad von Liberalismus zum Dirigismus zu durchlaufen. Die Aufgabe – und auch die Chance – besteht vielmehr darin einen Weg zu finden, der die zur Zeit bestehende Totalität eines mit der Wirtschaft undefinierbar verflochtenen sich selbst irgendwie regulierenden Staates, also einer Totalität, der die Gesellschaft in sich aufsaugt, differenziert, in eine Entflechtung von Wirtschaft, Staat und geistiger Lenkung überführt. Wirtschaft, Staat und Kultur im Sinne geistiger Orientierung müssen als drei voneinander unabhängige, gleichwertige Teile der Wirklichkeit miteinander kooperieren.

Nur so werden wir aus der bloßen Wiederholung des ewig gleichen Kreislaufes herauskommen. Das Gleiche Prinzip gilt auch für die globale Ordnung, bei der es auch nicht nur darum gehen kann, die bestehende Hegemonie eines Superimperiums USA, einer mit den USA verbundenen EU durch „Einbindungen“ Russlands, Chinas oder anderer zu stützen, was zweifellos auch geschehen muss, um schlimmste Abstürze zu verhüten. Es geht vielmehr darum eine kooperative Wechselwirkung voneinander unabhängiger, gleichberechtigter Integrationsräume und Kulturen herzustellen, die sich in gegenseitiger Hilfe verbinden, genauer, die schon vorhandenen Ansätze und Möglichkeiten dazu zuzulassen und zu fördern.
Es sei vielleicht noch ein Letztes angemerkt, um diese kleine Betrachtung, die nur eine Anregung sein kann, abzurunden: Der multipolaren Weltordnung und der skizzierten multisektoralen Organisation von Staat Wirtschaft und Kultur entspricht die Entwicklung eines multidimensionalen Menschen. Das sind Menschen, die sich nicht mehr allein durch Geburt, Blutsbande, Nation, vorgegebene Religionen oder Leitkulturen oder auch durch ihren Lohnberuf, sondern durch die freie Wahl ihrer Beziehungen zu anderen Menschen und Kulturen wie zu der von ihnen gewünschten Tätigkeit definieren.

Dies alles wäre der Umkreis des Wortes „Multipolar“, wenn man es nicht zur Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, sondern zu deren Transformation heranzieht. Die gegenwärtige Krise und ihre Folgen geben die Chance dazu.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Brennglas Kaukasus

Die jüngste Eskalation im Kaukasus, die mit der Offensive Georgiens gegen Südossetien in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 in einen offenen Krieg überging, kam nicht überraschend. Seit dem Zerfall der Sowjetunion laufen die Konfliktlinien neuer Staatenbildung ebenso wie die der Neuordnung der geopolitischen Kräfteverhältnisse in dieser Region wie in einem Brennglas zusammen.
Die lokalen Ursachen der Konflikte liegen zweifellos in der ethnischen Vielfalt des Kaukasus. Historisch ist der Kaukasus Durchgangsraum zwischen dem Osten und dem Westen Eurasiens sowie zwischen der eurasichen und der afrikanischen Landmasse. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch „wilde Land“, in das schon Griechen und Römer sich nur ungern begaben. Die russischen Zaren unterwarfen sich das Gebiet als Zugang zu den warmen südlichen Meeren, für die Sowjetunion wurde es Kornkammer und Energielieferant; für die russische Föderation ist es heute die Achillesferse ihrer Stabilität.
Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Sie alle sind ein spätes Produkt der Sowjetzeit. Hatte Lenin von 1917 bis 1921 noch versucht durch eine Politik der „Korennisazija“, Verwurzelung, der Vielfalt gerecht zu werden, damit jedes Volk in den sowjetischen Machtstrukturen mit eigenen Repräsentanten vertreten sein könne, so wurden viele der von ihm gewährten Autonomierechte durch Stalins Gebietsreformen, später Deportationen ganzer Völker wieder rückgängig gemacht. Einige der Kriege, die um die 90er aus dieser Geschichte hervorgingen, überlebten als „eingefrorene Konflikte“: so Berg Karabach zwischen Aserbeidschan und Armenien, die Djnesterrepublik als Abspaltung von Moldawien, Abchasien und Südossetien als Gebiete, auf die Georgien Anspruch erhebt.
Abchasien und Südossetien haben eine besonders unruhige Geschichte. Beide Gebiete wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich, das 929 vom georgischen geschluckt wurde. Als dieses sich Ende des 15. Jahrhunderts spaltete, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.
Im 16. Jahrhundert gerieten Abchasen wie auch Geogier in den Einzugsbereich des Osmanischen Reiches. 1810 kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. Ein bolchewistischer Aufstand in Abchasien wurde von Georgischen Menschewiki im Juni 1918 niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgische Republik unterworfen hatte, erhielten Georgien und Abchasien den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft. Dies alles war immer wieder von Kämpfen begleitet.
Osseten und Geogier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Georgier besiedelten das Gebiet an der Südgrenze Russlands im 17. Jahrhundert; die Osseten wanderten im 18. Jahrhundert zu. Sie wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien aufgeteilt. Als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten).
Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.

Das nahende Ende der Sowjetunion ließ 1989 die alten Konflikte aufbrechen. Demonstrationen für eine abchasische Unabhägigkeit in Tiblissi wurden am 9. April 1989 von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.
Im März 1990 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und liess einmarschieren.     Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinwali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer de-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinwali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan. („Russland Analysen“, S. 4)
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung so genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Anfang November kam es zu Massenprotesten, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte, die selbst sonst russlandkritische Beobachter wie die in Bremen herausgegebenen „Russland Analysen“ zu der Frage führte: „Wer hat welchen Anteil an der Eskalation? Die Frage ist nicht einfach. Der Krieg ging aus einer sich im März 2008 verdichtenden Ereigniskette gegenseitiger Provokationen zwischen georgischen, ossetischen und russischen Akteuren hervor. Wie es dann zu der unseligen georgischen Offensive gegen Zchinwali vom 7.-8. August kam, bleibt gleichwohl eine offene Frage, die der georgische Präsident vor allem seinem eigenen Land zu beantworten hat.“
Bleibt festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland s durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, daß die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin in einer Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien. Außerdem wurden im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, daß Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu entschärfen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet war von Russland öffentlich gemacht worden, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russische Angriff zuvorkommen müssen wird  selbst von seinen eigenen Militärs der Unwahrheit bezichtigt (siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008). Nachträgliche Untersuchungen belgischer Abgeordneter kamen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Stadt Zchinvali nicht durch „Kämpfe“ zerstört worden sei, sondern dass sie bereits durch georgischen Beschuß dem Erdboden gleichgemacht war, bevor das russische Militär die georgischen Angreifer zurückschlug. Ob dabei die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist unter westlichen Völkerrechtlern umstritten.

Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – sei auch ein de-facto-Staat, als die Abchasien und Ossetien seit dem Zerfall der Sowjetunion nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne er sich von außen Hilfe zum Selbstschutz herbeirufen.
Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch der geltenden Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden. Es gibt da aber einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:

Da ist zuallererst die Tatsache, Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbarer gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland wieder einmal unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen. Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt. Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline Baku – Tiblisi – nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, demnächst auch noch das EU-Projekt der Nabuko-Linie von Baku über Tiblisi, Ankara direkt nach Südeuropa. Das hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi, seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut Hintermann Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte. Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es leben muss. Nach den neuesten Ereignissen stellt sich die Frage, wer auf dem kaukasischen Brett jetzt den nächsten Zug tut.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Quellen und weiterführende Literatur:

1. Russland Analysen 169
2. Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
3. laufende Berichterstattung von russland.ru
4. Stephan Bernhardt, Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08
5. Mündliche Berichte

6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99

veröffentlicht in: Gazette

Russland – Ende der Ohnmacht?

„Russlands außenpolitische Strategie besteht nach wie vor aus einer einzigen Idee: dem Panzer“. So war es in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15.08.2008 zu lesen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erschien eine Woche später unter dem Titelbild eines sowjetischen Panzers, der 1968 zur Niederschlagung der Proteste in Prag einfährt. Darunter der Kommentar „Déjà vue. Budapest 1956? Grosny 1999? Gori 2008?“ Im „Spiegel“ konnte man die gleichen Bilder sehen. In dieser Berichterstattung geht es nicht darum, was in der Nacht vom 7. auf den 8. August in Zchinwali geschah, das Massaker des Georgischen Militärs an der zivilen Bevölkerung einer schlafenden Stadt und die Folgen dieser Ereignisse. Hier geht es nur noch um die Frage, wie Russland darauf reagierte und welche, angeblich aggressiven Ziele es mit seinem Eingreifen verfolgte. Zeit also sich dieses Aspektes genauer anzunehmen.
„Der Plan war, die Schuld auf Russland zu schieben“, erklärte Michail Gorbatschow in einem Interview mit CCN am 18.8.2008. Die USA habe Georgien seit Jahren aufgerüstet. Aber statt eine „Militarisierung der Welt“ zu betreiben, sei es notwendig die „neuen Realitäten wahrzunehmen“, die eine Kooperation Russlands und den USA erforderten. „Die Vereinigten Staaten sollten nicht glauben, dass jedes Problem militärisch gelöst werden könne.“
Mit dieser Position folgt Gorbatschow, heute als Privatmann, der Grundlinie russischer Außenpolitik, die sich – bei allen Wandlungen und scharfen Widersprüchen im Detail wie im tschetschenischen Krieg – von seiner Zeit als letzter Parteisekretär der Sowjetunion bis zu Medwjedew durchzieht. Die Unterschiede liegen dabei weniger im Wollen, als im Können.
Gorbatschows neue Militärdoktrin propagierte ein kooperatives, multipolares Weltbild und damit verbunden eine weltweite Entmilitarisierung und Abrüstung. Das geschah in Abwendung von der Konfrontationslogik des Kalten Krieges und in Anlehnung an chinesische Vorstellungen.
Im Klima des „Neuen Denkens“ waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnaze, wie die Historikerin Susan Eisenhower berichtet, sogar gutgläubig genug, den Westmächten ihr mündlich gegebenes Versprechen abzunehmen, die NATO nicht über die deutsch-deutsche Grenze nach Osten auszuweiten zu wollen, wenn Russland sich aus Ost-Deutschland zurückzöge.
Schon Boris Jelzin jedoch sah sich mit dem Beginn der Ost-Erweiterung der NATO konfrontiert; sein Außenminister Kosyrew versuchte dem mit dem Eintritt Russlands in den NATO-Russland-Rat zu begegnen. Erfolglos, Ergebnis war eine zunehmende Westabhängigkeit Russlands. Nach dem Eingreifen der NATO in Jugoslawien intensivierte Jelzin daher Russlands Beziehungen zu China. Kosyrews Nachfolger Primakow verstärkte die Öffnung Russlands nach Süden und Osten. Das hieß: Rückgewinnung russischen Einflusses im Nahen Osten, Dreierallianz mit Indien und China, Union mit Weißrussland.
Mit dem Antritt Putins kehrte Russland voll und ganz zum Konzept der Multipolarität der 90er Jahre zurück, als Putin erklärte, er wolle ein staatlich erstarktes Russland wieder zum Integrationsknoten in Eurasien machen, ohne sich dabei von Europa oder den USA abwenden zu wollen. Ausdruck dieser Politik war die Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin 2002, die Russland als Militärmacht neu definierte, die Festigung der Beziehungen zur GUS, die weitere Intensivierung der Beziehungen zu China, die aktive Teilnahme in der Entwicklung der 2003 gegründeten „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ), der Ausbau des BRIC-Bündnisses (Brasilien, Russland, Indien, China). Gleichzeitig kooperierte Russland weiter mit der EU und den USA, wurde Mitglied der G7, die mit Russland zur G8 wurden, und betrieb Vorbereitungen für den Eintritt in die WTO. Leider gehörte auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als „Einmischung in seine innere Angelegenheiten“ verbat.
Die Ausweitung der NATO wie auch der EU, die nach der Einbeziehung Ost-Europas auch vor der Ukraine und den Staaten des Kaukasus nicht Halt machte, sowie die US-Aktivitäten zur Stationierung von Raketenabfangstationen in Polen und Tschechien veranlassten Wladimir Putin im Februar 2007 nach Abschluss der offenen Kriegshandlungen in Tschetschenien schließlich zu einem neuen Schritt. Auf der jährlichen Sicherheitstagung der NATO in München kritisierte er die Einkreisung Russlands durch NATO und US-Politik und die von den USA betriebene Militarisierung der internationalen Beziehungen und trug Russlands Vorstellungen einer kooperativen internationalen Ordnung als Alternative vor.
Die USA sowie die NATO-Staaten gaben sich schockiert, versuchten Putin als Aggressor, gar als Faschisten zu isolieren. Aus der SOZ, aus dem BRIC-Bündnis, aus dem arabischen Raum kam Beifall, selbst aus der EU kam verhaltene Zustimmung. Die Frage stellte sich nur, ob Russland die neue Rolle, die Putin reklamierte, auch tatsächlich ausfüllen könne.
Eine aktuelle Antwort darauf gab der russische Außenminister Lawrow, als er am 23. Januar 2008 im Pressezentrum des russischen Außenministeriums der internationalen Öffentlichkeit die neue außenpolitische Strategie Russlands vorstellte, die den „Forderungen der gegenwärtigen Etappe der Weltentwicklung“ entspreche. Das „Wesen dieser Etappe“, so Lawrow, sei „die sich objektiv entwickelnde Multipolarität“ und die „objektiv steigende Rolle der multilateralen Diplomatie.“ Davon, setzte er ausdrücklich hinzu, müsse er wohl niemanden erst überzeugen. Auf dieser Grundlage verfolge Russland eine Politik „des Pragmatismus, der Multivektoralität, der Bereitschaft mit allen zusammenzuarbeiten, die es wollen, und unsere nationalen Interessen fest, aber ohne Konfrontation zu verfolgen“. Russland trete für die „Festigung der kollektiven Rechtsgrundlagen in internationalen Angelegenheiten“ ein. Das entspreche auch den Anforderungen der Globalisierung.
Leider gebe es auch Rückgriffe auf Blockpolitik, auf ideologisiertes Herangehen, gebe es Versuche einer Region Konfrontationen aufzuzwingen und die Weltpolitik zu remilitarisieren – das alles gebe es. Er, Lawrow, sei jedoch tief überzeugt davon, dass dies der Grundentwicklung der internationalen Beziehungen zuwiderlaufe. Das Streben nach kollektivem Vorgehen, nach der Stütze auf das Völkerrecht liege den gegenwärtigen Aufgaben und Interessen der ganzen Menschheit näher. Russland, erklärte er, habe keinerlei feindliche Absichten gegenüber irgendeinem Land. „Wenn aber die Partner ein gemeinsames Vorgehen ablehnen, „so Lawrow, „dann werden wir natürlich eigene Entscheidungen treffen müssen, und dabei werden wir vor allen Dingen von unseren nationalen Interessen ausgehen und auch“, fügte er noch einmal sehr deutlich hinzu, „vom Völkerrecht.“
Dies alles mochte noch nach Wiederholung bekannter Absichten klingen, zumal mögliche Lehren aus dem tschetschenischen Krieg nicht erwähnt wurden. Ein neuer Ton war dennoch zu hören, als Lawrow seiner Erklärung hinzufügte, nach der Stabilisierung des Landes in den letzten acht Jahren unter Wladimir Putin, „haben wir jetzt erstmals in der Geschichte die Möglichkeit und die finanziellen Ressourcen, all diese Aufgaben parallel zu lösen und uns dabei auf den neuen Stand Russlands zu stützen, das die steigende Verantwortung in internationalen Angelegenheiten tragen kann.“
Mit dieser Erklärung war Russlands Anspruch angemeldet, die Wahrnehmung eigener Interessen mit seiner neuen Rolle als Impulsgeber einer multipolaren Ordnung effektiv anzutreten. Russlands Pluralität, seine Orientierung auf die innere Modernisierung, sein Wiedereintritt in seine Rolle als Großmacht Eurasiens, die nicht mehr integriert wird, sondern selbst integriert, bilden die Basis dieser Politik. Das gilt ebenso für Russlands Außenpolitik, die den Impuls internationaler Pluralität stärkt und auf geltendes Völkerrecht orientiert. Es gilt auch für Russlands neue Rolle auf dem globalen Finanzmarkt, für seine Beitrittsabsichten zur WTO, deren Regeln es im kooperativen Sinne zugleich verändern will.
Die Vorgänge im Kaukasus sind somit auch aus russischer Sicht das Signal für den Eintritt in eine neue Phase der internationalen Beziehungen. So nicht weiter, Herr Bush! Könnte man sie übersetzen. Hier beginnt Russland! Hier beginnt die Notwendigkeit von Absprachen, statt der weiteren Militarisierung internationaler Beziehungen. Hinter sein aktuelles Eingreifen im Kaukasus wird Russland nicht zurück gehen. Vor Veteranen erklärte der russische Präsident Medwjedew, jeder weitere „Versuch einer Brandstiftung“ werde von Russland in gleicher Weise beantwortet werden. In Zukunft, heißt das, werden die USA, wird die EU mit Russland als offensivem Vertreter einer anderen als der amerikanischen Weltordnung rechnen müssen und – das ist als vielleicht sogar als kleine Hoffnung hinzuzufügen – auch können.
Zugleich wird die Schwäche der USA wie auch der EU deutlich, die zwar Georgien aufrüsten konnten, einen offenen Krieg mit Russland jedoch unter keinen Umständen riskieren können und wollen – solange rationales Abwägen von Gewinn und Verlust das politische Handeln bestimmt. Zu erwarten sind allerdings weitere Nadelstiche im engeren und im weiteren Integrationsraum Russlands, um es zu einer aggressiven Wahrnehmung seiner Interessen zu provozieren wie zuvor in Tschetschenien und so seine Rolle als neuer Impulsgeber einer multipolaren Alternative zu desavouieren. Wie Russland mit dieser Herausforderung umzugehen imstande sein wird, wird sich zeigen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putins Jahresbotschaft: Ein „strategischer Fehler“?

