Kategorie: Feature/Radio

Von 1989 bis 2004 habe ich ca. 100 Radiofeatures zur nachsowjetischen Entwicklung in Russland und deren lokelen und globalen Folgen erstellt. Sie basieren auf Gesprächen und Untersuchungen, enthalten daher eine Fülle authentischen Materials, das ich Ihnen hiermit zugänglich mache.

Sie finden die Features in der chronologischen Reihenfolge Ihrer Erstellung. Gezielte Informationen können Sie sich durch die Suchfunktion erschließen. Die Audiofassungen liegen mir als Kassetten vor. Wer Interesse an der Audiofassung hat, möge sich melden.

Moskau: Krieg gegen das eigene Volk? – Opposition live

Ansage:
Unruhe in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die Gründung der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) hat die nationale Frage vorläufig entschärft. Jetzt tritt die soziale in den Vordergrund. Die Freigabe der Preise treibt die Menschen auf die Straße und in den Streik. Einige GUS-Staaten schränkten die Freigabe der Preise schon wieder ein. Der Präsident des größten GUS-Landes, Boris Jelzin, reist durch die Provinzen, um das Volk zu beruhigen. Rücktrittsgerüchte kursieren. Was ist das für eine Opposition, die da entsteht?

Take 1:
Einspielung Meeting der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“, Lautsprecherlärm, Rufe,

Erzähler (eingeblendet):
Fünf Uhr abend, Moskauer Zeit. Wenige Tage vor der Gründung der GUS auf dem Manegenplatz. Eine „russische kommunistische Arbeiterpartei“ ruft zum „Meeting“, wie es hier heißt. Eine riesige Bühnenanlage verrät die organisierende Hand. Aber nur ca. 200 Menschen sind in Dunkelheit und eisiger Kälte direkt vor den Lautsprechern zusammengerückt. Anlaß des Meetings, erklärt ein Teilnehmer, ist der fünzigste Jahrestag der Vernichtung der Deutschen vor Moskau. Tatsächlich ist das Datum nur Anlaß, um gegen die „korrupte Regierung“ zu agitieren. Man zeigt Parolen wie „Der Faschismus kommt nicht durch“, „Nieder mit Jelzin“, „Stoppt die Volksfeinde und Verbrecher“. Auf die Frage, ob man die Jelzin-Regierung denn für faschistisch halte, gibt es Antworten wie diese:

Männerstimme:
„Ja, natürlich Faschismus! Wenn Parteien verboten werden, wenn Deputierte verjagt werden, die anderer Meinung sind, dann ist das natürlich Faschismus, richtiger Faschismus!“

2. Männerstimme (älter):
„Klar! Die Verrückten läßt man auf ihren Wunsch aus dem Irrenhaus los. Gangster und Verbrecher spazieren auf den Straßen und bringen das Volk um. Ist es etwa kein Faschismus, wenn man mich, dafür, daß ich Russe bin und das offen sage, beschuldigt, ein Faschist und Chauvinist zu sein? Das gibt es doch in keinem Land! Das ist Faschismus!“

Frauenstimme (leicht vulgär):
„Bei uns war früher alles gut. Unseren Sozialismus brauchte die Welt. Wie ein amerikanischer Schriftsteller sagte: Was macht ihr bloß, ihr Russen?! Unter Eurem Einfluß hat sich doch der Kapitalismus des Westens gewandelt! Jetzt haben Gorbatschow und Jelzin die Waffen gestreckt vor Amerika. Und was ist schon Amerika! Ein Land ohne eigene Nationalität – Scharlatane, die ihr ganzes Leben auf Kosten anderer Völker leben. Zum Beispiel- den Irak haben sie genommen und zerstört. Das bei uns hier ist offener Verrat, Aufgabe des Landes an den Westen. Unter dem Diktat des Westens haben Popov, Jelzin, Gorbachow und Sobtschak unser Land auseinander genommen…“

2. Männerstimme (älter):
„…auseinander geklaut!“

Erzähler:
Jelzin, Popov, Sobtschak, Gorbachow. Sie werden verantwortlich gemacht für die Misere. So eindeutig wie die Schuldzuweisung, so eindeutig fallen die Antworten nach der Alternative aus:

Männerstimme:
„Unsere Alternative ist der Sozialismus, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit.“

2. Männerstimme (älter):
„Die historische Vergangenheit unseres Landes wiederherstellen…

Frauenstimme:
„…und die Sache Stalins fortsetzen…“

2. Männerstimme (älter):
„Stalin war ein großer Mann!“

Frauenstimme:
„Die Zeit von `47 bis `53, war eine Zeit, wie sie die Weltgeschichte vorher noch gar nicht gekannt hat!“

2. Männerstimme (älter):
„Nach dem Krieg war unser Land das erste das die Lebensmittelkarten abgesetzt hat!“

Frauenstimme:
„Ja, das allererste… Sie wissen sicherlich, was Churchill über Stalin gesagt hat: Wenn er eintrat, mußte sogar Churchill aufstehen. So eine Persönlichkeit war das! Wenn Stalin ein zweites Leben haben könnte, dann würden die nicht mit diesem Spottlächeln mit uns reden.“

Erzähler:

Aufräumen mit Jelzin! Weg mit Popov, dem Bürgermeister von Moskau. Weg mit Sobtschak, dem Bürgermeister von St. Petersburg. Nieder mit der Jelzin-Mannschaft! Das sind die konkreten Forderungen. Eine „militärische Union mit christlich – orthodoxem KLerus“ soll her, eine „Diktatur gegen die Volksfeinde“, natürlich nur für kurze Zeit! Als Alternativen werden Namen konservativer Generale, der neuen Kirchenfürsten, von Schriftstellern des national-patriotischen Lagers und ähnlicher Vertreter der Idee der russischen Widergeburt genannt. Nationalistische Sozialdemagogen wie Schirinovski reißen die Menschen zu begeisterter Zustimmung hin. Schon bei den Wahlen zum russischen Präsidenten vor einem Jahr konnte Schirinovski sieben Prozent in den Städten, bis zu zwölf auf dem Lande für sich verbuchen.

Frauenstimme:
„Schirinowski hat gestern auf einer Presekonferenz etwas gesagt, das mich voll für ihn einnimmt: `Ich würde eine starke Armee schaffen‘, sagte er. `Rußland würde ein Reich werden, wie es einmal war. Dann würde Bush sich gut überlegen, ob er die Ukraine anerkennt oder nicht. Was hat der die Ukraine anzuerkennen?'“

Gruppen wie die der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“
sprießen seit der Zerschlagung der KPdSU im August des letzten Jahres wie Pilze aus dem Boden. Die meisten dieser Neugründungen sind stalinistischer als die traditionelle KPdSU. Sie verbinden sich mit den bisher schon organisierten Altstalinisten und nationalistischen Gruppen zu einer unüberschaubaren konservativen Sammlungsbewegung. Gemeinsamer Feind ist das, wie sie es nennen, Ausverkaufsprogramm der regierenden Demokraten. So wird die jetzige Jelzin-Administration genannt. Als potentieller Führer dieser Sammlungsbewegung scheint sich zur Zeit Alexander Ruzkoi, Jelzins Vizepräsident, mit harten Kritiken an Jelzins marktorientierter Schocktherapie in Empfehlung bringen zu wollen. Damit bietet er sich zugleich als möglicher Nachfolger Jelzins an. Im Westen gilt Ruzkois „Volkspartei freies Rußland“ im Vergleich zu anderen aus der inneren Opposition zur KPdSU hervorgegangenen Parteien und Gruppen als demokratische Kraft. Mit ihren 2,5 Millionen Mitgliedern hat sie sicher ziemlichen Einfluß. Im Lande selber erinnert man sich allerdings zunehmend daran, daß der dekorierte Afghanistankämpfer Ruzkoi erstens ranghoher Militär mit besten Verbindungen zum militär-industriellen Komplex ist und zweitens aktives Mitglied der größten nationalistischen Bewegung „Otschisno“, Heimat, war, bevor er sich zum Demokraten wandelte. Die Erwartung eines neuen Umsturzes liegt in der Luft.

Das läßt wenig Raum für Illusionen. Sogar Parteigänger der harten Westorientierung halten mit ihren Befürchtungen an der jetzigen Politik der Demokraten nicht hinterm Berg. Andranik Migranjan, westorientierter liberaler Analytiker beispielsweise, der schon 1988 öffentlich den Weg einer „autoritären Modernisierung“, forderte, antwortete noch wenige Tage vor der Preisfreigabe auf die Frage, ob Jelzin die Lage stabilisieren könne:

Andranik Migranjan:
„Jelzin muß die Staatsmacht konsolidieren. Dabei kann ich nicht einmal ausschließen, daß Gewalt eingesetzt werden muß. Aber nicht nur das. Er sieht sich auch ernsthaftesten Schwierigkeiten in der Wirtschaft gegenüber. Praktisch muß er diese Schocktherapie vorantreiben. Dazu braucht er wiederum die `starke Hand‘. Aber ich fürchte, die Bevölkerung ist sehr unzufrieden mit dieser Therapie. Es besteht die Gefahr, daß wir in nächster Zukunft Millionen von Arbeitslosen haben. Die Zahl der Leute, die unter der Armutsgrenze lebt, liegt jetzt schon nahe bei hundert Millionen. Ich glaube, es wird schwer für Jelzin, die Macht zu konsolidieren und zu gleicher Zeit die wirtschaftliche Schocktherapie voranzutreiben. Ich befürchte, daß eine Koalition nationalistischer Kräfte an die Macht kommt. Das wird mit einer Art national-sozialistischer Diktatur enden, deren Achse die Armee und der militär-industrielle Komplex werden können, entweder mit Jelzin oder ohne Jelzin.“

*

Take 2
Lied vom Emigranten, (wenn möglich mit den Geräuschen von der Eröffnung der „Partei der Arbeit“ (Take 3) zusammenschneiden, sodaß man von dem Lied in die Versammlung übergeht).

*

Erzähler:
Ebenfalls Moskau. Nur ein paar Stunden später und einige hundert Meter entfernt vom Manegenplatz, wo die „russische kommunistische Arbeiterpartei“ mit harten Rückgriffen auf die Traditionen der „wirklichen 30er“, wie sie es nennen, um die Gunst der Bevölkerung wirbt, hat eine ganz andere „Partei der Arbeit“ zu einer öffentlichen Veranstaltung in den Räumen des Stadtsowjets geladen. Aktivisten aus der sog. informellen, d.h. früher und auch jetzt nach dem Machtwechsel systemopositionellen Szene, bemühen sich um die Darstellung ihrer Alternative. Es geht um die Initiative für die Gründung einer im westlichen Sinne linken Arbeiterpartei. Sie soll nach dem Vorbild der englischen Labourparty und der brasilianischen „Partei der Arbeit“ entstehen.
Zu der Initiative haben sich alle Strömungen der gegenwärtig links von der Regierung entstehenden Opposition außer der radikalen Bürgerrechtspartei „Demokratische Union“ zusammengefunden. Gemeinsame Klammer ist die Orientierung an der neu entstehenden Gewerkschaftsopposition.
Bei den vertretenen Gruppen, nicht berücksicht die gewerkschaftliche Basis, handelt es sich insgesamt vielleicht um achthundert bis tausend Menschen in verschiedenen Städten der Union. Zentrum ist Moskau. Mitglieder reformsozialistischer Gruppen bringen intellektuelles Potential, gemeinsam vielleicht dreihundert bis dreihundertfünfzig Menschen ein. Eine starke anarchistische Ströung hat sich seit 1989 in der oppositionellen Streik- und Gewerkschaftsbewegung entwickelt. 1990 war sie unionsweit auf ca. achthundert bis neunhundert Menschen angewachsen. Viele davon waren und sind gewerkschaftlich aktiv. Jetzt geben die Anarchisten von der „Konföderation der Anarchosyndikalisten“ die gewerkschaftseigene Zeitung „Solidarnost“, 30 000 Auflage, in Moskau heraus.
Personelle und materielle Grundlage des neuen Zusammenschlusses ist die Entwicklung der vormaligen offiziellen Moskauer Gewerkschaft zu einem oppositionellen Ortsverband in den letzten zwei Jahren. Auch in anderen Teilen des Landes gärt es in den früher staatlichen Gewerkschaften. Mit Jelzins Machtantritt hat sich die Entwicklung beschleunigt. Die alten Funktionäre, sogar einige der Streikführer aus dem vergangenen Jahr sind in die Regierungsetagen der „neuen Macht“ abgewandert. Junge Funktionäre aus dem mittleren Organisationsbau, bzw. auch direkt aus den Streikbewegungen der letzten beiden Jahre, soweit sie nicht ebenfalls von Jelzins Politik integriert wurden, sind ins zentrale Gewerkschaftshaus eingezogen.
Eingeladen hat eine bereits existierende Fraktion der geplanten Partei im Moskauer Stadtsowjet. Die Ziele sollen der Öffentlichkeit vorgestellt, Aktivitäten bekanntgemacht, Sympathisanten gewonnen werden. Ca. 250 Menschen gemischten Alters, denen man ihre Herkunft aus den unterschiedlichsten Kreisen ansieht, Bürokratengesichter wie Anarchisten, Intellektuelle wie Arbeiter, gepfelgte und weniger gepflegte, haben die Klappsitzreihen des holzgetäfelten Prunksaals eng besetzt. Ein Drittel der Anwesenden mögen Frauen sein. Die Athmosphäre ist gespannt.

Für die nächsten zwei Stunden steht die „soziale Frage“, stehen vor allem die zu erwartenden sozialen Massenproteste im Mittelpunkt. Als erster spricht Andrej Kolganom, Mitglied des Initiativkreises. Der Initiativkreis wird in den Beiträgen kurzerhand als „Orgkomitee“ oder „OK“ abgekürzt. Kolganom ist höherer wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, Dr. der Wirtschaftswissenschaften. Er hat die politische Vorstellung der Initiative übernommen. Seine ersten Ausführungen gelten den sozialen Konsequenzen der über die Sowjetunion erstellten IWF-Richtlinien, die vor ca. drei, vier Monaten in Form von drei dicken Bänden erschienen. Wer die nächsten Reformschritte der Regierung erfahren wolle, erfährt das aufmerksam mitschreibende Auditorium, brauche nur in den Richtlinien nachzulesen. Nach Auffassung des IWF solle sich das Land auf die Produktion von landwirtschaftlichen Gütern, Rohstoffen und Energieträgern spezialisieren. Das bedeute eine erhebliche Reduzierung der Industrieproduktion. Massenentlassungen bis zu 20%, sowie eine allgemeine Senkung des Lebensstandards um 40% seien vorgesehen. Für Kolganom ist die Schlußfolgerung klar:

Kolganom:
„Unter diesen Umständen muß die `Partei der Arbeit‘ den Kampf für den Erhalt der Arbeitsplätze, für Arbeitslosenversicherung, für ein modernes System der Arbeitsbeschaffung und der Arbeitsstimulierung so stark wie möglich unterstützen. Dazu gehört auch die Lösung der mit der Privatisierung verbundenen Probleme. Die zur Zeit stattfindende wilde Privatisierung führt zu einer kriminellen Bereicherung der Privilegierten. Sie muß aber im Interesse der Werktätigen geschehen.“

Erzähler:
Die Staatsmacht, so Kolganom weiter, bereite sich auf die Konflikte vor. Sie schicke sich an, Versammlungsrechte, wie überhaupt Rechte und Möglichkeiten gewerkschaftlicher Betätigung in jeder Weise zu beschneiden. Das gehe vom Streikverbot, über die Behinderung von Betriebsversammlungen bis hin zur Ausschaltung lokaler Selbstverwaltung durch die Exekutive. Entsprechend müsse sich auch die andere Seite zusammenfinden. Die „Partei der Arbeit“ sei ein Schritt in diese Richtung. Allerdings, schränkt Kolganom vorsichtig ein, müsse man sich vor Provokationen hüten:

Kolganom:
„Die allgemeine politische Aufgabe der `Partei der Arbeit‘ besteht daher darin, die Unzufriedenheit der Massen in einen konstruktiven und organisierten Protest zu überführen, um dem autoritären Regime keine Möglichkeit zu geben, einen spontanen Aufruhr verärgerter Leute dafür zu benutzen, seine Macht zu stärken. Die wichtigsten Losungen, die in Verbindung mit den Massenprotesten verbreitet werden müssen, lauten ungefähr so: Wir akzeptieren die objektiven Rahmenbedingungen der neu entstehenden Marktwirtschaft, halten es aber für notwendig, sie mit einem System ökonomischer Demokratie zu durchdringen. Wir verlangen jedoch von der Regierung, wenigstens die Versprechen einzulösen, die vor dem Beginn der Wirtschaftsreform, vor der Liberalisierung der Preise gegeben wurden. Das trifft vor allem die Angleichung der Löhne an die Preisentwicklung.“

Erzähler:
Das Credo der geplanten Partei, das Kolganom hier formuliert, klingt für westliche Ohren wie ein leerer Refrain. Unter den gegebenen Verhältnissen in der ehemaligen Sowjetunion scheint dies aber die Form zu sein, in welche Kampfansagen an die Regierung zur Zeit gekleidet werden können. Andere Vertreter des „Orgkomitees“ berichten schon über bisherige Aktivitäten der Parteiinitiative: so eine gewerkschaftliche Protestdemonstration am 23. Oktober 1990, so Protestaktionen gegen die wilde Privatisierung, gegen die wuchernde Korruption der neuen Verwaltung. Sie berichten von der Brutalität, mit der Jelzins Präfekten die örtlichen Sowjets kaltstellen und liquidieren. Sie berichten über Initiativen an anderen Orten in der Union, über Pressearbeit. Ausführlicher Punkt ist die parlamentarische Tätigkeit der Fraktion im Stadtsowjet. Sie konnte eine Reihe von Korruptionsskandalen in der Presse enthüllen. Die Gastredner, auch einige Rednerinnen, unter ihnen viele soeben erst heimatlos gewordene KPdSU-Funktionäre oder -Mitglieder fordern noch diesen und jenen Punkt ein, vor allem die Erhaltung bisheriger sozialer Rechte betreffend. Ein gestandener Arbeiterfunktionär bringt die Erwartungen der Versammelten auf die Formel:

Männliche Stimme:
„In unserem Programm, vor allem auch in unseren Aktionen müssen Vorschläge zum Schutz des Selbstschutzes der Arbeitnehmer in nächster Zeit das Wichtigste sein.“

Erzähler:
Allgemeiner Beifall beweist, daß damit die Stimmung der Anwesenden getroffen ist. Dann allerdings folgt ein Auftritt, an dem schlaglichtartig erkennbar wird, wie dünn die Wand der demokratischen Rationalität ist, die diese Versammlung von vergleichbaren draußen, z.B. der auf dem Manegenplatz, heute trennt. Es spricht ein junger Mann, Mitglied einer ihrem Selbstverständnis nach reformsozialistischen Gruppe. Nach Ansicht der Anwesenden, so stellt er sich vor, sei er sicher „Extremist“, denn er halte an den revolutionären Paradigmen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki fest. Dann bricht es aus ihm hervor:

Männliche Stimme“:
„Mir kommt es so vor, als sei dies keine Versammlung der `Partei der Arbeit‘, sondern lediglich eine der Liebhaber der Arbeit. Worüber sprechen die verehrten Mitglieder des Orgkomitees? Sie sagen, daß sie, die im Moskauer Sowjet sitzen, die Unterstützung der einfachen Leute für die Verwirklichung ihrer Projekte haben wollen. Aber was können das für Auseinandersetzungen um Projekte, Bürgermeister usw. sein, wenn vor uns real das Problem der beginnenden Hungersnot, des Zusammenbruchs und der allgemeinen Katastrophe steht? Die Produktion verringert sich vor unseren Augen und Millionen und Abermillionen Rubel häufen sich in den Taschen der Parasitenbande. Kann man unter diesen Umständen etwa von einer Demokratisierung sprechen? Niemals werden unsere Stimmen gleich sein, wenn ich tausend Rubel habe, wenn ich den ganzen Tag mit der verdammten Arbeit zubringen muß, mit der Schaufel Beton schippen, während ein anderer nachmittags schläft wie viele meiner Bekannten in der demokratischen Bewegung. Wie kann man mit dieser Bande von Verbrechern über demokratische Methoden reden, wenn sich in der Stadt die Banditen herumtreiben? Wollen Sie diese Leute mit Abstimmungen und Unterschriften bitten, wegzugehen? Nein! Die muß man fangen und einsperren! Die muß man auf jede Weise unschädlich machen! Wenn eine Bande Terroristen Sie überfällt, dann werden Sie die sogar physisch unschädlich machen. Da würden Sie nicht zögern. Aber wenn diese Bande Sie überfällt, offen und schamlos, was tun sie da?“

Erzähler:
Es entsteht Unruhe im Saal. Eine sofort durchgeführte Abstimmung ergibt jedoch eine klare Mehrheit dafür, daß der junge Mann zuende sprechen soll. So steigert er sich zu der Forderung, der einzige Ausweg sei die Wiederherstellung der Diktatur des Proletariats! Und zwar jetzt! Die Unruhe steigert sich zur allgemeinen Diskussion in den Reihen. Mit dem Pathos seines Vorredners sei er durchaus einverstanden, greift der nächste Redner beruhigend ein. Die russische Regierung und die Führung Moskaus seien eine Verbrecherbande und noch gebe es kein Gesetz, das eine Kritik des russischen Präsidenten als Majestätsbeleidigung verfolge. Beifall im Saal. Der so redet, ein gepflegter junger Mann im unauffällig modischen Anzug, ist Issajew, Chefredakteur der „Solidarnost“, einer der Initiatoren der neuen Partei, Anarchist. Lediglich mit der Forderung nach der Diktatur des Proletariats ist Anarchist Issajew nicht einverstanden. Die Forderung stehe wohl im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Organisation, für die sein Vorredner gesprochen habe, spöttelt er. Das sei typisch für die gegenwärtige Linke im Lande. In Wirklichkeit könne der reale Platz der Linken könne in nächster Zeit doch nur der der stillen Opposition sein.

Auch für Boris Kagarlitzky, Moskauer Kopf der „Sozialistischen Partei“, ebenfalls einer der Initiatoren, dem das Schlußwort der Veranstaltung zufällt, sind die Ausfälle nur Anlaß, um daran präzisieren, was in nächster Zeit Opposition heißen könne:

Kagarlitzky:
„Hier wurde über die Opposition gesprochen. Was für eine Opposition wollen wir? Eine stille. Keine stille? Natürlich haben wir uns versammelt, um die Gesellschaft umzugestalten. Aber es ist klar, daß es keine Umgestaltung und keine Unterstützung durch die Massen geben wird, solange keine Arbeit durchgeführt wird, die auf die konkrete soziale Absicherung orientiert ist. So ist die Situation! Deshalb würde ich sagen, daß unsere Aufgabe nicht die des Stillhaltens, sondern die des Aushaltens, des Widerstands ist.“

Erzähler:
Vorfälle wie diesen gibt es häufiger bei Treffen der radikaldemokratischen Opposition, seit Teile sich entschlossen haben, mit früheren ideologischen Gegnern, also den ehemals offiziellen Gewerkschaften und nun auch den heimatlosen Mitgliedern der früheren KPdSU eine gemeinsame Linie zu finden. Die Krise beschleunigt die ideologische Nivellierung.
Auf welcher Ebene das geschieht, kann man nach der Veranstaltung von Boris Kagarlitzky erfahren: Die Regierung habe der Bevölkerung den Krieg erklärt, führt er aus. Sie handele heute wie eine Kolonialmacht in ihrem eigenen Land. Sie repräsentiere die westlichen Geschäftsleute und die, so Kagarlitzky, lokale Kompradorenelite, also die, die ihr eigenes Land an den Westen verkaufen, gegen die eigene Bevölkerung. Dies alles laufe auf ein Lebensniveau wie in Indien hinaus. Aber die Regierung habe den Krieg gegen die eigene Bevölkerung schon verloren. Es sei Zeit für sie, Frieden zu schließen. Sie müsse aufgeben. Sie müsse die Privatisierung stoppen. Sie müsse die Liberalisierung stoppen. Sie müsse aufhören, die westliche Herrschaft ins Land einzuführen. Sie müsse sich der Garantie der Grundbedürfnisse des Volkes zuwenden, statt den Grundbedürfnissen ausländischer Unternehmer und einheimischer Privilegierter. In dem Moment allerdings, in dem die Regierung dies täte, werde sie genau die Unterstützung der sozialen Kreise verlieren, die jetzt hinter ihr stünden. Der einzige Ausweg werde dann darin bestehen, die Regierung auszuwechseln. Das werde Ruzkoi sicher versuchen. Aber sein Erfolg werde begrenzt sein. Er werde letzlich nur den Grund für das Einsteigen der nächsten Kraft vorbereiten, statt sich selbst zu stabilisieren. Wie jetzt Jelzins, werde auch sein Weg nur ein vorübergehender sein. Letztlich, so Kagarlitzky bestimmt, könne das nur auf die eine oder andere Art eines Kriegskommunismus hinauslaufen.
Wo Kagarlitzky in Erinnerung an die Zeit nach 1917 von „Kriegkommunismus“ spricht, bevorzugt der Anarchist Issajew ein, wie er sagt, weniger mißverständlichen Begriff: „Kriegspatriotismus“. Bei oppositionellen Gewerkschafterr heißt es eher „Kriegskapitalismus“. Sie alle aber meinen dasselbe Szenario: die unvermeidliche Diktatur, die allein schon deswegen notwendig sei, um das Überleben der Bevölkerung zu garantieren. Das wüßten heute alle, meint Boris Kagarlitzky, aber niemand außer der linken Opposition habe den Mut, es auszusprechen.   Kagarlitzky, der wie seine Freunde auch heute durchaus von neuen Formen des Sozialismus träumt, ist sich der Problematik der so weit reduzierten Zielsetzung bewußt:

Boris Kagarlitzky:
„Man kann uns natürlich anklagen, kein positives Programm zu haben. Aber positive Programme will zur Zeit niemand hören. Jetzt geht es um einen Weg aus der Krise. Aber heute kann man gar nichts erreichen, ohne die Macht zu ergreifen. Die Macht haben wir nicht. Deshalb kann die Grundlinie linker Opposition nur heißen: „Schützt die Grundbedürfnisse jetzt!“. Das bedeutet eben zuallererst, Widerstand zu organisieren.“

Erzähler:
Ob die „Partei der Arbeit“, die schon den Traum vom reformierten Sozialismus hintenanstellen mußte, mehr ist als ein neuer Traum, diesmal dem vom Widerstand, wird sich zeigen. Noch in den nächsten Monaten wird man sehen, ob diese Partei in der Lage sein wird, spontane Proteste nicht nur effektiv, sondern auch noch demokratisch zur zur konstruktiven Überwindung der Krise zu bündeln, oder ob sie von der Vergangenheit eingeholt wird. Ihre Initiatoren wissen, daß sie sich in einem gefährlichen Sog bewegen. Auf die Frage, worin sich ihre Linie von der der Konservativen unterscheide, die ebenfalls zur Verteidigung des Volkes gegen den Ausverkauf an den Westen aufriefen, räumt Boris Kagarlitzky ein:

Kagarlitzky:
„Es ist wahr. Der vollkommene Kollaps der Ideologie der Demokraten macht die Stalinisten wieder attraktiv. Die neue demokratische Linke wächst nicht schnell genug, um das Vakuum zu füllen. Wir müssen unsere Position, unsere Ansichten erklären, z.B. daß es einen russischen Weg aus der Krise gibt, geben muß, aber keinen russischen Sozialismus. Die Stalinisten brauchen dagegen nur an das zu erinnern, was die Menschen schon von früher her kennen. Wir müssen wachsen. Sie brauchen kein Wachstum. Sie sammeln nur.“

Erzähler:
Aber Schlimmer noch: Nicht nur, daß die Altstalinisten nur zu sammeln brauchen. Die radikaldemokratische Opposition hat sich zudem auch noch an der Frage der Initiative für die „Partei der Arbeit“ gespalten. Die vormals starke „Konföderation der Anarchosyndikalisten“ ist auf 250 Mitglieder geschrumpft. Die Orientierung der Moskauer Gruppe auf die Zusammenarbeit mit früheren, wie es heißt, „Offiziellen“, hat ganze Ortsgruppen vertrieben. Die Kritiker werfen der Führung zudem eine Gründung „von oben“, Zentralismus und Verrat an den Prinzipien der Selbsverwaltung vor.

Vadim Damier, Politologe in Moskau, Ökologe, ehemaliges Mitglied bei den anarchistischen Initiatoren, gibt der neuen Partei keine Chance:

Vadim Damier:
„Die `Partei der Arbeit‘ ist eine Kopfgeburt. Sie ist ein Dachverband für heimatlose linke Ideologen. Bei uns existiert keine oppositionelle Arbeiterbewegung, die man von oben zusammenfassen könnte. Sie muß erst entstehen. Aber dafür reicht unsere Zeit nicht, fürchte ich.“

Erzähler:
Die „Sozialistische Partei“, der größte Partner im Bunde neben den oppositionellen Gewerkschaftsgruppen, ist in zwei Lager zerfallen. Die St. Petersburger Gruppe, sowie viele Gruppen in anderen Städten werfen den Initiatoren der „Partei der Arbeit“ Rückfall in bolschewistische Vorstellungen, insbesondere auch Kooperation mit den alten Apparatschiks vor. Statt auf die Konfrontation zwischen arbeitender Bevölkerung und neuen Unternehmen setzen die Abgespaltenen auf ein Bündnis zwischen Arbeiterschaft und mittlerem Unternehmertum gegen die Staatsbürokratie. Statt auf die Gründung einer Partei setzen sie auf die Entwicklung eines alternativen Netzes selbstverwalteter Gruppen und selbstständiger Kooperativen.

