Kategorie: Mit mir geführte Gespräche

Wahrscheinlich finden Sie über Google mehr Gespräche, die mit mir geführt wurden, als ich hier dokumentieren kann. Das gilt für den deutschsprachigen und zunehmend auch für den russischsprachigen Raum. Betrachten Sie meine Sammlung daher nur als kleine Ergänzung, die en passent mit mir wuchs, wenn Zeit und Umstände es erlaubten.

Revolution oder Revolte (jetzt auf deutsch)

Kai Ehlers: Als wir uns vor 30 Jahren kennenlernten, versuchte Michail Gorbatschow gerade die Sowjetunion zu reformieren. Unser gemeinsames Buch »25 Jahre Perestroika« erzählt davon, wie Du mit Deinen politischen Freunden versucht hast, der Entwicklung eine sozialistische Richtung zu geben. Heute sehen wir uns indessen einem semi-kapitalistischen Russland, einer Amerikanisierung des sogenannten Sozialstaats in Deutschland und Europa sowie einer neoliberalen Globalisierung in der ganzen Welt gegenüber. In Russland haben die Leute genug von Revolutionen. Allenfalls könnte man sich eine weitere neoliberale Pseudo-Revolution à la Alexej Nawalny gegen das »System Putin« vorstellen, gegen den Peripherie-Kapitalismus, wie Du ihn nennen würdest bzw. »hybride Strukturen«, wie ich es nenne. In vielerlei Hinsicht bewegt sich die Welt auf die finale Krise des Kapitalismus zu, aber in dessen Zentren sind keine revolutionären Kräfte in Sicht, die denen zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar wären. Der Schwerpunkt des Wandels hat sich auf die globale Ebene verlagert. Ich denke, dass sein mögliches Kollektivsubjekt die »Marginalisierten« sind, die »Überflüssigen«, deren Zahl weltweit wächst. Sie finden sich in der früheren Dritten und Vierten Welt, auch wenn der Prozess der Prekarisierung nicht auf diese Regionen beschränkt ist. Haben die ‚Verdammten dieser Erde‘ heute eine andere Perspektive als eine ständige, ziellose Revolte? Und welche Rolle können Europa und Russland in dieser künftigen Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft spielen?

Boris Kagarlitzki: Es gibt viele Gründe, sich über die vergangenen Misserfolge der Linken zu ärgern, und noch mehr, um die Zukunft besorgt zu sein. Dennoch teile ich nicht Deine Sicht auf die gegenwärtige Situation. Dass eine ausformulierte Alternative fehlt, hat nichts mit der Frage nach der Möglichkeit einer Revolution zu tun. Dieser Mangel ergibt sich aus objektiven Bedingungen, nicht aus unseren politischen Überzeugungen. Gleichgültig, was wir oder Leute wie wir in den 1980er-Jahren dachten: Sozialismus oder Revolution hatten damals keine Chance. Als wir glaubten, dass eine theoretisch hergeleitete Alternative wesentlich sei, hatten wir Unrecht. Alternativen haben in der Vergangenheit niemals Revolutionen hervorgebracht und werden das auch in der Zukunft niemals tun. Im Gegenteil: Nur andauernde Revolutionen bringen reale (nicht falsche, utopische oder imaginierte) Alternativen hervor.
Es ist seltsam, dass Du Russland »semi-kapitalistisch« nennst. Was ist falsch am russischen Kapitalismus? Warum soll ein russischer Oligarch ganz anders sein als ein amerikanischer, deutscher oder peruanischer? Das Weltsystem integriert alle Länder, und es gibt spezifische Nischen für die deutsche verarbeitende Industrie wie für russische, lateinamerikanische oder saudische Ökonomien, die den globalen Kapitalismus mit Rohstoffen und anderen Ressourcen versorgen. Dies macht die Kapitalismen jeweils besonders. Aber dieses Modell der Arbeitsteilung, das im Neoliberalismus entstand, ist nun in einer Krise, die uns über Kriege und Revolutionen in eine andere, sich radikal von der gegenwärtigen unterscheidenden Gesellschaft führen wird.
Der ökonomische Zerfall ist die Ursache der Krisen, die wir rund um uns herum erleben, einschließlich des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der wenig zu tun hat mit Demokratie oder Nationalismus. Trump, Brexit, Nawalny, der Krieg im Donbas und die Kapitulation von Syriza in Griechenland, die unerwarteten Erfolge von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sind nur einige weitere Symptome dafür. Sind das gute oder schlechte Neuigkeiten? Sowohl als auch. Viel hängt davon ab, wie wir entstehende Möglichkeiten nutzen und die Gefahren meistern, die auf uns zukommen.

Kai Ehlers: Zweifellos stehen wir am Beginn einer globalen Krise des Kapitalismus in seiner gegenwärtigen neoliberalen Form. Ich meine auch, dass Russland Teil der kapitalistischen Weltwirtschaft ist – allerdings auf eine spezifische Weise, die Du als »peripher« bezeichnest, die ich als »hybrid« beschreibe. Wir sind uns auch einig, dass Erscheinungen wie Trump, Brexit, sogar Syrien etc. Symptome einer Entwicklung sind, die uns zu einer völlig anderen Gesellschaft führen wird.
Aber was meinst Du damit, wenn Du sagst, dass viel von unserem Handeln abhängt? Also was nun: Hängt ein Prozess, der objektiv abläuft, dennoch vom subjektiven Eingreifen ab? Wenn Revolutionen nicht von erdachten Alternativen erzeugt werden, sondern von objektiven Prozessen, mehr noch: wenn Alternativen erst von diesen Prozessen erzeugt werden – dann müssen wir klären, wie dies geschieht, was unsere Rolle dabei ist, wer überhaupt dieses »Wir« ist.
Auch was Deine Einschätzung über Krieg und Revolution anbelangt, liegen wir vielleicht nicht auf einer Linie. Muss die globale Erhebung, die wir erwarten, notwendig mit einem globalen Krieg einhergehen? Sie ist sicherlich nicht mit der Französischen, Russischen oder irgendeiner früheren Revolution vergleichbar, die sich von einem Land aus in der Welt ausgebreitet haben. Und ein globaler Krieg ist heute nicht wie der Erste oder Zweite Weltkrieg als Nebeneffekt radikalen sozialen Wandels oder zu dessen Verhinderung führbar. Er würde beide Seiten – Kapitalismus, Imperialismus, Neoliberalismus etc. ebenso wie Ansätze sozialer Befreiung – in einem einzigen dreckigen Aufwasch zerstören.
Natürlich haben wir heute eine wachsende Bereitschaft zur Gewalt: lokale Proteste und Revolten, verschiedene Arten des Terrorismus, die von den Härten der Endphase des Kapitalismus hervorgebracht werden. Das ist der aktuelle Prozess, von dem Du sprichst. Aber bisher führt er nicht zu dem einen großen Knall, der einen globalen Revolution oder dem einen globalen Krieg, sondern radikalisiert sich Stufe um Stufe. Und solange dies so ist, kann es nicht unsere Rolle sein, mit aller Kraft Revolten anzuheizen, wie es gerade ein paar vereinzelte Militante, aus deren Sicht Gewalt eine ausreichende Botschaft darstellt, beim G20 in Hamburg versucht haben. Wir müssen Wege und Bilder zeigen, wie wir zu einer anderen Welt kommen können und wie diese aussehen könnte.
Und daher ist es wichtig, die Widersprüche und Unterschiede zwischen den kapitalistischen Staaten zu sehen, zwischen entwickeltem und peripherem Kapitalismus, zwischen Kulturen, bis hin zu verschiedenen Formen von Widerstand oder möglichen Alternativen für unterschiedliche Völker mit unterschiedlichen sozialen und historischen Hintergründen. Das gilt auch für die gegenwärtige russische Gesellschaft, die von der besonderen sowjetischen Geschichte und Strukturen der Dorfgemeinschaft geprägt ist, auch wenn diese heute vom Kapitalismus überlagert sind.
Ich bin mit Dir einer Meinung, dass Alternativen immer konkret sind. Doch brauchen sie eine Leitidee; keine geschlossene Ideologie, aber Gedanken und Visionen, wie das Leben sein könnte. Um dies auf unser Thema zu beziehen: Die Revolution der heute Ausgestoßenen wird nicht über Revolten oder schlimmstenfalls faschistische Tendenzen hinauskommen, wenn sie sich nicht statt auf bloßen Aufruhr auf Ideen einer humanen Zukunft stützt, die auf überlieferten Werten beruht.

Boris Kagarlitzki: Anscheinend sind wir immer noch auf eine Vorstellung von Revolution fixiert, wie sie der stalinistische »Kurze Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)« präsentiert. Als wären die Bolschewiki, sagen wir 1916, bereits eine verankerte Kraft gewesen! Vom Standpunkt der öffentlichen Meinung aber existierten sie tatsächlich nicht. Alternativen, die naheliegend schienen, hatten wenig mit dem zu tun, was dann tatsächlich geschah. Wenige Wochen, bevor Jeremy Corbyn und Bernie Sanders ihre Kampagnen begannen, gab es sie politisch nicht. Und genau darin war ihr Erfolg begründet. Gegenwärtig haben nur Bewegungen, Anführer, Ideen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, Aussicht auf Erfolg. Alles, was da ist und sichtbar, ist entweder bereits oder wird schnell diskreditiert. Und das hat keine ideologischen Gründe, sondern liegt daran, dass nichts von dem, was innerhalb des Bestehenden unternommen wird, funktionieren kann. Das ist ein objektiver Vorgang. Für mich ist nicht relevant, ob die Leute den Neoliberalismus mögen oder nicht. Tatsächlich mochten sie ihn nie. Aber Privatisierung und Deregulierung kamen, weil sie funktionierten. Nicht für die Mehrheit, aber für die Eliten. Nun aber führt die neoliberale Hegemonie ins Nichts, weil das System seine Potentiale erschöpft hat. Es kann sich einfach nicht mehr reproduzieren, seine Erträge können nicht einmal mehr die herrschenden Klassen zufriedenstellen – und das ist es, was Leute wie Trump oder Nawalny hervorbringt.
Die Ironie heute liegt darin, dass uns nicht die Möglichkeiten fehlen, sondern die Ziele. Die Linke ist zu einer Gemeinschaft liberaler Intellektueller geschrumpft, die sich für Tierrechte, Schwule und Feminismus interessieren (aber nicht für die real existierenden Tiere, homosexuellen Paare oder Frauen aus der Arbeiterklasse). Die Linke hat sich vollständig von der Klassenpolitik entfernt; auch wenn sie sich der Klassenrhetorik bedient, so bleibt diese inhaltsleer. Ironischerweise sind es heute im Westen einige Teile der radikalen Rechten, die der Arbeiterklasse zuhören und – wenn auch verworren und inadäquat – versuchen, deren Alltagsinteressen zu vertreten.
In Russland ist im Moment die radikale Rechte sehr schwach. Das macht die Sache für die Linke einfacher. Unsere Aufgabe ist: eine neue Linke zu schaffen, die in vielerlei Hinsicht eher wie die originale alte sein wird. Zurück zu den Vor-60ern, zu den 1920ern. Das klingt etwas nach der hegelianisch-marxistischen Negation der Negation. Aber überlassen wir das den Philosophen, wir müssen praktisch sein.
Wer sind »wir« heute? Als eine politische Kraft existieren wir noch nicht. Wir müssen uns selbst erschaffen. Mit sehr einfachen Gedanken – Gemeinwirtschaft, Regulierung, Wohlfahrtsstaat, demokratische Partizipation. Können wir auf das Erbe der Sowjetunion zurückgreifen? Ja, warum nicht! Nur sollten wir nicht versuchen, die Sowjetunion zurückzubringen. Das wäre unmöglich.
In dem großen Fundus von Ideen und Methoden, den die Linke lange Zeit besessen hat, können wir finden, was wir brauchen. Die aktuelle Ausgestaltung wird von der Situation und den aktuellen Bedürfnissen abhängen. Versuchen wir aber gar nicht erst, etwas Neues zu erfinden. Das hat keinen Sinn. Wir brauchen keine neuen Ideen. Wir haben ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die meisten haben sich als falsch oder nicht praktikabel erwiesen. Wir brauchen Politik. Das heißt nicht, eine Organisation aufzubauen, sondern Leute zu schulen, die in der Lage sind, bei Bedarf sehr schnell Strukturen aus dem Boden zu stampfen. Diese Arbeit wird schon heute und nicht ohne Erfolg geleistet. Die Politik wird kommen, wenn es eine Gelegenheit gibt. In einem Jahr, einem Monat, in einigen Wochen. Oder niemals.

Kai Ehlers: Nichts Neues erfinden: Ja! Schulung: Ja! Aber der Teufel steckt im Detail: was, wie und wann! Zuallererst müssen wir uns vor Augen führen, dass der Glaube an bloße Effizienz und wirtschaftliches Wachstum auf Basis von Konkurrenz die Menschheit in eine Krise geführt hat. Diese kann nur durch Kooperation in selbstgewählten Gemeinschaften überwunden werden, die sich, statt am alltäglichen Krieg aller gegen alle, an der kulturellen Entwicklung jedes menschlichen Wesens und jedes Volkes orientieren. Stichworte: Liebe, gegenseitige Unterstützung und Solidarität. Sonst werden künftige Erhebungen nur das wiederholen, was wir heute haben – und zwar in einem schlimmeren Grad. Und was die Frage der sozialen Ertüchtigung anbelangt: lokal wie global, in der Organisation der Arbeit wie des Alltagslebens. Wir müssen Wege suchen, wie wir uns selbst, wie der wachsenden Zahl von Außenseitern körperlich, wie geistig helfen, uns und sich selbst als Individuen zu finden, »ich« sagen zu lernen, und ebenso als Kollektivmacht zu entfalten, die sich selbst in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen organisiert. Und hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach dem Wann: Jetzt natürlich, immer jetzt, weil jede Reise mit dem ersten Schritt beginnt. ‚Morgen‘ würde niemals bedeuten. Und jede Betätigung in diese Richtung ist, denke ich, eine Art von Vorbereitung. Jeder Revolution ging eine solche Vorbereitung voraus, bei der Bevölkerung, den Minderheiten, mit sozialer Fantasie und der Hoffnung auf etwas Besseres, die dazu beitrugen, die unvermeidliche Gewalt einzugrenzen. Und ich hoffe, dass es dies auch heute gibt.

Boris Kagarlitzki: Wir haben zu viel Zeit damit verbracht, Werte zu verkünden, während die andere Seite Politik gemacht hat. Wir müssen sehr konkret werden. Jeremy Corbyns Kampagne ist dafür ein gutes Beispiel. Ihr Erfolg beruhte auf praktischen Vorschlägen. So moderat die meisten davon auch sind, wirken sie nach 30 Jahren Neoliberalismus doch radikal oder sogar revolutionär. Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen, den Öffentlichen Dienst wieder in die Lage zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen, oder staatliche Investitionen, um Wachstum zu erzielen, wenn Marktanreize erschöpft sind: Das ist alles sehr einfach.
In Russland liegen die Dinge noch mehr auf der Hand. Eine große Mehrheit möchte Öl- und Gaskonzerne und andere Firmen, die die Oligarchen der Bevölkerung gestohlen haben, wieder verstaatlichen. Trotzdem kämpft keine politische Kraft für diese populären Forderungen. Warum? Weil das Volk selbst nicht für seine eigenen Interessen und Rechte eintritt. Das Problem liegt nicht bei der Linken – es liegt bei den Massen. Solange sie passiv bleiben, spielt es keine Rolle, welche Werte wir verbreiten. Die Frage ist, ob sie sich bewegen. Wenn nein, verdienen wir alle eine düstere Zukunft. Aber mir scheint ein Wendepunkt sehr nahe zu sein. In diesem Moment müssen wir die praktische Bedeutung unserer Ideen beweisen. Wenn sie hier und jetzt in ein konkretes Programm eingehen und in Handlungen, die zu einer Transformation führen, dann werden sie funktionieren, und unsere Existenz hat einen Sinn.

(Dieser Text erschien zuerst in „Melodie und Rhythmus“, Heft 4/2018)

(Eine ungekürzte englische Version auf der Website: www.kai-ehlers.de unter „Revolution or Revolt“

Siehe dazu auch: Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika. Gespräche mit Boris Kagarlitzky, Band I und II, laika diskurs 2013/14

 

Sommergespräch über Russland in Tarussa: Rückblick und Ausblick

Hallo allerseits! Ich bin wieder einmal in Russland unterwegs.

