Rußland hat gewählt, Rußland wird wählen. Die Ergebnisse der Dumawahl sind bekannt: Eine hauchdünne Mehrheit für die regierende „Partei der Macht“, eine noch immer anschwellende Protestbewegung gegen die unsauberen Methoden der Mehrheitsbeschaffung und gegen einen Wiederantritt Wladimir Putins als Präsident der Republik sind die Folgen.
Kategorie: Tagesthemen
Aktuelle Artikel, laufendes Geschehen
Russland: Permanente Revolte oder Reformen?
Erneut gingen Zehntausende in Rußland auf die Straße. Die Polizei hielt sich zurück, alles verlief friedlich. Weitere Demonstrationen sind für das Frühjahr 2012 angekündigt. Steht Rußland eine Zeit der permanenten Revolten bevor? Was sagen die Fakten dazu?
Rußland: Zwischentöne zur Wahl
Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben.
Bomben in Moskau – auf ein Wort
Erneuter Bombenanschlag in Moskau: Dieses mal in der Wartehalle des Flughafens Domodedowo. 35 Tote, 180 z. T. schwer Verletzte. Unmittelbare Zeugen, Angehörige der Opfer stehen unter Schock. Soll man, darf man kommentieren?
Russland – Ende des Dialoges?
Russland – Ende des Dialoges?
„Rache“ schwor Präsident Medwedew bei der Trauerfeier für die Opfer der Anschläge in der Moskauer Metro und erklärte, ab sofort „Krieg gegen den Terror“ führen zu wollen. Aus der Kanalisation werde man die Verbrecher herauszerren und sie vernichten, drohte Wladimir Putin. KP-Chef Gennadij Szuganow forderte die Todesstrafe für Terroristen.
Weitere Anschläge kündigte indes Doku Umarow an, der die Verantwortung für die Anschläge übernahm. Seit 2007 ist er als selbst ernannter Emir eines „Kaukasus-Emirates“ bestrebt, einen unabhängigen kaukasischen Gottesstaat zu errichten. „Der Krieg wird in ihre Städte kommen“, hatte er bereits im Februar dieses Jahres gedroht, als er sich zu einem Anschlag im November 2009 bekannte. In Dagestan, einer der südlichsten Provinzen des Kaukasus, folgten nur einen Tag nach den Moskauer Bomben zwei weitere blutige Explosionen; mit zukünftigen Anschlägen ist zu rechnen.
Sind die die russischen Staatsorgane dabei, sich auf diese Eskalationsstrategie einzulassen? Befürchtungen darf man haben. Allerdings hat Medwedew in derselben Ansprache auch gesagt, der Krieg gegen die Terroristen dürfe nicht dazu führen, dass die Menschenrechte verletzt würden. Russlands Politologen warnen davor – nahezu unisono –, jetzt eine „Gewaltspirale“ loszutreten. Spontan-Umfragen auf Moskaus Straßen zeigen, dass die Bevölkerung entgegen allen Erwartungen nicht in Hasstiraden gegen Kaukasier ausbricht. Zu unklar ist – trotz des Bekennerschreibens von Umarow – wer letztlich für die entstandene Situation verantwortlich zu machen ist und zu stark ist offenbar der Wunsch, nach Jahren der autoritären Restauration endlich in den Genuss der Reformen zu kommen, die Medwedew bei Amtsantritt versprochen hatte – Wachstum über 7%, soziale Reformen durch „nationale Projekte“, Freiheit der Selbstverwirklichung.
Wenig davon wurde bisher verwirklicht; das Reformprogramm schrumpfte mit der Krise. Seit die Öl- und Gaspreise jedoch wieder anziehen, erlebte auch die Modernisierungsdebatte in Russland eine neue Auflage. Allen voran durch den Präsidenten. Seit Ende 2009 ging er dazu über, die „Primitivität“ der russischen Wirtschaft zu beklagen, die Förderung von Hochtechnologie, sowie Unterstützung des Auslands, besonders der EU dafür zu fordern, um Russlands Abhängigkeit von Rohstoff-exporten zu mindern.
Ergänzend dazu lässt er eine Reformverordnung auf die andere folgen. Das sind, um nur die wichtigsten kurz zu nennen: Die Beschleunigung der Militärreform im Zuge der Neuausrichtung der russischen Militärstrategie; die „Schocktherapie“ zur „Reinigung“ von Polizei und Innenbehörden, die personell und strukturell durchgeforstet werden sollen; eine Verwaltungsreform, die darauf zielt, die bisherige „außerparlamentarische Opposition“ und die nicht in der Duma vertretenen Parteien in die Politik zu integrieren; eine neue Linie in der Kaukasuspolitik, dokumentiert in der Ablösung des bisher amtierenden Putin-Vertrauten durch einen neuen Verantwortlichen, der den repressiven Kurs durch wirtschaftlichem Aufbau, Bildungsmaßnahmen und Dialogangebote ersetzen soll.
Im März folgte dann die Veröffentlichung eines semi-offiziellen Modernisierungs-Programms durch ein eigens zu diesem Zweck gegründetes „Institut für moderne Entwicklung“ – unabhängig, aber dem Präsidenten sehr nahe stehend. Unter der Überschrift „Russland im 21. Jahrhundert: Modell einer wünschenswerten Zukunft“ werden von dem Institut neue Anstrengungen für die Modernisierung Russlands gefordert.
Neu ist in diesem Papier, das mit großem Getöse auf den Markt kam, zwar wenig; es werden die bereits bekannten Statements des Präsidenten ein wenig dramatisiert und mit neuen Vokabeln angereichert. Es gehe darum, einen „Wertekonflikt zu bewältigen“ von einer „Ressourcengesellschaft“ zu einer „vollwertigen Urbanisierung in der industriellen Epoche“ überzugehen – sonst sei ein „Rückstand“ unvermeidlich. Einen Rückstand aber könne sich Russland nicht leisten, wenn es Großmacht bleiben wolle. Ohne „Erneuerung des politischen Systems“, die den Bürgern mehr Entwicklungsmöglichkeit gegenüber einer „Überbetonung der Rolle des Staates“ gebe sei eine Modernisierung aber nicht möglich. Modernisierung stütze sich auf „Humankapital“ und brauche „Instrumente für eine Reproduktion des Humankapitals – Bildung, Pflege, Dialog mit den Verbrauchern, Abbau administrativer Barrieren usw.
