Ansage:
Unruhe in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die Gründung der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) hat die nationale Frage vorläufig entschärft. Jetzt tritt die soziale in den Vordergrund. Die Freigabe der Preise treibt die Menschen auf die Straße und in den Streik. Einige GUS-Staaten schränkten die Freigabe der Preise schon wieder ein. Der Präsident des größten GUS-Landes, Boris Jelzin, reist durch die Provinzen, um das Volk zu beruhigen. Rücktrittsgerüchte kursieren. Was ist das für eine Opposition, die da entsteht?
Take 1:
Einspielung Meeting der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“, Lautsprecherlärm, Rufe,
Erzähler (eingeblendet):
Fünf Uhr abend, Moskauer Zeit. Wenige Tage vor der Gründung der GUS auf dem Manegenplatz. Eine „russische kommunistische Arbeiterpartei“ ruft zum „Meeting“, wie es hier heißt. Eine riesige Bühnenanlage verrät die organisierende Hand. Aber nur ca. 200 Menschen sind in Dunkelheit und eisiger Kälte direkt vor den Lautsprechern zusammengerückt. Anlaß des Meetings, erklärt ein Teilnehmer, ist der fünzigste Jahrestag der Vernichtung der Deutschen vor Moskau. Tatsächlich ist das Datum nur Anlaß, um gegen die „korrupte Regierung“ zu agitieren. Man zeigt Parolen wie „Der Faschismus kommt nicht durch“, „Nieder mit Jelzin“, „Stoppt die Volksfeinde und Verbrecher“. Auf die Frage, ob man die Jelzin-Regierung denn für faschistisch halte, gibt es Antworten wie diese:
Männerstimme:
„Ja, natürlich Faschismus! Wenn Parteien verboten werden, wenn Deputierte verjagt werden, die anderer Meinung sind, dann ist das natürlich Faschismus, richtiger Faschismus!“
2. Männerstimme (älter):
„Klar! Die Verrückten läßt man auf ihren Wunsch aus dem Irrenhaus los. Gangster und Verbrecher spazieren auf den Straßen und bringen das Volk um. Ist es etwa kein Faschismus, wenn man mich, dafür, daß ich Russe bin und das offen sage, beschuldigt, ein Faschist und Chauvinist zu sein? Das gibt es doch in keinem Land! Das ist Faschismus!“
Frauenstimme (leicht vulgär):
„Bei uns war früher alles gut. Unseren Sozialismus brauchte die Welt. Wie ein amerikanischer Schriftsteller sagte: Was macht ihr bloß, ihr Russen?! Unter Eurem Einfluß hat sich doch der Kapitalismus des Westens gewandelt! Jetzt haben Gorbatschow und Jelzin die Waffen gestreckt vor Amerika. Und was ist schon Amerika! Ein Land ohne eigene Nationalität – Scharlatane, die ihr ganzes Leben auf Kosten anderer Völker leben. Zum Beispiel- den Irak haben sie genommen und zerstört. Das bei uns hier ist offener Verrat, Aufgabe des Landes an den Westen. Unter dem Diktat des Westens haben Popov, Jelzin, Gorbachow und Sobtschak unser Land auseinander genommen…“
2. Männerstimme (älter):
„…auseinander geklaut!“
Erzähler:
Jelzin, Popov, Sobtschak, Gorbachow. Sie werden verantwortlich gemacht für die Misere. So eindeutig wie die Schuldzuweisung, so eindeutig fallen die Antworten nach der Alternative aus:
Männerstimme:
„Unsere Alternative ist der Sozialismus, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit.“
2. Männerstimme (älter):
„Die historische Vergangenheit unseres Landes wiederherstellen…
Frauenstimme:
„…und die Sache Stalins fortsetzen…“
