Kategorie: Projekte/work in progress

Attila, Tschingis Chan und globale Perestroika heute – „Projekt 13“

Wie die Kinder Tschingis Chans mit den Kindern Attils zusammenstießen – Wandlungen der globalen Beziehungen im 13. Jahrhundert und heute. Auf der Suche nach einem neuen Verständnis davon, was die „Mitte der Welt“ sein könnte. Aktuelle Fassung des "Projekt 13", vorgestellt beim 10. Kongress der Mongolisten in Ulaanbaatar. (Eine englische Fassung liegt unter "Vorträge dokumentiert")

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„Projekt 13“: Zwischen Attila und Tschingis Chan, erste Fassung

Das „Projekt 13“ soll sich dem Zusammenstoß zwischen den Nachfahren Attilas als ehemalige, sesshaft gewordene Nomaden und den Truppen und Kindern Tschingis Chans im als erneuerte nomadischer Invasionswelle im 13. Jahrhundert widmen, der sich über ein oder zwei Generationen erstreckte und die damalige Welt mit nachhaltigen Folgen für die Zukunft veränderte.

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Globalisierung und Mongolei: Eine Prüfung in der Steppe

Mongolei – Pferde, Jurten, Gastfreundschaft? Erholung vom Stress der Industriegesellschaft? Oder Treffen und Tätigwerden mit Menschen, die in der globalisierten Welt von heute den Ort suchen, an dem sie überleben und sich behaupten können? Wir hatten uns für eine Verbindung von beidem entschieden: Wir, das waren neun Menschen einer in Hamburg ansässigen Initiative „Schafft zwei, drei viele Jurten“. Wir waren zu Gast bei mongolischen Freunden, die ihrerseits in der Mongolei eine Gruppe „Kultur der Jurte“ bilden. Gastgeber waren Frau Prof. Dorjpagma Sharaw, Ethnopädagogin, und Dr. Ganbold Dagwadorj, leitender Forscher am veterinär-wissenschaftlichen Institut der Universität von Ulaanbaatar sowie Mitglieder ihres weitläufigen Familien- und Freundschaftsnetzes. Ziel der Reise war herauszufinden, wie eine Unterstützung für die Modernisierung einer nomadischen Jurtengemeinschaft aussehen kann, welche die traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweise nicht zerstört, sondern entwickelt.
Unsere Planung war zweifellos super, das Ziel definiert, das ganze Vorhaben zudem so organisiert, dass genügend Spielraum für die reichlich vorhandenen individuellen Wünsche bleiben sollte: Eine Kernzeit im Juli war vereinbart, während der wir alle an einem Ort in der Steppe sein wollten; eine Jurte würde für uns bereit stehen, um die herum Zelte aufgebaut werden könnten. Verpflegung würde vor Ort geregelt, halb aus eigenen Vorräten, halb aus Ressourcen unserer Gastgeber in der Steppe. Die Organisation vor Ort lag in den Händen unserer mongolischen Freunde, die ihre deutschen Gäste nacheinander vom Flughafen in Ulaanbaatar zur Jurtengemeinschaft in der Steppe geleiten würden. Für Übersetzer würde gesorgt sein. Die Finanzierung hatten wir privat geregelt. Dies alles und noch viel mehr war schon im Frühjahr 2006 besprochen worden, als wir – sozusagen im deutschen Teil der Reise – mit mongolischen Gästen über mehrere norddeutsche Bio-höfe und Einrichtungen tourten. Danach wurde alles per Telefon und E-Mail weiter fixiert.
Drei Varianten hatten zur Wahl gestanden, als wir – noch in Hamburg – mit unseren mongolischen Gästen berieten, welchen Ort wir für unsere Studien wählen sollten: die Orchon-Ebene bei Karakorum, die mittleren Höhen weiter den Orchon hinauf oder schließlich eine Gegend ganz oben in den Bergen des Changai Nuruu. An allen drei Orten würden wir uns in Familienkreisen unserer Freunde bewegen.
Der Orchon, sei kurz angemerkt, entspringt ca. dreihundert Kilometer westlich der Hauptstadt Ulaanbaatar in den Changai Nuruu Bergen der Provinz Archangai. Über mehrere Stromschnellen fließt er eine Weile westwärts, biegt dann nach der Stadt Karakorum, seinerzeit Regierungssitz Tschingis Chans, in eine große Flachsteppe nach Norden ein, um schließlich, vereinigt mit dem Selenga in den Baikalsee zu münden. Wir hatten uns für die mittlere der drei möglichen Varianten entschieden, in der Vorstellung, so Fluss, Gebirge und Ebene als typisches Erfahrungsfeld miteinander verbinden zu können. Also, wie gesagt: alles geplant, was man bedenken konnte.
Als wir kamen, lief alles ganz anders: Die Kernzeit, die wir alle gemeinsam in der Steppe verbringen wollten, musste verschoben werden, weil eine Familienhochzeit für den in Japan lebenden ältesten Sohn unserer Freunde zu bestehen war. Den Termin hatten die Brauteltern gesetzt, die auf einer Feier nach traditionellen Riten in der Mongolei bestanden, obwohl das Paar schon längst miteinander verheiratet ist und ein Kind von anderthalb Jahren hat. Unsere Freunde baten uns, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, wohl auch, um ihrem Familienanhang mehr Gewicht zu verleihen. Mit diesem Empfang war unsere Planung, soweit es Termine betraf, erst einmal über den Haufen geworfen. Von nun an regierte die Spontaneität. Unveränderlich blieben nur An- und Abflugtermine und selbst da gab es Unsicherheiten. Das war die erste Überraschung.
Die zweite Überraschung bescherte uns der Transport: Verabredet war, mit Jeep oder Minibus in die Steppe hinaus zu fahren. Aus Kostengründen hatten sich unsere Freunde jedoch entschieden, ihren eigenen PKW, einen japanischen Stadtwagen, für diese Tour einzusetzen. Die Fahrt wurde zu einem Abenteuer für sich: Mit Gepäck und Personen absolut überladen rutschen wir bei sengender Hitze auf der Ölwanne des zu flachen PKW über die dreihundert Kilometer lange Schlaglochpiste bis Karakorum. Der Fahrer, ein junger Freund der Familie, gab trotzdem gnadenlos Gas. Bei jedem Aufsetzer stockte uns der Atem. Was würden wir tun, wenn er den Wagen schrottreif führe? Wer könnte den Schaden tragen? Wir zogen es vor, hin und wieder auszusteigen und zu Fuß weiter zu gehen. Morgens in aller Frühe waren wir aufgebrochen, bei einsetzender Dunkelheit kamen wir an.
Bei der Ankunft erwartete uns die dritte Überraschung. Gleich hinter Karakorum endete unsere Reise, allerdings nicht auf halber Höhe in den Bergen wie erwartet, sondern vor zwei Jurten in der Ebene gleich hinter der Stadt. Tschoigin, Gastgeber einer abendlichen Zwischenrast in Karakorum, lieferte uns dort ab. Am Morgen erkannten wir, dass wir genau an dem Ort gelandet waren, den wir ausdrücklich nicht gewählt hatten, nämlich in der einem Delta ähnelnden Flachsteppe nördlich von Karakorum, durch die der Orchon sich in vielen Verästelungen nach Norden wälzt. Links und rechts wichen die Berge so weit zurück, dass sie kaum noch zu erkennen waren, dafür war Karakorum so nah, dass man einzelne Häuser ausmachen konnte. So hatten wir uns den Aufenthalt in der Steppe nicht vorgestellt.
