Kategorie: Feature/Radio

Von 1989 bis 2004 habe ich ca. 100 Radiofeatures zur nachsowjetischen Entwicklung in Russland und deren lokelen und globalen Folgen erstellt. Sie basieren auf Gesprächen und Untersuchungen, enthalten daher eine Fülle authentischen Materials, das ich Ihnen hiermit zugänglich mache.

Sie finden die Features in der chronologischen Reihenfolge Ihrer Erstellung. Gezielte Informationen können Sie sich durch die Suchfunktion erschließen. Die Audiofassungen liegen mir als Kassetten vor. Wer Interesse an der Audiofassung hat, möge sich melden.

Besuch bei einer russischen Bezirksrichterin

Vorspann seitens des Senders. Sinngemäß: Welche Spuren hinterlassen Wandlungen im Alltag? Ein Besuch im Bezirksgericht im Arbeiterdistrikt Kirowski in Nowosibirsk.

O-Ton 1:Samie glawnie trudnosti… (0,38)     … winuschdi raboti samimatsja)
Regie: Alle O-Töne kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss des Zitats hochziehen und abblenden. Alle O-Töne sind identisch mit den Zitaten, in den ersten und letzten Sätzen jeweils wörtlich. Der letzte O- Ton wird am Schluss nach dem Kommentar hochgezogen und nach dem Lachen abgeblendet.

Übersetzerin:  „Die Hauptschwierigkeit ist die Überlastung. Uns                 fehlen die Mitarbeiter, uns fehlt die Zeit, um so zu arbeiten wie es sein sollte. Es fallen hier heut so viele Dinge an, dass wir einfach nur noch springen, springen, springen. Dazu kommt, dass an allen Ecken das Geld fehlt; Moskau plant, aber die Mittel bekommen wir nicht: keine Kopierer, keine Computer, nicht einmal ausreichend Exemplare der gesetzlichen Verordnungen! So befassen wir uns hier nicht nur mit unserer eigentlichen Arbeit, sondern sind gezwungen, uns noch mit rein technischen Dingen zu beschäftigen.“

Erzähler: Galina Popienko, leitende Richterin, empfängt uns                 im zweiten Stock eines Mehrzweckgebäudes. Im Volksmund wird es einfach Bezirkskontrollpunkt genannt: unten Polizeiwache, im oberen Stockwerk die Prokuratur, die allgemeine Rechtsaufsichtsbehörde. Frau Popienko, eine freundliche, runde Frau, die viel lacht, während sie mit uns spricht, nimmt kein Blatt vor den Mund:

Ton 2: Ransche djela po ubistwa… (0,21)     … wypili, padrali, ubili

Übersetzerin:   „Früher gab es fünf, sieben, im Höchstfall zwölf                 Mordfälle pro Jahr. Jetzt habe ich an einem einzigen Tag gleich fünf `Morde‘ auf dem Tisch. Alle hängen sie irgendwie mit Alkohol zusammen: Affekthandlungen, keine großen moralischen Fragen. Es kommt alles aus dem gewöhnlichen Alltag: gesoffen, geschlagen, getötet.“

Erzähler:   Beängstigend wachse auch die Zahl der                 Erpressungen durch Gewaltandrohung. Zwei, drei, vier Fälle habe sie am Tag. Besonders beunruhigend sei, dass das durch junge, kräftige Leute geschehe, die so ohne Arbeit, einfach durch Gewalt, zu Geld kommen wollten:

Ton 3. Setschas pawilas novie formi… (0,32)     … kotorie ransche nje bilo)

Übersetzerin: „Jetzt sind neue Formen des Verbrechens entstanden: Racket, also Schutzgelderpressung, mafiotische Aktivitäten, organisierte Strukturen. Früher haben wir von so etwas nichts gehört. Früher blieb das alles auf diesem Niveau: Man klaut, man räumt Wohnungen aus, man bestielt irgendein Unternehmen. Aber dass da einer kommt, der einfach Geld fordert – das ist bei uns heute neu. Überhaupt sind mit der Kapitalisierung des Landes bei uns Momente aufgetaucht, die es früher nicht gegeben hat.“

Erzähler:     Eine moralische Wende?

O-Ton 4: Besoslow, moralni Ismeninije u swech… (0,38) … nada ubiratj i budit tschista

Übersetzerin: „Aber sicher, (…) selbstverständlich, bei allen von uns. Beim Gerichtsapparat nicht anders als bei den Verbrechern, wie auch bei den einfachen Bürgern.  Wir alle haben uns ein wenig verändert. Es gibt eine größere Selbstständigkeit. (…) Die Menschen sind freier geworden und wissen sich besser zu schützen. Andererseits gibt es jetzt viel Demagogie der Art, dass man das eigene Versagen irgendwelchen Umständen oder Leuten zuschiebt, kritisiert, statt selbst etwas zu versuchen. Ich denke dagegen, wenn es im Haus schmutzig ist, muss man nicht fragen, wer Schuld hat, dann muss man den Besen nehmen und ausfegen, aufräumen, dann wird es sauber sein.“

Erzähler: Das erinnert an Formulierungen des Rechtsaußen                 Wladimir Schirinowski. Er meint damit, jeden Verbrecher standrechtlich erschießen lassen zu wollen. Ob sie mit ihm übereinstimme?

O-Ton 5: Njet besoslowna…  (O,27)     … schto nje pobiwatj wsje sosedi)

Übersetzerin: „Nein, selbstverständlich nicht. Ich habe keine                 Beziehung zu ihm. Ich denke, dass alle Maßnahmen demokratisch sein sollten. Wir sind doch vernünftige Menschen, Menschen des 21. Jahrhunderts. Da muss man auch auftreten mit Methoden des 21. Jahrhunderts. Wenn man schon renovieren muss, dann ohne dabei alle Nachbarn gleich umzubringen.“

Erzähler: Frau Popienko hofft auf den Fortgang der                 Reformen. Der werde schließlich doch ein neues Verhältnis zum Eigentum entstehen lassen und damit auch die Kriminalitätsrate wieder senken.
Bei der Frage der Vorbeugung, brechen ihre Sorgen dann aber doch noch einmal hervor: Früher sei der Mensch eingebunden gewesen, heute stehe er allein. Früher seien die jungen Menschen versorgt gewesen, heute bringe die Spaltung der Gesellschaft in wenige Reiche und viele Arme Neid und Habgier hervor. Unvermeidlich ergebe sich damit eine Grundlage für den Anstieg des Verbrechens. Das Schlimmste am neuen Gesicht des Verbrechens aber sei:

O-Ton 6: Zynism pojawilsja… (1,00)
… wot tak menjaetsja u nas prestubnik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Zynismus hat sich entwickelt! Dem Menschen ist                 sein Glaube an eine helle Zukunft genommen worden. Früher wusste der Mensch: dass bei uns alles gut ist, dass bei uns alles gerecht ist; bei uns bist Du versorgt, der Staat kümmert sich um dich. Wenn Du ehrlich arbeitest, kannst Du das und das erreichen. Jetzt ist dieser Glaube zerstört und wird durch andere Werte ersetzt. Aber nicht alle können ihn durch den Glauben an Gott, nicht alle durch Vertrauen in die eigene Kraft ersetzen. Einige sind auch einfach zu faul, sich mit eigenen Händen eine Zukunft aufzubauen. Und so kommt es, das die Leute runterkommen, anfangen zu saufen, Drogen nehmen, dass ein Leben nichts mehr gilt. Eine große Zahl von Verbrechen hängt ja auch mit der ansteigenden Zahl von Drogensüchtigen zusammen. In dieser Weise ändert sich bei uns das Bild des Verbrechers.“

Erzähler: Diese düstere Klage der Richterin wird nur noch dadurch gemildert, dass sie mich am Ende freundlich kritisiert, ich hätte sie vergessen danach zu fragen, wie sie persönlich mit ihrer Tätigkeit zurechtkomme. Das nämlich falle ihr am schwersten: Menschen verurteilen zu müssen, die sie als Opfer der Verhältnisse nur allzu gut verstehen könne verstehen könne.

Ton 7: …Schlussworte (0,17)

Regie: O-Ton auf der Mitte des Zitats allmählich hochziehen, mit dem Lachen ausblenden

Unterwegs in Tulinskaja – Sowchose im Übergang

Im Sommer des Jahres `94 schien es so, als ob die russische Entwicklung in ruhigere Bahnen kommen könnte. Aber die vorübergehende Stabilisierung, die der Auflösung des obersten Sowjet und der übrigen Sowjetstrukturen im Oktober 1993 folgte, droht sich als Scheinblüte zu erweisen, deren absehbares Ende nur noch tiefer in die Krise führt.

Welche Spuren diese Krise in der Landwirtschaft zieht, zeigen die Eindrücke, die Kai Ehlers bei seinem Besuch einer ehemaligen Mustersowchose in Sibirien sammelte.

A – Athmo 1: Fahrt im PKW auf der Ausfallstraße (1,20)    (Fahrgeräusche, Beginn der Rede…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, zeitlang unterlegen, abblenden

Erzähler: Nowosibirsk. Ausfallstraße nach Süden. Auf dem                 Weg zur Sowchose Tulinskaja, seit einem Jahr Aktiengesellschaft. Sie liegt etwa 100 Kilometer im Süden am Ufer des zum See gestauten Ob. Wassili Horn ist ihr Direktor. Früher sei Tulinskaja eine Mustersowchose gewesen, erzählt er, die größte Wirtschaft in der Region: Vier Dörfer, 22. 000 Hektar, davon 6000 gepflügter Boden, 10.000 Weideland, 1500 Kühe und 8000 Schweine. Einen Profit von 1,5 Millionen Rubel habe der Betrieb 1984 gemacht, als er dort von der Partei eingesetzt worden sei. Heute kämpfe der Betrieb um sein Überleben:

A – Ton 1:  Wassili Horn (0,21)  (Tschas u nas tak…
Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Jetzt ist bei uns alles auf den Kopf gestellt:                 Je mehr Du arbeitest, umso mehr Verlust machst du. Zurzeit ist es nicht profitabel, Milch, Fleisch oder Brot zu produzieren.“

Erzähler: Grund: Die Erlöse für die eigenen Produkte würden                 durch die Zwischenhändler und billige Westware immer tiefer gedrückt, die Preise für Maschinen, Treibstoff, Heizung und sonstigen Bedarf dagegen von der Inflation hochgetrieben. Die Schere gehe immer weiter auseinander. Statt Unterstützung zu leisten, verlange die Regierung auch noch irrsinnige Steuern. Die staatlichen Kredite seien nicht zu bezahlen. Früher hätte die Sowchose Straßen, Wohnungen und Produktionsanlagen gebaut. Jetzt könne sie nichts davon machen, alles verkomme:

A – O-Ton 2: Forts. Direktor (0,50)                 (Nu, djela w tom tscho….
… unitschtoschit wabsche russskuju natiu.)

Regie. O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer kurz hochziehen, wieder abblenden.

Übersetzer: „Auf allen Ebenen wird davon geredet, dass der Bauer wieder zum Bauern gemacht werden muss, damit er über das verfügen könne, was er selbst produziert. Damit bin ich einverstanden! Aber was jetzt geschieht, das hat es unter keiner Macht gegeben, nicht unter der zaristischen, nicht unter der sowjetischen, wo man uns abgerichtet hat. Jetzt ist angeblich alles freiwillig. Aber was heißt freiwillig, wenn man uns das Messer an die Gurgel setzt? Nein, ich habe das Gefühl, das da ein bestimmter Auftrag ausgeführt wird – ich weiß nicht, vielleicht die russische Nation überhaupt zu vernichten?“

Erzähler: Bestenfalls sei das Ganze nicht zu Ende gedacht: Wer was bei der Aufteilung des Eigentums bekomme, und wie das neu organisiert werden solle, so dass es auch weiterhin funktioniere, ohne dass der Bauer auf vollen Feldern krepiere. Auch die Umwandlung der Sowchose in eine AG sei letztlich nur ein formaler Akt:

A- O-Ton 3: Direktor Fortsetzung (1,36) (To jest, on stanowitzka sobstwennikom…     …eto ponimaet swje, ne koem obrasim)

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) hochziehen und wieder abblenden

Übersetzer:    „Die Leute sind zwar Eigentümer geworden, es                 wurde eine Leitung gewählt, eine beratende Versammlung und ein Vorstand des Rates; persönlich bin ich das, aber als höchstes Organ fungiert die Versammlung. Das Elend ist nur, dass die Leute sich nicht als Eigentümer des Bodens oder ihres Anteils am Gesamtbesitz fühlen.“

Erzähler: Auf der Grundlage dieser ganzen Unentschiedenheiten habe sich auch die Arbeitsdisziplin gelockert, hätten Diebstahl, Raub und Suff in erschreckenden Maße zugenommen. Das ganze spitze sich schließlich in der Frage zu: Wohin mit diesen Leuten, die nicht arbeiten wollten? Und auch denen, die es nicht könnten? Zur Entscheidung dieser Frage gebe es zurzeit überhaupt keine Mittel. Er könne ja nicht einmal den Lohn auszahlen. Erst heute Morgen hätten ihm seine Fahrer die Hölle heiß gemacht. Ob er offene Konflikte befürchte? Nein, sie hätten sich geeinigt, dass man gemeinsam eine Lösung finden müsse:

Übersetzer: (2)“Wir sind alle so erzogen, dass es keine Konflikte                 geben darf. Der einfache Mann weiß auch gar nicht, wie er das machen soll. Die Leute spüren, dass man uns gegeneinander hetzen will. Aber hier in Sibirien wird es so was nicht geben. Die Menschen verstehen, dass die gegenwärtige Macht gegen ihre Interessen, dass sie dem Volk feindlich ist. Nein, etwas anderes beunruhigt mich: dass das Volk nach einer harten Hand verlangen könnte, einem Mann wie Schirinowski. Denn das es so nicht weitergeht wie jetzt, das ist jedem klar.“

B – Athmo 2: Sowchosenbüro, Vorplatz (1,36) (Karrengeräusche, Frage, Alter spricht…      … Alter, Lachen, Karrengeräusche)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 4, langsam hochziehen, so dass voller Ton, wenn der Alte spricht, kurz stehen lassen, dann abblenden, am Ende des Erzählertextes langsam wieder hochziehen
Erzähler: Vor dem Büro der Sowchose wird sofort deutlich, wovon der Direktor spricht. Hier werden gerade Anteilscheine ausgegeben. Beschiss sei das, schimpft der Alte. Das Geld wolle man ihnen aus der Tasche ziehen, sonst nichts. Was könne er sich für die Scheine kaufen? Einen Dreck! Das Land gehöre doch weiter dem Staat!
Vergeblich versucht der Administrator des Ortes, der auf Wassilis Bitten gleich gekommen ist, um mit mir zu sprechen, dem Alten zuzureden: In Kürze werde ein Landgesetz verabschiedet. Dann könne er frei verfügen. Der Alte bleibt störrisch: Aber wann werde das sein? Das habe doch sooo einen Schwanz!

A – Athmo 3: Verwaltungsgebäude (0,19) (Schritte, Schlüssel, Tür…

Regie: Mit Athmo 2 verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler: Im Verwaltungsgebäude setzt sich die Demonstration gleich fort. Dieses mal mit dem Verwalter, einem Jakuten.

B – O-Ton 4:Dorf-Administrator (0,34) (Ja glawo Administratii mestni…

Regie: O-Ton 3 verblenden, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Ich bin der Kopf der örtlichen Selbstverwaltung.                 Früher habe ich mit einem Sowjet gearbeitet. Jetzt ist der Sowjet aufgelöst. Ich bin praktisch allein.“

Erzähler; Der eigentliche Herr in Tulinskaja sei nach wie vor der Direktor. Er selbst versuche, die wenigen Mittel, die in dieser schweren Zeit noch geblieben seien, zu sammeln und für das gemeinsame Wohl einzusetzen. Aber das Meiste gehe schon für Reparaturen und Heizung weg, der Rest für Bildung. Zur Unterstützung bedürftiger Familien bleibe praktisch nichts. Jeder müsse heut sehen wie er selbst durchkomme.
Natürlich nähmen die Diebstähle zu. Dagegen könnten er und die beiden Milizionäre, die ihm unterstünden, praktisch nichts unternehmen. Auch Lohnsperren, die er über den Direktor erwirke, nützten nichts. Wie könne man etwas sperren, was es nicht gebe? Das Schlimmste aber sei der moralische Verlust.
A – O-Ton5: Adimistrator, Fortsetzung (0,35)                 (Demokratia, o kotorim mi goworim…     … nje wischu)

Regie: O-Ton kurz hochziehen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen.

Übersetzer: „Die Demokratie von der wir so viele Jahre                 sprechen – in meinen Augen ist das Anarchie. Keine Gesetze. Als gebildeter Mensch bin ich für Kultur, Bildung, Glück, Gewissen. Nur dann funktioniert Demokratie. Bei uns seh ich das nicht.“

Erzähler:    Für seine Alternative braucht er nur ein Wort:

A – O-Ton 6: Forts. Administrator (0,01) (Diktatura…
Regie: Keine Übersetzung

Erzähler: Auf die Frage wie und durch wen, beeilt er sich     zu versichern: Ganz sicher nicht durch Schirinowski. Auch zu Stalin will er nicht zurück. Alles darf nur über Gesetze laufen! Alle Menschen haben das gleiche Recht! Das ist für ihn als Angehöriger einer nationalen Minderheit klar. Wir seien doch alle Menschen! Aber es müsse Ordnung geschaffen werden, sonst gehe Russland unter. Er sei überzeugt, dass das bald kommen werde.

A – Athmo 4: Hupen, Hunde (1,00) (Hupe, Hunde, Stimmen..)

Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Ausfahrtbereit. Es soll zur Melkstation in einem                 der Nachbardörfer gehen. Wir warten noch auf eine Mitfahrerin. Die Männer unterhalten sich über Hunde. Ohne Hund zu leben, sei heut nicht mehr möglich, meint Wassili. Er habe drei, erzählt der Fahrer. Der Administrator hat zwei. Wassili schwärmt von einer kräftigen sibirischen Rasse. Früher sei so etwas nicht nötig gewesen. Darin ist man sich einig.

A – O-Ton 7: Wirtschafterin (1,32)
(Nu ja glowni Ökonomist… (… nje prodajom paka, Wagengeräusche)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, mach Übersetzerin wieder hochziehen.

Erzähler: Endlich geht es weiter: Die Mitfahrerin erweist sich als Hauptwirtschafterin der Sowchose. Ja, das Leben im Dorf sei schwer geworden, seufzt sie: keine soziale Sicherheit, keinerlei Garantie. In der Stadt habe man noch andere Möglichkeiten. Im Dorf gebe es keinen Ausweg! Besonders für die Frauen sei sehr es schwer, die neben ihrer schweren Arbeit, häufig in der Tierhaltung, auch noch für das Haus und die Kinder verantwortlich seien. Kindergartenplätze gebe es dank regionaler Unterstützung noch, aber dafür müssten inzwischen 15.000 Rubel hingelegt werden. Für viele sei das fast ein halber Monatslohn. Darüber hinaus sei alles sei dreifach so teuer wie in der Stadt: „Transportaufschlag“ werde das heute genannt.

Übersetzerin: „Wir bemühen uns, das Dorf so gut es geht mit                 eigenen Produkten zu versorgen. Wir haben ja auch einen eigenen Handelspunkt, wo wir Fleisch, Quark usw. verkaufen. Früher hatten wir auch eigene Säfte, Makkaroni und anderes dort. Zurzeit produzieren wir praktisch nichts für den allgemeinen Konsum.“

B – Athmo 5: Ankunft in der Melkstation (1,00) (Türenschlagen, Kühe, Melkanlage, Stimmen..)

Regie: Verblenden mit O-Ton 8 (Fahrtgeräusche), kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden

Erzähler: Melkstation. In zwanzig Boxen werden die Tiere                 hier zum maschinellen Melken zusammengetrieben. Hier arbeiten fast ausschließlich Frauen. Einer von zwei jungen Männern, die ich sehe, ist der Sohn des Administrators, den er mir stolz vorstellt. Er habe hier soeben als Mechanisator angefangen. Seit fünfundzwanzig Jahren melken wir hier schon nicht mehr mit der Hand, teilt eine Frau mir mit.
Sofort bildet sich ein Kreis um den Direktor. Ohne sich vor dem ausländischen Besucher zu scheuen, fordern die Frauen heftig ihren ausstehenden Lohn:
A – O-Ton 8: Melkerinnen (117)                 (potschemu nachodit Dengi…     … ljöd,… njet ljöd, Gemurmel

Regie: O-Ton 9 mit Athmo 4 verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach erstem Erzähler (1) hochziehen

Übersetzerin:  „Warum geht das Geld in die Steuern? Warum kommt                 es nicht zu uns? Sieh dir unsere zwanzig- oder dreißigtausend Rubel an! Eine Schande ist das für unser Land! Wer Kinder hat, die verdienen, wer Pension kriegt, der kann grad noch leben. Aber wovon sollen wir existieren? Das machen die paar Naturalien auch nicht wett. Das reicht ja nicht mal mehr für ein Stück Brot. Das ist kein Leben – das ist Vegetieren!“

Erzähler: (1)  Nun kommt es von allen Seiten: Wovon soll                 ich meine Kinder ernähren? Man lässt uns einfach verhungern! Dabei hängt alles von uns ab! Das Volk ist zu geduldig! Sie haben uns vergessen! Sie lachen uns aus. Nicht einmal Eis gibt es hier, schreit eine Frau immer wieder! Wie man da arbeiten solle!
Erzähler: Der Direktor lässt den ganzen Sturm ruhig über sich ergehen. Zu mir gewandt erklärt er schließlich:

A – O-Ton10: Direktor in der Melkstation (0,15) (Nu, sowjet tscho to…     … rischit)

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer wieder hochziehen und abblenden.