2. Männerstimme (älter):
„Stalin war ein großer Mann!“
Frauenstimme:
„Die Zeit von `47 bis `53, war eine Zeit, wie sie die Weltgeschichte vorher noch gar nicht gekannt hat!“
2. Männerstimme (älter):
„Nach dem Krieg war unser Land das erste das die Lebensmittelkarten abgesetzt hat!“
Frauenstimme:
„Ja, das allererste… Sie wissen sicherlich, was Churchill über Stalin gesagt hat: Wenn er eintrat, mußte sogar Churchill aufstehen. So eine Persönlichkeit war das! Wenn Stalin ein zweites Leben haben könnte, dann würden die nicht mit diesem Spottlächeln mit uns reden.“
Erzähler:
Aufräumen mit Jelzin! Weg mit Popov, dem Bürgermeister von Moskau. Weg mit Sobtschak, dem Bürgermeister von St. Petersburg. Nieder mit der Jelzin-Mannschaft! Das sind die konkreten Forderungen. Eine „militärische Union mit christlich – orthodoxem KLerus“ soll her, eine „Diktatur gegen die Volksfeinde“, natürlich nur für kurze Zeit! Als Alternativen werden Namen konservativer Generale, der neuen Kirchenfürsten, von Schriftstellern des national-patriotischen Lagers und ähnlicher Vertreter der Idee der russischen Widergeburt genannt. Nationalistische Sozialdemagogen wie Schirinovski reißen die Menschen zu begeisterter Zustimmung hin. Schon bei den Wahlen zum russischen Präsidenten vor einem Jahr konnte Schirinovski sieben Prozent in den Städten, bis zu zwölf auf dem Lande für sich verbuchen.
Frauenstimme:
„Schirinowski hat gestern auf einer Presekonferenz etwas gesagt, das mich voll für ihn einnimmt: `Ich würde eine starke Armee schaffen‘, sagte er. `Rußland würde ein Reich werden, wie es einmal war. Dann würde Bush sich gut überlegen, ob er die Ukraine anerkennt oder nicht. Was hat der die Ukraine anzuerkennen?'“
Gruppen wie die der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“
sprießen seit der Zerschlagung der KPdSU im August des letzten Jahres wie Pilze aus dem Boden. Die meisten dieser Neugründungen sind stalinistischer als die traditionelle KPdSU. Sie verbinden sich mit den bisher schon organisierten Altstalinisten und nationalistischen Gruppen zu einer unüberschaubaren konservativen Sammlungsbewegung. Gemeinsamer Feind ist das, wie sie es nennen, Ausverkaufsprogramm der regierenden Demokraten. So wird die jetzige Jelzin-Administration genannt. Als potentieller Führer dieser Sammlungsbewegung scheint sich zur Zeit Alexander Ruzkoi, Jelzins Vizepräsident, mit harten Kritiken an Jelzins marktorientierter Schocktherapie in Empfehlung bringen zu wollen. Damit bietet er sich zugleich als möglicher Nachfolger Jelzins an. Im Westen gilt Ruzkois „Volkspartei freies Rußland“ im Vergleich zu anderen aus der inneren Opposition zur KPdSU hervorgegangenen Parteien und Gruppen als demokratische Kraft. Mit ihren 2,5 Millionen Mitgliedern hat sie sicher ziemlichen Einfluß. Im Lande selber erinnert man sich allerdings zunehmend daran, daß der dekorierte Afghanistankämpfer Ruzkoi erstens ranghoher Militär mit besten Verbindungen zum militär-industriellen Komplex ist und zweitens aktives Mitglied der größten nationalistischen Bewegung „Otschisno“, Heimat, war, bevor er sich zum Demokraten wandelte. Die Erwartung eines neuen Umsturzes liegt in der Luft.