Michail Maljutin, Moskauer Politikwisenschaftler ist einer der Repräsentanten dieser Strömung. Er geht scharf mit seinen ehemaligen Freunden ins Gericht:

Michail Maljutin:
„Das ist der absolute Bruch. Wir sind nicht prinzipiell gegen die Nutzung der gewerkschaftlichen Ressourcen. Aber erstens ist das wieder einmal der Versuch einer kleinen Gruppe von Leuten, zwei bis drei Personen, der ganzen russischen Provinz etwas zu diktieren. Zweitens darf man unserer tiefen Überzeugung nach in diesem Moment keine Partei gründen. Drittens erschrecken unsere Freunde sich und ihre Umgebung, nicht anders als beliebige Stalinisten es auch tun, mit Fantasien über drohenden Faschismus, Diktatur und weiteren Horrorvisionen, um ihnen dann mit dem Mythos des großen Massenstreiks zu begegnen. In unserem Land ist natürlich alles möglich, von der Ankunft Christi über die Landung der Außerirdischen bis zum großen Sitzreik aller Werktätigen. Aber selbst wenn es einen solchen Streik geben sollte, dann wird die `Partei der Arbeit‘ dabei keine Rolle spielen.“

Angesichts der Selbstzerfleischung der radikaldemokratischen Opposition klingt erschreckend realistisch, was der Liberale Andranik Migranjan über die „Partei der Arbeit“ zu sagen hat:

Migranjan:
„Ich hörte davon. Ich glaube nicht, daß irgendeine dieser Parteien ernsthaft eine Zukunft hat. Ich glaube, Parteien haben für die absehbare Zukunft überhaupt keine Chance in diesem Land. Die einzige Partei, die eine Zukunft in diesem Land hat, ist eine allumfassende nationalistische Partei. Sie kann allerdings nicht von selbst entstehen. Sie kann nur organisiert werden, wenn die Armee zusammen mit einigen anderen Gruppen die Macht ergreifen kann.“

Erzähler:
So droht die Zuspitzung der sozialen Auseinandersetzung auf die nationale Problematik zurückzuwirken. Es bleibt nur zu hoffen, daß die Armee die Macht nicht ergreift und daß die herrschenden Kreise der heutigen GUS, Jelzin, allen voran, ebensoviel Angst vor dem Bürgerkrieg haben und ebenso überleben wollen wie ihre Völker.

Kai Ehlers

Von Kai Ehlers erschien soeben das Buch:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa“, Verlag am Galgenberg, September 1991, 19,80.

Der Westen auf dem Prüfstand – eine Woche auf der Suche nach der versprochenen Demokratie“

Kommentator:
„Vier Tage, die die Welt veränderten“, „Revolution in Moskau“, „Sieg der Demokratie“, „Neue Hoffnung Jelzin“. Das waren und sind die Kommentare in den Medien zu den Ereignissen vom 19. bis zum 23. August in der UdSSR, also jenen Tagen, die bei uns allgemeinhin als der gescheiterte Putsch bezeichnet werden. Als Boris Jelzin, und nach kurzem Zögern dann auch Michail Gorbatschow, die KPdSU mit ein paar Federstrichen auflösten, kannte die Euphorie keine Grenzen mehr. Der Beginn einer neuen Epoche wurde beschworen.

Erzähler:
Aber was geschah wirklich in diesen vier Tagen? War der Putsch ein Putsch? Ist er überhaupt gescheitert? Welche Rolle hat Jelzin, welche Gorbatschow dabei gespielt? Ist die Machtergreifung seitens der Demokraten und die Zerschlagung der KPdSU schon gleichbedeutend mit Demokratie? Was hat sich für den politischen Alltag verändert? Was bringt der Winter?
Auf all diese Antworten findet man vor Ort bessere Antworten als in Analysen aus der Ferne. Einen Monat nach dem Putsch machte ich mich daher auf den Weg in die Sowjetunion, um die Antworten bei den betroffenen Menschen selbst zu suchen.
Aber schauen wir zunächst noch einmal etwas zurück: Nur eine Woche vor dem Putsch hatte mir Boris Kagarlitzky, einer der anerkannten Köpfe der radikaldemokratischen neuen Linken aus Moskau, auf seine Einschätzung der Lage so umrissen:

Boris Kagarlitzky:
„Wir befinden uns in einer Periode der Umgruppierung, Perestroika in der Perestroika. Es gibt jetzt eine neue Konfrontation. Teile der alten Nomenklatura, auch Gorbatschow selbst, gehen mit Boris Jelzin, mit Popov, dem Moskauer und Sobtschak dem Leningrader Bürgermeister. Auf Gewerkschaftsebene ist es ähnlich. Viele der alten Funktionäre wechseln inzwischen in Jelzins Administration. Die jüngeren dagegen kommen in Opposition zu den Liberalen um Jelzin wie auch zur alten Nomenenklatura. Bisher ist ja noch wenig Konkretes geschehen. In einzelnen Bereichen gibt es eine „wilde Privatisierung“. Aber die Leitungen haben Angst vor den Konsequenzen des eigenen Programms. Das sage nicht ich. Das wird öffentlich ausgesprochen. Es gibt starke Tendenzen zu einem starken Staat, einer Diktatur. Erst nach der Stabilisierung der Strukturen könne man privatisieren, heißt es. Das hat zum Beispiel Gabriel Popov veröffentlicht. Die „unabhängige Zeitung“, ein Jelzin nahestehendes liberales Blatt, schrieb, Pinochet habe in Chile viel Erfolg gehabt. Dies sei auch für uns ein guter Weg. Pinochet ist zum Helden des Kapitalismus geworden. Letzten Dienstag brachte die Zeitung eine ganze Seite allein über „Pinochet als Weg für uns“! Die herrschenden Kräfte haben Angst vor den sozialen Auseinandersetzungen, die mit der weiteren Kapitalisierung verbunden sind. Der Moment der Klassenpolitik hat jetzt wohl begonnen. Darauf bereiten sie sich vor.“

Kommentator:
Was Boris Kagarlitzky im August ’91 aussprach, hatte sich seit dem Herbst 1990 Schritt für Schritt deutlicher gezeigt. Im Herbst ’91 war das „Programm der 500 Tage“ gescheitert, mit dem die Radikalreformer um Jelzin den Übergangs zur offenen Marktwirtschaft per Schocktherapie nach polnischem Vorbild einleiten wollten. Wesentlicher Punkt daran war die allgemeine Freigabe der Preise, sowie „unpopuläre Maßnahmen“, d.h. Einschränkung der staatlichen Subventionen für das soziale System. Die Mittelkräfte um Gorbatschow scheuten vor einer offenen Konfrontation mit der Bevölkerung zurück. Sie setzten stattdessen auf einzelne Maßnahmen und taktische Kompromisse, auf Salamitaktik, wie es der Volksmund so treffend charakterisiert.   Rechte wie linke Kritiker, auf der einen Seite die „patriotischen“ Kräfte um die Parlamentariergruppe „Sojus“, auf der anderen die „Demokraten“ um den Herausforderer Jelzin, erhoben demgegenüber öffentlich die Forderung nach einer „silnaja ruka“, einer „starken Hand“. Gemeint war ein Notstandskurs zur autoritären Durchsetzung der Reformen von oben. Erörterungen über den „chilenischen Weg“, den chninesischen, die „eisernen Methoden“ Bismarcks oder die des zaristischen Ministers Stolypin füllten die Presse und das private Gespräch.
Die Preisreform vom 1. April 1991, obwohl mit ihren kontrollierten Preiserhöhung erst ein halber Schritt, zogen Streiks, Massendemonstrationen, allgemeine Verschärfung der politischen Auseinandersetzung nach sich. In der Folge trafen  sich die früheren Opponenten zum Krisenmanagement auf der Datscha Gorbatschows. Zur Debatte stand die Erneuerung des Unionsvertrags. Ergebnis war der sog. „neun plus Eins Kompromiß“, so benannt nach den Teilnehmern der Runde. Es waren Gobatschow, Jelzin und die Führer acht weiterer Republiken. Mit von der Partie waren auch die Vertreter der jeweiligen Regierungen, also auch die Mitglieder des späteren „Notstandskomitees“: Innenminister Pugo, Ministerpräsident Pawlow, KGB-Chef Kjrutschkow und andere. Inhalt des Kompromisses war der Beschluß über die Einrichtung eines Notstandsregimes, eines, wie es hieß, „Regimes der Arbeit“. Es schloß Demonstrationsverbote, Streikverbote und Pressezensur mit ein. Als Gorbatschow vom Londoner Gipfel der „G 7“-Staaten mit leeren Händen zurückkam, mehr noch, mit der Aufforderung zur radikalen Beschleunigung marktorientierter Reformen, sah man sich zum Handeln genötigt. Die Ausrufung des „Notstandskomitees“ war die Folge. Es war faktisch nichts anderes als die Umsetzung des im Frühjahr gemeinsam beschlossenen Notstandsprogramms.

Erzähler:
Die Reihe meiner überraschenden Einblicke begann schon im Anflug auf Leningrad. Mit mir reiste Daniil Granin, Schriftsteller aus Leningrad, im Westen bekannt geworden für seine zeitkritischen Dokumentionen, unter anderem über die dreijährige Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht von 1941 bis 1944. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung zu dieser Frage hatte der alte Herr sich eine Woche in Hamburg aufgehalten.
Aber Granin ist nicht nur Schriftsteller. Er gehört auch zu jenem informellen Beraterkreis, den Boris Jelzins um sich versammelt hat, „Jelzins Küchenkabinett“, wie er sarkastisch von Kritikern genannt wird. Noch bis zum August war Granin Mitglied in der KPdSU. Erst nach dem Putsch trat er aus. Seine Austrittsbegründung klingt schon fast wie ein Programm:

Daniil Granin:
„Ich habe immer versucht, den Reformprozess von innen zu unterstützen. Der Putsch hat mir gezeigt, daß die Partei als Ganzes nicht reformierbar ist. Sie verstehen die Zeit nicht mehr. Wir brauchen jetzt vor allem anderen schnelle Schritte zum Markt, wenn nicht alles auseinanderfallen soll. Jelzin ist der Mann, der das durchsetzen kann.“

Erzähler:
Gefragt, ob Jelzin nich mehr verspreche, als er halten könne, ob er nicht in dieselbe Situation kommen werden wie zuvor schon Gorbatschow, vielleicht sogar eine schlimmere, räumte Daniil Granin ein:

Daniil Granin:
„Er braucht natürlich gute Berater. Boris Borissowitsch kann zuhören. Das ist seine große Fähigkeit. So ein Kreis, in dem man sagen kann, was man für richtig hält, ist ein großer Fortschritt für uns. Es besteht natürlich auch die Gefahr, daß es beim Reden bleibt. In der wichtigsten Frage, der Ökonomie, wurde seit dem Putsch praktisch noch nichts bewegt. Darüber bin ich sehr besorgt. Schließlich kann es auch geschehen, daß Jelzin auf falsche Ratschläge hört. Dann droht tatsächlich das Schlimmste. Die Situation bei uns ähnelt sehr der Weimarer Zeit in Deutschland. Das Imperium ist zusammengebrochen. Alles hängt jetzt von guten oder schlechten Führern ab. Die alten Kräfte sind in der Defensive. Das Volk hat einen großen Sieg errungen. Es sind Hoffnungen geweckt worden. Aber jetzt besteht ein Machtvakuum. Wenn jetzt nicht etwas Spürbares für das Volk geschieht, besteht die Gefahr, daß die Entwicklung nach rechts geht. Aufklärung darüber, wie damals der Faschismus in Deutschland entstehen konnte, ist über die Lösung der ökonomischen Fragen hinaus daher eine der wichtigsten Aufgaben, die Intellektuelle bei uns jetzt leisten können.“

Erzähler:
So eingestimmt traf ich mich in Leningrad zuallererst mit Juri Popov. Mit ihm stand noch eine Verabredung von meinem letzten Besuch im August vor dem Putsch aus. Popov bekennt sich als „Patriot“. Er arbeitet als Physiker in der Firma „Elektron“, ist Abgeordneter des Leniningrader Stadtsowjets, Mitglied der Gruppe „Otschisno“, Vaterland.

Kommentator:
„Otschisno“, Vaterland, ist die Organisation, die vor dem Putsch eine patriotische Sammlungsbewegung zur nationalen Wiedergeburt Rußlands einleitete. In ihren Einzugsbereich gehörten die Abgeordnetengruppe „Sojus“, der „Pamjat“-Dunstkreis, Neostalinisten um die berüchtigte Nina Andrejewa oder die Zeitung „Rossija“, der konservative Klerus und die Rechten der vor Jahresfrist erst gegründeten russischen Sektion der KPdSU. Der Stellvertreter Jelzins, einer der Haupthelden der neuen demokratischen Macht neben Jelzin, ist ehemaliges „Otetschestwo“-Mitglied. „Otetschestvo“ heißt ebenfalls „Vaterland“ und ist der Vorläufer von „Otschisno“. Viele „Patrioten“ standen während der Putschtage an der Seite Jelzins zur Verteidigung Rußlands mit vor dem sogenannten „weißen Haus“. Andere, wie der berüchtigte Moskauer Antisemit Wassiljew hielten sich allerdings abseits. Die Lager sind nicht klar abgegrenzt. Wassiljew kam mit seinen Leuten morgens auf den Platz. Nachdem er sich die dort versammelten Menschen angeschaut hatte, zog er sich mit den Worten zurück, dies sei nicht die richtige, nicht seine „patriotische“ Revolution.

Erzähler:
Popovs Antworten verblüffen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, am allerwenigsten allerdings Brandreden für die Verteidigung der Demokratie. Genau damit aber sah ich mich zunächst konfrontiert: Der Westen müsse unbedingt wissen, welche Kräfte er in Gestalt der Demokraten eigentlich unterstütze. Nicht Demokraten nämlich, sondern Vertreter eines „neuen Totalitarismus“ seien jetzt an der Macht. So begründete dieser von seiner Grundorientierung her eher anti-westlich eingestellte Mann sein Interesse an dem Gespräch mit einem westlichen Journalisten:

Juri Popov:
„Die Entwicklung der politischen Ereignisse hat sich durch den Putsch beschleunigt. Die Prozesse, die vielleicht ein Jahr gedauert hätten oder länger, sind jetzt sehr schnell vor sich gegangen. Die Kräfte sind stärker polarisiert. Das wichtigste aber ist, daß die Kräfte der Opposition liquidiert wurden, durch den Antiputsch. Das trifft die rechten Gruppierungen, die kommunistische Partei, die patriotischen Organisationen. Jetzt sind diejenigen, die sich Demokraten nennen, an der Reihe zu beweisen, ob sie fähig sind, das Land zur Wiedergeburt zu führen, beziehungsweise zur Stabilisierung, oder ob sie nur in der Lage waren, zu zerstören, zu kritisieren.“

Erzähler:
Ein Putsch sei das nicht gewesen, versichert Juri Popov, sehr wohl aber eine illegale Aktion. Die Mitglieder des „Notstandskomitees“ hätten dem Volk vorgelogen, daß der Präsident krank sei. Der zweite Punkt sei ihre Verhängung des Ausnahmezustandes. Aber nicht, daß sie ihn verkündet hätten, sei ihr Fehler gewesen, sondern daß sie es illegal taten, obwohl seine legale Einführung seit Monaten vorher öffentlich diskutiert und von Sprechern der „Sojus“-Fraktion immer wieder gefordert worden sei. Angesichts des bevorstehenden Winters wäre das auch logisch gewesen. Jelzins Politik könne er nur als Antiputsch bezeichnen: Verbot von Zeitungen, Auswechseln der Leitungen in den TV-Anstalten usw. Auch zwei Monate nach dem Putsch halte Jelzin die Repression gegen seine Opponenten nach wie vor aufrecht.

Juri Popov:
„Es gibt jetzt ein starkes Verlangen, eine russische nationale Partei zu gründen. Aber diese Partei wird man sofort des Chauvinismus, Nationalismus, sogar Faschismus beschuldigen. Der demokratische Stempel auf manchen Organisationen ist eben nur oberflächlich. Sie sind sofort bereit, andere Organisationen zu unterdrücken, gleich welcher Art. Das ist ein regressiver Prozeß. Diese Leute treten unmoralisch auf, sie lassen keine normale Opposition zu. Das Resultat ist: Zerstörung der kommunistischen Partei mitsamt ihren Strukturen, das Verbot vieler patriotischer Organisationen, auch das von Arbeiterorganisationen, letztlich die Illegalisierung der gesamten Opposition. Der Antiputsch war ein Schritt Richtung Totalitarismus. Ausdruck davon ist auch die Einsetzung von Präfekten an der Spitze der Administration. Sie sind sozusagen Generalgouverneure, Teile einer totalitären Hierarchie. Im Ergebnis hat ein Austausch von Menschen, ein Wechsel der Elite stattgefunden, aber die Formen und Methoden bleiben die alten. Ohne den Westen, ohne seine Hilfe, wäre die Unterdrückung noch stärker. Sie fürchten die Unterstützung des Westens zu verlieren.“

Erzähler:
Später präzisiert Popov sein Verständnis von Demokratie. Das gibt einen Vorgeschmack auf das, was den Menschen dieses Landes noch bevorstehen könnte:

Juri Popov:
„Mir scheint, daß der Weg Chinas aussichtsreicher ist. Das bedeutet, daß in die alten politischen Strukturen, die hart durchzugreifen verstehen, ein neuer wirtschaftlicher Anfang gesetzt wird, und zwar von unten aus den Betrieben. Dort muß man Konkurrenz ansetzen und nationale Produkte schaffen, besonders in der Landwirtschaft. Ein Wechsel muß von unten kommen, später können dann auch die Oberbauten ausgewechselt werden, davon bin ich überzeugt.“

Kommentator:
Juri Popov spricht für die Verlierer des Augenblicks. Obwohl die „patriotischen“ Gruppen die Proklamation des Ausnahmezustands durch das „Notstandskomitee“ im Prinzip begrüßten, erklärten sie sich beim absehbaren Scheitern der dilettantischen Aktion als Opfer einer Provokation. Der Putsch hat zu einer vorübergehenden Diskreditierung ihrer Zielsetzung eines starken Rußland geführt. Ihre Zukunftschancen jedoch sehen diese Kräfte selbstbewußt. 70% der Bevölkerung habe die Maßnahmen des „Komitees“ trotz Aufforderung zum Generalstreik widerspruchslos akzeptiert, rechnet beispielsweise der Schirinowski. Er ist bei den Wahlen zum russischen Präsidenten mit ca. 10% immerhin als Dritter durchs Ziel gegangen. Wenn jetzt Wahlen stattfänden, erklärt „Otschisnos“-Mitglied Popov siegesbewußt, würde der Stimmanteil der Nationalen weit über diesen 10% liegen. Die Demokraten hätten ihre Wahlversprechen nicht eingehalten. Je weiter sich das fortsetzte, desto mehr verlören sie in den Augen des Volkes. Je stärker die Kapitalisierung voranschreite, umso schneller wachse der Unmut. Nicht nur „Patrioten“, die nationale Bewegung insgesamt werde stärker werden. Hunger, Arbeitslosigkeit und große Enttäuschungen der von den Demokraten erweckten Hoffnungen auf besseren Wohnraum, sowie der beängstigende Zerfall der staatlichen Strukturen, all dies werde die Menschen, die keine Anarchie, sondern Ordnung und Sicherheit suchten, ins Lager der russischen Nationalisten treiben.

Erzähler:
Die nächste Überraschung kommt mit Dimitri und Sascha. Dimitri und Sascha sind zwei von den vielen tausend Jugendlichen, die gegen das „Notstandskomitee“ auf die Straße gingen. Dimitri, einundzwanzig Jahre alt, Student der Elektronik, ist Redakteur bei der „Novaja gasjeta“, der „Neuen Zeitung“, einem Blatt, das aus der früheren leningrader Komsomolzeitung hervorgegangen ist. Dimitri ist für die Abteilung Politk verantwortlich. Er steht der neuen „Sozialistischen Partei“, einer aus der informellen Bewegung der letzten Jahre hervorgegangenen radikaldemokratischen Gruppierung nahe. Sascha ist Kunststudent, Anarchist, an seiner Lederjacke leuchtet ein schwarz-roter Stern. Er wird mir von Dimitri mit den Worten vorgestellt: „Sascha war auf der Barrikade“
Die „novaja Gazjeta“, deren erste Ausgabe im Januar ’91 erschien, gehört heute zu 40% dem „Vereinigten St. Petersburger Jugendverband“. 20% gehören den Mitrarbeitern. Die restlichen 20% gehören zwei Firmen. Das ist alles sehr neu. Unser Gespräch allerdings findet im zweiten Stock des „Gesellschafts-politischen Zentrums“ statt, wo die Zeitung ihre Redaktion hat. Es ist ein gigantischer Bürokomplex direkt gegenüber dem „Smolny“, dem ehemaligen Zentrum der KPdSU, wo jetzt Sobtschak residiert. Früher gehörte das Gebäude der Partei. Heute weiß niemand, wem es gehört. Partei- und Komsomolvergangenheit leben in unentwirrbarer Symbiose mit den neuen politischen Strukturen.
Auch Dimitri und Sascha halten den Putsch für keinen Putsch. Sie sehen darin vielmehr eine Inszenierung der Demokraten. Die Anteil Gorbatschows und Jelzins daran werde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Es lohne sich nicht, darüber zu spekulieren. Es reiche, sich an die Resultate zu halten. Auch Sascha und Dimitri beklagen vor allem anderen den Verlust der Opposition:

Dimitri:
„Wir meinen, daß sich die Situation jetzt an der Grenze zur Aufstellung eines totalitären Regimes befindet, denn in Moskau und Leningrad hat sich die politische Macht der Kontrolle durch die Gesetzgebung entzogen. Die Bürgermeister von St. Petersburg und Moskau sowie der Präsident Russlands verabschieden Ukase, also Verordnungen, die der Verfassung, den Gesetzen, widersprechen. Die gesetzgebenden Organe, die Sowjets St. Petersburgs, Moskaus und anderer Städte sind nicht mehr in der Lage irgendetwas zu kontrollieren, ja sind direkt ausgeschaltet wie der obersten Sowjets Russlands. Die Macht konzentriert sich in der Hand einiger weniger Leute. Wir glauben, daß der Winter Hunger bringen wird und damit auch ein totalitäres Regime.“

Erzähler:
Meine Verblüffung darüber, Teilnehmer der Barrikadenkämpfe so reden zu hören, quittierten sie mit nachsichtigen Erklärungen. Von einem Sieg der Demokratie könne nicht die Rede sein. Eher schon vom Ende der demokratischen Phase der Perestroika.

Dimitri:
„Erstens sind einige Masseninformationsmittel ungesetzlich verboten worden. Es gibt immer noch eine starke Zensur in Fernsehen und Radio. In Leningrad ist eigentlich nur eine größere oppositionelle Zeitung übrig geblieben. Das ist die frühere „Leningradskaja Prawda“, „Leningrader Wahrheit“. Sie nennt sich jetzt „St. Petersburgskije Vedomosti“, Leningrader Nachrichten. Andere Blätter berichteten weiterhin über Politik. Aber die Stimmen des Lensowjets oder der Opposition, die für eine vernünftige Demokratie eintreten, sind nicht zu hören. In Moskau gibt es harte Auseinandersetzungen zwischen dem Bürgermeister und den Mossowjet. Die Situation ist so: Bis zum Putsch gab es bei uns eine Kraft, die uns nach vorne trieb, zu schnellen Reformen. Eine Kraft, die das ganze Land auf den Weg des Marktes, in die Demokratie trieb. Diese Kraft bestand zum Teil aus dem „demokratischen Russland“ und aus den „Bewegungen für demokratische Reformen“. Als Opposition trat die kommunistische Partei und ihr nahestehende Gruppen auf, die in Strukturen der 70er, 80er Jahre zurück wollte. Jetzt ist eine dieser Kräfte zusammengebrochen. Es gibt nur noch den anderen, einen einzigen politischen Pol. Wir halten diese Situation für relativ gefährlich, denn ein Gleichgewicht im Staat ist nur möglich, wenn es Gegengewichte gibt, wenn es nicht so kommen soll wie in Jugoslawien oder im Kaukasus.“

Erzähler:
Nüchtern auch, was die beiden jungen Männer auf die Frage zu antworten haben, wie sich die Jugend nach dem Putsch fühlt:

Sascha:
„Ich glaube die Jugend fühlt sich jetzt schlechter als vor einem halben Jahr. Denn nun wird die kommende Verschlechterung ihres Lebensstandards immer offensichtlicher. In diesem Jahr werden viele Hochschulabgänger arbeitslos werden, da sie nicht mehr automatisch wie früher auf die Betriebe verteilt werden. In den Betrieben werden jetzt viele Arbeitsplätze eingespart. Hierüber könnte Popov reichlich erzählen. In seinem Betrieb bleiben von 4000 Arbeitern nur 700 übrig! Es werden keine Neuen eigestellt. Die Jugend steht also ohne Arbeitsplätze da. Dazu kommt: Die Wohnraumsituation ist sehr schwierig. In Leningrad wurde der Wohnungsbauplan zu 70 % nicht erfüllt. Junge Familien finden hier kein Unterkommen. Früher gab es Hoffnungen, über Wartelisten oder als junger Spezialist eine Wohnung zu bekommen. Das gibt es jetzt nicht mehr. Das Geld, eine Wohnung zu kaufen, hat eine junge Familie nicht. In Leningrad kostet eine 2-Zimmer-Wohnung heute mindestens 50.000 Rubel. Ein Student oder ein junger Arbeiter hat nicht soviel Geld.“

Dimitri:
„Im Frühjahr gab es eine Euphorie des politischen Kampfes. Jelzin kämpfte gegen Gorbatschow. Die Bergleute streikten. Gorbatschow kämpfte gegen konservative Kräfte. Innerhalb der Demokraten kämpfte Jelzin gegen radikale Gruppen. Alles war recht übersichtlich. Der Student konnte auf die Straße gehen und einfache ihm verständliche Losungen rufen. Er fühlte sich als Teilnehmer des politischen Lebens. Jetzt gibt es das nicht mehr. Jetzt ist die „große Einheit“, die Stabilitätsfront, an der Regierung. Nach der Meinung der Studenten fragt niemand mehr. Sie interessiert nicht und das Land wird nicht dorthin geführt, wohin die Mehrheit des Volkes, der Jugend will. Das gefällt ihnen nicht.“

Sascha:
„Die Jugend möchte sich selbst realisieren, möchte fühlen, daß die Gesellschaft sie braucht. Früher war es so, daß man die Hochschule abschloss, zu arbeiten anfing, Geld verdiente. Man brachte seine Arbeitskraft, seinen Intellekt ein. Das hatte einen Sinn. Jetzt ist es so, daß unser Wissen, unsere Arbeitskraft niemandem nötig ist. Due Jugendlichen sehen, daß sie in ihrem Beruf nicht arbeiten können. Als die Perestroika begann, nahmen viele junge Leute daran teil. Sie waren nicht für die Demokratie und nicht für den Kapitalismus. Sie waren nur dagegen, daß sie sich in jener Gesellschaft nicht realisieren konnten. Jetzt merken sie, daß man sie betrogen hat. In dieser Gesellschaft können sie sich auch nicht realisieren. Sie haben also nicht das erreicht, was sie erreichen wollten.“

Sascha:
„Es ist richtig, daß sich auf den Plätzen St. Petersburg und Moskaus hauptsächlich junge Menschen aufhielten. Wir bauten die ersten Barrikaden. Aber zu sagen, daß die Jugend Jelzin unterstützt hat, ist nicht richtig. Sie kämpfte gegen den Faschismus. Junge Leute hatten nichts zu verlieren und sie wollten nicht zurückkehren in das System aus dem sie gerade herausgekommen waren. Das hat mit einer Unterstützung Jelzins nichts zu tun. Diejenigen die als erste Barrikaden bauten und demonstrierten waren Leute, die sich vorher überhaupt nicht mit Politik beschäftigt hatten. Das waren entweder Studenten oder Punks, Hyppies usw., also Leute, die eine Teilnahme an der Politik für unmöglich hielten. Trotzdem kamen sie als erste und blieben auch die ganzen Tage. Genauso in Moskau. Dort war nur das Spektrum breiter. Aber es ist bekannt, daß eine der größten Barrikaden von Anhängern des „Heavy Metal“ aufgebaut wurde, die zu hunderten teilnahmen. Sie sind organisiert. Ihre Organisation heißt „Nächtliche Wölfe“. Sie beschützen sonst Rockkonzerte. Sie haben alle an den Barikaden gestanden, auch einige Rocksänger waren da. Außerdem haben diejenigen politischen Gruppen teilgenommen, die schon vorher und auch jetzt in der Opposition zu Jelzin, zu den Machthabern in Moskau und in St. Petersburg stehen, Sozialisten und Anarchisten.“

Erzähler:
„Faschismus“, das erschien mir doch als ein sehr starkes Wort. Ich bat Dimitri und Sascha daher, genauer zu erklären, was darunter zu verstehen sei, wenn sie sagen, sie hätten „gegen den Faschismus gekäpmft“:

Dimitri:
„Es gab einen schönen Ausspruch von einem Kulturberater des russischen Ministerpräsidenten Silajev im Fernsehen, von Nikita Michalkow. Er sagte, er sei nicht gekommen, um den Kapitalismus gegen den Kommunismus zu schützen, sondern weil man ihm in die Seele gespuckt hätte! Der Putsch wurde als persönliche Beleidigung aufgefaßt. Michalkow meinte, daß niemand das Recht hätte mit unserem Volk aus der Position der Stärke zu reden. Als dem Volk gesagt wurde, daß es leben sollte, wie von den Regierenden gewollt, war das eine persönliche Beleidigung. Genau um dagegen zu kämpfen, sind viele zu den Barrikaden gegangen.“

Erzähler:
Nicht anders als Popov, sehen auch Dimitri und Sascha eine neue Opposition, nur von der anderen Seite betrachtet, entstehen, die mit der Krise an Radikalität zunehmen werde. Neue Jugendverbände hätten sich soeben gegründet, berichten sie, in denen die Jugendlichen nach neuen Wegen des Widerstandes suchten. Ihr Interesse verbinde sich mit der wachsenden gewerkschaftlichen Opposition, ja, neuerdings sogar mit Sympathie für die Suche nach neuen sozialistischen Wegen. So kommt Sascha trotz aller Skepsis am Ende zu einer positiven Einschätzung seiner Tage auf den Barridaden:

Sascha:t
„Ich glaube, daß es nicht sinnlos war, daß ich dort war. Es war produktiv in dem Sinne, daß die Leute aus ihrer Apathie herauskamen, besonders junge Leute. Sie haben gesehen, daß sie etwas bewirken können. Sie haben angefangen etwas zu tun! Ich glaube, daß das nicht die letzten Barikaden waren und daß das was wir dort gelernt haben, uns noch von Nutzen sein wird. Wir haben uns gegenseitig kennengelernt, gelernt etwas zu tun. Diese Erfahrung war neu für die meisten. Nur einige wenige waren ja vorher in Littauen auf den Barikaden dabei. Ich glaube, daß es eine wertvolle Erfahrung war.“