Die Rede, die Wladimir Putin Ende April an die beiden Kammern des russischen Parlamentes hielt, sorgt weiter für außenpolitische Aufregung, obwohl sie sich vornehmlich innenpolitischen Themen Russlands widmet und eher ein Vermächtnis des scheidenden Präsidenten an seinen Nachfolger zu verstehen ist. Von „Neuer Eiszeit „ ist die Rede; Putin drohe dem Westen, konnte man in der FAZ lesen. NATO, ebenso wie EU-Spitzen drückten ihr „Bedauern“ aus, fordern Erklärungen von Russland, was gemeint sei. Dabei müsste man nur zitieren, was Putin gesagt hat, um Fragen danach, was er gemeint haben könnte, bereits beantwortet zu haben:
Putin drohte weder, noch rief er eine neue Eiszeit aus, er sprach nicht einmal eine Kündigung des Rüstungskontroll-Vertrages aus – er machte nur einen Vorschlag, nämlich die aus Sicht Russlands im Zusammenhang mit dem KSE-Vertrag entstandene neue Situation und die damit zusammenhängenden Probleme im Russland-NATO-Rat neu zu beraten. Erst für den Fall, dass keine Ergebnisse durch Verhandlungen erzielt werden könnten, schlägt Putin der zukünftigen russischen Regierung vor, darüber nachzudenken, ob Russland den Vertrag einseitig kündigen müsse. So kann aus dem Vorschlag eine Forderung werden, aber keine Drohung.
Betrachtet man Putins Begründung, dann erscheinen die Reaktionen von NATO, EU und der Mehrheit der westlichen Medien unverhältnismäßig: Der Vertrag sei zwischen NATO und Warschauer Pakt geschlossen worden, so Putin. Inzwischen existiere der Warschauer Pakt aber nicht mehr, dafür sei die NATO bis an die Grenzen Russlands vorgerückt. Russland habe die Bedingungen des Vertrages erfüllt. Fast alle schweren militärischen Waffen seien aus dem europäischen Teil Russlands zurückgezogen worden. Einige der neuen Mitglieder der NATO, so die Baltischen Staaten und die Slowakische Republik hätten den Vertrag dagegen bis heute nicht unterzeichnet. Mehr noch, jetzt planten NATO und USA Raketen in Polen und der tschechischen Republik aufzustellen, deren angeblicher Zweck, Europa vor Iranischem Terrorismus zu schützen für Russland nicht nachvollziehbar sei. Zudem müsse man die US-Abfangraketen als „Element des strategischen Waffensystems“ der USA begreifen, das auf diese Weise erstmals in Europa stationiert werde. Aus all dem ergebe sich eine neue Sicherheitslage nicht nur für Russland, sondern für Europa, die nicht nur in der NATO, sondern auch in der Organisation für Sicherheit- und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Kreise aller von diesen Fragen betroffenen Staaten gleichberechtigt beraten werden müsse.
„Worüber wir sprechen“ so Putin in einer auf seine konkreten Vorschläge folgenden Begründung, „ist eine Kultur der internationalen Beziehungen, die auf internationalem Recht beruht – ohne Versuche, Entwicklungsmodelle aufzuzwingen oder den natürlichen Gang des historischen Prozesses zu forcieren. Das macht die Demokratisierung des internationalen Lebens und einer neuen Ethik in den Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern besonders wichtig. Es erfordert ebenfalls die wirtschaftliche und humanitäre Kooperation zwischen Ländern.“
Mit diesen Positionen knüpft Putin an die Vorschläge an, die er schon bei der letzten sog. Sicherheitskonferenz der NATO in München vortrug: Die von den USA betriebene Militarisierung der der internationalen Beziehungen zu beenden und stattdessen in kooperative Verhandlung zu Abrüstung auf allen Ebenen einzutreten, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraums. Wieso die Konkretisierung dieser Positionen auf Verhandlungen zu einer Neufassung der KSE- und OSZE-Verträge „bedauerlich“ sind, was an ihnen geeignet ist, eine „Neue Eiszeit“ einzuleiten und was dergleichen mehr Bewertungen sind, ist schwer zu erkennen. Das gilt auch dann, wenn man richtig davon ausgeht, dass Wladimir Putin seine Vorschläge selbstverständlich nicht naiv wie ein Erstklässler, sondern unter Berücksichtigung und Ausnutzung der gegebenen globalen Kräfteverhältnisse, also auch mit der Absicht vorbringt, für Russland Boden damit zu gewinnen.
Selbstverständlich zielen seine Vorschläge auch auf eine Schwächung der „atlantischen Bindungen“, so wie die Pläne der USA, Raketen in Ost-Europa stationieren zu wollen, weniger auf einen Schutz Europas, als auf eine Störung der von den USA gefürchteten strategischen Beziehung zwischen EU und Russland zielen. Das sachliche Für und Wider wird ohnehin gesondert verhandelt.
Offensichtlicher Ausdruck des Erfolges der einen wie der anderen Seite bei diesem Ringen um Europa sind jedoch die Positionen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der die derzeitige Diskussion um das geplante US-Raketenschild „ebenso problematisch“ findet wie Putins Ankündigung den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte neu zu beraten, bzw. auszusetzen.
Ob Putins Auftritt dagegen, wie Alexander Rahr von der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ meint, „viel zu schroff“ und daher ein „strategischer Fehler“ gewesen sei, der Angela Merkel in eine peinliche Situation bringe, nachdem sie erst versucht habe, die Beziehungen zu Russland weiter auszubauen, ohne sich in Konfrontation zur Bush-Administration zu begeben, wird man bezweifeln dürfen. Die innenpolitische Schwerpunktsetzung, die der scheidende Präsident seinen Landsleuten mitgab, macht mehr als deutlich, dass Russland sich vom Westen nicht mehr gängeln lassen will, es aber auch nicht mehr muss. Damit wird der tiefere Hintergrund westlicher Beunruhigung sichtbar.
Seit 2000, so Putin im Blick zurück auf die „schweren Zeiten“ unter seinem soeben verstorbenen Vorgänger Boris Jelzin, habe sich die Situation Russlands zum Guten entwickelt. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. „Wir haben Geld“, so Putin schlicht. Es komme jetzt es nur darauf an, es richtig einzusetzen, um die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur des Landes gezielt zu entwickeln.
Nicht allen jedoch, so Putin weiter, gefalle die stabile Entwicklung des Landes. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. US-Freund Kasparow Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei. Ob Gesetze gegen den Extremismus das richtige Mittel zur Abwehr ausländischer Interventionen sind, soll hier offen bleiben. Putins Rede signalisiert, dass Russland selbstbewusst seinen eigenen Weg sucht. Für die Mehrheit westlicher Medien ist damit offenbar schon der Tatbestand der Aggression erfüllt.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung

An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden. Continue reading “Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung” »

Russland: Wohin ohne Putin?

Es ist Schaltzeit. In Russland wird die Uhr für die Zeit nach Putin gestellt, in den USA für die Zeit nach Bush. Aber anders als in den USA, aus deren Wahlkampf scharfe Signale die Welt erreichen, kommen aus der russischen Vorwahlzeit ruhige Töne, die auf einen bruchlosen Übergang von Putin zu seinem Nachfolger orientieren; 75% der russischen Bevölkerung würden es begrüßen, wenn gar nicht gewählt werden müsste und Wladimir Putin auch eine dritte Amtszeit über das Amt des Präsidenten ausübte.
Da Putin sich nun aber entschlossen hat, die russische Verfassung zu achten, die drei Amtszeiten hintereinander verbietet, und an seinerstatt einen Nachfolger vorschlägt, unter dessen Präsidentschaft er als Ministerpräsident weiter die Geschicke Russlands mit gestalten will, sind keinerlei Überraschungen zu erwarten. Die Wahl wird faktisch zu einem Plebiszit über einen abgesprochenen, ruhigen Machtwechsel.
Dazu passen die letzten Auftritte Putins, insbesondere vor dem Staatsrat Anfang Februar sowie seine letzte große Pressekonferenz vor mehr als 1300 russischen und ausländischen Medienvertretern, in denen er nicht nur Bilanz zog und strategische Aufgaben der Zukunft skizzierte, sondern Kritikern der Regierungspolitik versprach, sich um die von ihnen vorgebrachten Dinge kümmern zu wollen.
Schaut man nicht durch die Brille westlicher Voreingenommenheit, nimmt man ernst, was Putin erst dem Staatsrat, also dem Kabinett, den Spitzen der Politik und führenden Generälen, dann der nationalen und internationalen Öffentlichkeit mitzuteilen hatte, nämlich Orientierung auf die Stärkung der russischen Wirtschaft, die vor ausländischem Einfluss geschützt werden müsse, und Entwicklung einer neuen Sicherheitsstrategie, zu der Russland durch den Druck des Auslands gezwungen werde, dann wird klar, worum es beim russischen Machtwechsel geht: Um die Sicherung der in acht Jahren putinscher Präsidentschaft mühsam wieder hergestellte russische Staatlichkeit und Einheit des Landes.
Man erinnere sich: Bei Übernahme der Präsidentschaft im Jahre 2000 war das Land in Regionen, Bezirke und oligarchische Herrschaftsbereiche zerfallen. Jelzin war seit 1996 Präsident von Beresowskis Gnaden. Presse und Medien waren in den Händen der Oligarchen, die miteinander Krieg um die fettesten Stücke der Privatisierung des Gemeineigentums führten. Jelzins „Familie“ war in diese Machenschaften tief verwickelt. Mord aus wirtschaftlichen Gründen war an der Tagesordnung. Die Netze der sozialen Versorgung waren zerrissen. Steuern wurden ebenso wenig gezahlt wie Gehälter, Löhne, Renten. In Tschetschenien steigerte sich der Zerfall bis zum Terrorismus. Russen sahen ihr Land, auch außenpolitisch, auf den Stand eines Entwicklungslandes reduziert.
Mit Putins Übernahme der Präsidentschaft trat Russland in eine Phase der Wiederherstellung minimalster staatlicher Funktionen ein. Die Ankündigung, mit der er als Mr. Nobody antrat, lautete schlicht: Wiederaufbau staatlicher Autorität vom sozialen Netz bis hin zur Grenzsicherung gegenüber den aus der Sowjetunion ausgeschiedenen Nachfolgestaaten, den umkämpfen Grenzbereichen und Wiederherstellung eigener, souveräner Beziehungen Russlands im eurasischen und globalen Maßstab.
Es soll an dieser Stelle nicht weiter in Details gegangen werden. Man kann jedoch nicht oft genug an diese Tatsachen erinnern, denn allein sie erklären die ungeheure Zustimmung, die Wladimir Putin entgegen wuchs, als er 1999 mit dem Versprechen die Macht übernahm, eine „Diktatur des Gesetzes“ herzustellen, denn das bedeutete nichts anderes als ein Minimum an Sozialität in die russische Gesellschaft zurück zu bringen, die sich im freien Fall befand. Jetzt, nach acht Jahren, kann Putin feststellen: Wir haben es geschafft und verspricht es weiter schaffen zu wollen und man kann nur bestätigen: Trotz Krise gelang es Russland nicht nur zu überleben, sondern auch noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Diese Zustimmung hält bis heute an.
Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde. Schließlich ist es auch die Disziplinierung der Oligarchen, die sich in der Flucht des Medien-Eigentümers Wladimir Gussinskis nach Spanien, der grauen Eminenz der Jelzin-Ära, Boris Beresowskis nach England und der Verhaftung und Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowski niederschlug.
Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu sind: Neue Militärdoktrin seit 2002, die das vom damaligen Außenminister Kirijenko formulierte Credo der Jelzin-Ära beendete, dass Russland heute keine Verteidigungsarmee mehr brauche. Einen Wendepunkt markierte Putins Auftreten bei der Münchner NATO-Tagung 2006, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er es formulierte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es ein Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft. Diese Entwicklung wurde möglich durch eine, so könnte man es nennen, konsequent „opportunistische“ Politik Russlands zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten, die Russland in die Rolle eines Protagonisten einer multipolaren Welt brachte. Diese Rolle war Russland in den Jahren seit Putins Amtsübernahme in aller Stille zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wurde sie vor aller Augen benannt. Mit dem Besuch Putins in Teheran Ende 2007, die zeitgleich zu Konferenzen des Shanghaier Bündnisses wie auch der Anrainer des kaspischen Meeres stattfand, zeigte Russland den USA auch praktisch die rote Karte. Die Teilnehmer der kaspischen Konferenz – Kasachstan, Tadschikistan, Iran, Aserbeidschan, Russland – versicherten sich gegenseitig, keine unabgesprochene Gas- und Ölförderung durch das kaspische Meer und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Gebiet, die gegen eins der an der Konferenz beteiligten Länder gerichtet sei, zuzulassen. Das Shanghaier Bündnis der zentralasiatischen Staaten nahm den Iran demonstrativ als assoziiertes Mitglied in seine Runde auf. Putins Auftritte vor der Wahl stehen in dem Bemühen, Leitlinien vorzugeben, die ihm auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Präsidentenzielen erlauben als Ministerpräsident den jetzt verfolgten Kurs auf neuer Ebene fortzusetzen.
Wladimir Putin und Dimitrij Medwjedew scheinen sich auf eine Art Arbeitsteilung, um nicht zu sagen Doppelherrschaft geeinigt zu gaben, salopp gesagt, Putin für´s Grobe in der Außenpolitik – Medwjedew für´s Feine in der Innen¬ Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jedenfalls geben sie sich gegenwärtig den Anschein, wenn Medwjedew erklärt, sich zukünftig mehr auf die Wirtschaft und weniger auf außenpolitische Belange konzentrieren zu wollen, während Putin schon jetzt, noch wenige Wochen vor seinem Abtritt erklärt, er werde an der NATO-Sicherheitskonferenz in im April in Bukarest teilnehmen. Bei genauerem Hinsehen sind Medwjedews Absichten keineswegs fein, wenn er erklärt, er wolle für neue Impulse in der Sozialpolitik sorgen, indem er die jetzt mit sozialen Fragen beauftragte Bürokratie zugunsten privater mittelständischer unternehmerischer Initiative abbauen wolle. Das klingt gut, ist aber praktisch nur eine neue Verpackung für die schon einmal gescheiterten Absichten der russischen Regierung, kommunale Dienstleistungen zu monetarisieren. Putin andererseits erklärt trotz aller Interventionsversuche der USA und trotz Zuspitzung des Kosovo-Konfliktes, er Russland wolle auch in Zukunft freundschaftlich mit den USA kooperieren. Man darf gespannt sein zu welcher Seite hin sich diese Doppelherrschaft zukünftig auflösen wird.