Im Folgenden können Sie sich in ein Gespräch einklinken, das der Herausgeber der Internetzeitung russland.ru und ich in seinem Wohnort in Tarussa geführt haben. Das Gespräch beginnt mit einer Rückschau auf touristische Annäherungen an Russland noch vor Perestroika und endet bei der Frage, warum die Sanktionspolitik desWestens Russland nicht wird in die Knie zwingen können. Nachfolgend das mit mir geführte Sommergespräch in Tarussa als Video:

Dazu die beiden erwähnten Bücher:

  • Kai Ehlers, Kartoffeln haben wir immer – bestellen
  • Kai Ehlers, Jenseits von Moskau, 186 und eine Geschichte von der inneren Kolonisierungn- bestellen

Schattenblick-Interview mit Kai Ehlers am Donnerstag, 13. März 2014 in Hamburg

Schattenblick: Wir haben in dem vorangegangenen Vortrag und der anschließenden Diskussion die Sicht und Befindlichkeit Rußlands zwar gestreift, aber nicht allzu intensiv behandelt. Wie erlebt man dort deiner Erfahrung nach die Einkreisung durch die NATO und die EU, auf welche Mentalität trifft dieser neuerliche Vorstoß aus dem Westen, welche Gegenstrategien werden erörtert und entwickelt?

Kai Ehlers: Diese Fragen lassen sich nicht so einfach beantworten, weil man den Komplex in verschiedene Phasen unterteilen muß. Im Moment kann man sagen, daß in Rußland, soweit ich das einschätzen kann, die Empörung über das, was da über Jahre gelaufen und jetzt zu einem gewissen Ende gekommen ist, sehr hohe Wellen schlägt. Man hat den Punkt erreicht, an dem man sagt, es reicht jetzt. Wir sind über Jahre zurückgedrängt worden, haben Teile unseres ehemaligen Einflußbereiches verloren, und jetzt hat man diesen Kraftakt gegen uns durchgesetzt. Es reicht! So ist die Stimmung. Man kann durchaus von einem gewissen russischen Nationalismus sprechen, der da jetzt hochkommt und mir nicht nur angenehm ist. Er enthält auch Stimmen, die ich irrational finde, wenngleich ich gut verstehen kann, woher sie rühren. Das halte ich auch für sehr problematisch. Ich frage mich beispielsweise, wie sich Putin dazu stellt, der seit einer Woche schweigt. Er hat noch nicht Stellung zu der Ankündigung harter Sanktionen seitens der USA und EU genommen. Bei einer Konferenz in der letzten Woche äußerte er sich sehr moderat, sehr staatsmännisch. Er erklärte sehr viel und zeigte Verständnis für die Proteste des Maidan. Zugleich unterstrich er aber auch, daß es nicht so weitergehen könne wie bisher.

Es handelte sich eher um politische Aussagen, die nationalistische Tendenzen erkennen lassen, die man nicht ohne weiteres auf die Stimmung in der Bevölkerung übertragen kann. Viel ist in Bewegung, und wie mir ein Freund per Skype aus Moskau berichtete, fanden dort gerade zwei große Demonstrationen statt. Für übermorgen sind größere Demonstrationen der Liberalen geplant, die ganz und gar gegen die Pläne der Regierung sind. Dabei handelt es sich wiederum um einen Versuch, den Maidan nach Moskau zu holen.

 SB: Vor wenigen Tagen wurden in Moskau zahlreiche Demonstrationsteilnehmer verhaftet. Wie beurteilst du den Umgang mit solchen Demonstrationen und Bewegungen wie auch den NGOs? Die russische Regierung argwöhnt, daß es sich dabei um die Möglichkeit einer westlichen Unterwanderung handelt. Andererseits werden auch Bewegungen unterdrückt, die eigenständige soziale und politische Anliegen vertreten.

 KE: Eines ist klar, diese NGO-Geschichte ist ein altes Problem, zu dem ich immer die einfache Gegenfrage stelle: Was würde Frau Merkel sagen, wenn wir russische NGOs hier hätten, die sich in die deutsche Politik einmischen? Damit hast du schon die Antwort: Das würde Frau Merkel nicht akzeptieren. Würde die Türkei mit irgendwelchen islamistischen oder auch nur tendenziell türkeifreundlichen Organisationen dasselbe in Deutschland machen, stünden diese Gruppierungen unter schärfster Beobachtung und Kontrolle. Das ganze Gerede von der Unterdrückung der NGOs in Rußland ist einfach erstunken und erlogen, da es schlicht und einfach nur darum geht, daß sie sich ausweisen und ihre Ziele offenlegen müssen. Um mehr geht es gar nicht. Da viele NGOs das aber nicht wollen, ist daraus eine Auseinandersetzung entstanden, die immer schärfere Maßnahmen gegen sie in Gang gesetzt hat. Sie sollen sich gefälligst ausweisen, sonst werden sie nicht registriert. Mehr passiert ihnen ja eigentlich gar nicht. Wenn du andererseits bei der deutschen Szene prüfst, wie viele Organisationen vom Verfassungsschutz beobachtet oder nicht zugelassen werden, dann können wir eine ernsthafte Diskussion führen, die auch Sinn macht.

 SB: Putin wird von westlicher Seite im Grunde genommen als Person überzeichnet, als sei er allein Rußland. Zugleich wird in seiner Figur das Angriffsziel ausgemacht. Wie schätzt du die tatsächliche Bedeutung Putins ein? Sind seine Funktion und sein Auftreten innen- und außenpolitisch konsistent oder vertritt er dabei Interessenlagen, die unterschiedlich gewichtet sind?

 KE: Putin ist eindeutig der Mann, der die russische Staatlichkeit nach dem Zerfall der Jahre 1991 bis 1998/99 wiederhergestellt hat. Als solcher wird er von der Bevölkerung geschätzt, mit all den Widersprüchen, die dabei zum Tragen kamen. Er mußte natürlich bestimmte Kreise der Bevölkerung wie insbesondere die Oligarchen und teilweise auch die liberale Opposition hart anfassen. Was er seit 1999 betreibt, bezeichne ich als autoritäre Modernisierung. Man kann ganz klar sagen, daß es sich um keine demokratische, sondern um eine autoritäre Modernisierung handelt. Aber die findet statt, und ich habe ja schon vorhin beim Vortrag hervorgehoben, daß es Putin geschafft hat, die private Situation des Oligarchentums in eine staatliche regulierte korporative Kapitalentwicklung zu überführen. Das gefällt mir zwar auch nicht besonders und ist nach wie vor etwas, das ich eigentlich gar nicht haben möchte. Es ist aber auf jeden Fall ein Erfolg gegen diese Art von privater anarchischer Benutzung des kollektiven Eigentums durch einzelne Personen, die den Staat und die sozialen Bezüge weiter aufgelöst haben. Das wird Putin im Lande selber hoch angerechnet. Auf der anderen Seite wird er heftig kritisiert, wo seine Versprechungen, daß sozial alles besser werden soll, nicht in der Geschwindigkeit, die er gerne hätte, eingelöst werden. Vielleicht will er sie aber auch gar nicht einhalten, wer weiß das so genau. Er steht zwischen den Kapitaleignern und der Bevölkerung, die ihm sein Rating gibt, und ist damit eindeutig Teil der herrschenden Klasse und nicht etwa der Bevölkerung, das ist klar.

 Sein Auftreten nach außen und nach innen ist aus einem Guß. Wenn du siehst, wie sich dieser Mann einmal im Jahr den Fragen der Bevölkerung stellt, dann möchte ich das einmal von unseren Politikerinnen und Politikern erleben. Das ist jedesmal ein Marathon von fünf, sechs, sieben, acht, neun Stunden, in denen er wirklich auf die Fragen eingeht. Und bei der letzten Konferenz gab er in einer weltpolitisch äußerst brisanten Situation ein Interview, in dem er lange Ausführungen auch zur politischen Situation machte. Man würde sich wünschen, auch mal von deutschen oder europäischen Politikern derart inhaltliche Aussagen zu hören.

 SB: Du hast hinsichtlich des Konflikts zwischen Georgien und Ossetien unterstrichen, daß das Nein der russischen Regierung eine neue Phase des Umgangs mit ihr zur Folge hatte. Könntest du dir vorstellen, daß aus russischer Sicht im Falle der Krim oder der Ukraine wieder so eine Grenze gesetzt wird, die aus westlicher Perspektive durchaus als eine auch militärisch gestützte Schranke wahrgenommen wird?

 KE: Das Nein wurde bereits ausgesprochen. Der Beschluß des Föderationsrates, der Putin oder die Exekutive zum Eingreifen in diesen Konflikt ermächtigt, ist bereits als ein eindeutiges Njet zu werten. Ich selbst habe das als einen Schritt der Deeskalation bezeichnet, was keineswegs von allen meinen Freunden und auch der Friedensbewegung geteilt wird. Schaut man sich den Gesamtzusammenhang an, war es ein Schritt der Deeskalation, weil es faktisch zur Beruhigung der Situation beigetragen hat. Diese Entscheidung hat den Vormarsch gestoppt, der da in Gang gesetzt worden ist, mit all den Irritationen, die dazugehören. Ich gehe davon aus, daß die russische Regierung nicht bereit ist, hinter diese Position zurückzufallen. Sie hat nicht die geringste Absicht, einen Krieg vom Zaum zu brechen, sondern einfach nur gesagt, bis hierher und keinen Schritt weiter. Wir akzeptieren das nicht, was ihr hier gemacht habt, das geht zu weit.Wir greifen ein. Damit hat sie eine Situation geschaffen, die die ganze Welt in Aufregung versetzt. Das ist eine klare Zäsur. Was darauf folgt, werden wir sehen.

 SB: In der hiesigen Berichterstattung und Kommentierung wird eher ausgespart als hinreichend erörtert, welche Bedeutung die Ukraine in ökonomischer Hinsicht für Rußland hat.

 KE: Die Ukraine und Rußland haben engste wirtschaftliche Beziehungen.

Rußland ist für die Ukraine sehr wichtig und die Ukraine umgekehrt auch für Rußland. Viele Ukrainer sind als Gastarbeiter in Rußland beschäftigt. Die südlichen Pipelines verlaufen durch die Ukraine in die Europäische Union. Es sind engste Verflechtungen, wenn man etwa an das Donezbecken mit seiner großen Industrie denkt, die derart mit der russischen Ökonomie verbunden ist, daß man das gar nicht auseinanderdividieren kann. Das wissen alle, auch die Europäer und Amerikaner, daß man das gar nicht auseinanderreißen kann. Wollte man es dennoch versuchen, würden das weder die dort lebenden Menschen akzeptieren, noch könnte es die Wirtschaft verkraften.

 SB: Du hast in deinem Vortrag angesprochen, daß Janukowitsch um seine Wiederwahl fürchten mußte, hätte er das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht ausgebremst. Liegt dem ein weit verbreitetes Bewußtsein in der ukrainischen Bevölkerung zugrunde, welche Folgen dieses Abkommen für sie hätte?

 KE: Nein, so würde ich das nicht formulieren. Mit Bewußtsein hat das erst einmal nicht viel zu tun. Es hat etwas mit dem konkreten Erleiden der Wirklichkeit zu tun. Wäre dieser Assoziierungsvertrag abgeschlossen worden, hätte das zweifellos bedeutet, daß die damit verbundenen Auflagen seitens des IWF oder der Europäische Union zu einem enormen Anstieg der Lebenshaltungskosten für die Bevölkerung führen. Beispielsweise fordert der IWF, daß die Gaspreise um zwei Drittel steigen müssen, daß die kommunalen Gebühren erhöht, daß die nicht effektiven Betriebe geschlossen werden und so weiter. Die Währung soll freigegeben und de facto abgewertet werden, was mit Einbußen bei den Lebensverhältnissen verbunden wäre. Dagegen erhebt sich Protest, und aus diesem könnte vielleicht so etwas wie Bewußtsein entstehen. So herum wird ein Schuh daraus. Janukowitsch hätte der Bevölkerung das Assoziierungsabkommen nach dem Motto verkaufen müssen, wir müssen den Gürtel enger schnallen, damit wir nach Europa kommen. Dann kommt man nach Europa, aber der Gürtel ist immer noch zu eng.  Dieser Prozeß läuft nun wieder an, hat doch der sogenannte Übergangspräsident Jazenjuk zuallererst verkündet, man müsse Einbußen akzeptieren. Wie lange er das wohl durchhält? Ich glaube, er hält das nicht lange durch. Vielleicht räumt man ihm ja Sonderkonditionen ein, aber danach sieht es nicht aus. Alles spricht dafür, daß der IWF tatsächlich genauso knallhart vorgeht wie vorher auch. Da werden Forderungen gestellt, das Öl- und Gasgeschäft wird jetzt auf amerikanische Banken und amerikanische Teilhaber überschrieben und so weiter. Es läuft genau das ab, was zu erwarten war, nämlich daß Herr Jazenjuk als Banker die Tür weit aufmacht für westliches Kapital und westliche Kapitalisten. So sieht es aus. Daß die Bevölkerung das honorieren wird, möchte ich schwer bezweifeln.

 SB: In welchem Maße ist der Ruf einer Ausrichtung nach Westen vor allem ein Anliegen der wohlhabenderen Gesellschaftsschichten? Vitali Klitschko sprach ja von den jungen, modernen Eliten, die richtungsweisend für die Ukraine seien. Kann diese Auffassung überhaupt bei der breiten Bevölkerung und insbesondere den ärmeren Leuten Fuß fassen?

 KE: Das kann ich kaum beantworten. Ich kann nur sagen, Klitschko ist Boxer, und ob er wirklich zur neuen Elite gehört, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich denke eher, er hat sich überhoben. Aber es ist kein spezielles Klitschko-Problem, sondern das Problem vieler, die da gegenwärtig unterwegs sind, daß sie gar nicht wissen, was sie tun.

Ich sage es mal ein bißchen salopp. Denn daß der Klitschko sich in seiner eigenen Stärke und in der Situation total verschätzt hat, liegt ja offen vor unseren Augen. Er wurde erst zu einer neuen Figur, einer neuen Bewegung, aufgebaut, und dann läßt man ihn fallen. Und wer ist dran? Die alten Eliten, die schon immer dran waren, nämlich die Oligarchen. Nur in einer neuen Garnitur. Klitschko darf ein paar Worte sagen, vielleicht sogar als Präsident auftreten, aber diese neue Bewegung, die er repräsentiert, spielt in der Übergangsregierung überhaupt keine Rolle. Da spielen die alten Oligarchen, die Neoliberalen, die Rechten, die Nationalisten und Faschisten eine Rolle. Aber Klitschko ist nicht dabei. Wo die jungen Leute bleiben, die mit großen Träumen von Europa auf den Maidan gegangen sind, wird man sehen. Das ist eine ganz tragische Situation.

 SB: Das ist vielleicht auch eine Fehlkalkulation der Konrad-Adenauer-Stiftung und ähnlicher Kreise, die eine Figur wie Klitschko aufgebaut haben. Oder war er von vornherein lediglich eine Spielfigur, ein Strohmann?

 KE: Das eine schließt das andere nicht aus, und die Antwort hast du selber schon gegeben. Er ist von der Adenauer-Stiftung, von der deutschen Politik, aufgebaut, geschult und finanziert worden. Das konnte man immer wieder nachlesen, weil es in völliger Schamlosigkeit und Offenheit dargestellt wurde. Dann hat man ihn ins offene Messer laufen lassen, weil eine Situation hergestellt wurde, der der arme Kerl überhaupt nicht gewachsen war. Er ist auf dem Maidan herumgeirrt und hat gerufen: Bleibt ruhig, bleibt ruhig! Die haben sich einen gelacht. Als am 21. Februar der Kompromiß in Form einer gesamtnationalen Übergangsregierung umgesetzt werden sollte, ist er hingegangen. Da hat man ihn total abserviert und gesagt, wer bist du denn überhaupt? Damit ist der Mann in meinen Augen als Politiker erledigt. Ich glaube, viele Ukrainer sehen ihn ganz anders als die deutschen Medienkonsumenten. Hier wurde er hofiert, aber doch nicht in der Ukraine!