Erzähler
Wie breit das Spektrum derer ist, die sich da in einer neuen Oopposition finden müssen, und wie lang der vor ihnen liegende Weg, macht die begegnung mit Stanislav deutlich.
Stanislav, ebenfalls sehr jung, siebenundzwanzig Jahre alt, ist Betriebsaktivist der „Leningrader Optiker-Mechaniker-Vereinigung“. Früher war er Komsomolsekretär des Betriebs, jetzt heißt dieselbe Tätigkeit „Vertreter des Sowjets der Jugendorganisation“. Stanislav ist Mitherausgeber der Betriebseigenen Zeitung „Spektor“. Stanislavs Besonderheit: Er trat in die KPdSU zu einer Zeit ein, als alle anderen austraten, vor einem halben Jahr nämlich erst. Er hofft, von der Basis her eine starke Interessenvertretung für die Arbeiter aufbauen zu können.
Stanislav ist wie Popov, Dimitri und Sascha der Meinung, daß der Putsch kein Putsch war. Zwar habe er Angst gehabt am Morgen des 19. August wie alle. Alle Gespenster der Vergangenheit seien hochgekommen und er habe sich bemüht, seine Kollegen zu mobilisieren. Doch eine Gefahr für Leib und Leben oder gar ihre politischen Funktionen habe weder für Jelzin noch andere Vertreter der demokratischen Macht zu irgendeiner Zeit bestanden. Spätestens als Sobtschak am Abend des ersten Tages ungehindert im Fernsehen habe auftreten können, sei das auch für den Dümmsten klar geworden.
Stanislav gibt sich gefaßt:

Stanislav:
„Ich bin Politiker. Ein Politiker muß mit jeder Situation umgehen können. Über die Maßnahmen, die das Komitee verkündete, war ich in keiner Weise geschockt. Sie enthielten nichts anderes als das, worauf wir schon seit langen und auch jetzt zugehen. Die Demokraten machen jetzt genau das, was die Putschisten vor zwei Monaten vorgeschlagen haben. Was mir mißfiel, mich sogar änsgtigte, war die Zensur. Ich sah ich sofort, welche Repressionen gegen die Kommunisten beginnen würden. Schon vor dem Putsch war klar, daß man einen Grund dafür suchte. Dieser Grund wurde dann der 19. August, wurden die drei Tage des Putsches. Jetzt, nach der Zerschlagung der KPdSU gibt es praktisch keine Opposition mehr. Soetwas gibt es in keiner zivisilierten Gesellschaft. Sogar Faschisten werden geduldet, nur damit die Balance gewährleistet ist zwischen Linken und Rechten, extremen Linken und extremen Rechten. Nur eine solche Balance garantiert die stabile Entwicklung einer Gesellschaft.“

Erzähler:
Stanislav, der doch selber lieber heute als morgen die KPdSU, jedenfalls Teile davon neu belebt sehen möchte, hält die Zukunftserwartungen seiner studentischen Altersgenossen in Bezug auf die Möglichkeit einer neuen Opposition für zu rosig:

Stanislav:
„Ich kenne die Leute in den Fabriken, an den Maschinen, die Ingenieure. Sie lassen sich in drei Teilmengen aufteilen. Sagen wir es für die Jugend: Der erste Teil sind Leute, die immer noch denken, sie hätten tatsächlich die Demokratie verteidigt. Das sind Menschen, die ich als spontan Glückliche bezeichnen würde. Es gibt so eine Gruppe in der Jugend, die ist überall glücklich. Für die war es einfach ein Vergnügen, auf die Barrikaden zu gehen. Sie verstehen den Hintergrund nicht, der sich jetzt heraustellt. Sie  glauben, daß alles, was jetzt in der Sowjetunion vorgeht, hervorragend sei und daß sie das erkämpft hätten. Die zweite Gruppe ist die, denen alles egal ist: Kommunisten, Demokraten, oben, unten, alles egal. Man nennt sie Eskapisten. Für sie existiert nur das eigene Ich. Es gibt sie auch im Westen. Es gibt sie überall. Das ist die zweite Gruppe. Ihnen ist auch der Putsch egal. Eine dritte Gruppe junger Leute beginnt zu verstehen. Das ist die Gruppe, mit der du dich heute unterhalten hast, die sich betrogen fühlen. Aber diese Gruppe ist sehr klein. Schon unter den Studenten ist sie klein. Noch kleiner ist sie unter der Arbeiterklasse. Sechzig oder gar siebzig Prozent gehören zu der Gruppe, denen alles egal ist, dreißig Prozent zur spontan glücklichen Gruppe. Höchstens zehn Prozent gehören zu denen, die anfangen zu denken, daß nicht alles so einfach ist auf dieser Welt. Letztenendes, fürchte ich, wird es ohne Zar, das heißt: Knute, starke Hand, verstehst du, nicht gehen. Da kommt man nicht drumherum, denn dieses Chaos in diesem Land wird uns noch zum Halse heraushängen. Viele meinen doch schon jetzt: `Zum Teufel soll doch die `starke Hand‘ kommen! Dann herrscht wenigstens Ordnung!‘ Unser östlicher Nachbar China zeigt es uns. Ob das gut oder schlecht ist, das ist eine andere Frage. Wir stecken jetzt in einer Periode ohne Opposition. Wie wir da herauskommen, weiß der Teufel.“

Kommentator:
Schon nach der Rückkehr Michael Gorbatschows aus London Ende Juli hatte Boris Jelzin durch seinen Ukas zur „Entparteiisierung“ die politische Lage spürbar verschärft. Das Wort „Entparteiisierung“ ist dem Wort „Entkulakisierung“ nachgebildet. Es transportiert auch die entsprechenden Emotionen. Anders als im Westen allgemein verstanden, handelte es sich dabei nich um ein Verbot der Partei. Es handelte sich lediglich um die Auflösung der bis dahin selbstverständlichen gegenseitigen Durchdringung von betrieblichen und parteimäßigen Strukturen in Betrieben, Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen. Die politische Tätigkeit der Partei blieb davon unberührt. Jedoch bestimmte der Paragraph zwei des Ukases darüberhinaus, daß Arbeiterversammlungen zukünftig nur noch im Einverständnis mit den Betriebsführungen oder jeweiligen Leitungen erlaubt seien. Im Zusammenhang mit der Liquidierung der Parteistrukturen in den Betrieben lief das auf eine Unterdrückung der gewerkschaftlichen Versammlungsfreiheit, konkret der außerhalb der KPdSU soeben entstehenden gewerkschaftsoppositionellen Strukturen hinaus.
Auch nach dem Putsch wurde die Partei nicht, wie es in den westlichen Medien heißt, verboten. Jelzins Erlaß ordnete lediglich die befristete Schließung der Parteibüros vom Tag des Inkrafttretens am 23. August bis zum 23. September an, um ihre Beteiligung am Putsch zu klären. Durch Gorbatschows Erlaß wurde das ZK aufgelöst. Zusatzerlasse verfügten die Einstellung der Zeitungen und die Einfrierung des Vermögens der Partei, ebenfalls vorübergehend. Die Maßnahmen werden allerdings bis heute praktiziert. Lediglich einige Zeitungen konnten nach personellen Veränderungen unter neuem Namen, redaktionellen Veränderungen und mit privatem Herausgeberkreis erscheinen. Im übrigen wurden die Büros der Partei nicht nur versiegelt, sie wurden geschlossen. Das Vermögen der Partei wurde nicht nur storniert, sondern an die neuen Staatsorgane überführt. Das gilt nicht zuletzt für Druckhäuser und Papier. Mußten sich die kleineren Zeitungen und Verlage vorher dem faktischen Monopol der Partei beugen, so nun der neuen Administration, Jelzin, Sobtschak, Popov und den neuernannten Präfekten. Der seinerzeit genannte Termin für die vorübergehende Aussetzung ist ohne Rücknahme, aber auch ohne Erneuerung der Erlasse verstrichen. Faktisch wurde die Partei auf diese Weise ohne gesetzliche Grundlage liquidiert. Und nicht nur das: Die Ukase sind derart vage gehalten, daß niemand weiß, welche Neben-, Nachfolge oder Ersatzorganisationen, wie es seinerzeit im KPD-Verbot der BRD vom Gericht formuliert wurde, mit unter die diversen Erlasse fallen. Dies ist gleichbedeutend mit der Ersetzung der Parteiwillkür durch die Willkür der „starken Männer“, einer in Maßen kalkulierbaren, durch eine unkalkulierbare von persönlichen Führer- und Clanstrukturen abhängigen Bürokratie.

Erzähler:
Für Boris Gidaspov, bis vor kurzem als Erster Sekretär der Leningrader Sektion der Kommunistischen Partei noch Herr des „Smolny“, in dem jetzt Sobtschak residiert, ist das alles eine „unerklärliche Verrücktheit“. Er empfängt mich in Moskau so wie er auch in der Vergangenheit zu empfangen gewohnt war: Auf „kommandirovka“, Geschäftsreise, im intimen Innersten des Hotels „Moskva“, der Hochburg der Nomenklatura. Für ihn persönlich hat sich bisher nichts geändert:

Gidaspov:
„Wenn selbst ich am Vorabend nichts davon gewußt habe, dann ist wohl klar, daß das alles unerwartet gekommen ist. Die Korridore des Kreml sind traditionell schlecht ausgeleuchtet. Aber das waren ehrliche Leute, die betrügen nicht. Ich habe mit vielen immer wieder gesprochen. Wenn es irgendeine seriöse Vorbereitung gegeben hätte, wäre etwas davon durchgesichert.“

Erzähler
Man muß nicht alles glauben, was ein hoher Funktionär einem westlichen Journalisten über innere Vorgänge in der sowjetischen Machtzentrale mittteilt. Einem Gidaspov aber, der sich in den zwei Jahren seines Parteivorsitzes im Volksmund wegen eigener autoritärer Vorschläge zur Lösung der Krise den bissigen Beinamen „Gestapov“ einhandelte, darf man glauben, daß ohne ihn ein ernsthaftes Unternehmen zur Errichtung einer autoritären Notstandsdiktatur nicht über die Bühne gegangen wäre. Gidaspow war schließlich nicht einfach nur erster Parteisekretär Leningrads. Der Chefmanager der Rüstungsindustrie wurde zum ersten Parteisekretär Leningrads, und zwar ohne vorherige Parteilaufbahn auf Wunsch Gorbatschows, als es darum ging, die Partei von den politischen auf die wirtschaftlichen Kommandohöhen zu überführen. Man darf ihm also auch glauben, wenn er sagt:

Gidaspow:
„Seit Ende 1987, ’88, das ist die Etappe des progressiven Absturzes der nationalen Produktion, war klar: Eine Zwanzig Millionen Partei brauchte niemand mehr, vor allem weil die Partei auch nicht einheitlich war. Von Bolschewisten bis zu Leuten, die schon nicht einmal mehr Sozialdemokraten, sondern Liberaldemokraten oder so etwas Ähnliches sind, tat sich ein breites Spektrum auf. Es war klar,, daß diese Partei nicht führbar ist. Sie ist nicht lebensfähig. Was an diesen Tagen passiert ist, ist nur eine Illustration dafür.“

Erzähler:
Hellhörig muß auch machen, wenn selbst dieser Mann, der es wissen muß, auf die Frage, ob die KPdSU denn nun verboten sei oder nicht, nur die Antwort fand:

Gidaspov:
„Auf diese Frage kann ich selbst meinen engsten Mitarbeitern nicht antworten. Ich werde von vielen Parteimitarbeitern darüber befragt. Ich kann ihnen nichts sagen. Es gab diesen verfassungswidrigen und ungewöhnlichen Ukas über die „Einstellung der Tätigkeit“. Dafür gibt es in der Geschichte keine Präzedenzfälle. Ich kann mir nicht vorstellen und auch den Leuten nicht erklären, was das ist: „Einstellung der Tätigkeit“. Ich sehe das so: Man kann verbieten oder erlauben. Das sind die zwei Positionen. Aber „Einstellung“? Was ist das? Das Ziel ist aber erreicht: Beendigung der Arbeit, Beschlagnahmung der Existenzmittel der Partei. Dabei geht es nicht um das Politbüro. In Moskau reicht das Geld. Es geht um Omsk, Tomsk, Krasnojarst, Leningrad und andere Orte. Also, die Parteikommitees verlieren völlig ihre Macht. Was die Ukase weiter nach sich ziehen, kann man zur Zeit nicht sagen. Ich würde selbst gerne mehr wissen, wenn es möglich wäre. Aber das ist bisher nicht möglich. In diesem Ukas werden alle politischen Parteien und Gewerkschaften angesprochen. Es gab dann eine Nachberbesserung, daß er für die Gewerkschaften nicht gelte. Ich sehe auch, daß eine Reihe von Parteien unabhängig von dem Ukas weiter aktiv ist, auch die kommunistische Fraktion. Sie handeln absolut unabhängig. Leider kann ich auch auf diese Frage nicht befriedigend antworten. Oberflächlich lohnt es sich nicht. Ich muß selbst diese Sachen durchleben und durchdenken und sehen, was vor sich geht. Es ist natürlich ein Schlag gegen die riesige Staatsstruktur, die von der KPDSU gebildet wurde. Daß damit die mittlere Führungsebene verlorenging, das ist sicher. Die obere Ebene ist geblieben. Ich sehe dieselben alten Namen unter verschiedenen Dokumenten in verschiedenen Zusammenhängen. Die Leute sind alle geblieben. Ein früheres Politbüromitglied ist jetzt Mitglied des Politsowjets oder staatlicher Berater. Daß die alte Macht jetzt neue Möglichkeiten hat, das ist ein Fakt. Sie hat sich die Hände freigemacht. Das ist jetzt schon deutlich. Das ist natürlich keine Demokratie, wir sind zu autoritären Führungsmethoden zurückgekehrt. Es ist nur eine Umverteilung von einem Sessel in den anderen, die gleichen Leute mit neuen Funktionen. Der neue Gedanke ist nur, daß wir jetzt das Wort Privatbesitz aussprechen. Früher redeten wir von Kollektivbesitz, Pachtbesitz, Kooperativen. Das sind nur terminologischer Unterschiede. In Realita gab es keine großen Veränderungen.“

Erzähler:
Gidaspows Szenario für diesen Winter ist denkbar einfach:

Gidaspov:
„Es gibt zwei extreme Szenarien. Entweder Gorbatschow, Jelzin und Sotschak, erschaffen in den nächsten zwei, drei Monaten eine Machtstruktur, die fähig ist, wenigstens Russland vor dem Untergang, vor inneren Auseinandersetzungen, vor der Zerstörung der Wirtschaftsverbindungen zu bewahren. Diese Struktur muß durchdachte politische und wirtschaftliche Reformen von Anfang bis Ende durchführen. Das ist das, was ich unterstütze, wobei es mir gar nicht um ihre politischen Ansichten geht. Wenn dies nicht geschieht, wird es schlimm werden. Dann wird es einen Bürgerkrieg geben.“

Erzähler:
Juri Popovs Kritik an der neuen Macht mag man seinem rechten, Dimitris, Saschas, selbst Stanislavs einem extrem linken Blickwinkel zuschreiben. Selbst Daniil Granins Ängste vor einem möglichen sowjetischen Faschismus mag man noch als intellektuelle Hypersensibilität eines Schriftstellers abtun. Boris Gidaspov steigerte meine Einsicht, daß die Machtergreifung der Demokraten noch keine Demokratie ist, zu der Befürchtung, daß der entscheidende Machtumschwung in der UdSSR noch nicht stattgefunden hat, sondern erst noch bevorsteht. Ich gewann allerdings noch eine weitere Einsicht: Auch die von allen Seiten beschworene neue Opposition ist nicht nur eine Denkfigur unverbesserlicher rechter oder linker Sektierer. Sie formiert sich tatsächlich. So hatte mir Michail Nagaitzev, einer aus der Generation der neuen radikaldemokratischen Gewerkschaftssekretäre in Moskau, erklärt:

Nagaitzev:
„Als wir unsere Föderation gründeten, meinten wir, daß wir uns nicht mit Politik zu beschäftigen brauchten. Die Situation hat sich geändert. Wir sind zu der Erkentnis gekommen, daß die Gewerkschaften politische Strukturen brauchen, die unsere sozial-ökonomischen Interessen mit politischen Methoden gegenüber den neuen Machtorganen vertreten. Wenn man alles vor und nach dem Putsch summiert, dann stellt der 19. August wohl eine Grenze dar. Er hat dazu gezwungen, die Ereignissse zu beschleunigen. Es wurde vorgeschlagen, die nächsten Wahlen nach Parteienlisten durchzuführen. das würde heißen, daß die gewerkschaften außenvor bleiben., denn heute gibt es in Rußland keine Partei, die die Interessen der Arbeiter vertritt. Möglicherweise die Linken, aber sind sind keine große Gruppe. Vor zwei tagen gab es daher eine Versammlung der Initiativgruppen, die die Gründung einer „Partei der Arbeit“ unterstützen. Es wurde ein regionles Moskauer Organisationskomitee gewählt. Im November wird es vermutlich ernsthafte Streiks geben.“

Erzähler:
Das war im September. Am 23. Oktober konnte man, kaum zu finden, in unserer Presse die Meldung lesen, daß in Moskau mehr als 50.000 Menschen einem Aufruf der Gewerkschaften zu einer Demonstration gegen Inflation, gegen den Abbau der staatlichen Sozialleistungen und für die Freiheit der Opposition gefolgt seien. Es war die erste Demonstration dieser Art. Am 7. November, dem Jahrestag Tag der Oktoberrevolution von 1917, waren allein in Moskau 20.000 Menschen gegen die von Jelzin angekündigten Preiserhöhungen, gegen wilde Privatisierung und für die Aufhebung der Restriktionen gegen die KPdSU unterwegs. Die Polarisierung hat erst begonnen. Die Revolution, die von allen Seiten beschworen wurde, hat noch nicht stattgefunden. Sie steht erst bevor. Offen ist nur, ob sie weiter von oben kontrolliert werden kann oder ob sie sich der Kontrolle in schneller Radikalisierung entzieht. Perestroika ist keineswegs beendet. Sie hat erst begonnen.

Kai Ehlers

Von Kai Ehlers erschien soeben das Buch:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa“, Verlag am Galgenberg, September 1991, 19,80.

Wetter zieht auf – Kommt ein sowjetischer Pinochet? Bilanzen zur Perestroika

Vorlauf:
(Schlagzeilen der letzten Wochen, von verschiedenen SprecherInnen verlesen.)
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Tote in Wilna. Kämpfe in Georgien. Unruhen in Kasachstan.
Fünfzig- und Hundertrubelscheine entwertet. KGB zur Wirtschaftskontrolle ermächtigt. Doppelstreifen aus Militär und Polizei im zivilen Alltag eingeführt. Nationales Rettungskomitee für den Einsatz von Milizen eingerichtet. Zensur erneuert. Glasnost-Sendungen in TV und Radio abgesetzt. Verordnungskrieg Gorbatschows gegen Jelzin und die übrigen Republiken. Attacken der Ultrakonservativen unter dem Obristen Alksnis gegen Gorbatschow. Gorbatschow schweigt auf dem Plenum der KPdSU.

Erzähler:
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Kurswechsel im Kreml? Gesinnungswandel bei Gorbatschow? Perestroika gescheitert? Oder gelangt Perestroika jetzt erst an ihr eigentliches Ziel, wie der Historiker Juri Afanasjew, selbst Deputierter, vor der „überregionalen Abgeordnetengruppe“ des obesten Sowjet erklärte? Droht gar ein sowjetischer Pinochet, der die „neuen Kapitalisten“ mit einem ökonomischen Stabilitätsprogramm zu einem sowjetischen Wirtschaftswunder aufzupäppeln verspricht? Solche Befürchtungen waren aus dem Munde sowjetischer Oppositioneller inzwischen schon zu vernehmen. Wer sind die „neuen Kapitalisten?“ Wie realistisch sind solche Erwartungen?
Aus den Nachrichten der Stunde sind diese Fragen allein nicht zu beantworten. Schauen wir daher zurück.

Sprecher:
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April 1985: Unter dem Stichwort der „Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung“ präsentiert das turnusmäßig tagende Plenum der KPdSU einer aufmerkenden Öffentlichkeit im In- und Ausland ein gigantisches Modernisierungsprogramm. Atom-, Computer- und Biotechnologie sollen verstärkt ausgebaut, die übrige Produktion intensiviert, rationalisiert und effektiviert werden. Zur Jahrtausendwende soll der wissenschaftliche, technologische und soziale Vorsprung des Westens eingeholt, von diesem Zeitpunkt an überholt sein. Was die Welt aufmerken läßt: nicht der seit Jahrzehnten ritualisierte bürokratische Appell zu mehr sozialistischer Aufbauleistung, sondern die Aktivierung des Faktors Mensch, wie die neue Sprachregelung lautet, soll die Grundlage des geplanten Sprungs ins 2. Jahrtausend sein: Prestroika durch Glasnost, Wandel durch Demokratisierung.
Im Februar 1986 gibt der 27. Parteitag der KPdSU dem Programm die Weihe einer revolutionären Erneuerung des Sozialismus. Zugleich betont er den systemimmanenten Charakter der geplanten Reformen:

Offizielle Stimme:
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„Was verstehen wir unter einer Beschleunigung? In erster Linie geht es um die Temposteigerung beim Wirtschaftswachstum. Doch nicht nur darum. Ihr Wesen besteht in einer neuen Qualität des Wachstums: in der größtmöglichen Intensivierung der Produktion auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der strukturellen Umgestaltung der Wirtschaft, der Anwendung effektiver Formen der Leitung, der Arbeitsorganisation und Stimulierung.
Der Kurs auf die Beschleunigung läuft nicht (! – d.V.) auf Umgestaltungen im Wirtschaftsbereich hinaus. Er sieht vor, daß eine aktive Sozialpolitik betrieben und das Prinzip der sozialistischen Gerechtigkeit konsequent durchgesetzt wird. Die Beschleunigungsstrategie setzt Vervollkommnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Erneuerung der Arbeitsformen und -methoden der politischen und ideologischen Institutionen, Vertiefung der sozialistischen Demokratie und entschlossene Überwindung von Trägheit, Stagnation und Konservativismus, d.h. all dessen voraus, was den gesellschaftlichen Fortschritt hemmt.
Das Wichtigste, das uns den Erfolg zu sichern hat, ist das lebendige Schöpfertum der Massen, ist die maximale Nutzung der immensen Möglichkeiten und Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“

Sprecher:
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Während der Westen noch die ungewohnten Worte ‚Perestroika‘ und ‚glasnost‘ buchstabieren lernte, überschwemmte Gorbatschows Lieblingsparole `delo, delo, delo‘, etwa: `mach, mach, mach`, ‚Tat, Leistung, Verantwortung‘, bereits in Broschüren, auf Plakaten, Ansteckern und Versammlungen das Land. Gorbatschow verschwieg auch nicht, daß der Weg zum westlichen Lebensstandard über die Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten, möglicherweise gar durch eine vorübergehende Krise führen werde. Aber erst Tatjana Saslawskaja, Soziologin, Wegbereiterin der Perestroika noch vor Gorbatschows Berufung, danach vorübergehend in seinen engsten Beraterkreis aufgerückt, konfrontierte die sowjetische Öffentlichkeit in den Jahren ’87 und ’88 mit der häßlichen Seite der Perestroika. Gestützt auf umfangreiche statistische Daten und Meinungsumfragen zu den Ursachen und dem bisherigem Verlauf der Perestroika erklärte sie ungeschminkt:

Tatjana Saslawskaja:
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„Alle diese Ausführungen belegen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Spezialisierung und Vernetzung der Produktion dem Faktor Mensch in der Wirtschaft eine zunehmend zentrale Rolle zuweisen. Gleichzeitig aber sind die soziokulturellen Ansprüche der Arbeitskräfte gestiegen, während der Druck zur Arbeit nachgelassen hat. Deshalb wird die Steuerung der Arbeitskräfte immer schwieriger, oder, genauer gesagt, sie werden autoritären und bürokratischen Verwaltungsmethoden gegenüber unempfänglicher.“

Sprecher:
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Perestroika, so Frau Saslawskaja, werde deshalb zu einer „klaren Abgrenzung der gewissenhaften Arbeiter von den Schluderern“ führen. Überhaupt sei Perestroika keineswegs eine soziale Revolution, etwa der Arbeiter und Bauern gegen den Apparat, den Handel und das Dienstleistungsgewerbe. Dazu sei die Mehrheit der Bevölkerung weder bereit noch fähig. Perestroika ziele auf Aktivierung der qualifiziertesten Kräfte aller Klassen, Schichten und Gruppen, sei eine politische Revolution der demokratisch gesinnten gegen die rückständigen und reaktionären Teile des Volkes. Andererseits werde Perestroika die Lage der sozialen Gruppen zueinander grundlegend verändern, wobei die einen auf Kosten der anderen Vorteile erlangen würden. Die notwendige Rationalisierung werde zu Arbeitslosigkeit, vielleicht zu Massenelend führen. Nicht zuletzt Frauen mit Kleinkindern, Kranke, Alte, sowie, allgemeiner gesehen, schwächer entwickelte Teile der Union würden davon betroffen. Zwangsläufig, so Frau Saslawskaja, müsse man mit erheblichen sozialen Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Perestroika rechnen.

Tatjana Saslawskaja:
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„Das ist ein organisches Ergebnis der Umgestaltung, jener ’soziale Preis‘, den man für die beschleunigte sozial-ökonomische Entwicklung des Landes und die Überwindung seiner Rückständigkeit zahlen muß.“

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Erzähler:
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Spätestens mit Frau Saslawskajas Warnungen war das Dilemma der Perestroika öffentlich benannt: Die Katze sollte gewaschen werden, ohne sie naß zu machen. Die jahrzehntelange Gleichmacherei sollte aufgebrochen werden, aber ohne soziale Differenzierungen. Eine Revolution wurde propagiert, jedoch nur soweit es der Erneuerung der bestehenden Verhältnisse, letztlich natürlich der des Eigentums, dienen würde. Frau Saslawskaja empfahl die Ausarbeitung einer, wie sie es nannte, „Strategie der sozialen Leitung der Perestoika“, in der das Maß des unvermeidlichen sozialen Preises gegen die daraus entstehende Unruhe abgewogen werden müsse. Wer aber Objekt, wer Subjekt dieser Strategie sein sollte, darauf blieb die Theoretikerin die Antwort in ihrer Bilanz ebenso schuldig wie Gorbatschow zuvor in der Praxis. Was blieb, war der Aufruf der Reformer zur Demokratisierung und die Formel, ‚das Leben selbst‘ werde das richtige Maß herstellen.
Als ‚Neues Denken‘, ‚Glasnost‘, ‚Selbstverwaltung‘ eroberte die demokratische Seite der Perestroika, getragen von Gorbatschows Charisma, die Herzen der sowjetischen Intelligenz und, wie von Tatjana Saslawaskaja vorausgesehen, der aktiven Teile der arbeitenden Bevölkerung. Die sog. Informellen, bis dahin ausgeschlossen von politischer Gestaltung, stürzten sich auf die Vorbereitungen der Wahl zum obersten Sowjet. Als dieser im Sommer ’88 mit einem Achtungserfolg der demokratischen Kräfte konstituiert war, ging die Aufmerksamkeit und die Hoffnung der neuen Bewegung auf die unionsweit bevorstehenden Wahlen für die Republik- Stadt- und Bezirkssowjets über. Programmdebatten überschwemmten das Land. Die Kandidatensuche begann. Wer irgend verfügbar war, wurde zur Kandidatur überredet. Es galt, die neue Macht zu installieren. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.
Die ökonomischen Seite, die zunehmende soziale, bald auch nationale Differenzierung, der soziale Preis der Perestroika, wie es Tatjana Saslawskaja genannt hatte, rutschte ins Abseits der demokratischen Aufmerksamkeit, wurde in Statistiken, Kommissionen, theoretische Wettbewerbe, auf die Schreibtische der Bürokraten, letzlich also ins Belieben der nach wie vor im Hintergrund aktiven Vertreter der alten Macht verdrängt.

Sprecher:
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Im Sommer 1989 steht Leningrad im Fieber eines öffentlichen Wettbewerbs um „Chosraschott“, Eigenfinanzierung und Selbstverwaltung. Alle namhaften ökonomischen Institute sind mit detailliert ausgearbeiteten Strukturanalysen und Veränderungsvorschlägen beteiligt. Eine Gruppe um Alexandra Dimitriwa vom finanz-ökonomischen Institut, die ähnlich wie Tatjana Saslawskaja eine kritische, wenn auch jüngere Soziologengruppe repräsentiert, bringt die Vorstellung eines touristisch ausgerichteten Technopolis ins Spiel, das um Leningrad herum entstehen müsse. Politische Gruppen wie die radikaldemokratische Sammelbewegung „Volksfront“ wollen freie ökonomische Zonen entwickeln. Eine eher grün orientierte unabhängige Wissenschaftlergruppe fordert langfristige ökologische und ökonomische Normen, Limits und Quoten für den zukünftigen Umgang mit den Ressourcen. In einem sind sich alle Teilnehmer einig: Es muß dezentralisiert werden. Koste es, was es wolle. Die öffentliche Debatte darüber blüht. Wie dies aber verwirklicht werden soll, vor allem, was das für die Frage des Eigentums heißt, wird öffentlich nicht erörtert. Die Frage des Privateigentums an Produktionsmitteln bleibt tabu.
Im estländischen Tallin, von dem die Initiative für das Konzept der Selbstbewirtschaftung Mitte der 80er ausgegangen war, ist man zur selben Zeit von Konzepten der Eigenfinanzierung und Selbstverwaltung schon zur Befürwortung freien Unternehmertums übergegangen. Das führt auf der einen Seite zu harten Konfrontationen mit den Moskauer Monopolen. Dieselben Menschen, die im Namen der Perestroika gegen Moskau kämpfen, haben andererseits auf die Frage, wie nach Einführung privatkapitalistischer Bedingungen die soziale Gerechtigkeit hergestellt werden soll, keine Antwort. „Wir müssen den Menschen beibringen, hart zu arbeiten“, erklärt Arvo Kuddo Besuchern aus dem Westen, die ihn danach fragen. Im übrigen werde die Zukunft zeigen, was nötig ist. Arvo Kuddo ist inzwischen Sozialminister von Estland.
Der oberste Sowjet der Union befindet sich, kaum zusammengetreten, bereits in der ersten Phase seines Autoritätsverfalls: Während die wirtschaftliche Situation sich zusehends verschlechtert, die Bevölkerung sich auf einen bevorstehenden Krisenwinter einstellt, die soziale und nationale Differenzierung der Union voranschreitet, liefern sich die frischgebackenen Abgeordneten prinzipialistische Redeschlachten über die Frage der gleichberechtigten Zulassung unterschiedlicher Eigentumsformen neben dem sog. sozialistischen, d.h. dem Staatseigentum. Entscheidungen werden nicht getroffen. Stattdessen werden z.B. Verordnungen verabschiedet, die die zuvor propagierten Freiheiten für private unternehmerische Initiative steuerrechtlich soweit einschränken, daß solche Initiativen praktisch in die Illegalität, mindestens aber in die Halblegalität oder – im Fall privater Bauernwirtschaft – unter die Rentabilitätsgrenze abgedrängt, wenn nicht in vielen Fällen sogar einfach erdrosselt werden.
Die steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst den Rechten zu. Sie machen Gorbatschow für die Krise verantwortlich. Organisationen wie die „Front der Werktätigen“, russisches Kürzel: OFT, und verschiedene Gruppierungen der nationalistischen „Pamjat“-Bewegung agitieren heftig gegen „Neue Kapitalisten“, gegen den „Ausverkauf an den Westen“, gegen die „zionistisch-kosmopolitische Verschwörung“ usw. Noch aber stehen sie im Schatten der bevorstehenden Kommunalwahlen, in denen die demokratische Bewegung nach allgemeiner Meinung zu ihrer eigentlichen Bewährungsprobe antreten soll.