Irritiert, allerdings auch herausgefordert durch diese ganz andere Art mit Planung umzugehen, begannen wir nun intensiver nach dem Nomadischen in der mongolischen Kultur zu fragen, dann schrittweise auch zu verstehen: Zunächst lernten wir unsere Gastgeber kennen: Großvater Demberl und seine Familie, Sarangirel, Naigal und die sehbehinderte Darima. Bis vor kurzem lebten alle in einer Jurte. Als Naigal und Sarangirel heirateten, erhielt Naigal eine eigene Jurte, in der das junge Paar jetzt wohnt. Für uns haben die beiden ihre Jurte vorübergehend geräumt, allerdings nur nachts, tagsüber wird auch diese Jurte für die alltäglichen Verrichtungen gebraucht.
Zu den zwei Jurten gehören ca. 50 Ziegen und Schafe, dazu fünf Yaks und deren Kälber. Tagsüber ziehen alle Tiere weit in die Ebene, die Yaks waten auch schon mal durch einen Seitenarm des Orchon in die matschigen und steinigen Brachen zwischen den Flussarmen. Nachts werden Ziegen und Schafe in einen Pferch direkt vor der Jurte getrieben. Erwachsene Tiere werden von Jungtieren getrennt. Die Trennung erfolgt, damit die Jungtiere nachts nicht die Euter der Muttertiere leer trinken. Auch die Yakkälber kommen in den Pferch. Nur die erwachsenen Yaks bleiben draußen. An sie würde sich kein Wolf herantrauen. An einer Querstange vor den Jurten stehen zwei Pferde. Die ganze Szene wird von zwei Hunden beaufsichtigt. Die arbeiten allerdings nur nachts, tagsüber schlafen sie, wenn nicht etwas sehr Außergewöhnliches geschieht.
Morgens um sechs erheben sich Sarangirel, Darima, Naigal ebenso wie der alte Demberl, um zu melken. Eins nach dem anderen fangen die jungen Frauen die Muttertiere im Pferch ein, führen sie zum Seil, das Demberl außen am Pferch befestigt hat, um sie dort wie Perlen Kopf an Kopf, eins mit dem Schwanz nach rechts, das nächste mit dem Schwanz nach links nebeneinander anzubinden. Sobald die ersten Tiere stehen, beginnen die Frauen zu melken. Wer immer zur Zeit zu Besuch ist, ob groß oder klein, hilft mit, wo es geht. Wir klinken uns ebenfalls ein.
Auch die Yaks werden gemolken. Sie werden nicht angeleint, sondern einzeln dort aufgesucht, wo sie stehen. Aber auch von ihnen werden die Jungtiere entfernt gehalten. Nach dem Melken werden alle Tiere entlassen. Die Jungtiere eilen zu ihren Müttern. Jedes zu seiner. Ein lustiges Chaos. Alle Tiere gemeinsam ziehen dann gemächlich in die Ebene hinaus. Erst am Abend werden sie wieder geholt.
Üblicherweise werden auch Stuten gemolken. Alle zwei Stunden werden die Fohlen zu den Stuten getrieben, damit die bereit sind Milch zu geben. Nach dem Melken dürfen die Fohlen den Rest aus den Eutern ziehen. Aus der Stutenmilch wird der schwach alkoholhaltige, aber äußerst vitaminreiche Kumis gewonnen, mongolisch Airag. Er ist das wichtigste Getränk der Mongolen. Wer eine Jurte betritt, wird mit Airag begrüßt. Keine Begegnung, kein Gespräch ohne vielfaches Kreisen des Bechers mit Airag, den die Frau der Jurte beständig nachfüllt.
Demberls Stuten werden nicht gemolken. Bei zwei Tieren macht das Melken keinen Sinn. Seine Pferde dienen nur noch dem Reiten. Früher standen mehr Pferde vor Demberls Jurte. Auch seine Schaf- und Ziegenherde war größer, ebenso die Zahl seiner Yaks. Mehr als die Hälfte seiner Tiere hat er in den schweren Wintern der Jahre 2004 und 2005 verloren. Geblieben sind die wenigen, mit denen eben noch die einfachsten Grundbedürfnisse der Familie gedeckt werden können. Wenn es nicht Demberls kleine Pension, wenn es nicht die eine oder andere Hilfe von Söhnen, Töchtern oder anderen Verwandten aus der Stadt gäbe, müsste die Familie die restlichen Tiere verkaufen und ihr Leben in der Steppe aufgeben. Das hieße sich wieder zu finden im Heer der Arbeitslosen, die in den Außenbezirken von Ulaanbaatar zu überleben versuchen.
Nach dem Melken wird die Milch gekocht und weiter zu Butter, Käse. Jogurt usw. aufbereitet. Damit sind Sarangirel und Darima den Vormittag über beschäftigt. Dasselbe wiederholt sich noch einmal am Abend gegen 18,00 Uhr. Gegen zwischen 21,00 und 22,00 Uhr wird es dunkel. Dann ist der Tag. der hier nicht durch elektrisches Licht verlängert wird, beendet. Daran kann auch die kleine tragbare Solaranlage, die wir mitgebracht haben, im Prinzip noch nichts ändern. Nach ein paar Tagen haben auch wir den Rhythmus dieser Arbeit so verinnerlicht, dass wir mit unseren Gastgebern bei Einsetzen der Dunkelheit schlafen gehen.
Nun beginnt die Stunde der Hunde. Unruhig streifen sie um die Jurte und um das Gatter herum. Sie sehen Ihre Aufgabe darin, die Jurte nachts vor ungebetenen Besuchern zu schützen. Was immer Fremdes sich nähert, wird verbellt – und dies schon aus Entfernungen, in denen das menschliche Auge und Ohr noch keinerlei Störung wahrnimmt. Die Geräusche der Nacht werden wesentlich von den Hunden bestimmt. Sie unterhalten eine Art Meldesystem, das sich von einer Jurtengruppe zur anderen fortpflanzt. Für Ausländer ist an Schlaf kaum zu denken, jedenfalls nicht in der ersten und auch nicht in der zweiten Nacht. Irgendwann begreift man dann aber, dass man sicher ist, solange die Hunde bellen, solange Yaks, Ochsen und Pferde wiehern, grunzen, rülpsen und gemütliche Verdauungsgeräusche von sich geben. Eine merkwürdige Ruhe entsteht, ein lebendiger Raum, der einen einhüllt. Die Steppe.
Man wird bemerkt haben, dass ich inzwischen von weiteren Jurten gesprochen habe, deren Hunde sich nachts miteinander verständigen. Nicht weit entfernt von den beiden Jurten Großvater Demberls nämlich sind in lockerem Abstand von mehreren hundert Metern fünf weitere Jurten aufgebaut, die offenbar ihre eigene Wirtschaft betreiben. Die drei nächstgelegenen Jurten werden von sehr verschiedenen Familien bewohnt. In der einen leben zwei Halbwüchsige ohne Eltern, in der anderen eine Frau mit zwei Kindern, in der dritten eine kräftige Frau mit mehreren Kindern. Ihren Mann bekommt man nicht zu Gesicht. Die Wirtschaft ist bei allen die gleiche. Wenn ihre Schafe, Ziegen oder Yaks sich tagsüber miteinander vermischen, werden sie abends vor dem Melkeintrieb auseinander sortiert. Früher, sagt man uns, kannten die Hirten ihre Tiere Kopf für Kopf. Heute werden die Tiere mit Farbstreifen markiert, um sie zu unterscheiden.