Dies alles sind Gedankenfiguren, in denen sich das russische Denken seit den letzten Tagen der KPdSU bewegt, von der „beschleunigten Modernisierung“ und dem „Faktor Mensch“ bei Gorbatschow über Jelzin, Putin bis hin zu Medwedew. „Wünschenswert“, soweit sie das Leben der Bevölkerung verbessern, doch nichts wesentlich Neues.
Aufhorchen aber ließ doch, als Igor Jürgens, der Leiter des „Institutes für moderne Entwicklung“ Beamten und Mandatsträgern vorwarf, ihr Verhalten gegenüber der Anordnungen des Präsidenten „grenze an Sabotage“ und dass Präsident Medwedew solchen Leuten selbst damit droht, sie zu entlassen – und auch bereits Taten folgen ließ. Diese Vorgänge wecken in der Bevölkerung Hoffnung auf mehr, wie die Regionalwahlen vom März 2010 unmissverständlich zeigten, in denen die „Partei der Macht“ im Schnitt von 60% auf 40% Prozent der Stimmen reduziert wurde. Solche Hoffnungen will sich niemand durch Überreaktion gegen einen Gegner zerschlagen lassen, von dem klar ist, dass er eben von solchen Überreaktionen lebt.
Man kann nur hoffen, dass Medwedew sich von guten Leuten beraten lässt.
Mehr zu Russlands Umgang mit der Krise
In dem Ende April erscheinenden Buch von Kai Ehlers:
Kartoffeln haben wir immer –
Russland: Überleben zwischen Supermarkt und Datscha.
Verlag Horlemann, 14,90 €
Kritischer Blick auf Medwedew
Wollte man den Worten Medwedews glauben, dann begann in Russland im Frühjahr 2008 eine neue Phase der Reformen.
Atomdialog – liebt Russland die Bombe?
„Moskaus Liebe zur Bombe“ las man kürzlich in der FAZ. Man ist irritiert. Hat man sich an das freundliche „Change“ auf allen Seiten doch schon gewöhnen wollen:
Finanzkrise russisch – das Wunder von Pikaljewo
In einer russischen Kleinstadt geschah am 4. Juni 2009 ein Wunder, das die Gesetze außer Kraft zu setzen scheint, nach denen die Finanz- und Wirtschaftskrise bisher in der Welt verläuft.
Ukraine – Kampfplatz der Vermittler
Der Staub, den der neuste Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine aufgewirbelt hatte, beginnt sich zu lichten. Aber immer noch ist schwer erkennbar, wer da wen über den Tisch ziehen wollte, wer wen zu Recht beschuldigt. Die Ukraine zeigt auf Russland, Russland auf die Ukraine; beide zusammen auf den ominösen Zwischenhändler RosUkrEnergo, der Millionen aus der Veruntreuung russischer Gaslieferungen gezogen haben soll. Die EU, als Vermittler angerufen, verhielt sich neutral, verwahrte sich sogar gegen die Rolle des Vermittlers, weil sie den Anschein der Parteinahme vermeiden wollte. Selbst aus den USA war nicht viel mehr als eine milde Mahnung zu hören, die streitenden Parteien sollten die „humanitären Implikationen der Versorgungsunterbrechung“ bedenken. Sogar die übliche Suada der Medien gegen Russland blieb weitgehend aus. Nur Russland, konnte man schließlich doch noch lesen, habe es nicht unterlassen können, die USA zu beschuldigen, die Ukraine zum Gasdiebstahl angestachelt zu haben. Typisch Russen, aber absurd, so der Tenor. Soweit, so langweilig, könnte es scheinen.
Allmählich werden durch den abziehenden Dunst jedoch die Hintergründe erkennbar: Da wären zunächst einmal die beiden Abkommen zu erwähnen, die dem aktuellen Konflikt direkt vorauf gingen. Genau genommen folgten sie unmittelbar auf die Tatsache, dass NATO und EU der Ukraine in diesem Jahr sowohl den Zugang zur EU als auch zur NATO versperrten, bzw. mit windigen Erklärungen auf die lange Bank schoben. Ersatzweise aber schloss die EU mit der Ukraine im September 2008 ein Assoziierungsabkommen, das zwar keine Zusage auf Mitgliedschaft in der EU enthält, doch die Aussicht darauf eröffnet. Ein wesentlicher Punkt darin ist die verstärkte Zusammenarbeit in Fragen der Energiesicherheit.
Im Dezember 2008, zwei Wochen vor Ausbruch der Streitigkeiten, unterschrieb US-Außenministerin Condoleeza Rice dann die „Charta über strategische Partnerschaft“ zwischen der Ukraine und den USA. „In Übereinstimmung mit dem US-EU-Gipfel vom 10. Juni 2008“, heißt es darin, „vertiefen die Ukraine und die USA den dreiseitigen Dialog (wenn es denn einen dreiseitigen Dialog gibt! – ke) mit der Europäischen Union für eine verbesserte Sicherheit der Energieversorgung.“ Das bedeute, „die USA wollen der Ukraine bei der Modernisierung der veralteten ukrainischen Gaspipelines helfen.“
Hinter diesen Abkommen tritt sodann die Erklärung eines „US-EU Partnership Committees for Ukraine“ hervor, das am 14. Mai 2007, also weit vor diesen offiziellen Vereinbarungen in Berlin gegründet wurde. Es hat sich den Ausbau der Energiesicherheit in Zusammenarbeit von EU und Ukraine und die Verringerung der Abhängigkeit der Ukraine von Russland zum Ziel gesetzt. Initiator dieses Komitees war kein Geringerer als der Kurator und Berater des „Center for strategic and international studies“ (CIS), Sbigniew Brzezinski von amerikanischer Seite; auf deutscher Seite steht der Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe im Namen der „Deutschen Gesellschaft für ausländische Politik“ (DGAP) Mit von der Partie sind Personen wie die Ex-Außenministerin der USA, Madeleine Albright, wie der bekannte US-Senator R. Luger, der Mann, der seit dem NATO-Gipfel in Riga öffentlich den Einsatz der NATO zur Verteidigung der Energiesicherheit der Mitglieder des Bündnisses fordert, und weitere einschlägige „adviser“ aus dem Umkreis Brzezinskis, die sich für eine Demokratisierung der Ukraine in diesem Komitee zusammengefunden haben – ähnlich wie früher schon im „Komitee für den Frieden in Tschetschenien“, dessen 2. Vorsitzender ebenfalls Brzezinski ist.