 SB: Vorhin fiel die nicht nur ironisch gemeinte Zwischenbemerkung, daß die deutschen Wirtschaftsverbände im Grunde genommen beinahe die vernünftigste Position in diesem Konflikt vertreten. Man stolpert zunächst schon über den Widerspruch, daß deutsche Wirtschaftsinteressen für eine Zusammenarbeit mit Rußland und gegen eine Eskalation zu sprechen scheinen. Unternehmerverbände haben klar zum Ausdruck gebracht, daß die Geschäftsbeziehungen nicht aufs Spiel gesetzt werden dürften. Woher rührt demgegenüber der Druck, den die Bundesregierung an den Tag legt?

 KE: Diese Frage stelle ich mir auch. Woher kommt dieses Tempo, mit dem die Bundesregierung vorprescht? Ich kann es mir eigentlich nicht wirklich erklären, außer daß sie einfach unprofessionell arbeitet.

Wenn du Frau Nuland hörst, wie sie „fuck EU“ sagt, dann weißt du ungefähr, wo das Problem liegt. Die Europäer – und die Deutschen allen voran – machen in einer Art und Weise Politik, die den amerikanischen Interessen nicht entspricht. Die EU will sich offenbar von den amerikanischen Interessen emanzipieren und voranpreschen, hat dafür aber noch nicht das rechte Geschick. Die Amerikaner können es besser, weil sie bereits mehrere Jahrzehnte Interventionspolitik hinter sich haben. Die Europäer und speziell die Deutschen fangen erst damit an, sie können das noch nicht richtig und haben Fehler gemacht.

Wie sie den Klitschko in aller Öffentlichkeit aufgebaut und dann als Marionette deklariert haben, ist derart blöde gewesen, blöder geht es doch gar nicht mehr. Zumindest im Sinne einer imperialen Logik, die intervenieren will, verbietet es sich, einen Klitschko als Marionette am Gängelband der Adenauer-Stiftung zu präsentieren.

 SB: Würdest du in diesem Zusammenhang auch das Abkommen, das unter deutscher, französischer und polnischer Beteiligung geschmiedet, doch von anderen Kräften sofort gebrochen wurde, ebenfalls als Fehlgriff der EU sehen, die vermutlich von amerikanischen Interessen überholt und ausgehebelt wurde?

 KE: Ich habe das zumindest so wahrgenommen, ich war ja nicht dabei.

Man bekommt immer nur amputierte Informationen und muß stets die Frage stellen, wem das Ganze nützt. Bleibt man an den Einzelheiten hängen, ist man ohnehin schlecht beraten. Soweit ich das vom Ergebnis her bewerte, kann ich nur sagen, daß sich die deutschen und europäischen Interessen offensichtlich verkalkuliert und eine Geschwindigkeit angelegt haben, die sie selbst nicht kontrollieren konnten. Sie haben ihren Westerwelle und wer weiß, wen sonst noch auftreten lassen, sie haben angeheizt und eingeheizt, bis sie das Ganze nicht mehr herunterfahren konnten und es einfach übergekocht ist. Dann haben sie ihren Steinmeier als Feuerwehr geschickt, der mit seinen Amtskollegen aus Frankreich und Polen dem Janukowitsch etwas abgerungen oder versprochen hat, um die höchst brenzlige Situation zu entschärfen.

Kaum hatten sie Kiew den Rücken gekehrt, war ihre Intervention auch schon verpufft. Diese Feuerwehraktion hat überhaupt nichts gebracht, was wiederum zeigt, wie unprofessionell man vorgegangen ist. Ich sage mal ganz freundlich „unprofessionell“, man könnte es auch unverantwortlich nennen, daß sie hinterher nicht auf Einhaltung des unter internationaler Beteiligung ausgehandelten Kompromisses bestanden haben. Kein Wort vom Boden internationalen Rechts, auf dem man sonst so felsenfest steht – nichts dergleichen, du hörst kein Wort davon, das wird einfach hinten runtergekippt. Das soll Professionalität sein?

 SB: Du hast von einem Informationskrieg gesprochen. Die Berichterstattung in den deutschen Medien ist auf geradezu beispiellose Weise eskaliert, als allenthalben Putin mit Hitler verglichen und diverse andere historische Absurditäten kolportiert wurden. Dabei wurden Widersprüche und Gegeninformationen systematisch ausgeblendet oder schlichtweg geleugnet. Kannst du dir vorstellen, wie man so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit schaffen könnte?

 KE: Zunächst mal einen kleinen Einwand. Die Quelle des Putin-Hitler-Vergleichs ist Zbigniew Brzezinski, obgleich dieser in seinem neusten Buch eigentlich versucht, Rußland zu umarmen. Er entdeckt sogar demokratische Tendenzen in diesem neuen Rußland – wenn es sich denn von Putin lösen könnte. In der aktuellen Situation fällt er voll auf seine Bärbeißerei und sein Putin-Bashing zurück. Was die ehemalige amerikanische Außenministerin, Frau Clinton, von Putin-Hitler erzählt, hat sie bei ihm abgelesen. Er war der Stichwortgeber, und alles, was du diesbezüglich hier in der Presse liest, ist ein Plagiat der US-Medien.

 Andererseits gibt es in der Tat in der deutschen Presse so eine Art Grundorientierung gegen Putin, so eine Art Beißreflex, der auch rational nicht mehr zu erklären ist, weil er eigentlich dem Interesse der deutschen Wirtschaft zuwiderläuft. Einer meiner russischen Gesprächspartner, Boris Kagarlitzki, hat mir das einmal so erklärt: Das ist der ideologische Reflex auf der einen und die wirtschaftliche Wirklichkeit auf der anderen Seite. Deutschland sucht und braucht die Beziehung zu Rußland, da gibt es überhaupt nichts zu diskutieren. Aber der Neoliberalismus als Ideologie ist derart in die Köpfe der Medienmacher eingedrungen, daß sie selbst Opfer dieser Ideologie sind und gar nicht anders können. Sie müssen ihre neoliberale Ideologie über Rußland ausschütten. Da ist was dran an diesem Gedanken, daß das so eine Art Selbstgänger ist.

Gut, was kann man dagegen tun? Ich kann nur sagen, was ich dagegen tue: Ich versuche, die Situation irgendwie zu durchschauen, was schwer genug ist. Selbst wenn man hinfährt – das hat Susann vorhin auch deutlich gemacht -, kannst du erst einmal nur einen bestimmten Aspekt erzählen. Du brauchst andere Schlüssel, um das, was du selbst erlebt hast, in einen Zusammenhang stellen zu können. Es ist aus meiner Sicht sehr schwer, überhaupt so etwas wie eine Übersicht zu bekommen, und die Frage, wem das alles nützt, ist die einzig relevante Frage, die ich immer wieder stelle. Das ist mein Maßstab, und den würde ich auch gerne anderen mitgeben. Wem nützt das, was da abläuft? Wenn du so rangehst, dann kannst du anfangen zu sortieren. Und das Sortieren ist unbedingt notwendig. Ich gebe ein Beispiel, das ich gerade erlebt habe: In der Zeit von gestern steht sinngemäß über einem Artikel „Putins Ausreden und die Wirklichkeit“. Dann werden zehn angebliche Fragen aufgeführt, die anhand angeblichen Fakten abgearbeitet werden. De facto lösen sich dabei jedoch die Fragen alle im Nebel auf.  Unsere Aufgabe wäre es, in einer Art Faktenchek zu auftauchenden Fragen den Menschen etwas an die Hand zu geben. Was stimmt, was stimmt nicht? Was kann man beweisen, was ist lediglich ein Gerücht? Auf diese Weise könnte man auch den Gerüchtemachern aus der eigenen Kiste entgegentreten. Du hattest vorhin angesprochen, daß man bei der Frage, wer auf dem Maidan geschossen hat, nicht bloßen Verschwörungstheorien anheim fallen darf, da man sich andernfalls selber die Möglichkeit nimmt, seriös zu argumentieren. Man sollte ganz klar bei dem bleiben, was beweisbar ist, und eine Untersuchung des nicht Bewiesenen fordern.

Ich denke, daß in dieser Hinsicht sehr viele Engagement von unserer Seite erforderlich ist. Zudem sollte man den demokratischen Anspruch der Europäischen Union und Deutschlands in der Weise ernst nehmen, daß man seine Einhaltung fordert. Nur auf dieser Grundlage kann man eine wirksame Kampagne ins Leben rufen. Klassenfragen und dergleichen ziehen heute überhaupt nicht. Du mußt auf der Ebene der demokratischen Werte argumentieren, und auf dieser Ebene kann man, wenn überhaupt, mit Menschen ins Gespräch kommen: Schau dir an, was sie wirklich tun, wie sie lügen. So kannst du an die Menschen rankommen, sonst kommst du gar nicht ran.

SB: Du hattest Boris Kagarlitzki erwähnt. Welche Rolle spielt heute eine Linke in Rußland im allgemeinen und insbesondere auch in diesem Konflikt?

KE: Für Rußland gilt im Prinzip ähnlich wie für die Ukraine, daß die Linke eigentlich kaum eine Rolle spielt. Da aber Rußland größer und inzwischen geordneter als die Ukraine ist, hat die russische Linke auf intellektueller Ebene einen größeren Einfluß. Praktisch und politisch hat sie derzeit hingegen keinen Einfluß. Immerhin gibt es aber in Moskau das Institut für Erforschung der Globalisierung und sozialen Bewegungen. Dieses Institut von Boris Kagarlitzki, das mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung aufgebaut wurde und auch unterhalten wird, ist sehr aktiv in der Analyse und Publizistik. Ich denke, daß auf diesem Weg ein gewisser Einfluß ausgeübt wird, den man freilich nicht überschätzen sollte. Die Grenzen sind durch den liberalen Flügel, der nur an seinem Neoliberalismus interessiert ist, sehr eng gezogen. Auf der anderen Seite begrenzen die Altkommunisten den Bewegungsraum.

Beispielsweise wurden vor einigen Jahren Sozialforen organisiert, an denen 1.500 Menschen teilnahmen. Wenngleich das für Rußland natürlich sehr wenig ist, war es für sich genommen doch eine erfreuliche Anzahl.

Regelrechte Strategien kamen dabei allerdings nicht heraus, es ging eher darum, sich mal ausgetauscht zu haben, was auch schon ganz gut war. Interessant ist daran, daß Boris Kagarlitzki, das Institut und eine ihnen angeschlossene Gruppe namens Post Globalisation Initiative vor kurzem nach Brüssel einladen konnten, und zwar zum allerersten Mal nicht auf Kosten des Westens, sondern auf ihre Kosten. Sie haben westliche Freunde nach Brüssel eingeladen, wo wir eine Konferenz zur Lage in der Ukraine durchführten. Ich fand es sehr bemerkenswert, daß es in Rußland inzwischen Kräfte gibt, die bereit sind, die Linke zu unterstützen. Diese bekommt Gelder von irgendeiner Stelle, was wir Sponsoren nennen, während sie von Oligarchen sprechen.

SB: In der Landwirtschaftsausstellung Grüne Woche in Berlin gab es ein Forum Osteuropa, in dem klar formuliert wurde, daß die Zukunft der Welternährung aus Sicht der Agrarkonzerne in Rußland und in der Ukraine angesiedelt sei. Weißt du etwas darüber, inwiefern die Frage der Böden und der Nahrungsmittelressourcen ein strategisches Pfund ist?

KE: Ich weiß, daß die Chinesen gerade im Zuge der aktuellen Auseinandersetzungen in der Ukraine große Ländereien gekauft haben und weitere kaufen oder langfristig pachten wollen. Sie wollen dort Gemüse anbauen, Schweine züchten und so weiter, um die Versorgung ihres eigenen Landes sicherzustellen. Und das gilt nicht nur für die Chinesen, sondern auch für andere Interessenten, weil die Ukraine bekanntlich über sehr fruchtbare Schwarzerdeböden verfügt. Was Rußland betrifft, habe ich mich mit dieser Frage noch nicht intensiv befaßt. Ich weiß aber, daß große Teile des Landes brachliegen. Wenn du mit dem Zug durchs Land fährst – man macht dort schöne lange Reisen von mehreren Tagen -, dann ziehen am Fenster verlassene Kolchosfelder vorbei, auf denen inzwischen halbhohe Bäume stehen. Es sind Felder, die niemand mehr bestellt, und sie neu zu kultivieren bedürfte ungeheurer Anstrengung, weil diese Bäumchen schon stark verwurzelt sind. Land ist also reichlich vorhanden, und wenn man Geld einsetzen würde, könnten Riesenflächen wieder urbar gemacht werden. Aber wer das macht, über welche Kanäle das läuft und welche Gewinne damit erzielt werden, entzieht sich zur Zeit vollkommen meiner Kenntnis.

SB: Kai, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.

Links zu Schattenblick:

INTERVIEW/211: Der alte Feind – Mit umgekehrten Vorzeichen … Kai Ehlers im Gespräch (SB)  http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0211.html

 …und in der SB-Druckausgabe (.pdf) und SB-Ausgabe für E-Reader (.epub) unter:

 http://www.schattenblick.de/da/2014/03/sb_140324_schattenblick_druckausgabe.pdf

 http://www.schattenblick.de/da/2014/03/sb_2014-03-24.epub

 

„In Russland wird am schärfsten sichtbar, dass es keine fertige Antwort auf den Zusammenbruch der Utopie vom besseren Leben gibt“

Hans Wagner (Eurasisches Magazin) im Gespräch mit Kai Ehlers

In der Entwicklung seiner Wirtschaft hat Russland einst einen weitgehend anderen Weg genommen als Westeuropa. Wer reich wurde, sah sich dem Verdacht ausgesetzt, sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichert zu haben. Darauf konnte schließlich der reale Sozialismus aufbauen. Heute entsteht in Russland etwas, das über den realen Sozialismus wie auch über den gegenwärtigen Kapitalismus westlicher Prägung hinausweist. Das sind einige der Thesen des Transformationsforschers Kai Ehlers im Gespräch mit dem Eurasischen Magazin.

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Medwedes Jahresbotschaft

Moskauer Deutsche Zeitung 22 (245)

Wie bewerten Sie die Forderung Medwedews nach einer aktiven Rolle des Bürgers in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Ernsthafte Pläne oder leeres Gerede?

Meiner Meinung nach ist Medwedew – wie Putin vor ihm – in höchstem Maße daran interessiert, in Russland eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Er will dabei russische Traditionen mit westlichen Standards, zum Beispiel im Management, verbinden. An der Ernsthaftigkeit seiner Absichten ist dabei nicht zu zweifeln.

Glauben Sie, ihm wird der Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft gelingen?

Ein Problem ist, dass in Russlands Geschichte Reformen immer von oben kamen. Das gilt auch für die neuere Entwicklung: Ob nun Perestrojka, Privatisierung oder Restabilisierung unter Putin – das haben immer einige wenige beschlossen und durchgesetzt. Dadurch ergibt sich auch für Medwedew der Widerspruch: Er will einen Mittelstand schaffen, kommunale Strukturen stärken, den Bürger zu mehr Aktivität animieren. Doch das alles funktioniert nur, wenn die Menschen dazu auch in der Lage sind. Deswegen muss erst einmal die Bildung verbessert werden, damit die Menschen überhaupt wissen, wovon die Rede ist. Es braucht einen auf Bildung fußenden, ehrlichen und offenen sozialen Dialog zwischen Regierung und Bürgern, damit die Menschen sich engagieren. Reformen können, müssen sogar von oben ausgehen, aber es müssen auch Impulse von unten kommen.

Stichwort Bürokratie: Was bedeutet Medwedews Kritik am bestehenden administrativen Apparat?

Einerseits hat er natürlich Recht, wenn er die Missstände in der Bürokratie anprangert. Anderseits ist der russische Staat historisch als bürokratische Verwaltungsstruktur angelegt. Sie ist Russlands Innovator, ausführendes Organ für alle Reformen und Triebkraft für Neuerungen. Sie hat sowohl die Perestrojka als auch die Privatisierung durchgeführt. Das ist die russische Art, einen Staat zu machen. Durch ihre enorme Machtstellung kommt es hierbei natürlich zu Wucherung und Korruption. Dass Medwedews zur Durchführung seiner Reformen also zunächst die Bürokratie erneuern will und muss, ist nur konsequent.

Viele sehen Medwedews verbalen Schlag gegen die Administration als Kritik an Putin, während dessen Regierungszeit die jetzigen Strukturen entstanden. Wendet sich der Präsident tatsächlich gegen seinen Vorgänger?

