Kategorie: 2002 China-Russland -Mongolei

Drei Monate entlang der russ.chinesischen Grenze, Sommer 2002

Wladiwostok – Vorposten Europas in Asien?

Sieben Zugnächte von Moskau entfernt endet im Osten an der Küste des Atlantic die Fahrt der transsibirischen Eisenbahn in Wladiwostok, dem äußersten Ausleger Russlands im Osten. Umgeben vom Bogen der japanischen Inseln im Westen, der Halbinsel Koreas und dem großen chinesischen Hinterland im Süd-Westen liegt die Stadt als Wachtposten Russlands auf den Hügeln vor dem japanischen Meer. Der Festungscharakter der Stadt ist auch heute nicht übersehbar: Kriegsschiffe, wenn auch manche nicht in bestem Zustande, bestimmen das Bild des Hafens.
Aber nicht russische Kolonisten gründeten die Stadt, sondern französische Händler. Ein Stadtbild europäischen Zuschnitts: Nicht russische Architektur – Holzhäuser, Kuppeln uä., sondern mitteleuropäische prägt das Zentrum; der Hafen erinnert eher an Madrid, Bordeaux oder Hamburg Von Wladiwostok aus ist St. Francisco schneller zu erreichen als Paris, Berlin oder Madrid. Der Westen liegt im Osten, der Osten im Westen. Erst im weiteren Umkreis zieht sich die typische Plattenbebauung der neueren sowjetischen Zeit die umgebenden Hügel hinauf.
Hier in Wladiwostok fühlt man sich ganz europäisch. „Wladi Wostok“, wörtlich „Beherrsche den Osten“ – das war das Programm der Gründer dieser Stadt. Als „Vorposten Europas in Asien“ fühlten sich Wladiwostoks Einwohner/innen zur Sowjetzeit und, das versichern sie schmunzelnd, so verstehen sie sich auch heute. Vorposten war Wladiwostok im doppelten Sinne: Vorposten der europäischen Kolonisation in Asien Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, später Vorposten Russlands, danach der UdSSR und als bedeutendster sowjetischer Kriegshafen bis 1992 geschlossenes Gebiet. Hier erinnert man sich an drei japanisch-russische Kriege, hier ist die Konfrontation des Kalten Krieges noch frisch im Gedächtnis. Erst Perestroika öffnete die Stadt wieder für den Westen. Dem einheimischen Maler Igor Rubaschuk war diese Tatsache wichtig genug, um sie in einem Bild: „Besuch des französischen Kriegsschiffes Jean D`Ark im Hafen von Wladiwostok,“ festzuhalten, das heute in Galerien und Broschüren der Stadt gezeigt wird.
In seiner Doppelrolle als Vorposten Russlands und des Nicht-russischen Westens zugleich hat Wladiwostok immer eine Sonderrolle gespielt. Nicht von ungefähr wurde mit dem Bau der transsibirischen Eisenbahn von hier aus begonnen. Obwohl geschlossene Stadt, beanspruchte Wladiwostok als einziger ozeanischer Hafen der UdSSR auch zur Sowjetzeit eine besondere Rolle. Auch Perestroika nahm in Wladiwostok ihren besonderen Verlauf. Unter seinem Gebiets-Gouverneur Nostratenko galt Wladiwostok als besonders eigenwillig; zur Zeit Boris Jelzins kursierten Gerüchte über Abtrennungstendenzen des „Primorsker Gebietes“.
Von Wladiwostok aus wurde auch die „chinesische Frage“ am schärfsten gestellt. Gouverneur Nostratenko gefiel sich in scharfen chauvinistischen Warnungen vor der „gelben Gefahr“, vor der „chinesischen Expansion“ und „millionenfachen Invasion“, nicht zuletzt, um so von Moskau besondere Zuwendungen und Vollmachten zu ertrotzen. Bis heute geistern die Zahlen aus dieser Zeit durch die westlichen, einschließlich Moskauer wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Medien. Sie differieren von 1,5 bis 6 Millionen Chinesen, die bereits in Russland lebten.
Von Wladiwostok aus wird die „chinesische Frage“ nach ihren chauvinistischen Überreizungen durch Nostratenko jetzt allerdings auch am ernsthaftesten analysiert; der „Hysterismus“ der zurückliegenden Jahre wird relativiert und aktiv bekämpft: Die chinesische Migration, so kann man jetzt von führenden Spezialisten des Ortes, zum Beispiel dem Direktor des „Instituts für Geschichte , Archeologie und Ethnologie der Völker des fernen Ostens“, Prof. Larin, hören, sei keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Erstens sei die Zahl der chinesischen Migranten in der jüngsten Vergangenheit heillos übetrieben worden; tatsächlich hielten sich im gesamten fernen Osten und in Sibirien, einschließlich illegaler Einwanderer zur Zeit zwischen 200.000 und 300.000 Chinesen auf, keines Falles aber mehr als 500.000. Die Zahl der effektiv in Russland siedelnden Chinesen wird von Prof. Larin und Kollegen in anderen russisch-chinesischen Grenzstädten im Bereich von ein, zweitausend angesiedelt.
Entscheidend, so Professor Larin, sei ohnehin nicht die Frage der Zahl der chinesischen Immigranten, sondern die Frage, wie mit ihnen, wie generell mit der Tatsache der Immigration von Seiten der russischen Behörden umgegangen werde. Im Grunde biete das aktuelle Wachstum der chinesischen Wirtschaft und die chinesische Migration nach Russland die Chance einer gemeinsamen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des fernöstlich-sibirischen und zentralasiatischen Raumes – wenn sie von den russischen Behörden für wirtschaftlichen Austausch genutzt und nicht zu nationalistischen Zwecken mißbraucht werde.
Mit dieser Sicht der Entwicklung löst sich Wladiwostok vom „Alarmismus“ der Nostratenko-Zeit. Heute ist die Stadt bestrebt, sich zur vierten Hauptstadt Russlands – neben Moskau, St. Petersburg und Kasan – zu mausern; sie wirbt mit ihrer Weltoffenheit. Sie ist auf dem besten Wege, von einem militärischen Vorposten der Sowjetunion zum Sprungbrett des neuen Russlands nach Asien zu werden – vor allen nach China, aber auch Korea und Japan. Zugleich öffnet sie ein zweites Tor nach Westen. In der Verbindung von beidem liegt Wladiwostoks besondere Chance. Ob es eine Chance für Europa, für Russland oder für eines der asiatischen Länder ist, ist dabei schon nicht mehr wichtig, denn in Wladiwostok verlieren die Ost-West-Koordinaten ihre Bedeutung.