Eine seiner zentralen Aufgaben sieht das „US-EU-Partnership Komitee for Ukraine“ laut einer Erklärung vom Mai 2007 darin, ein zunehmend autoritäres und imperial orientiertes Russland davon abzuhalten, politische Konflikte mit der Ukraine dafür zu benutzen, die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung auf einen äußeren Feind zu lenken. „Noch ist die Ukraine kein Ziel gewesen“, heißt es, aber „sie könnte es werden…“
Brzezinski erklärt in einem Interview zu den Zielen des Komitees u.a.: „„Wenn die Ukraine sich nicht nach Westen bewegt, dann wird sich Russlands Nostalgie für eine imperiale Rolle intensivieren, und dadurch wird Russland zu einem größeren Problem, die Ukraine könnte weiter bedroht werden, und deshalb liegt es im Interesse aller, diesen Prozess (der Demokratisierung der Ukraine – ke) voranzubringen.“
Wer dies liest, tut gut, sich daran zu erinnern, was Brzezinski schon vor zehn Jahren in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ zur Ukraine schrieb: „ Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Auf die Ukraine müsste sich US-Politik konzentrieren, wenn sie sicherstellen wolle, dass ihr kein Konkurrent in Eurasien entstehe. Nato- und EU-Erweiterung, Unterstützung der „orangenen Revolution“ waren Schritte auf diesem Weg. Jetzt ist „Zückdrängung der Energie-Abhängigkeit“ auf die Agenda gerückt.
EU – Russland: Schluss mit Ping-Pong?
EU-Ratspräsident Sarkozy schlug auf dem EU-Russland-Gipfel in Nizza vor, demnächst Gespräche über einen Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag mit Russland zu führen, statt sich weiter über Raketenstationierungen zu zerstreiten. Damit griff er, wie die FAZ korrekt berichtet, eine Idee des russischen Präsidenten Medwedew auf, der im Juni des Jahres angeregt hatte, einen neuen Vertrag über kollektive Sicherheit in Europa zu entwickeln. Sarkozy möchte diesen Plan nunmehr im Juni oder Juli 2009 beim nächsten Gipfeltreffen der OSZE beraten. Allerdings, schränkte Sarkozy ein, müssten auch die Amerikaner mit einbezogen werden. Das könne auf dem nächsten NATO-Gipfel im April 2009 geschehen.
Widerspruch zu diesem Vorschlag wurde nicht laut; die – bis auf die Stimme Litauens – geschlossene Zustimmung der EU-Mitglieder, ab sofort Sanktionsabsichten gegen Russland fallen zu lassen und in die Diskussion um die Entwicklung eines neuen Grundlagenvertrages zwischen EU und Russland einzusteigen, signalisiert eher allgemeine Bereitschaft auch diesen Plan gutzuheißen. Medwedew erklärte, er sei unter solchen Umständen in der Raketenfrage bereit zu einer „Null-Lösung“. Wäre nun in der Tat also nur noch Obama zu fragen?
Schön wär´s – zumindest als Ausgangspunkt. Außerhalb der Nizza-Diplomatie hört man jedoch Signale, die das schöne Bild stören: Die EU-Energiekommission legte soeben ein Strategiepapier vor, in dem sie die zukünftige Richtung der EU-Energiepolitik skizziert: Georgien sei als Transportkorridor nach dem Vier-Tage-Krieg keineswegs abzuschreiben, vielmehr müsse der Ausbau der Nabucco-Pipeline nun mit Volldampf vorangebracht werden; EU-Energiekommissar Andris Piebalgs reiste in dieser Angelegenheit in der letzten Woche nach Aserbeidschan und durch die Türkei. Aktive Diplomatie soll auch die Versorgung mit Gas aus Ägypten, Libyen, Algerien so in Gang bringen, dass Lieferungen von dort spätestens 2020 mit denen aus Russland gleichziehen können.
Der georgische Präsident Saakaschwili assistierte solchen Bemühungen im Funksender France Inter mit Bemerkungen wie: Seit Russland wieder begonnen habe „andere Länder zu erobern“, könne „das nicht einfach so wieder eingestellt werden, das wird fortgesetzt.“ Ein anderes Problem seien die Energielieferungen für Europa: „Sollte Aserbaidschan dem starken Druck Russlands nachgeben und einer Stationierung von 16 000 Soldaten zustimmen, wird man dem Alternativ-Korridor für die Öllieferungen ‚Adieu‘ sagen müssen. Von diesem Zeitpunkt an wird Russland 60 Prozent mehr Energie, Öl und Gas kontrollieren als heute.“
Mit wenigen Änderungen wiederholte er diese Argumentation am Donnerstagabend, nach seinem Treffen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, im Fernsehsender Canal Plus und wenig später im Satellitensender France 24. Dabei verglich Saakaschwili die heutige Politik Russlands mit der Politik Hitlers und Stalins in der Tschechoslowakei, Polen und Finnland.
Die deutsche Kanzlerin Merkel empfing parallel zum Nizza-Gipfel den turkmenischen Staatspräsidenten Berdymuchammedow zu einem Staatsbesuch in Berlin. Neben Menschenrechten, wie immer bei solchen Treffen, ging es vor allem um turkmenisches Gas und Öl. Dazu ist daran zu erinnern, dass Turkmenistan erst vor wenigen Wochen einen langfristigen Liefervertrag mit Gasprom abgeschlossen hat. Das Gas soll nach Fertigstellung in die „South Stream“ eingespeist werden, die Gasprom zusammen mit italienischen, bulgarischen, griechischen, serbischen ungarischen und österreichischen Betreibern gegenwärtig in Konkurrenz zur Nabucco-Planung der EU selbst betreibt. Salopp gesagt: Der Kampf ist nicht vorbei. Er beginnt erst.