Übersetzer:  „Es ist so, wie ich Ihnen am Morgen gesagt habe.                 Die Frauen beschweren sich mit Recht beim Direktor. Aber sie wissen natürlich, dass der auch nichts entscheidet.“

B – Athmo 6: Garten des Direktors (0,30?)
(Schritte, Worte…)

Regie: Ton zügig hochziehen, nur kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Abends, Wassili zeigt mir den Garten: Apfelbäume, Johannisbeersträucher, Treibhausbeete, im Schuppen daneben zwei Kühe, ein paar Schweine, hinten im Garten das Bad. Danach führt er mich durchs Haus, ein bescheidener Flachbau. Jeder hat sein eigenes Zimmer, darauf ist Wassili besonders stolz. Hier wohnten schon immer die Direktoren. Wassili ist der vierte. Soeben wurde das Haus privatisiert. 15.000 Rubel gehen neuerdings im Monat für Miete, Strom, Gas, Wasser usw. weg. Für ihn sei das nur ein Teil seines Monatslohns, für viele dagegen ein Drittel oder sogar die Hälfte. Da wachse verständlicherweise die Unzufriedenheit.

Regie: Während der letzten Worte bereits Athmo 7 anspielen, so dass Stubenathmo deutlich wird, dann zügig abblenden

A – Athmo 7: Fernseher (025) (Fernseher, erste Worte…)

Sprecher: Nach dem Bad, während im Hintergrund der Fernseher läuft, sprechen wir darüber, was die Dörfler von der Zukunft erwarten. Wassili ist düster. Aber Unruhen? Nein:

O-Ton 11: Direktor zu Haus (0,50) (Chrestianin swegda…     … potschti luboi moment)

Regie: O-Ton kurz stehenlassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) wieder hochziehen

Übersetzer:    „Der Bauer ist ein besonderes Wesen. Er lebt auf                 dem Boden, den er bearbeitet. Der Arbeiter kann seine Arbeit hinwerfen, kann streiken. Der Bauer lässt seine Kühe nicht ungemolken, das Vieh nicht ungefüttert. Er wird immer alles in Ordnung halten. Er mag schreien und lärmen, aber niemals wird er seine Arbeit hinwerfen und streiken. Niemals, das ist sinnlos.“

Erzähler: Die schlimmste Unsicherheit bestehe darin, dass der Muschik, der einfache Mensch, zwar Initiativen ergreifen könne, dem morgigen Tag jedoch nicht vertraue:
Übersetzer: „Er glaubt nicht, dass die jetzige Politik     fortgesetzt wird. Ja, wenn das so weiterginge: `Wir geben Euch Land, nehmt, macht euch selbstständig, bitte sehr! Aber er lebt in der Unsicherheit, dass möglicherweise zwei, drei Jahre vergehen. Das heißt, da kommt ein anderer ans Ruder und alles wird wieder um 180 Grad herumgeschmissen. Das kann praktisch jeden Tag geschehen.“

A – Athmo 8: Unterwegs zur Molkerei (0,37) (Fahrgeräusche, Rede…

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler: Früh am nächsten Morgen. Auf dem Weg zur „Zeche“,                 der betriebseigenen Molkerei. Ihr Chef persönlich hat mich abgeholt. Erst kürzlich hätten sie die Molkerei übernommen, erzählt er. Die zentrale Butterfabrik habe sie abgestoßen. Nicht mehr profitabel. Die Molkerei sei vor gut fünfundzwanzig Jahren erbaut worden, seitdem nicht erneuert. Es müsste dringend etwas gemacht werden. Aber – kein Geld. Alle Produkte gingen praktisch unter dem Gestehungspreis weg.

B – Athmo 9: Ankunft in der Molkerei (0,48) (Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…)

Regie: O-Ton zügig hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Auch in der Molkerei arbeiten nur Frauen. Schnell                 haben sie uns in ihren weißen Kitteln und Kopftüchern umringt. Und nun wiederholt sich fast wörtlich die gestrige Szene von der Melkstation. Nur dass sich dieses mal der Chef der Molkerei verantworten muss. Er verspricht zu tun, was er kann. Aber die Unzufriedenheit ist unüberhörbar. 10 Tonnen Milch verarbeiten sie täglich. Früher seien es mehr gewesen.

-O-Ton11: Frauen in der Molkerei (1,00) (Ja tschitaju, tscho stala chusche…     … nje seriosna prosta)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen

Erzähler:   Sie glaube, dass es schlechter geworden sei, meint eine junge Frau, als ich sie zur Umwandlung der Sowchose in eine AG befrage. Klar, schlechter! stimmen die anderen zu. Das Leben war interessanter, meint eine Ältere. Alles ging schneller, ergänzt der Chef. Wenn Du etwas brauchtest, dann wurde das entschieden! Jetzt mühe sich der Direktor ab, aber nichts komme zustande. Es herrschte mehr Ordnung, fällt die junge Frau wieder ein. Alle hatten Arbeit. Wie könne man von Verbesserung reden, wenn man nicht wisse, wie man existieren solle? Heut hätten sie hier noch Arbeit, aber morgen? Und die Dividende aus den Anteilscheinen der AG hätte auch nicht viel mehr gebracht als ein paar Sonderzuteilungen für Nahrungsmittel.

Übersetzerin:  „Nein, nein, das war nicht richtig, das Alte so                 mit Gewalt umzustürzen. Man hätte das Neue auf der Grundlage des Alten einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch Bauern bei uns geben oder sonst irgendwelche privaten Arbeiten, aber das müsste einfach parallel laufen. Aber hier haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler: Aber auch einen Weg zurück sehen sie nicht. Dafür                 sei es ebenfalls schon zu spät. Wie lange man das aushalten könne?

B – O-Ton12:Frauen, Fortsetzung (0,14) (Wi snaetje, na stolka…     … nach dem Lachen

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen

Übersetzerin:   „Wissen Sie, die Leute sind an das alles schon so     gewöhnt, dass ich fürchte: einfach endlos.“

A – Atmo10: Molkerei, Maschinenraum, Abfahrt, Stimme

Regie: Athmo 10 mit Ton 12 verblenden, kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten, Fahrtgeräusche nach dem Erzähler verblenden

Erzähler: Ein Gang durch den Maschinenraum beendet die Führung. Alles alte Maschinen, wie ich sehen könne, Teile davon sogar aus der Zeit vor der Revolution.
Dann geht es zurück. Wenn sie den Lohn nicht bekommen, dann erschießen sie mich, sagt der Molkereichef. Recht hätten sie. Aber woher solle er es nehmen? Er müsse doch auch für die noch etwas abzweigen, die gar keine Arbeit mehr hätten.

B – Athmo 11: Im Verwaltungsgebäude, Eintritt, Publikum

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Zurück in der Verwaltung. Heute herrscht                 Hochbetrieb. Viele Alte warten auf die Anteilscheine für ihre Familien. Was halten sie selbst von den Neuerungen?
A – O-Ton13: Alte Frauen im Verwaltungsbüro
(Xoroscho ili nje xoroscho…     … nje dawolno)

Regie: O-Ton 14 verblenden mit Athmo 11, kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:  „Gut oder nicht gut: Irgendwie muss man ja                 leben. Früher in der Sowchose war es besser. Da konnte man verdienen, sich erholen. Jedes Jahr hatte man seinen Urlaub. Jetzt in der Aktiengesellschaft gibt es keinen Lohn, werden Miese gemacht. Sie arbeiten und machen Verluste – irgendwas ist daran nicht richtig. Überhaupt ist alles schwer geworden, entsetzlich schwer. Wir versuchen uns mit unserm Garten durchzubringen. Da haben wir alles. So sterben wir also nicht vor Hunger. Aber ich weiß nicht: Irgendwie habe ich das Gefühl, mein Ältester ist nicht besonders zufrieden.“

A – O-Ton 14: Babuschka, Fortsetzung (A budusche setschas nje dumajem…     … takim spossobom, njet, njet!)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden, nach der zweiten Übersetzerin (2) wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Über die Zukunft denken wir zur Zeit nicht nach.                 Wir wissen nicht, was mit uns wird. Früher haben wir gedacht, dass es besser wird. Nach dem Krieg war es schwer. Aber dann war es besser, wirklich jedes Jahr besser. In unserem Dorf haben sie Asphalt gelegt, das Bau-Kombinat war aktiv, der Kindergarten wurde gebaut, wir hatten gute Wohnungen. Das ist alles jetzt eingefroren.“

Erzähler: Von Schirinowski aber wollen auch die beiden     Alten nicht wissen:

Übersetzerin: „Gott behüte! Nein! Wofür? Das muss nicht sein!                 Wir haben doch viele gute Führungsleute. Nehmen Sie unseren Direktor: Solche Leute müssen ran. Vorgezogene Wahlen muss es geben. Jelzin sollte zurücktreten. Er hat viel versprochen, aber nichts gehalten. Das sind doch keine Reformen! Die Reformen waren ja nötig, aber nicht mit diesen Mitteln, so nicht, nein!“

B – Athmo12:Im Auto (Beschleunigung, Frage, Rede der Frau…)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:     Die Rückfahrt trete ich mit Ira und Andrej an.                 Sie sind im Kauf und Verkauf unterwegs. Vertreter könnte man sie nennen. Aber nicht privat, sondern für die Gesellschaft, betont Ira, um deren Erzeugnisse anzubieten. Privat würde sie es nicht machen. Erst wollen sie nicht über Schwierigkeiten reden. Dann erfahre ich aber doch:

B – O-Ton15:Vertreterin (Nam prosta ne dajut…     … prosta ne dajut)

Regie: O-Ton verblenden mit Athmo 12, kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen

Erzähler:  „Man gibt uns einfach keinen Platz, wo wir stehen                 können, dort auf dem Markt, auf den Basaren, in den Läden, an anderen Verkaufsplätzen. Das haben sie alles schon in der Hand. Uns lassen sie einfach nicht ran.“

Erzähler:  Da helfe nur die kollektive Organisation, die                 Absprache, die gemeinsame Organisation. Früher sei das einfacher und besser gewesen, finden die beiden:

B – O-Ton16: Vertreterin, Fortsetzung  (Ransche my mogli usche…     … schits

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach Übersetzerin wieder hochziehen

Übersetzerin: „Früher wusstest du genau: Wenn zu einem     bestimmten Ort kamst, dann nahmen die das und das und das. Jetzt ist das doch sehr anders: Jetzt hängt alles vom Preis ab und von deinen Mitteln. Ohne Geld bist du nichts mehr. Aus. Dann sitzt du fest. Früher konnte man mit ein bisschen persönlichem Geld auskommen, arbeiten, fünfe grade sein lassen, leben.“

Erzähler: Als mich Irina und Andrei in Nowosibirsk  aus dem Wagen ließen, hatte ich begriffen, dass Russlands Zukunft auf dem Lande entschieden wird. Aber sie kann nur gut werden, wenn die Landbevölkerung ihr Vertrauen in ihre bisherige Lebensweise und nicht zuletzt in Direktoren wie Wassili Horn bewahrt.

Landreform in Russland

Take 1: Erkennungsmelodie von Nowosti

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, nach den ersten Worten abblenden.

Erzähler: In Russland werden Fakten geschaffen: Nur wenige             Tage nach der Auflösung des obersten Sowjet und noch vor der Neuwahl eines neuen Parlaments nutzt Präsident Boris Jelzin den rechtsfreien Raum für die Herausgabe eines Erlasses, der den Privatbesitz an Grund und Boden garantiert.
Das Recht auf Privateigentum wurde bereits 1990 anerkannt. Nach der bis heute gültigen Verfassung war Land in der russischen Föderation jedoch bis heute Staatsland. Lediglich der Kauf und Verkauf von Datschengelände war seit 1991 erlaubt.

Erzähler: Im Land herrscht Unsicherheit über den Erlass.             Selbst prinzipielle Befürworter sehen den Schritt eher skeptisch, vor allem in den Regionen. So Oleg Woronin, Dozent für Geschichte in Irkutsk, seit neuestem Kandidat auf der Liste „Bewegung für einen demokratischen Konsens“ des Vizepremier Schachrai:

take 2: Telefongespräch mit Oleg Woronin, Irkutsk

Regie: O-Ton (Telefon) kurz stehen lassen, abblenden. Übersetzer:    „Ich weiß bisher nur, dass der freie Verkauf und Kauf von Land ermöglicht wird. Aber das geht nur zwischen Leuten, die es landwirtschaftlich nutzen, sonst ist es verboten. Wenn das Land innerhalb bestimmter Zeit nicht bearbeitet wird, soll eine Sondersteuer erhoben werden. Im Prinzip ist außerdem klar, dass Kolchos-Land nicht enteignet wird: Kolchosenland bleibt zurzeit bei den Kolchosen. Nur wenn jemand raus will, muss man ihm seinen Landanteil geben. Es wird eine Landsteuer geben, bäuerliche Schuldgerichte für Land und Vermögen. Man versucht die Spekulation zu einzugrenzen. Aber solange das Gesetz nicht veröffentlicht ist, ist das alles noch unklar.“

Erzähler: Es gebe keinerlei Durchführungsbestimmungen,             erklärt weniger zurückhaltend Galina Ssesenowa von der Abteilung Unternehmensberatung des Finanzökonomischen Instituts in St. Petersburg.  Die seien frühestens Anfang des Jahres zu erwarten, wenn sie überhaupt kämen. Häufig blieben Erlasse des Präsidenten leider ohne solche Bestimmungen. Im Übrigen habe Jelzin die örtlichen Verwaltungsbehörden zu ausführenden wie auch zugleich kontrollierenden zu Organen seines Erlasses ernannt. Das sei nichts anderes als eine Aufforderung zur Bereicherung an die regionalen und örtlichen Bürokratien, ein Wahlgeschenk, um dort gute Stimmung zu machen, damit sie die gleichzeitige Beschneidung ihrer politischen Rechte hinnähmen.
Zitator:  „Der Erlass ist das wichtigste Ereignis seit der             Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861“, erklärte der Führer der Bauern-Partei, Tschernitschenko, Parteigänger des Präsidenten, im Radio „Echo Moskwy“. „Aber“, schränkt Tschernitschenko zugleich ein, „solange der Erlass nicht von einer allgemeinen Agrarreform getragen wird, kann er von den Kolchos- und Sowchosendirektoren der Regionen leicht in einen Fetzen Papier verwandelt werden.“
Erzähler:     Die Skepsis ist berechtigt. Der Berg, den             Boris Jelzin mit seinem Erlass in Bewegung setzen will, ist gewaltig und der jetzige Präsident wäre nicht der erste, der daran scheitert. Vor ihm haben es schon die Zaren und dann Stalin versucht. Es sind ja nicht nur siebzig Jahre Sozialismus, die der Verwirklichung des Erlasses entgegenstehen; es ist der tief in der russischen Geschichte verwurzelte Kollektivismus der „obschtschina“, der Dorfgemeinschaft. Sie ist auch heute nicht vergessen. Das gilt vor allem für die nicht-russischen Völker dieses Vielvölkerraumes.
So erzählt Vincenti Tengerekow, Agrarverantwortlicher des Gebietes Altai, einer ethnisch geprägten autonomen Republik im Süden Sibiriens bei einer Führung über die Dörfer:

take 3: Vincenti Tengerekow, Altai (take 13Jeep, take 16, Vincenti)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden.

Übersetzer:  „Hier ist es wie in den Republiken Tatarstan,             Baschkirestan und mit den Tschuwaschen. In diesen Gebieten sind die Sippenverbindungen noch immer stärker. Es ist nicht wie bei den Russen, bei denen neben dem Vater auch der herangewachsene Sohn schon der Alte ist. Nein, da gilt das Prinzip des Ältesten. Und sie arbeiten im ganzen Familienverband. So überleben sie. Wie machen es die Bauern im Bezirk Synakos zum Beispiel? In allen Dörfern sprechen sich die Nachbarn ab: Erst wird für den einen das Heu gemäht, dann für den zweiten, dann für den Dritten. So arbeiten sie dort gemeinschaftlich in der `obschtschina‘, der Dorfgemeinde. Das haben sie schon vor der Revolution so gemacht.“

Erzähler:     Konkrete Informationen dazu kommen heute aus             westlichen Quellen ins Land zurück. So liest man etwa bei dem Schweizer Historiker Valentin Gintermann:

Zitator: „Das wissenschaftliche Verdienst, die Existenz der             Dorfgemeinschaft entdeckt zu haben, kommt dem Baron A.v. Haxthausen zu. In seinen „Studien über die inneren Zustände Russlands“ von 1847 – 1852 hob er erstmals hervor, dass in den russischen Dorfgemeinden periodisch eine Neuaufteilung des Landes erfolgte, wobei die Grundstücke den einzelnen Familien nur zur Nutzung, nicht zum Eigentum überlassen wurden.“

Erzähler: Die historische Rolle der „obschtschina“, so             weiter die Quellen, unterlag geteilter Bewertung: Den einen galt sie als Instrument der Reaktion, den anderen als Beispiel urkommunistischer Demokratie. Die einen bezogen sich dabei auf die patriarchalische innere Organisation, die anderen auf die selbstverwaltete Eigentumsgemeinschaft. Die einen, wie beispielsweise Karl Marx, hielten sie für Keime gesellschaftlichen Fortschritts, die anderen für dessen Hindernis. Jenseits all dieser unterschiedlichen Bewertungen aber steht die „obschtschina“ als das beharrende Element der russischen Geschichte.

Zitator:     Nach der Agrarreform von 1861, die die             bäuerliche Leibeigenschaft aufhob, wirkte die „Obschtschina“ bremsend für die angestrebte Modernisierung, sprich Kapitalisierung, der Landwirtschaft. Die Reform schlug fehl, die befreiten Bauern verelendeten, viele zogen als bäuerliches Proletariat, das sich auch in den Fabriken noch im Bann ihrer Dorfgemeinschaften bewegte, in die entstehende Industrie. Das Dorf prägte die Stadt.
Nach der Revolution von 1905 erklärte P.A. Stolypin die Auflösung der „obschtschinas“ zum Kernpunkt seines Industrialisierungs- und Modernisierungsprogramms, mit dem er das Zarenreich Nikolaus des II. aus der Krise führen wollte. Ein ökonomisch gesundes Bauerntum auf der einen, ein verfügbares Industrieproletariat auf der anderen Seite war sein Ziel. Er hob die Geltung des Gemeineigentums auf. Das führte sehr schnell zu sozialen Differenzierungen in reiche Neubauern und eine verelendende Masse von Landproletariat. Am Ende dieses Weges standen der erste Weltkrieg und die Revolution. Bis heute geht der Streit, ob der Krieg die Reform verhindert habe, oder die Folgen der Reform einer der Ursachen des Krieges wurden.

Erzähler:  Wie Stolypin die bürgerliche, so sah Stalin die             sozialistische Modernisierung durch die „obschtschina“ behindert. Ihre Zerschlagung war der Kern der von ihm durchgeführten Zwangskollektivierung. Dabei enteignete der Staat die Bauern gleich doppelt: einmal von ihrer bauerngemeinschaftlichen Tradition, zum anderen von deren Gegenpart, der privaten Bauernwirtschaft, den sog. Kulaken. Die Bauern wurden jetzt endgültig zu einem Teil des proletarisierten Arbeitsheeres, über das der Staat nach Belieben verfügte. Aber statt zur Spitze des Fortschritts wurden die „obschtschinas“ in dieser zu staatlichen Zwangskollektiven pervertierten Form erneut zum beharrenden Element: In der nach-sowjetischen Landwirtschaft liegt die Produktivität 15 – 20 Prozent unter der westlicher Länder. Sie sind der Hort eines nicht an Leistung, sondern an sozialer Einordnung orientierten Wertmaßstabes der sowjetischen wie auch heute der nach-sowjetischen Gesellschaften Russlands und der GUS. Viele Sowchosen können ihren Angestellten inzwischen keine Löhne mehr zahlen. Mit knapp 2 Prozent Anteil an der landwirtschaftlichen Produktion sind die Privatbauern bisher keine Alternative.  Erneut ist die Bauernfrage, das heißt in Russland: Nutzung oder Zerstörung der bäuerlichen Eigentumsgemeinschaft, zum Brennpunkt der weiteren Entwicklung geworden.
Erzähler:  Aber nicht nur im Altai, nicht nur bei den             kleineren Völkern Sibiriens, an der mittleren Wolga oder im Süden des ehemaligen Vielvölkerimperiums finden sich „obschtschinas“, in denen neben bäuerlichen auch ethnische Besonderheiten bewahrt werden. In Sibirien traf ich auf rein russische „Tolstowzis“, Kommunen, die noch heute, bzw. heute wieder im Geiste Tolstois geführt werden. Ich traf auf Reste der „weißen Raben“, die Ende der siebziger eine den Hippies vergleichbare „Zurück-aufs-Land“-Bewegung initiert hatten. Im Ural, nördlich von Perm, gibt es ganze Regionen, die im Winter nur noch mit dem Hubschrauber zu erreichen sind, wo Dorfgemeinschaften sogar die Kollektivierung im Kern unverändert überstanden haben. An den südlichen Rändern des kränkelnden Imperiums siedeln sich Kosaken mit ausdrücklicher Billigung durch entsprechende Präsidentenerlasse in einem Kranz von Wehrdörfern an, die nach dem Prinzip der „Obschtschina“ organisiert sind: Nach innen hierarchisch gegliederte Selbstverwaltung, nach außen Gefolgschaft für die jeweiligen Herrscher.
Rechte wie linke Gruppierungen führen die Bauerngemeinschaft in ihrem Wappen: Die Bewegung der Bauerndichter erhob die „obschtschina“ seit den 70gern zum romantischen Ideal russischer Wiedergeburt. Heute tragen vaterländische wie neu-linke und anarchistische Gruppen die Bezeichnung „obschtschina“ in ihrem Namen. Auf Versammlungen zur Bauernfrage steht die „obschtschina“ im Mittelpunkt:

take 4: Bauernversammlung

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.