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Erzähler:
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Im Herbst ’89 konnte man allerdings auch schon andere Stimmen hören. Immer mehr Menschen warnten vor einer Zuspitzung der Krise nach Art der Weimarer Republik. Andere befürchteten einen Bürgerkrieg wie zu Zeiten der Bolschewiki. Eine gemeinsame Front gegen die Gefahr kam allerdings noch nicht zustande. Zu unterschiedlich waren die praktischen Konsequenzen.

Sprecher:
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Da ist zum Beispiel Lena Zelinski, Lehrerin, langjährige Dissidentin, Perestroika-Aktivistin der ersten Stunde. 1987 hatte sie ihre Aktivitäten noch voll auf die bevorstehende Wahl zum obersten Sowjet konzentriert. Im Sommer ’89 nahm sie an einem Managerseminar in den USA teil. Im Herbst ’89 stellte sie ihre neugegründete Agentur für Wirtschaftsnachrichten, ‚postfaktum‘, der sowjetischen Öffentlichkeit vor. Nach Gründen für diese Wandlung befragt, antwortete sie:

Lena Zelinski:
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„Wir wollen eine Managerschule eröffnen. Das Land braucht professionelle Manager. Nur so werden wir imstande sein, die Mißwirtschaft und die Desorganisation des alten Systems zu überwinden. Nur so werden wir die erste kriminelle Welle von Kooperativen durch tatsächliche neue Unternehmen verdrängen können. Es gibt ja bei uns kein gewachsenes unternehmerisches Know how. Wenn wir es nicht schaffen, eine Schicht professioneller Manager auszubilden, wird sich nichts weiter als eine Erneuerung des alten Sumpfes herstellen – Kommandoallüren, Schlamperei, Mafia. Die alten Bürokraten werden mit den neuen Reichen kungeln. Die Zeit der schönen Worte ist vorbei. Man muß Gorbatschow gegen die Roll-back-Versuche der rechten, aber auch gegen die provokative Prinzipienreiterei der Linken unterstützen. Die realistischen Kräfte müssen jetzt von der Politik zu ökonomischen Fragen kommen, sonst geht die Krise in einen Zusammenbruch über, der schlimmer wird als vorher. Das wäre die Stunde einer neuen Dikatur, egal ob von links oder rechts.“

Sprecher:
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Als geradezu prophetisch könnte sich das Bild erweisen, das Ekaterina Podoltsewa, ideologischer Kopf der Leningrader Gruppe der „Demokratischen Union“ zu der Zeit entwarf. Die „Demokratische Union“ war die erste politische Gruppe, die einen Parteianspruch außerhalb der KPdSU stellte. Ihr Motto ‚Stroika statt Perestroika‘, Aufbau statt Umbau, Demokratisierung, statt Liberalisierung und ein entschiedener Aktivismus auf dieser Linie hat dieser Gruppe in der sowjetischen den Opposition den Vorwurf des Linksradikalismus eingetragen.

Ekaterina Podoltsewa:
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„Wir werden uns an den bevorstehenden Wahlen nicht beteiligen. Eine Beteiligung daran schafft nur Illusionen über die angebliche Demokratisierung. Sie verbraucht die geringen Kräfte der Opposition und lenkt von der Notwendigkeit der grundsätzlichen Umwälzung des totalitären Systems ab. Um die Krise überwinden zu können, brauchen wir jetzt eine verfassungsgebende Versammlung, eine Regierung und ein Parlament, die vom Volk gewählt werden müssen. Ich weiß natürlich, daß das unmöglich ist. Die Inflation wird steigen. Die Leute werden in Panik geraten. Die Kriminalität wird wachsen. Die Regierung wird gebeten werden, den Notstand auszurufen. Gorbatschow wird Diktator sein, aber nicht durch Umsturz, sondern durch legale Ermächtigung. Die Leute werden ihm sogar dankbar sein, daß er die Ordnung wiederherstellt und der Westen wird ihm Kredite geben.
Der Westen glaubt an demokratische Massenproteste in der UdSSR. Bei uns hat man Angst vor einer Explosion des Bürgerkriegs. Wir haben Angst vor Verbrechern, die ihre Gewehre nehmen. Früher gab es hier revolutionäre Kämpfe. Heute, glaube ich, ist hier ein revolutionärer Bürgerkrieg unmöglich. Es wird nur die Kriminalität anwachsen, irgendetwas Grauenhaftes wird geschehen. Ich glaube, daß Gorbatschow auf 15 braune Republiken zusteuert. Schauen Sie sich die Propaganda an. Schauen Sie sich die Lage in den Republiken an. Gorbatschow wird einen eigenen Weg der baltischen Länder nicht zulassen.“

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Erzähler:
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Im Sommer 1990, nach der Wahl, war die Desillusionierung allgemein. Zwar zog die Wahlbewegung gegen heftigen Widerstand der konservativen Kräfte, insbesondere der KPdSU, als neue Macht in die Rathäuser Moskaus, Leningrads, Kiews, der baltischen Hauptstädte sowie vieler kleinerer Orte ein. In rückständigeren Landesteilen konnte sie mindestens ihre Position als legale Opposition ausbauen. Ihr Machtantritt offenbarte aber zugleich ihre Machtlosigkeit. Die Bevölkerung entdeckte die Grenzen der neuen Macht. Die neue Macht begann die Grenzen der Demokratisierung zu entdecken. Die ökonomische Frage rückte ins Zentrum. Wachsende Unsicherheit über den sozialen Preis der weiteren Entwicklung und darüber, wer ihn zu zahlen haben würde, erfaßte das Land.

Sprecher:
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Hören wir z..B. Wladimir Sagowski, Jude, früher journalistischer Gelegenheitsarbeiter, einer von denen, die zu den Gewinnern der Perestroika zählen. Seit Ende ’89 ist er Coach und Vizepräsident des „Tennisklubs auf der Burevestnik“, einer Kooperative. Der Klub ist heute eine der bekanntesten Adressen unter den Sportfans Leningrads. Wladimir verdient gut, hat eine angenehme Arbeit in angenehmer Umgebung. Er könnte zufrieden sein. Aber bei ihm klingt es wie bei allen, die man in diesen Tagen befragt:

Wladimir Sagowski:
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„Einerseits ist alles in Ordnung. Ich kann normal leben, sogar besser als früher. Andererseits – die wachsenden sozialen Spannungen! Keiner weiß, wo das enden wird. Es sind ja letztlich nur Wenige, die eine Chance haben, noch Wenigere, die sie auch ergreifen. Viele sinken durch Perestroika noch weiter ins Elend als in den Jahren zuvor.“

Sprecher:
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Wie um sich selbst zu beschwören, wiederholt Wladimir immer aufs Neue das Wort: „talantliwi ludi“, „begabte Leute“. „Begabte Leute“ seien früher niedergehalten worden. Ohne „begabte Leute“, die ihre Chance wahrnähmen, gebe es keinen Fortschritt. Perestroika sei diese Chance gewesen. Die einfachen Leute aber, die von Perestroika keine Vorteile hätten, sondern immer noch zu denselben, z. T. sogar schlechteren Bedingungen arbeiten müßten, entwickelten einen wachsenden Haß gegen die „Konjunkturschiks“, die Nutznieder der Perestroika: Intellekturelle, Künstler, Kooperativen.

Wladimir Sagorski:
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„Die OFT, Pamjat und andere schüren diesen Haß. Sie versuchen ihn auf die Juden zu lenken. Sie sagen, es seien die Juden, die den Westwind nutzten, die privatisieren und Geld machen wollten – während die Russen in der Fabrik und auf der Sowchose schuften müßten. Die Juden werden als Sündenböcke aufgebaut. Im Grunde aber zielt der Haß der Leute, den Pamjats, OFT und andere zu schüren versuchen, nicht nur auf die Juden, sondern auf die ganze neue Schicht der ‚begabten Leute‘, die ihre Chance wahrnehmen wollen.
Wenn Juden heute auswandern, dann nicht wegen eines akuten Antisemitismus. Der ist nicht schlimmer als früher, ist eher zurückgegangen. Immerhin können Juden jetzt auswandern, Klubs bilden, Judenschulen eröffnen. Die aktuelle Besserstellung gegenüber anderen, die das Land nicht verlassen dürfen, ist im Gegenteil sogar ein Grund für die Stimmung gegen sie. Hauptgrund für die Auswanderung ist der Wunsch, ein besseres Leben zu führen, die eigenen Fähigkeiten besser zu verwirklichen und den Kindern ein chancenreicheres Leben zu ermöglichen. Immer weniger Menschen glauben, daß das bei uns noch möglich ist, nachdem Perestroika anfangs Hoffnungen geweckt hat. Unbestreitbar nimmt auch die Angst vor Pogromen zu. Aber nicht wegen aktueller Übergriffe. Es ist die Angst, daß die Krise wie damals in Deutschland zur Diktatur führt und es im Zusammenhang damit zu rassistischen Ausschreitungen kommt. Das kann durchaus sein. Ich kann die Leute, die gehen wollen, sehr gut verstehen. Aber ich fühle mich als Russe. Da ich neben meinem Job hier auch als Journalist weiter arbeiten will, bin ich zudem darauf angewiesen, in dem Land zu leben, in dessen Sprache und Kultur ich zuhause bin. Ich werde meine Chance weiter hier suchen, auch wenn ich die Zukunft eher düster sehe.“

Sprecher:
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Lena B. ist Gewerkschaftsfunktionärin. Sie arbeitet in einem Computerbetrieb. Mit etwas über 300 Rubeln im Monat gehört sie schon zu den besseren Verdienerinnen, wenn auch nicht zu den ökonomischen Nutznießern der Perestroika. Sie teilt sich eine Zweizimmerwohnung und eine kleine Datscha mit ihrer Mutter. Lena hat selbstverständlich demokratische Kandidaten gewählt. Im Winter 89/90 machte sie die erste Westreise ihres Lebens. Vieles hat sich verändert, findet sie. Glasnost und die neuen Freiheiten möchte sie nicht missen. Auch Lena klagt über die neuen Ungerechtigkeiten.

Lena B:
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„Es gibt Leute, bei denen sammelt sich inzwischen viel Geld. Stimmt. Aber allgemein ist es Quatsch, wenn die Regierung behauptet, die Menschen hätten zu viel Geld. Die Mehrheit verdient nicht mehr als früher, obwohl viele mehr arbeiten. Der Durchschnitt liegt immer noch bei 250 Rubel per Monat. Das ist die offizielle Zahl. In Wirklichkeit ist sie noch zu hoch angesetzt, weil da auch die hohen Gehälter mitgerechnet werden. Viele Frauen verdienen, obwohl sie voll im Beruf stehen, nicht mehr als 100, 120 oder 150 Rubel. Schau mich an! Ich bin Spezialistin! Aber auch bei mir sammelt sich nichts. Umgekehrt: das Geld ist jeden Tag weniger wert. Die Menschen werden allmählich sauer. Nach 5 Jahren Perestroika wird das Leben immer schwieriger. Nimm auch jetzt die Einrichtung der Valutaläden: Wer kann da kaufen? Die einfachen Leute nicht. Sie haben keine Valuta. Leute wie ich auch nicht. Spekulanten sammeln sich dort, Leute, die sich auf dunklen Wegen Valuta besorgen. Sie kaufen dort – und werden dann teuer weiterverkaufen. Alles auf Kosten der kleinen Verdiener. Die Mehrheit hat aus solchen Gründen Angst vor der Einführung des privaten Eigentums. Ich selbst übrigens auch. Die damit verbundene soziale Ungerechtigkeit ist groß. Es gibt bei uns kein soziales Netz, das die Absteiger affängt. In Zukunft wird es bei uns heißen: Jeder ist sich selbst der nächste! Egoismus statt Kollektivismus! Die schlechten Seiten beider Systeme werden sich zu einer Wolfsgesellschaft addieren.“

Sprecher:
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Lena ist kein Parteimitglied. Sie haßt die Partei. Sie haßt auch die OFT wie überhaupt alle, die von einer Erneuerung des Sozialismus sprechen. Der habe sich gründlich verbraucht, findet sie. Aber sie verteidigt tapfer seinen sozialen Anspruch. Wofür brauchen wir neue Millionäre, schimpft sie. Sie finde es richtig, wenn das Volkseinkommen mäßig, dafür aber gleichmäßig allen zugute komme. Sie wisse ja, daß dieses Bild für die zurückliegenden Jahre der UdSSR nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme, aber die beginnende Individualisierung, der Verlust aller Werte, die früher etwas gezählt hätten, insgesamt die absehbare Brutaliserung sei schrecklich. Kein Wunder, daß Gruppen wie „Pamjat“ oder „OFT“ mit Parolen gegen das Privateigentum Gehör bei den Massen fänden. Wenn die Krise sich weiter so zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung entwickle, sei zu befürchten, daß die „Bewegung gegen die westliche Degeneration“, wie sie sich auch nenne, weiteren Zulauf bekomme. Im Moment sei es ja ruhig um diese Gruppen geworden, nachdem sich im letzten Sommer große Proteste gegen sie erhoben hätten. Man höre jetzt kaum noch etwas von ihnen. Überhaupt herrsche nach den Kommunalwahlen vom Frühjahr Ruhe vor dem Sturm.

Lena B:
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„Die Leute warten ab, was die neuen Sowjets bringen. Viel wird es nicht sein. Zu viele Programme, zu wenig Taten. Überall gibt es Probleme. Der Apparat stellt sich quer. Viele reden deshalb von Doppelherrschaft. So wie in Polen mit der Solidarnosc‘. Aber davon sind wir weit entfernt, glaube ich. In Wirklichkeit haben die Sowjets kaum konkrete Macht. Der Apparat ist noch nicht gebrochen. Sie haben noch alles, Partei, KGB usw., du verstehst?! Zum Fürchten war der Auftritt der Militärs beim russischen Parteitag. Sie haben offen mit der Militärdiktatur gedroht! Im Winter kann alles ganz anders aussehen. Bängstigend! Aber was soll man machen! Stoßen wir an! Wir sowjetischen Menschen haben gelernt, auch in den ausssichtslosesten Lagen zu lachen. Der Zarismus, die 70 Jahre Geschichte unseres Sozialismus haben das so mit sich gebracht. Auf die Zukunft! Wir werden es überleben. Wir geben die Hoffnung nicht auf.“

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Erzähler:
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Einer der neuen Hoffnungsträger, ein typischer Vertreter der neuen Macht, begegnet uns in der Person von Alfred Koch. Alfred Koch ist seit den Wahlen des Frühjahrs ’90 Bürgermeister von Sestrorjetzk, einem Städtchen dreißig Kilometer nördlich von Leningrad. Ich traf ihn durch Vermittlung eines langjährigen Freundes, dem er einen Platz für das Begräbnis von dessen Mutter auf einem der schönen Waldfriedhöfe des Sestrorjezker Rayons vermittelt hatte. Man muß wissen: ein Friedhofsplatz nach eigener Wahl ist heute in einer Stadt wie Leningrad fast noch schwerer als eine Wohnung zu finden. Die Bestattungsbürokratie ist überlastet – und im Übrigen genau wie das ganze Land im Umbruch. Die Norm ist Verbrennung. Makaber zu sagen, aber auch auf die endgültige Abfertigung muß der durchschnittliche Sowjetbürger noch in der Schlange warten. Bis zur Verbrennung, nicht selten über Wochen, werden die Leichen in der Kühlhalle aufbewahrt. Der Urnenplatz wird zugewiesen. Wer diese Routine mit Erdbegräbnis, Wunsch nach selbstbestimmten Grabplatz usw. durchbrechen möchte, muß Verbindungen spielen lassen und zahlen.
Solch ein Mensch ist Alfred Koch: Er kümmert sich selbst um die Sorgen der Sestrorjezker, „meiner Leute“, wie er sie nennt. Am zweiten Tag unserer Begegnung konnte ich ihn in seinem Amtssitz eine Bahnstunde außerhalb Leningrads dabei erleben, wie er seine wöchentliche Petitionsstunde abhielt. Gut zwanzig Mütterchen, aber auch gestandene Männer und erwachsene Frauen drängten sich durch das enge Vorzimmer. Namentlich aufgerufen, traten sie einzeln vor seinen Schreibtisch, unsicher, verlegen, manche vor Kummer oder Rührung weinend. Alfred Koch hörte sich ihren Kummer an: Klagen über barbarische Wohnverhältnisse, Willkür mittlerer Bürokraten, Streitfälle um Grenzsteine. Er fragte nach, notierte, versprach Bearbeitung, ließ Dankesbeteuerungen über sich ergehen. Souverän. Gleichbleibend freundlich.
Mit einem der Petitenden führte er ein längeres Gespräch. Der Mann beklagte sich, daß notwendige Baumaßnahmen an dem Garten- und Hotelbetrieb, den er leite, von der Kommune immer wieder verschoben würden, obwohl der Betrieb mit wenig Investitionen profitabel gemacht werden könnte. Alfred Koch schlug ihm vor, die Sache mit einer Kooperative selbst in die Hand zu nehmen. Er selbst werde sich um den notwendigen Kredit für ihn bemühen. Sichtlich beindruckt verließ der so Angesprochene nach einem langen Händeschütteln den Raum.
Wenn die Frage des Privateigentums im obersten Sowjet nicht entschieden werde, erklärte mir Alfred Koch, dann müse man eben an der Basis beginnen. In „seinem“ Bezirk habe er seit seinem Amtsantritt jede private Initiative ermundert. Morgen werde er eine Verordnung zur Legitimierung von Privateigentum für den Geltungsbereich seines Bezirks erlassen.

Sprecher:
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Alfred Radolfowitsch Koch ist 28 Jahre alt. Er entstammt einer deutschen Familie aus Kasachstan. Er ist verheiratet und Vater einer zehnjährigen Tochter. Er absolvierte ein Studium als Ökonom am Finanz-ökonomischen Institut in Leningrad, das er mit 26 als Doktor der Ökonomie abschloß. Anschließend schlug er sich zwei Jahre als Lehrer in diesem Fach durch. Im Frühjahr, erzählt er, als er soeben mit dem Gedanken gespielt habe, in den Westen zu emigrieren, sei er über die Anzeige des neugewählten Sestrorjezker Sowjets in der Tagespresse gestolpert. Dort war man auf der Suche nach einem neuen Bürgermeister. Alfred sandte ein Konzept ein und wurde von der Findungskommission des neuen örtlichen Sowjets unter sechs Bewerbern zum neuen Bürgermeister von Sestrorjezk gekürt. Seitdem pendelt Alfred täglich zwischen seinem durch Bretterwände unterteilten Zimmer in einer kommunalen Wohnung in der Leningrader Innenstand und dem pompösen Amtssitz am Sestrorjezker See hin und her. In Zimmer seines kommunalen Quartiers, wo er mit Frau und Tochter mehr haust als wohnt, ist er von Alkoholismus, Dreck und Elend eingekreist. Vom Schreibtisch seines Amtszimmers aus, von dem er das gegenüberligende das Ende des Raumes kaum noch erkennen kann, regiert er über mehr als 30.000 Seelen eines Kur- und Wohngebietes, das sich vom nördlichen Vorstadtrand Leningrads mehr als hundert Kilometer an der Küste des finnischen Meerbusens hinaufzieht. Alfred Kochs Credo ist einfach:

Alfred Koch:
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In fünf Jahren will ich es geschafft haben. Dann soll mein Bezirk zu einem blühenden Erholungs- und vorbildlichen Wohngebiet geworden sein.  Dafür brauche ich Hotels, profitable Großunternehmen und die Befreiung der privaten Initiative. Von der Stadt brauche ich Kredite, um selbst Kredite geben zu können. Übrigens baue ich selbst schon seit einiger Zeit an einem kleinen Haus hier draußen, in dem wir hoffentlich bald leben können. Programmatische Versprechungen habe ich nicht gemacht. Ich halte nichts von Politik. Programme interessieren mich nicht. Meine Verhandlungsebene ist der Stadtrat, nicht der Sowjet, nicht die Presse. Bürgermeister zu Bürgermeister, das ist die Ebene, Sobtschak in Leningrad, ich hier. Zwischenebenen versuche ich zu umgehen. Ich will mich nicht aufhalten lassen. Wenn du alle fragst, kannst du es keinem recht machen. Wenn ich hier im Rat frage: Wollt ihr ein Hotel haben? Dann rufen alle, ja! Wenn ich dann anfangen will zu bauen, sagen sie: Bei uns aber nicht. So geht das hin und her und es geschieht nichts. Ich will etwas Konkretes machen, damit unser Leben besser wird. Ich bin Praktiker. Die anderen können meinetwegen reden. Deswegen habe ich das Rennen hier wohl auch gewonnen. Ich habe nur gesagt: Gebt mir fünf Jahre. Wenn es dann besser geworden ist, ist es gut. Dann stelle ich diesen Posten zur Verfügung. Ich will dann ins Bankgeschäft wechseln. Wenn es am Ende der fünf Jahre nicht besser geworden ist, haben wir sowieso eine andere Situation. Darüber denke ich jetzt nicht nach.“

Erzähler:
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Alfred Radolfowitsch dachte natürlich doch darüber nach: Was ich denn von dem zaristischen Minister Stolypin halte, wollte er wissen, als wir uns nach der Petitionsstunde, die in ungeheizten Räumen stattgefunden hatte, in seinem Arbeitszimmer bei einem Tee wärmten. Mit von der Partie war inzwischen Anatol Kriwentschenko, der neue Präsident des frischgewählten Sowjets von Sestrorjezk, Alfred Kochs demokratischer Auftraggeber gewissermaßen. Ob ich der Meinung sei, so Alfred weiter, daß Stolypin ein Reaktionär sei, nur weil er die radikalen Schwätzer erschossen habe? Nur gegen den Widerstand von rechts wie links habe er die Landreform damals schließlich durchsetzen können. Anatol Kriwitschenko nickte beifällig. Ich wollte gerade den sog. Stlypinschen Kragen erwähnen, wie man zu Zeiten dieses Ministers den Henkerstrick im Volk nannte. Da hatte Alfred schon nachgesetzt. Und Pinochet? Wie man im Westen zu Pinochet stehe?! Der habe ja auch für die Freiheit unternehmerischer Initiative gesorgt. Dies sei letzendlich die wichtigste Freiheit! Nur wenn die Freiheit der privaten unternehmerischen Initiative durch Anerkennung des Privateigentums gewährt und gegen linke wie rechte Varianten, notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werde, sei ein besseres Leben in der Sowjetunion zu erreichen. Alles andere sei nur Geschwätz und Gedröhn. Wenn Bürgerkrieg ausbreche, dann um diese Frage. Um diese Frage gruppierten sich gegenwärtig die Kräfte. Auf der einen Seite an erster Stelle das Militär, dann die Monopole, dann die Partei. Auf der anderen Seite die Pragmatiker der neuen Macht, neue Unternehmer, die nach Selbsständigkeit strebenden Republiken usw. Das „usw.“ blieb leider im Dunkeln. Ich konnte es auch bei weiteren Gesprächen nicht klären.

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Erzähler:
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Alfred Kochs unverhoffte Offenbarungen trieben mich zu meinen bewährten Adressen in der demokratischen Szene, die ich noch vom letzten Jahr kannte. Ich hoffte auf eine Relativierung, mindestens aber auf Erklärungen. Erklärungen fanden sich. Aber sie fielen nicht minder alarmierend aus als Alfred Kochs Offenbarung.
Die erste Lektion kam von Lena Zelinksi. Ich traf sie in großer Hektik: Versuche des Stadtsowjets, sich in die Verfahren der Bezirke zur Zulassung von privaten Unternehmungen einzumischen, müßten zurückgekämpft werden. Alte und neue Macht versuchten gemeinsam, den Prozess durch Gerede von oben zu ersticken. Man müsse die Initiative an die Verwaltungsorgane der Bezirke verlagern. Vor Ort müßten unwiderrufbare Entscheidungen getroffen werden… Lena Hörte zunächst gar nicht, was ich sie fragte. Dann erklärte sie sehr bestimmt:

Lena Zelinski:
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„Das Leben selbst schreibt diese Gesetze. Ich kann diese westlichen sozialistischen Ideen nicht mehr hören. Sie sind gut für’s Dessert. Wir hier sind aber noch nicht soweit. Wir fangen erst an. Die Hauptmahlzeit ist noch nicht einmal aufgetragen. Wir leben in einem anderen Jahrhundert, in einer anderen Welt: Sie leben am Ende des Kapitalismus, wir am Anfang. Wir haben jetzt nur ein einziges Ziel: Wir wollen, daß es uns besser geht. Wir wollen den Kapitalismus einführen. Dieser Prozess ist unvermeidlich. Das bedeutet soziale Differenzierung. Wer etwas leistet, soll besser leben. Das ist natürlich und unvermeidlich. Anders werden wir nicht aus der Misere herauskommen. Vielleicht später, vielleicht nach dreißig, vierzig Jahren können auch wir uns einmal solche feinsinnigen Fragen leisten wie Sie. Wir leben in Asien. Sie leben in Europa. Das ist die Wirklichkeit. Andere Zeiten. Andere Welten. Schauen Sie sich den Konflikt zwischen Irak und Kuweit an. Wieder eine andere Zeit! Auch das ist uns näher als Ihnen. Gehen Sie nach Afrika, wo Menschen soeben aus der Vorzivilisation kommen. Versuchen Sie, Ihnen Ihre europäischen sozialen Ideen zu erklären. Schluß mit diesem europäischen Gerede vom Sozialismus! Bei uns muß erst einmal der Kapitalismus nachgeholt werden. Dann können wir weiter sehen.“

Erzähler:
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In Tallin war es Sulev Mäeltsemees, Ökonom, Vizedirektor der Akademie der Wissenschaften Estlands, der zur meiner weiteren Ernüchterung beitrug. Sulev ist einer der Urheber des marktwirtschaftlichen Selbsverwaltungskonzepts Estlands und in dieser Funktion seit Jahren als Berater der estnischen Regierung tätig. Nach der Wahl im Frühjahr zog er zudem als Abgeordneter in den Talliner Stadtsowjet ein:

Sulev Mäeltsemees:
——————
„Was letztes Jahr noch eine theoretische Frage war, die soziale Gerechtigkeit bei der Einführung des Marktes, ist jetzt ein praktisches Problem, das uns schwere Sorgen macht. Wir haben bei uns jetzt mit den Preiserhöhungen begonnen. Die Preise werden um das Drei-, Vier und Mehrfache steigen, zum Teil sind sie es schon. Wir haben es so gestaffelt, daß die Güter des täglichen Bedarfs möglichst wenig steigen. Aber das klappt nicht so, wie wir wollen. Die Produkte verschwinden einfach vom Markt und werden dann doch teuer verkauft. Wir müßten die Löhne anheben. Aber das können wir nicht einfach beschließen. So sinkt das Realeinkommen der Bevölkerung rapide. Es trifft natürlich vor allem die Ärmsten der Armen, Rentner, Kinderreiche, Studenten, Einkommenslose. Für diese Gruppe haben wir jetzt eine Kompensation beschlossen, 15 Rubel pro Person. Aber das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Bevölkerung ist unruhig. Kommt hinzu, daß die Umstellung auf die Selbstverwaltung nicht klappt. Unsere Leute sind es einfach nicht gewohnt, selbst Verantwortung zu übernehmen. Viele Sachen, die unbedingt geregelt werden müßten, bleiben zwischen den Ebenen hängen. Ganz zu schweigen davon, daß bei uns niemand weiß, ob Unions- oder Republikgesetze gelten, ja nicht einmal, welche Gesetze der Republik. Praktisch heißt das, daß wir völlig außerstande sind, die Umwandlung von der Planbewirtschaftung auf Marktwirtschaft auch nur annähernd zu kontrollieren. Es ist ein chaotischer Prozess, bei dem sich einige wenige auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Wir können nichts machen. Das ist ein schweres Problem. Wir wir wissen nicht, wie das weitergehen soll. Die Bevölkerung wird unruhig. Wir haben nur Glück, daß wir in „Moskau“ einen gemeinsamen Gegner haben. Das hält uns trotz allem zusammen.“

Erzähler:
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Einsicht in das volle Ausmaß der Desillusionierung eröffnete mir Oxana Dimitriwa. Ihr Technopolis-Konzept sei inzwischen als Buch erschienen, erklärte sie, aber niemand handle danach. Heute werde das Konzept der „freien Zonen“ verfolgt. In der Praxis bedeute das aber nur, daß jetzt der Willkür persönlicher Bereicherung Tür und Tor geöffnet werde. Gestützt auf neues statistisches Material und auf Erfahrungen aus den unternehmensberaterischen Tätigkeiten des Instituts, zieht sie eine vernichtende Bilanz der Perestroika:

Oxana Dimitriwa:
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„Nicht eine neue Klasse fähiger Manager ist entstanden, sondern die alten Apparatschiks haben sich an neuen Posten eingerichtet. Sie haben die Entwicklung der Kooperativbewegung nicht zugelassen, sondern sie durch Steuergesetze und anderes in die Illegalität oder auf kleine Dienstleistungen abgedrängt. Nicht die Talentiertesten, sondern die Anpassungsfähigsten sind so nach oben gekommen. Das früher ja immerhin noch vorhandene industrielle know how der Staatsbetriebe ist auf das Niveau von Kooperativen abgesunken. Niemand verwertet alte Erfahrungen. Die neuen Leute in den Verwaltungen fragen die alten nicht. Die alten machen stille Sabotage. Nirgendwo wird richtig gearbeitet. Die Produktion steht praktisch still. Die Joint ventures produzieren ja nichts, ebensowenig wie die meisten Kooperativen. Sie verkaufen nur die natürlichen Ressourcen. Unsere Leute haben ja nicht das Bewußtsein von Kapitalisten, sondern das von primitiven Bürokraten, die nicht weiter als von hier nach jetzt denken. Das Ergebnis wird schlimmer als der englische Kapitalismus damals. Dort war das Kapital über Jahrhunderte gewachsen. In unserem Land hat es nie Kapital gegeben. Eigentum war entweder Geschenk oder Raub. Die forcierte Privatisierung, die jetzt als Ausweg beschritten werden soll, wird die Krise zum Chaos steigern. Leute mit mangelnder Kompetenz werden an die Spitze kommen. Bald wird es hier zwei Klassen geben: Unkompetente Besitzer und Spezialisten, die für sie arbeiten. Wer hält das aus? Die guten Leute werden alle in den Westen gehen. Meine ganze Generation, alle, die jetzt aufgewacht sind, aber jetzt keine Chance mehr sehen, schauen nach Westen. Das ist der Ruin des Landes. Das wird ein Exodus unserer intellektuellen Kapazitäten. Ökonomisch läuft das Ganze natürlich auf einen Ausverkauf an den Westen hinaus. Eine Katastrophe! Da haben die OFT und andere ganz recht. Aber auch die rechnen wohl vergebens mit Widerstand aus der Bevölkerung. Die russischen Menschen halten alles aus. Nach fünf Jahren Perestroika sind die Menschen außerdem müde. Das ist die beste Situation für einen Staatsstreich.“

Erzähler:
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Eine einzige Hoffnung, schloß Oxana Dimitriwa, habe sie noch: Jelzin! Wenn Rußland sich auf sich selbst besinnen würde, statt darauf, Klammer für die Union sein zu müssen, könne das ein mächtiger Impuls sein. Erklärend setzte sie hinzu:

Oxana Dimitriwa:
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„Das ist keine Position von Blut und Boden wie die unserer vaterländischen Gruppen. Das ist eine rein ökonomische Position. Rußland erstickt einfach an den Folgen seines eigenen Imperialismus. Wir haben ja nicht nur die besten Leute exportiert. Wir importierten auch alle Probleme und konzentrierten sie bei uns. Ungefähr 70% der Schwerindustrie der Union liegt im zentralrussischen Raum, damit natürlich auch deren soziale und ökologische Folgen. Die Mehrzahl der Atomkraftwerke steht bei uns. Die Mehrzahl der Streiks findet bei uns statt. Die Zerstörung der ländlichen Infrastrukturen ist bei uns am weitesten vorangeschritten. Wenn Rußland sich von seiner imperialen Rolle nicht befreit, wird auch die Union nicht befreit werden können.“

*

Erzähler:
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In Moskau steigerte sich die Kritik an der Ohnmacht der neuen Macht im Herbst ’90 bis zur Aufkündigung des demokratischen Konsenses. Moskau präsentierte sich wie das Auge eines Taifuns: Windstille im Herzen des Chaos! Im Zentrum der Macht gab es nur noch ein Thema: die Ohnmacht des Zentrums! Die Kritik an der demokratischen Macht, die in Leningrad, Tallin und anderen Orten der Union, selbst in Sestrorjezk noch gemildert wird durch reale Konflikte mit Moskau, fand in Moskau nur noch einen einzigen Ausdruck: „silna ruka“, eine „starke Hand“ müsse her!
Nehmen wir das „dom literaterow“, „Haus der Dichter“, politisches Zentrum des russischen Schrifstellerverbandes. Der russische Schriftstellerverband ist, wie bei solchen Organisationen in der UdSSR üblich, das organisatorische und ökonomische Zentrum für alle Schrifsteller. Heute ist er zerstritten in einen demokratischen Klub „April“ und den konservativen Rest, dessen Vertreter die Mitlieder des Klubs wahlweise als Handlanger des Westens, Antipatrioten oder jüdische Kosmopoliten verhöhnen. Im „dom literaterow“ ist man am ideologischen Pulsschlag der Stadt, manche glauben immer noch, auch des Landes.
Andranik Migranjan, Armenier, vielleicht dreißig Jahre, Dozent am Weltwirtschaftsinstitut, Leitartikler der „Istwestija“, Mitglied des Clubs „April“, diktierte mir dort auf Band, was er – wie er lachend anmerkte – soeben zeitgleich in der „Istwestija“ veröffentlicht hatte:

Andranik Migranjan:
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„Die Union zerfällt von den Rändern her. Es gibt heute keinen sowjetischen Unionsstaat mehr. Unionsgesetze haben keine Bedeutung für die Republiken. Eine einheitliche Machtstruktur ist nicht mehr vorhanden. Das Wichtigste ist, sich das einzugestehen. Wir befinden uns heute in einer autoritären Etappe der Modernisierung. Zuerst müssen bürgerliche Strukturen der Wirtschaft entwickelt werden, auf dieser Grundlage Demokratie. Bei uns ist es umgekehrt gelaufen. Die bestehenden Strukturen wurden zerstört. Jedes Nievau hält sich heute für kompetent. Aber so entsteht keine Demokratie, sondern Mist, Chaos. Jetzt wird überall eine „starke Hand“ gefordert. Aber der Zug ist schon abgefahren. Wenn eine „starke hand“ noch etwas retten kann, dann in den Republiken. Gorbatschow ist bereits ein Präsident ohne Macht. Nur mit dem Militär könnte er die Ansprüche des Zentrums durchsetzen. Aber er ist nicht einmal mehr Herr des Militärs. Auch die Armee zerfällt. Die Union wird weiter zerfallen. In Rußland wird sich dieser Prozess fortsetzen. Jede kleine autonome Republik wird ihre Unabhängigkeit fordern. Die Teilmächte werden aufeinanderprallen. Das kann auch Jelzin nicht aufhalten. Das Ergebnis wird ein Hitler für die Sowjetunion sein.“

Sprecher:
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Was man in der Sowjetunion jetzt brauche, so Migranjans Vision, sei ein Mann wie Bismarck, der einen politischen Konsens im Lande herbeiführe. Man könne liberale Strukturen nicht einfach importieren. Schon Spengler habe das richtig benannt, als er seinerzeit die Liberalen kritisierte, die das englische System einfach auf Deutschland übertragen wollten. Ein geschichtlich gewachsener Konsens lasse sich nicht ohne Weiteres auf eine andere Mentalität pfropfen.
Auch Sergei Juschenkow setzt auf den „preußischen Weg“. Juschenkow ist Lehrer an der militärpolitischen Akademie „Lenin“, Koordinator der Gruppe „radikale Demokraten“ im Parlament des obersten russischen Sowjet und Autor mehrerer Bücher über die „Informellen“. Juschenkow möchte dort fortsetzen, wo Stolypin aufhören mußte. Die „Wiedergeburt eines mächtigen Rußland“ schwebt ihm vor, das vom „asiatischen Weg der orientalischen Despotie“ jetzt auf die Entwicklung einer sozialen Gesellschaft einschwenken müsse. Ohne eine Politik der eisernen Faust werde das nicht durchsetzbar sein.
Juri Derugin, Mitglied der „Gruppe demokratische Offiziere“ prophezeit die Zuspitzung des Machtkampfs in der Armee. Er werde zwischen dem jüngeren Offizierskorps und der Generalität ausgetragen. Auch wenn Gorbatschow selbst nicht wolle, werde ihn dies zwingen, zu Dikatur überzugehen.

Sprecher (wechsel):
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Aber nicht nur Migranjan, Juschenkow, Derugin oder viele andere Liberale beschwören im vorwinterlichen Moskau des ausklingenden Jahres 1990 einen Bismarck, Stolypin oder gar Pinochet, um mit dem demokratischen Chaos aufzuräumen. Auch Alexander Kusnetzow, ebenfalls Mitglied des Schriftstellerverbandes, Monarchist von Geburt, Antizionist aus Überzeugung, wie er sagt, dekorierter Alpinist, hält einen „preußischen Weg“ für nützlich – allerdings nicht um eine Modernisierung nach dem Vorbild westlicher Demokratien, sondern um die Wiedergeburt einer konstituionellen Monarchie auf einem eigenen russischen Weg durchzusetzen.
Nicht viel anders Tamara Ponomarowa, ebenfalls Schriftstellerin. Als Vorsitzende des „russischen Zentrums“, organisiert sie, wie sie sagt, Kulturarbeit zur Wiedergeburt des russischen Nationalbewußtseins. Die Treffen finden in den Räumen des Schriftstellerverbandes statt. Dort ist auch das Büro des „Zentrums“. Frau Ponomarowa schwärmt von Solschenyzins Plan einer Union der drei slawischen Republiken Rußland, Weißrußland und Ukraine unter einem monarchistischen Dach.
Auch OFT, verschiedene Pamjat-Gruppierungen, die einen stalinistische, die anderen antistalinistische, die dritten offen faschistische Nationalisten, stehen bereit. Gemeinsam ziehen sie gegen „diki Kapitalism“, „wilden Kapitalismus“, gegen den „Ausverkauf an den Westen“, gegen „Pornografie“ und „Zionisten“ auf die Straße. Das politische Konzept dieser Kräfte ist einfach. Hören wir Dimitri Wassiljew, ideologischer Kopf der Moskauer „Pamjat“-Gruppierungen, Monarchist, militanter Antisemit:

Dimitri Wassiljew:
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„Wir haben uns an der Wahl im Frühjahr nicht beteiligt. Wir haben aber auch nichts dagegen unternommen. Wir haben dem Volk die Wahl ganz bewußt gelassen, damit sie sich von der Nützlichkeit der Liberalen selbst überzeugen können. Was in 70 Jahren zerstört wurde, das wollen die in 500 Tagen, selbst in 5 Jahren wieder aufbauen? Das ist natürlich  eine absolute Illusion. Es wird vielleicht, selbst das bezweifle ich, ein kurzes Strohfeuer geben. Aber dann wird es noch schlimmer werden, weil die wesentliche Frage noch nicht entschieden wurde, die Frage, wer der Herr im Haus ist.“

Erzähler:
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Ob die Erben Nikolaus des Letzten diese Rolle jemals werden wieder einnehmen können, wie der Kunstmaler Wassiljew träumt, darf mit einigem Recht bezweifelt werden. Auch ein Stalin wird diesen Platz nicht mehr ausfüllen können. Der von ihm bewirkte Modernisierungsschub der sowjetischen Gesellschaft beruhte auf despotischer Gleichmacherei. 70 Jahre gewaltsam beschleunigter Industrialisierung haben aber soziale Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung hervorgebracht, die eine Neuordnung, der Klassen, Schichten und Gruppen zueinander, um mit Frau Saslawskaja zu sprechen, zu einem Überlebensprogramm dieser Gesellschaft machten.  Nach mehr als fünf Jahren Perestroika sind die sozialen Ungleichheiten jetzt zu offenen Konflikten herangereift. Die Fronten verschieben sich von der Rednertribüne der Sowjets auf die Straße, von Moskau in die Republiken. Hunderttausende waren in den letzten Monaten auf der Straße. Unter diesen Bedingungen trägt die Beschwörung der „starken Macht“ den Charakter einer „selffulfilling prophecy“, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die Bevölkerung sehnt sich nach einer Kraft, die den gordischen Knoten einfach durchschlägt. Aber jeder Versuch, den einmal begonnenen Prozess gewaltsam einzufrieren, kann nur eine Explosion nach sich ziehen. Perestroika ist nicht gescheitert. Sie ist in eine neue Phase getreten.

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Sprechhilfen:
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Ich gebe Aussparehinweis im Folgenden nur an, wo anders gesprochen wird als es (im Text) geschrieben ist. Im übrigen bitte auf die angegebenen Betonungen achten.

S.  1 Alksnis`
S.  2 Afana`sjew
S.  4 delo = dje`lo, kurzes e, das o zwischen a und o, ebenfalls       kurz.
S.  4 Sasla`wskaja, T.
S.  7 Chosraschott` – das „Ch“ im Rachen rollen,
S.  8 A`rvo Ku`ddo = alle Vokale kurz,
S.  9 Lje`na Zeli`nski
S. 10 Ekateri`na Podo`ltsewa = beide „o“ gedeckt, fast wie „a“,
S. 12 Sago`wski,
S. 13 tala`ntliwi Lu`di,
S. 13 Konjunktu`rschicks,
S. 19 A`lfred Rado`lfowitsch Koch,
S. 24 Su`lev Mäeltese`mees = alle „e“ kurz,
S. 26 Oxa`na Dimi`triwa,
S. 28 si`lna ruka`,
S. 28 dom litera`terow,
S. 28 Andra’nik Migranja`n,
S. 30 Sergei` Ju`schenkow,
S. 30 Juri`Deru`hin,
S. 30 Alexa`nder Kusne’tzow,
S. 32 Tama`ra Ponomoro`wa = „“o“ wie gedecktes „a“
S. 32 Dimi`tri Wassi`ljew

Wetter zieht auf – Kommt ein sowjetischer Pinochet? Bilanzen zur Perestroika

Vorlauf:
(Schlagzeilen der letzten Wochen, von verschiedenen SprecherInnen verlesen.)
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Tote in Wilna. Kämpfe in Georgien. Unruhen in Kasachstan.
Fünfzig- und Hundertrubelscheine entwertet. KGB zur Wirtschaftskontrolle ermächtigt. Doppelstreifen aus Militär und Polizei im zivilen Alltag eingeführt. Nationales Rettungskomitee für den Einsatz von Milizen eingerichtet. Zensur erneuert. Glasnost-Sendungen in TV und Radio abgesetzt. Verordnungskrieg Gorbatschows gegen Jelzin und die übrigen Republiken. Attacken der Ultrakonservativen unter dem Obristen Alksnis gegen Gorbatschow. Gorbatschow schweigt auf dem Plenum der KPdSU.

Erzähler:
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Kurswechsel im Kreml? Gesinnungswandel bei Gorbatschow? Perestroika gescheitert? Oder gelangt Perestroika jetzt erst an ihr eigentliches Ziel, wie der Historiker Juri Afanasjew, selbst Deputierter, vor der „überregionalen Abgeordnetengruppe“ des obesten Sowjet erklärte? Droht gar ein sowjetischer Pinochet, der die „neuen Kapitalisten“ mit einem ökonomischen Stabilitätsprogramm zu einem sowjetischen Wirtschaftswunder aufzupäppeln verspricht? Solche Befürchtungen waren aus dem Munde sowjetischer Oppositioneller inzwischen schon zu vernehmen. Wer sind die „neuen Kapitalisten?“ Wie realistisch sind solche Erwartungen?
Aus den Nachrichten der Stunde sind diese Fragen allein nicht zu beantworten. Schauen wir daher zurück.

Sprecher:
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April 1985: Unter dem Stichwort der „Beschleunigung der sozial-ökonomischen Entwicklung“ präsentiert das turnusmäßig tagende Plenum der KPdSU einer aufmerkenden Öffentlichkeit im In- und Ausland ein gigantisches Modernisierungsprogramm. Atom-, Computer- und Biotechnologie sollen verstärkt ausgebaut, die übrige Produktion intensiviert, rationalisiert und effektiviert werden. Zur Jahrtausendwende soll der wissenschaftliche, technologische und soziale Vorsprung des Westens eingeholt, von diesem Zeitpunkt an überholt sein. Was die Welt aufmerken läßt: nicht der seit Jahrzehnten ritualisierte bürokratische Appell zu mehr sozialistischer Aufbauleistung, sondern die Aktivierung des Faktors Mensch, wie die neue Sprachregelung lautet, soll die Grundlage des geplanten Sprungs ins 2. Jahrtausend sein: Prestroika durch Glasnost, Wandel durch Demokratisierung.
Im Februar 1986 gibt der 27. Parteitag der KPdSU dem Programm die Weihe einer revolutionären Erneuerung des Sozialismus. Zugleich betont er den systemimmanenten Charakter der geplanten Reformen:

Offizielle Stimme:
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„Was verstehen wir unter einer Beschleunigung? In erster Linie geht es um die Temposteigerung beim Wirtschaftswachstum. Doch nicht nur darum. Ihr Wesen besteht in einer neuen Qualität des Wachstums: in der größtmöglichen Intensivierung der Produktion auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der strukturellen Umgestaltung der Wirtschaft, der Anwendung effektiver Formen der Leitung, der Arbeitsorganisation und Stimulierung.
Der Kurs auf die Beschleunigung läuft nicht (! – d.V.) auf Umgestaltungen im Wirtschaftsbereich hinaus. Er sieht vor, daß eine aktive Sozialpolitik betrieben und das Prinzip der sozialistischen Gerechtigkeit konsequent durchgesetzt wird. Die Beschleunigungsstrategie setzt Vervollkommnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Erneuerung der Arbeitsformen und -methoden der politischen und ideologischen Institutionen, Vertiefung der sozialistischen Demokratie und entschlossene Überwindung von Trägheit, Stagnation und Konservativismus, d.h. all dessen voraus, was den gesellschaftlichen Fortschritt hemmt.
Das Wichtigste, das uns den Erfolg zu sichern hat, ist das lebendige Schöpfertum der Massen, ist die maximale Nutzung der immensen Möglichkeiten und Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordnung.“

Sprecher:
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Während der Westen noch die ungewohnten Worte ‚Perestroika‘ und ‚glasnost‘ buchstabieren lernte, überschwemmte Gorbatschows Lieblingsparole `delo, delo, delo‘, etwa: `mach, mach, mach`, ‚Tat, Leistung, Verantwortung‘, bereits in Broschüren, auf Plakaten, Ansteckern und Versammlungen das Land. Gorbatschow verschwieg auch nicht, daß der Weg zum westlichen Lebensstandard über die Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten, möglicherweise gar durch eine vorübergehende Krise führen werde. Aber erst Tatjana Saslawskaja, Soziologin, Wegbereiterin der Perestroika noch vor Gorbatschows Berufung, danach vorübergehend in seinen engsten Beraterkreis aufgerückt, konfrontierte die sowjetische Öffentlichkeit in den Jahren ’87 und ’88 mit der häßlichen Seite der Perestroika. Gestützt auf umfangreiche statistische Daten und Meinungsumfragen zu den Ursachen und dem bisherigem Verlauf der Perestroika erklärte sie ungeschminkt:

Tatjana Saslawskaja:
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„Alle diese Ausführungen belegen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Spezialisierung und Vernetzung der Produktion dem Faktor Mensch in der Wirtschaft eine zunehmend zentrale Rolle zuweisen. Gleichzeitig aber sind die soziokulturellen Ansprüche der Arbeitskräfte gestiegen, während der Druck zur Arbeit nachgelassen hat. Deshalb wird die Steuerung der Arbeitskräfte immer schwieriger, oder, genauer gesagt, sie werden autoritären und bürokratischen Verwaltungsmethoden gegenüber unempfänglicher.“

Sprecher:
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Perestroika, so Frau Saslawskaja, werde deshalb zu einer „klaren Abgrenzung der gewissenhaften Arbeiter von den Schluderern“ führen. Überhaupt sei Perestroika keineswegs eine soziale Revolution, etwa der Arbeiter und Bauern gegen den Apparat, den Handel und das Dienstleistungsgewerbe. Dazu sei die Mehrheit der Bevölkerung weder bereit noch fähig. Perestroika ziele auf Aktivierung der qualifiziertesten Kräfte aller Klassen, Schichten und Gruppen, sei eine politische Revolution der demokratisch gesinnten gegen die rückständigen und reaktionären Teile des Volkes. Andererseits werde Perestroika die Lage der sozialen Gruppen zueinander grundlegend verändern, wobei die einen auf Kosten der anderen Vorteile erlangen würden. Die notwendige Rationalisierung werde zu Arbeitslosigkeit, vielleicht zu Massenelend führen. Nicht zuletzt Frauen mit Kleinkindern, Kranke, Alte, sowie, allgemeiner gesehen, schwächer entwickelte Teile der Union würden davon betroffen. Zwangsläufig, so Frau Saslawskaja, müsse man mit erheblichen sozialen Spannungen zwischen Gewinnern und Verlierern der Perestroika rechnen.

Tatjana Saslawskaja:
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„Das ist ein organisches Ergebnis der Umgestaltung, jener ’soziale Preis‘, den man für die beschleunigte sozial-ökonomische Entwicklung des Landes und die Überwindung seiner Rückständigkeit zahlen muß.“

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Erzähler:
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Spätestens mit Frau Saslawskajas Warnungen war das Dilemma der Perestroika öffentlich benannt: Die Katze sollte gewaschen werden, ohne sie naß zu machen. Die jahrzehntelange Gleichmacherei sollte aufgebrochen werden, aber ohne soziale Differenzierungen. Eine Revolution wurde propagiert, jedoch nur soweit es der Erneuerung der bestehenden Verhältnisse, letztlich natürlich der des Eigentums, dienen würde. Frau Saslawskaja empfahl die Ausarbeitung einer, wie sie es nannte, „Strategie der sozialen Leitung der Perestoika“, in der das Maß des unvermeidlichen sozialen Preises gegen die daraus entstehende Unruhe abgewogen werden müsse. Wer aber Objekt, wer Subjekt dieser Strategie sein sollte, darauf blieb die Theoretikerin die Antwort in ihrer Bilanz ebenso schuldig wie Gorbatschow zuvor in der Praxis. Was blieb, war der Aufruf der Reformer zur Demokratisierung und die Formel, ‚das Leben selbst‘ werde das richtige Maß herstellen.
Als ‚Neues Denken‘, ‚Glasnost‘, ‚Selbstverwaltung‘ eroberte die demokratische Seite der Perestroika, getragen von Gorbatschows Charisma, die Herzen der sowjetischen Intelligenz und, wie von Tatjana Saslawaskaja vorausgesehen, der aktiven Teile der arbeitenden Bevölkerung. Die sog. Informellen, bis dahin ausgeschlossen von politischer Gestaltung, stürzten sich auf die Vorbereitungen der Wahl zum obersten Sowjet. Als dieser im Sommer ’88 mit einem Achtungserfolg der demokratischen Kräfte konstituiert war, ging die Aufmerksamkeit und die Hoffnung der neuen Bewegung auf die unionsweit bevorstehenden Wahlen für die Republik- Stadt- und Bezirkssowjets über. Programmdebatten überschwemmten das Land. Die Kandidatensuche begann. Wer irgend verfügbar war, wurde zur Kandidatur überredet. Es galt, die neue Macht zu installieren. Die Begeisterung kannte keine Grenzen.
Die ökonomischen Seite, die zunehmende soziale, bald auch nationale Differenzierung, der soziale Preis der Perestroika, wie es Tatjana Saslawskaja genannt hatte, rutschte ins Abseits der demokratischen Aufmerksamkeit, wurde in Statistiken, Kommissionen, theoretische Wettbewerbe, auf die Schreibtische der Bürokraten, letzlich also ins Belieben der nach wie vor im Hintergrund aktiven Vertreter der alten Macht verdrängt.

Sprecher:
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Im Sommer 1989 steht Leningrad im Fieber eines öffentlichen Wettbewerbs um „Chosraschott“, Eigenfinanzierung und Selbstverwaltung. Alle namhaften ökonomischen Institute sind mit detailliert ausgearbeiteten Strukturanalysen und Veränderungsvorschlägen beteiligt. Eine Gruppe um Alexandra Dimitriwa vom finanz-ökonomischen Institut, die ähnlich wie Tatjana Saslawskaja eine kritische, wenn auch jüngere Soziologengruppe repräsentiert, bringt die Vorstellung eines touristisch ausgerichteten Technopolis ins Spiel, das um Leningrad herum entstehen müsse. Politische Gruppen wie die radikaldemokratische Sammelbewegung „Volksfront“ wollen freie ökonomische Zonen entwickeln. Eine eher grün orientierte unabhängige Wissenschaftlergruppe fordert langfristige ökologische und ökonomische Normen, Limits und Quoten für den zukünftigen Umgang mit den Ressourcen. In einem sind sich alle Teilnehmer einig: Es muß dezentralisiert werden. Koste es, was es wolle. Die öffentliche Debatte darüber blüht. Wie dies aber verwirklicht werden soll, vor allem, was das für die Frage des Eigentums heißt, wird öffentlich nicht erörtert. Die Frage des Privateigentums an Produktionsmitteln bleibt tabu.
Im estländischen Tallin, von dem die Initiative für das Konzept der Selbstbewirtschaftung Mitte der 80er ausgegangen war, ist man zur selben Zeit von Konzepten der Eigenfinanzierung und Selbstverwaltung schon zur Befürwortung freien Unternehmertums übergegangen. Das führt auf der einen Seite zu harten Konfrontationen mit den Moskauer Monopolen. Dieselben Menschen, die im Namen der Perestroika gegen Moskau kämpfen, haben andererseits auf die Frage, wie nach Einführung privatkapitalistischer Bedingungen die soziale Gerechtigkeit hergestellt werden soll, keine Antwort. „Wir müssen den Menschen beibringen, hart zu arbeiten“, erklärt Arvo Kuddo Besuchern aus dem Westen, die ihn danach fragen. Im übrigen werde die Zukunft zeigen, was nötig ist. Arvo Kuddo ist inzwischen Sozialminister von Estland.
Der oberste Sowjet der Union befindet sich, kaum zusammengetreten, bereits in der ersten Phase seines Autoritätsverfalls: Während die wirtschaftliche Situation sich zusehends verschlechtert, die Bevölkerung sich auf einen bevorstehenden Krisenwinter einstellt, die soziale und nationale Differenzierung der Union voranschreitet, liefern sich die frischgebackenen Abgeordneten prinzipialistische Redeschlachten über die Frage der gleichberechtigten Zulassung unterschiedlicher Eigentumsformen neben dem sog. sozialistischen, d.h. dem Staatseigentum. Entscheidungen werden nicht getroffen. Stattdessen werden z.B. Verordnungen verabschiedet, die die zuvor propagierten Freiheiten für private unternehmerische Initiative steuerrechtlich soweit einschränken, daß solche Initiativen praktisch in die Illegalität, mindestens aber in die Halblegalität oder – im Fall privater Bauernwirtschaft – unter die Rentabilitätsgrenze abgedrängt, wenn nicht in vielen Fällen sogar einfach erdrosselt werden.
Die steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst den Rechten zu. Sie machen Gorbatschow für die Krise verantwortlich. Organisationen wie die „Front der Werktätigen“, russisches Kürzel: OFT, und verschiedene Gruppierungen der nationalistischen „Pamjat“-Bewegung agitieren heftig gegen „Neue Kapitalisten“, gegen den „Ausverkauf an den Westen“, gegen die „zionistisch-kosmopolitische Verschwörung“ usw. Noch aber stehen sie im Schatten der bevorstehenden Kommunalwahlen, in denen die demokratische Bewegung nach allgemeiner Meinung zu ihrer eigentlichen Bewährungsprobe antreten soll.

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Erzähler:
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Im Herbst ’89 konnte man allerdings auch schon andere Stimmen hören. Immer mehr Menschen warnten vor einer Zuspitzung der Krise nach Art der Weimarer Republik. Andere befürchteten einen Bürgerkrieg wie zu Zeiten der Bolschewiki. Eine gemeinsame Front gegen die Gefahr kam allerdings noch nicht zustande. Zu unterschiedlich waren die praktischen Konsequenzen.

Sprecher:
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Da ist zum Beispiel Lena Zelinski, Lehrerin, langjährige Dissidentin, Perestroika-Aktivistin der ersten Stunde. 1987 hatte sie ihre Aktivitäten noch voll auf die bevorstehende Wahl zum obersten Sowjet konzentriert. Im Sommer ’89 nahm sie an einem Managerseminar in den USA teil. Im Herbst ’89 stellte sie ihre neugegründete Agentur für Wirtschaftsnachrichten, ‚postfaktum‘, der sowjetischen Öffentlichkeit vor. Nach Gründen für diese Wandlung befragt, antwortete sie:

Lena Zelinski:
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„Wir wollen eine Managerschule eröffnen. Das Land braucht professionelle Manager. Nur so werden wir imstande sein, die Mißwirtschaft und die Desorganisation des alten Systems zu überwinden. Nur so werden wir die erste kriminelle Welle von Kooperativen durch tatsächliche neue Unternehmen verdrängen können. Es gibt ja bei uns kein gewachsenes unternehmerisches Know how. Wenn wir es nicht schaffen, eine Schicht professioneller Manager auszubilden, wird sich nichts weiter als eine Erneuerung des alten Sumpfes herstellen – Kommandoallüren, Schlamperei, Mafia. Die alten Bürokraten werden mit den neuen Reichen kungeln. Die Zeit der schönen Worte ist vorbei. Man muß Gorbatschow gegen die Roll-back-Versuche der rechten, aber auch gegen die provokative Prinzipienreiterei der Linken unterstützen. Die realistischen Kräfte müssen jetzt von der Politik zu ökonomischen Fragen kommen, sonst geht die Krise in einen Zusammenbruch über, der schlimmer wird als vorher. Das wäre die Stunde einer neuen Dikatur, egal ob von links oder rechts.“

Sprecher:
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Als geradezu prophetisch könnte sich das Bild erweisen, das Ekaterina Podoltsewa, ideologischer Kopf der Leningrader Gruppe der „Demokratischen Union“ zu der Zeit entwarf. Die „Demokratische Union“ war die erste politische Gruppe, die einen Parteianspruch außerhalb der KPdSU stellte. Ihr Motto ‚Stroika statt Perestroika‘, Aufbau statt Umbau, Demokratisierung, statt Liberalisierung und ein entschiedener Aktivismus auf dieser Linie hat dieser Gruppe in der sowjetischen den Opposition den Vorwurf des Linksradikalismus eingetragen.