Als Russlands Ministerpräsident Putin ebenfalls dieser Tage erklärte, wenn die EU die Nordsee-Pipeline nicht haben wolle, „dann werden wir sie eben nicht bauen“, wurde dies in der westlichen Presse sogleich zur „Drohung“. Dem steht eine andere Meldung direkt entgegen, die besagt, das Gasprom und BASF einen langfristigen Vertrag zur gemeinsamen Erschließung neuer sibirischer Gasfelder abgeschlossen haben.
Hinter all diesen und weiteren ähnlichen Meldungen, die nur findet, wer die Medien aufmerksam studieren kann, wird eine weitere Zuspitzung der internationalen Konflikte auf die Frage der globalen „Energiesicherheit“ sichtbar. Zwei strategische Konzepte stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite die von den USA forcierte Entwicklung der NATO zur Energie-NATO, erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 von US-Senator Luger öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend mit einer aktiven Isolierung Russlands.
Dem steht die Variante einer Energie-KSZE gegenüber, die vom deutschen Außenminister Steinmeier auf der Müncher NATO-Tagung 2007 ins Gespräch gebracht wurde. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferant und Rohstoffverbraucher, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Wofür wird die EU sich entscheiden? Zurzeit werden in der EU beide Strategien gleichzeitig verfolgt. So forderte der Generalsekretär der NATO soeben wieder die schnelle Einbeziehung der Ukraine in die NATO. Frau Merkel hält die Einbeziehung Georgiens und der Ukraine zwar für tendenziell richtig, erklärt sie aber nach wie für verfrüht. Es sieht alles so aus, als ob man in der EU auf ein Machtwort Obamas warte.
Vermutlich gibt es aber kein Entweder-Oder, sondern nur die weit größere Variante: Energiesicherheit nicht „atlantisch“ oder „eurasisch“ zu lösen, sondern, ganz abgesehen von der Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Energien, als wahrhaft globales kooperatives Verteilungssystem.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Kaukasus – Öl statt Sanktionen
Vertreter der deutschen Wirtschaft in Moskau sollen sich die Haare gerauft haben, als nach dem Aufkochen der lange „eingefrorenen“ kaukasischen Konflikte auf dem Krisengipfel der EU Anfang September das Wort „Sanktionen“ im Raum stand. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Jürgen Thuman erklärte: „Überlegungen, Russland mit Sanktionen unter Druck zu setzen oder Verhandlungen oder Verhandlungen zum WTO-Beitritt und zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU zu stoppen, führen in die falsche Richtung.“
Nichts scheint zusammen zu passen: Während in den Führungsetagen der USA und des „atlantischen Bündnisses“ nach dem russischen Eingreifen in Georgien laut über den Ausschluss Russlands aus dem Kreis der G8, der WTO und sogar der Vereinten Nationen nachgedacht, in der NATO gar demonstrative „Strafmaßnahmen“ praktiziert wurden, setzte der österreichische Öl- und Gasverbund OMV seine Verhandlungen mit Gazprom über die Beteiligung Österreichs an der „South Stream“-Pipeline fort, durch die Russland und die EU im Energieverbund näher aneinander heranrücken, Der Baubeginn von „North Stream“, besser bekannt als Ostsee-Gas-Pipeline steht ohnehin vor der Tür.
Forderungen nach wirtschaftlicher Kooperation mit Russland, nach eurasischer Energiesicherheit, nach einer „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“ stehen einer Medienkampagne gegenüber, die Russland nur noch mit Panzern, Imperialismus oder gar Faschismus assoziiert.
Russlands Präsident Medwjedew erklärt indes, sein Land sei selbstverständlich nicht an einem Bruch mit der EU gelegen, habe auch kein Interesse an einer Besetzung des Kaukasus, sondern wünsche sich eine internationale Kontrolle des Gebietes unter Führung der KSZE oder der UNO. Wenn nötig, sei man allerdings bereit und auch in der Lage sich anders zu orientieren.
Im Ergebnis beließ die EU es seit ihrem Krisengipfel dabei die „territoriale Integrität“ Georgiens zu betonen. Die USA begrüßten die Beschlüsse des Gipfels, die NATO verspricht Hilfe zum Wiederaufbau Georgiens, Zusicherung für dessen zukünftige Mitgliedschaft im Bündnis jedoch gibt sie nicht.
Verständlich werden all diese widersprüchlichen Signale nur, wenn man sich die langen Linien vor Augen führt, die sich seit dem Ende der Sowjetunion durch das Dickicht der globalen Neuordnung ziehen. Da sind zunächst die USA: Ihre Strategen glaubten als „einzige Weltmacht“, und nicht nur das, sondern auch als einzige zukunftsfähige Alternative aus dem „Kalten Krieg“ hervorgegangen zu sein. Man lese dazu das nach wie vor höchst aktuelle Buch Sbigniew Brzezinskis.
Zur Wahrnemung ihrer historischen Aufgabe, so Brzezinski, müssten die USA die Wiederentstehung anderer führender Kräfte, vor allem auf dem eurasischen Kontinent als dem territorialen Zentrum der Welt, im Keim unterbinden. Systematische politische Interventionen der USA auf dem Eurasischen Kontinent waren und sind politischer Ausdruck dieser Strategie. Sie stützt sich auf die EU und auf Japan als „Brückenköpfe“ im Westen und im Osten des eurasischen Raumes sowie auf die „Stabilisierung“ des „eurasischen Balkans“ vom Süden her. Darunter versteht Brzezinski Zentralasien und den Kaukasus.
Nach 15 Jahren und drei Präsidenten – Bush I, Clinton, Bush II – müssen die führenden Strategen der USA jedoch feststellen, dass die USA sich übernommen haben. Auch hierzu wieder Brzezinski, der in einem neuen Buch Bilanz aus 15 Jahren US-Politik zieht: Anders als erhofft haben sich die US-Kräfte im südlichen Interventionsabschnitt Eurasiens festgefahren. Was den USA Einfallstore durch den Sperrgürtel öffnen sollte, den China, Afghanistan, Iran und Irak für ein Eindringen in den Süden Eurasiens bilden, verkehrte sich nach schnellen Anfangserfolgen über die Taliban und über Saddam Hussein zu lang andauernden Kriegen, in denen die USA militärisch und moralisch versanken, während China, EU und auch Russland im Schatten dieser Situation an Kraft gewannen und sich auch außerhalb Eurasiens neue Kräfte bündeln.