Erzähler: Moskau, Sommer 1992, Versammlung mehrerer             Bauernorganisationen. Von der Forderung nach Garantie des Privateigentums bis hin zu der Meinung, Verkauf von Land sei prinzipiell unmoralisch ist hier wie bei anderen solcher Versammlungen jede Variation zum Thema vertreten. Nur in einem sind Vertreter aller Organisationen sich einig: An der „obschtschina“ werde keine Reform vorbeikommen. Zu lange und zu fest seien die kollektiven Eigentums- und Produktionsstrukturen in der materiellen Struktur des Raumes wie im sozialen Verhalten der Menschen verankert. Eine uneingeschränkte Freigabe könne daher nur Chaos, Spekulation und letztlich Mord und Totschlag nach sich ziehen. Was man brauche, sei ein behutsamer Übergang, eine „gemischte Wirtschaft“, die kollektive und private Betriebe zulasse; vor allem aber brauche man eigens gewählte Organe oder Kommissionen von örtlichen Vertrauensleuten, die die eine kontrollierte Verteilung des Landes garantieren könnten.

Dies alles erklärt, warum Jelzins Erlass das Recht zum privaten Eigentum an Land trotz allem noch immer vorsichtig einschränkt, ja ohne Ausführungsbestimmungen im Grunde nicht mehr als ein politisches Signal ist, das ihm Stimmen für seine Politik zutreiben soll. Es ist zu hoffen, dass der Erlass solange Papier bleibt, bis entsprechende Kontrollorgane geschaffen und sie durch die Wahl neuer Volksvertretungsorgane legitimiert sind.

Heißer Herbst in Rußland? „Hauptsache die Kartoffeln kommen raus“ Eindrücke aus einem ruhebedürftigen Land.

Take A/1: Nowosti-Melodie                      (025)

Regie: O-Ton stehen lassen bis zum Stichwort „Moskwje“, dann abblenden.

Erzähler:  Moskau: „Unruhen werde es nicht geben“, erklärte Russlands             Ministerpräsident nach der Auflösung des obersten Sowjet durch Boris Jelzin. Für die Bevölkerung sei das Wichtigste zu Zeit, dass die Kartoffeln rechtzeitig rauskämen.
Die Ereignisse haben ihm Recht gegeben. An der Revolte in Moskau war die Bevölkerung nicht beteiligt. Sie blieb Zuschauer.
Ein Blick über die blutigen Szenen vor dem „Weißen Haus“ ins Land hinaus zeigt, warum das so ist.

tanke A/2: Straßengeräusche in Sawjala.            (025)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler:  Sawjala, Ortsmitte. Bezirkszentrum im Kreis Altai             nahe der Grenze Kasachstans. Früher ein wohlhabender Ort, bekannt in der ganzen Union durch seinen Heilschlamm im Salzsee vor dem Ort. Wie lebt man dort mit der neuen Zeit?
In der örtlichen Verwaltung gibt man sich zuversichtlich. Sogar ein Ventilator ist in Betrieb, der die sibirische Hitze erträglich macht.

take B/1: Verwaltungsangestellte                  (017)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Übersetzerin:  „Ich weiß gar nicht so recht, besser oder             schlechter? Nun, früher gab es ein schreckliches Defizit beim Einkaufen. Jetzt gibt es alles. In dieser Beziehung ist alles wunderbar. Wenn Geld da ist, kannst du kaufen. Früher war Geld da, aber du konntest nicht kaufen. Jetzt kriegst du alles, was du willst.“

Erzähler: Zwei junge Frauen vor dem Gebäude der Stadtverwaltung sind anderer Ansicht.

takeA/3:Junge Frauen.                    (045)

Regie: O-Ton verblenden, Text kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzerin: „Nun, was denken wir? – Wir mühen uns ziemlich ab,             das muss man wohl sagen. Man muss ja leben, irgendwie weiterexistieren: Wir leben ja nicht, wir vegetieren, wie man sagt.

Erzähler: Arbeit gebe es nicht, erzählen sie. Niemand wolle             die Jungen haben. Man brauche viel Geld für die Ausbildung, gleich ob Tänzerin oder Krankenschwester. Man müsse sich irgendwas einfallen lassen, kaufen, verkaufen, sich mit Kommerz befassen.
Über Versprechungen, am Ende des  Jahres werde alles gut sein, können sie nur lachen.

takeB/2: Junge Frauen, Forts.                 (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Erzähler-Text beenden.

Übersetzerin: In 50 Jahren ganz sicher! So schnell gibt es das             alles nicht. Wir leben heute; was morgen ist, dass wissen wir schon nicht mehr.

Erzähler:   Im Dorf finden sie das Leben besser als in der             Stadt: Mehr Fleisch, Gemüse, es sei sicherer, wenn man ausgehen wolle. Aber insgesamt sei jetzt eine unsichere Zeit. Die Krise spitze sich zu. Die Menschen seien es einfach nicht gewohnt, wie in Amerika zu leben. Diese Privatisierungsschecks etwa. Was solle man damit machen?

takeA/4: Junge Frauen, Forts.                (020)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, danach hochziehen.

Übersetzerin: „Früher war es um vieles besser. Ohne die             kommerziellen Geschäfte war es viel leichter. Süßigkeiten lagen da frei aus. Jetzt gibt es sie nicht oder sie tauchen nur für Tausender auf. – Aber irgendwie muss man doch leben!“

takeB/3: Scherengeklapper beim Friseur         (020)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler:  Friseur. Hier wurde soeben privatisiert. Bisher             habe sich nichts geändert, höre ich. Geld wolle der Chef machen, das sei alles. Überhaupt, was heiße schon Veränderung?

take A/5: Friseuse bei der Arbeit                 (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Erzähler:  „Wir waren und Bettler und wir werden Bettler             sein“, sagt die Frau. Mit dem See sei es auch nicht besser: Nur kleine Hütten! Nichts sei dort vernünftig aufgebaut worden. Ein Sanatorium sei lange geplant, mehr als zehn Jahre. Aber wann es gebaut werde, wisse niemand. Schlamperei. Kein Geld! Und wenn es Geld gebe, dann wisse man nicht, wo es bleibe.
Ob sie Angst vor der Zukunft habe?

take B/4:  Friseuse, Forts.                       (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:   „Nun, Angst? Die sind wir gewohnt. Das ganze             Leben verbringen wir so: Politik beachten wir nicht. Was da in Moskau passiert, das weiß keiner. Was soll’s, uns interessiert das ohnehin nicht. Wir haben unsere Probleme, die haben ihre: Wir haben zu Haus unsere Wirtschaft. Da müssen sehen, dass wir zurechtkommen. Die Kartoffeln müssen jetzt raus. Der Art sind unsere Probleme: Geld auftreiben, einfach überleben! Die haben wirklich andere Sorgen.“

take: A/6: Straßengeräusche                       (130)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, von 116 bis 118 hochziehen, abblenden, weiter unterlegen.

Erzähler:      Auf der Straße. Mehrere junge Männer warten hier,             bis sie beim Friseur an die Reihe kommen.
Er arbeite bei den Kühen, erzählt der erste. Privat, nicht auf einer Sowchose. Fünf Tiere seien es, außerdem Schweine und Hühner. Nein, Bauer sei er nicht: nur „Chosein“, Hausherr, aber davon lebe er. Das sei nichts Besonderes. „Alle leben so“, erklärt er. Eine bessere Arbeit gebe es nicht. Er könne auch auf einer Sowchose arbeiten. Aber wofür? Viel Arbeit für wenig Geld!
Der zweite ist Bauarbeiter. 16.000 Rubel verdient er. 22.000, weiß ich, gilt zurzeit als Existenzminimum. Der Dritte ist Waldarbeiter. Er verdient 10.000 im Monat. „Eine gute Jacke kostet eine halbe Million“, sagt er.

Regie: Ab 116 bis 118 hochziehen, dann weiter unterlegen, am Textende hochziehen.

Erzähler:       Wie kann man so existieren? „Die eigene             Wirtschaft hilft“, antwortet er. „Man klaut, was möglich ist, man handelt“, ergänzen die anderen beiden. Baumaterial. Holz. Futter! So etwas kaufe doch heute keiner! „Wer klaut, lebt gut“, fasst einer zusammen.

take B/5: Arbeiter, Forts.                   (152)

Regie: O-Ton Langsam kommen lassen, Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler: Eine Alternative sehen sie nicht. Aber den Ort             verlassen wollen sie auch nicht.

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen.

Übersetzer:  „Nein, jetzt nicht. Jetzt kommen alle aus             Tadschikistan, aus Kirgisen, aus Kasachstan. Alle flüchten in den Altai, nach Russland. In Tadschikistan ist ja Krieg! Das gibt es viele Russen, Deutsche und andere. Alle flüchten hierher. In Russland ist es ruhig. Aus Armenien kommen sie auch. Von überall kommen sie hierher.“

Erzähler: Viele junge Leute gebe es jetzt hier, erzählen             sie weiter. Sie selbst, erfahre ich, sind auch soeben gekommen. Früher hätten die meisten Jugendlichen den Ort verlassen. Heute bekomme man sogar Hilfe beim Hausbau. Die Hälfte gebe die Verwaltung dazu.
Man ist froh, hier bleiben zu können. Die Hälfte der Bevölkerung Sawjalas und der umliegenden Dörfer, wenn nicht mehr, sind inzwischen Flüchtlinge. Heftig widersprechen die drei auch dem, was die jungen Frauen erzählt haben. Arbeitslosigkeit? Nein, auf den Dörfern gebe es genug Arbeit. Die reiche für alle. Nur bezahlt werde eben wenig.
Was sie von der Zukunft erwarten?
Wie könne einer, der sein Haus verloren habe, noch über Zukunft reden? fragen sie zurück. Moskau? Das interessiere sie nicht. „Es wird so, wie es war“, sagen sie. Perestroika? „Alles Gerede! Wir kümmern uns nicht um Politik. Das läuft ohne uns.“

takeA/7: Bank                               (025)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler: In der Bank. Ich will wissen, wie die Bevölkerung             auf die Sperrung der alten Rubel reagiert hat. Das sei nach ein paar Tagen erledigt gewesen, winken die Frauen ab. Stattdessen erklären sie mir, was es mit der Arbeitslosigkeit auf sich hat. Eine Frau zeigt auf einen Aushang:

takeB/6: Bankangestellte                               (058)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann unterlegen.

Übersetzererin: „Da, hundertzwölf Leute! Gestern hatten wir zwei             Listen mit noch einmal so vielen.“

Erzähler: So gehe das jeden Tag, höre ich. Nicht, dass es             keine Arbeit gäbe! Nein, die Vermittlung sei das Problem, die mangelnde Organisation. Früher hätten die Sowchosen oder Betriebe das selbst geregelt. Jetzt würden deren Arbeitsplätze abgebaut; häufig gebe es keine Information darüber; neue Arbeitsplätze würden nicht bekannt gemacht, viele seien nur übergangsweise zu haben. Ja, sicher gebe eine Arbeitsbörse. Drüben in der Verwaltung. Aber wer komme da schon hin? Zur Unterstützung würden deshalb die Listen in der Bank ausgehängt.
„Es ist eine schwere zeit“, klagen sie. 20.000 Rubel hätten sie im Monat.

take A/8: Forts. Frauen in der Bank                (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Erzähler:       „Nur gut, dass man sich noch auf die eigene             Wirtschaft stützen kann“, sagt eine. Das reiche wenigstens für das Notwendigste. Aber das Leben sei eng geworden. Nach der Arbeit gebe es nur noch Haus, Garten und die Versorgung der Tiere. Aus dem Dorf, ja aus dem haus komme man kaum noch heraus. „Früher war das Leben interessanter“, meint eine junge Frau. Da habe der Komsomol alles organisiert. Da sei abends noch etwas los gewesen. All das gebe es jetzt überhaupt nicht mehr.

takeB/7: Halbwüchsige                        (055)
Regie: O-Ton verblenden, unterlegt halten, am Textende hochziehen.

Erzähler: Vor der Post treffe ich auf eine Gruppe             Halbwüchsiger und Kinder. Ein Zwölfjähriger arbeitet als Telegrammbote. Sein Vater sei tot, seine Mutter arbeitslos, erklärt er. Da bleibe nichts anderes. 20.000 mache er im Monat.
Jetzt wartet er hier auf Aufträge. Seine Freunde leisten ihm Gesellschaft. Was sie von der Auflösung der Pioniere halten?
„Nichts“, sagt der Kleine. Vorher habe es mehr Freundschaft gegeben. Die Pioniere hätten für Sauberkeit gesorgt, meint ein Älterer, hätten überall den Dreck beseitigt, die Natur geschützt. Jetzt beginne alles zu verdrecken. Keiner setze sich für etwas ein. Jeder denke nur an sich selbst. „Man müsste sich um die Natur kümmern“, sagt er. Aber wie? Hilflos zucken sie mit den Schultern.

take A/9: Alte Bäuerin                            (035)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler:      Dorfstraße, morgens um elf. Ich will Milch             kaufen. Zwei Kühe, fünf Schweine, Hühner; Söhne, Schwiegertöchter und Enkel habe sie, zählt die alte Frau auf. In dieser Reihenfolge. Milch bekomme ich nicht mehr. Zu spät. Das Wenige ist schon verkauft. Aber mein Besuch ist willkommen.  Die Alte wohnt allein. Ihr Mann ist tot, Kinder und Enkel leben woanders. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:

take  B/8: Bäuerin Fortsetzung                   (115)

Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler (bei Stichwort „Krach“) hochziehen.

Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch             für sich selbst lebt: Habe ich Maschinen, einen Traktor und alles, dann kann ich leben, haben andere nichts, dann können sie sterben.

Erzähler: „In der Kolchose waren wir alle gleich“, fährt sie             fort. „Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet.“ Sie selbst sei vierzig Jahre auf dem Traktor gefahren. Aber jetzt sei das anders. Der eine habe die Kühe, die anderen müssten viel Geld für Milch ausgeben. Alles werde gekauft, verkauft; aber für das Geld bekomme man nichts. „So ein System ist jetzt gekommen“, sagt sie. „Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“

Regie: Bei 045 (mit Stichwort „Krach“) kurz hochziehen, weiter unterlegen, am Textende hochziehen.
Übersetzerin: „Für mich habe ich keine Angst mehr, aber für             meine Enkel. Ich bin sicher, Gott, hat es vorausgesagt: Bald sind wir kaputt. Man kann nur beten, beten, beten. Nicht Du, nicht der Nachbar, Gott allein kann noch helfen.“

take A/9: Nachbarin                                (065)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: Auf der Straßenseite gegenüber. Ein ähnliches             Bild: drei Kühe, ein paar Schweine, Hühner. „Man muss in Freundschaft leben!“ empfängt uns die Hausfrau, so wie früher, als es noch die Sowchosen gegeben habe. Da habe jeder seinen Platz gehabt. Sie ist ein paar Jahre jünger als die Nachbarin. Eine Schande sei es, meint sie, wenn Menschen so allein leben müssten wie die alte Frau nebenan. Die Alten seien die eigentlichen Verlierer der neuen Zeit. Und die Flüchtlinge. Sie habe selbst Verwandte in Kasachstan, auch viele deutschsprachige Bekannte. Schrecklich, sagt sie, wenn die Leute sich gegenseitig erschießen, statt sich zu helfen. Erst kürzlich habe man jemanden aus Kasachstan umgebracht, der sich hier mit ein paar anderen eine neue Existenz habe aufbauen wollen. Viele Deutsche seien inzwischen schon nach Deutschland ausgewandert.

take B/9: Nachbarin, Fortsetzung                  (025)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzerin: „Ich bin nicht einverstanden mit dieser             Politik“, erklärt sie zum Abschied auf die Frage, was sie von der Regierung in Moskau halte. „Die denken nicht an uns – an uns denken die nicht! Aber zurück? Nein, das werde nichts bringen. „Oder vielleicht doch?“ zögert sie. Wenigstens Ordnung? Dass die Leute sich nicht mehr gegenseitig erschlagen?
Am Ende verabschiedet sie sich mit dem Seufzer:

take A/10: Nachbarin, Forts.                        (060)
Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende der Übersetzung hochziehen.

Übersetzerin:  „Nun es ist schwer, schwer, sehr schwer! Ich habe             ja an Jelzin geglaubt. Das erste Mal habe ich ihn gewählt. Aber das zweite Mal habe ich schon nicht mehr für ihn gestimmt.

Erzähler:     Eine Alternative jedoch sieht sie nicht:

Übersetzerin: „Ich weiß nicht. Ich glaube, es fehlt überhaupt             die richtige Person. Ich hatte ja noch die Hoffnung auf Ruzkoi. Die habe ich jetzt auch nicht mehr. Ich weiß nicht, wenn ich denen da zuhöre und zusehe, dann möchte ich ihnen ja nicht einmal die Hand geben.“

take B/10: Privat-Bauer

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler  Rundgang im Hof der Pitschennikows. Das sind             Wassiljew, pensionierter Brigadier; Maria, seine Frau und Jefgeni, der Enkel. Stolz zeigt der Alte seinen Besitz. Auch eine Sauna fehlt nicht.
Als Privatbauern gehören die Pitschennikows zu den Hoffnungsträgern der neuen Zeit. Sechzehn sind es im ganzen Bezirk. Seit anderthalb Jahren bewirtschaften sie ihren eigenen Hof, 120 Hektar. Aber sie fühlen sich allein gelassen:

take A/11:  Privatbauer, Forts.                   (065)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer:  „Ja, ganz allein! Es gibt keinerlei Hilfe!             Einen Kredit habe ich bekommen, aber dafür musste ich sofort Saat-Getreide kaufen. Dann habe ich noch einen Treibstoff-Kredit aufgenommen. Das ist alles. Mehr gibt es nicht. Aber die Kredite geben sie nur zu enormen Zinsen. Generell gesagt, wir quälen uns ab, in jeder Beziehung. Es ist eine sehr schwere Sache. Die Arbeit ist sehr hart. Wir haben keine Technik.“
Erzähler:      Einen Traktor habe er. Den teile er sich             zudem noch mit dem zweiten Bauern im Ort, mit dem er zusammenarbeite. Alles andere wie Mähdrescher, Korntrockner uam. müssten sie sich in der Sowchose leihen. Die aber lasse sie ständig auflaufen. Von morgens um fünf bis in die Nacht seien sie auf den Beinen. Die Leute seien zudem neidisch und misstrauisch. „Uns hier hat man das arbeiten abgewöhnt“, wettert der Alte. Wenn jetzt einer selbstständig arbeite, dann sei allein das schon verdächtig. Tatsache sei: „Wir leben wir nicht besser, wir arbeiten nur mehr als die anderen.“

take A/12: Privatbauer, Forts.

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler:      „Nicht für mich mach ich es, sondern für meinen             Enkel“, antwortet der Alte auf die Frage, warum er unter solchen Umständen diese Plackerei auf sich nehme. Der verstehe auf diese Weise vielleicht, dass man so wie bisher nicht weiterleben dürfe.
Der Enkel sitzt wortlos daneben. Ist er, sind andere junge Leute einverstanden mit dieser Sicht? An seiner Stelle fährt sein Großvater fort:
take A/13: Privatbauer, Forts.               (038)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende des Textes hochziehen.
Übersetzer: „Ja, sie wären einverstanden, wenn es klare             Gesetze gäbe, dass nicht wieder zurückgegangen würde. Bei uns gibt es ja bisher keine gültigen Gesetze. Ich verliere ja nichts mehr, wenn sie alles wieder umschmeißen. Aber die Jungen! Es gibt ja Verordnungen, es gibt ja Gesetze, die die Erbfolge regeln. Aber bei uns ist es so mit den Gesetzen: heute gilt dies und morgen kommt wieder ein neues heraus. Keine Beständigkeit der Gesetze“!

take A/14: Privatbauer, Fortsetzung                (033)
Regie: O-Ton anschließen, stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: An seiner Meinung für den Grund der ganzen Misere             lässt der Alte keinen Zweifel.