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Blagoweschinsk – Brücke über den Amur?

Eine unendliche Geschichte.

In Blagoweschinsk kommen sich Russland und China am nächsten. Diesseits des Amur liegt Blageweschinsk als behäbige Provinzhauptstadt des rusischen Amur-Verwaltungsgebietes; vom gegenüberliegenden Ufer grüsst nachts durch riesige Lichterketten hell erleuchtet, die dynamische Silhouette von ChejChej auf die Uferpromenade von Blagoweschinsk herüber.
CheiChei wurde von der chinesischen Regierung als freie ökonomische Zone deklariert, Blagoweschinsk wartet seit Jahren auf eine entsprechende Moskauer Entscheidung. Die Beziehung zwischen beiden Städten ist schnell erklärt: Blagoweschinsk lebt heute vom Handel mit chinesischen Waren. CheiChei, so erinnern sich die Blagoweschinsker, war noch vor fünfzehn Jahren ein armseliges, gottverlassenes Dorf im vernachlässigten Grenzbereich zwischen Russland und China.
Heute kann Blagoweschinsk ohne den chinesischen Markt, der über CheiChei versorgt wird, nicht mehr existieren. Als der Visazwang für einreisende Chinesen nach vorübergehender Aufhebung 1992 Mitte der Neunziger wieder eingeführt wurde, sank das Warenangebot in Blagoweschinsk vorübergehend auf das Niveau der Krisenjahre der beginnenden Perestroika. Die Bevölkerung von Blagoweschinsk, vornehmlich die weniger verdienenden Schichten, wie auch der übrigen Grenzanrainer im sibirischen Westen sowie im fernen Osten war vorübergehend wieder unterversorgt, weil nur noch Westware auf den Markt kam.
Heute können sich in Blagoweschinsk wieder alle sozialen Schichten der Bevölkerung kaufen, was sie zum Leben brauchen. Es existieren mehrere Märkte nebeneinander, die unterschiedliche soziale Schichten bedienen.
Auf dem chinesischen Markt kauft die wenig oder gering verdienende Bevölkerung der Stadt, vornehmlich aber der ländlichen Gebiete: ein russischer Markt versorgt die zahlenmässig geringe, vor allem städtische Mittelklasse des Gebietes.
Auf dem „Russischen Markt“ werden jedoch nicht vornehmlich russische Produkte, wie man denken könnte, sondern ebenfalls chinesische Waren verkauft – Ware von gehobener Qualität, die länger als die Billigware des chinesischen Marktes hält. Die Chinesen, so die Einheimischen, haben innerhalb kürzester Zeit gelernt, unterschiedliche Märkte mit unterschiedlichen Waren zu beliefern.
Bleibt schliesslich noch der „Jahrmarkt“ zu erwähnen, der die gehobenen Ansprüche der gut situierten Bürokratie und der neuen Reichen bedient, die es selbstverständlich auch am Amur gibt.
CheiChei ist heute eine Stadt von etwa zwei Millionen Einwohnern; viele chinesische Studentinnen und Studenten besuchen die Hochschulen von Blagoweschinsk. Zehn Prozent der Bevölkerung von Blagoweschinsk sind Chinesen. „Unsere Stadt verdankt den Chinesen ihren heutigen bescheidenen Wohlstand“, so ist von russischen Kleinunternehmern und in intellektuellen Kreisen der Stadt zu hören. Andere Töne hört man aus den Kreisen der einheimischen Leichtindustrie. Sie fühlt sich durch die chinesische Konkurrenz bedroht. Sie würden die Chinesen, um den bekannten russischen Volksdemagogen Wladimir Schirowski zu zitieren, am liebsten in den Amur jagen. Auf’s Ganze gesehen aber lebt man gut mit den Chinesen. Von „Gelber Gefahr“ ist hier in Blagoweschinsk nicht die Rede; hier ist die Rede von den Vorteilen gutnachbarschaftlicher Beziehungen.
Drei Vorteile werden vor allen anderen genannt: die Versorgung des Marktes mit Waren, die Aufffüllung des unterversorgten Arbeitsmarktes mit Arbeitskräften, die rege Bautätigkeit chinesischer Eigentümer auf russischem Boden. Dies alles, so das weitgehend übereinstimmende Resumee, gilt als positiv. Als negativ gilt allein die illegale Zuwanderung; die jedoch hält sich nicht nur nach offiziellen Angaben, sondern auch aus Sicht von deren Kritikern, inzwischen in kontrollierten Grenzen.
Da wundert man sich schliesslich, warum das Projekt einer Brücke über den Amur, das bereits seit 1992 zwischen den Vertretern der Städte Blagoweschinsk und CheiChei diskutiert wird, nicht schon lange begonnen wurde. Beide Seiten sind angeblich interessiert, Peking wie auch Moskau haben ihr strategisches Einverständnis erklärt. Der Bau der Brücke wäre ein grosser Schritt zur Entwicklung aktiver wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Russland und China im Amur-Raum und im fernen Osten, zumal noch eine weitere Brücke bei Chararowsk weiter im Osten im Gespräch ist.
Alle Seiten versichern ihr Interesse an einer solchen Brücke. China hält Finanzen und Arbeitskräfte bereit, allerdings mehr Arbeitskräfte als Finanzen. Der russische Präsident ist mehrmals in seiner Amtszeit im fernen Osten gewesen, sein Wirtschaftsminister in den letzten zwei Jahren mehr als ein dutzend mal. Dennoch ist noch kein erster Spatenstich erfolgt. Die Gründe sind schwer zu ermitteln. Die örtliche Bürokratie hüllt sich in Schweigen. Aus Hinterzimmern ist jedoch vernehmbar, Moskau verzögere die Entscheidung.
Örtliche Geschäftsleute, die an der Brücke interessiert sind, noch mehr örtliche Intellektuelle, die sich kritisch mit der Frage der chinesischen Immigration befassen, machen die Unfähigkeit der örtlichen Bürokratie verantwortlich, die keine klare Politik in der Frage der Beziehungen zu China habe.
Die Wahrheit dürfte wohl darin zu finden sein, dass Moskau zwar klare strategische Interessen an einer starken Kooperation mit China hat, allein schon, um den USA etwas entgegenzusetzen, das aber innerrussische Clans und regionale Interessengruppen bei einer solchen Öffnung der Grenzen um ihre Monopolstellung fürchten, die sie jetzt trotz allem immer noch geniessen. Gewiss aber ist: Solche und ähnliche Gründe können den Bau der Brücken verzögern, verhindern können sie ihn nicht.