Zentraler Konfliktraum, in dem die neuen globalen Interessenlinien sich jetzt kreuzen, ist die von den Geo- und Energiepolitikern so getaufte „strategische Ellipse“. Sie umfasst den „eurasischen Balkan“, konkret, die Räume nördlich und südlich des Kaukasus, in deren Mitte die Bergketten des Kaukasus eine Schwelle bilden, welche die afrikanische von der eurasischen Landmasse trennt – bzw. sie miteinander verbindet. Für die USA ist der Kaukasus jedenfalls zur Zeit der einzige verbliebene südliche Zugang nach Eurasien.
80% der heute verfügbaren fossilen Ressourcen lagern im Bereich der „strategischen Ellipse“. Gut die Hälfte davon liegt im südlichen Einzugsbereich – Arabien, Irak, Iran. Im Norden umfasst sie die Ölfelder Azerbeidschans, Russlands, Kasachstans und Turkmenistans, öffnet sich für die Zugänge zu sibirischem Gas und Öl. Nach dem Ende der Sowjetunion galt den Westmächten dieser Raum als „Machtvacuum“. Eine Neuaufteilung der Einflusssphären schien möglich, wenn es gelänge, das bis dahin bestehende Förder- und Transportmonopol Moskaus für Öl und Gas zu brechen.
Seit 1990 forcierten die USA daher die Erschließung des Raumes entlang eines „Transportkorridores“, der Öl und Gas in neuen Pipelines unter Umgehung Russlands, sozusagen an seinem Bauch entlang über die kaspische Schwelle nach Westen transportieren könnte. In einem Zug sollten so auch zugleich Iran und China außen vor gehalten und das Monopol der arabischen Staaten gebrochen werden. Demokratisierung der fossilen Weltressourcen, etwas sachlicher ausgedrückt, Diversifikation lautete das politische Zauberwort, mit dem diese Strategie verkauft werden sollte.
Herausragendes Ergebnis war der Bau der Pipeline vom azerbeidschanischen Baku über das georgische Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Küste des Mittelmeeres, nach den Städtenamen kurz BTC-Linie getauft. Sie ist seit 2005 in Betrieb. Die Europäische Union folgte mit dem Plan der sog. Nabuco-Pipeline, die zentralasiatisches und kaukasisches Gas, ebenfalls unter Umgehung Russlands durch die Türkei über Bulgarien, Ungarn mit Endpunkt in Österreich direkt nach Europa schaffen soll. Ihre – von den US-Think-Tanks wie der Heridage Foundation und anderen – immer wieder formulierte Aufgabe ist, die EU von Russland unabhängig zu machen. Dahinter steht das Ziel, die EU als „Brückenkopf“ zu erhalten.
Seit Wladimir Putin 2004 mit der Zerschlagung von Yukos die Übernahme des russischen Ölmarktes durch US-Konzerne stoppte, hat sich der Wind gedreht. Mit „North Stream“ entstand 2005 ein deutsch-russisches Projekt, das die Verbindung zwischen Russland als Gaslieferanten und Deutschland und von Deutschland aus mit der EU langfristig vertiefen wird. Mit „South Stream“ kommt seit Mitte 2007 das südliche Pendant dazu, mit dem Gasprom den Nabuco-Plänen unmittelbare Konkurrenz macht. Die Mitglieder der EU Bulgarien, Ungarn, Österreich schlossen seit 2007 nacheinander Einzelverträge mit Gazprom als Betreiber der „South Stream“ ab, statt in „atlantischer Solidarität“ auf die Fertigstellung des Nabuco-Linie zu orientieren, die ebenfalls über ihre Territorien führen soll.
Während mit den Bauabschnitten zur „South Stream“ schon begonnen wurde, liegt das Nabuco-Projekt noch in der Planung. Im Mai 2007 zwischen Gazprom und Turkmenistan abgeschlossene Verträge, turkmenisches Gas in Zukunft über bereits bestehende russische Leitungen an Gasprom zu verkaufen, statt auf die Inbetriebnahme einer im Zusammenhang mit Nabuco projektierten Unterwasser Pipeline durch das Kaspische Meeer zu warten, bilden den aktuellen Abschluss dieser Entwicklung.
Ohne turkmenisches Gas ist Nabuco jedoch nicht mehr gewinnbringend zu betreiben. Damit ist der Versuch der USA, die EU von russischer Energieversorgung unabhängig zu machen, um sie als westlichen „Brückenkopf“ für die Beherrschung Eurasiens zu erhalten, vorerst gescheitert. Es entsteht ein eurasischer Energieverbund mit einem wieder erstarkten Russland als Zentrum für die Gas- und Ölversorgung, in dem umgekehrt die EU, speziell Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands ist. Das ist eine Tatsache, der sich europäische, wie auch US-amerikanische Politik zu stellen hat. Forderungen nach „Sanktionen“ gegen Russland sind vor diesem Hintergrund bestenfalls Gesten, die den Zweck haben, den „atlantischen Partner“ zu beruhigen, um ihn nicht ganz zu vergraulen, wenn sie nicht schlicht Ressentiments aus unbewältigter Geschichte sind. Dem gleichen Muster folgt die Propaganda, die Russland ökonomisch umwirbt, aber politisch und moralisch klein halten will. Die Frage ist allein, ob die USA sich mit solchen Gesten abspeisen lassen. Zur Zeit hält man sich in diplomatischen Floskeln. Nach der Wahl wird man es sehen.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer 1997
Sbigniew Brzezinski, The second chance (englisch), basisic books, New York, 2007
Medwjedews Programm – Start in eine zweite Welle der Privatisierung?
In wenigen Tagen wird Dmitri Medwjedew offiziell in sein neues Amt als Präsident Russlands eingeführt. Zeit sich sein Programm genauer anzuschauen: In seinen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert er auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums und die Beseitigung von administrativen Hindernissen sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: persönliche Freiheit, wirtschaftliche Freiheit und letztlich Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte z.B. der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man abwarten müsse, was tatsächlich geschehe.