Das läßt wenig Raum für Illusionen. Sogar Parteigänger der harten Westorientierung halten mit ihren Befürchtungen an der jetzigen Politik der Demokraten nicht hinterm Berg. Andranik Migranjan, westorientierter liberaler Analytiker beispielsweise, der schon 1988 öffentlich den Weg einer „autoritären Modernisierung“, forderte, antwortete noch wenige Tage vor der Preisfreigabe auf die Frage, ob Jelzin die Lage stabilisieren könne:
Andranik Migranjan:
„Jelzin muß die Staatsmacht konsolidieren. Dabei kann ich nicht einmal ausschließen, daß Gewalt eingesetzt werden muß. Aber nicht nur das. Er sieht sich auch ernsthaftesten Schwierigkeiten in der Wirtschaft gegenüber. Praktisch muß er diese Schocktherapie vorantreiben. Dazu braucht er wiederum die `starke Hand‘. Aber ich fürchte, die Bevölkerung ist sehr unzufrieden mit dieser Therapie. Es besteht die Gefahr, daß wir in nächster Zukunft Millionen von Arbeitslosen haben. Die Zahl der Leute, die unter der Armutsgrenze lebt, liegt jetzt schon nahe bei hundert Millionen. Ich glaube, es wird schwer für Jelzin, die Macht zu konsolidieren und zu gleicher Zeit die wirtschaftliche Schocktherapie voranzutreiben. Ich befürchte, daß eine Koalition nationalistischer Kräfte an die Macht kommt. Das wird mit einer Art national-sozialistischer Diktatur enden, deren Achse die Armee und der militär-industrielle Komplex werden können, entweder mit Jelzin oder ohne Jelzin.“
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Take 2
Lied vom Emigranten, (wenn möglich mit den Geräuschen von der Eröffnung der „Partei der Arbeit“ (Take 3) zusammenschneiden, sodaß man von dem Lied in die Versammlung übergeht).
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Erzähler:
Ebenfalls Moskau. Nur ein paar Stunden später und einige hundert Meter entfernt vom Manegenplatz, wo die „russische kommunistische Arbeiterpartei“ mit harten Rückgriffen auf die Traditionen der „wirklichen 30er“, wie sie es nennen, um die Gunst der Bevölkerung wirbt, hat eine ganz andere „Partei der Arbeit“ zu einer öffentlichen Veranstaltung in den Räumen des Stadtsowjets geladen. Aktivisten aus der sog. informellen, d.h. früher und auch jetzt nach dem Machtwechsel systemopositionellen Szene, bemühen sich um die Darstellung ihrer Alternative. Es geht um die Initiative für die Gründung einer im westlichen Sinne linken Arbeiterpartei. Sie soll nach dem Vorbild der englischen Labourparty und der brasilianischen „Partei der Arbeit“ entstehen.
Zu der Initiative haben sich alle Strömungen der gegenwärtig links von der Regierung entstehenden Opposition außer der radikalen Bürgerrechtspartei „Demokratische Union“ zusammengefunden. Gemeinsame Klammer ist die Orientierung an der neu entstehenden Gewerkschaftsopposition.
Bei den vertretenen Gruppen, nicht berücksicht die gewerkschaftliche Basis, handelt es sich insgesamt vielleicht um achthundert bis tausend Menschen in verschiedenen Städten der Union. Zentrum ist Moskau. Mitglieder reformsozialistischer Gruppen bringen intellektuelles Potential, gemeinsam vielleicht dreihundert bis dreihundertfünfzig Menschen ein. Eine starke anarchistische Ströung hat sich seit 1989 in der oppositionellen Streik- und Gewerkschaftsbewegung entwickelt. 1990 war sie unionsweit auf ca. achthundert bis neunhundert Menschen angewachsen. Viele davon waren und sind gewerkschaftlich aktiv. Jetzt geben die Anarchisten von der „Konföderation der Anarchosyndikalisten“ die gewerkschaftseigene Zeitung „Solidarnost“, 30 000 Auflage, in Moskau heraus.
Personelle und materielle Grundlage des neuen Zusammenschlusses ist die Entwicklung der vormaligen offiziellen Moskauer Gewerkschaft zu einem oppositionellen Ortsverband in den letzten zwei Jahren. Auch in anderen Teilen des Landes gärt es in den früher staatlichen Gewerkschaften. Mit Jelzins Machtantritt hat sich die Entwicklung beschleunigt. Die alten Funktionäre, sogar einige der Streikführer aus dem vergangenen Jahr sind in die Regierungsetagen der „neuen Macht“ abgewandert. Junge Funktionäre aus dem mittleren Organisationsbau, bzw. auch direkt aus den Streikbewegungen der letzten beiden Jahre, soweit sie nicht ebenfalls von Jelzins Politik integriert wurden, sind ins zentrale Gewerkschaftshaus eingezogen.