Ich sehe hier keinen Bruch zwischen Medwedew und Putin. Ganz im Gegenteil, die Kampfansage Medwedews gegen Korruption zeugt gerade von Kontinuität. Schon Putin prangerte dieselben Missstände an, und vor ihm Jelzin, und vor diesem Gorbaschtschow. Gerade weil die Bürokratie im russischen Staat eine so große Rolle spielt, muss sie immer wieder erneuert werden. Für Medwedews Pläne ist es hierbei abermals wichtig, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die Administration in einen sozialen Dialog mit dem Bürger tritt. Das ist aber nicht gegen Putin  (oder alternativ : Putins Erbe – bitte nicht „System Putin“) gerichtet. Medwedew will die Bürokratie ja nicht abschaffen, sondern effektivieren, eben weil sie, wie schon gesagt, ein wichtiger Teil des russischen Staates ist.

Wie passt diese liberale Innenpolitik zu den außenpolitischen Drohgebärden Medwedews, etwa, was die Aufstellung von Raketen in Kaliningrad angeht?

Außenpolitische Drohgebärden? Wenn ich das schon höre! Sobald ein russischer Politiker den Mund aufmacht, schreiben die westlichen Medien , dass er „drohe“! Das Problem ist, dass im Westen ein krankhafter Anti-Putinismus herrscht. Er ignoriert komplett, dass die Russen seit Jahren konstruktive Vorschläge für eine multipolare Neuordnung der Welt machen, die eine klare Alternative zu den jetzt herrschenen Verhältnissen darstellen. Dabei handelt es sich um Maßnahmen zur Entmilitarisierung, nicht um Kriegstreiberei. Anstatt ein Ping-Pong-Spiel aus gegenseitigen Drohungen zu inszenieren, sollte der Westen sich lieber anhören, was der Inhalt dieser Vorschläge ist.

Glaubt man westlichen Medien, wird Medwedew ohnehin nicht mehr lange genug Präsident sein, um all dies durchzusetzen. Seinen Vorschlag zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten sehen viele als Zeichen der baldigen Rückkehr Putins…

Diese Logik verstehe ich nicht. Was macht es für einen Unterschied, ob ein Präsident fünf oder sechs Jahre im Amt ist? Wenn die Russen denken, dass ihre Politiker mehr Zeit brauchen, um Reformen durchzusetzen, dann brauchen sie sie eben. Auch was die Wiederkehr Putins angeht, verstehe ich nicht, wo das Problem liegt. Erstens hat er selbst gerade gesagt, dass es derzeit zu früh ist darüber zu reden.  Zweitens würde er sich, wenn er wieder als Präsident antreten wollte, wohl kaum an die Macht putschen wollen. Wenn die Wähler ihn aber als nächsten Präsidenten haben wollten, dann, bitte sehr, wäre es eben so.

Interview: Saakaschwili hatte Rückendeckung der USA

Erscheinen in: Telepolis

„Saakaschwili hatte die Rückendeckung der USA“
Von Harald Neuber
Wie es zu dem Krieg im Kaukasus kommen konnte, wer von ihm profitiert und wie die Perspektive aussieht. Ein Interview mit Kai Ehlers (http://www.kai-ehlers.de)
Telepolis sprach mit Kai Ehlers – Publizist, Transformationsforscher und Autor zahlreicher Bücher über den postsowjetischen Raum
Herr Ehlers, der Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland ist vorerst beendet, nun sind die Diplomaten am Zug: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ebenso in die Region gereist wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die US-amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice. In der europäischen Presse wird die Krise um Südossetien gemeinhin als Wiederauflage des Kalten Krieges gesehen. Sind Sie mit dieser Interpretation einverstanden?
Nein, ich bin damit überhaupt nicht einverstanden. Meiner Meinung nach geht es hier nicht um eine Wiederauflage einer bekannten Situation. Was wir im Kaukasus derzeit erleben, ist eine neue Phase der Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt. Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, der Konfrontation der beiden Supermächte, stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Die USA meint, als einzig verbleibende Weltmacht eine bestimmte internationale Ordnung herstellen und aufrechterhalten zu können. Strategisch formuliert wurde das vom US-Geostrategen Zbigniew Brzezinski …
… der seit wenigen Wochen zum Beraterstab des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama gehört …
… und der sich über dem Amtsinhaber George W. Bush mehrfach beschwert hat, weil dieser seine Außenpolitik schlecht umsetze. Auf der anderen Seite existiert eine Konzeption, die in China entstanden ist und sich in Russland von Michail Gorbatschow über Boris Jelzin bis hin zu Wladimir Putin und Dmitri Medwedew erhalten hat. Es ist die Konzeption einer multipolar organisierten und kooperativen Weltordnung unter Führung der Vereinten Nationen oder einer vergleichbaren internationalen Organisation.
Was sich der Zeit im Kaukasus abspielt, ist also mehr als ein Konflikt zwischen der Hegemonialmacht Russland und dem kleinen Georgien?
Eine solche Interpretation ist schlichtweg Unsinn. Im Gegenteil: Wir wurden im Kaukasus nach dem 8. August Zeugen eines Stellvertreterkrieges. Dieser unmittelbare Krieg ist nun zwar zu Ende, der dahinter stehende Konflikt ist aber nach wie vor ungelöst. Es ist ein Stellvertreterkrieg, der für die beiden Großmächte USA und Russland geführt wird, aber auch für die Europäische Union und andere Mächte, die auf diese Region schielen, aber an dem Geschehen nur mittelbar beteiligt sind: China, die Türkei, Iran.
Welche Rollen spielen – gerade vor dem Hintergrund der Balkankriege in den 1990er Jahren – Nationalgefühle und ethnische Komponenten?
Es ist ganz klar, dass der Kaukasus ein ethnischer Durchgangsraum ist, ein „Flickenteppich“, wie es immer so schön heißt. Brzezinski spricht vom „eurasischen Balkan“. Dabei kann man nicht von der Hand weisen, dass aus dieser ethnischen Struktur Probleme entstanden sind. Aber diese Probleme sind nicht die Ursache für die jetzigen heftigen Konflikte. Die ethnischen Unterschiede werden vielmehr als Vorwand genommen.
Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat wohl bewusst von einem „Völkermord“ gesprochen, nachdem die russischen Truppen in das Kriegsgebiet eingerückt sind. Offenbar hat er auf den Beistand des Westens, vor allem der USA, gehofft. Hat er sich verschätzt?
Nein, das war im Grunde keine Fehleinschätzung von Saakaschwili, denn er hat ja die notwenige Rückendeckung der USA gehabt. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass er bis zuletzt ohne das Wissen der im Land befindlichen US-amerikanischen Militärberater gehandelt hat. Ganz abgesehen davon, dass der Einmarsch der Russen nicht Ursache des Krieges war, sondern Folge des Überfalls georgischer Truppen auf die Enklave Ossetien.
Wie viele sind das denn?
Es gibt verschiedene Schätzungen, die von bis zu 1000 Mann ausgehen. Genau kann man das nicht sagen, weil es in Tiflis und Washington bestritten wird. Nach einer der offiziellen Angaben sind es lediglich 24 solcher Berater – aber das ist lächerlich. Die USA finanzieren seit langen den Aufbau des georgischen Militärapparates.
Saakaschwili hat sich also nicht verschätzt, sondern – und das ist ein wichtiger Unterschied – er ist aus dem Ruder gelaufen. Mit ihm ist im Endeffekt das gleiche passiert wie zuvor mit Osama Bin Laden oder Saddam Hussein. Diese beiden sind Washington auch aus dem Ruder gelaufen. Das ist ein Ausdruck der US-amerikanischen Interventionspolitik: Es wird jemand aufgebaut und als Oppositionsfigur international hoffähig gemacht. In diesem Fall war das Ziel, ein Instrument zu schaffen, um Russlands Einfluss einzugrenzen. Saakaschwili hat sich verselbstständigt, weil er glaubte, unabdingbar geworden zu sein.
Auf der diplomatischen Ebene verfolgen die USA aber weiterhin eine weitaus aggressivere Linie gegen Russland als die EU. Haben Washington und Brüssel unterschiedliche Interessen?
Die USA und die EU haben teilweise gleiche Interessen, vor allem in Bezug auf den Transitkorridor in Georgien. Es geht dabei um den Versuch, Russland von seinen Ressourcen und seinem südlichen Einzugsraum zu trennen. Von Europa aus wird dafür südlich von Russland ein Transportkorridor aufgebaut, und in dieses Projekt werden Milliardenmittel gesteckt. Dabei ist vor allem die Pipeline hervorzuheben, die von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über Georgien bis in die türkische Hafenstadt Ceyhan verläuft – die so genante BTC-Pipeline.
In der Sache stimmen Europa und die USA also überein. Differenzen gibt es in der Frage des Vorgehens. Die US-Amerikaner bevorzugen die militärische, die Europäer die ökonomische Variante, um ihren Einfluss geltend zu machen. Abgesehen davon stehen Washington und Brüssel auch in direkter Konkurrenz, was man sehr deutlich in der Trennung zwischen einen „alten“ und einem „neuen“ Europa beobachten kann. Gerade im Hinblick auf den NATO-Beitritt Georgiens wird hier von den USA aus ein Spaltkeil in die EU getrieben.
Aber hat die Einbindung der osteuropäischen Staaten in EU-Strukturen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik nicht auch dazu beigetragen, dass Russland sich in zunehmender Isolation fühlt?
Sicher, denn hier stehen sich zwei Integrationsräume gegenüber. Das ist auf der einen Seite der russische und auf der anderen Seite der europäische Integrationsraum. Dazwischen gibt es einen Grenzbereich, der vom Balkan bis zum Baltikum verläuft. Dazu gehören auch die Ukraine und der Kaukasus. Einerseits wird zwischen der EU und Russland eine so genannte strategische Partnerschaft formuliert, andererseits steht man sich in diesen Regionen in direkter, bissiger und harter Konkurrenz.
In den vergangenen Tagen war viel von der erwähnten BTC-Pipeline die Rede. Die Energiepolitik ist also auch hier eine treibende Kraft?
Sie ist ein ganz wesentlicher Punkt. Geopolitisch betrachtet würde man hier von einer strategischen Ellipse sprechen. Diese Ellipse reicht vom arabischen Raum und Iran über das kaspische Meer bis nach Norden in den russischen Raum hinein. Der südliche Raum – Arabien und Iran – ist besetzt, weil die Kontrolle über die dortigen Energieressourcen von den nationalen Regimes nicht abgegeben wird. Aber der nördliche Raum scheint zur Disposition zu stehen, deswegen sind darauf alle Augen gerichtet. Bedeutend ist das allein schon, weil im gesamten Gebiet der strategischen Ellipse etwa 80 Prozent der weltweiten Energieressourcen liegen.
Aber wer profitiert von der BTC-Pipeline? Errichtet wurde sie ja noch unter US-Präsident William Clinton, betrieben wird sie jedoch von British Petroleum …
Diese Frage lässt sich im Grunde nur auf der Basis strategischer Überlegungen beantworten. Die USA haben in der Region eine Reihe von Pipelines bauen lassen, die ökonomisch überhaupt keinen Sinn haben. Sie scheinen nur dem Zweck zu dienen, Russland zu behindern. Das ist auch der Sinn der BTC-Pipeline, die eigentlich auch nicht rentabel ist. Sinnvoller wäre es, das Erdöl aus dem kaspischen Raum über die vorhandenen russischen Leitungen gen Westen zu transportieren. Und viele machen ja genau das. Auch die Aserbaidschaner verkaufen keineswegs nur über die BTC-Pipeline ihr Erdöl. Die ökonomische Vernunft wird hier also offensichtlich durch politische Motive überlagert. Dabei ist dann offenbar der strategische „Gewinn“ – also die Behinderung der Russen – größer als der ökonomische Profit.
Nach dem kurzen und heftigen Krieg sind nach Schätzungen internationaler Organisationen bis zu 100.000 Menschen vertrieben worden, vor allem aus Südossetien. Wie kann der humanitären Lage begegnet werden?
Das ist sehr schwer. Zunächst muss man feststellen, dass 2000 Menschen durch den Überfall georgischer Truppen auf die Stadt Tschinvali ermordet wurden. Sie sind tot und das nicht mehr zu ändern. Viele andere haben ihre Häuser und ihre Habe verloren. Man kann sie nun in Zelten unterbringen und versorgen. Dabei ist jeder einzelne gefordert, die einschlägigen Hilfsorganisationen wie das Internationale Rote Kreuz zu unterstützen. Eine andere Sache ist, dass die Menschen in der Region die Leidtragen einer Machtpolitik sind, die sie nicht wollen. An diesem Punkt müssen wir uns im Westen fragen, inwieweit wir Anteil an dieser Misere haben. Wir müssen uns fragen, welchen Anteil unser westlicher Lebensstil an der Entstehung dieses Krieges gehabt hat. Es geht hier also nicht nur um
Hilfszahlungen, es geht eben auch um mittel- und langfristige Veränderungen bei uns.
Herr Ehlers, Sie kennen Russland und die kaukasischen Staaten aus vielen Reisen. Wie, denken Sie, reagieren die Menschen im Krisengebiet auf den Konflikt? Gibt es eine von Nationalismus geschürte Kriegsbegeisterung wie etwa zu Beginn der Balkankriege?
Nein, die gibt es auf keinen Fall. Ich habe vor wenigen Tagen einen Brief von einem russischen Freund bekommen, der völlig entsetzt über die Berichterstattung der westlichen Presse war. In Zukunft wird in Russland der westlichen Presse und westlichen Politikern mit großem Argwohn begegnet werden. Heute erst hatte ich russische Gäste zu Besuch, die das alles von sich gewiesen haben und nicht darüber reden wollten. Im Konfliktgebiet selber sind die Menschen einfach nur entsetzt. Es ist nicht ihre Politik, aber sie sind die Opfer dieser Politik und des Krieges.

Gespräch zwischen dem Schriftsteller Kai Ehlers und dem Unternehmer Johannes Heimrath. Reif für das Grundeinkommen? Kulturkreatives Spektrum

Johannes Heimrath: Kai, du bist einer der wenigen Autoren, denen in Bezug auf ein Grundeinkommen bewusst ist, dass man eine derart weitreichende neue soziale Technik nicht einführen kann, ohne insgesamt fundamental umzudenken. Wir können das Grundeinkommen nicht wie ein neues Organ in den bestehenden Gesellschaftskörper einpflanzen. Zuvor – oder wenigstens zugleich – muss sich die Gesellschaft wandeln.

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Neue Heimat, Neue Kultur

Hamburg im Sommer1950. Den sechsjährigen Kai Ehlers zieht es mit Macht zu seiner Mama. Zwar musste er schon zu Bett gehen, während sie noch einmal das Haus verlassen hat, um Bekannte in der neuen Reihenhaus-Siedlung zu besuchen – aber Kai kann nun einfach nicht mehr auf sie verzichten. In der Dämmerung steigt er aus seinem Bettchen, klemmt sich die Decke unter den Arm und verlässt das Haus über die Gartentür. Die Erwachsenen fragen sich später, wie der kleine Junge es wohl geschafft haben mag, mitsamt seines Gepäcks kreuz und quer über zahlreiche Gartenzäune zu steigen. Doch tatsächlich bringt seine Suche Kai irgendwann in das richtige Grundstück, wo er seine verdutzte Mutter in die Arme schließt.

Ein idyllisches Landhaus in der Bodenseeregion, Mitte der Sechziger Jahre. In der Familie eines gutsituierten Sägewerkbetreibers lebt die kleine Frederike als jüngste von sechs Geschwistern. Alle sind hier schwer beschäftigt. Notfalls bis spät in die Nacht hinein harrt Frederike manchmal in ihre Bettdecke gehüllt auf der Treppe aus, um die Mutter abzupassen. In den kostbaren zehn Minuten, in denen die beiden dann zusammen noch ein Brot essen, hat sie ihre Mama endlich einmal ganz für sich.