Übersetzer:     „Moskau ist weit von uns. Hier haben sie sich             eigene Fürstentümer aufgebaut. Die haben eine tierische Angst vor effektiver Arbeit. Hier ist man Fürst! Man tut nichts, man denkt über nichts nach, man wird im Wagen kutschiert, deswegen lassen sie keinerlei Weg für irgendeine Entwicklung in dieser Frage zu.

take A/15: Maria, Frau des Bauern                   (010)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzerin: „Sie entscheiden für sich. Und so wie sie             entscheiden. So wird es.“

take A/16: Privatbauer                              (060)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer: „Es ist eine einzige Mafia, in der sich alle             gegenseitig decken. Alles hängt mit allem zusammen. Sie verstehen. Das ist beängstigend! Das bringt nichts Gutes hervor! Nicht ein einziges solches Fürstentum sollte es geben. Es sollte eine Verfassung geben. Russland sollte  e i n s  sein, nicht zerstückelt. Ich verstehe, dass man in Kasachstan, Usbekistan eigene Bräuche hat. Soll man doch auf eigene Art leben, sich auf eigene Art entwickeln! Aber die wirtschaftlichen Verbindungen muss man erhalten.“

Erzähler: Bauer Pitschennikow ist kein Nationalist. Die             Parolen der vaterländischen Rechten sind ihm ein Gräuel. Alexander Prochanow, einer ihrer Ideologen, sei kein Führer, findet er, sondern ein Betrüger, ein Egoist, ein Rassist. Bei den Oberen in Moskau habe er vielleicht Chancen. Aber die einfachen Leute könne er nicht gewinnen. Die Bevölkerung wolle einen friedlichen, gutwilligen Weg gehen, wolle arbeiten. Leute wie Prochanow seien ja nicht einmal in der Lage, Kartoffeln zu sammeln. Ich nenne sie Müßiggänger, Schmarotzer!“

take A/17: Privatbauer:                              (027)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer:  „Es wird kein Chaos geben. Die Leute werden das             nicht zulassen. Trotz allem wacht das Volk doch noch auf. Es brütet lange auf etwas, es zögert lange, aber dann kommt es und sagt: So nicht! Für Leute wie Prochanow braucht man nur ein Gesetz: Aufräumen! Verbieten die ganze Sache, einfach verbieten!“

Take B/11: Terentjew, Athmo                  (027)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, mit Text beenden.
Erzähler:      Einer der Fürsten, von denen der Alte gesprochen hat, ist Valerie Terentjew. Wir sitzen in einer Laube auf dem Gelände des alten Pionierlagers direkt am Ufer des medizinischen Sees. Terentjew ist hier Hausherr, denn nach altem Brauch ist die Verantwortlichkeit für das Lager unter verschiedene Organisationen der Stadt aufgeteilt. Als Parteimitglied war Terentjew früher Vorsitzender des technischen Zweiges der „Agroprom“, der Landwirtschaftsverwaltung. Heute ist er der Chef derselben Organisation. Nur heißt sie jetzt technische Kooperative.
Sein Hauptproblem ist die zunehmende Desorganisation. Dass der Heilschlamm des Sees nicht systematisch genutzt, in letzter Zeit sogar zunehmend unkontrolliert einfach wagenweise privat weggeschafft wird, findet er schlimm. Schlimmer noch findet er die Desorganisation der Landwirtschaft, wo kein Rad mehr ins andere greife. Darüber hinaus quält ihn der generelle Bruch der wirtschaftlichen Beziehungen.
Aus seiner Alternative macht er kein Hehl:

takeA/18:Terentjew, Zitat            (043)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Textende hochziehen.

Übersetzer:  „Nun, es ist wohl nicht der beste Weg, wenn sich             alle in einzelne Fürstentümer auflösen. Wir hängen voneinander ab.  Soll Moskau also meinetwegen das Zentrum sein! Aber dann geben wir soviel, wie es braucht, für Unterhalt der Regierung, für allgemeine Aufgaben, also Medizin, Wissenschaft. Alles, was einzelne Republiken nicht allein unterhalten können, muss man zentralisieren. Alles Übrige aber muss man in die sozialen Belange, in die Infrastruktur, in die Entwicklung der eigenen Region stecken. Das muss hier bleiben, damit man nicht in Moskau betteln und mit dem Hut in der Hand den Bückling machen muss.

take A/19: Terentjew, Forts.                  (030)
Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler: Dies alles verblasst für Terentejew jedoch vor dem,             was er als Hauptproblem sieht:

Übersetzer:  „In einer Woche beginnt die Ernte. Aber die             Leitungen haben Angst, mit der Ernte zu beginnen: Kein Brennstoff! Treibstoffe gibt es zu solch wüsten Preisen. Wenn sie anfangen, wenn sie die Ernte einbringen und dem Staat abgeben, dann arbeiten sie allein für den Treibstoff. Wovon aber leben? Das ist das gegenwärtige Dilemma. Die Ernte muss rein!“

Take A/20:  Terentjew, Forts.                (050)

Regie: O-Ton anschließen, kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden, am Textende hochziehen, dann langsam ausblenden.

Erzähler:  Wie alle anderen ist auch er überzeugt:

Übersetzer:    „Chaos, nein! Chaos wird es nicht geben. Das Volk             ist äußerst geduldig. Nur, es gibt keine Ziele, so dass man klar wüsste, wohin. Ich jedenfalls weiß es nicht, ebenfalls nicht. Generell, denke ich ist es notwendig, Neuwahlen durchzuführen, und zwar für die Sowjets, also die Parlamente, wie auch für den Präsidenten.“
Erzähler:  In diesem Punkt sind sich zurzeit alle einig.             Aber wird das ermüdete Volk nach den erlittenen Enttäuschungen die Bereitschaft für einen solchen neuerlichen Kraftakt aufbringen können? Und woher kommen die sachlichen, nicht zuletzt auch die personellen Alternativen?

Post-Sowjetunion: Wiedergeburt der „obschtschina – Privatisierung oder Erneuerung des Kollektivismus von unten? (Text)

Privatisierung ja oder nein? In der ehemaligen Sowjetunion ist das nicht nur eine ökonomische Frage. Es ist eine Frage des Lebensstils, der Lebenserwartung. Es ist eine Frage, die das gesamte Werte-System der Menschen betrifft. Der Betrieb, die Sowchose, die Pioniere, die Komsomolzen, schließlich die Partei wiesen dem Einzelnen früher seinen Platz zu. Jetzt ist die Partei abgeschafft. Die Pionierlager stehen leer. Institute, Betriebskollektive und Sowchosen werden privatisiert. Was tritt an die Stelle der früheren kollektiven Strukturen?
Für einen Individualismus westlichen Stils fehlen die grundlegenden Voraussetzungen: Nichts von dem, was uns Westlern so vertraut ist, hat in der Geschichte Rußlands stattgefunden: keine Renaissance, kein Schisma, also keine Spaltung zwischen Staat und Kirche, keine Reformation, keine Entwicklung einer differenzierten Stadtkultur, keine Aufklärung, keine französische Revolution. Stattdessen wuchsen Staat und byzantinische Kirche in 1000jähriger Einheit zusammen. Das Wort Religionsfreiheit konnte keine Bedeutung gewinnen. Statt eines Nebeneinander unterschiedlicher Religionen entwickelte sich ein imperialer russischer Missionarismus. Anstelle einer ausgedehnten Stadtkultur konservierte sich die bäuerliche Dorfgemeinschaft, obschtschina, als Grundlage eines Imperiums, dessen unterentwickelte Teile nur durch ein übermächtiges Zentrum, den Zarenhof in Moskau, zusammengehalten wurden. Im Ganzen entstand so eine durch und durch korporativistisch, also nicht nach Interessen, sondern nach der Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften organisierte Gesellschaft.
Statt diese korporativistischen Grundstrukturen hinwegzufegen, hat die sowjetische Entwicklung nach der Revolution von 1917 sie unter anderen Vorzeichen verstaatlicht: Die Bauerngemeinschaften wurden zwangskollektiviert, Dörfer und dörflich organisierte Provinzstädtchen wurden industrialisiert, proletarisiert und Menschenansammlungen mit gigantischen Ausmaßen aufgebläht. Im Prinzip blieben sie aber große Dörfer, in denen mehrere Betriebsgemeinschaften, nicht selten sogar nur eine einzige nun an die Stelle der früheren einzigen Dorfgemeinschaft trat. Das Prinzip der in sich geschlossenen Gemeinschaften blieb erhalten. Eine von unten auf Basis pluraler Interessen gewachsenen Stadtkultur entwickelte sich nicht. Anstelle des Zaren wachte nun die Partei über die Einheit von Staat und Kirche, nur daß dies nun nicht mehr im Namen Gottes, sondern in dem des industriellen, des sozialistischen Fortschritts geschah.
Eine Bestandsaufnahme im Lande selber zeigt, daß es keine eindeutige Lösung gibt. Sicher ist als erstes, daß der Zusammenbruch der gewohnten kollektiven Strukturen ein für die Mehrheit beängstigendes Vacuum hinterläßt, das seinen deutlichsten Ausdruck in der Klage findet, die ich immer wieder auf Dörfern und in Betrieben gehört habe: „Früher haben wir füreinander eingestanden. Jetzt sorgt jeder nur noch für sich.“ Viele Menschen sind nicht bereit und sehr häufig aufgrund der materiellen Gewachsenheit der Lebens- und Arbeitsverhältnisse auch nicht in der Lage, die Auflösung der Kollektive zu akzeptieren. Auch wo formal der Privatisierung Genüge getan wird, indem man die Sowchose X oder den Betrieb Y in eine „Aktiengesellschaft“ verwandelt, bleiben die alten Verhältnisse erhalten. „Wir heißen jetzt Aktiengesellschaft, aber sonst ist alles beim Alten“, lautet ein häufig zu vernehmender Kommentar auf dem Lande. Die meisten, die es als Neubauern oder als Jungunternehmer versuchen, individuelle Wege zu gehen, sehen sich schon durch die pure Not gezwungen, nach neuen kollektiven Formen zu suchen, angefangen bei einfachen Beziehungen gegenseitiger Hilfe, über Kooperativen bis hin zur Gründung von Interessen-Vertretungen wie dem „Bauernverband“, der „Unternehmerpartei“ usw.
Bedeutender noch ist die geistige Leere, die nach der Auflösung der Partei, also der früheren Einheit von Staat und Welt, nach neuen Sinngebungen verlangt: Statt einer Partei gibt es jetzt eine Unzahl, deren Attraktivität mit ihren Führern steht oder fällt. Statt bei den Pionieren organisiert zu werden, müssen sich die Jugendlichen selbst organisieren. Sie tun es in „Tuzowkis“, Zirkeln, oder in Banden. Eine Unzahl von „obschtschinas“ versucht den so plötzlich führungslos gewordenen Menschen neue Leitbilder zu bieten, angefangen bei der „Datschengemeinschaft“ über psychotherapeutische Angebote bis hin zu neuen religiösen Gemeinschaften der unterschiedlichsten Richtungen, großen wie kleinen, von zeitgenössischen neuen Sinnstiftungen wie „Bachai“ über Kampfsport-Kommunen bis hin zu den Erneuerungsbewegungen der Welt-Religionen.
Die interessanteste Blüte ist zweifellos das Aufbrechen der ethnischen Widergeburtsbewegungen. Statt sich weiter der Gleichmacherei einer imperialen Staatsideologie unterzuordnen, suchen die über 150 unter dem Dach der ehemaligen Sowjetunion vereinigten Völkerschaften auf den Spuren ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Kultur und Religion eine neue Identität zu finden. Überall bilden sich ethnisch geprägte Kulturzentren, Gemeinschaften der „Wiedergeburt“ usw. Hier ist die Rückbesinnung auf die Obschtschina am ausgeprägtesten.
Eine ungeheure Vielfalt entsteht. Es gibt nicht nur einen Weg. Weder im Weg zurück zu den staatssozialistischen Formen noch in der Übernahme westlicher Werte liegt die Lösung. Beides wird von der Mehrheit der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion abgelehnt. Es entsteht etwas jenseits der alten Frontstellungen, dessen Wesen darin liegen könnte, Vielfalt und Andersartigkeit nicht nur zu dulden, sondern als Bereicherung zu begrüßen.
Gerade die ethnischen Wiedergeburts-Bewegungen zeigen aber auch deutlich, wo die Gefahren liegen, die aus dem Zusammenbruch des monolithischen Weltbildes folgen: statt auf den mühsamen Weg um Kooperation mit dem Andersartigen, kann der ethnische Impuls auch in einen Kurzschluß führen, an dessen Ende nationalistische Gemeinschaften mit ethnischem Reinheitsanspruch als Ersatz für die verlorene Gleichheitsideologie stehen. Die Kämpfe in den südlichen Randzonen des ehemaligen sowjetischen Imperiums sprechen eine deutliche Sprache. Die Schlußfolgerung daraus kann nur sein, sich mit allen Kräften für kooperative, für föderative Beziehungen, für den Dialog zwischen den neuen Gemeinschaften einzusetzen. In meinem Feature werde ich versuchen, die verschiedenen Entwicklungslinien in der Frage von Kollektivismus/Individualismus im Alltag des Landes aufzuzeigen.

Ein, zwei, drei, viele Moskaus? oder moderner Zarismus?

Athmo 1: O-Ton Metro und Gesang (2,15)

Regie: Nach den ersten Takten der Musik abblenden, unterlegt laufen lassen, nach Textende kurz hochziehen, ausblenden.

Erzähler: Moskau, Sommer 1993. Metro-Unterführung. Das Lied             handelt von der Emigration. Die Leute bleiben stehen, hören zu. Das Lied passt zur Stimmung. Der Machtkampf im Land spitzt sich zu. Ein paradoxes Schauspiel steht bevor: Boris Jelzin hat den Föderationsrat, also die Chefs der Verwaltungsbezirke, der autonomen Republiken und Kreise zu Hilfe gerufen. Nach dem Willen des Präsidenten soll das Gremium statt des obersten Sowjet über die neue Verfassung der russischen Föderation beraten. So erhofft sich Jelzin Zustimmung zu seinem Entwurf. Der würde ihm nahezu unbeschränkte Vollmacht einräumen. U.a. dürfte er nicht nur das zukünftige Parlament auflösen, er dürfte auch die Beschlüsse des Föderationsrats aufheben. Mit Zugeständnissen an die Regionalmächte versucht Boris Jelzin die Sowjetstruktur auszuschalten, um eben die von ihnen ausgehende Regionalisierung wieder der Zentralmacht zu unterwerfen. Ist dies der Weg zu mehr Demokratie in dem zerfallenden Imperium wie allenthalben behauptet wird?

take 1: O-Ton „dom literatow“. (0,46)

Regie: Verblenden mit O-Ton 2, kurz stehen lassen, unterlegt laufen lassen bis Textende, in take 2 überführen.

Erzähler: Parallelen aus der Anfangszeit der Perestroika             drängen sich auf. September 1990. „Haus der Schriftsteller“. Gorbatschow in der Krise: Nach den baltischen Ländern hat soeben die russische Föderation ihre Souveränität erklärt. In den kaukasischen Gebieten entwickelt sich Krieg. Der Zug sei schon lange abgefahren, erklärt Andranik Migranjan, ein bekannter junger Analytiker der liberalen Opposition schon damals:

take 2: O-Ton Andranik Migranjan. (0,42)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, Übersetzung darüber, am Textende etwas hochziehen.

Übersetzer: „Das heißt, dass man vom Zentrum, von Moskau aus die             Union als Gesamtes nicht mehr regieren kann und dass die Republiken selbstständig werden. Das heißt andererseits, dass der Konflikt zwischen Zentrum und Republik übertragen wird auf Konflikte innerhalb der einzelnen Republiken. Als erstes wird das der Konflikt zwischen den Republiken und verschiedenen Verwaltungseinheiten, autonomen Republiken usw. sein. Zweitens führt das zum Auseinanderfallen Russlands. Dazu hat vor allem die Idee Jelzins beigetragen, die er bei seiner Rundreise durch die RFSSR zum Programm erklärt hat, dass alle, die es wollen, ihre eigene Souveränität bekommen können.“

Erzähler:     Alles, so Migranjan, hänge von der Entwicklung des             russischen Nationalbewusstseins ab. Als gebürtiger Armenier ist Migranjan besonders hellhörig für diese Fragen. Der Gedanke der russischen Überlegenheit habe durch die Geschichte eine Niederlage erlitten: leere Regale, uneffektive Wirtschaft. Das erkenne die Bevölkerung heute. Für die Zukunft erwartet er nichts Gutes:

tanke 3: Migranjan, Forts.  (0,42)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, der Übersetzung unterlegen, mit Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer:   „Unter den Bedingungen des jetzigen, einfach nicht             mehr verwaltbaren Chaos, werden die Demokraten, die jetzt an die Macht gekommen sind, nicht ein einziges Problem lösen können. Dann wird im Volk, das einfach enttäuscht worden ist von diesen Demokraten, von diesem Markt usw. eine neue, sich konsolidierende Idee des großen Russland entstehen, die Nationalismus und Sozialismus irgendwie wieder zu vereinigen versucht. Dann kann es durchaus sein, dass diese Kräfte ein starkes einiges Russland schaffen wollen wie man früher eine starke einige Sowjetunion wollte. “

Erzähler:     Tatsächlich kann aus Teilen der russischen             Föederation schon damals radikale Forderungen nach Unabhängig hören. So bei den Tschuwaschen an der mittleren Wolga:

take 4: O-Ton Atner Chusangai (1,19)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unter dem Text weiterlaufen lassen, am Schluss hochziehen.

Übersetzer:   „Was wir anstreben, ist eine sowjetische             tschuwaschische Republik – jedoch ohne vollständige Autonomie und ohne Sozialismus. Was heißt das? Natürlich reicht es nicht, die beiden Wörter „Autonomie“ und „Sozialismus“ in der Bezeichnung der Republik zu streichen; uns scheint es da eine bestimmte Logik zu geben. Die Struktur der russischen Föderation ändert sich ja gerade, eine neue Formel des Zusammenlebens wird in Moskau ausgearbeitet. Was dies für eine Formel wird, kann im Moment noch niemand sagen, aber natürlich haben auch wir unsere Vorstellungen: Die gegenwärtige Struktur ist, wie Sie wissen, eine fünfstufige, das heißt, es gibt Sowjetrepubliken, autonome Republiken, autonome Gebiete, autonome Kreise und einfache Kreise. Das ist also eine Hierarchie, die natürlich Konflikte herausfordert. Autonome Republiken streben z.B. den höheren Status der Sowjetrepubliken an, weil die dann mehr Hilfen vom Zentrum erwarten können. Autonome Gebiete wollen autonome Republiken werden usw. So gibt es immer + wieder kleine Ungerechtigkeiten. Wir vertreten die Meinung, dass diese Hierarchie ganz abgeschafft werden muss und jedes staatliche Gebilde selbst entscheiden sollte, welchen Status es haben möchte. Das scheint uns logischer zu sein, um so mehr weil die erste Verfassung der russischen Föderation vom 10. Juli 1918 die Föderation als freien Bund freier Nationen definierte, als Föderation sowjetischer nationaler Republiken, also ohne Autonomie und ohne Sozialismus.“

Erzähler:  Der so redet, ist Atner Chusangai, Tschuwasche aus             Tscheboksary an der mittleren Wolga. In einem Raum von der Größe Deutschlands leben dort sechs Völker in sechs autonomen Republiken mit Russen zusammen – Tschuwaschen, Tataren, Utmurten, Marisken, Baschkiren  und Mordawzen. Sie alle sind Nachkommen der großen Völkerwanderungen turkmenischer und mongolischer Völker, die hier hängengeblieben sind. Chusangai ist einer der Köpfe der neu entstehenden tschuwaschischen Unabhängigkeitsbewegung. Gleichberechtigte Zweisprachigkeit ist eine seiner Hauptforderungen. Von extremen Formen des Nationalismus, wie sie sich damals unter Gorbatschows Augen in Kaukasien entwickeln, grenzt er sich entschieden ab:

take 5: Atner Chusangai, Forts. (1,28)

Regie:     O-Ton kurz stehen lassen, am Ende des Textes hochziehen, verblenden.

Übersetzer:   „Mir scheint, man kann unter Wiedergeburt einfach             eine verstärkte Aktivität auf dem Gebiet der Kultur verstehen, unter der Bevölkerung entsteht ein neues Interesse an der eigenen Kultur unabhängig davon, wo die Bevölkerung lebt. Andererseits wird die Bevölkerung dadurch natürlich politisiert. Es gibt den Begriff nationale Energie, das ist vielleicht ein etwas theoretischer Begriff, aber ich glaube es gibt diese Energie in jeder Nation. Diese Energie hat sich bei uns über eine lange Zeit aufgestaut, über Jahrhunderte. Sie hatte kein Ventil. Wenn sie sich nun entlädt, kann das zerstörerische Formen annehmen, was überall deutlich wird. Das ist die negative Seite des Nationalismus, deswegen meine ich, dass man diese Energie in normale, zivile Ausdrucksformen umwandeln muss, damit sie positiv genutzt werden kann und nicht zerstörerisch wirkt.“

Athmo 2: Kongress in Tscheboksary.

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann unter dem Text des Erzählers weiter laufen lassen.