Eingeladen hat eine bereits existierende Fraktion der geplanten Partei im Moskauer Stadtsowjet. Die Ziele sollen der Öffentlichkeit vorgestellt, Aktivitäten bekanntgemacht, Sympathisanten gewonnen werden. Ca. 250 Menschen gemischten Alters, denen man ihre Herkunft aus den unterschiedlichsten Kreisen ansieht, Bürokratengesichter wie Anarchisten, Intellektuelle wie Arbeiter, gepfelgte und weniger gepflegte, haben die Klappsitzreihen des holzgetäfelten Prunksaals eng besetzt. Ein Drittel der Anwesenden mögen Frauen sein. Die Athmosphäre ist gespannt.
Für die nächsten zwei Stunden steht die „soziale Frage“, stehen vor allem die zu erwartenden sozialen Massenproteste im Mittelpunkt. Als erster spricht Andrej Kolganom, Mitglied des Initiativkreises. Der Initiativkreis wird in den Beiträgen kurzerhand als „Orgkomitee“ oder „OK“ abgekürzt. Kolganom ist höherer wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, Dr. der Wirtschaftswissenschaften. Er hat die politische Vorstellung der Initiative übernommen. Seine ersten Ausführungen gelten den sozialen Konsequenzen der über die Sowjetunion erstellten IWF-Richtlinien, die vor ca. drei, vier Monaten in Form von drei dicken Bänden erschienen. Wer die nächsten Reformschritte der Regierung erfahren wolle, erfährt das aufmerksam mitschreibende Auditorium, brauche nur in den Richtlinien nachzulesen. Nach Auffassung des IWF solle sich das Land auf die Produktion von landwirtschaftlichen Gütern, Rohstoffen und Energieträgern spezialisieren. Das bedeute eine erhebliche Reduzierung der Industrieproduktion. Massenentlassungen bis zu 20%, sowie eine allgemeine Senkung des Lebensstandards um 40% seien vorgesehen. Für Kolganom ist die Schlußfolgerung klar:
Kolganom:
„Unter diesen Umständen muß die `Partei der Arbeit‘ den Kampf für den Erhalt der Arbeitsplätze, für Arbeitslosenversicherung, für ein modernes System der Arbeitsbeschaffung und der Arbeitsstimulierung so stark wie möglich unterstützen. Dazu gehört auch die Lösung der mit der Privatisierung verbundenen Probleme. Die zur Zeit stattfindende wilde Privatisierung führt zu einer kriminellen Bereicherung der Privilegierten. Sie muß aber im Interesse der Werktätigen geschehen.“
Erzähler:
Die Staatsmacht, so Kolganom weiter, bereite sich auf die Konflikte vor. Sie schicke sich an, Versammlungsrechte, wie überhaupt Rechte und Möglichkeiten gewerkschaftlicher Betätigung in jeder Weise zu beschneiden. Das gehe vom Streikverbot, über die Behinderung von Betriebsversammlungen bis hin zur Ausschaltung lokaler Selbstverwaltung durch die Exekutive. Entsprechend müsse sich auch die andere Seite zusammenfinden. Die „Partei der Arbeit“ sei ein Schritt in diese Richtung. Allerdings, schränkt Kolganom vorsichtig ein, müsse man sich vor Provokationen hüten:
Kolganom:
„Die allgemeine politische Aufgabe der `Partei der Arbeit‘ besteht daher darin, die Unzufriedenheit der Massen in einen konstruktiven und organisierten Protest zu überführen, um dem autoritären Regime keine Möglichkeit zu geben, einen spontanen Aufruhr verärgerter Leute dafür zu benutzen, seine Macht zu stärken. Die wichtigsten Losungen, die in Verbindung mit den Massenprotesten verbreitet werden müssen, lauten ungefähr so: Wir akzeptieren die objektiven Rahmenbedingungen der neu entstehenden Marktwirtschaft, halten es aber für notwendig, sie mit einem System ökonomischer Demokratie zu durchdringen. Wir verlangen jedoch von der Regierung, wenigstens die Versprechen einzulösen, die vor dem Beginn der Wirtschaftsreform, vor der Liberalisierung der Preise gegeben wurden. Das trifft vor allem die Angleichung der Löhne an die Preisentwicklung.“
Erzähler:
Das Credo der geplanten Partei, das Kolganom hier formuliert, klingt für westliche Ohren wie ein leerer Refrain. Unter den gegebenen Verhältnissen in der ehemaligen Sowjetunion scheint dies aber die Form zu sein, in welche Kampfansagen an die Regierung zur Zeit gekleidet werden können. Andere Vertreter des „Orgkomitees“ berichten schon über bisherige Aktivitäten der Parteiinitiative: so eine gewerkschaftliche Protestdemonstration am 23. Oktober 1990, so Protestaktionen gegen die wilde Privatisierung, gegen die wuchernde Korruption der neuen Verwaltung. Sie berichten von der Brutalität, mit der Jelzins Präfekten die örtlichen Sowjets kaltstellen und liquidieren. Sie berichten über Initiativen an anderen Orten in der Union, über Pressearbeit. Ausführlicher Punkt ist die parlamentarische Tätigkeit der Fraktion im Stadtsowjet. Sie konnte eine Reihe von Korruptionsskandalen in der Presse enthüllen. Die Gastredner, auch einige Rednerinnen, unter ihnen viele soeben erst heimatlos gewordene KPdSU-Funktionäre oder -Mitglieder fordern noch diesen und jenen Punkt ein, vor allem die Erhaltung bisheriger sozialer Rechte betreffend. Ein gestandener Arbeiterfunktionär bringt die Erwartungen der Versammelten auf die Formel:
Männliche Stimme:
„In unserem Programm, vor allem auch in unseren Aktionen müssen Vorschläge zum Schutz des Selbstschutzes der Arbeitnehmer in nächster Zeit das Wichtigste sein.“
Erzähler:
Allgemeiner Beifall beweist, daß damit die Stimmung der Anwesenden getroffen ist. Dann allerdings folgt ein Auftritt, an dem schlaglichtartig erkennbar wird, wie dünn die Wand der demokratischen Rationalität ist, die diese Versammlung von vergleichbaren draußen, z.B. der auf dem Manegenplatz, heute trennt. Es spricht ein junger Mann, Mitglied einer ihrem Selbstverständnis nach reformsozialistischen Gruppe. Nach Ansicht der Anwesenden, so stellt er sich vor, sei er sicher „Extremist“, denn er halte an den revolutionären Paradigmen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki fest. Dann bricht es aus ihm hervor:
Männliche Stimme“:
„Mir kommt es so vor, als sei dies keine Versammlung der `Partei der Arbeit‘, sondern lediglich eine der Liebhaber der Arbeit. Worüber sprechen die verehrten Mitglieder des Orgkomitees? Sie sagen, daß sie, die im Moskauer Sowjet sitzen, die Unterstützung der einfachen Leute für die Verwirklichung ihrer Projekte haben wollen. Aber was können das für Auseinandersetzungen um Projekte, Bürgermeister usw. sein, wenn vor uns real das Problem der beginnenden Hungersnot, des Zusammenbruchs und der allgemeinen Katastrophe steht? Die Produktion verringert sich vor unseren Augen und Millionen und Abermillionen Rubel häufen sich in den Taschen der Parasitenbande. Kann man unter diesen Umständen etwa von einer Demokratisierung sprechen? Niemals werden unsere Stimmen gleich sein, wenn ich tausend Rubel habe, wenn ich den ganzen Tag mit der verdammten Arbeit zubringen muß, mit der Schaufel Beton schippen, während ein anderer nachmittags schläft wie viele meiner Bekannten in der demokratischen Bewegung. Wie kann man mit dieser Bande von Verbrechern über demokratische Methoden reden, wenn sich in der Stadt die Banditen herumtreiben? Wollen Sie diese Leute mit Abstimmungen und Unterschriften bitten, wegzugehen? Nein! Die muß man fangen und einsperren! Die muß man auf jede Weise unschädlich machen! Wenn eine Bande Terroristen Sie überfällt, dann werden Sie die sogar physisch unschädlich machen. Da würden Sie nicht zögern. Aber wenn diese Bande Sie überfällt, offen und schamlos, was tun sie da?“
Erzähler:
Es entsteht Unruhe im Saal. Eine sofort durchgeführte Abstimmung ergibt jedoch eine klare Mehrheit dafür, daß der junge Mann zuende sprechen soll. So steigert er sich zu der Forderung, der einzige Ausweg sei die Wiederherstellung der Diktatur des Proletariats! Und zwar jetzt! Die Unruhe steigert sich zur allgemeinen Diskussion in den Reihen. Mit dem Pathos seines Vorredners sei er durchaus einverstanden, greift der nächste Redner beruhigend ein. Die russische Regierung und die Führung Moskaus seien eine Verbrecherbande und noch gebe es kein Gesetz, das eine Kritik des russischen Präsidenten als Majestätsbeleidigung verfolge. Beifall im Saal. Der so redet, ein gepflegter junger Mann im unauffällig modischen Anzug, ist Issajew, Chefredakteur der „Solidarnost“, einer der Initiatoren der neuen Partei, Anarchist. Lediglich mit der Forderung nach der Diktatur des Proletariats ist Anarchist Issajew nicht einverstanden. Die Forderung stehe wohl im umgekehrten Verhältnis zur Größe der Organisation, für die sein Vorredner gesprochen habe, spöttelt er. Das sei typisch für die gegenwärtige Linke im Lande. In Wirklichkeit könne der reale Platz der Linken könne in nächster Zeit doch nur der der stillen Opposition sein.
Auch für Boris Kagarlitzky, Moskauer Kopf der „Sozialistischen Partei“, ebenfalls einer der Initiatoren, dem das Schlußwort der Veranstaltung zufällt, sind die Ausfälle nur Anlaß, um daran präzisieren, was in nächster Zeit Opposition heißen könne:
Kagarlitzky:
„Hier wurde über die Opposition gesprochen. Was für eine Opposition wollen wir? Eine stille. Keine stille? Natürlich haben wir uns versammelt, um die Gesellschaft umzugestalten. Aber es ist klar, daß es keine Umgestaltung und keine Unterstützung durch die Massen geben wird, solange keine Arbeit durchgeführt wird, die auf die konkrete soziale Absicherung orientiert ist. So ist die Situation! Deshalb würde ich sagen, daß unsere Aufgabe nicht die des Stillhaltens, sondern die des Aushaltens, des Widerstands ist.“
Erzähler:
Vorfälle wie diesen gibt es häufiger bei Treffen der radikaldemokratischen Opposition, seit Teile sich entschlossen haben, mit früheren ideologischen Gegnern, also den ehemals offiziellen Gewerkschaften und nun auch den heimatlosen Mitgliedern der früheren KPdSU eine gemeinsame Linie zu finden. Die Krise beschleunigt die ideologische Nivellierung.
Auf welcher Ebene das geschieht, kann man nach der Veranstaltung von Boris Kagarlitzky erfahren: Die Regierung habe der Bevölkerung den Krieg erklärt, führt er aus. Sie handele heute wie eine Kolonialmacht in ihrem eigenen Land. Sie repräsentiere die westlichen Geschäftsleute und die, so Kagarlitzky, lokale Kompradorenelite, also die, die ihr eigenes Land an den Westen verkaufen, gegen die eigene Bevölkerung. Dies alles laufe auf ein Lebensniveau wie in Indien hinaus. Aber die Regierung habe den Krieg gegen die eigene Bevölkerung schon verloren. Es sei Zeit für sie, Frieden zu schließen. Sie müsse aufgeben. Sie müsse die Privatisierung stoppen. Sie müsse die Liberalisierung stoppen. Sie müsse aufhören, die westliche Herrschaft ins Land einzuführen. Sie müsse sich der Garantie der Grundbedürfnisse des Volkes zuwenden, statt den Grundbedürfnissen ausländischer Unternehmer und einheimischer Privilegierter. In dem Moment allerdings, in dem die Regierung dies täte, werde sie genau die Unterstützung der sozialen Kreise verlieren, die jetzt hinter ihr stünden. Der einzige Ausweg werde dann darin bestehen, die Regierung auszuwechseln. Das werde Ruzkoi sicher versuchen. Aber sein Erfolg werde begrenzt sein. Er werde letzlich nur den Grund für das Einsteigen der nächsten Kraft vorbereiten, statt sich selbst zu stabilisieren. Wie jetzt Jelzins, werde auch sein Weg nur ein vorübergehender sein. Letztlich, so Kagarlitzky bestimmt, könne das nur auf die eine oder andere Art eines Kriegskommunismus hinauslaufen.