Kai und Frederike – obwohl sie doch durch stark unterschiedliche materielle Herkunftsverhältnisse, durch Zeiten und Orte (und schließlich auch durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Lagern innerhalb der westdeutschen Alternativgesellschaft) geprägt sind, werden die beiden Kinder, die damals in eine Bettdecke gehüllt auf ihre Mutter gewartet haben, später zueinander finden. Als es Mitte der 80er-Jahre dazu kommen sollte, arbeitete Kai, dem ein Lehrer prophezeite, er würde entweder als Verbrecher oder als Revolutionär enden, bereits Jahre als undogmatisch-weltoffener Redakteur in der Zeitung einer kommunistischen Splittergruppierung. Und Frederikes Weg hatte sie zu einer anthroposophischen Eurhythmiekünstlerin gemacht, die damals nach der richtigen Inspiration suchte, um dem eigenen Anspruch nach positiver Einmischung in die Gesellshhaft einen geeigneten Ausdruck zu geben.

Aber der Reihe nach:

Eine einfache, glückliche Kindheit sieht wohl anders aus. Als Kais Mutter gegen Ende des Krieges mit Mühe und Not vor den rachsüchtigen Tschechen aus dem Sudetengau flieht, stirbt das Baby fast an der Ruhr. Nur dank dem volksmedizinischen Ratschlag einer alten Russin – „Kind krank! Trinken schwarzen Tee mit Pferdemist!“ – kommt Kai gerade noch durch. In Dresden wird die Mutter verschüttet; verletzt macht sie sich mit dem rachitischen Kai und seiner älteren Schwester auf ins heimatliche Hamburg. Da der Jüngste jedoch nicht in der Stadt geboren wurde, sondern im April 1944 (leider nur fast termingerecht zum magischen NS-Datum „Führers Geburtstag“) im Sudetengau, lässt die städtische Nachkriegsverwaltung das papierlose Kind jahrelang nicht zu seiner Mutter ziehen. Erst mit sechs darf es nach langem Behördenkampf und langen Jahren bei einer Pflegefamilie zwar endlich bei ihr wohnen, doch sie kann nicht in dem Maße für den Sohn da sein, wie dieser es bräuchte. In diese zwei Jahre, während der sie „eine kleine Familie“ sind, fällt die eingangs wiedergegebene Anekdote um Kais Hintergarten-Odyssee; dann jedoch gibt sie ihn aufgrund ihrer Arbeitsbelastung abermals weg, diesmal in die Familie eines Dorfschmieds in der Lüneburger Heide. Den folgenden Abschnitt erlebt Kai als „eine der intensivsten Zeiten“ seines Lebens, während der er ungeheuer viel lernt. Neben der Schule muss er „wie ein Alter“ in Haus, Hof und Betrieb arbeiten. Rückschauend empfindet er seinen dortigen Platz zwar einerseits als quälend; auf der anderen Seite zieht er noch heute Kraft aus der intensiven Erfahrung des Bauern- und Schmiedelebens. Gut in Erinnerung ist ihm zudem die sonderbare Stellung seiner Pflegeeltern im Dorf: Da die Frau des Schmieds vormals als eine von drei begehrenswerten Schwestern in der Nachbargemeinde selbständig einen etwas abgelegenen Haushalt führte, hängt ihr noch immer der Ruf einer Hexe an. Im Dorf erfährt Kai wegen dieses vermeintlich schlimmen Umstands allgemeines Mitleid; der Schmied selbst jedoch erkrankt wegen den üblen Nachreden an seiner Frau am Magen. Kais Mutter erkennt die Unmöglichkeit der Situation, und da er ohnehin von der Mittel- auf die Oberschule wechseln soll, landet er für die folgenden zwei Jahre in einer himmelschreiend bigotten Pastorenfamilie am Rande Hamburgs. Als er 13 oder 14 ist, nimmt ihn die Mutter, die nun offenbar gewillt ist, ihre bisherige Nicht-Präsenz zu kompensieren, wieder bei sich auf. Sie hat ihm ein „perfektes“ Zimmer eingerichtet, mit farblich abgestimmten Möbeln und Wänden: „ Alles Etepetete!“ Entsetzt von diesem Ausdruck der Fremdbestimmung, gestaltet Kai zunächst einmal die Tapeten seines „perfektes Gefängnisses“ großflächig mit Kohlestiften um. Sofort begreift die Mutter die Vergeblichkeit ihres Versuches, die verlorene Zeit durch materielle Zuwendung wiedergutzumachen, und so hält sich ihr Zorn in Grenzen. Für anderthalb Jahre versuchen die beiden miteinander auszukommen, doch sie muss sich irgendwann eingestehen, dass sie mit dem pubertierenden Schlüsselkind nicht klarkommt. Abermals muss Kai weg, diesmal in ein Heim für schwererziehbare Schüler bei Osnabrück: „Einfach grauslich!“ Als aufkommt, dass er statt zum Konfirmandenunterricht in die Tanzstunde gegangen ist, will der Heimleiter handgreiflich werden, doch Kai kann die Ohrfeige abwenden, indem er mit seiner Mutter droht. Tatsächlich steht diese zwei Tage später vor der Tür und kümmert sich darum, dass ihr Sohn bis zu seinem Abitur in einer Pension unterkommt. „Das war insofern ganz toll“ hält Kai ihr heute zugute,„sie war zwar auf Distanz zu mir, aber wenn es drauf ankam, war sie solidarisch zur Stelle.“

Schon mit 14 Jahren hat Kai angefangen, intensiv ein Tagebuch zu führen, welches er bis zum heutigen Tag unter dem Titel „ME – Mein Ersatz“  weiterschreibt: „Meine Mutter redete nicht mit mir, deshalb musste ich mir das Buch zulegen.“ Nun, im Gymnasium der konservativen Kleinstadt, organisiert der aufbegehrende Junge Arbeitskreise und gründet eine Schülerzeitung. Die restlichen Schuljahre verbucht er als gute Zeit, weil er sich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihn tatsächlich interessieren; unter anderem besucht er etwa einen jungen Literatenzirkel. Nachdem sein Ruf im Ort spätestens durch ein phänomenales Abiturbesäufnis vollends ruiniert ist, zieht er für eine Weile durch die Welt – kehrt jedoch aus Italien zurück, weil seine Mutter möchte, dass er Lehrer wird.

In Göttingen studiert Kai „alles mögliche“, wohnt wunderschön in einem Gartenhaus, dessen romantisches Ambiente den Rahmen für erste Frauenbegegnungen abgibt. Endlich einmal so etwas wie Heimat? Sich-heimisch-fühlen auch in der lange entbehrten weiblichen Energie? Vielleicht. – Indes, das Studium von Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften vermag ihm bald nichts mehr zu geben. Ganz bewusst bricht Kai 1967 aus der Idylle nach Berlin auf, wo er – sicherlich nicht ganz zu unrecht – den Zeitgeist vermutet.

„Ich bin die ersten zwanzig Jahre in einer äußerlich total behüteten Situation aufgewachsen, an einem Ort mit fünf älteren Geschwistern und einem Kindermädchen“, beginnt Frederike die Erzählung ihrer Kindheit und Jugend. Die Holzhändlerfamilie bewohnt ein wunderschönes Anwesen in der „lyrisch-musikalischen Landschaft“ des Bodensees; der Vater, ein vertriebener adliger Gutsbesitzer aus Posen, hat noch weitere fünf Kindern aus erster Ehe. In der Familie wird viel gesungen, die Mutter hat eine tolle Stimme und lässt sie beim „Abwaschen, Äpfelpflücken oder Autofahren“ hören. Mit sechs bereits beginnt Frederike Klavierspielen zu lernen, zunächst drei Jahre lang autodidaktisch – ihr großes Ziel sind Beethovens Sonaten. Sehr früh schon fühlt sie außerdem eine starke Verbindung zur natürlichen Welt, zum Bach und zu den Bäumen des Grundstücks, denen sie sich ganz anvertraut; hier ist sie vielleicht mehr noch zu Hause als in der Welt ihrer Familie: „Das äußere Heil war im Grunde ziemlich marode, weil die Beziehungen nicht klappten.“ Dass sie nicht viel von ihrer Mutter hat, der faktisch die ganze Betriebsführung im Sägewerk obliegt – der Vater war innerlich an der Vertreibung zerbrochen –, davon kündet die eingangs beschriebene Treppen-Strategie der kleinen Frederike. Zwar wachsen die Geschwister teilweise in Internaten auf, aber die trotz dieser familiären Entlastung immer noch chronisch überarbeitete Mutter kann die kleine Frederike dennoch nicht angemessen begleiten, auch was die Förderung des jungen musischen Talents betrifft. Und noch etwas Anderes, eigentlich Unerklärliches überschattet Frederikes Leben schon früh: sie besitzt eine seltsame Affinität zu den Themen Tod und Krieg, die so etwas wie den Gegenpol zur lichten Seite ihrer Musikalität darstellt. In Friedrichshafen, wo sie den Kindergarten besucht, fühlt sie die Anwesenheit der vielen im Weltkrieg umgekommenen Menschen. Bereits zuvor hatte sie intuitiv die unverarbeitete Kriegssituation ihrer Eltern wahrgenommen. Die sprechen zwar durchaus viel über die Vertreibung, aber Frederike kann diese dunkle Vergangenheit nicht in Einklang bringen mit der eigenen, oberflächlich so heilen Gegenwart. Als sie mit drei Jahren – vielleicht zum ersten Mal bewusst – Musik hört, kommen ihr die Tränen, weil sich ihr hier alles Gegensätzliche der eigenen Situation offenbart. Nur mit einem Kirschbaum kann sie jedoch über diesen Abgrund sprechen. Zieht ein Gewitter herauf, hält sie die Spannung kaum aus. Oft läuft sie in den Wald, möchte sich am liebsten an die Wurzeln der Buchen klammern oder sich mit bloßen Händen in die mütterlich-schützende Erde eingraben. In der Schule zieht die eigentlich unnahbare Einzelgängerin Scharen von Kindern an, wenn sie die „tollsten Phantasiegeschichten mythischer Art“ erzählt. „Mich hat beschäftigt: Wo hört die Welt auf, und wo ist die Brücke, über die es in den Himmel geht?“

Die Pubertät bringt Frederike natürlich nur noch weitere Pein. Als Zwölfjährige schwört sie dem Fernseher ab und will nur mehr Klavier spielen; mit 14 beginnt die von Freunden und Lehrern Unverstandene in den Schriften Sartres und Camus’ zu suchen. Nihilismus gemischt mit Depression, Flucht in Musik und Natur, Existenzialismus und Surrealismus – Was klingt wie die Blaupause für einen rabenschwarzen Song von The Cure brachte Frederike an den Rand des seelisch Ertragbaren. An manchen Tagen, wie dem ihrer verhassten Konfirmation, überlässt sie sich völlig den Tränen.

Dann erkrankt ihre Patentante, eine überzeugte Anthroposophin. In ihrer Freizeit fährt Frederike wiederholt in das Steiner-Mekka Dornach, um sie zu pflegen. Bereits mit vier war sie dort erstmals im berühmten Goetheanum gewesen und hatte eine Eurythmieaufführung gesehen; die Darsteller vermittelten ihr damals den Eindruck von „tanzenden Engeln auf Erden“ – eine Offenbarung für das kleine Mädchen, das seitdem immer wieder nach Gelegenheiten giert, eine solche Aufführung zu sehen. Nun, mit 16, findet sie unter bei den Dornacher Anthroposophen heraus, dass es tatsächlich Menschen gibt, die danach streben Kunst und Natur zu verbinden! Frederike ist sich sicher, ihren Weg gefunden zu haben; sie verschlingt Steiner-Literatur und beginnt intensiv zu meditieren. Dies hilft ihr zunächst einmal über die allgemeine „Verzweiflung und Lieblosigkeit“ in Schule und Familie hinweg und sie versteht, dass sie als „absoluter Fremdling“ in dieser Welt nicht gezwungen ist, sich anzupassen. Anhand eines weiteren Buchs nimmt sie einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der offiziellen Geschichtsschreibung – doch die bewusstseinserweiternden Informationen führen letztlich nur zu weiterer Dissonanz mit dem Geschichtslehrer. „Groll und Zorn und eine unglaubliche Wut“ über das System erfassen sie. „Hätte ich nicht die Anthroposophie kennengelernt, wäre ich auch auf die Barrikaden gegangen“ meint sie heute mit Blick auf Kai. So aber habe sich ihre Revolution im Innern abgespielt.

Als Kai 1967 nach Westberlin kommt, gibt es dort zwar noch keine Barrikaden, wie ein Jahr später in Paris. Aber offenbar passiert in der Mauerenklave etwas völlig Neues und dieser Kulturbruch lockt ihn gewaltig. Er weiß, dass er zunächst etwas erleben muss, bevor er als Literat etwas Substanzielles schreiben kann. In den Trümmerhäusern der Stadt teilen die Hippies in spontanen und offenen Gemeinschaften ihr weniges Hab und Gut. Kai ist dabei, doch Jahre später erst wird er verstehen, was ihn an den 68er-Geschehnissen und an der später in der UdSSR miterlebten Übergangsphase so reizte: „Ich selber bin ein lebender Kulturbruch. In meiner Person bricht sich die mitteleuropäische Kultur sowohl sozial als auch kulturell-politisch. Schon als vater- und heimatloses Kind habe ich mich gefragt, ob ich der Sohn Goethes oder der Sohn Hitlers bin. Mein Grundproblem, mit dem sich auch alle meine Bücher beschäftigen,  war und ist deshalb dies: Wie kann ich Heimat und Beziehung immer wieder neu herstellen?”

In Berlin und später in Hamburg erlebt Kai nun seine Revolutionszeit, die Zeit der Entstehung seiner Person, wie er es ausdrückt. Seine Erzählungen lassen darauf schließen, dass er innerhalb der 68er-Szene offenbar eine Art Grenzgänger war zwischen den Lagern der hyper-politischen Studenten und der Lebenskünstler-Hippies, die nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst transformieren wollen. 1970 zieht er nach Hamburg, wo er mit Freunden in einer alten Villa die „Ablassgesellschaft“ ins Leben ruft – eine berüchtigte revolutionäre Künstlerkommune mit anarchistischen Ansätzen, die bald noch weitere Ableger in der Stadt unterhält. Etwas vage umschreibt er die dortigen Aktivitäten so: „Wir waren der Kunstterror schlechthin. High life! Dort haben wir alles gemacht, was man den 68ern so nachsagt …“

Nach anderthalb Jahren verlässt Kai das Projekt und landet schließlich mit einem Salto-mortale in einer der größeren und undogmatischeren der zahlreichen Post-68er-K-Gruppen, dem „Kommunistischen Bund“. Diese Gruppierung streitet nicht zuletzt mit ihrer Zeitung „Arbeiterkampf“ (heute: „Analyse & Kritik“) gegen Krieg und neo-faschistische Tendenzen und für eine menschliche Gesellschaft. Als langjähriger Redakteur des Blattes ist es Kai ein besonderes Anliegen, die Gruppe für konkrete gesellschaftliche Utopien – das heißt für die Frage nach echter kultureller Erneuerung – zu öffnen. Da er nebenher Yoga macht und sich nicht scheut, etwa auch die Baghwan-Anhänger als Teil der Alternativbewegung mitzudenken, gilt er parteiintern als „bunte Kuh“.

Mitte der 80er Jahre beginnt Kai schließlich die Veränderungen, die er eigentlich für die eigene Gruppe und die eigene Gesellschaft erhofft, in der Sowjetunion zu spüren. Wie schon ’68 zieht ihn der dort sich ankündigende Kulturbruch wie ein Magnet an. Zwei, drei Mal reist er noch vor der Wende als  Tourist und später als Touristenführer nach Russland – und bei einer dieser Fahrten begegnet ihm auf der Fähre nach Helsinki eine schüchterne Frau …

Frederike hatte sich schließlich für die Eurhythmie-Ausbildung entschieden und tourte nun bereits seit einigen Jahren mit einem Ensemble durch ganz Europa. Doch anders als das Gros ihrer Kollegen ist sie dabei getrieben von einer starken politischen Motivation: „Kriegen wir auch das, was dahintersteht, auf die Bühne?“ fragt sie sich, „Können wir beispielsweise die Menschen, die im Kohlenwerk rackern und mit dieser gesellschaftlichen Grundlagenarbeit unsere Arbeit erst ermöglichen, gedanklich einbeziehen? Wie kann ich diesen Menschen mit meiner Arbeit etwas zurückgeben?“ Viel stärker möchte sie gesellschaftlich wirken durch ihr Tun und endlich die normalen Menschen kennenlernen. Und sie will endlich den Mann treffen, der ihr bei ihrer Mission behilflich sein kann – ja sie weiß sogar, wie er aussieht. Schon als sie Kai auf der Hinfahrt über die Ostsee sieht, spürt sie sofort, dass er der Richtige ist und sie nun eigentlich handeln müsste. Gut, dass sie beide zufällig auch für die Rückfahrt dieselbe Fähre benutzten und er sich – seinerseits von der Fremden angezogen – in ihre Nähe setzt, während sie noch immer überlegt, wie sie über ihren eigenen Schatten springen und ihn ansprechen soll. Das nun folgende Gespräch dauert bis Nachts um vier, wobei Kai sich erinnert, dass es eher die Form eines Intensiv-Interviews annahm, das sie mit ihm führt Einfach alles will sie von ihm wissen und zeigt sich fasziniert von den Möglichkeiten des politischen Wirkens.