Ekaterina Podoltsewa:
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„Wir werden uns an den bevorstehenden Wahlen nicht beteiligen. Eine Beteiligung daran schafft nur Illusionen über die angebliche Demokratisierung. Sie verbraucht die geringen Kräfte der Opposition und lenkt von der Notwendigkeit der grundsätzlichen Umwälzung des totalitären Systems ab. Um die Krise überwinden zu können, brauchen wir jetzt eine verfassungsgebende Versammlung, eine Regierung und ein Parlament, die vom Volk gewählt werden müssen. Ich weiß natürlich, daß das unmöglich ist. Die Inflation wird steigen. Die Leute werden in Panik geraten. Die Kriminalität wird wachsen. Die Regierung wird gebeten werden, den Notstand auszurufen. Gorbatschow wird Diktator sein, aber nicht durch Umsturz, sondern durch legale Ermächtigung. Die Leute werden ihm sogar dankbar sein, daß er die Ordnung wiederherstellt und der Westen wird ihm Kredite geben.
Der Westen glaubt an demokratische Massenproteste in der UdSSR. Bei uns hat man Angst vor einer Explosion des Bürgerkriegs. Wir haben Angst vor Verbrechern, die ihre Gewehre nehmen. Früher gab es hier revolutionäre Kämpfe. Heute, glaube ich, ist hier ein revolutionärer Bürgerkrieg unmöglich. Es wird nur die Kriminalität anwachsen, irgendetwas Grauenhaftes wird geschehen. Ich glaube, daß Gorbatschow auf 15 braune Republiken zusteuert. Schauen Sie sich die Propaganda an. Schauen Sie sich die Lage in den Republiken an. Gorbatschow wird einen eigenen Weg der baltischen Länder nicht zulassen.“

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Erzähler:
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Im Sommer 1990, nach der Wahl, war die Desillusionierung allgemein. Zwar zog die Wahlbewegung gegen heftigen Widerstand der konservativen Kräfte, insbesondere der KPdSU, als neue Macht in die Rathäuser Moskaus, Leningrads, Kiews, der baltischen Hauptstädte sowie vieler kleinerer Orte ein. In rückständigeren Landesteilen konnte sie mindestens ihre Position als legale Opposition ausbauen. Ihr Machtantritt offenbarte aber zugleich ihre Machtlosigkeit. Die Bevölkerung entdeckte die Grenzen der neuen Macht. Die neue Macht begann die Grenzen der Demokratisierung zu entdecken. Die ökonomische Frage rückte ins Zentrum. Wachsende Unsicherheit über den sozialen Preis der weiteren Entwicklung und darüber, wer ihn zu zahlen haben würde, erfaßte das Land.

Sprecher:
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Hören wir z..B. Wladimir Sagowski, Jude, früher journalistischer Gelegenheitsarbeiter, einer von denen, die zu den Gewinnern der Perestroika zählen. Seit Ende ’89 ist er Coach und Vizepräsident des „Tennisklubs auf der Burevestnik“, einer Kooperative. Der Klub ist heute eine der bekanntesten Adressen unter den Sportfans Leningrads. Wladimir verdient gut, hat eine angenehme Arbeit in angenehmer Umgebung. Er könnte zufrieden sein. Aber bei ihm klingt es wie bei allen, die man in diesen Tagen befragt:

Wladimir Sagowski:
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„Einerseits ist alles in Ordnung. Ich kann normal leben, sogar besser als früher. Andererseits – die wachsenden sozialen Spannungen! Keiner weiß, wo das enden wird. Es sind ja letztlich nur Wenige, die eine Chance haben, noch Wenigere, die sie auch ergreifen. Viele sinken durch Perestroika noch weiter ins Elend als in den Jahren zuvor.“

Sprecher:
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Wie um sich selbst zu beschwören, wiederholt Wladimir immer aufs Neue das Wort: „talantliwi ludi“, „begabte Leute“. „Begabte Leute“ seien früher niedergehalten worden. Ohne „begabte Leute“, die ihre Chance wahrnähmen, gebe es keinen Fortschritt. Perestroika sei diese Chance gewesen. Die einfachen Leute aber, die von Perestroika keine Vorteile hätten, sondern immer noch zu denselben, z. T. sogar schlechteren Bedingungen arbeiten müßten, entwickelten einen wachsenden Haß gegen die „Konjunkturschiks“, die Nutznieder der Perestroika: Intellekturelle, Künstler, Kooperativen.

Wladimir Sagorski:
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„Die OFT, Pamjat und andere schüren diesen Haß. Sie versuchen ihn auf die Juden zu lenken. Sie sagen, es seien die Juden, die den Westwind nutzten, die privatisieren und Geld machen wollten – während die Russen in der Fabrik und auf der Sowchose schuften müßten. Die Juden werden als Sündenböcke aufgebaut. Im Grunde aber zielt der Haß der Leute, den Pamjats, OFT und andere zu schüren versuchen, nicht nur auf die Juden, sondern auf die ganze neue Schicht der ‚begabten Leute‘, die ihre Chance wahrnehmen wollen.
Wenn Juden heute auswandern, dann nicht wegen eines akuten Antisemitismus. Der ist nicht schlimmer als früher, ist eher zurückgegangen. Immerhin können Juden jetzt auswandern, Klubs bilden, Judenschulen eröffnen. Die aktuelle Besserstellung gegenüber anderen, die das Land nicht verlassen dürfen, ist im Gegenteil sogar ein Grund für die Stimmung gegen sie. Hauptgrund für die Auswanderung ist der Wunsch, ein besseres Leben zu führen, die eigenen Fähigkeiten besser zu verwirklichen und den Kindern ein chancenreicheres Leben zu ermöglichen. Immer weniger Menschen glauben, daß das bei uns noch möglich ist, nachdem Perestroika anfangs Hoffnungen geweckt hat. Unbestreitbar nimmt auch die Angst vor Pogromen zu. Aber nicht wegen aktueller Übergriffe. Es ist die Angst, daß die Krise wie damals in Deutschland zur Diktatur führt und es im Zusammenhang damit zu rassistischen Ausschreitungen kommt. Das kann durchaus sein. Ich kann die Leute, die gehen wollen, sehr gut verstehen. Aber ich fühle mich als Russe. Da ich neben meinem Job hier auch als Journalist weiter arbeiten will, bin ich zudem darauf angewiesen, in dem Land zu leben, in dessen Sprache und Kultur ich zuhause bin. Ich werde meine Chance weiter hier suchen, auch wenn ich die Zukunft eher düster sehe.“

Sprecher:
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Lena B. ist Gewerkschaftsfunktionärin. Sie arbeitet in einem Computerbetrieb. Mit etwas über 300 Rubeln im Monat gehört sie schon zu den besseren Verdienerinnen, wenn auch nicht zu den ökonomischen Nutznießern der Perestroika. Sie teilt sich eine Zweizimmerwohnung und eine kleine Datscha mit ihrer Mutter. Lena hat selbstverständlich demokratische Kandidaten gewählt. Im Winter 89/90 machte sie die erste Westreise ihres Lebens. Vieles hat sich verändert, findet sie. Glasnost und die neuen Freiheiten möchte sie nicht missen. Auch Lena klagt über die neuen Ungerechtigkeiten.

Lena B:
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„Es gibt Leute, bei denen sammelt sich inzwischen viel Geld. Stimmt. Aber allgemein ist es Quatsch, wenn die Regierung behauptet, die Menschen hätten zu viel Geld. Die Mehrheit verdient nicht mehr als früher, obwohl viele mehr arbeiten. Der Durchschnitt liegt immer noch bei 250 Rubel per Monat. Das ist die offizielle Zahl. In Wirklichkeit ist sie noch zu hoch angesetzt, weil da auch die hohen Gehälter mitgerechnet werden. Viele Frauen verdienen, obwohl sie voll im Beruf stehen, nicht mehr als 100, 120 oder 150 Rubel. Schau mich an! Ich bin Spezialistin! Aber auch bei mir sammelt sich nichts. Umgekehrt: das Geld ist jeden Tag weniger wert. Die Menschen werden allmählich sauer. Nach 5 Jahren Perestroika wird das Leben immer schwieriger. Nimm auch jetzt die Einrichtung der Valutaläden: Wer kann da kaufen? Die einfachen Leute nicht. Sie haben keine Valuta. Leute wie ich auch nicht. Spekulanten sammeln sich dort, Leute, die sich auf dunklen Wegen Valuta besorgen. Sie kaufen dort – und werden dann teuer weiterverkaufen. Alles auf Kosten der kleinen Verdiener. Die Mehrheit hat aus solchen Gründen Angst vor der Einführung des privaten Eigentums. Ich selbst übrigens auch. Die damit verbundene soziale Ungerechtigkeit ist groß. Es gibt bei uns kein soziales Netz, das die Absteiger affängt. In Zukunft wird es bei uns heißen: Jeder ist sich selbst der nächste! Egoismus statt Kollektivismus! Die schlechten Seiten beider Systeme werden sich zu einer Wolfsgesellschaft addieren.“

Sprecher:
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Lena ist kein Parteimitglied. Sie haßt die Partei. Sie haßt auch die OFT wie überhaupt alle, die von einer Erneuerung des Sozialismus sprechen. Der habe sich gründlich verbraucht, findet sie. Aber sie verteidigt tapfer seinen sozialen Anspruch. Wofür brauchen wir neue Millionäre, schimpft sie. Sie finde es richtig, wenn das Volkseinkommen mäßig, dafür aber gleichmäßig allen zugute komme. Sie wisse ja, daß dieses Bild für die zurückliegenden Jahre der UdSSR nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme, aber die beginnende Individualisierung, der Verlust aller Werte, die früher etwas gezählt hätten, insgesamt die absehbare Brutaliserung sei schrecklich. Kein Wunder, daß Gruppen wie „Pamjat“ oder „OFT“ mit Parolen gegen das Privateigentum Gehör bei den Massen fänden. Wenn die Krise sich weiter so zu Lasten der Mehrheit der Bevölkerung entwickle, sei zu befürchten, daß die „Bewegung gegen die westliche Degeneration“, wie sie sich auch nenne, weiteren Zulauf bekomme. Im Moment sei es ja ruhig um diese Gruppen geworden, nachdem sich im letzten Sommer große Proteste gegen sie erhoben hätten. Man höre jetzt kaum noch etwas von ihnen. Überhaupt herrsche nach den Kommunalwahlen vom Frühjahr Ruhe vor dem Sturm.

Lena B:
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„Die Leute warten ab, was die neuen Sowjets bringen. Viel wird es nicht sein. Zu viele Programme, zu wenig Taten. Überall gibt es Probleme. Der Apparat stellt sich quer. Viele reden deshalb von Doppelherrschaft. So wie in Polen mit der Solidarnosc‘. Aber davon sind wir weit entfernt, glaube ich. In Wirklichkeit haben die Sowjets kaum konkrete Macht. Der Apparat ist noch nicht gebrochen. Sie haben noch alles, Partei, KGB usw., du verstehst?! Zum Fürchten war der Auftritt der Militärs beim russischen Parteitag. Sie haben offen mit der Militärdiktatur gedroht! Im Winter kann alles ganz anders aussehen. Bängstigend! Aber was soll man machen! Stoßen wir an! Wir sowjetischen Menschen haben gelernt, auch in den ausssichtslosesten Lagen zu lachen. Der Zarismus, die 70 Jahre Geschichte unseres Sozialismus haben das so mit sich gebracht. Auf die Zukunft! Wir werden es überleben. Wir geben die Hoffnung nicht auf.“

*

Erzähler:
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Einer der neuen Hoffnungsträger, ein typischer Vertreter der neuen Macht, begegnet uns in der Person von Alfred Koch. Alfred Koch ist seit den Wahlen des Frühjahrs ’90 Bürgermeister von Sestrorjetzk, einem Städtchen dreißig Kilometer nördlich von Leningrad. Ich traf ihn durch Vermittlung eines langjährigen Freundes, dem er einen Platz für das Begräbnis von dessen Mutter auf einem der schönen Waldfriedhöfe des Sestrorjezker Rayons vermittelt hatte. Man muß wissen: ein Friedhofsplatz nach eigener Wahl ist heute in einer Stadt wie Leningrad fast noch schwerer als eine Wohnung zu finden. Die Bestattungsbürokratie ist überlastet – und im Übrigen genau wie das ganze Land im Umbruch. Die Norm ist Verbrennung. Makaber zu sagen, aber auch auf die endgültige Abfertigung muß der durchschnittliche Sowjetbürger noch in der Schlange warten. Bis zur Verbrennung, nicht selten über Wochen, werden die Leichen in der Kühlhalle aufbewahrt. Der Urnenplatz wird zugewiesen. Wer diese Routine mit Erdbegräbnis, Wunsch nach selbstbestimmten Grabplatz usw. durchbrechen möchte, muß Verbindungen spielen lassen und zahlen.
Solch ein Mensch ist Alfred Koch: Er kümmert sich selbst um die Sorgen der Sestrorjezker, „meiner Leute“, wie er sie nennt. Am zweiten Tag unserer Begegnung konnte ich ihn in seinem Amtssitz eine Bahnstunde außerhalb Leningrads dabei erleben, wie er seine wöchentliche Petitionsstunde abhielt. Gut zwanzig Mütterchen, aber auch gestandene Männer und erwachsene Frauen drängten sich durch das enge Vorzimmer. Namentlich aufgerufen, traten sie einzeln vor seinen Schreibtisch, unsicher, verlegen, manche vor Kummer oder Rührung weinend. Alfred Koch hörte sich ihren Kummer an: Klagen über barbarische Wohnverhältnisse, Willkür mittlerer Bürokraten, Streitfälle um Grenzsteine. Er fragte nach, notierte, versprach Bearbeitung, ließ Dankesbeteuerungen über sich ergehen. Souverän. Gleichbleibend freundlich.
Mit einem der Petitenden führte er ein längeres Gespräch. Der Mann beklagte sich, daß notwendige Baumaßnahmen an dem Garten- und Hotelbetrieb, den er leite, von der Kommune immer wieder verschoben würden, obwohl der Betrieb mit wenig Investitionen profitabel gemacht werden könnte. Alfred Koch schlug ihm vor, die Sache mit einer Kooperative selbst in die Hand zu nehmen. Er selbst werde sich um den notwendigen Kredit für ihn bemühen. Sichtlich beindruckt verließ der so Angesprochene nach einem langen Händeschütteln den Raum.
Wenn die Frage des Privateigentums im obersten Sowjet nicht entschieden werde, erklärte mir Alfred Koch, dann müse man eben an der Basis beginnen. In „seinem“ Bezirk habe er seit seinem Amtsantritt jede private Initiative ermundert. Morgen werde er eine Verordnung zur Legitimierung von Privateigentum für den Geltungsbereich seines Bezirks erlassen.

Sprecher:
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Alfred Radolfowitsch Koch ist 28 Jahre alt. Er entstammt einer deutschen Familie aus Kasachstan. Er ist verheiratet und Vater einer zehnjährigen Tochter. Er absolvierte ein Studium als Ökonom am Finanz-ökonomischen Institut in Leningrad, das er mit 26 als Doktor der Ökonomie abschloß. Anschließend schlug er sich zwei Jahre als Lehrer in diesem Fach durch. Im Frühjahr, erzählt er, als er soeben mit dem Gedanken gespielt habe, in den Westen zu emigrieren, sei er über die Anzeige des neugewählten Sestrorjezker Sowjets in der Tagespresse gestolpert. Dort war man auf der Suche nach einem neuen Bürgermeister. Alfred sandte ein Konzept ein und wurde von der Findungskommission des neuen örtlichen Sowjets unter sechs Bewerbern zum neuen Bürgermeister von Sestrorjezk gekürt. Seitdem pendelt Alfred täglich zwischen seinem durch Bretterwände unterteilten Zimmer in einer kommunalen Wohnung in der Leningrader Innenstand und dem pompösen Amtssitz am Sestrorjezker See hin und her. In Zimmer seines kommunalen Quartiers, wo er mit Frau und Tochter mehr haust als wohnt, ist er von Alkoholismus, Dreck und Elend eingekreist. Vom Schreibtisch seines Amtszimmers aus, von dem er das gegenüberligende das Ende des Raumes kaum noch erkennen kann, regiert er über mehr als 30.000 Seelen eines Kur- und Wohngebietes, das sich vom nördlichen Vorstadtrand Leningrads mehr als hundert Kilometer an der Küste des finnischen Meerbusens hinaufzieht. Alfred Kochs Credo ist einfach:

Alfred Koch:
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In fünf Jahren will ich es geschafft haben. Dann soll mein Bezirk zu einem blühenden Erholungs- und vorbildlichen Wohngebiet geworden sein.  Dafür brauche ich Hotels, profitable Großunternehmen und die Befreiung der privaten Initiative. Von der Stadt brauche ich Kredite, um selbst Kredite geben zu können. Übrigens baue ich selbst schon seit einiger Zeit an einem kleinen Haus hier draußen, in dem wir hoffentlich bald leben können. Programmatische Versprechungen habe ich nicht gemacht. Ich halte nichts von Politik. Programme interessieren mich nicht. Meine Verhandlungsebene ist der Stadtrat, nicht der Sowjet, nicht die Presse. Bürgermeister zu Bürgermeister, das ist die Ebene, Sobtschak in Leningrad, ich hier. Zwischenebenen versuche ich zu umgehen. Ich will mich nicht aufhalten lassen. Wenn du alle fragst, kannst du es keinem recht machen. Wenn ich hier im Rat frage: Wollt ihr ein Hotel haben? Dann rufen alle, ja! Wenn ich dann anfangen will zu bauen, sagen sie: Bei uns aber nicht. So geht das hin und her und es geschieht nichts. Ich will etwas Konkretes machen, damit unser Leben besser wird. Ich bin Praktiker. Die anderen können meinetwegen reden. Deswegen habe ich das Rennen hier wohl auch gewonnen. Ich habe nur gesagt: Gebt mir fünf Jahre. Wenn es dann besser geworden ist, ist es gut. Dann stelle ich diesen Posten zur Verfügung. Ich will dann ins Bankgeschäft wechseln. Wenn es am Ende der fünf Jahre nicht besser geworden ist, haben wir sowieso eine andere Situation. Darüber denke ich jetzt nicht nach.“

Erzähler:
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Alfred Radolfowitsch dachte natürlich doch darüber nach: Was ich denn von dem zaristischen Minister Stolypin halte, wollte er wissen, als wir uns nach der Petitionsstunde, die in ungeheizten Räumen stattgefunden hatte, in seinem Arbeitszimmer bei einem Tee wärmten. Mit von der Partie war inzwischen Anatol Kriwentschenko, der neue Präsident des frischgewählten Sowjets von Sestrorjezk, Alfred Kochs demokratischer Auftraggeber gewissermaßen. Ob ich der Meinung sei, so Alfred weiter, daß Stolypin ein Reaktionär sei, nur weil er die radikalen Schwätzer erschossen habe? Nur gegen den Widerstand von rechts wie links habe er die Landreform damals schließlich durchsetzen können. Anatol Kriwitschenko nickte beifällig. Ich wollte gerade den sog. Stlypinschen Kragen erwähnen, wie man zu Zeiten dieses Ministers den Henkerstrick im Volk nannte. Da hatte Alfred schon nachgesetzt. Und Pinochet? Wie man im Westen zu Pinochet stehe?! Der habe ja auch für die Freiheit unternehmerischer Initiative gesorgt. Dies sei letzendlich die wichtigste Freiheit! Nur wenn die Freiheit der privaten unternehmerischen Initiative durch Anerkennung des Privateigentums gewährt und gegen linke wie rechte Varianten, notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werde, sei ein besseres Leben in der Sowjetunion zu erreichen. Alles andere sei nur Geschwätz und Gedröhn. Wenn Bürgerkrieg ausbreche, dann um diese Frage. Um diese Frage gruppierten sich gegenwärtig die Kräfte. Auf der einen Seite an erster Stelle das Militär, dann die Monopole, dann die Partei. Auf der anderen Seite die Pragmatiker der neuen Macht, neue Unternehmer, die nach Selbsständigkeit strebenden Republiken usw. Das „usw.“ blieb leider im Dunkeln. Ich konnte es auch bei weiteren Gesprächen nicht klären.

*

Erzähler:
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Alfred Kochs unverhoffte Offenbarungen trieben mich zu meinen bewährten Adressen in der demokratischen Szene, die ich noch vom letzten Jahr kannte. Ich hoffte auf eine Relativierung, mindestens aber auf Erklärungen. Erklärungen fanden sich. Aber sie fielen nicht minder alarmierend aus als Alfred Kochs Offenbarung.
Die erste Lektion kam von Lena Zelinksi. Ich traf sie in großer Hektik: Versuche des Stadtsowjets, sich in die Verfahren der Bezirke zur Zulassung von privaten Unternehmungen einzumischen, müßten zurückgekämpft werden. Alte und neue Macht versuchten gemeinsam, den Prozess durch Gerede von oben zu ersticken. Man müsse die Initiative an die Verwaltungsorgane der Bezirke verlagern. Vor Ort müßten unwiderrufbare Entscheidungen getroffen werden… Lena Hörte zunächst gar nicht, was ich sie fragte. Dann erklärte sie sehr bestimmt:

Lena Zelinski:
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„Das Leben selbst schreibt diese Gesetze. Ich kann diese westlichen sozialistischen Ideen nicht mehr hören. Sie sind gut für’s Dessert. Wir hier sind aber noch nicht soweit. Wir fangen erst an. Die Hauptmahlzeit ist noch nicht einmal aufgetragen. Wir leben in einem anderen Jahrhundert, in einer anderen Welt: Sie leben am Ende des Kapitalismus, wir am Anfang. Wir haben jetzt nur ein einziges Ziel: Wir wollen, daß es uns besser geht. Wir wollen den Kapitalismus einführen. Dieser Prozess ist unvermeidlich. Das bedeutet soziale Differenzierung. Wer etwas leistet, soll besser leben. Das ist natürlich und unvermeidlich. Anders werden wir nicht aus der Misere herauskommen. Vielleicht später, vielleicht nach dreißig, vierzig Jahren können auch wir uns einmal solche feinsinnigen Fragen leisten wie Sie. Wir leben in Asien. Sie leben in Europa. Das ist die Wirklichkeit. Andere Zeiten. Andere Welten. Schauen Sie sich den Konflikt zwischen Irak und Kuweit an. Wieder eine andere Zeit! Auch das ist uns näher als Ihnen. Gehen Sie nach Afrika, wo Menschen soeben aus der Vorzivilisation kommen. Versuchen Sie, Ihnen Ihre europäischen sozialen Ideen zu erklären. Schluß mit diesem europäischen Gerede vom Sozialismus! Bei uns muß erst einmal der Kapitalismus nachgeholt werden. Dann können wir weiter sehen.“

Erzähler:
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In Tallin war es Sulev Mäeltsemees, Ökonom, Vizedirektor der Akademie der Wissenschaften Estlands, der zur meiner weiteren Ernüchterung beitrug. Sulev ist einer der Urheber des marktwirtschaftlichen Selbsverwaltungskonzepts Estlands und in dieser Funktion seit Jahren als Berater der estnischen Regierung tätig. Nach der Wahl im Frühjahr zog er zudem als Abgeordneter in den Talliner Stadtsowjet ein:

Sulev Mäeltsemees:
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„Was letztes Jahr noch eine theoretische Frage war, die soziale Gerechtigkeit bei der Einführung des Marktes, ist jetzt ein praktisches Problem, das uns schwere Sorgen macht. Wir haben bei uns jetzt mit den Preiserhöhungen begonnen. Die Preise werden um das Drei-, Vier und Mehrfache steigen, zum Teil sind sie es schon. Wir haben es so gestaffelt, daß die Güter des täglichen Bedarfs möglichst wenig steigen. Aber das klappt nicht so, wie wir wollen. Die Produkte verschwinden einfach vom Markt und werden dann doch teuer verkauft. Wir müßten die Löhne anheben. Aber das können wir nicht einfach beschließen. So sinkt das Realeinkommen der Bevölkerung rapide. Es trifft natürlich vor allem die Ärmsten der Armen, Rentner, Kinderreiche, Studenten, Einkommenslose. Für diese Gruppe haben wir jetzt eine Kompensation beschlossen, 15 Rubel pro Person. Aber das ist natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Bevölkerung ist unruhig. Kommt hinzu, daß die Umstellung auf die Selbstverwaltung nicht klappt. Unsere Leute sind es einfach nicht gewohnt, selbst Verantwortung zu übernehmen. Viele Sachen, die unbedingt geregelt werden müßten, bleiben zwischen den Ebenen hängen. Ganz zu schweigen davon, daß bei uns niemand weiß, ob Unions- oder Republikgesetze gelten, ja nicht einmal, welche Gesetze der Republik. Praktisch heißt das, daß wir völlig außerstande sind, die Umwandlung von der Planbewirtschaftung auf Marktwirtschaft auch nur annähernd zu kontrollieren. Es ist ein chaotischer Prozess, bei dem sich einige wenige auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Wir können nichts machen. Das ist ein schweres Problem. Wir wir wissen nicht, wie das weitergehen soll. Die Bevölkerung wird unruhig. Wir haben nur Glück, daß wir in „Moskau“ einen gemeinsamen Gegner haben. Das hält uns trotz allem zusammen.“

Erzähler:
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Einsicht in das volle Ausmaß der Desillusionierung eröffnete mir Oxana Dimitriwa. Ihr Technopolis-Konzept sei inzwischen als Buch erschienen, erklärte sie, aber niemand handle danach. Heute werde das Konzept der „freien Zonen“ verfolgt. In der Praxis bedeute das aber nur, daß jetzt der Willkür persönlicher Bereicherung Tür und Tor geöffnet werde. Gestützt auf neues statistisches Material und auf Erfahrungen aus den unternehmensberaterischen Tätigkeiten des Instituts, zieht sie eine vernichtende Bilanz der Perestroika:

Oxana Dimitriwa:
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„Nicht eine neue Klasse fähiger Manager ist entstanden, sondern die alten Apparatschiks haben sich an neuen Posten eingerichtet. Sie haben die Entwicklung der Kooperativbewegung nicht zugelassen, sondern sie durch Steuergesetze und anderes in die Illegalität oder auf kleine Dienstleistungen abgedrängt. Nicht die Talentiertesten, sondern die Anpassungsfähigsten sind so nach oben gekommen. Das früher ja immerhin noch vorhandene industrielle know how der Staatsbetriebe ist auf das Niveau von Kooperativen abgesunken. Niemand verwertet alte Erfahrungen. Die neuen Leute in den Verwaltungen fragen die alten nicht. Die alten machen stille Sabotage. Nirgendwo wird richtig gearbeitet. Die Produktion steht praktisch still. Die Joint ventures produzieren ja nichts, ebensowenig wie die meisten Kooperativen. Sie verkaufen nur die natürlichen Ressourcen. Unsere Leute haben ja nicht das Bewußtsein von Kapitalisten, sondern das von primitiven Bürokraten, die nicht weiter als von hier nach jetzt denken. Das Ergebnis wird schlimmer als der englische Kapitalismus damals. Dort war das Kapital über Jahrhunderte gewachsen. In unserem Land hat es nie Kapital gegeben. Eigentum war entweder Geschenk oder Raub. Die forcierte Privatisierung, die jetzt als Ausweg beschritten werden soll, wird die Krise zum Chaos steigern. Leute mit mangelnder Kompetenz werden an die Spitze kommen. Bald wird es hier zwei Klassen geben: Unkompetente Besitzer und Spezialisten, die für sie arbeiten. Wer hält das aus? Die guten Leute werden alle in den Westen gehen. Meine ganze Generation, alle, die jetzt aufgewacht sind, aber jetzt keine Chance mehr sehen, schauen nach Westen. Das ist der Ruin des Landes. Das wird ein Exodus unserer intellektuellen Kapazitäten. Ökonomisch läuft das Ganze natürlich auf einen Ausverkauf an den Westen hinaus. Eine Katastrophe! Da haben die OFT und andere ganz recht. Aber auch die rechnen wohl vergebens mit Widerstand aus der Bevölkerung. Die russischen Menschen halten alles aus. Nach fünf Jahren Perestroika sind die Menschen außerdem müde. Das ist die beste Situation für einen Staatsstreich.“

Erzähler:
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Eine einzige Hoffnung, schloß Oxana Dimitriwa, habe sie noch: Jelzin! Wenn Rußland sich auf sich selbst besinnen würde, statt darauf, Klammer für die Union sein zu müssen, könne das ein mächtiger Impuls sein. Erklärend setzte sie hinzu:

Oxana Dimitriwa:
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„Das ist keine Position von Blut und Boden wie die unserer vaterländischen Gruppen. Das ist eine rein ökonomische Position. Rußland erstickt einfach an den Folgen seines eigenen Imperialismus. Wir haben ja nicht nur die besten Leute exportiert. Wir importierten auch alle Probleme und konzentrierten sie bei uns. Ungefähr 70% der Schwerindustrie der Union liegt im zentralrussischen Raum, damit natürlich auch deren soziale und ökologische Folgen. Die Mehrzahl der Atomkraftwerke steht bei uns. Die Mehrzahl der Streiks findet bei uns statt. Die Zerstörung der ländlichen Infrastrukturen ist bei uns am weitesten vorangeschritten. Wenn Rußland sich von seiner imperialen Rolle nicht befreit, wird auch die Union nicht befreit werden können.“

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Erzähler:
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In Moskau steigerte sich die Kritik an der Ohnmacht der neuen Macht im Herbst ’90 bis zur Aufkündigung des demokratischen Konsenses. Moskau präsentierte sich wie das Auge eines Taifuns: Windstille im Herzen des Chaos! Im Zentrum der Macht gab es nur noch ein Thema: die Ohnmacht des Zentrums! Die Kritik an der demokratischen Macht, die in Leningrad, Tallin und anderen Orten der Union, selbst in Sestrorjezk noch gemildert wird durch reale Konflikte mit Moskau, fand in Moskau nur noch einen einzigen Ausdruck: „silna ruka“, eine „starke Hand“ müsse her!
Nehmen wir das „dom literaterow“, „Haus der Dichter“, politisches Zentrum des russischen Schrifstellerverbandes. Der russische Schriftstellerverband ist, wie bei solchen Organisationen in der UdSSR üblich, das organisatorische und ökonomische Zentrum für alle Schrifsteller. Heute ist er zerstritten in einen demokratischen Klub „April“ und den konservativen Rest, dessen Vertreter die Mitlieder des Klubs wahlweise als Handlanger des Westens, Antipatrioten oder jüdische Kosmopoliten verhöhnen. Im „dom literaterow“ ist man am ideologischen Pulsschlag der Stadt, manche glauben immer noch, auch des Landes.
Andranik Migranjan, Armenier, vielleicht dreißig Jahre, Dozent am Weltwirtschaftsinstitut, Leitartikler der „Istwestija“, Mitglied des Clubs „April“, diktierte mir dort auf Band, was er – wie er lachend anmerkte – soeben zeitgleich in der „Istwestija“ veröffentlicht hatte:

Andranik Migranjan:
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„Die Union zerfällt von den Rändern her. Es gibt heute keinen sowjetischen Unionsstaat mehr. Unionsgesetze haben keine Bedeutung für die Republiken. Eine einheitliche Machtstruktur ist nicht mehr vorhanden. Das Wichtigste ist, sich das einzugestehen. Wir befinden uns heute in einer autoritären Etappe der Modernisierung. Zuerst müssen bürgerliche Strukturen der Wirtschaft entwickelt werden, auf dieser Grundlage Demokratie. Bei uns ist es umgekehrt gelaufen. Die bestehenden Strukturen wurden zerstört. Jedes Nievau hält sich heute für kompetent. Aber so entsteht keine Demokratie, sondern Mist, Chaos. Jetzt wird überall eine „starke Hand“ gefordert. Aber der Zug ist schon abgefahren. Wenn eine „starke hand“ noch etwas retten kann, dann in den Republiken. Gorbatschow ist bereits ein Präsident ohne Macht. Nur mit dem Militär könnte er die Ansprüche des Zentrums durchsetzen. Aber er ist nicht einmal mehr Herr des Militärs. Auch die Armee zerfällt. Die Union wird weiter zerfallen. In Rußland wird sich dieser Prozess fortsetzen. Jede kleine autonome Republik wird ihre Unabhängigkeit fordern. Die Teilmächte werden aufeinanderprallen. Das kann auch Jelzin nicht aufhalten. Das Ergebnis wird ein Hitler für die Sowjetunion sein.“

Sprecher:
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Was man in der Sowjetunion jetzt brauche, so Migranjans Vision, sei ein Mann wie Bismarck, der einen politischen Konsens im Lande herbeiführe. Man könne liberale Strukturen nicht einfach importieren. Schon Spengler habe das richtig benannt, als er seinerzeit die Liberalen kritisierte, die das englische System einfach auf Deutschland übertragen wollten. Ein geschichtlich gewachsener Konsens lasse sich nicht ohne Weiteres auf eine andere Mentalität pfropfen.
Auch Sergei Juschenkow setzt auf den „preußischen Weg“. Juschenkow ist Lehrer an der militärpolitischen Akademie „Lenin“, Koordinator der Gruppe „radikale Demokraten“ im Parlament des obersten russischen Sowjet und Autor mehrerer Bücher über die „Informellen“. Juschenkow möchte dort fortsetzen, wo Stolypin aufhören mußte. Die „Wiedergeburt eines mächtigen Rußland“ schwebt ihm vor, das vom „asiatischen Weg der orientalischen Despotie“ jetzt auf die Entwicklung einer sozialen Gesellschaft einschwenken müsse. Ohne eine Politik der eisernen Faust werde das nicht durchsetzbar sein.
Juri Derugin, Mitglied der „Gruppe demokratische Offiziere“ prophezeit die Zuspitzung des Machtkampfs in der Armee. Er werde zwischen dem jüngeren Offizierskorps und der Generalität ausgetragen. Auch wenn Gorbatschow selbst nicht wolle, werde ihn dies zwingen, zu Dikatur überzugehen.