Zwei weitere Jurten stehen einen Fünf-Minuten-Ritt weiter in Richtung der von der Stadt wegführenden offenen Steppe. Dort wird eine Herde von Pferden gehalten. Über diese Herde wird die ganze Jurtengruppe, wie es scheint, ohne Geldaustausch, mit Airag, versorgt. Man kennt einander. Dorjpagma meint sogar, hier einen weiteren Verwandten entdeckt zu haben. Aber kann man dies alles schon als eine Gemeinschaft, mongolisch als Chot Ail, gar als Ansatz für neue genossenschaftliche Entwicklungen verstehen? Wohl kaum. Man muss nur hinsehen, wie mühsam die Tiere abends auseinandersortiert werden, wenn sie sich tagsüber miteinander vermischt haben. Jede Familie melkt für sich selbst, versorgt sich selbst, verarbeitet Milch- und Fleischprodukte für sich allein, hat ihre eigene Familienwirtschaft. Die Folgen der Privatisierung seit 1992 sind unübersehbar.
Aber dann erfahren wir, dass man die Weidegründe gemeinsam aussucht, das man sich beim Hüten der Tiere abwechselt, dass nicht nur Airag auf die Jurten verteilt wird, sondern man sich in vielen Alltagsdingen gegenseitig unterstützt. Zum Schlachten kommt der junge Mann aus der Jurte nebenan herüber. Er weiß, wie man schlachtet, ohne Blut zu vergießen und ohne auch nur das geringste Teil des getöteten Tieres zu verlieren. Auch gefilzt wird gemeinsam. Die jungen Männer reiten gemeinsam hinaus um Heu für den Winter zu machen. Die Kinder fahren gemeinsam zur Schule nach Karakorum.
Am dritten Tag, in der Melkpause über Mittag, kommt so etwas wie eine Versammlung zustande. Mehrheitlich Frauen sind gekommen. Wir stellen uns vor. Unser Ziel zu erklären fällt uns schwer. Was haben wir anzubieten? Gut, wir haben den tragbaren Sonnenkollektor gebracht. Das hat Demberl fast zu Tränen gerührt. Auch hatten wir sonst noch einiges an Gerätschaften und Nützlichem bei uns. Aber unsere Frage, ob die fünf Jurten an diesem Ort sich als Gemeinschaft verstünden, bleibt irgendwie fremd in der Luft stehen. „Wenn einer krank ist, helfen wir“, bemerkt eine Frau schließlich knapp. „Die Weide“ wirft jemand ein. Weiterverarbeitung der Produkte? „Das wäre schon interessant“, murmelt der Gleiche. Kooperation mit der Stadt? „Würden wir gern: Gemüse anbauen“, sagt eine Frau, „Aber wie? Wir haben kein Land.“ „Es steht ihnen zu, aber die örtlichen Bürokraten wollen bestochen werden“, schimpft Dorjpagma. Eine lange Pause entsteht, in der nur Airag getrunken wird. „Uns fehlen die Kenntnisse“, meint eine Frau endlich. „Wir brauchen Instrumente“, ergänzt eine andere. Ein karges Gespräch. Wir können nichts versprechen. Wir fühlen mehr als wir hören, welche Mängel und welche Wünsche bestehen, auch dass es, trotz allem Hoffnungen gibt, irgendwie. Aber was können wir tun?
Nach ein paar Tagen bringt Naigal einen dunkelhäutigen Gast mit in die Jurte, seinen Freund Mindé, Pferdezüchter. Nach ein paar Runden Airags und freundlichen Worten zum Woher und Wohin kommt Mindé zur Sache: Er ist gekommen, um uns einzuladen, ihn und seine Familie in seiner Jurte weiter draußen im Norden zu besuchen. Er will uns seine Pferde zeigen, außerdem einen Garten, den er zusammen mit anderen angelegt hat. Wir sagen zu. Was wir ein paar Tage später vorfinden, sind drei Jurten in einer Steppe, die teils versandet, teils schon in Moor übergeht. Großmutter, Mutter, Vater, drei Jungs, drei Mädchen leben hier. Bei sengender Hitze ist die Familie dabei, meterhohen Treibsand auszuschaufeln und wegzukarren, der das große Pferdegatter unter sich zu begraben droht. Gut 200 Stuten hat die Familie. Airag und Pferdehandel machen ihr Einkommen. Alle sechs Kinder sind in der Ausbildung, die Jungs in Karakorum, die Mädchen an der Uni in Ulaanbaatar. Den Sommer verbringen die Kinder jedes Jahr hier in der Steppe. Selbstverständlich finden sie das. Nur mit ihrer Hilfe können Eltern und Großmutter die große Pferdezucht halten. Die Erlöse gehen für die Ausbildung drauf.
Vater, Mutter, drei Söhne und vier von uns schlafen nachts in der Jurte. Für Ausländer gewöhnungsbedürftig. Am Morgen kutschiert Mindé mich auf seinem Motorrad japanischer Bauart über die staubige Trasse an den Rand der Ebene. Dort liegt sein Garten, sein ganzer Stolz. Ich verstehe: Vom Berg kommt Sturzwasser, wenn es regnet. Das Wasser wird in einem selbstgebauten Stau aufgefangen, um dann in einem dünnen Rinnsal mitten durch ein ca. 200 Meter 50 Meter breites Feld zu sickern. Auf dem Feld stehen Kartoffeln, Gurken, Kürbisse, teils sehr sauber, teils bis zur Unkenntlichkeit verkrautet. Fünf Familien betreiben das Experiment dieses Feldes, erzählt Mindé. Man hätte gern Unterstützung durch westliches Kong Hob, durch Gerät, durch Maschinen. Man würde auch gern an einen anderen Ort wechseln, der nicht von Sturzwässern verschwemmt wird. „Was könnt ihr helfen?“ Das ist wieder so eine Frage, die wir nur mit nach haus nehmen können.
Im Zuge dieses Ausflugs lernen wir auch Demberls Winterquartier kennen. Es liegt, bestehend aus blockhausähnlich gelegten Naturstämmen, neben denen die Winterjurte aufgeschlagen wird, am Rande der Ebene auf halber Höhe windgeschützt in dem zu den Bergen aufsteigendem Gelände. Von hier aus schweift der Blick weit über die verästelten Arme des Orchon. Hierhin wird das Heu geschafft, das im Sommer in den Bergtälern gewonnen wird. Von seiner Menge und Qualität hängt das Überleben der Tiere im Winter ab.
Ganz allmählich treten die Konturen nomadischer Gemeinschaften aus der scheinbaren Unverbindlichkeit der ersten Tage hervor: Eine Jurte – das ist eine Familie. Wenn die Familie größer wird, können zwei oder drei Jurten einen Zusammenhang bilden. Oft, aber nicht immer tut sich eine solche Jurteneinheit mit ein oder zwei anderen zu einer Weidegemeinschaft zusammen. Selbstversorgung ist Grundlage des Lebens. Ihre Basis ist das private Eigentum an Tieren und einfachsten Produktionsmitteln. Milch- und Fleischprodukte werden geldlos zwischen der Jurteneinheiten getauscht, allein schon um deren Verderben zu verhindern. Bei grundlegenden Arbeiten, die eine Familie nicht allein leisten kann, geht man sich gegenseitig zur Hand. Die Beziehungen sind durch gemeinsame Suche nach dem besten Weideplatz im Sommer und Vorsorge für den Winter bestimmt. Generell repräsentiert die Sommer-Jurte nur eine Seite des nomadischen Lebens; die andere zeigt sich im festen Winterquartier, in dem die Jurte entweder selbst durch doppelten Filzbelag winterfest gemacht oder auch ein festes Holzhaus bezogen und die Jurte während der Zeit „eingefroren“ wird.