Kai Ehlers

Wahlen in Russland – ein Mandat wofür?

Russland hat gewählt. Die von Putin angeführte Partei erhielt mit 63,5% der abgegebenen Stimmen, bei 60% Walbeteiligung, die absolute Mehrheit. Aber was war das? Eine Wahl? Oder vielleicht eher ein Referendum wie die russische Tageszeitung „Wedemosti“ fragt? Verlief die Wahl korrekt oder war sie ein gigantischer Betrug?

Die Bewertungen gehen so weit auseinander wie Russland groß ist. KP-Chef Szuganow spricht von gigantischer Fälschung und will Protest organisieren; ebenso Gari Kasparaow und die Liberalen. Sie beklagen „flächendeckende“ Beeinflussung, massive Einschüchterung und offene Wahlfälschungen und wollen damit vor Gericht ziehen. Die Regierungen der USA, der EU, die deutsche Bundesregierung fordern „Aufklärung“ von der russischen Regierung über „Unregelmäßigkeiten“ bei der Wahl, die demokratischen Standards nicht entsprochen habe. Vertreter der Shanghai-Organisation, der GUS-Staaten dagegen erklären demonstrativ, die Wahlen seien ordnungsgemäß und den Gesetzen entsprechend verlaufen.

Aus der OSZE hört man widersprüchliche Signale: Einerseits wird die Vermischung von Staat und Parteien beklagt, die nicht zuletzt durch Putins Kandidatur an der Spitze von „Einheitliches Russland“ zustande gekommen sei; dadurch seien die Wahlen „ungerecht“ gewesen. Andererseits bestätigte der Vizepräsident der OSZE Kiljunen, in einem Interview in Radio Moskau, die Wahlen seien „normal“ verlaufen. Wenn einige Wähler außerhalb der Walkabine ihre Stimme abgegeben hätten, dann müsse man sehen, dass dies eine „alte Tradition bei russischen Bürgern“ sei. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen; wer nicht dabei war, kann nur staunen über die Vielfalt der unterschiedlichen Wahrnehmungen. Am Besten fährt man mit dem neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, dem Parteilichkeit zugunsten Russlands kaum unterstellt werden kann: Er konstatiert, dass die Wahlen Putin gestärkt hätten „und unabhängig von unseren Einschränkungen, die die Wahlstandards angehen, ist das dennoch die Wahl der Russen. Ich sehe keinen Grund, warum wir sie in Zweifel ziehen sollten.“

In der Tat gibt es keinen Grund, diese Sicht in Zweifel zu ziehen: das Ergebnis der Wahl, wie man es auch dreht und wendet, ist ein eindeutiges Mandat für Wladimir Putin, der vor der Wahl erklärt hatte, einen Sieg der Partei „Einheitliches Russland“ werde er als moralische Berechtigung betrachten, im Staate weiterhin eine führende Funktion auszuüben.

Die Frage ist allein: Welche Funktion könnte das sein? Darüber wurde schon vor der Wahl heftig spekuliert, nachdem Putin klargestellt hatte, dass er keine dritte Amtszeit anstrebe. Auch jetzt wird weiter gerätselt. Wird er als Ministerpräsident antreten? Baut er sich auf dem Umweg über einen schwachen Präsidenten als Präsident in Spe auf? Wird er als Aufsichtsratsvorsitzender eines der großen russischen Monopole, Gazprom oder des geplanten Elektro-Energie-Verbundes einen ähnlichen Weg wie der deutsche Ex-Bundeskanzler Schröder gehen? Putin hat alle diese Optionen offen gehalten. Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Dumawahl zwar ein Vertrauensbeweis für ihn, aber sie ist zugleich mehr als nur eine Abstimmung über ihn selbst – sie ist die Abstimmung über ein System, nämlich über das System der von Putin restaurierten traditionellen russischen Struktur des zentralisierten Pluralismus, anders gesagt, über die russische Form von Demokratie, die zur Zeit unter dem Stichwort der „gelenkten Demokratie“ in Russland entwickelt wird.

Gleich welchen Kandidaten Putin selbst als Nachfolger im Präsidentenamt vorschlagen wird, gleich in welcher Funktion er selbst die von ihm reklamierte Führerschaft wahrnehmen wollen wird, jede dieser Entscheidungen steht unter der Vorgabe, die traditionelle Grundordnung Russlands, die er in acht Jahren seiner Amtszeit ansatzweise wiederherstellen konnte, weiter zu festigen. Mit dieser Dumawahl bekommt sie den Charakter eines Volksentscheides.

Die Kernfrage dabei ist nicht, ob und von wo aus Putin selbst diese Ordnung weiter vertritt, sondern in wessen Interesse sie zukünftig entwickelt wird. Putin hat es auf seinem Kurs der restaurativen Stabilisierung geschafft, die Herstellung optimaler Investitionsbedingungen für internationales und einheimisches Kapital mit einer sozialen Befriedungspolitik zu verbinden. Dabei halfen ihm die steigenden Ölpreise und eine Bevölkerung, die nach dem Absturz in der Jelzin Zeit für jede kleine Verbesserung des Lebensniveaus dankbar war. Jeder Nachfolger Putins wird sich daran messen lassen müssen.

Darüber hinaus steht nach der Wahl die Umsetzung all der schon beschlossenen, „Projekte“ der weiteren „Monetarisierung“ nach den Standards der WTO an, die nach den Massenprotesten von 2005 bis zur Wahl bisher zurückgestellt wurden. Dies dürfte auch ein Grund sein, warum sich die 63,5% Zustimmung für Putins Partei nur aus einer Beteiligung von 60 Prozent der russischen Wahlberechtigten herleiten. Der Rest, fest die Hälfte der Bevölkerung, wartet ab, was da kommt.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putin: Der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz?

Darf man so über Putin schreiben? Zugegeben, es gibt Gründe zu zögern, aber Tatsachen müssen Tatsachen bleiben, gerade wenn versucht wird sie zu vernebeln und zu verdrehen wie beispielsweise jetzt gerade wieder unter der Schlagzeile: „Wie Putin, Chavez und die Scheichs den Ölpreis hochtreiben“, unter der „Spiegel-online“ kürzlich über die steigenden Öl-Preise berichtete.
Tatsache ist, dass Wladimir Putin bis heute über ein „Rating“ zwischen 60 und 70% der Bevölkerung verfügt, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung durch alle Schichten hindurch lieber ihn als irgendjemand anderen als nächsten Präsident sehen würde.
Tatsache ist, dass selbst Putins lauteste Gegner Gary Kasparow und Michail Kassianow – inzwischen getrennt voneinander, aber unisono – ihre Aufrufe zum Wahlboykott damit begründen, dass „unter den derzeitigen Bedingungen keine echte Oppositionspartei die Sieben-Prozent-Hürde überspringen“ könne, ihre Stimme also dem Kremllager zugeschlagen werde, „selbst wenn es keine Wahlfälschung geben sollte“, so Kassianow. (ebenfalls in Spiegel-online vom 9.11.2007)
Vertreter der neuen Linken, die sich um die Bewegung eines russischen Sozialforums sammelt, sind da wesentlich klarer, wenn sie wie der Globalisierungskritiker Boris Kagarlitzki z. B. konstatieren, dass Putin sich als erfolgreichster Herrscher Russlands betrachten könne, gegen den sich zur Zeit kein Protest der Bevölkerung entwickeln lasse, weil die Mehrheit ihre Interessen durch ihn vertreten sehe.
Tatsache ist, dass Putins außenpolitische Auftritte für ein starkes Russland, gegen die Kriegstreiberei der USA in München, in der Frage des Raketenstreites, des Kosovo, neuerdings auch sehr deutlich zum Iran den Kommentatoren der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ das widerwillige Eingeständnis entlockte, dass westliche Politiker der von diesen „Machtdemonstrationen“ ausgehenden Stabilisierung der Weltlage letztlich vielleicht gar noch Lob zollen könnten.
Als Boris Jelzin abtrat, exportierten die Oligarchen und andere Privatisierungshaie ihre Gewinne ins Ausland; Steuern, Löhne, Pensionen wurden nicht oder mit jahrelangen Verzögerungen bezahlt, die betrieblichen, kommunalen und staatlichen Sozialversorgungssysteme wurden aufgelöst. Putin hat es geschafft den weiteren Zerfall zu stoppen, das Chaos ansatzweise zu ordnen, dem Ausverkauf der Ressourcen eine staatlich kontrollierte Energiepolitik abzuringen. Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat sich gegenüber dem Jahr 2000 versechsfacht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet, dessen Kapital von ca. 127 Milliarden heute nach weltweiten Anlagemöglichkeiten sucht. Die Währungsreserven der Zentralbank erreichten ein Volumen von 417 Milliarden. Die Arbeitslosigkeit sank; die Inflation konnte gestoppt werden etc. pp.
Auch das weitere Auseinanderdriften des nachsowjetischen Erbes wie auch der russischen Föderation selbst wurde gestoppt: Nach der brutalen Niederschlagung des tschetschenischen Separatismus herrscht in Tschetschenien heute weitgehende Waffenruhe. Präsident Kadyrow betreibt zwar eine aktive Ordnungspolitik, verbunden mit effektivem Wiederaufbau der zerstörten Städte im Sinne Moskaus, betreibt sie aber nicht mehr militärisch, sondern polizeilich. Die GUS ist soweit wieder an Russland herangerückt, dass vor wenigen Wochen ein Gipfeltreffen der Gus-Staaten, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und der „Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit“ in Duschanbé stattfinden konnte, die sich die weitere Integration des postsowjetischen Raumes zum Ziel nahm.
Parallel dazu setze ein Treffen der Anrainer das Kaspischen Meeres, einschließlich des Iran, nicht nur ein deutliches Zeichen dafür, in Fragen der Öl-Förderung des Raumes zukünftig kooperieren zu wollen, sondern versicherte sich vertraglich gegenseitig keiner fremden Macht zu gestatten von einem ihrer Territorien aus die anderen anzugreifen. Ein eindeutiges Signal an die NATO!
Der Kriegstreiberei der USA schließlich setzt Russland in zunehmendem Maße die Alternative einer kooperativen, multipolaren Orientierung entgegen, so mit dem Ausbau des Shanghaier Bündnisses, mit der Einbeziehung des Iran in dieses Bündnis und kürzlich erst mit dem Besuch Putins in Teheran, durch den Russland seinen Willen zu einer friedlichen Lösung des Iran-Konfliktes unmissverständlich demonstrierte.
All dies geschah unter einem äußerst schmucklosen, kaum als solches erkennbaren Programm, mit dem Wladimir Putin bei seinem Antritt im Jahr 2000 im Internet seine Ziele in drei Punkten erläuterte:
– Wiederherstellung eines starken Staates.
– Rückbesinnung auf die eigenen Fähigkeiten Russlands, statt den Westen zu kopieren.
– Russland wieder zum „Integrationsknoten“ Eurasiens zu machen.
Mehr war nicht nötig. Dieses karge Programm reichte dafür, dass Putin von der gebeutelten russischen Bevölkerung mit 70% zum Retter des Landes erhoben wurde. Die dafür notwendigen Kräfte wuchsen ihm, durch das Chaos der Jelzinschen Hinterlassenschaft bedingt, von allen Seiten aus blankem Überlebensdruck des Landes freiwillig zu. So unterstützt konnte der als Mr. Nobody herbeigerufene Putin, den die von der Macht scheidende „Familie“ Jelzins, insbesondere die hinter ihnen stehenden Oligarchen, glaubten lenken zu können, zum Vollstrecker der nachsowjetischen Transformation werden, die sich somit in einem Dreischritt vollzog, der für die Entwicklung der großen Krisen der russischen Geschichte typisch ist: Zerfall des im Moskauer Zentrum gebündelten Konsenses der eurasischen Eliten unter Gorbatschow bis zur vollständigen Desintegration des Staates, russisch SMUTA unter Jelzin, danach Wiederherstellung des Zentrums auf neuem technischen und organisatorischem Niveau. Putin, jung, keiner der zerstrittenen Eliten angehörig, ausgebildet durch den KGB und zudem in Geist und Technik asiatischen Kampfsportes zu Hause, war der richtige Mann zu rechten Zeit den Platz des restaurativen Modernisierers einzunehmen.
Alles gut also? Was lässt dann zögern? Die Gründe seien in aller Kürze benannt: Da ist erstens die Tatsache, dass Putins Erfolge ökonomisch auf dem Anstieg der Weltmarktpreise für Öl- und Gas beruhen. Mit stabilen Öl- und Gas-Preisen steht und fallen seine Möglichkeiten wirtschaftlicher Befriedung. Zweitens hat Putins Stabilität den Schönheitsfehler, den neuen Reichtum ungleich zu verteilen; ungeachtet der allgemeinen Steigerung des Lebensniveaus setzt sich die Differenzierung des Einkommens in der Bevölkerung fort. Drittens harren die bereits beschlossenen Pläne für die 2005 nach Protesten der Bevölkerung vorläufig gestoppte sog. Monetarisierung der Umsetzung durch die neue Regierungsmannschaft.
Monetarisierung heißt aber nicht nur einfach Verteuerung durch Angleichung an die durch die WTO vorgegebenen Preis-Standards, es bedeutet darüber hinaus gezielte Angriffe auf die traditionell gewachsenen Strukturen der Selbstversorgung und der in Russland sozial weit entwickelten Ebenen des Tausches, d.h., es geht um grundlegende Angriffe auf die Lebensweise und Lebenslage des Volkes.
Dies alles bedeutet: Es ist nicht klar, ob die Geister die Putin zur Stabilisierung rief, auch in Zukunft so gebannt werden können, dass sie der Bevölkerung nützen. Wenn nicht, dann stehen Russland schwere Zeiten bevor.