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Ausflug nach China

Ulaanbaator,
Samstag, 24. August 2002

Von Ulaanbator ist es nur noch eine Tagestour, 600 km, mit der Bahn nach China. Ein Visum ist leicht besorgt: Zwei Stunden Schlange-Stehen vor der chinesischen Botschaft, dreißig Dollar – das ist alles, was an Hürden zu überwinden ist. So leicht ist das also?
Nein, so leicht ist es nicht. Nach dem leichten Auftakt folgt eine Hürde der nächsten: Es beginnt mit den Fahrkarten. Platzkarten für ein Coupé sind nicht zu bekommen. Es gibt nur noch Karten für die „offenen Waggons“. Selbst die erweisen sich als hoffnungslos überfüllt; die Fenster sind trotz glühender Hitze nicht zu öffnen. Auf sechs Plätze kommen acht Menschen. Schon vor der Abfahrt ist die wenige Kleidung, die man trotz der Hitze anstandshalber noch tragen muß, bereits durchgeschwitzt. Männer sitzen mit nacktem Oberkörper, Frauen fächeln sich Luft unter die Blusen.
Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt, wird an der weiter steigenden Hitze und den Staubwolken, die den Zug begleiten, klar: Der Weg führt von Ulaanbaator geradewegs durch die GOBI. Selbst nachts ist vor Hitze an Schlaf nicht zu denken.
Morgens früh um sechs erreicht der Zug den mongolischen Grenzort Saming Ud, was soviel heißt wie Grenztor oder Zolltor. Der Ort liegt mitten in der Wüste Gobi und ist das Tor der Mongolei nach China.
Saming Ud – das ist das Bahnhofsgebäude, darum herum ein paar eingezäunte Höfe mit Jurten. In Saming Ud endet die Fahrt des mongolischen Zuges. Jenseits der Grenze, schon auf chinesischem Staatsgebiet, liegt Ereen. Zwischen Saming Ud und Ereen müssen alle Passagiere umsteigen, um per Bahn, Bus oder in Jeeps die Grenze zu überqueren. Hektik entsteht. Jeder will der Erste sein. Auf der chinesischen Seite der Grenze staut sich die Kolonne mongolischer Jeeps, Busse; dann kommt auch noch der Zug. Alle stehen in glühender Hitze auf freier Steppe.
Mittags machen die chinesischen Grenzer zwei Stunden Pause. Nur chinesische Wagen werden durchgewunken. Antichinesische Ressentiments werden laut. Man schimpft über die schikanösen Kontrollen, über den Hochmut, über die Menschenfeindlichkeit der Chinesen, bei der der einzelne Mensch nicht zähle, über den „Gestank“, der aus der GOBI in die Mongolei hineinwehe. Überhaupt sei der „chinesische Geruch“ für Mongolen nicht aushaltbar. Man schwärmt von der schönen, freien Mongolei. Mentalitäten treffen hier aufeinander. Es ist offensichtlich, daß die Reisenden nur widerwillig die Grenze passieren. Warum tun sie es also? Warum nehmen so viele Menschen diese Fahrt durch die Gobi, die Hektik dieser Kontrollen auf sich? Und das, wie ich höre, jeden Tag?
Es geht um den Grenzhandel, erklären meine Begleiter. In Ereen kann man billig einkaufen. Die Hektik erkläre sich aus der Tatsache, daß diejenigen die besten Chancen hätten, die zuerst in Ereen ankämen.
Am späten Nachmittag, als wir selbst endlich Ereen erreichen, wird die ganze Szene mit einem Schlage klar: Die Stadt ist ein einziger Marktplatz. Anfang der 90er Jahre lebten in Ereen 6 – 7000 Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen; heute leben dort über 80.000, Tendenz steigend. Buchstäblich an jeder Ecke wird gebaut. Ereen lebt und wächst vom Grenzhandel mit der Mongolei.