Soweit gekommen, verstehen wir auch, was es mit Tschoigin auf sich hat, der uns am ersten Tag in Karakorum im Empfang genommen und dann draußen in der Steppe abgeliefert hatte. Tschoigin ist nicht nur Werklehrer in einer der Schulen Karakorums. Er ist zugleich Erbauer von Jurten und Möbeln, die er mit Hilfe einer einfachen japanischen Säge und einer Allzweckwerkbank herstellt. Darüber hinaus taucht er als Mädchen für alles immer dann draußen auf, wenn es irgendetwas zu reparieren, zu organisieren oder zu kommunizieren gibt.
Tschoigin ist, wie wir auch bald herausfinden, der älteste Sohn Demberls. Dies ist er nicht nur dem Alter nach, sondern auch im Sinne der familiären Rangordnung: Nach Demberl ist er derjenige, der die Ansagen in der Familie macht. Ohne ihn läuft nichts. Mit ihm läuft alles. Über Tschoigin werden auch die Kinder dieser Jurtengemeinschaft versorgt, die in Karakorum zur Schule gehen. Höher als Tschoigin stehen nur noch die Aller-Ältesten, der Übervater und die Übermutter des Clans aus Ulaanbaator, Ganbold und Dorjpagma.
Ein Netz der gegenseitigen Hilfe zum gegenseitigen Nutzen auf Basis privater, familiengestützter Eigentumsverhältnisse wird erkennbar. Dabei ist unter Familie mehr zu verstehen als die nächste Blutsverwandtschaft. Zur Familie gehören noch die entferntesten Onkel, Tanten und Verwandten dritten, vierten fünften bis neunten Grades, einschließlich der als Verwandte angenommenen Mitglieder langfristiger Weidegemeinschaften und deren Kinder, die oft als die eigenen betrachtet werden. Dazu kommen noch besondere Freunde. Kurz, das existenzsichernde Netz der Verwandtschaften besteht aus einer familiengestützten, jedoch über bloße Blutsbande hinausgehenden, teils frei gewählten Solidargemeinschaft, zu der auch die in den festen Siedlungen, in Ulaanbaatar oder sogar im Ausland lebenden direkten oder entfernten Angehörigen und Freunde mit dazu gehören.
Als wir aus der Steppe bei Karakorum schließlich doch noch in die höheren Regionen des Orchon aufbrechen, um dort Verwandte aus Ganbolds Linie aufzusuchen, lernen wir dort eine im Vergleich zu Demberls Familie reiche nomadische Wirtschaft kennen, die sich vor allem auf die Produktion von Kaschmirwolle und umfangreichen Handel mit Pferden stützt. Der relative Reichtum ist unübersehbar, auch wenn er – den Hirten bewusst – mit der Überweidung der Steppe durch zu viele Ziegen erkauft und daher auf Dauer nicht sicher ist: Solarpanél, Fernsehschüssel, CD-Rekorder, Mähmaschine zur Gewinnung des Winterheues, LKW vor der Jurte. Aber gerade hier wird uns deutlich, dass die Solidargemeinschaft, die wir bei Demberl in ihrer ärmlichen Form kennen gelernt haben, unabhängig vom aktuellen Lebensstandard der jeweiligen Jurtengemeinschaften offenbar die typische Form des nomadischen Lebens darstellt. Das über alle anderen Einzelheiten hinaus bemerkenswerteste Element darin ist die Bewegung, in welcher Kinder, Verwandte und Bekannte im Jahreskreislauf um die Jurte rotieren: Im Sommer ist die Familie, ist die ganze familiengestützte Solidargemeinschaft zum Leben und zum Einsatz in der Jurte versammelt. So in den Jurten bei Karakorum, so in den Bergen.
Und nicht nur aus dem Sum, dem einfachen kleinen Verwaltungszentrum, nicht nur aus Karakorum oder aus Ulaanbaatar kommen die Kinder und Verwandten für drei Monate in die Steppe, wo sie sich voll und ganz in die Arbeit eingliedern, sondern selbst die im Ausland studierenden oder gar im Ausland lebenden Mitglieder des weiteren Familienzusammenhanges finden sich im Sommer in der Steppe ein. Im Herbst, im Winter und im Frühjahr, wenn Schule und Studium wieder eingesetzt haben, bleibt nur eine Kernfamilie aus Vätern, Müttern oder Großeltern in den Jurten (oder auch festen Winterquartieren), während die Kinder von ihren direkten Verwandten oder Mitgliedern des Verwandtschafts- und Freundesnetzes in den Sums, den kleineren Städten oder auch in Ulaanbaatar selber aufgenommen und während der Schul- und Studienzeit dort betreut werden.
Mit diesem Lebensrhythmus könnten die nomadischen Solidargemeinschaften den Anforderungen und Herausforderungen der Globalisierung möglicherweise wesentlich besser gewachsen sein, wenn es ihnen gelingt, ihren Lebensstandard auch ohne Überweidung der Steppen zuhalten, als die in feste Strukturen eingebundenen Mitglieder sesshafter industrieller Gesellschaften. Hierüber lohnt es nachzudenken.
Eine übergreifende Struktur öffnete sich schließlich am Ende unserer Reise, als uns – zurückgekehrt nach Ulaanbatar, Dorjpagma und Ganbold an den Stadtrand führten, wo eine mutige ältere Witwe im Umfeld der Vorstadt-Jurten einen künstlich bewässerten großen Garten angelegt hat, in dem sie Gurken, Tomaten, Kohl, Äpfel, Birnen, Sanddorn und vieles mehr biologisch rein erntet und in dessen Gelände sie zugleich Tiere hält, ein Holzhaus und eine Jurte stehen hat. Die Nachbarhöfe dagegen sind knochentrocken und staubig.
Die Anlage eines solchen Gartens ist, wie auch Mindés Beispiel schon gezeigt hat, für mongolische Verhältnisse, insbesondere natürlich für die slumähnliche Urbanisierung in der Jurten-Vororten Ulaanbaatars, eine äußerste Seltenheit, sehr schwer, fast revolutionär. Es ist der Versuch, nomadisches und sesshaftes Leben, Jurte und Stadt miteinander zu verbinden. Da nimmt es nicht Wunder, dass dieser Ort für die Gruppe „Kultur der Jurte“ zum Versammlungsort ihrer Initiative geworden ist. Ganbold und Dorjpagma haben einen angrenzenden Hof mit Holzhaus erworben, der an das Bewässserungssystem angeschlossen werden soll. Auf dem Hof steht ebenfalls eine Jurte. Darin lebt eine Familie mit behinderten Kindern, die nichts zahlt, dafür aber den Platzwart macht. Eine ökologisch orientierte, soziale und kulturelle Stadt-Jurten-Symbiose möchte man hier entwickeln.
So kehrten wir, ernüchtert zwar, doch eindeutig klüger geworden nach Hamburg zurück. Wir wissen jetzt, was unter Unterstützung von Jurtengemeinschaften verstanden werden kann, nämlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Entwicklung einer Kollektivfreundschaft, anders gesagt, eines Freundschaftsnetzes auf Basis gegenseitigen Nutzens, gegenseitiger Hilfe und gegenseitiger Achtung. Drehscheibe sind Solidargemeinschaften hier wie dort, die ein langfristiges Interesse daran haben, alternative – ökologisch und spirituell nachhaltige – Formen des Miteinander Lebens zu entwickeln.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe dazu auch:

„Kai Ehlers, „Zukunft der Jurte. Kulturkampf in der Mongolei?“ Mankau Verlag, Murnau, 2006

Ausserdem: „Kultur der Jurte – Berichte 2006“

Kai Ehlers. Publizist,
www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78,
Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482
© Kai Ehlers, Abdruck gegen Honorar,
Kto: 1230/455980, BlZ: 20050550

Brücke über den Amur – Integrationsraum Inneres Asien

Koopeeration mit dem „Zentrum Inneres Asien“ in Irkutsk unterstützt von Rosa Luxemburg Stiftung

Unter diesem Thema fand nach langjähriger Vorarbeit und als Ergebnis einer eigenen Forschungsreise entlang der russisch-chinesischen und chinesisch-mongolischen Grenze im Jahre 2002 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum „Inneres Asien“ in Irkutsk (der Irkutsker Staatsuniversität angegliedert) im Dezember 2003 ein erstes Arbeitstreffen statt, das sich mit dem Problem der nach-sowjetischen Migration um Raum zwischen China, Korea, Russland, Mongolei und Zentralasien befasst. Im Zentrum steht die Frage nach dem Zusammenleben der dort entstehenden nicht-russischen Diasporen mit der russischen Bevölkerung. Russische, mongolische und zentralasiatische Forscher/innen trugen die bis dahin zu diesem Thema bekannten Tatsachen zusammen. Parallel wurden im Rahmen des Projektes eigene Befragungen durchgeführt. Ziel des ersten Arbeitstreffens war, den hysterischen Gerüchten über eine „Invasion“ Chinas nach Westen entgegenzutreten, Probleme der Migration herauszuarbeiten, die Russland und Europa gemeinsam sind, und zu untersuchen, welche Chancen es für die Herausbildung eines neuen östlichen Kulturraumes in diesen Prozessen geben könnte. Die Ergebnisse des Treffens erschienen im September unter dem Titel „Brücke über den Amur“ als Buch in englischer und deutscher Sprache. IM Sommer 2004 fand in Ulan Udé ein Arbeitstreffen statt, das die neuerliche Begegnung von Russen und Mongolen nach der vorübergehenden Zurückhaltung beider Seiten seit 1991 zum Thema hatte. Im Mai 2005 folgte eine Konferenz in Blagoweschtschensk am Amur. Dort stand die unmittelbare Nachbarschaft Begegnung von Chinesen und Russen (diesseits und jenseits des Flusses) im Mittelpunkt. Eine Aufarbeitung der Ergebnisse steht noch aus. Die Konferenzen in Irkutsk und Blagoweschtschensk wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert.

In der Auswertung dieser Aktivitäten entstand mein Buch „Asiens Sprung in die Gegenwart. China, Russland Mongolei – die Entwicklung eines Kulturraums Inneres Asien“

Hintergrundtext: Modell Kasan

Islam in Russland – Front im Krieg der Kulturen oder Ansatz für eine Alternative?

Der andauernde Terror in Tschetschenien lässt die Befürchtung aufkommen, dass Russland zur Front im Krieg der Kulturen aufrücken könnte. Im schwarzen Loch Tschetschenien konzentrieren sich fundamentalistische Energien, christlich orthodoxe ebenso wie islamistische, rassistische und nationalistische.

Tschetschenien ist zudem nur ein Teil des Problems, soweit es die Beziehung von christlicher und muslimischer Welt betrifft: Ca. 20 Millionen Muslime leben heute in der russischen Föderation, das sind 15% der Bevölkerung des Landes. Gut zehn Millionen dieser Muslime leben in einer Enklave an der Wolga; vier von sechs autonomen Republiken sind dort muslimisch geprägt: Das sind – ihrer Bedeutung nach – Tatarsatan, Baschkortastan, Utmurtien, Mordawien. Dazu kommt El Mari mit einem hohen Anteil muslimischer Einwohner und die tschuwaschische Republik. Die Tschuwaschen sind zwar christlich-orthodox orientiert, sofern sie nicht naturreligiösen Gebräuchen anhängen, ethnisch jedoch mit den Tataren verwandt.

Die Mehrheit der im Wolga-Raum lebenden muslimischen Gläubigen gehört nicht-slawischen Völkern an, die im Zuge der Völkerwanderungen mit den Hunnen, später mit den Mongolen als Nomaden aus dem Osten kamen und dann im Wolga- Don- und Donauraum sesshaft wurden. Doch weder die inneren noch die äußeren Grenzen Russlands decken sich mit der religiösen Landkarte. und diese wiederum nicht mit der ethnischen.