Kai Ehlers
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25.9.2007 Die Wunder von Stammheim – Geschichte einer Verdrängung

Am Morgen des 18.10.1977 wurde die Welt durch die Nachricht überrascht, in der JVA Stuttgart-Stammheim seien die RAF Gefangenen Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend, Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt und Irmgard Möller durch Messerstiche schwer verletzt in ihren Zellen aufgefunden worden. Mord oder Selbstmord? Diese Fragen sind bis heute umstritten.
Mit dem Tod der prominenten Gefangenen ging die letzte große Befreiungsaktion der zweiten Generation der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) für die in den damaligen westdeutschen Gefängnissen einsitzende erste Generation ihrer Organisation zu Ende. Die Aktion hatte mit der Entführung von Hans Martin Schleyer, Präsident des Arbeitsgeberverbandes, am 5.9.1977 durch ein „Kommando Siegfried Hausner“ begonnen. Es forderte die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollten sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen. Die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt hatte darauf mit der Bildung eines überparteilichen „Großen Krisenstabs“ geantwortet, der eine Freilassung ablehnte, stattdessen eine absolute Nachrichtensperre sowie eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF verhängte und nur zum Schein auf Verhandlungen einging.
Zur Unterstützung der Forderung der Entführer hatte in der 5. Woche nach Schleyers Entführung ein palästinensisches „Kommando Matyr Halimeh“ die Landshut mit 91 Menschen an Bord gekapert. Am Dienstag, den 18.10.1977 kurz nach Mitternacht meldete der Deutschlandsfunk die „glückliche Befreiung“ der Geiseln der Landshut durch ein Kommando der GSG 9 in Mogadishu. Wenige Stunden später waren die Gefangenen tot, bzw. Irmgard Möller im Krankenhaus. Einen Tag später wurde Hans Martin Schleyer von seinen Entführern erschossen. Vier Wochen danach starb Ingrid Schubert, ebenfalls als RAF-Mitglied inhaftiert, in der JVA-Stadelheim durch Erhängen.
Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen lautete schon um 9,00 Uhr früh desselben Tages: Selbstmord, noch bevor die gerichtsmedizinischen Untersuchungen überhaupt eingeleitet waren. Ähnlich vier Wochen später beim Tod Ingrid Schuberts. Die internationale Presse schrieb: „Mord!“; die deutsche Presse übernahm weitgehend die offizielle Version. Nur eine Minderheit linker und autonomer Blätter sowie die Anwälte der Toten meldeten Zweifel gegenüber der offiziellen Selbstmord-These an, an ihrer Spitze der damalige RAF-Anwalt Otto Schily. Der „Arbeiterkampf“ des Kommunistischen Bunde begann unter der Schlagzeile: „Wir glauben nicht an Selbstmord“ mit einer minutiösen Auflistung der „Wunder von Stammheim“, das heißt, all der Widersprüche, Ungereimtheiten und blanken Erfindungen, die im Laufe der nächsten Tage, Wochen und Monate von BKA, Staatsanwaltschaft, Regierung und einer ihnen sklavisch folgenden Presse produziert wurden.


Die Wunder beginnen mit der Behandlung Irmgard Möllers, der einzigen Überlebenden der nächtlichen Geschehnisse: Irmgard Möller erklärte in ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Baden-württembergischen Landtages am 16.1.78, sie wisse nicht, was geschehen sei. Sie sei nachts von zwei Knallgeräuschen und einem Quietschen erwacht, dann aber mit einem eigenartigen „Rauschen im Kopf“ wieder eingeschlafen und erst wieder zu sich gekommen, als man ihr die Augenlieder aufgezogen habe. Auf keinen Fall habe sie Hand an sich selbst gelegt. Über Selbstmord hätten die Gefangenen nach dem angeblichen Freitod Ulrike Meinhofs im Sommer 76 zwar diskutiert; dabei hätten sie aber festgehalten, dass es sich um eine CIA-Methode handele, Morde als Selbstmorde darzustellen. Wörtlich sagte sie: „Keiner hatte die Absicht des Selbstmordes. Das widerspricht unserer Politik. Das letzte Mal über Selbstmord haben wir am 26.9., dem Beginn des Hungerstreiks gesprochen. Wir haben den Hungerstreik angefangen, obwohl uns bekannt war, dass er nicht so schnell öffentlich werden könne. Wir wollten dem Krisenstab signalisieren: Wir kämpfen!“
Es gab also Anhaltspunkte, denen eine kriminologische Untersuchung hätte nachgehen müssen. Irmgard Möllers Aussage wurde jedoch beiseite geschoben, u.a. mit dem Hinweis, der sich später auch in der Einstellungsverfügung der Staatsanwalt vom April 1978 wiederfand, es könne nicht stimmen, dass sie bewusstlos gewesen sei, denn der „erfahrene Sanitäter Soukop“, der sie als erster behandelt habe, habe bemerkt, wie sie bei dem Versuch ihr das Lid zu öffnen, die Augen zugekniffen habe. Damit war die Glaubwürdigkeit Irmgard Möllers, die ja ohnehin als parteiisch gelten musste, als Simulantin und Lügnerin vollkommen erledigt, aber es wurde auch deutlich, dass es in den Untersuchungen der Sonderkommission nicht um Aufklärung der Vorfälle, sondern um deren Einordnung in die offizielle Selbstmord-These ging: Nicht nachgegangen wurde der Frage, was es mit dem „Knallen“ und dem „Quietschen“, sowie dem „Rauschen“ in Irmgard Möllers Kopf auf sich gehabt haben könnte. Stattdessen hieß es, es sei mit Sicherheit auszuschließen, dass ihr oder den anderen Gefangenen Gifte oder Betäubungsmittel verabreicht worden sein könnten. Vor demselben Untersuchungsausschuss erklärte einer der internationalen ärztlichen Gutachter jedoch später, man habe zwar keine derartigen Spuren gefunden, aber auch nicht danach gesucht. Es gebe heute „so und so viele Gifte, dass man, wenn man nicht gerichtet auf ein bestimmtes Gift sucht, unter Umständen eines übersieht, vor allem die komplizierteren organischen Gifte. Nehmen Sie Digitalis oder nehmen Sie Insulin – wenn man darauf nicht gerichtet untersucht wird, wird man es nicht finden.“ (AK 123)
Nun, soll damit, dreißig Jahre nach Ereignissen von Stammheim, nicht die Behauptung aufgestellt werden, die Gefangenen seien betäubt und dann getötet worden. Diese Behauptungen wären nicht zu beweisen. Die Behandlung der Aussagen von Irmgard Möller zeigt aber, wie mit Spuren umgegangen wurde, die geeignet hätten sein können, die offizielle Selbstmord-These in Frage zu stellen.
Zweifel waren angebracht und ihnen hätte im Sinne der von der Bundesregierung versprochenen rückhaltlosen Aufklärung auch nachgegangen werden müssen.
Höchste Verwunderung musste ja die Tatsache hervorrufen, dass die Gefangenen Raspe und Baader sich mit eigenen Pistolen erschossen haben sollten. Wie waren die Pistolen in die Zellen der Gefangenen gekommen? Sie seien durch Besucher der JVA eingeschmuggelt worden, hieß es anfangs. Wie das, wenn Besucher sich bis auf die Haut filzen und mit Metalldetektoren abspüren lassen mussten, wenn während der Kontaktsperre überhaupt niemand mehr ohne Wissen des BKA den RAF-Trakt betreten konnte?
Die Waffen seien in Baaders Plattenspieler gefunden worden, hieß es dann. Wie das, wenn den Gefangenen doch alle Geräte abgenommen worden waren? Raspe soll seine Waffe hinter der Fussleiste versteckt haben. Eine dritte Waffe soll bei den ersten Aufräumungsarbeiten in den angrenzenden Zellen später sogar im Wandputz gefunden worden sein. Wie hätten die Gefangenen diese Waffen bei den täglichen Kontrollen, den vielfachen Verlegungen, die gleichbedeutend mit einer Totalrevision ihrer gesamten Habe waren, mit sich nehmen sollen?
Wie konnte Baader sich schließlich mit einer 18 cm langen Waffe am Hinterkopf einen schräg nach oben verlaufenden Schuß selbst ansetzen und dabei zwar Blut- an der einen Hand, aber keine Fingerabdrücke an der Waffe hinterlassen? Ähnlich bei Raspe: Wieso lag die Waffe nach einem aufgesetzten Schuß in die Schläfe in seiner rechten Hand und nicht – der Hand durch den Rückstoß entglitten – neben ihm? Wieso fanden sich auch auf seiner Pistole keine Fingerabdrücke? Haben Baader und Raspe die Pistolen nach Gebrauch noch gesäubert? Alles Fragen, denen nicht nachgegangen wurde. Nicht nachgegangen wurde auch der Frage, in welcher Reihenfolge die drei Projektile abgeschossen wurden, die in Baaders Zelle gefunden worden waren. Traf der erste Schuß seinen Kopf und wurde erst danach auf Bett und Decke geschossen, dann wäre das ein Hinweis darauf gewesen, dass jemand anderes als Baader die Waffe geführt haben müsste. Die ballistischen Untersuchungen zur Klärung dieser Frage wurden nicht vorgenommen. Unbeantwortet blieb auch die Frage, woher der Sand an Baaders Schuhen stammte, obwohl der bei der Obduktion anwesende Wiener Gerichtsmediziner Prof. Holczabek eine mineralogische Untersuchung der „Fremdkörper“ gefordert hatte. Sie wurde nicht durchgeführt.
Wenden wir uns schließlich noch Gudrun Ensslin zu: Wieso wurde sie nicht sofort aus der Schlinge geschnitten, als man sie auffand? Möglicherweise lebte sie noch? Stattdessen warteten Anstaltspersonal und Ärzte mehrere Stunden, bevor sie die Erhängte aus der Schlinge nahmen. Da konnte der Todeszeitpunkt schon nicht mehr genau festgestellt werden. Ähnliche Ungenauigkeiten, wenn man es so nennen und nicht von bewusster Vertuschung reden will, sind übrigens bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes von Baader und Raspe zu bemerken. Wieso riss die Schlinge sofort, als man die Erhängte abnahm, wieso nicht vorher? Wieso wurde der übliche Histamintest nicht vorgenommen, der zur Routine gehört, wenn es darum geht Selbsttötungen durch Erhängen nachzuweisen? Wieso wurden die Verletzungen an Gudruns Körper nur festgestellt, ihre Ursache aber nicht untersucht? Wo blieben die Briefe, die aus ihrer Zelle entfernt wurden? Was ist ihr Inhalt?
Kurz gesagt, Fragen über Fragen, die nicht, falsch oder zumindest irreführend beantwortet wurden. Spuren möglicher Fremdeinwirkung wurde, man ist versucht zu sagen, systematisch nicht nachgegangen. Stattdessen setzte der verantwortliche Justizminister von Badem-Würthemberg Benda zuerst den Leiter der JVA und den Sicherheitsbeauftragten ab, dann trat er selbst zurück. Sein Nachfolger Palm ordnete „an, „daß alle nicht tragenden Wände der Terroristenzellen in der Stammheimer Haftanstalt abgerissen werden. Ferner erhielt das Baukommando den Auftrag, alle Fußböden aufzureißen und den Putz von den tragenden Wänden zu stemmen“ (Hamburger Abendblatt, 11.11.77 zitiert nach „Arbeiterkampf 117)
Dies geschah, wie dem Datum der Pressemeldung zu entnehmen, bereits im November, nur drei Wochen nach der Todesnacht von Stammheim, lange bevor der parlamentarische Untersuchungsausschuß mit seiner Arbeit begonnen hatte. Und dies bedeutete, so kommentierte der „Arbeiterkampf“ damals, „die endgültige Pulverisierung der Umgebung, in der sich das Wunder von Stammheim ereignet hat. Hier wird man niemals mehr beweisen können, was wirklich in den Wänden usw. war – und wer es dort hinein gesteckt hat.“ Dem ist auch nach 30 Jahren nichts hinzuzufügen.
Statt Tatsachen nachzuspüren, wurde versucht die Selbstmordthese mit psychologischen Spekulationen zu untermauern. Die Gefangenen hätten mit ihrem „kollektiven Selbstmord“ ein „Fanal“, also ein Zeichen setzen wollen hieß es, dann aber auch, sie hätten sich aus Verzweiflung und Frust über die gescheiterte Befeiungsaktion umgebracht. Dass „Frust“ und „Fanal“ sich als Motivation gegenseitig ausschließen, störte die Urheber dieser Spekulationen nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass eine Verabredung zur kollektiven Selbsttötung einer spontanen Verzweiflungstat widerspricht, zumal, das möchte ich besonders betonen, Martin Schleyer zu dem Zeitpunkt noch lebte, also gar nicht sicher war, ob die Aktion nicht noch eine andere Wendung nehmen könnte. Am Morgen des 18. war der hirnlose Reflex, aus dem heraus die Entführer Martin Schleyers ihr Opfer töteten, nicht voraus zu sehen.
Zusätzlich zu solchen Spekulationen wurden nach der Pulverisierung der Zellen weitere Wege gefunden, wie die Waffen in die Zellen gekommen sein sollten. Die Geschichte ist schnell erzählt: Nach der Ermordung Generalstaatsanwalt Bubacks am 7.4.1977, die gemeinhin als Auftakt des deutschen Herbstes gilt, übernahm am 1. Juli sein Nachfolger Kurt Rebmann die Leitung des Stammheimer Verfahrens. Er fand einen Kronzeugen, Volker Speitel, der bereit war gegen die RAF auszusagen. Von Speitel stammt die Idee, die Waffen seien, versteckt in Hohlräumen von Prozessakten, während des Prozesses den Gefangenen von ihren Anwälten übergeben worden. Speziell die Anwälte Arndt Müller und Achim Newerla wurden verdächtigt.
Mit dieser Geschichte zog Generalstaatsanwalt Rebmann am 12. Januar vor den Untersuchungsausschuß und in die Öffentlichkeit. Vier Tage später platzte die Geschichte, als die im Prozess eingesetzten Polizeibeamten vor dem Ausschuss aussagten, während des Prozesses sei jede Akte sondiert, per Hand von ihnen durchgeblättert worden und im Übrigen seien gerade Newerla und Müller „eigentlich nie“ im Verhandlungssaal, sondern immer nur unter den Zuschauern gewesen, hätten also gar keinen direkten Kontakt zu den Angeklagten gehabt.
Zur selben Zeit platze noch eine Bombe: Der Techniker des Sicherheitskommandos sagte vor dem Ausschuss aus, dass die Sicherheitsanlage des angeblich sichersten Gefängnisses der Welt keineswegs sicher gewesen war, sondern bei langsamen Bewegungen an den Wänden der Gängen entlang unterlaufen werden konnte, das hieß: Ein unbeobachteter Zugang zu den Zellen der Gefangenen über die Nottreppe war in der Todesnacht möglich.
Ungeachtet solcher Widersprüche wurde das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren, das zur Klärung der Todesursachen der Stammheimer Gefangenen eingeleitet worden war, im April mit der Begründung eingestellt, daß „die Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe sich selbst getötet haben, die Gefangene Möller sich selbst verletzt hat und eine strafrechtlich relevante Beteiligung Dritter nicht vorliegt.“
Bleibt nur noch dies zu erwähnen: Nach dem Abschluss der Ermittlungen ging es gegen die Kritiker: Am 21.7.78 wurde u.a. gegen mich als damaligem presserechtlich Verantwortlichen des KB Anklage wegen Staatsverleumdung in mehreren Fällen erhoben. Als Ergebnis einer sich entwickelnden Solidaritätskampagne schlug ein französisches „Koordinationskomitees gegen die Repression“ die Bildung einer „Internationalen Untersuchungskomission über die Stammheimer ‚Selbstmorde’“ vor.
Angesichts des absehbaren, sich andeutenden öffentlichen, vor allem internationalen Interesses für den bevorstehenden Prozess schien es der Staatsanwaltschaft offensichtlich ratsamer das Verfahren vor Eröffnung des Prozesses aus formalen Gründen einzustellen.
Seither wird jegliche gerichtliche Neubefassung mit den nach wie vor offenen Fragen abgeschmettert: Als der „stern“ 2002 Beweise dafür vorlegte, dass die Geschichten des Kronzeugen Speitel konstruiert seien, sogar den begründeten Verdacht aussprach, Speitel könne im Dienste des VS gestanden haben, und somit die Frage, wie die Waffen in die Zellen gekommen seien, einer neuen Überprüfung unterzogen werden müsse, bekamen er vom Leiter der kriminalpolizeilichen „Sonderkommission Stammheim“ eine doppelte Antwort: erstens – die Kommission habe seiner Zeit „keine über den Selbstmord hinausgehenden Ermittlungsaufträge bekommen“ und zweitens: „Die Staatsanwaltschaft – die objektivste Behörde der Welt – hat das Verfahren eingestellt. Damit ist der Fall ein für allemal abgeschlossen, und damit basta.“ (Stern, 9.10.2002)
Dem kann man nur, ebenso kategorisch, entgegenstellen, daß die Fragen, was in der Nacht vom 17. auf den 18.10.1977 geschah, bis heute noch nicht geklärt sind und solange das so ist, sind Zweifel an der These des Selbstmordes berechtigt und notwendig .