Wer wissen genauer möchte, was sich hinter den Ankündigungen Dmitri Medwjedews andeutet, muss hinter die Worte schauen:. Auch Putin trat mit dem Versprechen an die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Tatsächlich legitimierte er die Jelzinsche Privatisierung und konsolidierte sie, indem er sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ staatlicher Kontrolle unterwarf. Das bedeutete durchaus auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Putin vermittelte der Bevölkerung damit zugleich das Gefühl eines gewissen Aufschwungs. Seine Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben zunächst unentschieden. Als die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis an die „Monetarisierung“ bis dahin unentgeltlicher sozialer Leistungen gehen wollte, musste sie vor landesweiten Protesten zurückweichen.
Putin reagierte schnell. Schon im Herbst 2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Kern seiner Vorschläge war ein Finanzierungsversprechen, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte dieser an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.
Möglich schien eine solche Politik, weil die steigenden Ölpreise den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Mrd. $ hatten anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Mrd. $. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Das Problem der russischen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine oder kaum Löhne gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg“ der Ausgaben der Bevölkerung führte, „welcher einer durchschnittlichen russischen Familie keine Chancen lasse, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs… Die Blütezeit“, so Kagarlitzki, „ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“ zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung. Deren Ziele beschränkte das Wirtschaftsministeriums darauf, die Zahl der Menschen unter der Armutsschwelle von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% senken zu wollen. Kommt hinzu, dass nicht alle verfügbaren Devisen auf den Geldmarkt geworfen werden können, ohne die Inflation anzuheizen. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden und hierbei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland auch heute kein kapitalistisches Land ist. So forderte Putin laut „Russlandanalysen“ Anfang 2006 die verstärkte Übernahme „sozialer Verantwortung“ durch die Wirtschaft: „In der Praxis sah das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, sprich zur Entbürokratisierung des kommunalen Sektors auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung 1990/1 glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft, also die traditionelle private Bewirtschaftung von Hofgarten, Datscha oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte ist laut aktueller Statistik mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Schätzungen gehen auf 60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien, sogar dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung zu finanzieren.
Vergleichbare Risse treten auch Wohnungsbereich auf, in dem von Anfang an versäumt wurde, parallel zur Privatisierung adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften, die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Auch dort zeigen sich wie überall Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen, sich dem Abbau administrativer Schranken widmen zu wollen, den Charakter einer Kampfansage gegen die noch bestehenden gemeineigentümlichen Strukturen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften usw. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen und wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen so ohne Weiteres abkaufen ließe. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen der geplanten Monetarisierung könnten jedoch auch Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.
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Russland: Nach der Wahl alles glatt – oder doch nicht?
Wie zu erwarten, wurde Putins Wunschkandidat Dmitri Medwjedew zum neuen Präsidenten Russlands gewählt. Er erhielt rund 70% der abgegebenen Stimmen. An zweiter Stelle folgt Gennadi Sjuganow mit ca. 18%%, Wladimir Schirinowski mit 9%, Andrej Bogdanow mit etwas mehr als 1%. Die Wahlbeteiligung lag bei 70%. Putin wird abtreten und sich um das Amt des Ministerpräsidenten bewerben, das weder Medwjedew noch die Duma ihm abschlagen wird. Sjuganow wird wegen Wahlbetrug klagen. Schirinowski ist zufrieden dabei gewesen zu sein. Bodganow fährt heim ins Exil, um sich dort auszuruhen. Die liberal-radikale Opposition hat Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg angekündigt.
Ist damit alles gesagt, die Straße geebnet? Putin packt ein, Medwjedew räumt auf? Oder vielleicht doch nicht so ganz, wie es die meisten westlichen Medien zeichnen?
Da gab es ein paar winzige Meldungen, die in der Choreografie der letzten Tage und Wochen fast untergingen, die aber aufhorchen lassen, so nebensächlich sie auch scheinen. Da war beispielsweise zu lesen, Wladimir Putin habe sich im Namen Russlands auf dem letzten GUS-Gipfel wenige Tage vor der Wahl für Fremdenhass, Intoleranz und tödliche Überfälle auf Ausländer entschuldigen müssen, nachdem seine GUS-Kollegen diese Entwicklung als Ergebnis amtlicher Politik Russlands kritisiert hatten. Wer genau hinsah, konnte auch erfahren, dass schon vor dem Wahltag eine Demonstrationen der Putin-Jugend in Moskau von der Polizei aufgelöst und Fördergelder für die Organisation landesweit gekürzt wurden. Am Wahltag selbst kam die Meldung, dass der Protest der Kasparow-Freunde für St. Petersburg erlaubt, für Moskau verboten worden sei. Endgültig aufhorchen jedoch ließ die Meldung, dass am Tag der Wahl keineswegs nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zu gleicher Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und nicht nur das, sondern darüber hinaus auch noch 106 Volksentscheide in achtzehn „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden.
Das Bemerkenswerte an dieser letzten Meldung ist dabei allerdings nicht das, was, sondern das, was nicht mitgeteilt wurde, nämlich: Es wurden keinerlei Einzelheiten über den Inhalt dieser Entscheide berichtet. Selbst die sonst immer bestens informierte Internetzeitung www.russland.ru hatte dazu nichts weiter als die karge Zahl 106 zu bieten.
Mag man Putins Entschuldigung, den Rückpfiff der Putin-Jugend, selbst die angekündigten Demonstrationen der Radikal-Liberalen noch für Zeichen des Wandels halten, um den sich der Neue eben zu kümmern haben werde; zusammen mit der Tatsache, dass die Region mit 106 Volksentscheiden am Wahltag mit von der Partie waren, ohne dass dies ins öffentliche Bewusstsein gedrungen wäre, zeigt jedoch, wo der zukünftige Präsident Medwjedew und sein Ministerpräsident in Spe, Putin, in Zukunft ihre Schwierigkeiten haben werden: in einer Vermittlung der Politik der Spitze des Staates mit der Bevölkerungsbasis des Landes nämlich. In diese Richtung zeigt auch Medwjedews Ankündigung sich um eine freie Presse als Transmissionsriemen vom Volk zur Staatsspitze kümmern zu wollen. Diese Rolle hatten siebzig Jahre lang die Gliederungen der Kommunistischen Partei. Zurzeit ist sie unterbesetzt.