Die restlichen zehn Millionen Muslime sind über die ganze russische Föderation verstreut. Die Enklave an der Wolga, insbesondere Tatarstan mit seiner Hauptstadt Kasan, ist ihre Orientierung. Zwischen dieser Enklave und den kaukasichen Muslimen wie auch denen Zentralasiens – insbesondere Usbekistans – bestehen direkte Verbindungen. Die Mehrheit der muslimischen Geistlichen, die heute in Zentralrussland lehren, kennen sich noch aus der gemeinsamen Studienzeit an der Islamischen Universität, die sie zu Sowjetzeiten in Usbekistan besucht haben. Den Tschetschenen, auch wenn man unterschiedlichen muslimischen Konfessionen angehört, fühlt man sich solidarisch verbunden.

So ragt ein Dreieck islamischen Einflusses, das seine Basis in Zentralasien und dem Kaukasus hat, mit seiner Spitze direkt ins Herz des orthodoxen Russland hinein. Türkei, Pakistan, Iran und nicht zuletzt Saudi-Arabien wetteifern um Einfluß auf den wieder entstehenden russischen Islam. Dies alles zusammen ist eine Gemenge-Lage, die eine Konfrontation zwischen dem Restaurations-Anspruch des russischen-orthodoxen Zentralismus und der Ausrufung eines islamischen Gottesstaates, wie man sie gegenwärtig in Tschetschenien erleben muss, als nahezu zwingend erscheinen lässt. Hinzu kommt schließlich noch die Tatsache, dass die russisch-orthodox orientierte Bevölkerung stärker vom Bevölkerungsrückgang Russlands betroffen ist als die muslimische.

Umso erstaunter muss man sein, in Kasan auf das genaue Gegenteil einer islamischen Bedrohung zu stoßen, nämlich auf ein exemplarisches Modell für die Koexistenz von orthodoxer russischer Kirche und aufgeklärtem, nach europäischem Verständnis modernisiertem Islam auf der Basis eines gleichberechtigten Zusammenlebens von russisch-slawischer und tatarisch-mongolischer Bevölkerung.

Kasan, das sich zur Zeit auf seinen tausendjährigen Geburtstag vorbereitet, ist traditionell das Zentrum des russischen, genauer des euro-asiatischen Islam. Gegründet 1005, wurde die Stadt nach der Vernichtung des bolgarischen Wolgareiches 1237, der anschließenden Niederlage der russischen Fürstentümer und schließlich des Falles von Kiew im Jahre 1247 zur nördlichen Residenz der Goldenen Horde, sehr bald zu einem eigenen Chanat.

Seit dieser Zeit ist Kasan nicht nur Hauptstadt des Wolgaraumes, sondern auch Zentrum des Islam in Eurasien. Nach der Eroberung Kasans durch die Truppen Iwans des IV. im Jahre 1552 wandelte es sich zum Zentrum der islamischen Enklave Russlands. Rund vier Millionen Muslime leben heute allein in dieser Republik.

Aber nicht von Anfang an war Kasan ein Modell für Koexistenz zwischen der russischen Orthodoxie und dem Islam: Iwan IV. und nach ihm die ersten Romanows, die seine Politik der Ostkolonisation und des Kampfes gegen die Tataren fortsetzten, versuchten den Islam im Herzen der neuen russischen Gebiete an der Wolga auszurotten. Erst Katharina II. erkannte, dass eine dauerhafte Unterdrückung des Islam immer neue Revolten im Lande hervorbringen musste, in denen sich soziale, ethnische und religiöse Problem in explosiver Weise verbanden. So beendete sie den Aufstand des Jemeljan Pugatschow von 1773 – 1775 nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern sie erließ eine Reihe von Ukasen, die den Islam in Russland legalisierten. Sie gestattete der islamischen Geistlichkeit den Aufbau einer eigenen Verwaltung, förderte den Aufbau von Moscheen und mit den Moschen verbundenen Schulen und Institutionen, kurz, seit dieser Zeit leben orthodoxe Kirche und Islam in Tatarstan, Kasan, gleichberechtigt nebeneinander – wohlgemerkt: Nicht in Russland, sondern in Tatarstan und – in schwächerem Maße – auch in den an Tatarstan angrenzenden muslimischen Ländern. Unter diesen Bedingungen bildete sich eine ethnisch-religiöse, eine christlich-orthodox-muslimische, eine slawisch-tatarische Mischkultur heraus, in der muslimische Tataren und slawische Christen paritätisch miteinander leben.

Damit wurde Kasan zum Orientierungspunkt nicht-russischer, nicht-christlich-orthodoxer Völker des russischen Imperiums. Sowohl in der Revolution von 1917, als auch bei Einsetzen der Perestroika Ende der 80er des vorigen Jahrhunderts stand Tatarsatan an der Spitze der innerrussischen Bewegungen für Souveränität. Heute ist die Stadt das Zentrum der neu-föderalen Bestrebungen Russlands, in dem sich die Hoffnungen religiöser, ethnischer wie kultureller Minderheiten Russlands treffen. Das nebeneinander der Mutter-Gottes-Kirche und der ganz aus eigenen Mitteln restaurierten neuen Zentral-Moschee im Kreml Kasan, direkt gegenüber dem Regierungsgebäude ist das Symbol dieses Selbstverständnisses der Regierung und Bevölkerung von Kasan/Tatarsatan. Das heutige Kasan ist ein Gegenentwurf zu Moskau – die heimliche dritte Hauptstadt Russlands. Neben Moskau als politischem Zentrum und St. Petersburg als Fenster zum Westen repräsentiert Kasan das euro-asiatische Russland, in dem sich Westen und Osten, Christentum und Islam, Slawen und asiatische Völker miteinander verbinden.

Forscht man nach dem Wesen dieser Koexistenz, trifft man auf den in West-Europa bisher weithin unbekannten Begriff des Jadidismus. Der Begriff leitet sich aus dem tatarischen Wort „jadid“ her, was so viel heißt wie neu; den Gegensatz dazu bildet „kad“, althergebracht. Strömungen, die einem traditionellen Islam das Wort reden, werden dementsprechend unter dem Begriff „Kadismus“ zusammengefasst. Bei Kasans regierenden Tataren, allen voran dem Präsidenten Schamijew, ebenso wie bei seinem engsten politischen Berater Dr. Raphael Chakimow genießt der Jadidismus den Rang einer Staatsideologie.

Dr. Chamikow spricht von einem aufgeklärten, einem reformierten, einem europäisch orientierten Islam. Die persönliche Beziehung zu Allah stehe vor den kollektiven Ritualen. „Im 18. Jahrhundert“, erklärt Dr. Chakimow, „gab es hier eine Reformation des Islam.“. Dr. Chakimow meint damit die Reformen der Katharia II., die deswegen in der tatarischen Bevölkerung bis heute zärtlich Baba, Großmütterchen, Katharina genannt werde.

Man könne den Jadidismus nicht direkt mit dem Lutheranismus vergleichen, aber eine Reformation sei es zweifellos: „Unsere Wissenschaftler stellten die Frage, warum der Osten gegenüber dem Westen zurückgeblieben sei. Die Antwort war, dass er gewissen Traditionen der Autorität gefolgt sei, auf arabisch ´taklid`; das eben hat den Islam geschwächt. Der ursprüngliche Islam ist dagegen auf kritisches Denken gerichtet. Jeder sollte nachdenken, jeder sollte selbst abwägen. Aber dann kam die Tradition auf, Autoritäten zu folgen, und der Islam wurde zu einer unumstößlichen Vorschrift.