Altes China – Fahrradrikschas und jämmerliche Armut barfüßiger und halbnackt herumlaufender Menschen, die in elenden, nicht kanalisierten stinkenden Hütten hausen – und modernste Architektur nach westlichem Muster prallen hier brutal aufeinander. Das Alte wird gnadenlos abgerissen, die Entstehung des Neuen kann man von Tag zu Tag beobachten. Meine mongolischen Begleiter sind fasziniert und abgestoßen zugleich von der Geschwindigkeit dieses Wachstums. „Sie verstehen zu bauen, die Chinesen“, sagen sie, „aber wenn wir sie ins Land holen, werden sie uns verschlucken.“
In Ereen, das begreift man innerhalb von wenigen Minuten, hört die westliche Welt auf. Keine russische, keine mongolische Verlängerung dieser Welt reicht bis in diesen Ort. Hier gelten nur noch zwei Werte: Der eine ist der gnadenlose Handel mit Billigware jeglicher Art, die hier aus allen Teilen Chinas angeliefert und von mongolischen Kleinhändlern im täglichen Grenzverkehr in die Mongolei und von dort nach Russland geschafft wird. Als Zwischenhändler und Vermittler nomadisieren die mongolischen Händler zwischen einem von Waren strotzenden China auf der einen und einem darbenden Russland auf der anderen Seite ihrer Staatsgrenze.
Das zweite, was in Ereen zählt, ist China: In Ereen wird nicht mehr Russisch gesprochen, auch nicht englisch, französich oder sonst eine westliche Sprache. Internationale Begriffe sind hier nicht bekannt. In Ereen wird Chinesisch gesprochen. Zahlen werden nicht an den Fingern abgezählt, sondern in Gesten dargestellt. Selbst Mongolisch ist kaum noch zu hören, obwohl Ereen auf den Handel mit den Mongolen angewiesen ist und zudem zur „Autonomen Republik der Inneren Mongolei“ gehört, die verfassungsgemäß über eine eigene Sprachhoheit verfügt.
In Ereen wird zudem weder russisch, noch mongolisch oder sonst irgendwie westlich gekocht und gegessen, in Ereen gibt es ausschließlich chinesische Küche. Unübersehbar ist in diesem Zusammenhang auch der Ursprung mongolischer Ressentiments: Wer jemals chinesischen Reisschnaps getrunken hat, gewinnt vielleicht eine Vorstellung von den Gerüchen, die von dieser Stadt ausgehen.
In Ereen kann es einem passieren, daß jemand lächelnd auf einen zukommt, prüfend den nackten Arm oder das Gesicht betastet, um sich ein Bild von der Andersartigkeit dieses wunderlichen Ausländers zu machen.
Kurz gesagt: In Ereen endet nicht nur sprachlich die westliche, die russische und schließlich die russisch-mongolische Welt, hier endet auch der Geltungsbereich westlicher Mentalität und Psychologie. Gleichzeitig entsteht hier eine Art von aggressivem industriellem Modernismus, die über den im Westen bekannte weit hinausgeht. In Ereen, so scheint es, entsteht die Welt neu.
Was in der Grenzstadt Ereen als Ausnahme erscheint, zeigt sich in der Provinzhauptstadt der Inneren Mongolei, ChuChot als Regel: Auch diese Stadt boomt; gnadenlos wird die Altstadt niedergerissen und durch moderne Wohnblocks ersetzt, um Raum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen, deren Zahl die 2,5 Millionen bald überschreitet.
Aber es ist nicht die mongolische Bevölkerung, die wächst, es sind vor allem aus dem Inneren Chinas hinzuziehende Chinesen. Nur noch 20% der Bevölkerung der ehemals mongolischen Stadt ChuChot sind Mongolen der Inneren Mongolei. Auch für ChuChot gilt: Chinas moderne Welt ist nicht westlich, auch nicht multikulturell, sie ist chinesisch. Wie lange die in China lebenden Minoritäten sich diesem Prozess beugen, ist eine offene Frage. Sie wird zur Zeit aber nur hinter verschlossenen Türen diskutiert. Zu groß ist, bei aller wirtschaftlichen Freiheit, die man für sich in Anspruch nimmt, die Angst vor möglichen Repressionen.

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Einwanderungsland Sibirien? Beispiel Irkutsk.

Einwanderungsland Sibirien?