Wo Kagarlitzky in Erinnerung an die Zeit nach 1917 von „Kriegkommunismus“ spricht, bevorzugt der Anarchist Issajew ein, wie er sagt, weniger mißverständlichen Begriff: „Kriegspatriotismus“. Bei oppositionellen Gewerkschafterr heißt es eher „Kriegskapitalismus“. Sie alle aber meinen dasselbe Szenario: die unvermeidliche Diktatur, die allein schon deswegen notwendig sei, um das Überleben der Bevölkerung zu garantieren. Das wüßten heute alle, meint Boris Kagarlitzky, aber niemand außer der linken Opposition habe den Mut, es auszusprechen. Kagarlitzky, der wie seine Freunde auch heute durchaus von neuen Formen des Sozialismus träumt, ist sich der Problematik der so weit reduzierten Zielsetzung bewußt:
Boris Kagarlitzky:
„Man kann uns natürlich anklagen, kein positives Programm zu haben. Aber positive Programme will zur Zeit niemand hören. Jetzt geht es um einen Weg aus der Krise. Aber heute kann man gar nichts erreichen, ohne die Macht zu ergreifen. Die Macht haben wir nicht. Deshalb kann die Grundlinie linker Opposition nur heißen: „Schützt die Grundbedürfnisse jetzt!“. Das bedeutet eben zuallererst, Widerstand zu organisieren.“
Erzähler:
Ob die „Partei der Arbeit“, die schon den Traum vom reformierten Sozialismus hintenanstellen mußte, mehr ist als ein neuer Traum, diesmal dem vom Widerstand, wird sich zeigen. Noch in den nächsten Monaten wird man sehen, ob diese Partei in der Lage sein wird, spontane Proteste nicht nur effektiv, sondern auch noch demokratisch zur zur konstruktiven Überwindung der Krise zu bündeln, oder ob sie von der Vergangenheit eingeholt wird. Ihre Initiatoren wissen, daß sie sich in einem gefährlichen Sog bewegen. Auf die Frage, worin sich ihre Linie von der der Konservativen unterscheide, die ebenfalls zur Verteidigung des Volkes gegen den Ausverkauf an den Westen aufriefen, räumt Boris Kagarlitzky ein:
Kagarlitzky:
„Es ist wahr. Der vollkommene Kollaps der Ideologie der Demokraten macht die Stalinisten wieder attraktiv. Die neue demokratische Linke wächst nicht schnell genug, um das Vakuum zu füllen. Wir müssen unsere Position, unsere Ansichten erklären, z.B. daß es einen russischen Weg aus der Krise gibt, geben muß, aber keinen russischen Sozialismus. Die Stalinisten brauchen dagegen nur an das zu erinnern, was die Menschen schon von früher her kennen. Wir müssen wachsen. Sie brauchen kein Wachstum. Sie sammeln nur.“
Erzähler:
Aber Schlimmer noch: Nicht nur, daß die Altstalinisten nur zu sammeln brauchen. Die radikaldemokratische Opposition hat sich zudem auch noch an der Frage der Initiative für die „Partei der Arbeit“ gespalten. Die vormals starke „Konföderation der Anarchosyndikalisten“ ist auf 250 Mitglieder geschrumpft. Die Orientierung der Moskauer Gruppe auf die Zusammenarbeit mit früheren, wie es heißt, „Offiziellen“, hat ganze Ortsgruppen vertrieben. Die Kritiker werfen der Führung zudem eine Gründung „von oben“, Zentralismus und Verrat an den Prinzipien der Selbsverwaltung vor.