Erzähler:     Zwei Jahre später: Oktober 1992. Erster all-            tschuwaschischer Kongress. Die Sowjetunion ist zerfallen. Jetzt gärt es in der russischen Föderation. Aus allen Teilen der früheren Union, Russlands und auch aus westlichen Ländern sind Delegierte gekommen.

Regie: Athmo kurz hochziehen, Musik dann unterlegen, am             Ende des Erzählertextes langsam höher ziehen.

Erzähler      Das Wort führt Atner Chusangai. Inzwischen rückt er             den Kampf um die politische Macht in den Vordergrund. Aus Worten sollen Taten werden: Nicht mehr kulturelle Wiedergeburt, sondern staatliche Souveränität fordert er jetzt. Statt Zweisprachigkeit beschließen die Delegierten die Einführung des Tschuwaschischen als Staatssprache für die Republik. Die Vertreter und Vertreterinnen des tschuwaschischen Kulturzentrums, die Wiedergeburt nach wie vor als kulturellen Prozess verstehen und für den Dialog zwischen Russen und Tschuwaschen, bzw. zwischen Tschuwaschen und anderen Völkern eintreten, sind nicht eingeladen, mehr noch, man hat sie ausdrücklich von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Bewegung für die nationale Widergeburt hat sich gespalten.

Regie: Athmo kurz frei stehen lassen, dann mit take 6 verblenden.

Erzähler:     Atner Chusangai ist ungeduldig geworden:

take 6: Atner Chusangai.  (0,52)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, der Übersetzung unterlegen, am Ende kurz hochziehen;

Übersetzer:    „Das System muss anders werden, das Budgetsystem,             das Steuersystem, nicht so wie jetzt, nicht so zentralisiert. Nun, bestimmte Vollmachten sind wir ja bereit der russischen Föderation zu geben, bitte sehr – aber wir sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das, das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist euers; das ist unsers usw. Aber sie kennen unsere Situation hier nicht. Es muss umgekehrt sein: Das ist euer, das fassen wir nicht an. Das müssen sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der Militärindustrie: Das ist euers, aber das da ist unsers! unsers! unsers! Das heißt, es muss eine härtere, unbeugsamere Position für die Realisierung des Schutzes unserer Souveränität der Republik her. Diese Position gibt es zurzeit leider nicht.“

Regie: Athmo 2 noch einmal kurz hochziehen, Text des Erzählers darüber legen.

Erzähler: Vor den Türen des Kongress-Saales werden weitere             Dimensionen erahnbar: Valentin Tusendik, zur Hälfte Tschuwasche, zur anderen Hälfte Tatare, stellt sich mir vor. Der bäurisch wirkender Eigenbrödler, Mitglied einer noch nicht existierenden Akademie der Wissenschaften einer noch zu gründenden Wolga-Ural Republik, wie er sagt, bittet mich, mir ein Pamphlet für die Gründung dieser neuen Republik auf Band lesen zu dürfen:

take 7: Valentin Tusendik deklamiert (2,05)

Regie: O-Ton 7 kurz laufen lassen, Text des Übersetzers und Erzählertext darüber legen, dann kurz hoch ziehen.

Übersetzer:   „Wir Leute am Ende des 20. Jahrhunderts, hier in             der Wolga-Ural-Region, auf dieser Erde im Sonnensystem der galaktischen Spirale befinden uns im Zentrum der Welt, auf dem Kontinent Euro-Asien, in der Mitte zwischen Osten und Westen, die man das `Kleine Europa‘ oder das `Kleine Asien‘ nennen kann. Hier treffen sich zwei slawische Kulturen, außerdem die türkische und die finnisch-ugrische; hier treffen sich die drei Hauptreligionen der Menschheit: Christentum, Islam und Buddhismus, außerdem Atheismus und Nicht-Christlicher Glauben, die sich – gemessen an den erschreckenden Auseinandersetzungen anderer Nationen – seit über zweihundert Jahren ohne Konflikte und Exzesse miteinander verbinden. Deshalb ist für die menschliche Gesellschaft nur hier echte Demokratie möglich. Voraussetzung dafür ist eine Bevölkerung vom Typ der großen bulgarischen Zivilisation mit einer Geschichte der Amazonen und Vertretern wie Lenin, außerdem ein besonderes Klima und Wetter…

Erzähler    Die Forderung nach Vereinigung der             Wolgavölkerschaften in einer Wolga-Ural-Republik ist Valentins Konsequenz.

Regie: Ende von take 7 kurz hochziehen und auslaufen lassen.

Erzähler: Sie kommt verschroben daher. Das Reich der             Wolgabolgaren existierte aber immerhin vom Anfang des siebten Jahrhunderts bis ins zwölfte, als es vom Mongolensturm hinweggefegt wurde. Danach übernahmen die tatarischen Khanate, insbesondere Kasan, seine Stelle. Der Raum blieb unruhig. Die sechs Völker leben dort nach eigenem Verständnis in sechs Diasporen auf engstem Raum miteinander vermischt. Im Zusammenbruch des Zarismus Anfang dieses Jahrhunderts erlebte die Idee eines Wolga-Ural-Staates eine neue Blüte. Die Bolschewiki schoben sie beiseite. Stalin unterdrückte sie endgültig als nationalistisch.

Athmo 3:Kasan, Büro des „ToZ“  (0,57)

Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, dem Text unterlegen, mit take 8 verblenden.

Erzähler:   Im Büro des „tatarischen gesellschaftlichen             Zentrums“. Zweihundert Kilometer wolgaabwärts in Kasan. Freundlich wird der ausländische Journalist begrüßt. Man bemüht sich, die friedlichen Absichten der tatarischen Unabhängigkeitsbewegung zu betonen, pocht aber auch selbstbewusst auf die Erfolge: Erklärung der tatarischen Souveränität im August ’91, alltatarischer Kongress vom Juni ’92,  – noch vor dem tschuwaschischen, wie betont wird – Verabschiedung eines Sprachengesetzes. Nach seinen Vorstellungen über eine mögliche Wolga-Ural-Republik befragt, antwortet Vizepräsident Raschit Jegefarow schließlich ohne Scheu:

take8:Vizepräsident „ToZ“. (0,30)

Regie: O- Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Ich glaube, das wäre sehr gut, wenn man eine             solche Vereinigung zustande bekäme. Sehr gut wäre das, selbstverständlich! Wie das konkret sein müsste, als Konföderation oder wie, darüber haben wir hier natürlich noch nicht gesprochen. Aber jedes Volk muss erst seine eigene Souveränität haben, bevor man sich wirklich vereinigen kann. Das ist klar.“

Athmo 4: Geländewagen im Altai. (O,32)

Regie: Athmo langsam kommen dann kurz stehen lassen, unterlegen, mit take 9 verblenden.

Erzähler:     Zweitausend Kilometer weiter im Osten. Unterwegs im             Altai, der sibirischen Schweiz, wie die Einwohner im Dreieck zwischen Mongolei, China und Kasachstan an der Nordseite des Pamir ihr Gebirgsland stolz bezeichnen. Seit Sommer 1991 genießt Altai den Status einer selbstständigen Republik. Mit mir im Geländewagen Vincenti Tengerekow, Vizepräsident des republikanischen „Agro-Prom“, also des landwirtschaftlichen Verwaltungs-Monopols. Er zeigt mir die Entwicklung der Privatisierung auf den Dörfern. Vincenti ist kritisch:

take 9: O-Ton Tengerekow Vincenti, Altai:  (0,22)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Wir haben schon viele Reformen erlebt. Das ging             immer auf Kosten der Bevölkerung, immer auf Knochen der Bauern. Das gilt auch für die Reform, die Ruzkoi jetzt durchführt. Die Bauern sind ohne Schutz.“

Erzähler:      Der Bauer könne nicht streiken wie beispielsweise             die Minenarbeiter. Aber die Preise für Industrieprodukte, für Autos, für Maschinen, für Mähdrescher und anderes stiegen. Daraus ergebe sich ein gestörtes Gleichgewicht. Ruzkoi müsse die Landwirtschaft subventionieren. Überall auf der Welt werde sie subventioniert. Jelzin habe erklärt, das solle lokal geschehen, aber lokal geschehe nichts. Wenn aber keine Unterstützung komme, könne der Bauer nichts kaufen: Keine Land-Maschinen, kein Inventar, keine Düngemittel. Ohne das sei keine landwirtschaftliche Produktion möglich.
Aber Vincentis Hoffnung liegt nicht in der Rückkehr zu alten Führungsmethoden. Vizepräsident Ruzkoi ist für ihn nichts weiter als ein Soldat, der die Landwirtschaft mit den ihm vertrauten Methoden kommandieren wolle, statt sie zu entwickeln.

take10: O-Ton Vincenti, Forts.: (0,21)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, der Übersetzung unterlegen, danach hochziehen.

Übersetzer:    „Die Landwirtschafts-Gewerkschaft nützt auch nur             ihren Führern und klüngelt mit der Macht zusammen. Was die Vertreter des obersten Sowjet oder der Regierung sagen, das ist für sie Gesetz. Nötig wäre eine unabhängige Gewerkschaft.“

Erzähler:     Und nicht nur das: Gebraucht werde eine echte             Demonopolisierung, fährt er fort, in der die Arbeit vor Ort und nicht in Moskau organisiert werde. Die Ausrufung des Altai zu einer souveränen Republik im Juni 1991 ist für Vincenti Tengerekow ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Regie: Athmo 4 noch einmal kurz einspielen, dann abblenden.
Erzähler:     Die Altaizis sind nicht die einzigen, die ihr Heil             vor dem Zusammenbruch des großen Bruders in der Flucht suchen. Die Tuwinzen und die Chakasen, kleine turkstämmige Völker an der Grenze zwischen Mongolei und Südsibirien, haben sich für unabhängig erklärt. Die Burjaten, ebenfalls dort zuhause, streben nach kultureller Autonomie. Die Jakuten, die den gewaltigen Raum Ostsibiriens besiedeln, fordern Selbstständigkeit. Faktisch bei allen nicht-russischen Völkern des Raums haben sich Wiedergeburtsbewegungen gebildet.
Aber nicht nur das: Auch in den mehrheitlich russisch besiedelten Verwaltungsbezirken selbst entwickeln sich regionale Unabhängigkeitswünsche. Bei Oleg Woronin, Dozent für Geschichte im alten sibirischen Handelzentrum Irkutsk und Mitglied der reformsozialistischen gesamtrussischen „Partei der Arbeit, wird deutlich, dass auch die neulinke Opposition sich diesem Prozess nicht verschließen kann:

take 11:  O-Ton Oleg Woronin. (1,06)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Schluss hochziehen und auslaufen lassen.

Übersetzer: „In dieser Beziehung ist der Kampf schon im Gange.             Allem voran gründete sich Frühjahr dieses Jahres die „sibirische Versammlung“ in Krasnojarsk. Als Ergebnis dieser Versammlung wurden die Forderungen nach „föderativem Dialog“ zwischen dem Präsidenten und den Vorsitzenden der Verwaltungen sowie der Republiken unterschrieben. Worum geht der Kampf? Darum wie das Budget zusammengesetzt wird. Also: Welche Steuern gehen nach Moskau und welche Mittel bleiben hier. Weiter: Ob die Region mit dem Westen, dem Osten, mit Japan, mit China, mit Deutschland, mit Amerika selbstständig Handel treiben darf, oder ob das über Moskau zu geschehen hat. Das ist eine ziemlich schwierige Frage, sowohl für die Bürokraten als auch für die geschäftlichen Strukturen. Und schließlich: Die Verteilung des Eigentums! Das ist der zentrale Punkt! Aus meiner Sicht sollte das Eigentum, rund gesagt, zu 90 Prozent fö-de-ra-li-siert werden – außer Flughäfen, Atomkraftwerken und dergl.“

Erzähler  Theoretisch wird die Notwendigkeit der             Föderalisierung des alten Kommandosystems heute von niemand in der ehemaligen Sowjetunion ernsthaft bestritten. Die Wirklichkeit allerdings spricht eine andere Sprache. Allzu offensichtlich klaffen Theorie und Praxis auseinander. Es fehlt die notwendige Infrastruktur vor Ort. Es fehlt ein entwickelter Binnenmarkt. Es fehlen die Mechanismen horizontaler Regelung von Interessenskonflikten.

Athmo 5:Im Büro des Käse-Butter-Kombinats, Altai. 0,36)

Regie: O-Ton langsam kommen und kurz stehen lassen, unterlegen, mit take 12 verblenden.

Erzähler: Im Büro des Butter-Käse-Kombinats der Republik             Altai empfängt uns Edmund Voll, Deutscher russischer Abstammung. Als Vorsitzender des Kombinats ist er unbestrittener Monopolist der Republik. Von der Tierkultur bis zur Energiebewirtschaftung geht alles durch seine Hände, was mit Milchwirtschaft zu tun hat. Auf die Frage, wie es mit der Autonomie gehe, antwortet er mit einem russischen Sprichwort:

take12: O-Ton Butter-Käse-Kombinat, Forts. (0,40)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, nach dem deutsch gesprochenen Satz runterblenden, unterlegen, mit take 13 verblenden.

Erzähler:     Dann berichtet er über die Schwierigkeiten der             Privatisierung, die man nicht einfach von oben verordnen könne. Um die Leute zu Eigeninitiative, gar zu eigenen Herstellung von Milchprodukten und deren Verkauf zu bewegen, müssten sie selber verstehen, was ihr Nutzen davon sei. Wovon aber sollten sie ihr Vieh ernähren? Womit sollten sie vor Ort Milch und Fleisch verarbeiten? Wie sollten sie ihre Produkte nach Moskau oder in andere Städte bekommen, nachdem alle Verbindungen zerrissen seien?
Seine Bilanz ist hart:

take 13: O-Ton Butter-Käse, Forts.. (1,12)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen. Den Text des Erzählers auf Zwischenfrage legen, danach kurz hochziehen, dann weiter unterlegt laufen lassen.

Übersetzer:   „So wie ich jetzt hier sitze, die Möglichkeit habe             zu reden, was ich will, wie ich es will, zu denken – das ist jetzt Freiheit. Aber mit der Entwicklung stehe ich hier auf der Stelle. Ich rede viel, aber ich bewirke nichts.“

Erzähler: Und die Unabhängigkeit?

Regie: Nach der Zwischenfrage kurz hochziehen, unterlegen, am Schluss hochziehen.

Übersetzer:   „Unabhängigkeit hat die Republik erst seit einem             Jahr. Und eben gerade erst beginnen wir nach den Gesetzen zu operieren, die die Republik schützen, die ihr den Ausweg nach außen, auf weltweite Geschäftsverbindungen öffnen. Wir hatten viele Einladungen nach Hamburg, nach Oldenburg. Ich habe Ihren Leuten gesagt: `Greifen Sie zu! Ich will, dass sie hier eine Fabrik für Tee bauen, auf der Basis von Heilkräutern, die hier einzig in der Welt blieben.‘ Sie Alle: `Ja! Ja!‘. Aber wenn sie hier sind: `Nein! Nein!‘ Sie scheuen sich einfach, Kapital zu investieren. Sie haben kein Vertrauen. Mir geht es nicht anders: Was weiß ich, was morgen sein wird.“

Erzähler:     Mit Milch, schließt Edmund Voll seine Klage, wolle             sich sowieso niemand beschäftigen. Ein schreckliches Abschlachten kollektiven Viehbestandes greife um sich. Privat nehme die Zahl zu, aber angesichts nicht vorhandener Möglichkeiten der Weiterverarbeitung in kleineren Orten, der unterentwickelten Transportwege usw., auf Grund derer viele Orte nur mit dem Flugzeug oder Hubschrauber erreichbar seien, hätten die Privaten kaum eine Chance.

Athmo 6: O-Ton Traktoren-Fabrik in Tscheboksary. (1,51)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann unterlegen.

Erzähler: Wieder an der Wolga. Traktorenwerk in             Tscheboksary. Spezialität: Schwere Geländemaschinen. 25.000 Beschäftigte. Monopolist. Der Lärm täuscht. Nur wenige Arbeitsplätze sind besetzt. „Keine Rohstoffe!“ erklärt Gonzajew. „Das Werk wird nur mit Notbesetzung gefahren. Die anderen ruhen sich aus.“ Unterproduktion. Eine Schande, natürlich. Man könne mehr leisten.
Viktor Gonzajew, Verantwortlicher für Außen- und Auslandskontakte des Werkes, führt mich herum. Lange Reihen fertiger Maschinen stehen unabgedeckt im Gelände. „Einsatzbereit“, erklärt mein Führer. Es fehle nur ein letztes Detail. Eine Zulieferfirma könne nicht liefern. Rohstoffmangel. „Millionen stehen da“, bemerkt Viktor Gonzajew trocken. Wie viel genau, weiß er nicht. „Das ist nicht meine Verantwortung.“ „Das Alte wird runtergerissen, Neues nicht aufgebaut“, sagt er.

Regie: O-Ton hochziehen, dann ausblenden

take 14: O-Ton Traktoren-Fabrik. (0,32)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Erzähler:     Im Konferenzraum. Gonzajew beschönigt nicht:

Übersetzer: „Die Situation der Fabrik ist heute schwierig.             Aufgrund des Zerfalls der Verbindungen, die es früher gegeben hat, ist alles komplizierter geworden: Lieferungen. Zusatzbauteile. Material. Metall. Die Schwierigkeit Verbindungen herzustellen. Das bringt die Fabrik heute in eine Grenzsituation. Sie haben die Lager ja gesehen. Massenweise stehen unrealisierte Werte auf dem Gelände. “

Erzähler: Siebzig Prozent der Belegschaft seien in den             „administrativen Urlaub“ geschickt worden, berichtet Gonzajew weiter. Sie bekämen eine Kompensation in Höhe eines Minimallohns. Das liege unterhalb des Existenzminimums. Wenn es so weiter gehe, sei der Bankrott absehbar. Streiks habe es schon gegeben, aber die Belegschaft begreife, dass die Werksleitung nichts machen könne. Selbst die Republik sei überfordert. Was für das Traktorenwerk gelte, gelte auch für die anderen Großunternehmen Tscheboksarys, das Stahlwerk mit 30.000 z.B. und andere. Aus Moskau wären Subventionen notwendig. Gonzajews Hoffnungen liegen auf der politischen Vereinigung der Direktoren, der Bürgerunion, die im obersten Sowjet und in der Regierung für eine Politik sorgen sollen. die die Betriebe wieder flott macht und den sozialen Frieden erhält.

take 15: O-Ton Traktoren-Fabrik, Fortsetzung. (0,20)

Regie:  O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Gerade heute soll ein Treffen zwischen den             Regierenden der tschuwaschischen Republik und dem Präsidenten stattfinden. Eins der Probleme dieses Treffens ist nun gerade die Traktorenfabrik. Von ihr hängen große Teile der Stadt ab. Wenn sie profitabel arbeitet, erhalten alle etwas, die Stadt und die Republik.“

Erzähler: Prof. Alfred Xwalikow, Archäologe und             Ethnologe in Kasan, bringt die Probleme der Neuordnung der russischen Föderation auf den Punkt:

take 16: Alfred Xwalikow, Straßengeräusche (1,25)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:  „Russland wird eine Wolga-Ural Republik, niemals             zulassen. Eine Abspaltung des Gebietes als eigene Föderation von Russland wird es nicht geben. Das ist klar. Es ist einfach alles zu sehr vermischt. Auch in Sibirien bemüht sich ja Republik zu werden. Auch das ist sehr schwierig, die ethnischen Vermischungen, die ökonomischen… Ich sehe das alles nicht. Alles, womit ich mich befasse, spricht davon, dass nicht eins der Völker im Wolga-Ural-Gebiet, und zwar weder die Bulgar-Tataren, noch die hier lebenden Russen, jemals einen eigenen Staat besessen haben. Niemals. Das sind gute, interessante Völker, jedes auf seine Weise entwickelt, aber sie haben sich immer unter irgendeiner fremden Ordnung bewegt.“

Erzähler: „Sie hatten ihre Sitten, ihre Dörfer, ihr eigenes             Leben“, erläutert er. Der Staat sei für sie immer das andere, das Fremde gewesen, dem man Tribut zahlte und das einen dafür beschützte. Eigene Strukturen dagegen habe man nicht entwickelt.

take 17: Alfred Xwalikow, Forts. (0,50)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:     „Was für eine Konföderation könnte das schon             sein? Nehmen Sie die Schweizer. Das ist eine absolut andere. Das ist in erster Linie eine ökonomische Konföderation: Wirtschaftliche, konkrete Infrastruktur! Darin werden die nationalen Besonderheiten bewahrt, Autonomie usw., eine nationale Föderation, aber auf der Grundlage einer ökonomischen Konföderation. Bei uns dagegen will man die Konföderation jetzt, ich möchte sagen, auf bloßer politischer Ebene errichten. Auf politische Ebene hat es solche Konföderationen bei uns aber bereits zu Hauf gegeben – gerade in der `großen Sowjetunion‘, die ja jetzt buchstäblich in ihre Teile zerfällt.“

Erzähler:  Nein, er sei nicht skeptisch, nur Realist,             Wissenschaftler. Natürlich könne er sich mit anderen Ansichten befreunden. „Mir ist eine schlechte Freundschaft immer noch lieber als ein guter Krieg“, lacht er. Aber am Ende zähle doch das Material.