Beispiel Irkutsk.

Irkutsk ist eine alte russische Kolonialstadt. Sie entstand aus der Zurückdrängung der Taren-Mongolen durch die Truppen des Moskauer Zaren im 17. Jahrhundert, genau 1661. Der Name Irkutsk selbst zeugt von dieser Geschichte. Er geht, so die Erinnerung von mongolischer Seite, auf das mongolische Hauptstadt der Burjätischen autonomen Republik, Ulan Ude, deren Name sich aus dem mongolischen Ulan-Ut herleitet. Das eine bezeichnet einen kräftigen männlichen, das andere einen offenen, weiten Ort. In beiden Orten, östlich und westlich des Baikal, sahen die Nomaden besondere Kräfte des Natur konzentriert. Die russische Geschichte weiß von dieser Namensentwicklung nichts zu berichten.
Bis in die Anfänge des Zwanzigsten Jahrhunderts war Irkutsk eine gemütliche Ansammlung von Holzhäusern am nördlichen Baikalsee. Mit der sowjetischen Entwicklung wurde das alte Zentrum von Industrieanlagen und Plattenbauten eingekreist. Heute ist auch Irkutsk eine der millonenstarken sibirischen Industrieagglomerationen – allerdings immer noch mit einem historischen Kern und malerisch gelegen am Angara, der aus dem Baikal nach Norden fließt, so daß die Stadt seit Jahren wachsenden Zulauf von Touristen aller Ländern hat.
Seit 1991 allerdings, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das hört man von EinwohnerInnen, einheimischen Wissenschaftlern ebenso wie von Geschäftsleuten, verändere Irkutsk sein Gesicht zuehends: Man meint damit die azerbeidschanische Vorstadt, die ethnischen Mafias, vor allem aber den chinesischen Markt. Schanghai, heißt es, liegt heute im Zentrum unserer Stadt.
Seit der Öffnung der Grenzen 1991 wurde und wird Irkutsk zunehmend zu einem Ort der legalen, mehr aber noch der illegalen Einwanderung: Es sind Immigranten aus westlichen Teilen der ehemaligen Union, Armenier, Azerbeidschaner, Tschetschenen; es sind Immigranten aus den GUS-Ländern Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, auch aus den südlichen Teilen des sibirischen Rusland, Tuwa, Chakasien, Altai, vor allem aber sind es Chinesen, die zu Tausenden als Händler und Arbeitsimmigranten in die Stadt und in den Regierungsbezirk Irkutsk strömen.
Genaue Zahlen sind naturgemäß nicht bekannt. Die Zahl der legalen Einwanderer hält sich bei einigen zehntausend für Irkutsk in überschaubaren Grenzen, heißt es in der Gouvernementsverwaltung. Über die illegalen Zuwanderer, die von ethnischen Schlepperbanden ins Land geschleust werden, liegen keine Zahlen vor. Die weitaus größte Gruppe, so viel zeigt schon der Augenschein, stellen jedoch die Chinesen, die scharenweise und in wachsendem Masse ins Land kommen.
Genaue Angaben sind schon deswegen nicht möglich, weil die Mehrheit dieser Menschen unangemeldet in der Stadt und im Land Irkutsk lebt – wie auch in den angrenzenden Gebieten. Zudem ist – vornehmlich bei den chinesischen Immigraten – die Fluktuation sehr stark. Manche reisen – mit zeitlich begrenzten Visen von drei Monaten – mehrmals im Jahr ein und wieder aus; andere bleiben nach Ablauf der drei Monate illegal im Lande, wieder andere kommen völlig ohne legale Papiere oder benutzen die ihrer Verwandten. Die Verwaltung, des Chnesischen nicht mächtig, ist nicht in der Lage diese Vorgänge zu kontrollieren.
Vorsichtige Schätzungen gehen für den gesamten sibirischen und fern-östlichen Raum von gut einer Million chinesischer Immigranten aus. Andere, bemerkenswerter Weise, moskauer Angaben liegen bei sechs Millionen. So oder so: Der objektive Druck, den die 1,2 Milliarden starke chinesische Bevölkerung auf den mit 20 Millionen vergleichsweise unterbesiedelten sibirischen und fern-östlichen Raum ausübt, ist unübersehbar.