Kai Ehlers
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Putins Rochade

Überraschend, ohne vorhergehende Kritik an dem amtierenden Ministerpräsidenten Michail Fradkow, trat in der letzten Woche Russlands Regierung zurück. Russlands Präsident Putin ernannte umgehend Viktor Subkow zum neuen Ministerpräsidenten; die Duma stimmte der Ernennung innerhalb von zwei Tagen mit großer Mehrheit zu. Subkow selbst kündigte an, er werde sich hauptsächlich dem Kampf gegen Korruption wie der „Stärkung der sozialen Sphäre“ widmen. Einige Minister des früheren Kabinetts unter ihnen der Wirtschaftsliberale German Gref müssen mit Ablösungen rechnen.

Soweit so klar – und so unspektakulär könnte man sagen; jedenfalls entbehrte dieser Vorgang offenbar des Stoffes für die in letzter Zeit üblichen wilden Kritiken an Wladimir Putin, innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Lediglich die Kommunistische Partei beklagte eine mangelnde demokratische Kultur, die sich darin zeige, dass die Duma dem Wechsel in der Regierungsspitze ohne jegliche politische Debatte zugestimmt habe.
Im Gegenteil, russische wie auch nicht-russische Kommentare sind sich darin einig, dass Wladimir Putin ein optimaler Schachzug gelungen sei, um den im Herbst 2007 und Frühjahr 2008 bevorstehenden Machtübergang ruhig zu gestalten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mag sogar nicht ausschließen, dass der Westen Putin für sein erfolgreiches Management der Nachfolge nach dem Motto, Stabilität habe Vorrang, am Ende sogar loben werde.

Diese Sicht, die auch dem allgemeinen Tenor der russischen Kommentare entspricht, stützt sich vor allem anderen auf die bisherige Tätigkeit des neuen Regierungschefs als Leiter der Finanzaufsichtsbehörde, deren wesentliche Aufgabe in den letzten Jahren darin bestand, die russischen Finanzflüsse wieder unter Kontrolle des Staates zu bringen, indem Kapitalflucht und Geldwäsche gestoppt und die Zahlung von Steuern erzwungen wurde. Man erinnere sich an Michail Chodorkowski. Subkow, wird vermutet, verfüge aus seiner Tätigkeit über genügend Wissen, um mögliche Störenfriede während und nach den Wahlen ruhig zu halten.
Auch diese Sicht entbehrt nicht einer gewissen Realität, denn aus den zurückliegenden Wahlkämpfen zu Duma- wie zu Präsidentenwahlen, aber auch aus Regionalwahlen ist bekannt, welche Rolle sog. „Kompromate“ für das Ausschalten von Konkurrenten, missliebigen Kandidaten oder auch ganzen Organisationen in Russland bisher gespielt haben. Daran waren sowohl Regierung wie auch die Kandidaten selbst beteiligt. Mit Subkow an der Spitze verfügt die Regierung nun über das Monopol an „Komprimaten.“

Das könnte einer Stabilisierung oben durchaus dienlich sein. Über diese offensichtlichen Tatsachen hinaus weiß jedoch niemand etwas Genaues; und so wird umso freier über den „Putin Plan der Machtübergabe“ spekuliert: Die einen glauben, Putin habe auf diese Weise den bisher als „Kronprinzen“ gehandelten, erst kürzlich beide zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannten, Sergej Iwanow und Sergej Medwedew einen „Dämpfer verpasst“, insofern sie nun durch das Hinzutreten von Subkow als möglicher weiterer Kandidat in die Reihe zurückgedrängt worden seien. Andere sehen vor allem Sergei Iwanow gestärkt. Das werde unter anderem daraus klar, dass Subkow als einen der Programmpunkte, für die er einstehen werde, auch die Stärkung der Rüstungsindustrie genannt habe, mehr noch aber durch die Politik der Stärke, die Putin in letzter Zeit bis hin zur Detonation einer „Vacuumbombe“ kurz vor dem Regierungswechsel demonstriert habe.

Dritte frischen die in letzter Zeit etwas farblos gewordene Spekulation wieder auf, dass Putin eine weitere Amtszeit anstrebe, nur jetzt nicht mehr direkt durch eine Verfassungsänderung vor den Wahlen, sondern durch die Inthronisierung eines Übergangskandidaten. Als ‚Präsident im Rentenalter’ könne der jetzt 66jährige Subkow in angemessener Zeit nach der Wahl abdanken und den Platz für ein Come-back Putins frei machen. Die russische Verfassung, die nur zwei Amtzeiten hintereinander erlaube, werde dann nicht mehr verletzt. Iwanow, Medwjedew und mögliche weitere Kandidaten werden in diese Sicht gleich mit eingeschlossen.

Eine Variante ist so gut möglich wie die anderen; entscheidend ist aber wohl nicht, ob ein Übergang von Putin zu Putin oder doch zu einem anderen Namen geschafft wird, sondern ob es Russland gelingt aus der Phase der putinschen Restauration in eine Entwicklung überzugehen, in der Russlands neu gewonnene Stärke sich in einer den Menschen zugewandten Sozialpolitik fortsetzt. Für diesen Schritt ist eine ruhige, zumindest formaldemokratisch korrekte Ablösung Putins bei den anstehenden Wahlen die unausweichliche Bedingung, unabhängig davon, ob, wo und wie er selbst in der Politik bleibt oder nicht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Gezielter Todesschuß – für wen?

Mit den „klassischen Mitteln der Polizei“, erklärte der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble im Juli diesen Jahres, sei die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht mehr zu meistern. Die Möglichkeit des „gezielten Todesschusses“ müsse daher im Grundgesetz verankert werden. Eine kleine Welle offizieller Empörung antwortete diesem Vorstoß; wogegen richtet sich die Empörung? Gegen die Legitimierung des Todesschussses? Wohl kaum; der gezielte Todesschuß wurde 1973 als „finaler Rettungsschuß“ im Zuge des sog. Musterentwurfes für ein neues Polizeigesetz in die deutsche Rechtsprechung eingeführt. Zwölf der 16 Bundesländer haben die Regelung seitdem in ihren Landespolizeigesetzen verankert. Die Unantastbarkeit des Lebens, die Notrechtsklausel, die Verhältnismäßigkeit der Mittel sind längst durch geltendes Polizeirecht relativiert, ganz zu schweigen von der Praxis.
Erinnern wir uns: Der Musterentwurf war Bestandteil des „Programms Innere Sicherheit“ mit dem die SPD-Bundesregierung 1971 auf die außerparlamentarische Opposition (APO) der Jahre 1966 bis 70 und die daraus folgende Entwicklung einer neuen ebenfalls außerparlamentarischen bundesrepublikanischen Linken antwortete. Entgegen der Märchen, die heute vielfach über diese Zeit erzählt werden, war es aber nicht die „Rote Armee Fraktion“ (RAF), auf welche die Aufrüstung des Staates antwortete, die RAF war vielmehr eine Antwort – wenn auch eine ungeeignete – auf die Verwandlung der kriegsmüden und neudemokratischen west-deutschen Nachkriegsordnung in eine „wehrhafte Demokratie“.
„Startschuß“ der neuen Polizeipraktiken war die Erschießung Benno Ohnesorgs bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin 1967. Dem Polizeischützen Kurras wurde „putativ Notwehr“ bestätigt. Im Zuge der APO-Proteste und der einsetzenden Fahndungen nach der RAF stieg die Zahl polizeilicher „Notwehr“-Situationen drastisch an. 1971 wurden Petra Schelm und Georg von Rauch auf der Straße gestellt und erschossen. Weitere Tote im Zuge der RAF-Fahndungen folgten. Das soll hier nicht weiter aufgelistet werden. Die Verfolgung der RAF war nur die Spitze des Eisbergs; allein 1971 starben außerdem 18 Menschen durch Polizeikugeln, bis 1978 waren es über 80 erschossene Menschen.
Ein markantes Zeichen für die damaligen Vorgänge in der Republik war die Erschießung des Bankräubers Georg Rammelmayr und seiner Geisel Ingrid Reppel im August 1971 in München. Dieser Vorfall glich einer öffentlichen Hinrichtung: Als Rammelmayr, die Waffe auf seine Geisel gerichtet, von der Bank zu einem bereitgestellten Fluchtauto ging, eröffneten Scharfschützen der Polizei das Feuer auf die beiden. Rammelmyr schoß zurück. Bei dem Feuergefecht wurden mehr als 200 Schüsse abgegeben; das Fluchtauto wurde buchstäblich durchsiebt. Hunderte von Schaulustigen waren anwesend; alles wurde direkt im Fernsehen übertragen. Von einem Urteil gegen die Scharfschützen wurde nichts bekannt. Zu den Konsequenzen, die aus dem Überfall gezogen werden müssten zählte der damalige Münchner Polizeipräsident Schreiber eine Intensivierung von Spezialtrupps und eine Überarbeitung der Polizeigesetze, bei denen zu fragen sei, ob sie Masseneinsätzen noch gerecht würden. (FAZ,, 12.8.71) Ingrid Reppel wäre nicht getötet worden“ schrieb die Welt (7.8.71), „wenn die Anordnung an die Scharfschützen gelautet hätte, den Gangster zu erschießen.“
Drei Jahre später wurde ein vergleichbarer Fall in Hamburg, der Überfall einer Commerzbankfiliale durch den Columbianer Emilio Gonzales vom „Mobilen Einsatz Kommando (MEK) durch gezielte Erschießung des Geiselnehmers beendet. Die Tötung geschah auf Weisung. „Viel Lob für Hamburg“ und „Glückliches Hamburg“ lauteten die offiziellen Reaktionen.
Neben den getöteten RAF-Verdächtigen, neben Fällen wie Rammelmayr oder Gonzales werden in den Jahren von 1971 bis 78, in dem Zeitraum, der in einer Materialsammlung des „Kommunistischen Bundes“ (1) zur Vorlage beim „Russel-Tribunal gegen Repression der BRD“ dokumentiert wurde, auch einfache Kriminelle, Verkehrsssünder oder jugendliche „Ruhestörer“ in wachsendem Maße Opfer polizeilicher Schießwut.
Greifen wir zwei heraus:
Am 1.3. 1972 wurde der Lehrling Richard Epple von polizeilichem Maschinengewehrfeuer in seinem PKW getötet. Er war der Besatzung eines Streifenwagens aufgefallen, weil ein Rücklicht seines Wagens nicht brannte. Die Aufforderung zu halten brachte ihn in Panik. Er flüchtete, weil er ohne Führerschein unterwegs war. Er raste durch Tübingen, überfuhr mehrfach rote Ampeln, durchbrach eine Polizeisprerre. Polizeimeister H.J. Geigis schoß das ganze Magazin seiner MP auf das flüchtende Auto leer, wobei er nicht auf Einzelfeuer einstellte; dreizehn Schüsse trafen das Auto und „zersiebten“ den Jungen. Die Strafanzeige der Familie Epple und der Initiative „Schutzbund für Staatsbürgerrechte“ wurde abgewiesen.
Die ganze Reihe ähnlicher Fälle soll hier nicht weiter aufgezählt werden. Als besonders exemplarisch sei nur noch die Erschießung des 14jährigen Peter Lichtenberg am 6.2.1977 erwähnt. Er wurde getötet, nachdem Anwohner die Polizei benachrichtigt hatten, weil Jugendliche in einer Neubauruine nebenan lautstark feierten. Die anrückende Polizei schoß auf den unbewaffneten Jungen. Dieser Vorfall ging unter der Frage, die der sterbende Junge noch gestellt hatte: „Darf man denn auf Kinder schießen?“ breit durch die Presse. Für ein Verfahren gegen den Todesschützen bestand nach Aussage des Oberlandesgerichtes dennoch „kein Anlass“.
Mehr als 142 Fälle unmittelbarer Gewaltanwendung durch die Polizei oder verwandte Staatsorgane mit 154 Toten wurden dem Russell-Tribunal für den Zeitraum 1970 bis 1978 vorgelegt, davon 14 im Zusammenhang mit der RAF, 51 einfache Kriminelle, 13 Verkehrssünder, 18 Tote bei Verfolgungsfahrten, die restlichen Opfer wurden, so die Dokumentation, erschlagen, erwürgt, in Arrestzellen tot aufgefunden, von Polizeiwagen überfahren usw. In einigen Fällen konnte Gewaltanwendung seitens der Polizei oder anderer Staatsorgane nicht nachgewiesen, habe aber auf Grund vergleichbarer Fälle der Zeit als wahrscheinlich angenommen werden müssen.
Strafen gegen die jeweils beteiligten Beamten wurden nicht ausgesprochen. Wo es wegen öffentlicher Proteste geboten schien, wurde, solange der „finale Todesschuß“ noch nicht legitimiert war, wie im Fall Kurras auf „Notwehr, „putativ Notwehr, oder wie im Fall Peter Lichtenbergs auf „bedauerlichen Irrtum“ erkannt. Kritiker der Vorfälle wurden diffamiert wie der Müncher Staranwalt Bossi, der anlässlich der Erschießung des Jugendlichen Wiesneth, ebenfalls Opfer einer Verkehrskontrolle, erklärt hatte, jeder könne der Nächste sein. Bossi wurde aus dem Müncher Polizeipräsidium als „unwürdig“ für den Beruf eines Anwaltes bezeichnet. Weniger prominente Kritiker wurden wegen Beamtenbeleidigung oder gar Staatsverleumdung verfolgt. In der juristischen Debatte um die Legalisierung des Todesschusses kamen zudem Töne auf, die an die Nazizeit erinnerten. So erklärte ein V. Winterfeldt in der „Juristischen Wochenzeitschrift“ 42/3, “daß der Träger unantastbarer Würde nur ein Individuum sein kann, dessen personale Existenz die Grundwerte staatlicher Ordnung achtet.“ Seit Übernahme der Legitimation aus dem Musterentwurf ist von Verfahren überhaupt nichts mehr zu hören.
Wenn Wolfgang Schäuble heute erklärt, mit dem „klassischen Instrumentarium“ der Polizei sei der Terrorismus nicht mehr zu meistern und nach der Legitimation des „gezielten Todesschusses“ ruft, dann kann das angesichts der tatsächlich erreichten Legitimation des Gezielten Todesschusses nur bedeuten, dass er über die „klassische“ polizeiliche, d.h. zivile Legitimation hinaus dessen Legitimation für alle „Sicherheitsorgane“ erreichen will. Das würde bedeuten auch der Bundeswehr die Möglichkeit zu Todesschüssen zu geben, wenn sie, wie Schäuble bekanntlich ebenfalls fordert, in Zukunft auch im Inneren eingesetzt werden soll. Im Unterschied zur Polizei, die trotz allem immer noch die Hürde der zivilen, individuellen Entscheidung nehmen muss, wäre der Todesschuss dann weisungsgebunden, Befehlssache im Interesse einer Freiheit, die bekanntlich heute am Hindukusch verteidigt wird. Es ist eben so, wie auch Kanzlerin Merkel es sagte: „Wir müssen Sicherheit heute ganz neu denken.“