Um richtig zu verstehen, was auf die neu gruppierte russische Führung zukommt, dürfte es gut sein, sich die Ziele zu vergegenwärtigen, die Medwjedew angegeben hat. Die Politik des Staates solle auf dem Prinzip: „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ gründen, dabei gehe es um alle Formen des Freiheit von der persönlichen über die wirtschaftliche bis zur Freiheit der Selbstverwirklichung. Wenn dies nicht nur Sprüche, oder sagen wir freundlicher, politische Symbole bleiben sollen, die vom Kreml ausgegeben werden, um die Bevölkerung einzufangen, dann müssen sich diese Worte in der Praxis konkretisieren. Praxis findet in Russland vor allem in den Weiten der russischen Regionen statt – und nicht nur in achtzehn, ist noch zu ergänzen, sondern in vierundachtzig „Subjekten“.
Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber zugunsten einer Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau bis nach der Wahl auf Eis gelegt wurden. Das ist die Entwicklung einer „Qualitätsmedizin“, die allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, ist die Durchführung eines Wohnungsprogramms, das die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum versorgen soll, ist die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und das ist die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung der russischen Bevölkerungsentwicklung.
Der Stand ist in allen vier genannten Bereichen stark entwicklungsbedürftig, teils sogar katastrophal: Im Gesundheitsbereich hat eine Zwei-Klassen-Medizin die frühere kostenlose medizinische Versorgung verdrängt; die Preise auf dem entstehenden, aber chaotischen Wohnungsmarkt, der eine Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und noch bestehenden, sich der Privatisierung widersetzenden gemeineigentümlichen Wohnverhältnissen ist, sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt das Gleiche wie für das Gesundheitswesen: Zwei-Klassen-Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; eine Umkehr der Entwicklungsrichtung wurde dadurch noch nicht erreicht. Dazu gehört in Russland wesentlich mehr: Vertrauen in die Zukunft, vor allem Sicherheit, dass nicht morgen wieder ein Stalin oder auch Jelzin kommt, und alles von vorn beginnt. All dies steht zur Regelung an, lässt sich aber mit Sicherheit nicht von Moskau aus dekretieren, sondern bedarf vierundachtzig verschiedener Anpassungs- und Durchführungsverordnungen – und dann auch noch der Bereitschaft der Bevölkerung, die Maßnahmen zu akzeptieren. Dies aber setzt voraus, dass die „nationalen Programme“ nicht nur zu sozialen erklärt werden, sondern sich in der Praxis auch tatsächlich als solche erweisen – was von der Mehrheit der Bevölkerung bisher so nicht erlebt werden konnte.
Auch die Verwirklichung der von Medwjedew angekündigten „Vier I´s“ seines Wirtschaftsprogramms – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – sind bisher selbstverständlich nur gut gestylte Worte; ohne Mitwirkung der regionalen Führungsetagen und letztlich der regionalen Bevölkerungen selbst sind auch sie nicht zu verwirklichen.
Im Konkreten könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung des von Medwjedew angekündigten Wirtschaftsprogramms der Verwirklichung der “nationalen Programme“ der Sozialpolitik diametral entgegenläuft – ein Grund schließlich, warum diese vor der Wahl auf Eis gelegt wurden.
Wenige Blicke auf das Programm des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwjedews, Gennadi Sjuganow, der ihm in der Wahl zum Präsidenten unterlegen, aber deswegen keineswegs politisch, vor allem auch in den Regionen aus dem Feld geschlagen ist, machen daher deutlich, was Medwjedew bei dem Versuch der Verwirklichung des von ihm formulierten Programmes bevorsteht.
Sjuganow fordert neben vielem, was mit Medwedews Programm, ähnlich wie Schirinowskis Positionen, oberflächlich gesehen eher konform geht – multipolare Außenpolitik, Befreiung der Wirtschaft von Ressourcenabhängigkeit, Presse- und Meinungsfreiheit und dergleichen – die Wiederherstellung staatlicher Kontrolle über die Ressourcen, ein staatliches Monopol über die Produktion und den Verkauf von Alkohol und Tabak, die Kontrolle der Presse von Treib- und Schmierstoffen. All diese Forderungen haben starke Fürsprecher in den Regionen, hinter der letzten steht eine landesweit entwicklungsbedürftige Landwirtschaft.
Vor allem aber fordert Sjuganow die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das ist allem voran das Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das schon bei seiner Einführung 2005 auf den massenhaften Protest in der Bevölkerung stieß und von den Behörden teilweise und auf Zeit ausgesetzt werden musste. Das sind weitere Monetarisierungsgesetze wie das Wohn- und das Wassergesetz, Gesetze zur Privatisierung des Bodens, des Waldes, sowie das Arbeitsgesetz, das die Arbeitsbedingungen erschwerte und Streiks faktisch illegalisierte. Es handelt sich in allen Fällen um Forderungen, die den „Nationalen Programmen“ zum Teil diametral entgegenlaufen.
Die Machtübergabe vom zweiten auf den dritten Präsidenten des neuen Russland mag vorläufig gelöst sein. Aber weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, führen die Programme von Medwedew und Sjuganow erkennbar direkt in den Konflikt einer zweiten Privatisierungsphase nachdem die erste, die der Privatisierung der Produktionsmittel galt, weitgehend abgeschlossen ist und maßlose Bereicherungen seitens der Oligarchen eingegrenzt wurden. Jetzt geht es um die Privatisierung des kommunalen und sozialen Lebens. Dies wird zweifellos zu schweren und zudem sehr uneinheitlichen Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes führen. Die Natur dieses Konfliktes ist übrigens in schöner Einfachheit in dem Programm zu erkennen, mit dem Schirinowski antrat, wenn er die Abschaffung der „Subjekte“ durch einen zentralisierten Einheitsstaat und die Beseitigung der Sprachenvielkfalt durch Einführung des Russischen als Einheitssprache fordert: Russland, kann man dazu nur sagen, ist nach wie vor ein Vielvölkerstaat, dessen unterschiedliche Kulturen nicht einfach und möglicherweise überhaupt nicht über einen Kamm geschoren werden können.