Athmo 23: Bahnhofsplatz in Nowosibirsk. (1,20)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler      Der Moloch des sowjetischen Superstaates ist             geköpft. Aber statt sich in eine Föderation gleichberechtigter Staaten zu verwandeln, droht der weitere Zerfall, Chaos. Die Mehrheit der Menschen fürchtet für ihre Zukunft. Es ist die Stunde der Demagogen. Auf dem Bahnhofsplatz in Nowosibirsk agitiert die „Nationale Rettungsfront“. Der „Jude“ Jelzin wird beschimpft, der das Land an die Mafia und an das Ausland verkaufe. Im Namen der Sicherung von Brot, Wurst, sozialer Versorgung, Ordnung und Sicherheit wird landesweit zur Widerherstellung des Imperiums aufgerufen. Führer der „nationalen Rettungsfront“, in der sich neo-sowjetische Kräfte wie Nina Andrejewa und zaristisch-patriotische wie Alexander Prochanow miteinander für die Verteidigung des Vaterlandes verbinden, bekennen sich darüber hinaus offen als nationale Sozialisten, sogar Faschisten.

take 18: Alexander Prochanow. (1,10)

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:    Ich bin traditioneller russischer Imperialist.
Das ideale Russland, das ist für mich ein
euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der
Völkervielfalt hervorgeht, — das zentrale Volk
jedoch, das regulierende Volk, das sind die
Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind
kommunikativer und sie leben überall. Die heutige
russische Föderation ist ein totes Stück Holz,
sinnlos, Nonsens. Es kann kein Russland geben, wo
dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen
ihrer Heimat leben.
Die Ideologie, die die auseinanderfallende
russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei
Komponenten. Das ist die Komponente der sozialen
Gerechtigkeit – das ist die sozialistische
Komponente – und die nationale Gerechtigkeit, also
die nationale Komponente. Das ist also eine
zukünftige nationalsozialistische Ideologie oder
sozialnationalistische, wie beliebt. Im Kern wird
das möglicherweise Faschismus – ohne rassistische
Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie
kann es verschiedene Formen der politischen Kultur
geben.“

Athmo 8: Moskauer Metro. (0,57)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden.

Erzähler:  Wieder in Moskau. Wieder im Gespräch mit Andranik             Migranjan. Er sieht sich in seinen Prognosen von 1990 bestätigt. Nur geht es jetzt nicht mehr um Gorbatschows, sondern um Jelzins Krise. Genau könne niemand die Situation definieren. Klar sei nur:

take19: Andranik Migranjan. (1,37)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer:   „Wir befinden uns Zeit in einem Prozess der             Bildung von Nationalstaaten. Das machen wir mit großer Verspätung im Vergleich zu den europäischen Nationen. Zum erstenmal sind wir Zeuge einer sehr interessanten Situation. Die Russen zusammen mit all den anderen, Tartaren, Baschkiren und so weiter sind ebenfalls in diesen Prozess verwickelt. Ursprünglich, vor der Sowjetunion, hielten diese Völker sich selbst für Russen, für Mitglieder des russischen Imperiums. Jetzt kommen sie in einen Prozess der Neubewertung, was das ist: Russland, der russische Staat und wo die Grenzen dieses Staates liegen. Im Moment gehen wir durch diesen schmerzhaften Prozess. Das ist ein Ergebnis der Tatsache, dass keine dieser Grenzen auf normale Weise, auf der Basis von Vereinbarungen gezogen wurde. Die Grenzen sind willkürlich. Das ist der Grund, warum wir in einen Konflikt jeder gegen jeden kommen. Es ist so wie Hobbes es nannte: Der Krieg aller gegen alle.“

Erzähler:     Die innenpolitischen Erwartungen Migranjans haben             sich gegenüber 1990 noch weiter verdüstert.

take 20: Migranjan, Forts.  (0,41)

Regie: Verblenden, kurz stehen lasse, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzung:  „In der sozialen Sphäre wird es ihnen nicht             gelingen, die Situation durch weitere demokratische Mittel zu stabilisieren. Als Ergebnis kann ich die Entstehung dieser Art nationalsozialistischen Regimes nicht ausschließen, dass den Prozess der vollkommenen Privatisierung stoppt und eine Art korporatives Staatsmodell des politischen und ökonomischen Lebens entwickelt.“

Erzähler:     Angesichts dieser Situation sind Zugeständnisse an             die Regionalkräfte für Boris Jelzin mit Sicherheit der einzig mögliche Weg. Ob sein Versuch, durch mehr Rechte an die nationale Opposition die soziale im obersten Sowjet auszuschalten, zu mehr Demokratie führen wird, darf bezweifelt werden. Im besten Falle führt die Entwicklung zur weiteren Schwächung Moskaus und damit zu größerer Manövrierfähigkeit der Regionalmächte. Zu befürchten ist, dass mit der Annahme einer Verfassung, die den Präsidenten gegen die Volksvertretung stärkt, nur der Weg für eine schärfere Konfrontation zwischen dem Zentrum und den Regionalmächten freigemacht wird.
*

Von Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

Zurück zum Dorf? Beobachtungen in der ehemaligen Sowjetunion

Vorspann: Die ehemalige Sowjetunion hat sich in die G.U.S. verwandelt. Schon ächzt die russische Föderation in allen Fugen. Weitere Teilungen des früheren Imperiums kündigen sich an. Aber der Wandel geht noch tiefer: Es zerfällt nicht nur das frühere Imperium, es zerfällt auch der Industriegigant, der sich jahrzehntelang als Spitze des Fortschritts verstand. Jetzt sieht man sich an dessen Ende versetzt. Die vermeintliche Bastion des Fortschritts, droht auf das Niveau eines Schwellenlandes wie Argentinien, Brasilien, Indien, ja, manche befürchten, auf das eines beliebigen unterentwickelten Agrarlandes zu sinken. Aber selbst in der Landwirtschaft droht eine katastrophale Entwicklung.

take 1: Versammlung im MOSSOWJET, Moskau (0,25)

Regie: Langsam hochfahren, einen Moment stehen lassen, dann den Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler:   Dezember 1991, Versammlungsaal im MOSSOWJET, dem             Gebäude des Moskauer Stadtparlaments. Eine Gruppe reformlinker Abgeordneter hat öffentlich eingeladen, um über eine Alternative zur Regierungspolitik zu diskutieren. Das Wort bekommt Dr. Andr`e Kolganom, ein junger Wirtschaftsfachman der Moskauer Universität. Er kommt sehr schnell zum Kern:

take 2: Rede A. Kolganom  (0,50)

Regie: Einen Moment stehen lassen, dann abblenden, Übersetzung darüber legen, kurz hochziehen, dann abblenden und dem Erzähler unterlegen. Mit Text beenden.

Übersetzer: „Mit den bevorstehenden Massententlassungen besteht             die wachsende Gefahr von sozialen Konflikten. Perspektiven der jetzigen Wirtschaftsreformen, die aus den Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds hervorgehen, sind für uns alle nicht erfreulich: Nach Auffassung des IWF soll sich unser Land auf die Produktion von landwirtschaftlichen Gütern, Rohstoffen und Energieträgern spezialisieren.“
Kommentator: Die Studie des IWF, die einem russischen Publikum hier erstmals nahegebracht wird, wurde im Februar 1991 von denselben Leuten verfaßt, die wenig zuvor das sog. Schockprogramm für Polen ausgearbeitet hatten. Die Studien zeigen, was die Führer der Sowjetunion zu tun haben, wenn sie die die Unterstützung der internationalen Kapitalorganisationen zu Bewältigung ihrer Krise gewinnen wollen: Zuerst die Preisfreigabe, dann die Privatisierung, danach alles Weitere. Boris Jelzin übernahm die Empfehlungen in seine erste Regierungserklärung. Im Mai `92 erließ er Richtlinien zur Umwandlung der Sowchosen und Kolchosen, also der staatlichen und halbstaatlichen Kollektivbetriebe, in Aktiengesellschaften und zur Abgabe von Land an private Bauern. Bis Ende 1993 sollte dieser „Reorganisation“ genannte Prozess abgeschlossen sein.

take 3: Bahnhofsplatz in Bolotnoje (1,20)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, einen Moment stehen lassen, dann abblenden und unterlegt laufen lassen, mit Textende abblenden.

Erzähler:  Bezirkszentrum Bolotnoje, Sibirien, zwei Stunden             Fahrt von Nowosibirsk mit der „Elektritschka“, der Vorortbahn. Früher morgen. Bahnhofsplatz. In Bolotnoje erhalte ich einen Eindruck davon, was die Moskauer Beschlüsse in der Realität bedeuten. Auf einem Gebiet von der Größe Hamburgs ist der Ort Zentrum für sechzehn Sowchosen und einige Kolchosen, die ihrerseits je drei bis fünf Dörfer zusammenfassen. Gut 20.000 Menschen leben in dem Gebiet.
Früher war die Pyramide perfekt: Korn, Fleisch, Milch, was immer die Landwirtschaft hier hervorbringt, flossen von den spezialisierten Sowchosen und Kolchosen zur Weiterverarbeitung, bzw. zum Verbrauch ins Zentrum, von da nach Nowosibirsk. Am Ende der Leiter stand immer Moskau. Was übrig bleib, kehrte als Fertigprodukt in den Dorfladen zurück. Den gleichen Weg gingen die Gewinne. Jetzt ist auch in Bolotnoje die neue Zeit angebrochen.
Regie: O-Ton abblenden

take4: Agrarverwaltung Bolotnoje: (0,55)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann abblenden, Erzählertext darüber legen, O-Ton mit Text beenden.

Erzähler: Im Prinzip habe die Privatisierung begonnen,             erklärt Fjodr Soloteika. Er ist der, wie er müde betont, derzeitige Chef der Landwirtschafts-Verwaltung, bei dem wir mit unserer Erkundungstour beginnen. Die Dokumente seien alle fertig. Die Anteile eingeteilt. Die Inbesitznahme durch die neuen Eigentümer sei formal erfolgt oder es würden Assoziationen, Aktiengesellschaften geschlosssenen und offenen Typs oder auch Kooperationen daraus.
Sehr überzeugt klingt er allerdings nicht:

take 5: Agrarverwaltung des Bezirks Bolotnoje, Forts. (0,57)
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann abblenden und Übersetzung darüberlegen.

Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute etwas             mehr aufzuklären. Offen gesagt, ich glaube, daß wir auch bei den beiden Gemeinschaften nicht viel erreicht haben. Die Leute haben die Sache nicht wirklich begriffen. Und die Beziehung zur Arbeit ist im Prinzip die alte geblieben. Keiner glaubt daran, daß das jetzt sein Anteil ist, daß er jetzt dort der Herr ist, daß er jetzt irgendein Kapital besitzt. Meiner Meinung nach ist das alles zu schnell gegangen. –  Aber Befehl ist Befehl und  den muß man erfüllen. (…) So setzen wir die Versammlungen fort – und aktionieren eben.“
take 6: Bolotnoje, Straßengeräusche (0,30)

Regie: O-Ton Kurz kommen lassen, dann runterbblenden, Erzählertext darüberlegen, mit Ende des Textes runterblenden.

Erzähler: Der nächste Weg führt uns zu Wladimir Bachom, dem             Administrator des Bezirks, Er erweist sich als jüngerer dynamischer Mann, früherer Kolchosdirektor, Kommunist, heute verantwortlich für die Durchführung des Privatisierungsprogramms im Bezirk.

take 7: Administrator von Bolotnoje (1,00)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unter dem Erzähltext unterlegt laufen lassen, Schlußsatz hochziehen, mit take 5 verblenden.
Erzähler:     Wladimir Bachom wehrt erst einmal ab: Er habe kein             besonderes Interesse, die Kollektive zu zerschlagen. Er sehe seine Aufgabe darin, einen Rahmen herzustellen, in dem sich verschiedene Formen von Eigentum entwickeln könnten. Wenn ein Kollektiv gut arbeite – Gott sei Dank, dann arbeite es gut. Wenn ein Staatsbetrieb gut arbeite – Gott sei Dank, dann arbeite er. „Privatisieren, ja, aber bitte nichts forcieren“, das ist sein Motto.   Zweihundert private Wirtschaften seien im Bezirk inzwischen registriert, konkretisiert er. Nicht alle würden tatsächlich geführt, schränkt er ein. „Scheingründungen, Leute, die nur an schnelles Geld rankommen wollten, Sie verstehen“. Genau werde man das erst in zwei Jahren erfahren. Dann würden die Kreditüberprüfunmgen durchgeführt. Da werde es zu Spannungen kommen, räumt er ein. Auf den Sowchosen werde das nicht akzeptiert. Ja, die Schwierigkeiten, so Bachom schließlich ohne Scheu, seien sehr groß.

take 8: Administrator von Bolotnoje, Forts. (1,35)

Regie: O-Ton verblenden, dann unterlegt laufen lassen, am Schluß hochziehen.

Übersetzer:  „Ich möchte, daß Sie mich richtig verstehen. Ich             bin dagegen, daß heute Sowchosen und Kolchosen liquidiert werden. Ich spreche für verschiedene Formen des Eigentums. Aber angesichts des Zustands, in dem sich bei uns heute die private Bauernwirtschaft befindet, also wenn es erstens so wenige Farmer gibt und wenn dann von den 200 000 Hektar, die wir hier pflügen, die Farmer nicht einmal 6000 schaffen, dann muß natürlich heute jeder die Kolchosen und Sowchosen stärken und unterstützen.
Und was die soziale Infrastruktur angeht, haben Sie vollkommen recht: Das muß der Staat natürlich auf die Schultern nehmen. Das gilt allgemein. Der Bezirk mit seinem Budjet, also, wir sollten ja Mittel erhalten, Steuern usw. usw., Budgetgelder, Sie verstehen. Aber heute sind die privaten Bauern für die Zeit von fünf Jahren alle von den Steuern befreit. Das heißt, von daher kommt keine Unterstützung. Und wir vom Rayon können nichts geben. Nötig wären Gelder aus dem staatlichen Budget. Subventionen. – Nun, heute geht das bei uns noch: Wir haben die Kindergärten jetzt in unsere Obhut genommen, auch die Schulen haben wir praktisch alle übernommen. Aber allgemein kann man jetzt die Tenzenz feststellen: In den Bezirken gibt es kein Geld. In den Kolchosen und Sowchosen hat man aufgehört, Geld in diesen Bereich zu stecken. Das heißt: Das Leben der Bevölkerung erstarrt.“
Erzähler: Auf die Frage, ob er damit die Schließung der sozialen Einrichtungen  wie Schulen, Kindergärten, Kulturhäuser, Kranken-, Altenstationen usw. meine, bekräftig Wladimir Bachom:
take 9: Forts. O-Ton Administrator (0,30)

Regie: O-Ton mit dem davor verblenden, kurz stehen lassen, dann Übersetzung darüber, unterlegt weiter laufen lassen. Übersetzung mit O-Ton beenden.
Übersetzer:   „Bei uns noch nicht. Wir haben bisher noch nichts             geschlossen. Bisher erhalten wir aus staatlichem Budget Sunventionen, um die Kindergärten zu unterhalten. Zur Zeit arbeiten bei uns alle Kindergärten, Klubs usw. Aber bei den Kolchosen und Sowchosen im Allgemeinen schon, vor allem bei denen, die sich in Aktiengesellschaften verwandelt haben. Dort steht die Frage bereits so, die soziale  Sphäre zu liquidieren.“

take 10: O-Ton Geländewagen (0,45)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann runterblenden und unterlegt weiterlaufen lassen, am Schluß hochziehen.

Erzähler:     Mit einem Geländewagen der örtlichen Miliz, den Wladimir             Bachom uns einschließlich Fahrer besorgt hat, geht es weiter. Anders wären wir tagsüber nicht weitergekommen. Die Busse fahren frühmorgens vom Zentrum in die Dörfer und abends zurück. Unterwegs bekommen wir einiges über die schwieriger gewordene Arbeit der Polizei zu hören: „Die Städter vor allem“, sagt der Fahrer. „Über Nacht kommen sie aus Nowosibirsk, um mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist: Vieh, Korn, Kartoffeln.“ Das nehme schon organisierte Ausmaße an. Auch Morde gäbe es öfter als früher. Die Polizei sei jedoch machtlos. Ihre Befugnisse seien unklar, die Gesetze chaotisch. Die Einsätze würden gefährlich. Neuerlich sei sein Gehalt erhöht worden. Doppelt so viel wie den Durchschnittslohn erhalte er jetzt. Trotzdem wrede er aufhören. Wofür sich erschlagen lassen? Niemand werde es ihm danken.
Nach gut einer Stunde solcher Unterhaltung erhebt sich vor uns aus dem knietiefen Matsch des Dorfplatzes das Verwaltungsgebäude der Sowchose Lebjaschejewo.

Take 11: Im Büro der Sowchose Lebjaschewo (0,50)

Regie: Anlaufen lassen, einen Moment stehen lassen, dann runterblenden und Erzähler-Text darüber legen, am Schluß hochziehen.

Erzähler: Die Sowchose Lebjaschewo ist einer der Betriebe, in             der die Privatisierung schon begonnen hat. Iwan Michailowitsch, leitender Ingenieur, also ein Mitglied des Direktoriums, ist durch unseren Besuch sichtlich aus der Fassung gebracht. Aber er antwortet bereitwillig auf die Fragen, was sich seit Beginn der Privatisierung bei ihnen verändert habe: Ja, sie hätten mit der Aufteilung der Anteile begonnen, sagt er. Eine Versammlung habe man durchgeführt, eine Aktiengesellschaft begründet. Was das konkret bedeute, könne er nicht sagen. Das verstehe er selber nicht. Man befinde sich in einer Übergangszeit. Die Praxis müsse es zeigen.

Regie: Ton am Ende hochziehen.

Erzähler:     Weniher verhalten klingt der knorrige alter             Sowchosnik, der sich als Mechanisator vorstellt:

take 12:  Mechanisator (0,40)

Regie: Ton voll anfahren, dann runtergehen, der Übersetzung, dann dem Erzähler unterlegen, nach dem Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer: „Nun, wie soll ich sagen – ich habe hier ja schon             ein ganzes Leben verbbracht, siebenundsechzig Jahre. Ich finde, das Leben war besser und freundschaftlicher, als wir im Kollektiv waren. Ich sage das geradeheraus. Was haben wir jetzt dafür eingefangen? Wohin gehen wir jetzt? Wofür arbeiten wir jetzt? Was machen wir?“

Erzähler: Alles breche auseinander, fährt er fort. Alle             Ordnung drohe sich aufzulösen. Der Maschinenpark zerfalle. Die Straßen und Wege würden zusehends schlechter, die Kantine ebenso. Keiner sei mehr verantwortlich. Das habe es in den siebzig Jahren sowjetischer Macht nicht gegeben. „Früher haben wir das alles finanziert“, erklärt er, „das war unsere Arbeit. Die Sowchose war ja für alles verantwortlich. Wer macht das jetzt?“ Eine Illusion sei es, fährt er fort, daß die Arbeitsmotivation steige. Die privaten Bauern kämen hinten und vorn nicht zurecht: Maschinen zu teuer, Preise für die Produkte zu niedrig. Sie könnten ja kaum sich selbst ernähren. Jeder denke nur noch an sich. Geklaut werde wie nie zuvor.

take 13: Dorfbewohnerin auf der Straße (0,33)

Regie: Kurz anfahren, abblenden, dann Erzähler-Text darüber, mit take 14 verblenden.

Erzähler:     Auf der Dorfstraße kommt uns eine ältere Frau             entgegen. Was sich verändert habe? An „die oben“ sollten wir uns wenden, weicht die Frau aus. Dann antwortet sie doch:
take 14: Dorfbewohnerin, Forts. (0,52)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann abblenden und Übersetzung darüberlegen. Übersetzerin: „Alles ist schlechter geworden. Jeder denkt nur noch an sich selbst. Die anderen interessieren niemanden mehr. Das war früher anders.“
Regie: Wagengeräusche kommen lassen, nach den ersten Worten der Frauenstimme abblenden, unterlegt weiter laufen lassen, nach Textende hochziehen.

Übersetzerin: „Früher bist du hingegangen, hast bestellt – heute             gehst Du hin, da findest Du absolut nichts. – Nun, also, was hat sich verändert? Früher gab es Brot, heute gibt nichts für mich, nichts für Dich, nichts. Du gehst Brot holen, es gibt keins. Das ist hat sich verändert.“

Take 15: Gebrüder Kelm (1,48)

Regie:    O-Ton Ankunft bei den Brüdern Kelm kurz stehen lassen, dann runterziehen und Kommentar drüber.

Erzähler:    Die Kelms finde ich auf dem Feld. Sie gehören zu             denen, die es gewagt haben. Die Kelms, das sind drei Brüder, ihre Frauen und Kinder. Viktors Frau ist Lehrerin, die Frau Saschas arbeitet bei der Post des Ortes.