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(1) Antifaschistische Russel-Reihe 4, „Jeder kann der nächste sein“, Dokumentation der polizeilichen Todesschüsse seit 1971 und ihre Legitimation, Antifaschismus Kommission des KB, Reents Vlg, 1978

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Notizen über mich selbst „Gesättigt und versorgt träumten wir von einer konsumfreien Welt“,

in: Alles schien möglich, 60 Sechziger über die 60ziger Jagre und was aus ihnen wurde., Der grüne Zweig 252, Herausgegeben von Werner Pieper.

Wenn ich gebeten werde zu erzählen, wie es damals – in den 60ern – war, komme ich immer in Verlegenheit: Womit beginnen? Es gibt so viele Türen, durch die man gehen kann. Es gibt so viele Arten, wie man erzählen kann. Soll ich mit den Träumen beginnen? Vielleicht besser mit dem Zorn? Oder einfach nur erzählen, wie mein Leben in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und dem dreißigsten Lebensjahr ausgesehen hat? Das alles liegt lange zurück und ist doch gegenwärtig. Was damals Träume waren, das sind auch heute noch Träume, nämlich die nach einer gerechteren und wärmeren Gesellschaft, nach Gemeinschaft, die frei lässt und zugleich beflügelt, nach Schönheit statt Krieg. Aber heute weiß ich, wie teuer unsere Träume erkauft werden müssen und der Zorn hat sich immer noch nicht gelegt. Der Traum ist eine Funktion des Zorns, Traum und Zorn bedingen einander, ohne Traum kein Zorn, aber ohne Zorn bleiben auch die Träume gestaltlos. Wenn ich nun mit dem Zorn beginne, dann muss ich weit ausholen, um meinen damaligen Zustand von dem meines heute sechzehnjährigen Sohnes und dem meiner zwanzigjährigen Tochter zu unterscheiden. Sie sind heute genau so zornig, wie ich es damals war. Vieles ist identisch, obwohl die Welt sich seitdem um fünfzig Jahre gedreht hat. Oft weiß ich nicht, ob wir damals mehr Grund hatten zornig zu sein, als wir es heute haben – wenn ich mich zu dem „wir“ noch dazu zählen darf.
Bei mir war es damals der Zorn über eine Umgebung, die sich nicht einmischen wollte, die sich heraushalten wollte, die sich verstecken und ihre Vergangenheit verleugnen, aber auch keine Verantwortung für die Gegenwart übernehmen wollte. Von meiner Mutter erfuhr ich nichts über die Kriegsjahre und die Zeit der Nazis. Die Vergangenheit war nur ein großes schwarzes Loch. Da war kein Vater, keine Geschichte, kein Staat, mit dem ich mich identifizieren konnte. Als ich, sechzehnjährig, durch England trampte, musste ich Fragen beantworten, auf die mich vorher niemand vorbereitet hatte. Kisia, die junge polnisch-stämmige Engländerin, die ich in Cambridge kennen lernte, während ich unter einem der imposanten Portale Schutz vor dem englischen Regen suchte, erklärte mir ihre Sympathie mit der Feststellung, ich sei, obwohl Deutscher, nicht so „pig-headed“, wie sie es von einem Deutschen erwartet hätte. Später, in der Provence, musste man sich vom „cochon“ emanzipieren.
Wie soll ich sagen? Goethe oder Hitler? Die Deutschen ein Dichtervolk oder Verbrecher? Hatte die Geschichte 1945 neu begonnen oder war nur ein Schleier darüber gezogen worden, unter dem alles weiter ging wie zuvor? Wie oft bin ich in meinem Leben gefragt worden, welchen Vorbildern ich folgte? Ich konnte nie eine Antwort darauf geben. Schon gar nicht damals. Es gab keine Vorbilder, keine Idole und auch keine Ideale. Was es gab, waren die quälenden Pole: Hitler und Goethe, Kulturvolk und Nazis, abgemildert allein durch die Mittelmäßigkeit, mit denen beide in der Schule behandelt wurden.
Der Spießer Höss, KZ-Kommandant von Auschwitz, tagsüber lässt er Juden vergasen, nach Feierabend; um fünf Uhr nachmittags; erwartet ihn seine Frau im trauten Heim, das auf dem Gelände des KZs errichtet ist, zur Hausmusik und zu Lesungen deutscher Dichter. War das meine Kultur?
Es gab nur mich – und keine Antworten.
Ich lebte damals in einer Kleinstadt von 10.000 Einwohnern bei Osnabrück. Melle. Schöne Gegend. Satte Menschen. Neugebautes Gymnasium, an dem es ordentlich zuging. Mein Protest äußerte sich in der Weigerung, mir die Haare auf Kragenlänge schneiden zu lassen; zum Outfit gehörte ein Snowcoat aus dem US-American-Stock, direkt aus Vietnam importiert. Ich ging barfuss in die Schule, soweit die Witterung es erlaubte. Was es außer den mittelmäßigen Mitteilungen über Goethe und Hitler noch Interessantes zu hören, zu lesen und zu tun gab, musste ich mir selbst organisieren: Schulsprecher, Schulzeitung, private AGs zu literarischen, philosophischen und politischen Fragen. Gute Bürger riefen mir, in dem Versuch mich zu beschimpfen, „Jesus, Jesus“ nach, was lästig war, weil ich mit Jesus rein gar nichts am Hut hatte. Mich interessierte asiatisches Denken. Stundenlang lief ich allein durch Felder, Wiesen und Wälder, um den Gespenstern des Vietnam-Krieges zu entkommen. Es gelang mir nicht. Die Berichte über Folter holten mich mitten im Wald ein. Ich erinnere mich besonders an einen Bericht, in dem geschildert wurde, wie GIs ihre Gefangenen mit Stecknadeln quälten, die sie ihnen unter die Fingernägel trieben. Ich konnte diese Bilder nicht loswerden. Je länger der Krieg dauerte, um so stärker besetzten sie meine Vorstellungen.
Man musste etwas tun. Aber was? Aktionen der Selbstorganisation als Schulsprecher, wie gesagt, überregionale Schülertreffen, Texte und Gedichte in der selbst herausgegebenen Schulzeitung, in der letzten Schulklasse ein heftig geschriebener, nie veröffentlichter Roman über „Holzen und die Männer daneben“; das war meine Auseinandersetzung mit dem deutschen Spießer, der geschehen ließ, was geschah. Schließlich die Abrechnung mit all dem in der Abschlussrede zum Abitur – und dann nichts wie weg aus dem provinziellen Muff. Endlich Freiheit! Endlich Welt! Endlich Leben! Frankreich, Italien. Dann das Erwachen an der Uni: Ende der Freiheit. Ende der Welt. Ende des Lebens. Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren! Unerträgliche Frontal-Vorlesungen statt geistiger Auseinandersetzung. Selbst in der Publizistik und in den politischen Wissenschaften, auf die ich auszuweichen versuchte, nur trockene Dogmatik. Als Ausweg bot sich die Literatur. In kleinen Kreisen lasen junge Dichter sich ihre Werke vor. Ich hielt auch das nicht lange durch; auch diese Treffen erschienen mir schal: Literatur um der Literatur willen, kein Inhalt, keine Identität, keine Antworten auf die Frage wohin. Mir erschien das nicht besser als der Konsum um des Konsums willen, den unsere Eltern uns vorlebten. Gut, man verstand es: Die Eltern waren die Generation des Wiederaufbaus, sie mussten die Wunden des Krieges ausheilen. Die Narben waren hässlich, sie zeigten sie nicht gern. Aber so weitermachen? Selber so werden? Nein. Es war unvermeidlich aus diesem Butterpanzer auszubrechen. Wir wollten die Narben sehen und die noch offenen Wunden verbinden – jedoch, und dieses ist wichtig und ich wiederhole es bei jeder sich bietenden Gelegenheit, es war auch möglich. Die Zukunft war offen. Aufbruch war angesagt. Gemeinsam war man stark. Von Arbeitsplatzmangel, von „no future“, von saurem Regen, Ozonloch, schwarzem, weil verrußtem Schnee, Aids, Vogelgrippe usw. keine Rede. Die Warnungen des „Club of Rome“, die heute allgegenwärtige ökologische Bedrängnis war noch nicht ins Bewusstsein der Gesellschaft eingedrungen. Mehr noch: Die Naturbegeisterung meiner Mutter: Wandern, Reformhaus, FKK, sofern ich sie unter den chaotischen Zuständen unseres zerrissenen Familienlebens direkt erleben konnte, war mir suspekt; sie ließ Vorstellungen an Pionier-Romantik der Nazis in mir hochsteigen. Zu Unrecht, wie ich heute weiß, denn meine Mutter war nie von diesen Organisationen erfasst, aber zu dicht lagen die Nazi-Nebel noch auf allem, was mit Blut und mit Boden auch nur entfernt zu tun haben konnte. Selbst der „Monte Veritas“, das Wahrzeichen der Lebensreformbewegung der zwanziger Jahre und der Wandervogelbewegung, schimmerte nur als braune Silhouette durch diesen Dunst. Erst sehr viel später traten seine ursprünglichen Konturen für mich aus den düsteren Nebeln hervor.
Unter all diesen Umständen entschied ich mich, mein Studium abzubrechen und in die polit-journalistische Praxis zu gehen. Das war kein Abbruch für mich, es war die konsequente Verwirklichung einer Perspektive: Ich wollte die Welt neu erleben und durch das Leben neu gestalten. Es war eine Orientierung auf die Praxis, auf das Jetzt und Hier. Viele junge Leute trafen damals solche Entscheidungen; manche sind später reumütig in den Universitätsbetrieb und in die Institutionen zurückgekehrt. Sei´s drum. Das ändert nichts an dem Bewusstsein, eine offene Zukunft vor sich zu haben, mit dem die Generation damals aufbrach, um die Gesellschaft umzustülpen. Zwei Slogans erfassten die ganze Bewegung: „Kampf dem Konsumterror“ war der eine, „Vogliamo tuto i subito!“, wir wollen alles und zwar jetzt, der andere. Hintergrund war der Aufbruch Deutschlands aus seiner Nachkriegsgeschichte, der heute selbst Konservative, die uns damals als Gammler, Chaoten usw. beschimpften, dazu veranlasst, sich als Achtundsechziger zu bezeichnen.
Es gibt so viel zu erzählen für den, der sich erinnert. Vielleicht sollte ich ein bisschen strukturieren? Da ist der Wechsel von meinem ersten Studienplatz in Göttingen nach Berlin. Eine individuelle Entscheidung meiner Biografie, versteht sich, aber wohl doch symptomatisch für die Zeit. Ich wollte, wie schon angedeutet, der literarischen Gemütlichkeit des akademischen Ghettos entkommen, obwohl mir das Gartenhäuschen, in dem ich damals für 30 DM monatlich oberhalb der Stadt am Hang wohnen konnte, viele gute, intensive Stunden, viel Zeit für Liebe und Inspirationen, für Geschichten, Gedichte und den Entwurf eines weiteren, später von mir vernichteten Romanes gönnte. Doch der Druck des Muffs und der Zug nach Veränderung war stärker! Berlin war die Herausforderung. Berlin kochte. Frontstadt zwischen Ost und West. Anlaufstelle für Unangepasste, für Studenten, die dem Wehrdienst entkommen wollten, für innovative Intelligenz und eine unüberschaubare „Szene“ bekannter und unbekannter, erfolgreicher wie gescheiterter Künstler, die sich unter den Sonderbedingungen der Stadt ansammeln konnte. Kreuzberg – ein Synonym für einen sozialen Hochofen ohnegleichen. Ich stürzte mich mitten hinein – mehr in Kreuzberg als an der Universität. In Kreuzberger Trümmerwohnungen bildeten wir erste Kommunen. Möbel lieferte die Stadt aus ihren Altbeständen. Wer sich die Mühe machte zu Sperrmülltagen an den richtigen Orten zu sein, konnte ganze Etagen mit ausgesuchtestem Mobiliar ausstatten, wahlweise antik oder auch modern. Ein besonderes Problem der Stadt war zu der Zeit die hohe Zahl der Rentner und Rentnerinnen, die starben, ohne Verwandte zu hinterlassen. Wir kauften uns einen klapprigen alten VW-Kleinbus und boten uns zum Ausräumen verlassener Wohnungen an. Davon konnten wir zeitweilig existieren, Dann kamen sehr schnell die professionellen Händler.
In Kreuzberg lebten wir direkt an der Mauer, Schlesisches Tor, fünfter Hinterhof. Romantisch? Ja, aber sehr rau – immer jedoch getragen durch die gemeinsame Bewegung, die als Athmosphäre des Aufbruchs, des Savoir-Vivre, des Bohème etc. eine Kraft ausströmte, in der zu leben gut war. Einfache Lust am Dasein. Nachts jobbte ich in Kreuzberger Künstlerkneipen – tagsüber versuchte ich es doch noch einmal mit dem Studium. Aber ehrlich gesagt: Das Leben – und auch das Schreiben – war interessanter.
Noch interessanter wurde die Politik. Da war der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der an der Ecke Kurfüstendamm / Joachimstalerstr. ein leer stehendes Eckhaus zum Zentrum umfunktioniert hatte. Hier wurden in dichtem Qualm der Pfeifen und Zigaretten die Theorien der anti-autoritären Studentenrevolte geboren. Rudi Dutschke war die führende Gestalt. Für mich war die Happening-Kultur der Kommune I interessanter, deren Anti-Spießer-Aktionen auch vor der politischen Kultur des SDS nicht haltmachten. Nicht weniger interessant war die Kommune 2, die sich selbst zum Objekt pädagogischer Experimente machte. Gruppen wie diese bildeten den Körper, schafften die emotionalen Impulse, zu dem der SDS die Theorien lieferte. Eine unabgesprochene, spontane Arbeitsteilung war das, welche die Akteure mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zusammenführte.
Es war eine offene Szene, in der sich Spitzel wie Peter Urbach unerkannt tummeln konnten. Peter war Mädchen für alles, hatte immer alles zur Hand, was gebraucht wurde, war bei jeder kitzligen Aktion mit dabei. Ganz anders, aber ebenso rührig, der später bekannt gewordene Andreas Baader, der sich abenteuernd durch diese Szene bewegte. Ich selbst hielt es für richtig, mit einem Freund zusammen die große Vietnam-Demo, zu der 30.000 Menschen in Berlin zusammenkamen, von einem Hotelfenster aus mit einem Lautsprecher-Happening in Bewegung zu versetzen, indem wir schrilles Sirenengeheul auf den unten vorbeiziehenden Zug der Demonstranten niedergehen ließen.
Aber schließlich erwischte mich die Klaustrophobie – persönlich wie auch politisch. Meine persönlichen Verhältnisse wurden eng. Kein Geld. Beziehungsknatsch. Die KI wechselte vom provozierenden Polit-Happening zur Strategie der Subkultur, als sie eine alte Fabrikhalle mietete, in deren Etage sie vor allem anderen ein gewaltiges gemeinsames Matratzenlager einrichtete. War die „Zweierbeziehung“ schon vorher prinzipiell in Frage gestellt, so wurde sie nun praktisch behindert. Rainer Kunzelmanns Babyphon wachte über verdächtige Aktivitäten. Real liefen die Dinge anders als in der Ideologie: Rainer Langhans verliebte sich in das Fotomodell Uschi Obermeier aus München. Uschi zog in die Kommune. Es kam zu heftigen Spannungen um Kunzelmanns Kontrollen. Für mich deutete sich hier der Irrweg eines Gemeinschaftsterrors an, den ich nicht mitgehen wollte. Rainer Langhans erklärte mir daraufhin, ich hätte eben nicht das rechte Verständnis für das mythische Erlebnis der Kollektivität.
Hatte ich in der Tat nicht. Mir wurde klar: Für mich war mein ganzes Leben geprägt von der Suche nach neuen Gemeinschaftsformen. Ich suchte nach neuen Wegen ihrer Verwirklichung, aber der Weg, den die KI mit ihrem Subkulturzentrum eingeschlagen hatte, war dabei sich in den einer Zwangsgemeinschaft verkehren, in der ihre Mitglieder sich gegenseitig mit ihren uneingelösten Ansprüchen terrorisieren mussten. Ähnliche Symptome zeigten sich an der KII, in der die überzogenen Ansprüche an die Ent-Konditionierung der vorgegebenen sexuellen Sozialisationen, sprich der Gewohnheiten, Liebe in Zweierbeziehungen, Ehe und Familie zu erleben, ebenfalls zu unerträglichen psychischen Spannungen führte Die bekamen auch dadurch keinen Modellcharakter, dass sie als höchst interessanter Erfahrungsbericht, der tiefe Einblicke in die herrschenden Strukturen unserer Gesellschaft vermittelt, in Form eines Buches herausgesetzt wurden. Auch das politische Klima in der Stadt wurde eng: Bei Demonstrationen, auf denen die Interessen der Arbeiterschaft auf den Plakaten mitgeführt wurden, schütteten uns die Frauen der Kollegen kübelweise Wasser aus den oberen Stockwerken auf die Kopfe. Auf die Dauer zeichnete sich eine Überhitzung des Klimas bei gleichzeitigem Leerlauf der Aktionen ab, die in eine Sackgasse zu führen drohte – und wie wir heute wissen, mit dem Mordversuch an Rudi Dutschke sowie der Bildung der RAF auch geführt hat. So nicht, war mein vorläufiges Fazit. Ich verließ daher Berlin, um mit Freunden in Hamburg eine Künstler-Polit-Kommune zu gründen, die freier angegangen werden sollte. Freundschaft als Basis. Wir nannten uns „Ablassgesellschaft“. Darin lag der sinnige Bezug auf Tetzel, der seinerzeit mit dem Spruch „Wenn die Münze im Beutel klingt, die Seele in den Himmel springt“ als Retter der Kirche durch die Lande zog. Auch wir verstanden uns als „Retter“, wenn auch nicht der Kirche, so doch der durch Konsum, stickige Sexualmoral und Krieg gefährdeten Gesellschaft. Unser Programm war die Umstülpung aller Werte durch radikale Selbstexperimente, provozierende Einzel- und Gruppen-Happenings sowie Eingriffe in die gesellschafts-politische Debatte. Die Droge, Haschisch, LSD samt der dazu gehörigen Botschaft des Amerikaners Timothy Leary, der durch LSD zu einem neuen Bewusstsein und einer neuen Gesellschaft kommen wollte, gehörten dazu, waren Bestandteil unseres Alltags. Gemeinsames Eigentum und freie Liebe waren Gebot und selbstverständlich auch das, was die Öffentlichkeit von uns wahrnahm. Geile „shootings“ gestellter Orgien besserten unsere Kasse auf; tatsächlich hat so etwas nie stattgefunden.
Die Realität lief auch hier wieder anders: Die sehr intensiven Selbsterfahrungen, die aus den individuellen und gemeinschaftlich inszenierten Tabubrüchen anfänglich resultierten, verkehrten sich nach einiger Zeit in nicht erfüllbare gegenseitige Ansprüche: Der Anspruch auf freie Liebe wurde zum Druck, besonders für die Frauen; der Anspruch auf gemeinsames Eigentum verwandelte sich unter dem Motto des Kampfes gegen den Konsumterror auf äußerst paradoxe Weise in eine Diffamierung derer, die es für nötig hielten Geld zu verdienen. Der Anspruch auf Bewusstseinserweiterung durch „Stoff“ wurde für viele zur Dröhnung. Die Teilnahme am politischen Diskurs reduzierte sich auf eine Selbstdarstellung der Gruppe und ihre personelle Ausdehnung. Dies allerdings immerhin! Die „Ablassgesellschaft“ wurde Zentrum kulturpolitischer Provokationen in Hamburg, verband sich mit vergleichbaren Gruppen in anderen Städten, u. a. der KI in Berlin, der „Haifischkommune“ in München. In Hamburg selbst kam es zu Zellteilungen, die sich als Teil einer beginnenden „Kommunebewegung“ begriffen. Letztlich wiederholte sich aber der Vorgang, an dem schon KI und KII gescheitert waren: Überhöhte Ansprüche an „vogliamo tuto i subito“ verkehrten die anfängliche Befreiung in zwanghafte Beziehungen, die tendenziell terroristische Züge anzunehmen begannen.
Der Ausweg führte in eine Spaltung der Bewegung: Allen gemeinsam war die Einsicht, dass tatsächliche Veränderungen nicht stellvertretend, sondern nur durch eine Veränderung der gesamten Gesellschaft, insbesondere auch ihrer arbeitende Schichten erreicht werden könnten. Einige zogen daraus die Konsequenz, den sog. „langen Marsches durch die Institutíonen“ anzutreten, andere, so ich, fanden sich unversehens in der „neuen Kommunistischen Bewegung“. Das will ich hier nicht weiter ausführen; darüber wäre ein andermal zu reden.
Eine dritte Strömung, repräsentiert durch die jetzt entstehende Drogenselbsthilfe „Release“, ging den Weg des verstärkten subkulturellen Engagements. Alle drei Strömungen bildeten extrem voneinander getrennte Szenen, die lange Jahre unverbunden nebeneinander existierten. Heute sind sie vermischt.
Es gibt noch viele, sehr interessante Details zu erzählen. Ich möchte nun aber, nachdem ich so lange über den Zorn gesprochen habe, noch einmal auf die Träume zurückkommen: Wo stehen wir heute? Wir träumten damals, gesättigt und versorgt, von einer konsumfreien Welt. Der freie Flug einer kollektiven Meditation mit Hilfe von Hasch, LSD, Reisen nach Indien, Tibet und Nepal schien möglich. Heute wissen wir, dass die Landung für viele sehr hart war: die „neue kommunistische Begegnung“ musste sich an der Krise des Sowjet-Sozialismus messen und reduzieren lassen; der lange Marsch durch die Institutionen endet vorläufig in der Zustimmung der Grünen zu Militäreinsätzen in Afghanistan und anderswo, ja nicht nur in der Zustimmung, sondern in Forderungen danach, weil Freiheit und Demokratie dort verteidigt werden müsse. Die Haschisch- und LSD-Euphorie endete für viele in der Selbsthilfe von „Release“, aber als „Release“ sich anschickte, Drogen zu legalisieren, um sie handhabbar zu machen, wurde die Organisation zerschlagen. Heute ist wieder jeder und jede individuell mit der Welt konfrontiert, mehr noch, die zunehmende Lohnarbeitslosigkeit wirft immer mehr Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen. Diese Entwicklung lässt alte Träume mit frischer Kraft aufs Neue entstehen. Geschichte entwickelt sich wie alles, so scheint es, in Wellen. Wir befinden uns im Tal der Entsolidarisierung; vor uns bildet sich allmählich eine nächste Welle, die individuelle Freiheit und Gemeinschaft auf neue Weise verbinden könnte. Dies jedenfalls ist der Traum, für dessen Verwirklichung wir uns heute einsetzen können.