Nach dieser ersten Begegnung der Künstlerin und des Kulturbruchforschers dauert es noch eine Weile, bis aus den beiden unterschiedlichen Menschen ein Paar wird. Immer wieder, sagt Kai, müsse er sich seither entscheiden, mit dieser fremden Geschichte in Beziehung zu sein. An Frederike habe er jedoch gelernt, das Andere zu schätzen und es bewusst anzustreben, das Fremde kennenzulernen, weil es eine Bereicherung ist, wenn Gegensätze zusammen einen neuen Körper formen. Dies sei der Erfolg seiner Suche nach neuer Heimat.

1989 verlässt Kai nach 15 Jahren Mitgliedschaft den Kommunistischen Bund, da er merkt, dass es ihm nicht gelingen würde, diesen für neue Horizonte zu öffnen; am Erscheinungstag der letzten AK-Ausgabe unter seiner Beteiligung schenkt ihm Frederike einen Sohn. Wieder löst neue Heimat die alte ab.

Die Wende im Osten bringt dem Paar schließlich auch Gelegenheit, ihre unterschiedlichen künstlerischen und politischen Herangehensweisen sinnvoll zu verbinden. Als Teilnehmer eines russischen Kongresses von 400 denkoffenen Psychotherapeuten ermuntert Kai Frederike – die nie zuvor öffentlich gesprochen hat – vor dem Auditorium über „anthroposophische Psychotherapie“ zu referieren; im Foyer des Saales hat er selbst ein kretisches Labyrinth nachgebaut und gibt darin „Transformationsübungen“ für die Anwesenden. Das später noch oft wiederholte Seminar will anhand der Figur des Labyrinths den Wandlungsprozess „sinnlich erfassbar, methodisch erkennbar und auf die persönliche Befindlichkeit und Lebenssituation beziehbar machen.“ Die gelungene „Anschauungshilfe in Soziokultur“ im Verbund mit Frederikes Wirken gibt der Veranstaltung einen starken Impuls – eine Sternstunde für das Paar.

Noch weiter im Osten, in der Mongolei, knüpft Kai über viele Jahre hinweg Kontakte zur nomadischen Bevölkerung. Die transformatorischen Veränderungen, denen auch diese noch nicht industrialisierten Gesellschaften unterworfen sind, wird er später in einem Buch über die „Zukunft der Jurte“ beschreiben. Andere seiner zahlreichen Publikationen behandeln die für den Westen zunehmend lehrreichen Ansätze zur Selbstorganisation in der postsowjetischen Gesellschaft („Die Erotik des Informellen“; siehe KK 150) und im gesamten asiatischen Raum („ Asiens Sprung in die Gegenwart“).

Prägend auf sie beide wirkt die Begegnung mit dem Pionier der Neuen Arbeit, Frithjof Bergmann (siehe KK 148?). Frederike, die Eurhythmie seit der Geburt ihres zweiten Kindes nun schwerpunktmäßig therapeutisch einsetzt, hat sich seither darangemacht, gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiter die Vision eines „Eurhythmie-Werks“ zu realisieren, das nach Bergmann’schen Ideen die herrschende Arbeits- und Konsumlogik auf den Kopf stellen soll: „Für Wellness und Heilung ein Vermögen zu bezahlen, das stimmt für mich nicht. Mit Eurhythmie produzieren wir kostbare Energie – Wärme, Licht, gute Luft im geistigen Sinn. In unserem Werk sollen alle Leute mitarbeiten können: Hier geht man zu einem Eurhythmiekurs, arbeitet dort den ganzen Tag und nimmt anschließend noch hundert Euro mit nach Hause. – Das ist völlig anders als beim herkömmlichen Wellness-Konsum, wo man sich selbst aufbaut, nur um anschließend wieder vom System fertiggemacht zu werden.“  In der neuen Gesellschaft gehe es um die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Mittels der Eurhythmie könnten die Menschen an die Quelle der Sprache gelangen und endlich ihr eigenes Kreativitätspotential entdecken. – Wenn Frederike davon erzählt, wie sich ihre Hamburger Eurhythmiegruppe auf diese Weise allmählich zu einer politischen Kraft entwickelt, klingt diese Idee gar nicht so abwegig.

Kai begleitet Frederikes Projekte mit wohlwollendem Abstand: Er stehe der Gruppe als Gesprächspartner zur Verfügung, selber Tanzen möchte er aber nicht.

Es gibt andere Stricke, an denen sie besser gemeinsam ziehen können. Nach Erscheinen von Kais Buch über die Idee des „ Grundeinkommens für alle“ als einem „Sprungbrett in die integrierte Gesellschaft“ (siehe KursKontakte 150) gründen sie Anfang 2006 ein Forum, auf dem die Thesen des Buchs diskutiert werden und wo vor allem darüber nachgedacht wird, was zu tun ist, damit die gesamtkulturellen Veränderungen stattfinden können, die Kai zufolge Voraussetzungen dafür sind, dass die Einführung eines garantierten Grundeinkommens tatsächlich die erhofften positiven Effekte zeigen kann – Denn was hilft dieses Instrument in einer Gesellschaft,  deren Mitglieder nie gelernt haben, selbstbestimmt  zu arbeiten oder auch nur sinnvoll mit ihrer Freizeit umzugehen? Ein fundamental anderes Verständnis von Arbeit scheint nötig, und Kai setzt in dieser Hinsicht insbesondere auf den Vorbildcharakter der bestehenden Gemeinschaften sowie auf die transformatorische Kraft des Dreigliederungsgedankens Rudolf Steiners (siehe KursKontakte Nr. 129). ­– Hat sich Kai, der seine Bücher mittlerweile bei einem anthroposophischen Verlag veröffentlicht, zu einem „Anthro”  gewandelt? „Mein Anliegen ist das, was ich integrierte Gesellschaft nenne: das In-Beziehung-Setzten der verschiedenen isolierten Ein-Punkt-Bewegungen. Hier ist es meine Rolle, denkerische Prozesse anzustoßen. Ich bin aber kein Nachbeter; ich habe über die Neue Arbeit geschrieben, bevor ich Bergmann kennengelernt hatte; ich war in Russland, bevor Gorbi an die Macht kam. Ich schaue mit meinen Augen und das trifft sich dann oft mit dem was andere sehen: auch zum Beispiel mit Steiner, obwohl ich kein Steinerist bin. Und wenn ich unabhängig zu ähnlichen Schlüssen komme wie andere, so erkenne ich daran die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit meiner Wahrnehmung.“

Die Beschäftigung mit den russischen und westeuropäischen Gemeinschaften neuen Typs lässt nun jedoch immer hartnäckiger die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf in den Vordergrund treten: Die Kleinfamilie mit zwei Kindern, Häuschen, Hühnern, Hund und Katze, das ist eigentlich nicht das, was Kai sich einmal so vorgestellt hat, selbst wenn – zur großen Empörung der Nachbarn – eine original mongolische Jurte im Garten steht.

So steht also einmal mehr die Suche nach neuer Heimat an. Gemeinsam machen sie sich daran, aktiv neue Beziehungen aufzubauen – Späteres Finden von Gemeinschaft und einer neuen Kultur nicht ausgeschlossen … •

Veröfffentlicht in KursKontakte, Nr. 152

Gespräch mit Kai Ehlers zum Thema: Lebensformen und sozio-politische Organisation; Transformationsprozesse und neue Alternativen am Beispiel des Engagements Deutschland/Mongolei. Bewegungen zwischen Theorie und Praxis mit Annette Stock