Vadim Damier, Politologe in Moskau, Ökologe, ehemaliges Mitglied bei den anarchistischen Initiatoren, gibt der neuen Partei keine Chance:
Vadim Damier:
„Die `Partei der Arbeit‘ ist eine Kopfgeburt. Sie ist ein Dachverband für heimatlose linke Ideologen. Bei uns existiert keine oppositionelle Arbeiterbewegung, die man von oben zusammenfassen könnte. Sie muß erst entstehen. Aber dafür reicht unsere Zeit nicht, fürchte ich.“
Erzähler:
Die „Sozialistische Partei“, der größte Partner im Bunde neben den oppositionellen Gewerkschaftsgruppen, ist in zwei Lager zerfallen. Die St. Petersburger Gruppe, sowie viele Gruppen in anderen Städten werfen den Initiatoren der „Partei der Arbeit“ Rückfall in bolschewistische Vorstellungen, insbesondere auch Kooperation mit den alten Apparatschiks vor. Statt auf die Konfrontation zwischen arbeitender Bevölkerung und neuen Unternehmen setzen die Abgespaltenen auf ein Bündnis zwischen Arbeiterschaft und mittlerem Unternehmertum gegen die Staatsbürokratie. Statt auf die Gründung einer Partei setzen sie auf die Entwicklung eines alternativen Netzes selbstverwalteter Gruppen und selbstständiger Kooperativen.
Michail Maljutin, Moskauer Politikwisenschaftler ist einer der Repräsentanten dieser Strömung. Er geht scharf mit seinen ehemaligen Freunden ins Gericht:
Michail Maljutin:
„Das ist der absolute Bruch. Wir sind nicht prinzipiell gegen die Nutzung der gewerkschaftlichen Ressourcen. Aber erstens ist das wieder einmal der Versuch einer kleinen Gruppe von Leuten, zwei bis drei Personen, der ganzen russischen Provinz etwas zu diktieren. Zweitens darf man unserer tiefen Überzeugung nach in diesem Moment keine Partei gründen. Drittens erschrecken unsere Freunde sich und ihre Umgebung, nicht anders als beliebige Stalinisten es auch tun, mit Fantasien über drohenden Faschismus, Diktatur und weiteren Horrorvisionen, um ihnen dann mit dem Mythos des großen Massenstreiks zu begegnen. In unserem Land ist natürlich alles möglich, von der Ankunft Christi über die Landung der Außerirdischen bis zum großen Sitzreik aller Werktätigen. Aber selbst wenn es einen solchen Streik geben sollte, dann wird die `Partei der Arbeit‘ dabei keine Rolle spielen.“
Angesichts der Selbstzerfleischung der radikaldemokratischen Opposition klingt erschreckend realistisch, was der Liberale Andranik Migranjan über die „Partei der Arbeit“ zu sagen hat:
Migranjan:
„Ich hörte davon. Ich glaube nicht, daß irgendeine dieser Parteien ernsthaft eine Zukunft hat. Ich glaube, Parteien haben für die absehbare Zukunft überhaupt keine Chance in diesem Land. Die einzige Partei, die eine Zukunft in diesem Land hat, ist eine allumfassende nationalistische Partei. Sie kann allerdings nicht von selbst entstehen. Sie kann nur organisiert werden, wenn die Armee zusammen mit einigen anderen Gruppen die Macht ergreifen kann.“
Erzähler:
So droht die Zuspitzung der sozialen Auseinandersetzung auf die nationale Problematik zurückzuwirken. Es bleibt nur zu hoffen, daß die Armee die Macht nicht ergreift und daß die herrschenden Kreise der heutigen GUS, Jelzin, allen voran, ebensoviel Angst vor dem Bürgerkrieg haben und ebenso überleben wollen wie ihre Völker.
Kai Ehlers
Von Kai Ehlers erschien soeben das Buch:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa“, Verlag am Galgenberg, September 1991, 19,80.