Kai Ehlers

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Kai Ehlers

Unbewältigte Geschichte – aufgerüstete Normalität. Mord an Jürgen Ponto, Stammheim, „Deutscher Herbst“

Dreißig Jahre ist es her, doch eher verdrängt als bewältigt: Am 30. Juli 1977 wird Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in seiner Wohnung von einem RAF-Kommando erschossen. Beteiligt sind Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und als Fahrer des Fluchtwagens Peter-Jürgen Book. Am Tag darauf bekennt sich eine „Befreiungsbewegung Aktion Roter Morgen“ zu der Tat. Sie nennt Ponto einen dieser „Typen, die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten.“

Der Kritik an diesem Mord begegnet die RAF mit der Erklärung, man habe Ponto entführen wollen, um die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern zu erzwingen und Geldmittel zu besorgen. Als Ponto sich gewehrt habe, sei er im Handgemenge getroffen worden. Später erklärte Susanne Albrecht, Ponto sei ohne Widerstand zu leisten erschossen worden. Diese Variation übernahm auch das Gericht, das Susanne Albrecht zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Welche Erzählung über den Tathergang am Ende stimmt, muss offen bleiben. Die Öffentlichkeit, auch die Linke, reagierte mit Entsetzen, insbesondere angesichts der Kaltschnäuzigkeit, mit der Susanne Albrecht als damalige Freundin des Hauses Ponto die Türöffnerin für das Überfallkommando abgab.

Jürgen Ponto war das zweite Opfer der „Offensive 77“ der RAF. Am Anfang stand Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der am 7. April 1977 beim Halt an einer Ampel in Karlsruhe von einem Motorrad aus erschossen wurde. Drei weitere Insassen des PKW starben mit ihm. In dem darauf folgenden Bekennerschreiben wurde Buback für die in der Haft umgekommenen RAF-Mitlieder Holger Meins, Ulrike Meinhof sowie den bei der Erstürmung der Stockholmer Botschaft getöteten Siegfried Hausner verantwortlich gemacht. Anwälte inhaftierter RAF-Mitglieder erklärten öffentlich, dass sie in „tiefster Empörung und Abscheu den sinnlosen den brutalen Mord verurteilen.“

Einige Wochen nach der Ermordung Pontos bereitet ein RAF-Kommando einen Angriff auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vor, indem sie eine selbst gebastelte Raketenwerfer-Anlage in einem Privathaus gegenüber dem Gebäude der Anwaltschaft installiert. Der Anschlag schlägt fehl, weil die Zündung versagt; ein Erfolg hätte katastrophale Folgen gehabt.

Mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer am 5.9.1977 beginnt das, was als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte der BRD eingehen wird. Schleyers Konvoi wird in Köln auf offener Straße gestoppt, seine Begleitmannschaft erschossen, er selber entführt. Ein „Kommando Siegfried Hausner“ fordert ultimativ die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollen, sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen.
Im Gegenzug bildet die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt einen überparteilichen „Großen Krisenstab“. Dieser verhängt eine absolute Nachrichtensperre, eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF und leitet eine bundesweite Fahndungsaktion ein. Auf die Forderungen der Entführer allerdings wird nur zum Schein eingegangen. Fünf Wochen nach Schleyers Entführung, am 13. Oktober 1977, wird eine Maschine der Lufthansa, die Landshut, mit 91 Menschen an Bord von einem palästinensischen „Kommando Matyr Halimeh“ gekapert. Auf dem Irrflug der Landshut zu einem möglichen Landeplatz wird der Flugkapitän Jürgen Schumann erschossen. Nach fünf Tagen landet die Maschine in Somalia. Hier wird sie von einem GSG-9 Sonderkommando in der Nacht vom 17. auf den 18.9. gestürmt, drei der Entführer werden erschossen, die Geiseln befreit.

Am Morgen danach, also am 18.9., werden Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt, Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend und Irmgard Möller durch Messerstiche verletzt im Stammheimer Gefängnis aufgefunden. Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen folgt umgehend: Selbstmord. Einen Tag später geht bei der französischen Tageszeitung Liberation ein Schreiben ein, in dem die RAF mitteilt, dass man „nach 43 Tagen Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“ habe. Die Polizei findet den Leichnam Schleyers im Kofferraum eines PKW im Elsaß; der Entführte ist durch Genickschuss getötet worden.

In diesen Tagen erreichte die schon lange medial geschürte Lynchstimmung gegenüber den inhaftierten RAF-Mitgliedern ihren Höhepunkt. Die durch den neuen Straftatbestand der Unterstützung der terroristischen Vereinigung eingeschüchterte linke und linksliberale Szene beeilt sich Distanzierungsgesten von der RAF abzugeben. Schon im März hatte der Staatsschutz nach § 88a StGB zum Beispiel gegen die Mitglieder des Verbandes des linken Buchhandels wegen „verfassungsfeindlicher Befürwortung von Straftaten“ ermittelt. Nach dem so genannten Mescalero-Nachruf auf Siegfried Buback in der Göttinger Studentenzeitung fand im Mai in Göttingen eine Großrazzia in allen verdächtigen Einrichtungen und Wohnungen statt. Und zum Auftakt der Aktion „Wasserschlag“ wurden am 17./18. Oktober in Berlin 38 Büros, Buchhandlungen und Wohnungen durchsucht.