Anlässlich des 5. Mongolei-Festivals in Schlangenbad-Bärstadt

Gespräch mit Anette Stock

Ist eine Kombination aus Kapitalismus, Kommunismus und Sozialismus in der Praxis z. B. in der Mongolei, möglich? Nein, keine Kombination auch keine Synthese sondern eine Weiterentwicklung von dem, was Gesellschaft, bzw. soziales Leben, eigentlich sein kann. Das bedeutet, Man muß auf der einen Seite begreifen, dass der Sowjetismus als Krise zeigt, dass dieser Weg so nicht weiter beschritten werden kann, andererseits, das Reparaturkonzept Kapitalismus, was jetzt in die Sowjetunion bzw. Rußland hineintransportiert wird auch nicht funktioniert. Also Rußland wird nicht einfach kapitalistisch. Diese Art von Dualismus, da Sowjetismus, Sozialismus, hier Kapitalismus das war einmal, da haben wir eine neue Situation. Aber es wird nicht einfach eine Kombination geben. Die sowjetische Krise ist gewissermaßen exemplarisch für die Krise unserer heutigen industriellen Gesellschaft, des heutigen Entwicklungsmodells von industrieller Gesellschaft, als planbare Gesellschaft die wissenschaftlich technische Gesellschft als planbare Gesellschaft, das ist da in die Krise geraten. Und das nicht nur in der Sowjetunion sondern letztenendes setzt sich dies in unserer Gesellschaft fort. D.h.wenn wir unsere, die sogenannte westliche Gesellschaft anschauen sehen wir, dass wir eigentlich genau dieselben Probleme haben. Nämlich das dieser Entwurf der industriellen Gesellschaft, als Fortschritt, der immer weiter geradlinig fortgeschriebenen werden kann, so nicht funktionieren kann. Es muß also was anderes her, es müßen also andere Prinzipien her, wie man miteinander leben kann, wie man mit dem Kapital umgehen kann, das wir uns als Menschheit über die Jahrhunderte erarbeitet haben. Diese ganzen Fragen stehen einfach neu nachdem der Entwurf den die Sowjetunion gemacht hatte nicht funktioniert und der Kapitalismus nicht einfach da eingeführt werden kann Und warum kann der Kapitalismus dort nicht einfach so eingeführt werden? Weil es nicht funktioniert, es ist nicht die Antwort. Es ist so, man kann das sehen, dass die Menschen von dem Konsum der ihnen angeboten wird, geblendet sind. Das ist klar, sie wollen erst mal alle so schön leben wie wir, d. h. in Anführungsstrichen schön, und dann merken sie, entweder wenn sie hier her kommen als Gäste, oder wenn sie auch dann dort sind , mit dem Konsum, mit dem sie ständig überschüttet werden, dass das auf die Dauer nicht funktioniert, weil die Freiheiten, die man ihnen vorgaukelt nicht durch die Realität getragen werden, d. h. sie haben zwar jetzt die Freiheit alles zu kaufen, aber kein Geld. Also da stoppt es dann. Da stoppt der Kreislauf, es funktioniert nicht, es funktioniert nur für eine kleine Oberschicht, die eine sehr un-egalitäre Gesellschaft herstellen, und die einfachen normalen Menschen die das erleben, die merken so kann man nicht leben, das kann nicht die Zukunft sein. Die Prinzipien des Kapitalismus, bereichere dich selber auf Kosten anderer, und das möglichst schnell, wie sie jetzt in Rußland propagiert worden sind, werden eben nicht von allen Menschen akzeptiert. Sie haben eine andere Art zu leben. Hat das vielleicht etwas mit ihren Traditionen zu tun? Ja, das hat etwas ganz entschieden damit zu tun, dass ihre Traditionen sehr viel stärker sind als diese 70 Jahre Sowjetismus. Die Traditionen stammen aus der sehr wechselvollen rusischen Geschichte zwischen Asien und Europa, der Vielvölkerkultur, die kein einliniges Denken erlaubt und auch einlinige Wirklichkeiten nicht erlaubt usw, und wo große ethnische Zusammenhänge geblieben sind in einem großen Zusammenhang aber eben kleine ethnische Zusammenhänge in diesem Sinn. Und damit zusammen hängt wiederum ein kollektives Gemeinschaftsdenken, also das sich in dieser russischen Bevölkerung entwickelt hat. Man produziert, man lebt gemeinsam. Das war schon vor dem Sowjetismus in der Dorfgemeinschaft usw. so. Sind das dort Klangruppen? Nein, das sind keine Klangruppen, das sind ganz klassisch gesehen die russischen Dorfgemeinschaften, das sind Produktions-Arbeitsgemeinschaften von mehreren Leuten im Rahmen von einem oder drei bis vier Dörfern, wo man sich unter idieologischen Gesichtspunkten zusammenschliesst um dieses Gebiet gemeinschaftlich zu bewirtschaften. Also in der Landwirtschaft das war ganz klassisch so, dass man die Dörfer hatte mit Ländertausch.und über Jahrzehnte hin hatte eine Familie einen Hof, und alle 15 bis 20 Jahre wurde das Land neu umverteilt, so traditionell, je nachdem wieviele Esser dazu gekommen waren, wurde neu verteilt. Das geschah auf dem Marktplatz, das wurde ausdiskutiert manchmal auch mit Fäusten, das ging nicht immer ganz friedlich vor sich, aber es wurde ausdiskutiert, es war also Ur-Demokratie, und unsere alten Sozialisten, also Marx und Engels usw sind ihrerseits gefragt worden, kann das ein direkter Weg zum Kommunismus sein? Daraufhin haben sie 10 Jahre lang geschwiegen, um dann zu sagen, also wenn in Westeuropa eine proletarische Revolution stattfände, und sie also eine neue stattlich gesellschaftliche Wirklichkeit aufbauen könnte, dann könnte das in Russland vielleicht eine Möglichkeit sein, das Stadium des Kapitalismus in Zusammenhang mit dem Westen zu überwinden/überspringen. So haben sie geantwortet, könnte, könnte, könnte, wenn… Also sie gaben eine richtige Sphinx-Antwort. Aber es zeigt natürlich, dass auch die beiden begriffen haben, das diese Gemeinschaftstradition ihre besondere Qualität hat, also diese Russische, vor dem Sowjetismus wohlgemerkt. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.. Was halten Sie von den Behauptungen einiger Leute, die sagen, der Kommunismus sei ein von gewissen Leuten initiiertes politisches Experiment auf russischem Gebiet gewesen? Ich verstehe die Frage, ich denke mir, es ist das unmittelbare authentische Interesse, des Kapitals, gewesen und auch heute, überall alles zur Ware zu machen, was man zu Ware machen kann. Da muß kein Oberlenker stehen, das ist ein anarchischer Prozeß, der findet statt. Ein selbst induzierter Prozeß, das ist ja eben das Merkmal des Kapitalismus, dass er eben anarchisch ist in seiner Grundstruktur. Dass Konkurrent gegen Konkurrent steht und Kapitalist gegen Kapitalist, und da wo der eine Kapitalist gewinnt, tritt er eben den Anderen und der tritt dann weiter nach unten,usw. usw. usw., also das ist ein anarchischer Prozeß. Und da..hm.. Andererseits ist es so, dass die Russen manchmal so reden, „mit uns hat man ein Experiment gemacht“…die da, also die haben hier ausprobiert“, usw., aber das ist eher auf einer mythischen Ebene. Wenn man es richtig als Soziologe analysiert, ist es ganz deutlich ein wirtschaftlicher anarchischer Prozeß, so wie Sie das eben gesagt haben. Und wenn man jetzt die heutige Situation anschaut, ist das ja auch wieder sehr interessant, dass sagen wir mal als die Sowjetunion in die Krise kam, so Ende der 1980er, Ende 81, 82, 83, und so ruch- bar wurde, das die Alte, die Autochthonie, die Alten-Herrschaft nicht mehr funktionierte. Als Breschnew dann starb, und dann ein Sekretär den nächsten ablöste, also irgendwie merkte man das geht nicht mehr so weiter, da hat der Westen gelauert, hat drauf gelauert, dass die Krise endlich ausbricht und hat nachgeholfen in Afghanistan, der US-amerikanische Alt-Stratege Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter z. B. spricht von der Afghanistan -Falle in die man die Sowjetunion hineingelockt habe, im Wissen, dass sie sich nach 70 Jahren ihrer Entwicklung in einer kritischen Situation befindet. Und die alten Parteisekretäre waren so verknöchert, dass sie auf diese Provokation hereingefallen sind, und haben sich nach Afghanistan, in diesen Krieg hineinziehen lassen. Und es war klar, dass sie ihn nicht gewinnen können, da hat der Brzezinski damals zu seinem Carter gesagt, „das wird Ihr Vietnam, wir haben was aus Vietnam gelernt“, damals hatten sie noch was gelernt, „… und das wird Ihr Vietnam…“. Und da sollten sie rein, und so wars dann auch, Afghanistan wurde die Falle, an der die Sowjetunion dann auch tatsächlich auseinandergebrochen ist. Das heisst, natürlich macht man in dem Rahmen Politik, trotzdem ist selbst diese Politik noch ein anarchischer Prozess, da ist kein großer Strippenzieher über der Politik, würde ich sagen letztenendes. Wie verhält sich das nochmal mit den Gruppierungen im Land? Sie sagten, dass die Leute sich historisch innerhalb von Dorfgemeinschaften organisierten. Schaun Sie, die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, weil, da gibt es natürlich Sprünge. In der Vor-Sowjetischen Geschichte, haben die Zaren im 19 ten Jahrhundert mehrmals versucht diese Gemeinschaftsstrukturen zu zerschlagen, Obscina heisst das, d. h. das Land befand sich im Kollektivbesitz (obscina) der Dorfgemeinde (mir), und auch der Kolchos fußte auf der obscina. Also eben diese Gemeinschaftsstrukturen wurden zu zerschlagen versucht, weil auch Rußland in den Prozess der Industrialisierung kam, am Ende des vor-vorigen Jahrhunderts. Und das war ein sehr rasanter Prozess, und sie meinten, dass diese Gemeinschaftsstrukturen, in denen ein sehr selbstgenügsames Leben geführt wurde, wo nur gearbeitet wurde wenn es nötig war, mehr nicht, dass die der Industriealisierung im Wege stünden, und standen sie auch. Dies geschah noch vor der Planwirtschaft und vor jeder Revolution. Diese Art von dörflicher Subsistenzwirtschaft und Dorfgemeinschaft, die war nicht dazu angetan, die nun gerade herannahende Industriealisierung zu befördern. Und diese Bauern, die damals dort so gelebt haben dachten, was soll uns das denn eigentlich alles. Es war nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft, der diese Industriealisierung sehr stark gefördert hat. Insofern haben schon die letzten Zaren, also Nikolai um 19 Hundert versucht die Obscina, also diese Gemeinschaftsstrukturen, zu liquidieren , und ihr habt vielleicht mal von dem Stolipin gehört, Minister unter dem letzten Zaren, der hat versucht als Ministerpräsident dann diese ganze traditionelle Gemeinschaftsstruktur der Gesellschaft per Gewalt aufzulösen. Aus diesem Grund spricht man bis heute auch immer noch von dem Stolipin`schen Kragen. Das ist der Strick, an dem Tausende von Bauern gehangen haben, die nicht aus den Gemeinschaftsstrukturen rauswollten, die nicht Privatbauern werden wollten, und die nicht in die Industrie wollten. Der Gedanke war bei Stolipin, also unter dem letzten Zaren, wir lösen diese Gemeinschaften auf, der eine Teil wird Privatbauern, und der Rest geht in die Industrie als Massenarbeiter. Das war der Grundgedanke. Vor der Sowjetischen Revolution, und das war ein Grund für die Revolution, weil die Bauern gemerkt haben, es ging ihnen an den Hals, man würde ihnen ihr Land wegnehmen. Und deshalb konnte Lenin später sagen, jeder Bauer ein Stück Land. Das war eine Parole. Frieden und Land. Das hat etwas damit zu tun was ich eben erzählt habe. Und die Sowjetische Revolution bestand dann unter anderem darin, dass eben den Bauern die Gemeinschaftstrukturen wiederhergestellt wurden. In diesem Fall also unter sowjetischer Führung, also in der Sowjet-Form, und jeder Bauer sein Land bekam, in der Form der Gemeinschafts-produktion, und da drin sein kleines Häuschen. Das war also grob die Situation, und in dieser Form der Staatsgemeinschaft, aber auch der selbstgebildeten Kollektivgemeinschaft, Sovchose und Kolchose, hat sich das dann über 70 Jahre entwickelt. So ungefähr. Es ist sehr schwer dies so einfach zu beantworten Wie hat sich das jetzt bis heute verändert? Das sind die Strukturen, so wie sie entstanden sind. Das sind die Bedingungen, unter denen sich die Sowjetunion während der letzten 70 Jahre entwickeln konnte. Dazu muss man sagen, dass diese gemeinschaftlichen Grundstrukturen auch auf die Industrie übertragen wurden, dann in der Sowjetunion, d.h. auch die Betriebe sind eben als Kollektive organisiert worden, und die ganze Arbeit ist um die Betriebe herum organsisiert worden. Das ganze Leben, es ist ein betriebs-zentriertes soziales Geschehen, wo der Betrieb X erstens die Arbeit kollektiv organisiert, aber zweitens auch das ganze private soziale Leben, alles, die ganze Infrastruktur, Strasse, Kindergärten, bis hin zum Begräbnis usw usw alles um diesen einen Betrieb. Also ländlich zum einen die Kolchose oder Sovchose, oder sei es städtisch, irgendein Industriebetrieb, der also für seine 20 Tausend, dann Wohnungen und Datschen und Pensionen gestellt hat, das ging alles über den Betriebsfond. Hatten die Menschen dort Mit-spracherechte? Die Leute hatten darin Mit-spracherechte. Es gab darin Betriebsräte, die waren natürlich parteiorientiert, d. h., also Mitsprache schon, im Rahmen der bestehenden Verhältnisse eben. Das ist aber eine sehr sehr schwierige Diskussion. OK… Und heute ist das so, das ist alles so gewesen, als die Perestroika begann. Bzw., dann als 1990/91 Jelzin mit seinem Privatisierungsprogramm kam, da hat es folgende Konfrontation gegeben, Jelzin und seine in Harvard ausgebildeten Leute, also Gaidard, erster Ministerpräsident Russlands usw.die haben ein Programm vorgelegt, dass fast 100-prozentig vom IWF (Internationaler Währungs Fond)abgeschrieben worden ist. Einer IWF-Untersuchung die in den Jahren 88/89 über die sowjetische Wirtschaft gemacht worden ist. Und in diesem IWF-Buch bzw. diesem IWF-Schinken hiess es, ungefähr also, die Sowjetunion ist überqualifiziert, sie ist überorganisiert, dass muss alles runtergefahren werden. Man muss mit ungefähr 20% Arbeitslosen rechnen…usw. usw., und dergleichen Dinge mehr. Unglaubliche Dinge haben sie da also von sich gegeben, aber der entscheidende Punkt war, diese kollektive Organisation des Lebens ist eine Fortschrittsbremse. Warum, weil die Menschen sich in diesem Kollektiv auf einem bestimmten Niveau gehalten haben, und mehr wollten sie nicht. Sie hatten was sie brauchten. Und es war nicht um andere Leute reich zu machen. Ja. Warum mehr arbeiten? Man arbeitet in Russland soviel wie man braucht und dann ist Sense. Deswegen gelten die Russen bei uns als faul, sie sind aber gar nicht faul, sie arbeiten nur periodisch da wo es nötig ist. Und das heisst, da gab es also die Konfrontation dass dann Jelzin und Gaidard so argumentiert haben.. sie haben also die Analyse des IWF übernommen, und sie haben dann gesagt, dass wichtigste in der Privatisierung, die wir jetzt vorhaben, ist, dass die Betriebe ent-kollektiviert werden. Ent-kollektiviert hieß in dem Programm, dass sie dann aufgeschrieben haben, dass die Betriebe in private Besitzverhältnisse, also Aktien-verhältnisse usw. überführt werden, und da muss dafür gesorgt sein, dass Anteile von Betriebsangehörigen und Direktor nicht mehr als 49 % erreichen. D. h. das Fremdkapital muss die Mehrheit haben. Das war geplant. Passiert ist etwas ganz anderes, passiert ist, dass einige grosse Betriebe unter kriminellen Umständen für nichts verschleudert worden sind. Das sind die sog. Oligarchen, die entstanden sind, Kolokowski und Beresowski und wie sie alle heissen, diese ganzen Leute und auf der anderen Seite, die weniger lukrativen Betriebe und vor allem kommunale Betriebe sind bei den Kollektiven geblieben. Warum? Weil die keiner haben wollte. Diese Betriebe hat man den Leuten überlassen, die darin arbeiteten, auf das sie sich selbst ernähren und dass sie den Betrieb selbst erhalten, weil sonst wären diese Betriebe kaputt gegangen. Und die haben sich dann zusammen geschlossen und dann hatten sie wieder ihren Betireb. Es ist aber dann auf einem Niveau gelaufen, dass sie zum Teil über Jahre marode Betriebe auf ihre eigenen Kosten halten mussten. Das ist ein irrer Vorgang. Und heute hast du so eine Situation, dass Putin, nachdem das nun 10 Jahre lang so gelaufen ist, einen Kurs eingeschlagen hat, dass er gesagt hat, also das geht so nicht, wir wollen zwar eine starke modernisierte Industrie haben, aber diese Industrie soll in vernünftigen Strukturen laufen, also auch in Strukturen, die dem Staat nützen. Deswegen hat er einen Chodorkowski z. B. verhaftet. Also das ist eindeutig politischer Prozess, also den Ölmagnaten Michail Chodorkowski, hat ihn also in seine Schranken weisen lassen. Darüber über Rechtsstaatlichkeit zu diskutieren halte ich für völlig albern, hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es darum dass Chodorkowski den Griff auf die gesamten Ölressourcen Russlands hatte, und drauf und dran war an US-amerikanische Konzerne zu verkaufen, und das hätte bedeutet, dass Russlands Grundressourcen in den Händen der Amerikaner wären. Und da gab es nur eins, ihn stoppen, also aus der Staatraison heraus. Ob das nun moralisch richtig ist, das ist eine ganz andere Frage, darüber rede ich im Moment nicht. So einer, und auch Beresowski, und wie sie alle heissen wurden also gestoppt, und sie haben sich im Prinzip auf diesem Niveau eingeordnet. Auf der anderen Seite ist es so, dass viele kleine Betriebe in den Händen ihrer Arbeiter/Produzenten sind. …Es ist ein sehr gemischter Prozess, wenn sie zusammen mit dem Direktor 51 oder 52 % haben. Also die Direktoren sind auch nicht immer die Feinsten. Dann sind zwar alle die, die im Betrieb mitarbeiten in Besitz der Mehrheit der Aktien, aber häufig hast du Arschlöcher…der Direktor hat dann das Sagen und die anderen haben noch ein paar Anteile… Welche Strategien wenden dort die Leute an? Können sie ihre eigene Postition von außen betrachten? Ja, es gibt also auch in diesem Bereich diese Strukturen wo also der Direktor privatisiert hat, wo er also 51% als Direktor hält und der Rest ist auf die Belegschaft aufgeteilt. Und da gibt es sehr unterschiedliche Situationen. Ich kenne da ein Beispiel, in NovoSibirsk , da ist eine ehemalige Sovchose, es sind also neun Dörfer, da hat der Direktor 51% , jetzt durch die Privatisierung, die er hält, wie er dazu gekommen ist, weiß keiner so recht aber so ist es halt jetzt eben, und die restlichen 49 % sind auf die Belegschaft verteilt, die nennen sich geschlossene Aktiengesellschaft, da geht kein Fremdkapital rein, nur eigenes. Und das ist eine Konstruktion, die ist von der Form her eindeutig, autoritär ist nicht richtig, aber Autoritäts bezogen. Also auf diesen Patriarchen bezogen. Guter Direktor=Guter Betrieb. Wenn der Direktor aber ein Arschloch ist, oder sein Sohn z. B. dann vielleicht in die Rolle käme, dann wäre dieselbe Konstruktion schlecht. Da er aber ein guter Direktor ist, bedeutet dass, diese Konstruktion, dass er zu mir sagt, ich bin nämlich dagewesen, ich habe ihn gefragt usw., dass er also zu mir sagt, ich werde doch nicht etwas tun das mir selber