Unsere Reformatoren sagten dann, man müsse sich an das kritische Denken wenden. Um den Koran zu lesen, muss der Mensch gebildet sein. Von daher folgt als Erstes, dass jeder Muslim eine gute Bildung haben muss. Also muss man neue Schulen bauen, nach europäischem Standart. Das war die erste Etappe. Das Zweite war, dass im tatarischen Islam, im Jadidismus, die Religion eine persönliche Angelegenheit ist. Da ist Allah – und da bist du; zwischen euch ist kein Advokat. Da ist kein Mullah und kein Imam: Du alleine sprichst mit Allah. Du sagst guten Tag, er antwortet. Hier hat die Obschtschina, die Gemeinde, nichts zu sagen. Also, der tatarische Islam ist eine persönliche Angelegenheit. Die Moschee ist natürlich ein Ort, wo man beten kann, aber vor allem ist sie ein Zentrum der Bildung. Ansonsten gehst du in die Moschee wann und wo du willst. Niemand kann mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe – fünf mal zu Boden oder nicht fünf mal? Soll ich meinen Kopf beugen oder nicht? Das ist meine Sache. Das unterscheidet den Tataren stark von anderen moslemischen Völkern.

Das war schon vor der sowjetischen Zeit. „Al Jadid“ ist die Bezeichnung für diese Reform: Andere Beziehung zu Frauen; Frauen sind den Männern in allem gleich; tolerante Beziehung zu anderen Religionen. Hauptsache du bist gläubig und tust gute Dinge. Allah ist für alle gut. In einem allerdings unterscheidet sich der Jadidismus vom Protestantismus: Durch den Protestantismus hat sich auch im Glauben selbst viel geändert, der Jadidismus kehrt nur einfach zum Koran zurück. Er wendet sich von der Prophetenvermittlung ab, der Autoritätsgläubigkeit. Für den Jadidismus ist die einzige Autorität der Koran selbst.“

Man könnte argwöhnen, der Jadidismus sei nur eine Erfindung der Politiker, um die ethnischen und religiösen Probleme der Republik ideologisch in den Griff zu bekommen. Angesichts der Lücke, die der Zusammenbruch der atheistischen Staatsideologie in Russland hinterlässt, wäre das nicht verwunderlich und nicht einmal zu kritisieren.

Kasans muslimische Geistlichkeit unterstützt jedoch nicht nur den Kurs des Präsidenten, sie hält nicht nur engste Kontakte zu Dr. Chakímow als aktivem Vertreter des Jadidismus im Kasaner Kreml, sie sieht sich auch selbst ganz und gar in dieser Tradition.

Und sie versteht den Jadidismus als ein Modell für das Zusammenleben von Christen und Moslems: „Kasan ist heute ein Beispiel“, erklärt Valjulla M. Yaghupow, Assistent des obersten Mufti im Kasaner geistlichen muslimischen Zentrum“, denn ungeachtet der Tatsache, dass hier 50% Christen und 50% Moslems leben, hat es bisher keine blutigen Zusammenstöße in religiösen Fragen gegeben. Das sagt schon viel aus. Selten sind die Länder in der Welt, wo es ein solches Verhältnis von Christen und Moslems gibt und wo kein Blut vergossen wird. Erinnern Sie sich an Bosnien usw. Kaum irgendwo außer bei uns gelingt es, diese Fragen friedlich zu lösen? Deshalb sind wir ein Modell und werden eins sein. Überhaupt haben wir hier eine einzigartige Situation in Bezug auf die Veränderungen, welche die islamische Welt heute in Berührung mit den Weltproblemen bringen. Für diese Prozesse kann der Islam, der hier bei uns besteht, der Jadidismus, zu einer allgemeinen Plattform werden, weil wir eine sehr reiche Erfahrung im Zusammenleben mit Christen haben. Das ist jetzt aktuell.“

Wie die politische Fühung spricht auch die muslimische Geistlichkeit von „Euro-Islam“, „das ist Alltags-Islam unter den Bedingungen einer christlichen Zivilisation, der heutigen Zivilisation, die Anpassung des orthodoxen Islam an die Bedingungen der heutigen Welt, das heißt auch, Alltagsbedingungen des Islam heute generell.“ Für dessen Entwicklung bestünden unter den Bedingungen der nach-sowjetischen Aufarbeitung besonders günstige Voraussetzungen. Doch, schränkt er ein, sei dies nicht gleichzusetzen mit einer Modernisierung des Islam.

Der Islam bestehe aus drei Teilen, von denen aber üblicherweise nur zwei bekannt seien, erklären Kasaner Religionsforscher wie Rafik Muhamedschin diesen Widerspruch, der Koran, das Wort Allahs, als eigentlicher Kern des Islam und die Scharia, der Alltag, der sich auf Grundlage des Islam herausbilde.

Ein drittes jedoch werde in der Regel vergessen, was hinzutrat, als viele verschiedene Völker zum Islam übergingen, nämlich: „urf adak“, die Einrichtung der „abweichenden Rechte“, die sich aus der besonderen Lage der jeweiligen Völker ergeben.

Wenn sie dem Islam nicht widersprächen, so Rafik Muhammedschin, könne man sie in Anspruch nehmen. In diesem Sinne existiere auch im Islam schon lange der Liberalismus, der zwischen Religion, Staat und jeweiliger Gesellschaftsform differenziere. Wenn der Koran und die Scharia als Kanon zu verstehen seien, die prinzipiell nicht in Frage zu stellen sind, so unterstreiche „urf adak“, der Teil der „abweichenden Rechte“ die Besonderheiten der verschiedenen Regionen – Iran oder Mittleres Asien, die Tataren, Dagestan, Kaukasus – und selbstverständlich auch der verschiedenen Zeiten.

In diesem Verständnis sind sich Vertreter des Jadidismus mit denen des Kadismus im Grundsätzlichen einig; die Unterschiede zwischen ihnen liegen im Detail. Damit steht die große Mehrheit der tatarischen Muslime und mit ihnen die Mehrheit aller Muslime Russlands bei aller Solidarität mit den Verfolgten Glaubensbrüdern und –schwestern in prinzipiellem Widerspruch zu den Fundamentalisten arabischen Herkommens in Tschetschenien, die „urf adak“ als Verunreinigung des wahren Islam ablehnen und den Koran als Grundlage eines Gottesstaates begreifen. Die Verbreitung solcher Vorstellungen im russischen Islam ist jedoch marginal. Ebenso marginal sind Strömungen wie die der Sufis auf der anderen Seite des Spektrums, die überhaupt keine Beziehung zwischen Religion, Staat und Gesellschaft herstellen wollen.
Differenzen unter den Muslimen Russlands betreffen heute eher die Frage in welcher Form sich die islamische Kirche organisiert, als Teil der russischen Zentrale oder als dezentrale Kraft von unten. Diese Frage ist bisher nicht entschieden. Zur Zeit gibt es zwei zentrale Vertretungen des Islam, die eine im alten Stil von einem „Obersten Mufti der russischen Föderation“ aus Moskau geleitet, die andere aus den muslimischen Gemeinden Tatarstans und anderer Republiken Russlands demokratisch gewählt. Beide existieren nebeneinander. Angesichts der Tatsache, dass außerhalb Tatarstans von gleichen Rechten für die muslimische und die orthodox-christliche Kirche nicht die Rede sein kann, ist die demokratische Variante, die sich mit einer Orientierung nach Europa verbindet, das attraktivere Modell.