In dieser Situation wagten nur noch wenige Medien Zweifel an der Selbstmordthese der Behörden vorzubringen. Der Arbeiterkampf des in Norddeutschland aktiven Kommunistischen Bundes beispielsweise kritisierte zwar die Handlungsweise der RAF, insbesondere die Geiselnahme Unbeteiligter in der Landshut, als „verbrecherisch“, forderte aber zugleich die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Umstände, die zum Tod beziehungsweise zur Verletzung der Stammheimer Gefangenen geführt hatten. Mit dem Verdacht, die Gefangenen könnten ermordet worden sein, stand die marginalisierte Linke nicht allein, führende europäische Tageszeitungen teilten die Forderung, die Vorkommnisse ist Stammheim zu untersuchen.

Eine solche Kommission wurde nie eingesetzt, vielmehr ist eine Aufklärung der Ereignisse durch den sofortigen Umbau des Stammheimer Hochsicherheitstrakts bewusst verhindert worden. Bis heute muss daher offen bleiben, ob die Gefangenen sich zum Freitod miteinander verabredet haben, wie die Bundesanwaltschaft es erscheinen ließ, oder ob sie von interessierter Seite umgebracht wurden. Irmgard Möller bestreitet bis heute eine solche Verabredung, andere RAF-Mitglieder, unter anderem Susanne Albrecht, behaupten, es habe den Plan gegeben, mit dem eigenen Tod ein letztes Fanal gegen den Staat zu setzen, falls die Landshut-Aktion scheitern sollte.
Der „Deutsche Herbst“ veränderte die Gesellschaft der BRD auf eine Weise, die 25 Jahre später der um Objektivität bemühte Diplomand Christoph Bahn in seiner Abschlussarbeit als „Aufrüstung der Normalität“, die zur „chronischen Bedrohung der Freiheit werden“ kann, zusammengefasst hat. Diese Aufrüstung beinhaltete ein Bündel juristischer und administrativer Maßnahmen, die den Boden vorbereiteten nicht nur für die heutige internationale Terrorabwehr, sondern auch für die mögliche Bespitzelung der eigenen Bevölkerung.

Zunächst wurde mit der Einsetzung des Krisenstabs faktisch die verfassungsmäßige Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt. Der schon erwähnte § 88a StGB, damals als „Maulkorbparagraph“ angeprangert, war auf Kriminalisierung der Linken angelegt. Er untergrub die politische Diskussionskultur und bereitete die Bevölkerung auf den „großen Lauschangriff“ späterer Jahre vor. Mit §129a StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) wurde die Strafverfolgung vor die eigentliche Tat verlagert; zahlreiche Strafrechtsänderungen höhlten die Meinungsfreiheit und die Rechte der Verteidigung und der Inhaftierten aus. Die RAF-Attentate lieferten dem Staat den Vorwand, Polizei und Geheimdienste aufzurüsten und in neue, durch das Grundgesetz nicht gedeckte Kommandostrukturen zu überführen. Die bei der Entführung der Landshut eingesetzte GSG 9 etwa entbehrte jeglicher verfassungsmäßigen Grundlage. Mogadischu war das Aufmarschfeld, auf dem der „finale Todesschuss“ legitimiert und exekutiert wurde.

Unter dem Stichwort des Kampfes gegen die „organisierte Kriminalität“ wurden diese Strukturen und Maßnahmen in den auf den „Deutschen Herbst“ folgenden Jahren weiter ausgebaut. Seit dem 9.11. 2001 ist der „permanente Ausnahmezustand“ zum Alltag eines Staates geworden, der sich inzwischen als präventiver Sicherheitsstaat begreift, und längst ist der „Deutsche Herbst“ dabei in einen europäischen überzugehen, wie etwa die Zusammenarbeit europäischer Sonderpolizei-Einheiten in der sog. „Atlas-Gruppe“ seit 2002 sowie die Bildung einen EU-Grenzschutzeinheit „Frontex“ nach dem Muster der deutschen GSG 9 zeigt; von den kürzlich laut gewordenen ministeriellen Fantasien, potenzielle Terroristen vorsorglich zu töten, einmal ganz abgesehen.

Kai Ehlers

Raketenstreit: Wille zur Hoffnung

Am 30. und 31. Juli sollen in Washington neue Zeichen im Raketenstreit gesetzt werden. Amerikaner und Russen wollen verhandeln. Moskau rechnet mit einem »positiven Ergebnis«. Was immer das sein könnte – schön wär´s. Man möchte es glauben; allen voran offenbar die russische Delegation. Zwar hat Präsident Putin, nachdem der US-Senat die Stationierung in Osteuropa jüngst zum staatspolitischen Ziel erhoben hat, mit einem Erlass reagiert, der die Aussetzung des KSE-Vertrages vorsieht, falls die USA nicht einlenken sollten. Aber der stellvertretende russische Außenminister Kisljak, der nun auch Verhandlungsleiter in Washington sein wird, teilte der Öffentlichkeit zugleich mit, man schlage die »Tür zum Dialog« nicht zu.

Nun ist es also so weit? Skepsis ist angebracht. Handelt es sich doch nicht nur um die Beseitigung eines Ausrutschers einer ungehobelten US-Diplomatie nach dem aus Zeiten des Kalten Krieges bekannten Motto »Erst entscheiden, dann verhandeln«, und auch nicht nur um die Mäßigung polnischer Eskalateure, die ihr eigenes Süppchen auf der US-Flamme kochen wollen. Nein, der aktuelle Raketen-Vorstoß der USA nach Osteuropa ist nur die Speerspitze einer lange geschmiedeten Waffe zur Herstellung konkurrenzloser US-amerikanischer Überlegenheit auf dem Gebiet konventioneller und nuklearer Rüstung.

Von Trumans »Eindämmungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg über die Kuba-Krise in den 60ern, Reagans »Reich des Bösen« und Clintons Entwurf einer »nationalen Raketenabwehr« von 1999 bis zu dem von George W. Bush nach dem 11. September 2001 eröffneten »Krieg gegen den Terror« zieht sich die Strategie der Einkreisung Russlands als roter Faden durch die US-Politik.
Strategen wie Zbigniew Brzezinski oder Henry Kissinger haben als Ziel die Aufgabe benannt, den Zugriff auf Eurasiens Ressourcen-Reichtum und die globale US-Hegemonie durch Niederhaltung möglicher Konkurrenten – allen voran Russlands – langfristig zu sichern. Die Kündigung des ABM-Vertrages durch George W. Bush ist Ausdruck dieser Entwicklung. Durch sie wurde die Politik des strategischen Gleichgewichts zwischen Russland und den USA provokativ beendet. Aber Bush ist nur Vollstrecker. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin könnte geschmeidiger sein; eine prinzipielle Wende der US-Politik ist jedoch nicht zu erwarten.

Die geplanten Raketenabwehr-Stationen der USA in Osteuropa sind mit der Aufforderung an die EU verbunden, sich dieser Strategie zu unterwerfen. Die bislang verweigerte Ratifizierung des KSE-Vertrags durch USA und EU und der Bruch der NATO-Zusagen, sich nicht nach Osteuropa auszudehnen, ergänzen dieses Bild. Die Raketenpläne der USA in Osteuropa sind nur ein letzter Schritt in einer langen Reihe gebrochener Versprechen der NATO. Hatte diese doch ebenso zugesichert, Osteuropa von ihrem Nuklearpotential frei zu halten. Die Raketen, die nun dort stationiert werden sollen, sind aber Bestandteil der nuklearen Erstschlagsstrategie der USA. Sie machen Europa zu ihrem Vorhof und bedrohen Russland. Die US-Pläne müssten nicht verhandelt, sondern strikt zurückgewiesen werden – von Russland und der EU gemeinsam. Russland ist gewillt, auf solche Einsicht zu hoffen.

Kai Ehlers

Raketenstreit: Was will Putin?

Der G8-Gipfel vom Anfang Juni brachte neben einigen unverbindlichen Harmoniebezeugungen in Sachen Klimaschutz, Afrikahilfe und anderem eine für alle Seiten verblüffende Wendung: Störenfried Wladimir Putin, auf dessen Abwehr der US-amerikanischen Raketenpläne sich die politische Berichterstattung im Vorweg des Gipfels bereits eingeschossen hatte, überraschte George W. Bush während des Gipfels mit dem Vorschlag, Russland und die USA könnten alternativ zu Standorten in Polen und Tschechien einen gemeinsamen Stützpunkt in Aserbeidschan aufbauen. Ein gemeinsamer Raketenstützpunkt in Aserbeidschan sei effektiver, so Putin, weil näher am Ort möglicher Raketen-Startplätze, er sei flexibler, weil nicht sofort in eine unbekannte Entwicklung hinein investiert werden müsse, sondern der schon vorhandene Standort aufgerüstet werden könne, wenn es sich als notwendig erweise und schließlich könne von dort aus das gesamte Europa und nicht nur, wie von Polen oder Tschechien aus, ein Teil Europas gesichert werden.
George W. Bush war, trotz diverser Vorgespräche so überrascht, dass es bei ihm – auch noch nach Tagen – nur zum Kommentar: „interessanter Vorschlag“ reichte; die Europäer zeigen sich entspannt durch Putins „Rückkehr zur Verständigung“, von der Sache her gibt man sich skeptisch, ob die in Aussicht genommene aserbeidschanische Basis „nicht zu nah an den Schurkenstaaten“ liege, wie Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer kommentierte. In den deutschen Medien herrscht der Tenor vor, Putins Vorschlag sei eine Finte, mit der er vom schlechten Image Russlands ablenken wolle.
Aber nein, Putins Vorschlag ist keine Finte, sowenig wie sein Auftritt vor der NATO-Konferenz vor ein paar Monaten eine Aggression war: Vor dem Hintergrund der Grundorientierung Putins, Russland stabilisieren und die Selbstachtung des Landes als Subjekt des Weltgeschehens, konkret als Faktor der Integration Eurasiens wieder herstellen zu wollen und zum Impulsgeber einer multipolaren neuen Weltordnung zu machen, ist der Vorschlag als ernst gemeinter Zug zu begreifen, der darauf zielt:
– die konkrete Bedrohung Russlands minimieren,
– die Spaltung des Bündnisses zwischen EU und Russland durch einen zwischen ihnen entstehenden US-Einflussgürtel zu verhindern,
– die Ernsthaftigkeit der US-Begründung überprüfbar zu machen, nach der die Raketen dem Schutz Europas dienen sollen
– und schließlich einen innenpolitischen Wegweiser für eine über Putins Amtszeit hinausweisende strategische Orientierung aufzustellen, die lautet: Internationale Kooperation auf Augenhöhe, statt Unterordnung unter eine globale US-Hegemonie.
Zur Frage der tatsächlichen Bedrohung erschien Anfang Mai ein Artikel in der russischen Zeitschrift „Iswestija“, früher Flaggschiff der Parteipresse, soeben von Gazprom übernommen, in dem unter der Überschrift: „Raketenschutzschild: maskiert als Schutz, aufgebaut für den Überfall“, die Lage aus Sicht des russischen Militärs geschildert wird. Danach haben die USA bereits jetzt eine Situation geschaffen, dass sie über seegestützte „Tomahawk“-Abfangraketen „praktisch jeden Ort Russlands vom Atlantik, vom Nordmeer und vom Pazifik aus innerhalb von Sekunden erreichen können.“ (siehe Schaubild) Die Vorverlagerung der Abschußmöglichkeiten wäre eine zusätzliche Verdichtung und zeitliche Verkürzung dieses US-Netzes auf Vorabinformation, die aus der Radarüberwachung zu beziehen wären.
Putins Alternative, in Aserbeidschan eine gemeinsame Raketenabwehr zu betreiben, ändert nach diesen Angaben also nichts Wesentliches an den technischen Voraussetzungen der militärischen sog. Sicherheitslage, die wären von einem polnisch-tschechischen Standort aus die gleichen wie von Aserbeidschan aus. Dabei ginge es im Wesentlichen um gegenseitige informationelle Transparenz. Die politischen Bedingungen der Kooperation sind jedoch in beiden Fällen vollkommen anders: Der Aufbau von US-Raketenstationen in Polen und Tschechien, selbst wenn es in Kooperation mit Russland geschähe, liefe darauf hinaus, US-Präsenz in den anti-russischen Problemstreifen zwischen EU und Russland zu holen und einen Dauerkonflikt zwischen EU und Russland zu institutionalisieren; in Aserbeidschan dagegen befände man sich gewissermaßen auf neutralem Gelände und zudem unmittelbar vor den Toren der Kräfte, die es nach übereinstimmenden Positionen von USA, Russland und EU im Zaum zu halten gilt. Für diese Sicht spricht auch, dass Aserbeidschans Präsident Alijew keine Probleme mit einer solchen Nutzung der schon bestehenden russischen Station Cabla sieht.
Damit rückt der dritte Aspekt ins Licht, der in Putins Vorschlag liegt: An der Reaktion auf seinen Vorschlag kann sich zeigen, wie ernst die Begründung der US-Amerikaner zu nehmen ist, dass es bei der Aufstellung der Raketen um einen Schutz Europas vor Bedrohungen aus den „Schurkenländern“ gehe: In einem Stützpunkt Cabla in Aserbeidschan wäre eine Abwehr möglicher Raketengefahren aus dem „Schurkenbereich“ nicht nur schneller und sicherer, weil näher am Ort möglicher für gefährlich gehaltener Abschussrampen, sie beträfe nicht nur das ganze Europa und wäre auch – wie Putin ausdrücklich hervorhebt – weit im Vorfeld möglich, sie wäre als Projekt globaler Sicherheit auch gemeinsam von den USA, Russland und der EU, statt in Konkurrenz und in Konfrontation zueinander praktizierbar.
Dies alles bedeutet, Putin versucht, die technische Bedrohung, die darin besteht, dass die USA heute in der Lage sind, Russlands atomares strategisches Antwort-Potential praktisch auszuschalten, durch eine politische Lösung einzumanteln.
Ob die USA sich darauf einlassen – ist eine andere Frage, über die die Welt bald genauer bescheid wissen wird, Aber dann ist auch klar, welchen Zielen die US-Raketenaufrüstung tatsächlich dienen soll.
So gesehen ist Putins Vorschlag für einen gemeinsam betriebenen Raketenstützpunkt in Aserbeidschan – auch dieses wieder zusammen mit dem Auftritt vor der Nato-Tragung in München zu sehen – ein Vermächtnis an seinen Nachfolger, wer immer er sei, konsequent an einer Politik zur Entwicklung einer multipolaren Ordnung festzuhalten, die auf Kooperation und Kräfteausgleich, statt auf Unterordnung unter die Weltherrschaft der USA oder Wettrüsten und militärische Konfrontation setzt.
In die gleiche Richtung zielt Putins Auftritt auf dem russischen Wirtschaftsforum in St. Petersburg einen Tag nach Heiligendamm, von dem Putin zwei sich ergänzende Botschaften aussandte, die von der westlichen Presse flugs als „doppelte Signale“ gekennzeichnet wurden: Er bekräftigte Russlands Interesse, sich der WTO anzuschließen und deren Regeln unterzuordnen, kritisierte aber zugleich den Protektionismus der westlichen Gründerstaaten der WTO; er lud globales Kapital zu Investitionen in Russland ein, insbesondere in den Energiesektor, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Russland Öl und Gas in der Verfügungsgewalt von Roßneft und Gazprom, den beiden halbstaatlichen Energiegiganten behalten werde.
Angesichts all dieser Auftritte Putins kann man nur wiederholen, dass die Welt in Zukunft mit einem selbstbewussten Russland zu rechnen hat, auch wenn es militärisch nicht an die USA heranreicht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.