Regie: O-Ton zwischendurch hochziehen, dann wieder runterblenden und mit dem Erzähler fortsetzen, zwischendurch hochziehen.
Erzähler:     Seit einem Jahr bilden sie einen selbsständigen             Betrieb, erzählen die Brüder, eine Kooperation auf familiärer Basis. Ja, die Schwierigkeiten seien groß: Die nötigen Maschinen fehlen, zum Beispiel ein Mähdrescher. Sie müssen ihn bei der Sowchose ausleihen. Da sind sie natürlich immer die letzten, die ihn bekommen. Jetzt benötigen sie dringend einen Korntrockner. Obwohl er zur Zeit frei ist, verweigert der erste Ingenieur ihnen die Anlage. „Ohne diese Anlage“, klagen sie, „verfault uns das Korn, besonders bei diesem Wetter!“
Lohn? Kennen sie für sich nicht. Dafür reichen die Erträge noch nicht. Die Familien leben von dem Gehalt, das die Frauen von der Gemeinde, als der Sowchose beziehen. Auch für den Verkauf ihrer Produkte gibt es keinen Weg an der „Agroprom“, der zentralen Landwirtschafts-Verwaltung vorbei. Die neue Organisation „AKor“, „Assoziation der Farmer und Kooperativen“ ist keine Alternative. Sie muß sich selbst der vorhandenen Einrichtungen bedienen – und die sind nun einmal durch und durch kollektiviert, zentralisiert und monoplolisiert.
Von Zusammenarbeit mit anderen privaten Bauern wollen die Brüder Kelm nichts wissen. Das gebe nur Streit. Das würde nur die alten Formen wiederholen. Später vielleicht. Früher hätten sie schon in einem der damals so genannten `Kollektive besonderer Intensität‘ gearbeitet, höre ich. „Jetzt probieren wir es eben so!“, lachen sie. „Neue Namen, alte Probleme.“ Die frühere Form, so ihr Urteil, sei effektiver gewesen. Dafür sei man jetzt sein eigener Herr. Zwar fehlten noch immer klare Gesetze für die Agrarreform, die das Recht auf Privateigentum an Land garantierten, räumen sie ein. . Morgen könne alles wieder zurückgedreht werden. Aber einen Weg zurück gebe es nicht. Das sei nur „durch Blut“, wie sie sagen, also mit Gewalt möglich. Das ist für sie sicher. Daran glauben sie.

Regie: O-Ton hochziehen und auslaufen lassen.

take 16: Bauer Gorbatski (1,50)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen bis zum Abstellen des TV, abblenden und unterlegt laufen lassen.

Erzähler:      Am nächsten Tag in einer anderen Sowchose. Schwer             kämpfen wir uns durch den stiefelhohen Matsch zur Haustür vor. Auch die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt haben. Sie versuchen es allein, als Familienbetrieb. Fjodr Gorbatski war früher Traktorist auf der Sowchose. Seine Frau war Melkerin. Wie fühlen sie sich als selbstständige Bauern?

Regie: O-Ton hochziehen zum Stichwort: „Da, fermer schtscho daleko…“, dann abblenden und dem Übersetzer unterlegen.

Übersetzer:    „Ja, was heißt Bauer? Bauer, das ist noch weit!             Das ist erreicht, wenn alles Nötige irgendwie zusammenläuft. Jetzt – quälen wir uns eher ab. Schwierig ist es! Gerade eben bin ich bei der Stadtverwaltung in Nowosibirsk gewesen, um mir noch einige Hektar überschreiben zu lassen. Ich habe ja meinen ganzen Boden schon bearbeitet. Ich ging zur Bank, wollte einen Ergänzungskredit erwirken, um Technik zu kaufen. Es ist ja alles sehr teuer. Um mein Land rechtzeitig zum Winter umzupflügen, muß ich einen Traktor mit Ketten kaufen. Aber sie geben kein Geld.“
Regie: O-Ton abgeblendet weiterlaufen lassen, Erzähler-Text darüberlegen.
Erzähler:      Der junge Bauer erzählt, wie er von einer Stelle             zur nächsten geschickt wird: Zuerst muß er überhaupt erst einmal einen Traktor finden, der zum Verkauf steht. Schon das ist fast unmöglich. Kleine Traktoren sind absolute Defizitware. Als er trotzdem endlich einen unterschriftreifen Kaufvertrag hat, schickt ihn die städtische Kreditstelle zur bezirklichen, die bezirkliche zurück zur städtischen. Es fehlen Kenntnisse. Es fehlen die technischen Voraussetzungen für die eigene Weiterverarbeitung. Auch hier die Abhängigkeit von der Sowchose. Es ist sogar dasselbe Problem: Der Direktor läßt ihn nicht an den Saattrockner heran.
Die Nachbarn, berichtet er weiter, sind mißtrauisch. Im günstigsten Fall belächeln sie die jungen Leute. Andere tuscheln über die „neuen Kulaken“. Wie es in Zukunft gehen solle, sagt der junge Neubauer, wisse er nicht. Aufgeben aber kommt auch für die beiden nicht in Frage.

Regie: O-Ton abgeblendet stehen lassen.

Take17: Bäuerin Gorbatskaja (0,40)

Regie: O-Ton Bäuerin mit take 16 verblenden, einen Moment laufen lassen. Dann unterlegen.

Übersetzerin: „Das Leben ist aber besser geworden“, sagt die             junge Frau. „Auch im moralischen Sinn. Man hat niemanden über dem Kopf, man ist selbst verantwortlich für das, was man tut. Was morgen wird, ist unsere Sache. Man hängt von niemanden ab, das ist natürlich schon eine Freiheit! Das Leben ist interessanter geworden. Je länger, desto besser, wenn Du für dein Interesse arbeitest! Als mein Mann als Chauffeur gearbeitet hat, mußte er machen, was der Chef sagt. Der Lohn war niedrig. Jetzt weiß man selbst am besten, wo etwas profitabel ist. Natürlich ist das interessanter.“

Regie: O-Ton mit take 18, Hundegebell, verblenden.

take 18: Hundegebell  (0,12)

Regie: O-Ton mit take 35 verblenden und dann ausblenden.

take 19: Mähdrescherfahrer. (1,17)

Regie: O-Ton verblenden, kommen lassen, bis das Gespräch anfängt, dann abblenden und dem Erzähler unterlegen.
Erzähler:     Mähdrescherbrigade. Mit großem Hallo wird der             Journalist aus Deutschland begrüßt. Das weckt Erinnerungen: In Deutschland hat man gedient. Was sie mit ihrer Aktie und ihrem Landanteil jetzt machen werden? „Deutschland übergeben“, ruft ein Alter. „Auf’s Klo hängen“, ruft ein anderer.
Es entsteht ein wilder Disput. Der Alte wendet sich strikt dagegen, daß Land käuflich sein soll. Jeder vernünftige Mensch sei dagegen. Ein junger Busche begehrt auf: Unsinn, überall auf der Welt werde Grund und Boden verkauft. Einig sind sich aber alle, daß Aktien und Anteile nur für den Sinn machen, der Geld und Verbindungen habe.
Aber die Regierung hätte doch versprochen denen zu helfen, die Eigentümer werden wollten, werfe ich ein. Ein Chor der Empörung antwortet mir:

take 20 Ton Mähdrescher, Forts. (0,20)

Regie: O-Ton verblenden, hoch anfahren, kurz stehen lassen, dann unterlegt weiterlaufen lassen.

Übersetzer:   „Da sitzen doch Idioten!“ „Ha, Helfen!“ „Niemand             hilft.“ „Alles kalter Kaffee.“ „Wieviel Jahre haben sie den Sozialismus aufgebaut und jetzt plötzlich Privatisierung!“ „So lange Kommunismus, wie kann da plötzlich Privateigentum möglich sein.“

take 21: Mähdrescherfahrer, Forts. (1,00)

Regie: Stimme des Alten hochziehen, dann abblenden und Übersetzung darüber.

Übersetzer:   „Das ist wieder – so ein Experiment. Sie             experimentieren mit dem arbeitenden Volk: Wie es sich abmühen wird, wollen es als Ping-Pong benutzen. Wer? Die Regierung natürlich, die Amtsschimmel, der Staat.“

Regie: O-Ton unterlegt weiterlaufenlassen, am Ende hochziehen und ausblenden.

Erzähler:     Das geschehe ja nicht zum ersten Mal, schimpfen die             Männer. Chrutschow habe experimentiert. Kossigyn ebenso. Andropow, ergänzt der Junge. „Der Fisch stinkt vom Kopf, verstehst Du?“ wettert der Alte. Niemand will sich für so ein Experiment hergeben – schon gar nicht allein. Und auf die Frage, ob sie denen, die es wagen, helfen würden, antwortet der junge Busche: Das sei bereits Sache des Chefs. Was könne er da als einfacher Sowchosenarbeiter machen?

take 22: Dorfladen (0,45)
Regie: O-Ton verblenden, langsam hochziehen, kurz stehen lassen, dann abblenden und Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler:      Auch im Dorfladen wird über die neue Entwicklung             geredet. Man klagt über die neuen Preise. Über die schlechten Löhne auf dem Dorf. Was für eine Gerechtigkeit das sei. In anderen Berufen verdiene man drei, vier mal so viel und mehr. Eigene Kühe? Wovon soll man die ernähren? Niemand gibt uns etwas. Jeder muß sehn, wie er durchkommt. Eine harte Zeit. Keine Ordnung mehr. Keiner will mehr arbeiten.
Ich frage nach ihrer Meinung zur Aktienausgabe.
Regie: O-Ton hochziehen.
take 23: Forts. Dorfladen (0,48)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann abblenden und Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler:     „Nichts Neues“, antwortet der Alte. „Nur Unordnung.             Man muß arbeiten. Das ist es. Da liegt der Boden, viel davon: plüge, sähe und alles wird sich entwickeln!“ Was sie mit den Aktien denn anfangen sollten? fragen die Frauen. Das sei doch alles Betrug. Sie wollen auf die Bauern nichts kommen lassen. Das fange ja erst an. Das könne man noch nicht beurteilen.

take 24: Forts. Dorfladen (1,06)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann Erzähler-Text darüber, am Ende hochziehen und dann ausblenden.
Erzähler:     „Das ist eine gute Entwicklung“, sagt             eine Frau. „Das Jahr war sehr schwer für den Anfang, das Wetter“, sagt eine andere. „Es ist aber nicht richtig“, meint eine dritte, „die Sowchose so plötzlich zu liquidieren.“ „Das hätte man 1932 machen müssen“, weiß der Alte. „Heute haben sich die Leute daran gewöhnt, versorgt zu werden.“ „Wenn die Privaten echte Bauern werden, die etwas schaffen“, stimmen die Frauen überein, „das wäre sicher gut. Aber niemand unterstützt sie.“ Umgekehrt, würden sie von allen Seiten behindert. Nirgendwo könnten ihre Produkte nicht absetzen.
Damit wendet sich das Gespräch wieder seinem Ausgangspunkt zu, den Preisen und den ungerechten Löhnen.

take25: O-Ton Kantine (0,38)
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann abblenden Erzähler-Text darüber. Mit Text beenden.

Erzähler:     In der Kantine. Ein junger Mann mit uns am Tisch,             Chauffeur. Was er mit dem ihm zustehenden Anteil jetzt tun werde, frage ich ihn. Korn anbauen, Vieh halten müßte man, antwortet er. Aber er denke nicht daran. Auf die Frage, ob er kein Vertrauen in die Entwicklung habe, antwortet er:

take 26: Kantine, Forts.  (0,46)

Regie: O-Ton verblenden, Ton kurz stehen lassen, dann abblenden und Übersetzung, danach den Erzählertext darüberlegen, dann mit take 27 verblenden.
Übersetzer:   „Ich glaube schon, aber aber mit Schwierigkeiten. Natürlich ist es verlockend, sein eigener Herr zu werden. Aber sie lassen es ja gleichzeitig nicht zu. Ich glaube also nicht wirklich daran.“
Erzähler:      Solange, erklärt er weiter, bleibe er lieber             weiter als Fahrer in der Sowchose. Wenn die Sowchose auseinanderbreche, könne er immer noch eine andere Arbeit finden.

take27: Dorfadministrator (1,03)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, dann Erzählertext darüberlegen.

Erzähler:     Vom Kartoffelfeld holen wir Wladimir Scherer, der             uns wie alle freundlich begrüßt. Er ist Dorfadministrator in der Sowchose Jegorowski. Er ist dort verantwortlich für die Privatisierung. Er bestätigt ihren formalen Beginn. Eine Versammlung habe es gegeben. Dort sei die Umwandlung der Sowchose in eine Aktiengesellschaft geschlossenen Typs beschlossen worden. Wer wolle, könne sich seinen Anteil nehmen, privater Bauer werden. Im übrigen aber wisse niemand, wie es weitergehen solle.

take 28: Forts. Dorfadministrator (1,14)

Regie: O-Ton verblenden, dann stehen kurz lassen, abblenden und Übersetzung darüberlegen.
Übersetzer:   „Heute geht das so. Die Kolchosen und Sowchosen             fallen auseinander, die Bauern sind aber noch nicht auf die Füße gekommen. Was weiter? Hunger!“ Regie: O-Ton abgeblendet weiter laufenlassen, Erzählertext darüber, nach dem Text hochziehen, auslaufen lassen.
Erzähler:     Die Situation sei katastrophal. Es gehe nicht vor             und nicht zurück. Rückwärts, erklärt er, hieße zurück zum System der Futterkrippe, der Versorgungsmentalität. Wie es aber nach vorn weiter gehen solle, wisse auch niemand.
„Was tun?“ Die Frage macht ihn ratlos. Sie liege über seinem persönliche Horizont. „Darüber müssen die nachdenken“, seufzt er, „die wir in den obersten Sowjet gewählt haben, der Präsident, die Regierung. Was tun? Was tun? Die immer wiederkehrende russische Frage..“

take 29: Kolchose Kruglowo (0,55)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, Erzählertext darüber legen.
Erzähler:     Kolchose Kruglowo. „Glubinkje“, tiefste Tiefe der             Provinz hatte Juri mir angekündigt. Hier könne ich einen Ortszaren kennenlernen und sehen, wohin der Zug der Privatisierung gehe. Durch wüste Schlammseen nähern wir uns der „Garage“, dem Maschinenhaus der Kolchose. Im Gelände davor rotten verwahrloste alte und neue Maschinen vor sich hin. Der „Eisenfriedhof“, kommentiert Juri. Vor dem Eingang zur Garage stehen ein paar wüste Gestalten. Unsere Fragen stoßen auf mißtrauisches Schweigen. Man schickt uns zu Wladimir Gerossinenko, Direktor der Kolchose.
Gerossinenko begrüßt uns leutselig. Dann, im Gespräch, läßt er nicht lange mit Erklärungen auf sich warten.

take 30: Direktor der Kolchose Kruglowo, Gerossinenko (1,05)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, dann runterblenden, dem Übersetzer unterlegen.

Übersetzung: „Hier gab es, genau vor einem Monat, eine             Versammlung. Was ist passiert? Nun, da war die Kolchose. Wir haben in unserer Zeitung veröffentlicht, daß wir sie als kollektives Unternehmen reorganisieren wollen. Jetzt ist diese neue Form, die Kooperative also gegründet, eingetragen nach dem Gesetz der russischen Föderation.“

Regie: O-Ton weiter abgeblendet laufen lassen. Erzählertext darüber.
Erzähler:   Jetzt gehe es in Kruglowo nach dem Prinzip des             Interesses, erläutert er weiter. Die einundreißig Mitglieder der Reorganisations-Kommission seien die qualifiziertesten Kräfte. Er selbst sei zum Vorsitzenden der Komission gewählt worden. Die übrigen müßten sich jetzt bewerben.
Effektivierung nennt Gerossinenko diesen Vorgang. Faulenzer, Säufer, Bummelanten würden so außen vorgehalten. Schwächere, Alte sollen sich seiner Meinung nach im privaten Bereich beschäftigen, Frauen im Haus mit den Kindern. So könne neben der Verwaltung auch der aufgeblähte soziale Apparat abgeschlankt werden. Entbürokratisierung ist sein Stichwort dafür.
Am Ende krönt er die von ihm gewählte Form der Privatisierung mit der unmißverständlichen Begründung:

take 31: Fortsetzung Gerossinenko (0,25)

Regie: O-Ton verblenden, stehen lassen, dann Übersetzung, am Ende hochblenden. .

Übersetzer:   „Jetzt ist das Verteilen eine einfache Sache: Alles             gehört uns. Ich habe ein Gericht eingesetzt, das darüber entscheidet. Das heißt, eine Privatisierung an jeden Einzelnen gibt es nicht. Bäuerliche Wirtschaften sind zur Zeit eine Utopie.“

Erzähler: Bolotnoje ist kein Einzelfall. Ähnliches hörte ich             in weiteren sibirischen Regionen, die ich besuchte, ebenso wie im Altai oder an der Wolga. Die Unterschiede in der Haltung zur Privatisierung sind groß, aber in einem gleicht sich das Bild überall:
Kommentator:Viele Sowchosen und Kolchosen sind bereits sein             langem unprofitabel. Jetzt wirft die ungleichmäßige Entwicklung der Preise seit ihrer Freigabe im Frühjahr `92 die Landwirtschaft völlig zu Boden. Während die Preise für Korn, Fleisch, Milch usw. unter die Produktionskosten sinken, steigen zugleich die für Maschinen und sämtliche Güter des täglichen Bedarfs. Selbst in traditonellen Viehaltungsgegenden wie dem Altai wird der Kuhbestand abgebaut, weil die Haltung der Tiere teurer ist als die Einnahmen aus Milch- oder Fleischverkauf. Viele Sowchosen und Kolchosen stehen vor dem Bankrott, noch mehr haben schon seit Monaten keine Löhne gezahlt. Die privaten Bauern andererseits können sich unter diesen Umständen gar nicht erst entwickeln.
Erzähler:Im Bezirkszentrum Zivilski bei Tscheboksary an der             mittleren Wolga brachten zwei Redakteure einer Bezirkszeitung die Entwicklung auf den Punkt:

take 32: O-Ton Regionalredakteure an der Wolga (0,35)

Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegen, Übersetzer drüber, am Schluß hochziehen.

Übersetzer: „Eigenproduktion an Ort und Stelle wäre nötig: Du             verarbeitest, was Du hervorbringst. Vor Ort müßte das stattfinden. Fleischzentren müßte man vor Ort eröffnen, eine Kwaßanlage, eine Molkerei usw. usw. Kleine Anlagen vor Ort. So was hat es ja früher gegeben. Aber heute gibt es das nicht. Alles geht nach ins Zentrum. Für alles andere fehlt das Geld! Nichts ist da.“

take 33: O-Ton Demo in Moskau (1,39)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann runterblenden und unterlegt laufen lassen, am Schluß hochziehen („Hurra!“) laufen
Erzähler:     Wieder in Moskau. Tag der Revolution. Hier             prallen die Fronten aufeinander. Die alt-kommunistische und patriotische Opposition demonstriert gegen Boris Jelzins Reformen. Der Männer agitieren gegen die neue Agrarpolitik. Land dürfe nicht käuflich sein, rufen sie. Die Verfassung verbiete es. Es nütze nur den Millionären und dem ausländischen Kapital. Wer Land verkaufe, verkaufe das Volk. Jelzin sei ein Verbrecher, der sich über die Verfassung hinwegsetze.
Regie: O-Ton (Musik) kurz kommen lassen, dann zurückblenden und Erzählertext darüberlegen, dann ausblenden.
Erzähler: Wenige Tage später nehme ich an einer Beratung             mehrerer Organisationen zur Agrarfrage teil – regierungsnahe Kräfte, gemäßigte Opposition, Reformlinke. Hauptpunkt aller Beiträge ist die Forderung der Entwicklung von produktiven und sozialen Infrastrukturen vor Ort. Alle wissen: Die Wirklichkeit ist umgekehrt ist: Die vorhandenen Strukturen werden weiter abgebaut, bestenfalls zum Nutzen einer Weniger reorganisiert wie in Kruglowo. Für den Aufbau der neuen – fehlt das Geld. Kredite versickern auf ihrem Weg von Moskau zu ihrem potentiellen Empfängern vor Ort in den Amtsstuben der neuen und alten Bürokratie. Aus dem ehemaligen Industriegiganten droht bei Fortsetzung dieses Kurses nicht einmal ein Agrarland, sondern ein nachindustrielles Trümmelfeld mit wenigen Trümmerbaronen zu werden.
*

on Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

Moskau: Klage ohne Kläger Anmerkungen zum Verfahren gegen die „Putschisten“ (Text)