In der Bewertung dieser Entwicklung ist man vor Ort jedoch erstaunlich nüchtern: Prof. Djadlow von der historischen Fakultät der Stadt Irkutsk beispielsweise, Spezialist für die Entwicklung von Diasporen, insbesondere der chinesischen, deren Entstehung er seit Jahren mit mehreren Forschungsprojekten verfolgt, sieht keine aktuelle Bedrohung des russischen Lebensraumes durch die Immigration, auch nicht durch die chinesische. Er weist vielmehr auf die unterschiedlichen Phasen hin, welche die Immigration, insonderheit die chinesische, seit 1991 durchlaufen habe:
1991 bis 1993, so der Professor, habe die Immigration durch chinesische Kleinhändler Sibirien und den fernen Osten – vielleicht sogar Russland im großen Maßstabe – vor der totalen Katastrophe gerettet, als chinesische Billigstwaren die notdürftigsten Lebensbedürfnisse der russischen Bevölkerung deckten. Zwar habe sich inzwischen ein russischer Markt für gehobene und mittlere Ansprüche herausgebildet, auf dem – Geld vorausgesetzt – alles zu bekommen sei. Für die unteren sozialen Schichten sei der chinesische Billigmarkt jedoch auch heute noch überlebenswichtig.
Zum Zweiten, so der Professor weiter und liegt damit ganz auf der offiziellen Linie der Irkutsker Politik – würden dem russischen, speziell dem sibirisch-fernöstlichen Arbeitsmarkt durch die Immigration die notwendigen, ohne die Immigranten sonst fehlenden Arbeitskräfte zugeführt.
Ganz im Gegensatz nämlich zu den landläufigen, vor allem im Westen verbreiteten Klischés der wachsenden russischen Arbeitslosigkeit, so der Professor, sei der russische Arbeitsmarkt, vor allem der sibirisch-fern-östliche in gefährlichem Maße mit Menschen unterversorgt, die bereit seien, physische Arbeit zu leisten. Die einheimische Bevölkerung verweigere zu weiten Teilen den Einsatz bei physischer Arbeit, sie bewege sich lieber nach Westen, wende sich dem Kommerz, intellektuellen oder dienstleistenden Arbeiten zu. Die physischen Arbeiten würden zunehmend von Immigranten aus dem Süden und dem Osten übernommen – armenische, azerbeidschanische, tschetschenische Bauarbeiter seien heute die Regel, besonders aber die Chinesen, die durch die hohe Arbeitslosigkeit in ihrem Heimatland über die Grenzen getrieben würden und gezwungen seien, jegliche Arbeit anzunehmen, die sich biete.
Bisher, so der Professor – halte sich die ganze Entwicklung daher in Grenzen. Aktuelle Warnungen vor einer „gelben Gefahr“ hält er für Alarmismus. Bisher sei die Immigration weder für Irkutsk noch für andere sibirisch-fern-östliche Städte gefährlich, sondern immer noch nützlich, zumal Ansiedlung, Eigentumserwerb und Einbürgerung durch aktuelle Gesetze sehr erschwert würden. Für die Zukunft allerdings sieht nicht nur der Professor, sondern sehen auch staatliche Organe Probleme: Bei weiterer Zuwanderung von chinesischen Immigranten, ja, deren zu erwartender St eigerung, so befürchtet man, könnte das kulturelle Gleichgewicht der Stadt Irkutsk wie insgesamt Sibiriens verloren gehen, das sich bisher durch eine ausgewogene Vielfalt an Kulturen auszeichnete. In zehn oder fünfzehn Jahren könnte eine Situation entstehen, daß neben der sibirischen nur noch eine weitere Kultur existiere, die chinesische. In einer solchen kulturellen Doppelstruktur aber liege die große Gefahr von Prioritätskonflikten, die es bisher in Irkuts nicht gebe. Wie dieser Gefahr begegnet werden kann – darüber gibt es keinen politischen Konsens. Die Zeit werde es zeigen. Allein darin ist man sich einig.