Ein weiteres Problemfeld wird im Programm des ebenfalls abgeschlagenen Kandidaten der „Demokratischen Partei“, Andrei Bogdanow erkennbar. Ungeachtet der Tatsache, dass sein Antritt zur Wahl eher symbolischen oder sogar provokatorischen als faktischen Wert hatte, da er sich als im Exil lebender Russe nicht einbilden konnte, von der Bevölkerung als Präsident akzeptiert zu werden, treten doch in seinem Programm die Fragen hervor, die der zukünftigen russischen Führung von der anderen, der liberalen Seite her entgegenkommen.
Unter dem Stichwort. „ Annäherung an die Europäische Union“ forderte Bogdanow: Die „Umsetzung der Grundsätze der Europäischen Union in Russland“, den „Beitritt Russlands zur Schengener Zone“, „Löhne wie in der EU“ und Ähnliches mehr. Hier öffnet sich der klassische Spagat der russischen Gesellschaft zwischen Westlern und Anti-Westlern, zwischen einer Orientierung nach Westen und der nach Osten. Das Nebeneinander von angekündigten – westorientierten – Demonstrationen der außerparlamentarischen radikal-liberalen Opposition und der Feststellung der Zentralen-Wahl-Komission (ZIK) in Zukunft den Anteil der Wahlbeobachter aus den Ländern, die der zentralasiatischen Schanghai-Organisation angehören, erhöhen zu wollen, sind Indizien dieser Entwicklung.
Ob Putin oder Medwjedew auf dem zukünftigen Weg den Ton angeben, ob und wie sie sich ergänzen oder widersprechen, spielt strategisch letztlich keine Rolle. Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet nicht Putin oder Medwjedew, Medwjedew ohne Putin oder Putin wieder ohne Medwjedew, sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial, Durchsetzung „europäischer Normen“ oder Bewahrung der eigenen russischen Strukturen, was nichts anderes bedeuten würde als die Suche nach einem Kompromiss zwischen privatwirtschaftlich organisiertem Markt und gemeineigentümlicher Tradition.
Anders gesagt, es stellt sich die Frage auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet – was unwahrscheinlich ist. Die Offenbarung wird nicht lange auf sich warten lassen.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
RUSSLAND nach der Wahl:: Ruhe vor dem Sturm? Probleme in den Regionen?
Die Machtübergabe ist reibungslos erfolgt. Doch weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, könnte das Programm der neuen Führung direkt in neue Konflikte münden. Denn nachdem die Privatisierung der Produktionsmittel weitgehend abgeschlossen ist, muss nun das kommunale und soziale Leben privatisiert werden. Dies könnte zu schweren Auseinandersetzungen in den russischen Regionen führen.
Am Wahlsonntag überraschte die Meldung, dass nicht nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zur gleichen Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und zusätzlich 106 Volksentscheide in 18 „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden. Worum es dabei ging, blieb im Dunkeln. Aber die Tatsache, dass mehr als hundert Volksentscheide in den Regionen an diesem Tag so gut wie nicht ins öffentliche Bewusstsein drangen, zeigt, worum die neue Führung sich zu kümmern haben wird: Um die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen Staatsspitze und Basis der Bevölkerung in den Regionen..
Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber nach Protesten auf Eis gelegt wurden. Dazu gehören die Entwicklung des Gesundheitswesens, das allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, die Durchführung eines Wohnungsbauprogramms, um die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung in der russischen Bevölkerung.
Der gegenwärtige Zustand in diesen vier Bereichen ist durchweg mangelhaft, teilweise sogar katastrophal. Im Gesundheitswesen hat eine Zwei-Klassen-Medizin die früher kostenlose medizinische Versorgung verdrängt. Die Preise auf dem derzeit chaotischen Wohnungsmarkt -einer Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und Häusern in Staatsbesitz – sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt wie für das Gesundheitswesen: Die Zwei-Klassen-Gesellschaft ist Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve schließlich hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; viel wurde dadurch allerdings bisher nicht erreicht.
Es könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung der von Medwedew angekündigten „Vier I’s“ – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – den angeblichen sozialen Intentionen der „nationalen Programme“ diametral entgegenläuft. Große Teile der Bevölkerung sind nach wie vor nicht bereit, viele auch materiell nicht in der Lage, den in diesen Programmen angelegten Übergang vom Prinzip der gemeinschaftlichen Grundversorgung, einschließlich darin enthaltener besonderer Zuwendungen für besondere Gesellschaftsschichten, in eine Geldordnung mitzumachen, in der jeder allein für sich sorgen, das heißt vor allem, zahlen muss.
Ein Blick auf das Programm Gennadi Sjuganows, des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwedews, der trotz der Wahlniederlage über starken Rückhalt in der Bevölkerung vor allem in den Regionen verfügt, verdeutlicht den Konfliktstoff: Sjuganow fordert die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das: Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das Wohn- und das Wassergesetz, das Gesetz zur Privatisierung des Bodens, des Waldes sowie das Arbeitsgesetz, das Streiks faktisch illegalisierte. Das alles sind Gesetze, welche die traditionellen Elemente der Gemeinschaftsversorgung durch Geldwirtschaft ersetzen sollen.
Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet daher nicht: Putin oder Medwedew. Sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial? Durchsetzung „europäischer Normen“, wie die Liberalen es nach wie vor fordern, oder Bewahrung eigener russischer Strukturen? Anders gesagt: Es stellt sich die Frage, auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet, was unwahrscheinlich ist. Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen.
veröffentlicht in: Deutsche Zeitung Moskau
Pakete statt Bomben?
Ja, da stehen wir jetzt! Heute ruft keine "Arbeiter-Illustrierte-Zeitung" (AIZ), keine der Weltrevolution verpflichtete "Rote Hilfe": "Schützt die Sowjetunion!" - gegen die Konterrevolution. Heute titelt die bürgerliche Presse Europas, unterstützt von christlicher Caritas: "Helft Rußland" - gegen den Kommunismus.
Ja, soweit sind wir gekommen. Wie soll mensch sich verhalten, werde ich allenthalben gefragt? Ist es nicht unerträglich, wie der Zusammenbruch des realsozialistischen Gesellschaftssystems politisch ausgeschlachtet wird?
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