Mehr zum Thema in: Themenheft 12: Modell Kasan? Modell Kasan

Kai Ehlers. Publizist,
www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78,
Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482
© Kai Ehlers, Abdruck gegen Honorar,
Kto: 1230/455980, BlZ: 20050550

Mongolei – Schweiz Asiens

Unter diesem Thema setze ich mich für einen Austausch mit dem Kulturraum Altai/Mongolei und dessen Stärkung als Katalysator einer kulturellen und ökologischen Erneuerung zwischen ein. Das schließt das russisch-sibirische Burjätien sowie die sog. Innere Mongolei in Nordchina mit ein. Es geht mir dabei

  1. um die gegenseitige Transformation von nomadischem Kultur und industrieller Modernisierung,
  2. um die politische Rolle der Mongolei als eines möglichen neutralen Raumes zwischen den politischen Giganten Asiens,
  3. um direkte Hilfe für die Entwicklung modernen nomadischen Lebens und den konkreten Austausch von Know-how und Kultur zur Frage. Stichwort: Jurte mit Sonnenkollektor auf Basis kooperativer nomadischer Versorgungsgemeinschaften.

    Stationen dieses Projektes waren ausgedehnte Forschungsreisen im Altai., der Mongolei, Sibirien und Nord-China seit 1992, verstärkt seit meiner Teilnahme am 7. internationalen Kongress derMongolisten1997 und 2002; Zur Entwicklung einer konkreten Projektarbeit habe ich im Frühjahr 2004 eine Jurte in Hamburg aufgebaut, in der inzwischen ein Initiativkreis „Kultur der Jurte“ aktiv ist. Im Winter 2004/2005 gründete sich eine Partner-Initiative in der Mongolei, mit der die Hamburger Initiative kooperiert. 2006 organisierten beide Seiten erstmalig gegenseitige ausgedehnte Arbeitsbesuche. Genaueres dazu finden Sie auf den Seiten von Nowostroika e.V.

    Begleitend zu diesen Aktivitäten entstanden

    Zu den gesonderten Aktivitäten der Initiative unter: Kultur der Jurte

    Extrapolare Wirtschaft – kollektive Privatisierung?

    Zusammenarbeit mit der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“, unterstützt von der „Rosa Luxemburg Stiftung“.

    Unter der Fragestellung „Extrapolare Wirtschaft – kollektive Privatisierung?“ startete im zweiten Halbjahr 2003 auf meine Initiative hin ein Untersuchungsprojekt zusammen mit der von Theodor Schanin geleiteten Hochschule. Die Untersuchungsfrage lautete: Kann es eine kollektive Privatisierung geben? Entstehen neue soziale Strukturen, die privatwirtschaftliche und gemeinwirtschaftliche Elemente zu einer Alternative verbinden? Ergebnisse der Konferenz liegen in Buchform in englischer und russischer Sprache vor. Sie können über mich bezogen werden.

    Eine Folgekonferenz fand unter der Frage: „Wohin geht Russland?“ im November 2004 in Moskau statt. Die Tagungen wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert.

    Parallel zu diesen Aktivitäten liegen Veröffentlichungen zum Thema vor:

    Im Winter 2008 und 2009 fand die Zusammenarbeit mit der Hochschule eine Fortsetzung im Zuge meiner Recherchen für das Buch: „Kartoffeln haben wir immer – (Über)leben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha„.Zwei Arbeitskonferenzen der Schule, eine im November 2008, eine im Dezember 2009, beschäftigten sich mit der aktuellen sozialen Entwicklung in Russland, zu denen ich aus der Arbeit an dem Buch jeweils die Basisthesen liefern konnte. Die Thesen sind danach auch nin das Buch mit eingegangen.

    Projekte

    Alle Projekte, die hier angezeigt werden, sind aus dem nachsowjetischen Transformationsprozess hervorgegangen und stehen unter dem Leitgedanken einer anderen als einer bloß am ökonomischen Wachstum orientierten Globalisierung. Wo Projekte inzwischen den Rahmen meiner Web verlassen haben, leite ich Sie durch Links weiter.

    Wenn Sie Kontakt aufnehmen wollen – Sie sind willkommen. Kontakt

    Brücke über den Amur – Integrationsraum Inneres Asien

    Koopeeration mit dem „Zentrum Inneres Asien“ in Irkutsk unterstützt von Rosa Luxemburg Stiftung:

    Als Ergebnis vorhergehender Forschungsreisen meinerseits: Arbeitstreffen 2003 in Irkutsk zum Problem der nach-sowjetischen Migration um Raum zwischen China, Korea, Russland, Mongolei und Zentralasien befasst. Weitere Treffen in Blagoweschtschensk und Ulan Ude 2004 .

    In der Auswertung dieser Aktivitäten entstand mein Buch „Asiens Sprung in die Gegenwart. China, Russland Mongolei – die Entwicklung eines Kulturraums Inneres Asien.

    Modell Kasan

    Kann es einen aufgeklärten Islam und eine Koexistenz jenseits von religiösen Dogmen geben? – Ja, es kann: Kasan ist ein Beispiel und ein Impulsgeber dafür.

    Eigenes Material zum Thema:

    • Themenheft 12: Modell Kasan
    • Buch „Jenseits von Moskau
    • „Buch „Atil und Kriemkilt“ – ein hunnisch-tschuwaschisches Epos
    • Suchstichwort: Kasan, Tschuwasch
    • aktuelle Vorträge zum Thema „Islam -Signal wofür?“
    • 2004 Konferenz zum Thema zusammen mit dem „Tschuwaschischen Kulturzentrum“ in Tscheboksary/Wolga, unterstützt durchg die Rosa Luxemburg Stiftung

    Kultur der Jurte

    Mit der Aufstellung einer Jurte in Hamburg gründete sich im Mai 2004 im Rahmen des Vereins Novostroika e.V. ein Initiativkreis „Kultur der Jurte“. Sie gab sich das Ziel der Unterstützung einer ökologisch orientierten Modernisierung des nomadischen Lebens und  desAufbaues einer kulturellen Brücke zur Mongolei. Aktuell ist die Initiaive im Begriff ihre Aufgabe neu zu definieren.

    Mehr dazu in meinem Buch: „Zukunft der Jurte, Kulturkampf auch in der Mongolei?“

    • auf der Website von Nowostroika e.V
    • in den unten stehenden Texten
    • und unter dem Stichwort „Projekt 13“

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