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Von Moskau nach Tscheboksary

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

Wo endet Europa? Wo beginnt Asien? Wohin wendet sich Russland nach zwei Jahren autoritärer Modernisierung unter Boris Jelzins Nachfolger Wladimir Putin? Wie orientiert sich Russland heute zwischen Asien und Europa? Welche Bedeutung kommt der Gründung einer euroasiatischen Partei zu, die im Mai den Besuch George W. Bushs in Moskau flankierte? Diesen Fragen gehe ich gegenwärtig in Russland nach. Die Reise führt von Moskau über Tscheboksary an der Wolga, Kasan, Nowosibirsk bis Ulaanbaator und an die russisch-chinesische Grenze.
Moskau, wo ich erste Zwischenstation mache, gibt auf diese Frage nur eine Antwort – die Antwort der Megametropole. Moskau ist nicht Russland. In Moskau stellt sich die Frage „Asien oder Europa“ zwar auch, aber hier klärt sie sich nicht: Moskau ist Zentrum, in Moskau halten sich die unterschiedlichen Einflüsse die Waage, Moskau ist eine Welt für sich, ein einziger Marktplatz heute, der eigenen Gesetzen gehorcht.
Dann aber am nächsten Tag Tscheboksary, die Hauptstadt der autonomen Republik Tschuwaschien an der mittleren Wolga: Auch hier ist die Modernisierung unübersehbar. Aus dem hässlichen Entlein einer mittleren sowjetischen Industriestadt, die noch vor wenigen Jahren an den Folgen der Krise zu ersticken drohte, ist ein geputzter Ort geworden, der sich anschickt, westliche Abenteuer-Touristen auf den Wolgasee zu locken, welcher aus der Aufstauung der Wolga hier in den letzten zehn Jahren entstanden ist. In den Straßen Tscheboksarys westliche Automarken, in den Geschäften westliche Preise, in den Büros Computer. Kurz, man darf sich auch in Tscheboksary an der Wolga als Westler wie zuhause fühlen. Es geht, wie es scheint, alles seinen kapitalistischen Gang. Putins autoritäre Modernisierung trägt ihre Früchte.
Aber dann ist da die Sache mit dem Bier: Bier ist Tschuwaschiens Nationalgetränk; Hopfen und Malz sind sein nationaler Reichtum. Über das ganze Land ziehen sich die großen Hopfenstaffagen. Nicht verwunderlich also, daß Bier überall angeboten wird. Doch das Ausmaß! Rundum Menschen mit der Flasche in der Hand, junge vor allem, viele Betrunkene.
Wer nach den Gründen dafür fragt, erfährt, dass die tschuwaschische Republik gewissermaßen im Biernotstand lebt. Die republikanische Verwaltung hat Bier zum nationalen Exportschlager in andere russische Republiken und ins Ausland machen wollen. Aber der Absatz stockt. Das Bier muss im Lande verbraucht werden. Der tschuwaschische Präsident selbst wirbt im Fernsehen für den nationalen Bierkonsum. Die Folgen sind unübersehbar. Die tschuwaschische, vor allem männliche Jugend säuft sich um ihre Gesundheit.
Wer ins „Tschuwaschische Kulturzentrum“ geht, wird mit weiteren nationalen Notständen konfrontiert, die sich nicht auf den nationalen Bierkonsum beschränken: Michael Juchma, vielfach prämiierter tschuwaschischer Volksschriftsteller, Leiter des Zentrums ist verzweifelt: Die „Bewegung der nationalen Wiedergeburt“, die unter Michael Gorbatschow mit großen Hoffnungen auf eine eigenständige Entwicklung des tschuwaschischen Volkes entstand, noch durch Jelzins Aufforderung an die Völker der Sowjetunion, sich so viel Souveränität zu nehmen, wie sie brauchen, verstärkt wurde, siecht unter dem Druck der von Wladimir Putin neuerlich ausgehenden Zentralisierung und damit verbundenen Russifizierung des Landes dahin. Das tschuwaschische Zentrum, seinerzeit von Perestroika-Demokraten gegründet, bettelt heute umsonst um Unterstützung. Die tschuwaschische Regierung gibt keinen Rubel; sie hat sich voll und ganz Wladimir Putins Kurs unterworfen.
Selbst die Türkei, die den turksprachigen Schriftsteller Michail Juchma als wichtigern Partner umwarb, lässt ihn heute gnadenlos abblitzen. Die Zeiten, in denen es opportun war, innerrussische Souveränitätsbewegungen von außen zu unterstützen, weil man sich davon Einfluss auf ein zerfallendes Russland versprechen konnte, scheinen für´s Erste vorbei. Heute finden sich Russland ebenso wie die Türkei im Bündnis gegen den internationalen Terrorismus. Das verpflichtet zur Zurückhaltung gegenüber innerrussischen, wie es dort heißt, „nationalen“ Souveränitätsbestrebungen.
Eher schon ist die Befürchtung von Michael Juchma und den Seinen berechtigt, dass sie demnächst Objekte des soeben von der russischen Staatsduma beschlossenen Gesetzes gegen Extremismus werden könnten, ohne dass sich von außen Proteste dagegen erheben. Formal mit dem notwendigen Vorgehen gegen rassistische Umtriebe von Nazi-Skinheads und offenen faschistischen Gruppen wie die der „Russischen Nationalen Einheit“ (RNE) begründet, lässt die Praxis der russischen Ordnungskräfte befürchten, dass die eigentlichen Adressaten die ethnischen Minderheiten selbst sein könnten, die angeblich durch das Gesetz geschützt werden sollen. Diese Sorgen haben nicht nur Vertreter der in die Isolation geratenen ethnischen Gruppen, die schon mehr als einmal in letzter Zeit vor den Inlandgeheimdienst FSB (den erneuerten KGB) vorgeladen wurden. Auch die sozial-liberale Partei „Jabloko“, die einzige oppositionelle Kraft in der Moskauer Staatsduma, lehnte eine Zustimmung zu dem neuen Gesetz mit Hinweis auf diese Vorgänge ab. Die einzige Hoffnung der ethnischen Minderheiten liegt darin, paradox wie immer wieder in Russland, dass auch dieses Gesetz nicht das Papier wert ist, auf dem es gedruckt ist, weil es vor Ort schlichtweg nicht befolgt werden könnte.

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Ulaanbaator: Beobachtungen am Rande der zivilisierten Welt…