Sprecher (wechsel):
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Aber nicht nur Migranjan, Juschenkow, Derugin oder viele andere Liberale beschwören im vorwinterlichen Moskau des ausklingenden Jahres 1990 einen Bismarck, Stolypin oder gar Pinochet, um mit dem demokratischen Chaos aufzuräumen. Auch Alexander Kusnetzow, ebenfalls Mitglied des Schriftstellerverbandes, Monarchist von Geburt, Antizionist aus Überzeugung, wie er sagt, dekorierter Alpinist, hält einen „preußischen Weg“ für nützlich – allerdings nicht um eine Modernisierung nach dem Vorbild westlicher Demokratien, sondern um die Wiedergeburt einer konstituionellen Monarchie auf einem eigenen russischen Weg durchzusetzen.
Nicht viel anders Tamara Ponomarowa, ebenfalls Schriftstellerin. Als Vorsitzende des „russischen Zentrums“, organisiert sie, wie sie sagt, Kulturarbeit zur Wiedergeburt des russischen Nationalbewußtseins. Die Treffen finden in den Räumen des Schriftstellerverbandes statt. Dort ist auch das Büro des „Zentrums“. Frau Ponomarowa schwärmt von Solschenyzins Plan einer Union der drei slawischen Republiken Rußland, Weißrußland und Ukraine unter einem monarchistischen Dach.
Auch OFT, verschiedene Pamjat-Gruppierungen, die einen stalinistische, die anderen antistalinistische, die dritten offen faschistische Nationalisten, stehen bereit. Gemeinsam ziehen sie gegen „diki Kapitalism“, „wilden Kapitalismus“, gegen den „Ausverkauf an den Westen“, gegen „Pornografie“ und „Zionisten“ auf die Straße. Das politische Konzept dieser Kräfte ist einfach. Hören wir Dimitri Wassiljew, ideologischer Kopf der Moskauer „Pamjat“-Gruppierungen, Monarchist, militanter Antisemit:

Dimitri Wassiljew:
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„Wir haben uns an der Wahl im Frühjahr nicht beteiligt. Wir haben aber auch nichts dagegen unternommen. Wir haben dem Volk die Wahl ganz bewußt gelassen, damit sie sich von der Nützlichkeit der Liberalen selbst überzeugen können. Was in 70 Jahren zerstört wurde, das wollen die in 500 Tagen, selbst in 5 Jahren wieder aufbauen? Das ist natürlich  eine absolute Illusion. Es wird vielleicht, selbst das bezweifle ich, ein kurzes Strohfeuer geben. Aber dann wird es noch schlimmer werden, weil die wesentliche Frage noch nicht entschieden wurde, die Frage, wer der Herr im Haus ist.“

Erzähler:
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Ob die Erben Nikolaus des Letzten diese Rolle jemals werden wieder einnehmen können, wie der Kunstmaler Wassiljew träumt, darf mit einigem Recht bezweifelt werden. Auch ein Stalin wird diesen Platz nicht mehr ausfüllen können. Der von ihm bewirkte Modernisierungsschub der sowjetischen Gesellschaft beruhte auf despotischer Gleichmacherei. 70 Jahre gewaltsam beschleunigter Industrialisierung haben aber soziale Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung hervorgebracht, die eine Neuordnung, der Klassen, Schichten und Gruppen zueinander, um mit Frau Saslawskaja zu sprechen, zu einem Überlebensprogramm dieser Gesellschaft machten.  Nach mehr als fünf Jahren Perestroika sind die sozialen Ungleichheiten jetzt zu offenen Konflikten herangereift. Die Fronten verschieben sich von der Rednertribüne der Sowjets auf die Straße, von Moskau in die Republiken. Hunderttausende waren in den letzten Monaten auf der Straße. Unter diesen Bedingungen trägt die Beschwörung der „starken Macht“ den Charakter einer „selffulfilling prophecy“, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die Bevölkerung sehnt sich nach einer Kraft, die den gordischen Knoten einfach durchschlägt. Aber jeder Versuch, den einmal begonnenen Prozess gewaltsam einzufrieren, kann nur eine Explosion nach sich ziehen. Perestroika ist nicht gescheitert. Sie ist in eine neue Phase getreten.

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Sprechhilfen:
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Ich gebe Aussparehinweis im Folgenden nur an, wo anders gesprochen wird als es (im Text) geschrieben ist. Im übrigen bitte auf die angegebenen Betonungen achten.

S.  1 Alksnis`
S.  2 Afana`sjew
S.  4 delo = dje`lo, kurzes e, das o zwischen a und o, ebenfalls       kurz.
S.  4 Sasla`wskaja, T.
S.  7 Chosraschott` – das „Ch“ im Rachen rollen,
S.  8 A`rvo Ku`ddo = alle Vokale kurz,
S.  9 Lje`na Zeli`nski
S. 10 Ekateri`na Podo`ltsewa = beide „o“ gedeckt, fast wie „a“,
S. 12 Sago`wski,
S. 13 tala`ntliwi Lu`di,
S. 13 Konjunktu`rschicks,
S. 19 A`lfred Rado`lfowitsch Koch,
S. 24 Su`lev Mäeltese`mees = alle „e“ kurz,
S. 26 Oxa`na Dimi`triwa,
S. 28 si`lna ruka`,
S. 28 dom litera`terow,
S. 28 Andra’nik Migranja`n,
S. 30 Sergei` Ju`schenkow,
S. 30 Juri`Deru`hin,
S. 30 Alexa`nder Kusne’tzow,
S. 32 Tama`ra Ponomoro`wa = „“o“ wie gedecktes „a“
S. 32 Dimi`tri Wassi`ljew

Hunger nach der Rekordernte – gewaltsam zur Demokratie? Hintergründiges zum politischen Alltag der Perestroika.“

Take 1:
Einspielung aus der Demonstration gegen die Ryschkowregierung am 15.9. in Moskau (bis „Wastawku! Wastawku!, Schnitt nach der ersten Ausblendung bis zum Anfang der Ryschkowrede. Nach Sätzen von Ryschkow ausblenden.)

Autor:
Das war vo0r drei Monaten. Moskauer Innenstadt. Perestroika hat ihren Glanz verloren. 20 bis 30.000 Menschen demonstrieren unter einem Aufruf des Stadtsowjets gegen das von Gorbatschows gegenwärtigem Chefökonomen Abalkin vorgelegte Wirtschaftsprogramm der Ryschkowregierung. Hauptredner ist der neue Moskauer Bürgermeister Gawril Popow. Boris Jelzin ist ebenfalls als Redner angekündigt, läßt sich aber wegen Krankheit vertreten. Ministerpräsident Ryschkow soll seinen Sessel räumen. Auch Gorbatschow wird angegriffen. Man macht ihn und besonders Ryschkow verantwortlich für die Inflation, die Versorgungskrise, die neue Korruption, wirft ihnen vor, daß sie die notwendigen Reformen für den Freigabe der Marktwirtschaft verschleppen. Boris Jelzin ist der neue Hoffnungsträger. In 500 Tagen, hat er erklärt, will er durch das von einem seiner Vertrauten, Schatalin, ausgearbeitete radikale Privatisierungsprogramm das Tal durchschritten haben. Seine Porträts werden im Zug getragen.
Inzwischen droht die Versorgung in den Zentren zusammenzubrechen. Gorbatschow hat seinen erst vor einem Jahr berufenen liberalen Präsidentschaftsrat durch einen Notstandsrat ersetzt. Kürzlich erklärte KGB-Chef Krutschkow unter Berufung auf Gorbatschow im Fernsehen, der KGB werde alles tun, um den Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Im Westen wurde zu Spenden gegen den drohenden Hunger in der UdSSR aufgerufen.
Hunger nach einer Rekordernte! Notstandsmaßnahmen zur Durchsetzung der Perestroika! Wie konnte es dahin kommen?

Hören wir eine Passage aus einem Brief, den Olga, Nachwuchsjournalistin an der Moskauer Zeitung „Moskowski Komsomolez“, (Moskauer Komsomol), mir Anfang Dezember schrieb:
Olga. „…Jetzt ist es in Moskau sehr schlecht. In den Geschäften gibt es riesige Schlangen und sonst nichts. Heute erfuhren wir, daß gegen Moskau eine Milchblockade abgekündigt wurde. Milch gibt es nur am frühen Morgen in firmeneigenen Geschäften. Und wenn bei uns ein Kleinkind lebt…?! Stell Dir vor: neun Landkreise haben die Belieferung Moskaus mit Milch aufgekündigt! Wenn Du diesen Brief bekommst, ist wahrscheinlich schon wieder alles ganz anders…“

Autor Für eine Moskowiterin, selbst eine systenoppositionelle wie Olga, ist die Blockade seitens der Landkreise eine Ungeheuerlichkeit. Für westliche Ohren bedarf ihre Empörung näherer Erklärungen. Schauen wir uns also den sowjetischen Alltag genauer an, um besser zu verstehen, worum es geht.

Beispiel 1:
Eine Autostunde nördlich von Leningrad in Richtung Ladogasee z. B. liegt das Dörfchen Newskaja Dubrowka. Unsere Fahrt dorthin, zumal an einem regnerischen Septembertag, wird für mich als einen an belebte Landschaft gewöhnten Westeuropäer zum irritierenden Erlebnis. Menschenleere Straßen führen durch tote Gegend: ödes Land, verfallende Dörfer, in denen sich die Straße im Schlamm auflöst, keine erkennbare Infrastruktur. Bauruinen hier und da, aufgeschorftes Gelände, Feldfluchten ohne Menschen, Wiesen, genauer gesagt, Brachflächen ohne Tiere. Keine Kuh, kein Schaf, kein Federvieh.
Tiere kommen in der Gegend nur, man ist versucht zu sagen, fabrikmäßig organisiert vor. Sie werden in Milchanlagen der Kolchosen, in Mast- oder Legezentren gehalten. 80 Kühe gebe es in ihrem Bezirk, erklärt eine junge Mutter, die mit ihren beiden Kleinkindern in einem der Orte zu uns in den Wagen steigt, Milch könne sie aber im Dorfladen nicht kaufen, ebensowenig Quark oder Käse. Um Milch einzukaufen müsse sie nach Leningrad fahren. zwei Stunden hin und zwei zurück. In Leningrad gäbe es, wenn sie endlich ankomme, Milch nur noch in der Schlange, wenn überhaupt, also mit neuerlichem Warten. So ist es bei uns überall, schließt sie. Aus Warten besteht die Häfte unseres Lebens.

Autor
Die junge Mutter ist nur eine von Millionen Konsumpendlerinnen oder – pendlern, meist sind es die Frauen, die Tag für Tag über Einzugsbereiche von hunderten von Kilometern in die Zentren ziehen, um sich dort mit den Waren zu versorgen, von denen das Land, in dem sie leben, durch die bevorzugte Belieferung der großen Städte, besonders Moskaus und Leningrads, entblößt ist.
Die eigene Kuh, das eigene Schwein, überhaupt die Zulassung privater Bewirtschaftung eigenen Bodens wäre ein Ansatz zur Lösung des Problems. Aber auch nach fünf Jahren Perestroika hat sich die Unionsregierung noch nicht zu diesem Schritt entschließen können. Auch die Freigabe von Sowchos- oder Kolchosboden zur privaten Pacht, selbst die inzwischen von Boris Jelzin per „ukas“, also präsidentialer Verordnung, für die russische Republik gegebene Möglichkeit des privaten Kaufs von Grund und Boden bleibt eine taube Frucht, solange die übrigen Eigentumsverhältnisse nicht neu geregelt sind. Gegen die Monopole der Kolchosen und Sowchosen können sich private Betriebe, zumal im Anfangsstadium, wirtschaftlich nicht behaupten.
Der Moskauer Milchboykott zeigt im übrigen nur die Spitze des Eisbergs. Auch andere Waren werden zunehmend zurückgehalten. Nur zwei Wochen nach Olgas Brief berichteten Freunde aus Moskau, die mich besuchten:

Moskauer
„In den staatlichen Geschäften gibt es kein Fleisch mehr. Für Eier mußt du stundenlang anstehen. Schon am frühen Vormittag sind die Geschäfte einfach leer. Man ist dazu übergegangen, Hausfrauen, einen Tag in der Woche zum Einkaufen freizugeben. An diesem Tag brechen sie morgens um sechs auf, um eine Tour durch die Stadtteile zu machen. Am Abend kehren sie mit halbleeren Taschen nach hause zurück. Was immer möglich ist, wird gehamstert. Aber vorne herum gibt es kaum etwas. Du mußt die Läden von hinten kennen. Da kannst du alles bekommen. Oder die überhöhten Preise in den neuen Spezialgeschäften bezahlen, die in den letzten beiden Monaten wie Pilze hochschießen. Waren sind ja vorhanden, nur eben nicht in den staatlichen Läden.“

Autor
Sulev Mäeltsemees, stellvertretender Direktor der Akademie der Wissenschaften Estlands, seit den Wahlen Anfang des Jahres auch Stadtverordneter, den ich in im September des Jahres in Tallin aufsuchte, läßt uns die größeren, d.h. die unionsweiten Dimensionen erkennen, die sich hinter diesen Vorgängen verbergen.

Beispiel 2:
Sulev Mäeltsemees, Tallin
„`Moskau‘ tut alles, um das Land in Abhängigkeit zu halten“, erklärt Sulev Mäeltsemees. Dabei gehe es nicht nur um die offenen politischen Aktionen wie den littauischen Boykott. Beinahe schlimmer, weil politisch schwerer sichtbar zu machen, wögen die nicht öffentlichen Maßnahmen: Der Bankenboykott im Mai, bei dem die Unionsbanken nahezu den gesamten Geldverkehr in der esthnischen Republik lahmgelegt hätten. Keine Abrechnung, keine Investition, nichts habe man tätigen können. Moskaus Monopolismus sei ungebrochen. Der im Mai gegründete Block der in Estland angesiedelten Allunionsbetriebe, „Integral“, vereinige ca. 40% der Wirtschaftskapazität der Republik. „Die Betriebe dieses Blocks“, so Sulev Mäeltsemees, „führen ihren Gewinn nach Moskau ab, während sie hier die menschlichen und materiellen Ressourcen, die Infrastruktur, die Sozialstruktur usw. ausbeuten und dem Land die Kosten ihrer Produktion bis hin zu den ökologischen Verwüstungen auflasten.“
Weiter habe Moskau die Forderungen für Zahlungen Estlands an die Allunionsfonds erhöht und die Subventionspolitik zugunsten der Zentrale verschärft. „Wir produzieren z. B. für sieben Rubel pro Kilo Fleisch“, erläutert Sulev Mäeltsemees, „müssen es aber in Moskau für zwei Rubel in den staatlichen Läden verkaufen. Seit Chruschtschow ist die Rate der Abgaben an den Unionsfond jährlich gestiegen. Im estnischen Volksmund heißt es schon lange: `Wir ernähren die Hunde und Katzen Moskau’s mit unserem Fleisch‘.“ Jetzt habe die Zentrale die Abgaberaten für den Ernährungsfond gegenüber den Vorjahren sogar noch weiter erhöht. Ähnliches gelte für andere Produkte bis hin zu den Finanzen selbst. „Das“, schließt Sulev Mäeltsemees, „ist nicht mehr nur Ausbeutung. Das ist blanker Raub. Außerdem wird mit all diesen Maßnahmen natürlich jeder Ansatz für eine eigene Wirtschafts-, insbesondere Preispolitik im Keim erstickt, wenn es nicht gelingt, diese Strukturen zu sprengen.“

Autor

Die Erklärungen Sulev Mäeltesemees lassen den Hauptgegner der Umgestaltung in der UdSSR erkennen: die in Moskau zentralisierten bürokratischen Monopole, anders gesagt, und ein bißchen in die Geschichte gegriffen, den russischen Imperialismus in seiner staatssozialistischen Gestalt. Gorbatschow und andere mögen beschließen, was sie wollen. Bei den Monopolen liegt die tatsächliche Macht. Der Kampf wird um die Frage der Entmonopolisierung geführt. Entmonopolisierung, d.h. Dezentralisierung, Regionalisierung, Selbstverantwortung, Privatisierung. Die Frontlinie in diesem Kampf verläuft zur Zeit entlang der nationalen Frage.
In Tscheboksarie an der Wolga, Industriestadt im Herzen Zentralrußlands, 500.000 Einwohner, Hauptstadt der tschuwaschischen ASSR, der autonomen sozialistischen Republik, konnte ich diesen Prozess in status nascendi erleben.
Beispiel 3:
Tscheboksarie:
Bis vor kurzem galt Tscheboksarie, seiner Schwerindustrie wegen, noch als „geschlossene Stadt“, d.h. als Ort, den Ausländer nur mit besonderer Genehmigung betreten durften. Noch bei Anmeldung meiner Reise im September, wußte man auf dem Leningrader Paßamt nicht, ob ich dürfe oder nicht…
Tscheboksarie zählt mit unter die am schnellsten wachsenden Städte der UdSSR. Jedes Jahr kommen tausende Neuzuzüge aus der umliegenden Provinz hinzu, die vor der Öde, der Armseligkeit des Landlebens flüchten. Als entwurzelte, wie man in der UdSSR sagt, Lumpen hausen sie in den Vororten, von denen aus sich die gigantischen Wohnmaschinen gnadenlos ins Land fressen. 30 Jugendbanden machen sich gegenseitig und der Bevölkerung das Leben zunehmend zur Hölle.
Tscheboksarie hat heute ein exemplarisches Problem: Um den schnell steigenden Energiebedarf zu decken, entschieden das Moskauer Wasser- und Energiemenisterium vor ca. 15 Jahren, seinerzeit noch mit Zustimmung der örtlichen Bürokratie, flußabwärts von Tscheboksarie die Wolga für die Anlage eines riesigen Wasserkraftwerkes zu stauen. Nach Fertigstellung des ersten Bauabschnitts stieg der Wasserspiegel der Wolga um 5 Meter. Teile des alten Stadtkerns von Tscheboksarie wurden gnadenlos überspült. Die ehemaligen Wolgaraine versanken im Stausee. Die Umgebung versumpft zusehends. Trostlose Baumfriedhöfe wachsen von den neuen Ufern ins Land.
Angesichts dieser Folgen regte sich Protest. Ein Komitee „Rettet die Wolga“ bildete sich. Selbst die örtliche Bürokratie, die den heimischen „krasnaja ploschtschad“, den roten Platz, in den Stauseefluten untergehen sah, begann sich zu widersetzen. Man protestierte in „Moskau“. Aber „Moskau“, d.h. die Bürokraten im Wasser- und Energiemonopol, die von der Planung über die Realisierung des Profits bis zur ökologischen Kontrolle zuständig für das Projekt sind, blieben stur: zu den bisher in Betrieb genommenen drei Turbinen, sollen noch weitere 9 dazukommen. Das wären weitere fünf Meter Stauhöhe. Die städtebaulichen und ökologischen Folgen sind klar. Unübersehbarer Ausdruck dieses Kampfes zwischen „Provinz“ und „Moskau“ ist schon jetzt die Erstarrung von zig Quadratkilometern Fluß- und Stadtlandschaft in aufgeschürften Uferböschungen und brachenden Siedlungsflächen, in denen moderne Bauruinen zwischen verlassenen Altbauten vor sich hinrotten. Entscheidungen sind nicht in Sicht.
So wie Moskau Tscheboksarie, so drückt Tscheboksarie das umgebende Land ins Desaster. Stadt und Land stehen sich zunehmend feindlich gegenüber. Bauern, bzw. Landarbeiter werden nur als Zulieferer der Stadt verstanden. Kolchosen produzieren in riesigen Monokulturen, die einen Kartoffeln, die anderen Korn, die dritten Rüben oder Fleisch. Zerstörung der Felder, schlechte Produkte, mangelnde Arbeitsmotivation der Landarbeiter, geistige und kulturelle Verödung des Landes, exodusartige Landflucht sind die Ergebnisse dieser rücksichtslosen Industrialisierung der Landarbeit. Das Land stirbt. Die Stadt platz aus den Fugen.
Gegen die weitere Verwüstung des Landes entwickelt sich jetzt unter dem Stichwort der nationalen Widergeburt eine Rückbesinnung auf die tschuwaschische Tradition. Sie vereinigt die gegen „Moskau“ gerichtete Forderungen nach Dezentralisierung mit der Forderung nach kultureller Selbstbestimmung, konkret Gleichberechtigung von russischer und tschuwaschischer Sprache, sowie dem Kampf gegen die weitere Entwurzelung der Landbevölkerung und die Zerstörung der Umwelt. Wiedergeburt der Nation, Autonomie der Republik, Zulassung privater Initiative durch Zulassung von Marktwirtschaftlichen Prinzipien – das alles verbindet sich zu einer Opposititionsbewegung gegen „Moskau“, die tschuwaschische Nationalisten mit aufgeschreckten lokalen Bürokraten verbindet.
Auch Tscheboksarie ist nur ein Beispiel. Im Norden der tschuwaschischen ASSR, jenseits der Wolga erwacht die Mariskische, im Süden die tatarskische, und  – ihr benachbart – die moldawskische ASSR. Man will die Union nicht verlassen. Aber das Kürzel ASSR, autonome sozialistische Sowjetrepublik, möchte man um ein S für „sozialistisch“ und das zweite für „sowjetisch“ noch weiter verkürzen. Nationale Republiken, in denen Russisch und die jeweilige Nationalsprache gleichberechtigt nebeneinander existieren, mit autonomer Verfügung über die eigenen Ressourcen in einem föderativen Unionsvertrag – damit sind die demokratischen Ziele der Unabhängigkeitsbewegungen in dieser Gegend benannt. Nicht in der Politik Gorbatschows, der für die Interessen der Zentralgewalt steht, sondern in dem Unabhängigkeitskurs, den Boris Jelzin für die gesamte russische Republik gegenüber der Gesamtunion eingeschlagen hat, findet man sich deshalb politisch wieder. Auch in Tscheboksarie ist Boris Jelzin z. Zt. der erste Mann.

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Wie gemäßigt die Bewegung der nationalen Widergeburt in einer Stadt wie Tscheboksarie aber auch auftreten mag, ist sie im Effekt doch gegen die Einheit der UdSSR in der jetzigen Form gerichtet und damit krisentreibend. Zwiespältig ist letztlich auch die Sympathie der nationalen Bewegungen mit Boris Jelzin. Heute steht sein Name für den Wunsch nach Unabhängigkeit von der Gigantomanie der Zetralgewalt. Morgen kann er der Gorbatschow der russischen Republik werden.
Wie groß auch der Wunsch nach Überwindung des Widerspruchs zwischen Stadt und Land sein mag, stehen sich Land- und Stadtproletariat nach fünf Jahren Perestroika doch eher unversönlicher gegenüber als früher.
Bezeichnend dafür ist die Position, die mir in der Person von Arkadi Aidak entgegentrat, Chef der Mustersowchose „Leninskaja Iskra“, Leninscher Funken, einflußreicher Präsident des tschuwaschischen Bauernverbandes und in diesen Eigenschaften 1989 mit großer Mehrheit in den obersten Sowjet der Union gewählt. Dort ist er Mitglied der Bauernkommission, die Gorbatschow in der Bauerpolitik berät.

Aidak Arkadi, Mustersowchose
„Leninskaja Iskra“, benannt nach der von Lenin begründeten Zeitung „Iskra“, Funken, erreichen wir nach zweistündiger abenteuerlicher Fahrt in einem uralten, Kohlendioxyd spuckenden, über die von Schlaglöchern zerrissenen Straßen mehr brechenden als fahrenden Kleinbus. Es geht durch die langen Wellen der Wolgalandschaft im nördlichen Teil der tschuwaschischen Republik. Was für eine Weite! Große Gefühle wollen sich einstellen, aber die drei vier Dörfer, die wir passieren müssen, rücken die Realität wieder ins Bild: windschiefes Bretterelend, hier und dort nackte Betonklötze, apathische Menschen. Früher müssen die Dörfer schön gewesen sein. Man sieht noch die Reste ehemaliger Malerei an manchem Holztor verwittern.
In Jadrin, einem etwas größeren Ort, machen wir Rast. Meine sowjetischen Freunde steuern auf die Ortskantine zu. Aber bevor ich eintreten kann, sind sie umgekehrt. Resigniert. Deprimiert. Betreten. „Unmöglich hier zu essen“, sagen sie. „Dreckig. Kein Fleisch.“ Sie wollen mich nicht einmal hineinschauen lassen.
Am Ortsausgang, dort, wo wo die Teerstraße wieder beginnt, finden sie dann ein Restaurant, das städtischem Standard entspricht, wie man ihn in Tscheboksarie gewohnt ist. Entsprechend die Preise. Hier springen uns die Gegensätze ins Gesicht. Draußen zerfurchte, verbuckelte, zum Teil erschreckend stumpfgesichtige Gestalten, im Eingang eine finstere Männerrunde, aus der wir mißtrauisch angestarrt werden. Drinnen Gedecke unter folkloristischer Dekoration. Hier können nur die Durchreisenden, die Städter, vielleicht die Ortsbürokraten essen.
Weiter geht es, an ein zwei grauen Hüttenansammlungen vorbei. Dann zeigt ein Schild am Rande der Straße an, daß das Gebiet der „Leninskaja Iskra“ beginnt. Eine andere Welt! Die Holzhäuser unter frischer Farbe. An den Toren und Wänden prächtige, individuell und künstlerisch gestaltete Wandmalereien. Daneben geradezu schmucke Steinhäuschen, die versuchen, sich in die traditionelle Ästhetik der Holzhäuser einzufügen. Was bis zur Sowchosgrenze Verfall war, ist hier gepflegte Tradition!
Er sähe keinen Grund, etwas zu ändern, antwortete Arkadi Aidak verdrießlich auf die Frage nach Perestroika auf dem Lande, speziell nach Ansätzen zu einer neuen Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land. Landarbeiter in gut geführten Sowchosen kämen zurecht, wie ich ja selbst sehen könne. Man habe eine eigene Schule, einen Kindergarten, eine Kantine, alles sauber, gepflegt, geräumig, sogar ein eigenes Kulturzentrum. Über die Bedingungen jenseits der Grenzen der Sowchose könne er nichts sagen und wenn die Arbeiter der Städte Verbesserungen wollten, müsse die Initiative von ihnen ausgehen. Sie seien die führende Klasse.
Die Bauern hätten genügend schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht. Diese Aussage wiederholt er mindestens dreimal. Nach dem dritten Mal klingt sie schon wie aus der Pistole geschossen.