oder meinem Betrieb schadet, so etwas mache ich nicht. Ich tue alles Beste für meinen Betrieb und für meine Leute und so leben wir zusammen. Also die leben bestens und alle sind total zufrieden, und sie haben Mitbestimmungsrechte, da gibt es einen Sowjet, also einen Betriebsrat, und den Anteilseigner, die gemeinsam entscheiden. Er trifft keine Entscheidung alleine, er berät das alles mit den anderen, aber es läuft über den Weg der Aktienbeteiligung. Aber die anderen, die da woanders arbeiten, die haben diese Struktur vor Augen und sagen, solange das so läuft, sind sie zufrieden. So läuft das, es gibt da keine Mitbeteiligungs-modelle im Sinne von Demokratie oder sowas, das ist da alles nicht so, das läuft da ganz anders. Das ist ein positives Modell sozusagen, da gibt es aber noch andere Modelle die sind noch gewissermassen positiver. Wo also der Direktor keine 51% hat sondern wo man gemeinsam gleiche Anteile hat, auch geschlossene Aktiengesellschaften. Solange geschlossene Aktiengesellschaften bestehen, hat man eine Chance, den Einfluss des Kapitals von aussen rauszuhalten, solange hat man die Chance einigermassen selbst zu bestimmen. Es sei denn, der Direktor bestimmt. Es sei den der Direktor bestimmt, aber das ist nur eine Voraussetzung, die Realität ist häufig sehr viel härter, weil dann versucht wird von aussen einzukaufen, Bedingungen zu setzen usw usw es ist ein richtig schwerere Kampf. Gewaltsame Übernahmen, Übernahme-Kämpfe usw usw….Finanz-Gewalt oder auch bürokratische Gewalt. Es kann also auch sein, dass eine Gemeinschaft, die so funktioniert, dann auf bürokratische Probleme stösst , die ihnen von der Umgebung, also von der Provinz-administration in Verbindung mit .., die also in dem Gebiet da tätig sind, Hindernisse in den Weg gelegt werden. Und die sind auch nicht von Pappe, d. h. also es ist eine richtig schwere Auseinandersetzung, die gegenwärtig in Russland geführt wird um die Frage, wohin geht es eigentlich. Und arbeiten Sie selbst in Ihrer Initiative gemeinsam mit politischen Analysten an Prognosen und der entsprechenden Entwicklung von Strategien? Schwierige Frage..es gibt ganz viele Leute, die Russland-Soziologie betreiben, die meisten, die ich im Laufe der 20 Jahre jetzt an mir habe vorbeiziehen lassen…müssen, sind solche Leute, die diesen Privatisierungskurs nachhaltig und ohne Einschränkung unterstützt haben, und das alles toll fanden. Und die der Meinung sind, das diese alten Strukturen, diese alten Selbstorganisation- bzw. Selbstversorgungsstrukturen, also überhaupt diese Gemeinschaftstrukturen, alle beseitigt gehören, also genau in dem Sinne von Gaidard argumentiert haben. Seit Gaidard aufgetreten ist eine ganze Phalanx von deutschen, europäischen Soziologen, die also nur diesen ganzen Mist immer geschrieben haben. Waren sie vielleicht zu stark von den Institutionen beinflusst? Nö, das ist einfach eine Kopffrage, das ist die Denke hierzulande. Hierzulande besteht die Überzeugung, dass wir das beste aller Systeme haben. Es gibt aber auch andere Stimmen, wie z. B. Pierre Bourdieu. Ja sicher, die gibt es. Gibt es aus ihrer Sicht auf die spezielle Situation in die Mongolei Parallelen zu anderen Global-Villages auf der Welt? Das was jetzt in der Mongolei passiert, das ist zuvor in Südamerika passiert. Das Kapital geht jetzt in der Mongolei genauso vor, wie vorher in Südamerika oder in Afrika. Es ist interessant zu sehen, es sind immer dieselben Strukturen und Vorgänge, aber das ist nicht einer der am Draht zieht, es ist ein authentischer Prozess der Verwahrung der Welt, der Ranschaffung von Ressourcen und dann die Fertigwaren zurücktransportieren. In etwa so wie es Weber`s Theorie beschreibt? Der Mensch in seinem systemischen Eingebunden-Sein in Sachzwänge, ohne die grosse Möglichkeit einer individuellen Einflussnahme? Ja, der einzelne Mensch glaubt Entscheidungen treffen zu können, und befindet sich aber in einem ganzen Konzert von Entscheidungen, die sich hinter seinem Rücken, so hat es auch Marx formuliert, die sich hinter seinem Rücken verwirklichen. Bewegen Sie sich nicht in einer Art der priviligierten Schlüsselposition, an einer Schnittstelle, die es Ihnen erlaubt mit gewissen theoretischen Ansätzen auch praktisch zu operieren…? Das ist richtig, denkerisch bin ich an dieser Stelle, praktisch habe ich keinen Einfluss, das muss man auch ganz klar sehen, d. h. wir mit unserer kleinen Initiative hier, wir sind ein Pfiff im Wind. Es ist so, und es gibt viele solcher Initiativen, die so im Wind stehen, und versuchen irgendwas zu tun, und da kann man nochmal eine andere Ebene einschlagen. Und sagen aha, ja ok, daraus ergibt sich vielleicht etwas. Aber der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist aus meiner Sicht, nachdem ich mich lange mit diesen Fragen herumgeschlagen habe, eindeutig das Denken, das richtige Denken an dieser Stelle. Das heisst, indem ich also diese Fragen, die Sie mir jetzt stellen durchdringe, und wir dies hier gemeinsam machen, das ist das Entscheidende, was als Impuls in die jetzige Situation eingehen muss. Weil gegenüber der Macht des Kapitals und vor allem des militärisch gestützten Kapitals, noch dazu, also US-Situation, sind wir konkret erstmal machtlos. Die einzige Chance die wir haben ist an Bewusstsein zu arbeiten, und für den Tag, wann immer der sein mag, an dem sich eine Chance bietet, hier, dort oder auch insgesamt, wirklich parat zu sein, d. h. daran arbeiten wir eigentlich. Das ist meine Arbeitsauffassung. Also in dieser vorausschauenden Art Situationen für Menschen zu ermöglichen sich ihre Authentizität zu erhalten und zu bewahren und dann zu handeln, in der richtigen Situation. Also auch Ideelle und praktische Räume erschaffen? Wie bewerten Sie darin den Faktor der Dynamik. Also wenn wir davon ausgehen, dass es sich hier um enorm rasche Prozesse handelt, in denen Energie sich materialisiert und wieder zerfällt? Wie würden Sie sich, physikalisch gesehen darin wahrnehmen? Ja, das ist ein permanenter Prozess in dem wir drin stehen, physikalisch gesehen sind wir das kleine Flämmchen, dass dazu führt, dass die Luft ein bisschen heisser wird. Oder, wir sind das Salz in der Suppe, oder weiss der Geier. Wie immer, der Impuls kommt aus der Minderheit. Das ist ganz eindeutig, die Mehrheit, der grosse Fluss ist heute eine privatisierende, und profitisierende Kapitalisierung, Globalisierung. Das ist der Gesamtfluss, der heute stattfindet, wir sind noch mittendrin, es hat erst angefangen. Sehen Sie sich selber darin als neutral? Ihr Dazwischen-Sein? Sie sind doch eigentlich hier der Transformator/Katalysator, der beide Seiten verstehen und einschätzen kann, oder? Ja natürlich, das bin ich, ich bin als solcher tätig, und nicht nur das, ich kann das noch mal konkret machen. Ich habe eine lange linke Geschichte. Bis 1982-83 war ich Redakteur auch in einer linken Zeitung hier bei uns aktiv, und auch in der AKW-Bewegung, und weiss der Geier alles was da gelaufen ist bei uns. Und dann bin ich von da aus in die Sowjetunion rüber, seit 20 Jahren bin ich da also untersuchend tätig und habe erstmal dieses Deutschland hinter mir gelassen. Hab mich hier gar nicht mehr eingemischt, hab meine Bücher gemacht, hab recherchiert, also ich hatte sehr viel zu tun ich konnte mich hier nicht gleichzeitig einmischen. So, jetzt komme ich aber durch die ganzen Geschichten die wir hier jetzt besprechen nach 20 Jahren an den Punkt an, dass ich sage, Donnerwetter, das ist ein Prozess, und was sich da sehe, das gilt auch hier, und ich komme mit der Einsicht in diesen Transformationsprozess, komme ich nun nach 20 Jahren zurück und mische mich jetzt auch hier wieder ein. Aber anders wahrscheinlich? Aber anders, logischerweise, das erste was ich in Russland in der Sowjetunion lernen musste war, es gibt kein links und kein rechts, es gibt nur ein mittendrin. 2 Teil Thema Finanzgewalt Buchempfehlung: Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, von Kai Ehlers im Pforte Verlag erschienen. Wenn man die Strukturen auf der einen Seite kennenlernt und die Strukturen in der eigenen Gesellschaft gut kennt, wird es dann möglich dadurch eine sinnvolle kommunikatie Situation für beide Seiten zu gestalten? Ich sehe in der Sowjetunion gewisse Gemeinschaftstrukturen, da sehe ich dieses Element der Selbstversorgung als grundlegendes Element, nicht als ausweglos, sondern da ist viel dran, worüber man nachdenken kann, und das in die Zukunft weist, das auch über den jetzigen Zusammenbruch hinausgeht. Und umgekehrt, bei uns ist es so, dass ich mich natürlich frage, also wie ist das eigentlich mit dem Kapitalismus, hat unsere Gesellschaft tatsächlich die Prinzipien der Französischen Revolution verwirklicht, also Freiheit, Gleicheit, Solidarität, oder nicht, oder werden diese Prinzipien heute vielleicht ins Gegenteil verkehrt? Wenn man z B. die Freiheit im Irak auf den Bajonetten und auf den Panzern dahin bringen möchte, dann ist das ja nicht mehr dasselbe, wie die sogenannten Europäischen Werte, die werden da ja praktisch ins Gegenteil verkehrt, da muss man also genau sortieren. Und indem ich die beiden Seiten nun sehe, und sehe auch wie sie interagieren miteinander, wie also unsere Leute jetzt auftreten, und meinen sie haben die Wahrheit gepachtet und müssten das alles nach dahin transportieren und die anderen wehren sich dagegen und sagen nein, so nicht. Also in diesem ganzen Prozess bin ich ja aufgefordert eine Position aufgrund meiner Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich jetzt gewonnen habe, zu beziehen, und das tue ich. Wo lokalisieren Sie Ihre eigene Positionierung hinsichtlich Ihres strategischen Vorgehens? Sehen Sie sich als Europäer oder Deutscher? Einerseits ist mir das ziemlich egal, andererseits muss man ja einen Ort angeben wo man sich befindet, und das mache ich immer. Wenn ich Bücher schreibe, wenn ich Veranstaltungen mache, dann sage ich immer, ich argumentiere von diesem Ort aus: d. h. ich bin als Deutscher unterwegs in Russland, und ich bin auch als Europäer, als Deutscher, der sich in der EU befindet unterwegs. Und das gibt dann ja nochmal eine andere Ebene. Genau. Und nun nochmal ganz konkret zu dieser Frage, bis zum Kosovo-Einsatz hin bin ich von meinen russischen Freunden immer gelobt worden, da haben sie gesagt “Du bist aber ein Deutscher“, und „du transportierst hier das neue Deutschland, das ist ja schon beinahe Kommunismus bei euch“, usw. „das ist ja alles Freiheit, Gleichheit , Brüderlichkeit und Solidarität, wie das bei euch so stattfindet“, also diese Illusion von diesem Deutschland, und ich wurde als Botschafter dieser Illusion begrüsst, oder auch dieser Werte, und nach dem Kosovo-Einsatz, ganz klar, „Wie konntest du das zulassen?“, haben sie zu mir gesagt, „wie konntest du sowas zulassen, dass die den Amerikanern helfen Jugoslawien zu zerstören?“ Woran glauben Sie liegt es, dass Sie dort als so starker Pol wahrgenommen wurden? Weil ich selbst so aufgetreten bin. Ich bin mit dem Impuls des Nachkriegsdeutschland unterwegs gewesen. Also erst mal politisch hier in unserem eigenen Land, nie mehr Krieg, nie mehr Faschismus, das war meine politische Tätigkeit lange Jahre. Und mit diesem Impuls bin ich auch da rüber gegangen, nie wieder Krieg nie wieder Faschismus, und dieses Bild von Deutschland, also diese deutsche Botschaft. Und auch die deutsche Situation in der sich das ökologische Denken sich am schnellsten und am weitesten entwickelt, auch das alles, das habe ich mitgenommen, und da war ich für sie einfach der Botschafter dieses hoffnungsvollen neuen Deutschland, also in den Gesprächen die ich dort geführt habe. In diesen Gesprächen, indem sie diese Art der Inhalte dort verbalisiert haben? Ja, ich habe das da reingetragen, habe gesagt, was macht ihr hier, aha, ihr Tschuwaschen, z. B eine an der Wolga lebende ethnische Einheit, ihr wollt nationale Wiedergeburt, das ist in Ordnung, und warum ist das in Ordnung, diese Gespräche haben wir da geführt, und wo ist die Grenze, wo bin ich nicht einverstanden, wo wird aus Nationaler Wiedergeburt Nationalismus, hab ich auch ganz klar gesagt, bin ich nicht einverstanden, und ich bin auch nicht einverstanden, dass ihr einen neuen Zaren kriegt, ich finde das also so und so richtig, also wir haben diese Gespräche geführt, so war ich unterwegs, ich war nicht einfach als Soziologe unterwegs, sondern ich bin als Person unterwegs gewesen, so hat sich das ergeben. Was sagen Sie zu den spezifischen sozio-politischen anarchischen Regulationsmustern, gibt es da Parallellen zu z. B. Ethnien im subsaharansichen Raum, die in relativ kleinen akäphalen (Führungslos; ohne Kopf) Verbänden über das Gebiet verteilt leben, die aber im Falle dass Gefahr oder Bedrohung von Aussen droht, dazu fähig sind, sich jederzeit sofort zusammenzuschliessen um einen Widerstand zu bilden und sich konkret zur Wehr zu setzen. Würden Sie sagen, dass Sie nun selbst durch ihre intellektuelle Arbeit und Ihr theoretisches Wissen wenn Sie in der Mongolei in aktuelle Situationen gehen, sich in bestimmten Gruppen eine Weile lang positionieren, und dadurch dass Sie Strategien diskutieren oder zum Thema machen vielleicht kurzfristig so eine Art funktionalen „Kopf“ bilden, und dann wieder gehen? Also das ist wahrscheinlich so, ich liebe das nicht sehr, aber es ist wahrscheinlich so, es ergibt sich eben einfach durch die Tätigkeit. Aber ich kann auch das wieder konkret beantworten, ich habe dieses Buch da gemacht, in der Weise, mit den Gedanken, die wir hier eben besprochen haben, dann hat sich um mich herum, im Prozess während dieses auch Buch entstand eine Gruppe gebildet, das Forum für eine integrierte Gesellschaft. Und in diesem Forum diskutieren wir jetzt ein Symposion, planen wir für Anfang nächsten Jahres, wo wir aus den verschiedensten Gebieten der Gesellschaft ganz unterschiedliche Menschen zusammenrufen wollen, also einmal GemeinschaftsvertreterInnen, aus aktiven Gemeinschaften, die einen neuen Lebensentwurf versuchen, aber auch konzeptionelle Denker, Frau Abendroth, z. B. als Matriarchatsforscherin, oder diese oder diesen oder jene, also verschiedene Leute, also eine Mischung zwischen Leuten, die praktisch Alternativen leben und auch denken, und solchen die konzeptionell so etwas entwickeln, und wir wollen das miteinander, das ist meine Vorstelleung, wir wollen das miteinander versuchen, ob wir was zustande kriegen und zwar aus den verschiedensten Lagern, bis hin, also das Thema lautet: Gemeinschaften zwischen Grundeinkommen und Regionalpolitik. An der Stelle nochmal zum Punkt der Dynamik. Frage: Das sind ja Prozesse der Theorie und Praxis darin wird ständig vor und zurück agiert. Nehmen wir nun einmal die Jurte als einen mobilen Lebensort, was im Rahmen des Semi-Nomadentums impliziert, dass hier eine andere Situation von Räumlichkeit gegeben ist. Die Nomaden wandern, also es gibt für sie keine Grenzen. Und hier bei uns sind wir es gewohnt die Situation der Immobilität, Statik, dadurch aber dann auch sozio-ökonomisches Eingebunden-Sein in die gesellschaftlichen Bedingungen. Wenn Sie also von Transformations-Prozessen sprechen, und Sie erwähnten Ihr Projekt mit den Holzhütten..Wo sehen Sie sich innerhalb dieses Spektrums? Wenn wir also auf der einen Seite den Pol: Jurte, Mobilität, und auf der anderen Seite den Pol: Backsteinhaus, Immobilität, haben. Stehen dann irgendwo als ein Dazwischen die Holzhütten? Ich denke nicht, dass man das so sagen kann. Wie ist Ihre Sicht auf die Mobilität bzw. Sesshaftigkeit in Bezug auf den Raum? Ein Übergang hin zur zentralisierten Organisation der Bevölkerung, so wie in den Städten? Ich sehe es so, dass Nomadentum und Sesshaftigkeit, wie Ying und Yang nur zwei Pole sind , bzw. zwei Seiten sind, und so wie in Ying ein Pünktchen Yang ist, so verhält es sich auch umgekehrt, es sind keine polaren Gegensätze, die sich gegenseitig ausschliessen, sondern es sind Übergänge. Und da hat man, wenn man jetzt in die sesshafte Kultur hineinsieht, auch viele nomadische Elemente. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was in der sesshaften Kultur alles nomadisch ist. Im Russischen ist es konkret so, dass diese Holzhütten eigentlich fast etwas nomadisches hatten, also es wurde heute hier urbar gemacht, also Brandrodung und morgen, bzw. nach der ersten oder zweiten Generation, zog man dann schon weiter. Aber das ist schon erweitertes Nomadentum bzw. eingegrenztes Nomadentum, je nachdem wie man es sieht. Es ist eine Form der Zwischen-Städte? Aber die Holzhäuser selbst, sind natürlich für den Zeitraum für den sie gebaut werden stationär. Da muss man auch nicht darüber hinwegsehen. Und umgekehrt ist es so, als ich in der Mongolei war, ich war ja bisher viermal dort, und habe auch mit den Leuten gelebt, auch in der Stadt, nicht nur auf dem Land. Es gibt glaube ich keine Kultur, die so streng geregelt ist, wie die Nomadische Kultur. Was heisst hier Mobilität, nix da… Ja, ich hatte das auch auf den grösseren Zusammenhang bezogen. Genau. Konkret ist eine Jurte genauestens festgelegt. Frauenseite, Männerseite, das, das, dies, das gehört dahin, wann sie wo zu stehen hat, wo sie offen zu sein hat usw. usw. bis hin in die sozialen Strukturen. Also eine Ritualistik, die so scharf ist, dass ich so nicht leben möchte, ganz klar, dass sage ich meinen Freunden auch. Auf der anderen Seite ist es im grossen Zusammenhang so, sie ziehen den Herden hinterher, und die Mobilität ist ganz anderer Art, als diese etwas unbedarften West-Europäer sich dies hier häufig vorstellen. Richtig, denn sie sind ja oft auch von den Tieren abhängig. Ja. Das ist gar keine Mobilität, das ist Abhängigkeit. Die Mobilität liegt auf einer ganz anderen Ebene. Und ist es nicht unheimlich spannend, das zusammnzufügen, dazwischen zu stehen, und sowohl die eine, als auch die andere Dimension gleichzeitg mitzuerleben? In der Tat ist das sehr spannend. Man entdeckt in sich selber diese Elemente, also das sesshafte in mir und das nomadische in mir, und wie das miteinander wechselwirkt, und dann ist man in Bewegung. Schlagwörter: Modernisierung, Mongolei, Tradition, Transformation Weder Kommentare noch Trackbacks sind für diesen Artikel freigeschaltet. Diesen Artikel im Backend bearbeiten…. Kommentare sind für diesen Artikel deaktiviert. Suche: Aktuelle Bücher: Russland – Herzschlag einer Weltmacht Russland Rolle im globalen Kulturwandel. Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft Alternativen in der gegenwärtigen Kulturkrise Asiens Sprung in die Gegenwart Die Entwicklung eines Kulturraums \\\“Inneres Asien\\\“. 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