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

Ulaanbaator ist eine Reise wert. Das gilt insbesondere, wenn sich Mongolisten aus aller Welt dort treffen, um zu beraten, wie es mit der Modernisierung des Nomadentums weitergehen kann und welche Beziehung das nomadische Leben zukünftig neben oder im Prozess der Globalisierung der Zivilisation, sprich der Welt des industriellen Fortschritts einnehmen kann oder soll. In dieser Frage ist man, wie aus den Beiträgen und Gesprächen der über 400 Gäste des Kongresses hervorgeht, keineswegs einer Meinung. Die einen zitieren den englischen Staatstheoretiker Thoynbee, der dem Nomadentum zwar eine hohe Bedeutung für die Geschichte der Menschheit beimisst, der aber schon für das letzte Jahrhundert die Zeit gekommen sah, da nomadische Kultur generell in die moderne Zivilisation aufgehen werde.
Kurz gesagt: Die Zeit des Nomadisierens sei vorbei, so Thoynbee; was noch an nomadischen Kulturen existierte, allen voran die zentralasiatischen, im Besonderen die mongolische, betrachtete er als auslaufendes Modell, das der entstehenden städtisch-industriellen Zivilisation weichen müsse.
Töne a la Thoynbee hört man heute keineswegs nur von den Gästen aus dem Westen, aus Russland oder aus den Reihen der zahlreichen chinesischen Delegation. Auch von mongolischen Wissenschaftlern werden solche Positionen vertreten: Die Mongolei, fordern sie, müsse die nomadische Art der Viehwirtschaft durch systematisches Ranching ablösen, wenn sie auf dem globalen Markt bestehen und nicht zwischen den großen Nachbarn China und Russland als Rohstoff- oder Land-Reservoir verbraucht werden wolle.
Eine Modernisierung dieser Art entspräche im Übrigen auch den Vorgaben des IWF, der Weltbank und verschiedner Entwicklungsbanken, die über die Mongolei dasselbe Raster einer „effektiven Reformpolitik“ legen wie sie es über Russland oder irgendein anderes „Entwicklungsland“ gelegt haben – ungeachtet der Tatsache, ob die zugrundegelegten Erfolgsraster auf das jeweilige Land anwnedbar sind oder nicht. Mag man das in Russland noch für strittig halten – hier in der Mongolei ist offensichtlich, daß nicht nur nach-sowjetische, sondern insbesondere die bedingungen des nomadischen Lebens absolut nicht die Vorgaben des IWF erfüllen. „Aber“, so versuchte eine Teilnehmerin des Kongresses aus Holland die Politik des IWF zu erklären, „was ökonomisch effektiv ist, muß nicht immer sozial richtig sein.“ Unklar blieb, ob das als Kritik oder als Rechtfertigung des IWF zu verstehen sei.
Diesen Vertretern einer schroffen Modernisierung stehen naturgemäß ebenso schroffe Traditionalisten gegenüber, die nomadisches Leben, nachdem es durch die sowjetische Modernisierung und Zwangs-Urbanisierung bereits von 80% auf 30% der Bevölkerung reduziert war, heute in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen wollen. Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage, wo die ursprüngliche Reinheit beginnt. Einige Mongolen gehen bis zu den Hunnen zurück. Andere belassen es bei den von Tschingis Chan überlieferten Regeln. Hier trifft sich ethnischer Traditionalismus mit einem neuen nationalen mongolischen Selbstbewusstsein: Ein ganzer Tag des siebentägigen Kongresses war dem offiziellen Gedenken an den 840 Geburtstag Chingis Chans gewidmet. Staatspräsident Nazagiln Bagabandi höchst persönlich und eine ganze Reihe weiterer Persönlichkeiten der Mongolei hielten an diesem Tag lange Reden zu Ehren des archaischen Reichsgründers, der neben der nomadischen Kultur das zweite identitätsstiftende Element für die heutige Mongolei abgibt.
Vertreter traditionalistischer Positionen sind nicht selten schon an ihrer Kleidung zu erkennen. In prächtigen Fest-Dels, den praktischen Umhängemänteln der Nomaden, in malerischen Spitzhüten und Stiefeln beleben sie – unter ihnen nicht wenige westliche Wahlnomaden – die ansonsten eher europäisch-konservative Kleiderordnung des Kongresses.
Seriöse Positionen, will sagen, zukunftsfähige Positionen, liegen zwischen diesen Polen. Die Mehrheit der Teilnehmer/innen des Kongresses ist auf dieser mittleren Linie zu finden: Etwas Drittes müsse entstehen, heißt es, einfach deshalb, weil es nicht anders gehe, weil die natürlichen Bedingungen keine Landwirtschaft des Siedlungstyps zuließen,
weil die nomadische Kultur für die mongolische Bevölkerung lebenserhaltend sei, weil die Mongolei zwischen den Siedler-Imperien China und Russland gar keine andere Wahl habe, als seine Andersartigkeit zu erhalten, wenn es nicht untergehen wolle, weil die Mongolei nicht an die Spitze der Globalisierung spurten könne, aber auch nicht in die Steinzeit zurückfallen dürfe.
Bleibt die Frage: Wie?
Nach zehn Jahren Schock-Privatisierung zeigen sich in der Mongolei ähnliche Phänomene wie in Russland: Aus dem Überschwang einer übertriebenen Privatisierung, die zu erheblichen sozialen Ungleichgewichten geführt, vor allem den Besitz an Tieren so ungleich verteilt hat, daß eine geregelte Beweidung der nicht-privatisierten und nach allgemeiner Übereinstimmung auch nicht privatisierbaren Steppen nicht möglich ist, setzt jetzt eine Etappe der Rückbesinnung auf kollektive Formen der Bewirtschaftung ein. Ansätze von Kooperativen bilden sich, in denen sich drei, vier oder fünf Hirten-Familien zusammentun, um die Steppen gemeinsam zu beweiden und die Weiterverarbeitung der tierischen Produkte und deren Verkauf sowie die Anschaffung der dafür notwendigen neuen Technik, Infrastruktur und sogar Ausbildung gemeinsam zu organisieren. Diese Entwicklung beginnt erst. Hier liegt die Perspektive einer Modernisierung des nomadischen Lebens ohne Liquidierung der nomadischen Kultur.

Ulaanbaator 7.8.2002

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Russland- China – Mongolei

Eurasien

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Russland- China – Mongolei – gibt es eine chinsesische Invasion? Das war die Frage, mit  der ich im Sommer 2002 drei Monate entlang der russisch-chinesisch-mongolischen Grenze unterwegs war.

Betrachten Sie hier ein paar der Stationen dieser Reise. Hierzu gibt es auch außer einzelnen Texten