Autor
Der Rock der Bauern, mindestens seiner Sowchosniks, ist Arkadi Aidak offensichtlich näher als das Hemd der Städter, selbst als das der übrigen Landarbeiter. Lieber hortet eine Mustersowchose, in der das Lebensniveau mit ca. 400 Rubeln pro Monat plus Prämien weit über dem ländlichen wie auch städtischen Durchschnitt liegt, ihre Produkte, lieber läßt sie eine Rekordernte auf den Feldern vergammeln, als aus reiner Solidarität für die Neuregelung der Eigentumsverhältnisse einzutreten und Versorgungslücken in den Städten zu ihrem Nachteil zu stopfen.
Die Landarbeiter sind keine Bauern, sondern landwirtschaftliche Fließbandarbeiter. Sie interessieren sich nicht für das Produkt ihrer Arbeit, soweit es über ihre Teilarbeit als Traktorist, als Melkmaschinist oder Erntearbeiter hinausgeht. Sie lassen die Kartoffel fallen, wenn die Uhr Feierabend zeigt. Alles andere ist nicht ihre Sache. Ihre Liebe gilt bestenfalls den Produkten, die sie privat hochziehen und zu überhöhtem Preis in der unterversorgten Stadt anbieten können.
Die Verschärfung dieses Interessengegensatz scheint unausweichlich.
Zu Zeiten des „Kommandosystems“ verdeckte der „Subbotnik“, der einmal wöchentliche, für Studenten und Schüler ein oder zweimal jährlich ganze Wochen umfassende Ernteeinsatz, die tiefe Kluft zwischen Stadt und Land. Zu Revolutionszeiten freiwillig, war er schon unter Stalin zum zwangsweisen Einsatz verkommen. Heute ist er als Zwangsarbeit in menschenunwürdigen Lagern und kasernenartigen Unterkünften verhaßt. Nach Gorbatschows Aufkündigung des Kommandosystems muß die Regierung sich auf Apelle verlegen. Tag für Tag füllten im September und Oktober Horrorsendungen über die liegenbleibende Ernte das abendliche TV-Programm. Aber die Stadtbevölkerung verweigert die Einsätze, schaltet die Sendungen ab. Neue Anreize für die verhaßte Arbeit der Landarbeitsbrigaden sind nicht entwickelt.

Sprecher
In Leningrad standen Kartoffeln am September bereits auf der Liste der Defizitwaren der staatlichen Läden. Zwei bis drei Rubel kostete das Kilo auf dem Kolchosmarkt. Noch Ende Oktober lagen die Kartoffeln tonnenweise uneingebracht auf den riesigen Kolchosfeldern. Durch Zufall stieß ich bei einer Fahrt über Land auf solch ein Feld. Auf Nachfragen erfuhr ich, daß Bürgermeister Sabtschak zwei Wochen zuvor, Mitte Oktober, einen Ukas, d.h. eine bürgermeisterliche Verordnung, erlassen und über TV verkündet hatte, nach dem es nicht nur allen Bürgern und Bürgerinnen Leningrads gestattet sei, sondern sie geradezu aufgefordert wurden, sich die Kartoffeln selbst von den Feldern zu holen.
Freunden, die bitter über die Kartoffelpreise und das für den Winter zu erwartende Versorgungsloch klagten. erzählte ich von meiner Entdeckung. Sie wollten mir nicht glauben. Von Sabtschaks Ukas wußten sie nichts. Zu viele Ukase muß man in letzter Zeit hören! Ich mußte ihnen erst Beweise liefern, bevor sie sich entschließen konten, hinauszufahren.
Sie kamen zu spät. Bevor sie es sich einrichten konnten, war der erste Frost eingetreten. Für Menschen ohne eigenes Auto war blieb Sabtaschaks Ukas ohenin ohne Belang.

Autor
So entpuppt sich der von Olga beschriebene Milchboykott bei näherem Zusehen als Ausdruck einer Dezentralisierung, die sich z. Zt. als Zerfall der staatliche Organisation der Produktion und der staaatlich gelenkten priviligierten Belieferungswege, im besonderen der privilegierten Belieferung der Städte durch das Land, und – auf die Union bezogen – Moskaus durch die Republiken vollzieht. Die staatlichen Wege der Zuteilung, die nach einem abgestuften System der Privilegien vorgenommen wurden, funktionieren nicht mehr, private, die den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgen, noch nicht, bzw. – wie man in der UdSSR sagt, zu polnischen Preisen, d.h. unbezahlbar für die Durchschnittsbürger. Es ist die Stunde der Anarchie. Der Zusammenbruch der bisherigen Versorgungswege führt zu grotesken Situationen im Alltag.

Lena
Lena S. arbeitet als Komputerspezialistin in einem Elektronikbetrieb, der – wie jeder Betrieb in der UdSSR – seine Belegschaft über seinen eigenen Betriebsverteiler mit Angebote versorgt, die am Thresen der Betriebskantine ausgegeben werden. Heute gibt es eingemachte Gurken, süße Torten, in der nächsten Woche Zucker oder Reis, je nachdem welche Verbindungen die Betriebsleitung gerade knüpfen konnte. „Neulich haben sie uns“, erzählt Lena, halb lachend, halb weinend, „Bügeleisen, letzte Woche Kaffemühlen angeboten. Bügeleisen gibt es das drittemal, Kaffeemühlen das zweite Mal in diesem Jahr. Manche nehmen gleich zwei, drei oder sogar vier. Weiß man, ob man es morgen noch bekommt? Natürlich habe ich auch gekauft, obwohl ich schon zwei Eisen und auch eine Kaffemühle zu hause stehen habe. Man kauft, was es gibt, auch wenn man es nicht braucht, um es anschließend über Freunde und Bekannte unter der Hand weiter zu tauschen.“

Autor
Lena deckte auch das Geheimnis der sowjetischen Ökonomie auf, über das der Volksmund als „russisches Paradoxon“ seine bitteren Scherze macht, nämlich die Frage, wie leere Läden immer wieder zu vollen Tischen führen können. „Gibt es einen Anlaß zum Feiern“, erzählte sie, „und den finden wir immer, dann sind die Tische gedeckt.“ „Swjo jest“, alles sei da. „Blat“, Beziehungen, erkläre sicher einiges. Inzwischen hätten sich aber, so Lena in meinen Worten, regelrechte Hilsgemeinschaften auf Gegenseitigkeit entwickelt, die sich beim weitläufigen Abkämmen des Angebots in verschiedenen Teilen der Stadt, eingeschlossen der Schrebergartenkolonien und umgebenden Landwirtschafstbetriebe systematisch unterstützten.

Lena
„Daraus besteht zur Zeit unser Leben“, seufzt Lena. Wo soll das hinführen? Wenn es 1917, 18, 19 so war, dann war das o.k. Da war die Revolution. Aber heute? Was ist das? Immer noch Revolution? Nein, so kann man nicht leben. Wir sind müde. Das muß endlich aufhören. Schließlich arbeiten wir. Aber wofür? Wo bleiben die Waren? Wo bleibt die versprochene Verbesserung des Lebensstanddards? Wo sitzen die Leute, die von diesen Verhältnissen heute profitieren?“

Autor
Kartoffelmangel vor unabgeernteten Feldern! Defizit vor leerem Kühlschrank! Drohender Energiemangel im rohstoffreichsten Land der Welt! Hunger nach einer Rekordernte! Dies kennzeichnet die Art des Elends in der UdSSR im Gegensatz zur blanken Existenznot in Ländern der sog. 3. Welt: Die UdSSR, einer der entwickeltsten Industriestaaten der Welt ist 1990 auf das Niveau des Naturaltausches heruntergesunken, in der das Überleben eine Frage der Improvisationsfähigkeit ist. Was Fortschritt sein sollte, staatliche Versorgung, verwandelt sich in eine Quelle der Not. Dies ist nicht nur die Stunde der Anarchie, sondern auch der vielbeschworenen Mafia.

Aber was ist die Mafia? Wem nützt die gegenwärtige Entwicklung? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stieß ich zunächst auf Oxana Dimitriwa, Ökonomin und Soziologin vom finanzwirtschaftlichen Institut in Leningrad. Aus ihrem Munde hörte ich zum erstenmal das Wort vom Positionswechsel der Macht.
Oxana Dimitriwa
Noch im letzten Jahr war Oxana Dimitriwa eine begeisterte Anhängerin der Perestroika. Jetzt sieht sie sich mit der Tatsache konfrontiert, daß überall an den Spitzen der neuen Unternehmen, insbesondere in den Joint-Ventures, ehemalige Parteifunktionäre wieder hochkomen, nachdem sie in den Wahlen zum Obersten Sowjet 1989, spätestens aber in den Kommunalwahlen im Frühjahr 1990 im politischen Abseits gelandet und zeitweilig aus der Öffentlichkeit abgetaucht gewesen seien.
Von Oxana Dimitriwa kann man auch erfahren, daß Mitglieder der Nomenklatura, ranghohe Kommunisten und Funktionäre heute eifriger als alle anderen für die Privatisierung von Staatseigentum und die Legalisierung von Privateigentum an Produktionsmitteln eintreten, auf unteren Verwaltungsebenen aktiv für die Überführung bisheriger Staatsbetriebe in Privathand tätig sind, während sie gleichzeitig eine intensive Propaganda gegen die „neuen Millionäre“ aus der Kooperativbewegung unterstützten, bzw. selber entfachen.
Die Nomenklatura habe die letzten fünf Jahre benutzt, um sich selbst, ihre Kinder oder ihre Vertrauenspersonen an die ökonomischen Schaltstellen der neuen Privatunternehmen zu manövrieren. Mit ihrem politischen Eintreten für die Privatisierung schaffe sie sich zugleich eine neue ideologische Legitimation, während sie praktisch die Entstehung einer neuen Schicht von Unternehmern aus der Kooperativbewegung mit allen Mitteln behindere. Abgesehen von ihrer demagogischen Propaganda gegen die „Volksschädlinge“, nutze sie dabei auch schamlos alle ihr noch zur Verfügung stehenden bürokratischen Tricks von der Steuergesetzgebung, über Zulassungsverweigerungen bis hin zu gerichtlichen Repressionen gegen Kooperativenmitglieder.
Auf diese Weise sei es ihr schließlich gelungen, ihre Position als Führer der neuen ökonomischen Macht im Verlauf der fünf Jahre Perestroika konkurrenzlos durchzusetzen. Die aus den Wahlen hervorgegangene „neue Macht“, meist Mitglieder der Inteligenz, einschließlich der wenigen „neuen Millionäre“ der Kooperativbewegung, hätten überhaupt keine Chance, sich zu einer eigenen sozialen Kraft zu entwickeln, sondern würden in die Halblegalität abgedrängt. Inzwischen sei der Formwechsel der alten Macht unter Heranziehung von Aufsteigern der neuen weitgehend vollzogen. Eine neue Phase der Perestroika werde beginnen.

Autor
Dies erzählte mir Oxana Dimitriwa Anfang September. Gewisse Erscheinungen im politischen Alltag Leningrads, Tallins und Tscheboksarie, die ich selbst danach beobachten konnte, fügten dem eine Reihe von Details hinzu, die bestätigen, daß Perestroika dem Wesen nach nichts anderes ist als die Rundumerneuerung der alten herrschenden Schicht, die die verbrauchte Herrschaftslegitimation ihres „Marxismus Leninismus“ gegen eine den neuen Verhältnissen angepaßte, technokratische Manager-Ideologie ausgetauscht, ihre Führungskader gewechselt und den Machtapparat effektiviert hat, während die Bevölkerung die Last dieses Umbaus zu tragen hat.
Verschiedene Formen der im Lande viel diskutierten „neuen Korruption“ – überhöhte Gehälter der Abgeordneten, neue Dienstwagen, Hotelsuiten für die Provinzdeputierten in den besten Häusern Moskaus, Vorzugswohnungen, Auslandsreisen uä. – erweisen sich bei näherem Hinsehen als Produkt dieser Rundumerneuerung, mit der die „alte Macht“ sich die neuen Leute einverleibt. Nicht mehr und nicht weniger. In Moskau geht das böse Gerücht, die Anhänger Gorbatschows im Allunionssowjet könnten schon deswegen nicht für eine Einschränkung der Unionsvollmachten stimmen, da sie damit ihre Unterbringung im „Moskwa“, dem besten Hotel der Stadt, gefährden würden. Abgeordnete der russischen Republik müssen nämlich mit dem Hotel „Rossija“, dem zweitbesten am Platz vorliebnehmen.
Die „neue“, die „demokratische Macht“ dagegen ist selbst in Städten wie Leningrad und Moskau, wo sie die Mehrheit stellt, ohne tatsächliche exekutive Möglichkeiten. Ohne Zustimmung der alten Garde vermag sie überhaupt nichts in Alltagspolitik umzusetzen, sondern erschöpft sich im guten Willen.
Hören wir Sophia Werschinina aus Leningrad, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Röntgologischen Institut und grüne Abgeordnete des Stadtparlaments von Seststrorjezk, einem Vorort Leningrads.

Sophia Werschinina
Seit Gorbatschow mit der Verkündung der Perestroika auch ökologische Zeichen setzte, hat sich im Röntgologischen Institut, einer, wie man in der UdSSR sagt, allunionischen Institution, also einem Projekt der zentralen Moskauer Behörden, in Cestrorjezk eine grüne Zelle gebildet. Mit eigener Zeitung, Protesten in Leningrad, Eingaben an den alten und den jetzigen neuen Sowjet in Sesterojetzk selbst, aber auch im Stadtsowjet von Leningrad, führt die Gruppe, inzwischen auch vereint mit der „Grünen Bewegung Leningrads“, einen erbitterten Kampf gegen die nach ihren Untersuchungen das Leben der Stadt bedrohenden krebserregenden Schadstoffe des Rönthgologischen Zentrums in Cestrorjezk. Isotopenhaltige Abwässser werden aus den Anlagen des Zentrums in die umliegenden Be- und Entwässerungssysteme entlassen und gelangen so in den Trinkwasserkreislauf der Stadt. Seit der Fertigstellung des sog. Dammes vor der Mündung der Newa, der die Stadt vor Überschwemmungen bewahren soll, erhöhe sich die Konzentration der Schadstoffe alarmierend.
Obwohl den Argumenten nichts entgegengesetzt werden kann, Ortssowjet und Stadtsowjet sich im Gegenteil sogar mit der grünen Kritik schmücken, geschieht in der Praxis so gut wie nichts. Gründe gibt es viele: Das Gelände des Röntgologischen Instituts liegt in einem, die Wasserwege, um die es geht, in mehreren anderen Bezirken Leningrads, bzw. auch Regierungsbezirken der russischen Republik. Eine horizontale Zusammenarbeit der Bürokratien kommt nicht zustande. Es gibt keine gemeinsame gesetzliche Grundlage, ganz zu schweigen von den unterschiedlichen politischen Zusammensetzungen der verschiedenen örtlichen Sowjets. In einigen hat die „neue Macht“ das Rathaus übernommen. In anderen herrschen die alten Strukturen.
Aber selbst, wo die „neue Macht“, wie in Sestrorjezk selbst in der Person von Alfred Koch, einem dynamischen jungen Technokraten, die Leninbilder abgehängt hat und energisch nach neuen Wegen sucht, geschieht in diesen Fragen nichts. Die ökonomische Sanierung des Bezirks hat Priorität und das Röntgologische Zentrum bringt Geld. „Was soll ich machen?“, erklärt Alfred Koch hintergründig, „Entscheidungen über das Institut fallen immer noch in Moskau.“ Dies aus dem Munde der „neuen Macht“ grenzt bereits an Verhöhnung der noch viel neueren Demokratie.

Autor
In Moskau empfing mich Boris Kagarlitzky, Kopf der im Juni ’90 gegründeten „Sozialistischen Partei“ und für sie im Moskauer Sowjet, mit der schockierenden Mitteilung, die Moskauer Exekutive unter ihrem neuen demokratischen Bürgermeister Popow wolle zunächst die Bezirkssowjets, später auch den MOSSOWJET wegen Ineffektivität auf dem Wege einer Gebietsreform liquidieren. darauf könnten sich die demokratischen Kräfte selbstverständlich nicht einlassen, wenn nicht gleichzeitig Neuwahlen für die neuzubildenden Bezirke durchgeführt würden. Die materielle Grundlage für das Verlangen Popows jedoch, die mangelnde Effektivität der neuen Sowjets und neuen Bezirksverwaltungen nämlich, konnte und wollte auch Boris Kagarlitzky nicht dementieren.
Was für Leningrad, selbst für den Moskauer Stadtsowjet im Kleinen, das gilt für die Union im Großen: die „neue Macht“, also letztlich Gorbatschow, verfügt über so gut wie keine exekutiven Möglichkeiten. Die Frage, wem die jetzigen Privatisierungsprogramme, sei es in der radikalen Form Jelzins, sei es in der abgewandelten Form Gorbatschows, unter solchen Umständen nützen, ist vollkommen eindeutig: es ist die rundumerneuerte alte herrschende Schicht. Niemand anders kann unter den gegebenen Umständen den Nutzen aus der Privatisierung des Staatseigentums ziehen. Niemand anders ist unter den gegebenen Umständen in der Lage, aus dem Stand – und darum geht es ja, wenn man Jelzins 500 Tage oder Gorbatschows Notstandsprogramm ernst nehmen will – ein finanzkräftiges Privatunternehmen aufzuziehen. Einzig die alte und neue Mafia kann mithalten. Sie wird ihre erpreßten und zusammengeraubten Vermögen kapitalisieren. Die nach fünf Jahren Hinhaltepolitik weit abgeschlagenen Konkurrenten einer möglichen neuen Unternehmerschicht, die aus der Kooperativbewegung hätte entstehen können, hat auch in der neuen Phase der Perestroika keine Chance.
Man muß den radikaldemokratischen Kritikern zustimmen, daß die Privatisierungs-Programme, in welcher Mischung auch immer, in keiner Weise dazu geeignet sind, die soziale Krise, d.h. die durch die Perestroika verschärfte soziale Ungleichkheit zu lösen. Im Gegenteil, sie werden sie weiter verschärfen, indem sie das bisherige Staatseigentum jetzt in die private Verfügungsgewalt einzelner Mitglieder der früheren Nomenklatura legen – und damit den Rest der sozialen Verantwortung, den diese Schicht in ihrer früheren Form noch tragen mußte, auch noch beseitigen. Damit wird die Bevölkerung den nach wie vor existierenden Monopolen vollkommen ausgeliefert – denn weder ökonomisch, noch politisch hat sich bisher eine Konkurrenz entwickelt, die die frisch legitimierten Privatbesitzer kontrollieren könnte. Ein soziales Netz, den europäischen auch nur annähernd vergleichbar, in dem die Millionen zukünftigen Wohnungslosen, Rentner usw. versorgt werden könnten, ist nicht entwickelt. Was da zu entstehen droht, ist Raubkapitalismus auf unterster Stufe.

Pjotr Fidossow, als Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftswissenschaften der KPddSU am Lehrstuhl für Sozialpsychologie, der sich unter schweren Bedenken selbst zur Einführung des Marktes als einzigem gangbaren Weg bekennt, sicherlich des linken Extremismus unverdächtig, redet nicht drumherum, was die geplante Privatisierung unter diesen Umständen heißt:

Pjotr Fidsossow (Einspielung vom Band – B-15ff – für den Anfang möglich)
„Die Frage ist natürlich auch, wie privatisieren? Kaufen? Dann kauft natürlich derjenige, der zwei Millionen zusammengestohlen hat. Dann wird er ein legaler Unternehmer. Sehr viele Großunternehmen sind ja so entstanden, im sechzehnten Jahrhundert. Der Kapitalismus, die Marktwirtschaft, die hier eingeführt wird, wird nicht zivilisiert sein. Da liegt ja die größte Illusion unserer „Westler“, der Sapadnikis“. Sie sagen, im Westen gibt es den zivilisierten Kapitalismus, den sie verschönern und idealisieren, der ihnen viel schöner zu sein scheint als er ist, weil sie meistens nur eine Seite sehen. Sie glauben, so wird unserer auch sein. Quatsch! Das werden Raubtiere sein! Haifische! Ein Kapitalismus wie im 17. Jahrhundert! Es besteht eine große Gefahr, daß das neue, sagen wir mal, das ehrliche Kapital, das entstehen soll oder entstehen kann, in einer unwahrscheinlichen Streßsituation sein wird durch dieses größere Kapital. Denn wenn Eigentümer auf den Markt müssen und wenn ein Markt her muß, wenn die Unternehmertätigkeit voll legalisiert ist und der Privatisierungsweg gegangen wird, werden sie nicht verhindern können, daß die Schattenvermögen diesen Weg mitmarschieren oder sie werden so viele admistrative Kontrollorgane einsetzen müssen, daß überhaupt keine Unternehmertätigkeit möglich sein wird. Einen dritten Weg, auch wenn ich ihn mir selber wünschen würde, halte ich zur Zeit nicht für möglich. Den kann ich mir eher so vorstellen, daß, sagen wir, – ich werde das jetzt bewußt sehr einfach und auch provozierend formulieren, sodaß Ihr theoretischer Sinn sich empören wird – der Sozialist Gorbatschow versuchen muß, ein bißchen sozialistische Aufsicht zu üben über die Kapitalisierung im Lande.“
Autor Über die Stimmung im Lande gibt sich Pjotr Fidossow als Sozialpsychologe, dessen Spezialgebiet die Untersuchung von Arbeitskämpfen und sozialen Protesten ist, ebenfalls keiner Illusion hin.
Pjotr Fidossow
Es gibt im 18. Brumaire eine wunderschöne Passage von Karl Marx, wo er sagt, der Spießbürger meint, lieber ein schreckliches Ende als ein Schrecken ohne Ende. Ich habe das Gefühl, daß die Stimmung bei vielen Menschen hierzulande vorhanden ist. Nicht nur bei den, sagen wir, einfachen Leuten. Das ist ein gemeines Wort, aber es ist eine Tatsache, daß es hierzulande in unserer Gesellschaft eine ziemliche Kluft gibt zwischen der akademisch-intellektuellen Elite auf der einen Seite und der großen Masse auf der anderen Seite. Ich bin zum Beispiel der Meinung, daß in Moskau das eigentliche Volk noch gar nicht zu Wort gekommen ist. Die zwei großen Demonstrationen in Moskau waren immer noch Demonstrationen der intellektuellen Elite. Unten, glaube ich, würden die Menschen sofort zustimmen, wenn morgen eine `starke Hand‘ kommen und sagen würde, also jetz die Spekulanten hinters Gitterchen, Schluß mit dem Gerede, Läden füllen, woher immer – und alles muß arbeiten! Die nationalen Revolten unterdrücken, die Flüchtlinge nach Hause schicken und dort, wo gemeutert wird, Panzer aufstellen. Man würde sofort zustimmen, nehme ich an, jedenfalls viele. Mit bestimmten Artikeln kann man hier sicher nicht arbeiten. Aber viele würden zustimmen. Und bei Teilen der, sagen wir mal, akademischen Schichten, besteht ebenfalls zwar nicht unbedingt der Wunsch, – obwohl bei einigen auch der Wunsch besteht – aber das Gefühl, eine Runde der Perestroika sei zuende.“
Autor
Die radikale Systemopposition setzt auf Agitation gegen den „wilden Kapitalismus“, der die soziale Differenzierung im Lande schnell und drastisch verschärfen werde. „Das 500 Tage-Programm“, erklärte mir Boris Kagarlitzky, „wird in 100 Tagen so verhaßt sein, wie der Kommunismus nach 70 Jahren.“  Dies ist zweifellos eine begründete Erwartung. Fatal nur, daß die Konservativen, ja sogar die äußersten Rechten der berüchtigten „Pamjat“-Bewegung mit derselben Parole auf die Straße, vor die Betriebe und in die Büros ziehen. Sie haben den Linken, zu deren Schrecken, sogar schon Bündnisse angeboten.

Ob Gorbatschows Notstandskurs geeignet ist, neues Vertrauen in der Bevölkerung zu schaffen und dem Zerfall der UdSSR Einhalt zu Gebieten ist fraglich. Ich fürchte eher, daß er den Zerfall beschleunigt.

III: Zeit der Jugend

O-Ton 1: Ankunft, Straßengeräusche    1,00
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Nischni-Nowgorod ist die nächste Station. Hier frage ich vor allem nach Grigorij Jawlinski und seinem Partner, dem Bürgermeister der Stadt, Boris Nemzow. Beide gelten als junges, dynamisches Team. Sie stehen für ein alternatives Modell von Reformen. Doch heißt die Antwort auch hier:

O-Ton 2: Junger Mann         0,20
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen:

Übersetzer:     „Jelzin, Jelzin! Warum? Er ist im Prinzip in Ordnung. Mir gefällt, was im Land vorgeht. Es ist eine Zeit für die Jugend. Das gefällt mir. Es gibt große Wahlmöglichkeiten, wo man arbeiten will, Möglichkeiten, die eigenen Kräfte zu entwickeln. Was will man mehr?
… tscho jetschtscho?

Erzähler:     Der junge Mann ist Student. Zur Zeit verdient er als Barmann das Geld für sein weiteres Studium. Im Prinzip sei er durchaus für Jawlinski, erklärt er. Aber damit würde er seine Stimme verschenken und deshalb werde er Jelzin wählen. Auf Jelzins rücksichtslose Sozialpolitik und auf den Krieg in Tschetschenien angesprochen, rechtfertigt er seine Wahl:

O-Ton 3: junger Mann, Forts.    0,21
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich stimme für Jelzin bloß deshalb, damit es keine globalen Veränderungen gibt, wie das vermutlich geschehen würde, wenn die Kommunisten drankämen. Dann ginge es wieder in Richtung Bürgerkrieg.“
…graschdanskie woinje

Erzähler:     Den Krieg befürchtet er wie viele andere allerdings nicht von Szuganow selbst, sondern von denen, die einen Wahlsieg der Kommunisten nicht akzeptieren würden: von den Bankiers, von den neuen Reichen und von der Mafia.
Vor wenigen Tagen erst, erinnert er sich, hätten die neuen russischen Finanzbosse in einem offenen Brief, der in allen großen Zeitungen erschien, nicht näher genannte „Maßnahmen“ für den Fall eines Wahlsieges der Kommunisten angekündigt.
Antworten wie diese bekam ich entlang der ganzen Strecke. Selbst in einem zugigen Nest in den Sumpfsteppen hinter Omsk, einem Dorf namens Barabinsk, antwortet ein junges Mädchen auf die Frage, was sie von der neuen Zeit halte:

O-Ton 3: junges Mädchen in Barabinsk    0,47
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:    „Na klar! Es ist eine Zeit für junge Leute. Die entwickeln sich ja erst.“

Erzähler: (1)    Und klar ist sie auch für Jelzin! Nach der Schule will sie Krankenschwester werden. Einen Ausbildungsplatz hat sie schon. Nicht alle haben einen. Stimmt. Aber wer sich bemüht, kann schon einen finden, meint sie. Nein, so ganz schlecht ist die Zeit nicht“, lacht sie, „nicht so schlecht jedenfalls, wie die Alten immer behaupten.“
…ne tak plocha, Geräusch einer Dose

O-Ton 4: Entfällt

Erzähler:     In der „Schule 42“ in Nowosibirsk rückt eine ganze Schulklasse um mein Mikrofon zusammen. Die Schule zählt zu den besseren und progressiveren der Stadt. Anders als ihre Konkurrentin, die „Schule 10“, ist sie weniger auf den Westen, als auf Pflege „russischer Traditionen“ orientiert, wie der Direktor es nennt.
Aber auch hier ein ähnliches Bild:

O-Ton 5: Schule 42, Mädchen
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Erzähler (1):     „Die junge Generation“, sagt dieses Mädchen, „ist im Großen und Ganzen gegen die Kommunisten.“ Die Erwachsenen dagegen, so auch der Direktor, seien für Szuganow. Ein Generationenproblem also? Ja, genau!
Aber mit der Art des Wahlkampfes sind die Jungen und Mädchen nicht einverstanden. Wie Rock- und Popmusik mißbraucht werde zum Beispiel. Bei Konzerten, erzählen sie, fragen die Stars von der Bühne herab: `Wollt ihr noch weiter solche Musik hören?´ Dann antworten sie selbst: `Wenn ja, dann müßt ihr Jelzin wählen. Unter Szuganow wird es das nicht mehr geben.´ Wenn das Klima weiter so aufgeheizt werde, fürchten meine jugendlichen Gesprächspartner, kann das nur zu neuem Bürgerkrieg führen.
… graschdanskaja woina (alle zusammen)

Erzähler:     Sie würden alle für Jelzin stimmen, wenn sie schon wählen dürften. Seinen Versprechungen glauben sie aber nicht:
Auf die Frage nach dem Krieg in Tschetschenien reagieren sie heftig:

O-Ton 6: Schule 42, Junge    1,08
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     „Nein, nein!“, „So redet er ja schon lange“ rufen sie. „Da geht nur ein politisches Spiel ab“, sagt der Junge. „Sie benutzen diesen Krieg. Wenn Jelzin jetzt nach Grosny geht, will er damit nur Stimmen gewinnen“
Aber ewig könne das nicht mehr dauern, meint ein anderer.

Übersetzer:    „Die Menschen machen das nicht mehr mit. So oder so gehen wir einer Föderation entgegen. In jedem Fall wird es bei uns so etwas geben wie eine Synthese aus Kommunismus und Kapitalismus.“
…Synthes Kommunism i Kapitalism

Erzähler:    Endgültig überzeugt mich ein neuerlicher Besuch in Jurga. Das ist die schon erwähnte Stadt auf dem Weg von Nowosibirsk ins Kohlerevier des Kusbass. Immerhin war Jurga früher eins der Zentren des militärisch-indudustriellen Komplexes. Heut ist davon nur die lagerähnliche Anlage des Stadtgrundrisses und ihre Vorliebe für Szuganow geblieben.
Vor den Toren des polytechnischen Instituts, wo sie studieren, verblüfft mich eine Gruppe kahlgeschorener junger Halbstarker mit ihrem Bekenntnis zur neuen Zeit:

O-Ton 7: Junge Männer in Jurga    0,24
Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, zum Stichwort „Jelzin“ hochziehen

Erzähler:     „Na, klar gehe ich wählen“, meint der Sprecher der Gruppe. Davon hänge doch seine Zukunft ab. Ob er mich verulken wolle, frage ich ihn. „Nein, ich sage immer, was ich denke“, gibt er zurück. Klar ist für ihn auch, für wen er ist: „Natürlich für Jelzin!“
… Jelzin, konjeschna

Erzähler:     Seine Freunde stimmen ihm bei. Ebenso weitere Jugendliche, die dort gerade Pause machen. Jelzin ist für sie der korrekteste Politiker des Landes. Seine Reformen finden sie progressiv. Kommunisten könne das Land nicht gebrauchen. „Die haben ihre Zeit gehabt“, finden die jungen Männer. Man habe ja  gesehen, was sie daraus gemacht hätten: „Kollektivierung, diese kranke Industrialisierung und alles das.“
„Das“, meint einer und spuckt kräftig aus, „war noch schlimmer, als es jetzt ist.“