Anderthalb Jahre nach dem versuchten Staatsstreich vom 19. August 1991 wurde in Moskau jetzt der Prozess gegen zwölf Mitglieder des „Notstandskomitees für den Ausnahmezustand“ eröffnet. Die Angeklagten waren alle Mitglieder der damaligen Regierung und ihres weiteren Apparates: Jannajew war Vizepräsident,  Krjutschkow KGB-Chef, Lukjanow Vorsitzender des obersten Sowjet, Jasow Verteidigungsminister, Warennikow Kommandeur des Landheeres usw., Pugo schließlich, der sich selbst nach dem Scheitern des Versuchs tötete, war Innenminister .
Nach dem Prozess um die Zerschlagung der KPdSU ist dies der zweite juristische Anlauf, der zur Bewältigung der (post)-sowjetischen Geschichte unternommen wird. Der erste endete mit einer Teilung des Urteils: Die Spitzen der Partei wurden illegalisiert, die Grundorganisationen für legal erklärt. Der neue Prozess trägt schon am Eröffnungstag alle Merkmale desselben Spiels: Mit über 120 angekündigten Zeugenvorladungen, unter ihnen Michail Gorbatschow, Alexander Ruzkoi, Ruslan Chasbulatow, groß in Szene gebracht, wurde er doch schon am Eröffnungstag ausgesetzt. Einer der Angeklagten sei aus gesundheitlichen Gründen nicht verhandlungsfähig, heißt es.
Die unklare Verfassungslage des Landes, die schon das aktuelle Referendum erzwingt, verweist den Prozess darüberhinaus ins juristische Niemandsland. Nach welchem Gesetz soll geurteilt werden? Nach sowjetischem? Nach russischem? Nach G.U.S.-Vereinbarungen? Wer sind die Ankläger – wenn die Geschädigten, die Sowjetunion und ihr damaliger Präsident, moralisch mit auf der Anklagebank sitzen, wenn das Interesse der Bevölkerung an einer Bestrafung der Angeklagten laut Umfragen gegen Null geht, ja, Boris Jelzin nahestehende Blätter sogar einen „Honnecker-Effekt“ befürchten? Nicht zu Unrecht bestreiten die einundzwanzig Verteidiger zudem die Zuständigkeit des Militärgerichtes, wenn sein Vorgesetzter, der Verteidigungsminister Gratschkow, selber als Zeuge geladen sei.
So hat das Gericht, bevor es beginnen kann, über einen Befangenheitsantrag und einen Antrag auf Einrichtung eines G.U.S.-weiten Sondergerichtes zu entscheiden.
Bedauerlich, wenn der Prozess nicht zustandekäme. Verspricht doch eine Verhandlung entlang der Verteidigungslinie, die die Angeklagten inzwischen hinlänglich öffentlich dargelegt haben, interessante Einblicke in das, was sich im August `91 tatsächlich abgespielt hat: Die Angeklagten bestreiten, daß es einen Putsch gegeben habe. Gorbatschow habe von ihren Plänen gewußt, sie mit ihnen beschlossen, zumindest aber gebilligt.
Diese Sicht der Dinge, die im Westen immer noch Erstaunen hervorruft, war im Lande selbst schon eine Woche nach den August-Ereignissen Allgemeingut, nämlich, daß die gescheiterten Putschisten nur die Notstandsmaßnahmen ausgeführt haben, die sie als Regierung zuvor mit Gorbatschow gemeinsam beschlossen hatten.
Selbst in der westlichen Presse konnte, wer wollte, in den Monaten zuvor den atemberaubenden Notstands-Fahrplan der Regieung Gorbatschow verfolgen: Seit dem Sommer 1990 kursierten Putschgerüchte in der Union. Die zunehmende Aushöhlung der Präsidentenmacht gab der Diskussion um den „chilenischen Weg“ zunehmend Stoff. Wie heute Boris Jelzin verlangte damals Michail Gorbatschow Sondervollmacht nach Sondervollmacht. Nach den ersten, noch halbherzigen Preisfreigaben im März `91, nach den Toten in Wilna, mit den Bergarbeiterstreiks und mit unionsweiten Demonstrationen erreichte die Unuhe in der Bevölkerung erstmalig den Charakter einer Volksbewegung. Dies war Anlaß für Gorbatschow, Jelzin und die Führer von weiteren acht Republiken, ihre Rivalität zugunsten einer gemeinsamen Befriedungspolitik aufzugeben. Dies fand seinen Ausruck in dem „Neun plus Eins“-Konmpromiß für einen neuen Unionsvertrag Ende Aopril ’91, der die sozialen und nationalen Probleme wieder regierbar machen sollte.
Als „Gemeinsame Erklärung über unverzügliche Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage im Lande und zur Überwindung der Krise“ erblickte der Kompromiß das Licht der Welt. Unter die darin beschlossenen Maßnahmen fielen neben der sofortigen Beendigung der Streiks durch Untersstellung der Kohlegruben unter die Verwaltungshoheit der russischen Republik die beabsichtigte Einführung eines besonderen „Regimes der Arbeit“, eine Ausweitung der vorher nur punktuell praktizierten Streikverbote auf praktisch alle Industriebetriebe, sowie die Verkündung des „Endes der Gesetzlosigkeit und des Schlendrians in der Wirtschaft und Verwaltung“. Mit der Durchführung der letztgenannten Aufgabe wurde KGB betraut, dessen Kompetenzen damit ausgeweitet wurden. Proteste zur Durchsetzung politischer Ziele wurden für nicht legitim erklärt. Die Medien wurden erneuter Zensur unterstellt. Ein Notstandskomitee, dem unter anderem Ministerpräsident Pawlow, Innenminister Pugo, sowie andere der heutigen Angeklagten engehörten, wurde gegründet.
Zwei Wochen später verkündete Minuisterpräsident Pawlow ein Anti-Krisen-Programm im Sinne dieser Vereinbarungen. Nach weiteren vier Wochen beanspruchte er Sondervollmachten zur Durchsetzung von Notverordnungen im Rahmen des Programms. Einen Tag danach warfen Verteidigungsminister Jasow, KGB-Chef-Krjutschkow und Innenminister Pugo dem Präsidenten Gorbatschow namens der erzkonservativen „Sojus“-Fraktion des obersten Sowjets, dem Vorläufer der heutigen „Einheit“ wegen seines Vorpreschens in Sachen Unionsvertrag Verfassungsbruch vor und pochten auf die Einhaltung der vereinbarten Notstandsbeschlüsse. Demokratische Abgeordnete des obersten Sowjet kritisierten zu dem Zeitpunkt öffentlich die „koordinierte Kampagne“ zum Sturz Gorbatschows. Gorbatschow selbst wiegelte ab. Pawlows Verlangen liege ganz und gar auf der Linie der „Gemeinsamen Erklärung“.
Seine Reise zum Londoner Gipfel der „G-7“-Staaten im Juni `91 unternahm Gorbatschow mit einem einträchtig zwischen ihm und seinem Innenminister ausgehandelten Anti-Krisen-Programm. Erst als Gorbatschow mit leeren Händen aus London zurückkam, weil die „G-7“-Staaten die von ihm angebotenen Strukturanpassungs-Maßnahmen für nicht ausrechend erklärten, wurden die Mahnungen aus seinem Umkreis zur Einhaltung der Notstandsbeschlüsse drängender. Jetzt müsse man auf die eigenen Kräfte bauen, verkündete Ministerpräsident Pawlow. Gorbatschows Politik der Balance war gegen diesen Druck nicht mehr zu halten. Pawlows letzte Warnung stammt vom 13. August. Er kündigte an, Löhne und Gehälter einzufrieren und warnte zugleich vor einem Machtvakuum, wenn der Zentralregierung durch die beabsichtigte Unterzeichnung des Unionsvertrags der Einfluß auf die Wirtschaftspolitik entzogen werde. Jelzin, der sich parallel zu Gorbatschows Londoner Bemühungen zu Beratungen über sein wirtschaftliches Schockprogramm, bekannt als „500-Tage-Programm“, in den USA aufgehalten hatte, verschärfte die Lage durch einen Erlaß zum Verbot der Strukturen der KPdSU in den Betrieben der russischen Republik, ließ aber im Übrigen keine Absichten erkennen, aus der Notstandsfront auszusteigen. Wenige Tage später verkündete das „Komitee für den Notstand“ Pawlows letzte Warnungen und die früher beschlossenen Maßnahmen der „Gemeinsamen Erklärung“ als ihr politisches Programm.
Soweit die bekannten Fakten.
Die Frage, die in dem Prozess gekärt werden könnte: Kann eine Regierung, zumal eine vom Zuschnitt der damaligen sowjetischen Staats-Parteileitung, die die von ihr und ihrem Präsidenten gemeinsam beschlossene Notstandspolitik gegen dessen Zaudern in die Tat umsetzt, des Putschismus beschuldigt werden – zumal sie offensichtlich den Einsatz von Militär vermied? Was hat Gorbatschow davon gewußt? Anders, was hat er gegen diesen absehbaren Schritt unternommen? Und Jelzin? Was ist von dem im Lande weit verbreiteten Vorwurf zu halten, er habe ein doppeltes Spiel getrieben, indem er das Notstandskomitee in dem Glauben ließ, er stehe hinter den Maßnahmen – um sich im entscheidenen Augenblick mit Rückenwind aus Amerika, mit Hilsversprechungen des IWF und der „G-7“-Staaten gegen das „Notstandskomitee“ zu wenden? Auf Enthüllungen von Einzelheiten zu diesen Fragen dürfte man mit Recht gespannt sein, dies umso mehr, da Boris Jelzin sich heute in einer Situation befindet, die in manchem der damaligen von Michail Gorbatschow gleicht. Es ist aber zu befürchten, daß die Chance zur Korrektur falscher Mythen wieder einmal nicht genutzt wird.

Porträt: Raissa Sarbi

take 1: O-Ton Raissa in Museumshalle

Regie: O-Ton zwanzig, bis dreißg Sekunden stehen lassen, dann langsam abblenden, unter dem Errzählertext weiter laufen lassen.

Erzähler:     Das ist Raissa Sarbi, Ehefrau, Mutter, Person             öffentlichen Ärgernisses. Ort: Tscheboksary an der Wolga. Raissa ist Mitarbeiterin im tschuwaschischen Kulturzentrum der Republik. Sie gibt ein Frauenjournal und eine Kinderzeitung in tschuwaschischer Sprache heraus. Sie ist Dichterin, Poetessa, wie sie hier genannt wird, Kulturaktivistin und Visionärin. Der Kosmos ist ihr Zuhause. Aber ihr schönes ägyptisch-türkisch geschnittenes und von dunklen Locken umrahmtes Gesicht und ihr fester Schritt sind ganz von dieser Welt. Auch die Ausssicht aus ihrer Wohnung im 17.Stock eines der wenigen Betonhochhäuser der Stadt vermag sie sehr handfest zu genießen.
Soeben berichtet sie mir und ihren Begleitern bei einem Rundgang durch das „Tschuwaschische Staatsmuseum“ von jenem Buch mit arabischen Schriftzeichen, das vor ihrem dritten Auge erschienen sei. „Mir wurde klar“, ruft sie: „Das habe ja ich geschrieben! Ich kann kein Arabisch, aber ich wußte, daß das Buch von den Usprüngen des tschuwaschischen Volkes in Mesopotamien berichtet. Ich begriff, daß es meine Aufgabe ist, mich daran zu erinnern, was ich damals geschrieben habe, und dies unserer heutigen Bevölkerung nahezubringen.“
Raissas Einsatz gilt der Wiedergeburt des Tschuwaschischen Volkes. Bei Juden, Türken und Persern geht sie auf die Suche nach Spuren seiner langen Wanderung: Aus dem Zweistromland zuerst nach dem Osten Zentralasiens, von dort mit den Hunnen nach Westen; mit deren Zurückfluten aus Europa sei es schließlich an der mittleren Wolga hängengeblieben.

take 2: O-Ton Raissa, Forts.

Regie: O-Ton verblenden, langsam hochziehen, einen Moment stehen lassen, dann abbelnden und unterlegen.

Erzähler:     Vor allem aber ist Raissa Frau, Mutter und             Kämpferin für die Rechte der Frauen. Sie sieht sich als Nachfolgerin der Amazonen. Das Titelemblem der von ihr herausgegegeben Frauenzeitung zeigt eine junge Frau, geschmückt mit der „Ama“. Die „Ama“, erzählt Raissa, sei die traditionelle Perlenkappe mit einer auf dem Scheitel gen Himmel gerichteten Spitze, die von unverheirateten Frauen als Zeichen ihrer Unberührtheit getragen wurde und heute wieder wird. Die „Ama“ sei aus der Kriegskappe der Amazonen entstanden, erklärt Raissa. Bis zu ihrer Christianisierung im sechzehnten Jahrhunder, also zu einer Zeit als im Westen der Dreißigjährige Krieg tobte, habe das Matriarchat die Lebensweise der Tschuwaschen bestimmt. Erst mit der Christianisierung durch die Russen sei es durch das Patriarchat gebrochen worden.
Raissa wurde wie alle Sowjetkinder im atheistischen Glauben an die Revolution erzogen. Vater und Mutter, die wir auf dem Dorf besuchen, sind noch heute stolz auf die Pionierzeit. Raissa ist inzwischen getaufte orthodoxe Christin. Im Herzen aber ist sie der alten Religion ihres Volkes treugeblieben, dem aus Mesopotamien stammenden Zoroastrismus: Sonne, Feuer, Liebe, Seelenwanderung, Mensch und Kosmos als eine organische Einheit. Das sind die Themen, die sich in ihren Gedichten finden. „Der Mensch wird 777 mal wiedergeboren“, lacht Raissa, „niemand kann sich um die Verantwortung für unseren Planeten drücken. Wir haben früher gelebt, also sind wir verantwortlich für das, was jetzt ist. Wir werden in Zukunft leben, also müssen wir uns um das kümmern, was noch entstehen will. Die Wolga ist eine der Nahtstellen unseres Globus. Wenn sie stirbt, stirbt die Welt. Darum müssen wir uns um ihre Erhaltung kümmern. Wir Frauen“, schließt sie, „verstehen das am besten, denn als Mütter wissen wir, was es heißt, das Leben zu beschützen. Kein Mann kann das wirklich begreifen. – Aber wir werden es ihnen zeigen.“
Von Raissa kam ich mit der festen Überzeugung zurück, daß der Zerfall des staatssozialistischen Weltbildes nicht nur beängstigende Kräfte, sondern auch große menschliche Reichtümer freisetzt.

Russland: Beschleunigung – aber wohin? (Text)

Ein Votum für vorgezogene Neuwahlen des Präsidenten wie auch des Kongresses hatten Optimisten sich von dem Referendum erhofft. Nun ist der Präsident Sieger. Bei einer Beteiligung von 62 Prozent sprachen nach vorläufigen Hochrechnungen 58,8 Prozent Boris Jelzin ihr Vertrauen aus. 52,2 Prozent stimmten für seine Wirtschaftspolitik. Neuwahlen aber wird es nicht geben: Nur 32,8 Prozent stimmten für Neuwahl des Präsidenten, 42,9 Prozent für die des Kongresses. Das reicht für eine Mehrheit nicht aus, selbst wenn auch für diese Fragen die vom Verfassungsgericht noch kurzfristig korrigierte Zählweise gelten würde, nach  dem 50 Prozent der Beteiligten, statt der gesamten 106 Millionen Wahlberechtigten als Zustimmung zu rechnen seien.
Alle Beteiligten interpretieren das Ergebnis zu ihren Gunsten: Boris Jelzin wertet es als Vertrauensbeweis für seine Person, für seine Politik und insbesondere für seine noch am Abend vor dem Referendum vorgebrachte Ankündigung einer Verfassungsänderung, die er – das positive Votum vorausgesetzt – verwirklichen wolle. Sie soll die seit Ende des Jahres `92 faktisch nicht mehr legitimierten Ausnahmerechte des Präsidenten als verfassungsmäßige Präsidialherrschaft, ergänzt durch ein Zweikammerparlament festschreiben. Darin hätte der Präsident das Recht, die Regierung zu ernennen, Erlasse mit Gesetzeskraft herauszugeben, Neuwahlen für das Parlament anzusetzen und wäre zudem oberster Kriegsherr. Der oberste Volkskongress dagegen soll abgeschafft werden, seine Entsprechungen auf Landes- und Ortsebenen ebenso. Für den Fall seines Sieges hat Boris Jelzin zudem die Durchführung nicht näher spezifizierter „harter Maßnahmen“ angekündigt.
Seine Gegenspieler im Kongress erklären, nichts sei entschieden. Sie kündigen die Fortsetzung der Auseinandersetzung an.
Dies alles könnte als Geplänkel beiseite gelassen werden, das üblicherweise nach Volksabstimmungen oder Wahlen veranstaltet wird, wenn es nicht um Russland ginge, wo nichts auf üblichen Wegen läuft, sondern die Übergangssituation das Alltägliche ist.
So ist als Ergebnis des Referendums festzuhalten:
– Für die von Boris Jelzin angekündigte Verfassungsänderung mit der logischen Konsequenz einer Liquidierung des Kongresses und Neuwahl eines Parlaments gibt es weder ein Mandat, noch eine verfassungsmäßige Grundlage. Nach wie vor gilt die alte Verfassung. Unklar ist auch, wie eine verfassungsgebende Versammlung zustande kommt. Boris Jelzins Ankündigungen einer neuen Verfassung können nur gegen den Widerstand des Kongresses durchgesetzt werden.
– Das Wahlergebnis ist zwar ein klarer Sieg, aber keineswegs einheitlich. Es differenziert sich vielmehr nach Stadt und Land, nach reich und arm. In den Zentren wie Moskau, wie St. Petersburg oder auch einigen sibirischen Industrieregionen lag die Wahlbeteiligung mit 64 oder 65 Prozent über dem Durchschnitt. Die Zustimmung zu Boris Jelzin lag in Moskau bei 75,3 Prozent, die zu seiner Wirtschaftspolitik bei 70,1 Prozent. Nur 20,8 Prozent stimmten für die Neuwahl des Präsidenten, aber beachtliche 51,1 Prozent für die Neuwahl des Kongresses. Ähnlich in St. Petersburg und anderen Zentren, sowie reicheren, genauer rohstoffreicheren Provinzen, die sich von der Öffnung zum Weltmarkt Vorteile versprechen können.
Auf dem Lande dagegen und in weniger reichen Provinzen und Republiken, beispielsweise an der mittleren Wolga bei den Utmurten und Mordwinen beispielsweise bekam Boris Jelzin ein Klares Nein zu seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die Tataren waren ohnehin gegen das Referendum: Man sieh die alten Strukturen zerfallen; an den Neuerungen hat man keinen Anteil, fühlt sich stattdessen zusätzlich zu den alten nun auch noch von den neuen Moskauer Monopolen ausgebeutet.
Das Vertrauen für Boris Jelzins ist vor diesem Hintergrund ein Votum der reichen Zentren für eine starke Zentralmacht zur Niederhaltung der sozialen und nationalen Unruhe, keineswegs für Demokratie und föderale Selbstbestimmung.
– Schließlich hat Boris Jelzin zwar das Mandat für seine Politik erneuert, er hat dies aber mit Versprechungen und Zugeständnissen erkauft, die er jetzt so wenig zu erfüllen imstande sein wird wie bisher: So verfügte er noch vor dem Referendum, dass die Ersparnisse, die Minimalrenten und Mindestlöhne künftig nicht mehr inflationsbedingt entwertet würden. Sie sollen vielmehr ständig neu indexiert werden. Den Bergleuten in Kemerewo versprach er eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Den Studenten sagte er eine Erhöhung der Stipendien zu, der Soldaten eine Anhebung ihres materiellen Lage. Er nahm die eben erst verkündete Preiserhöhung für Benzin zurück. Schließlich verfügte er, ganz auf der Linie der Direktoren, eine Begrenzung der Arbeitslosigkeit. Danach sollen bei Bankrotten zukünftig 70 Prozent der Beschäftigten übernommen werden, wenn auf Basis des alten Betriebes neue errichtet werden. Außerdem müssen sich die Betriebe verpflichten, ausstehende Löhne und Sozialleistungen für die Arbeiter zu begleichen, bevor sie Konkurs anmelden.
Es ist offensichtlich, dass Boris Jelzin der Forderung der Gewerkschaften nach „Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen“, insbesondere auch dem Bündnis zwischen Gewerkschaften und der „Bürgerunion“, also den Direktoren, damit das Wasser abgraben will. Er bietet sich stattdessen selbst als Garant eines sozialen Kurses der Reformen an. Ebenso offensichtlich ist aber, dass ein solcher Kurs Geld kostet. Manch einer mag jetzt noch oder kurzfristig wieder glauben, dass Boris Jelzin seine Versprechungen aus den Unterstützungsfonds von IWF und Weltbank begleichen wird. Sehr schnell aber wird deutlich werden, dass die 87 Milliarden Mark, die kürzlich beim Treffen der G7-Staaten als Russlandhilfe vereinbart wurden, ihrerseits noch nicht mehr sind als Versprechungen. Darüber hinaus sind sie an Auflagen gebunden, die von der russischen Regierung verlangen, die Sozialausgaben zu kürzen, nicht aufzustocken und unproduktive Anlagen zu rationalisieren, also Arbeitslosigkeit flächendeckend in Kauf zu nehmen. Nach dem Sieg wird Boris Jelzin nun sehr schnell zum Offenbarungseid kommen.

Das neue Rußland (Text)

Zum Stichwort „neues Rußland“ läßt sich allerhand assoziieren. Viel Positives natürlich: Gorbatschow, Perestroika, Neues Denken, Entspannung, deutsche Vereinigung, neue Weltordnung. Nach Gorbatschow dann: Gescheiterter Putsch, Aufbruch der Reformer, Wiedergeburt der Person, des Glaubens, der Geschichte, Emanzipation der kleinen Völker gegen das überalterte sowjetisch-russische Imperium.
Aber da ist auch die andere Seite: Die permanente Krise, die Inflation, die Mafia, die nie endenden Putschdrohungen, die drohende Jugoslawisierung, die Gefahr eines Weltbürgerkrieges von noch nie gekannten Ausmaßen.
Welcher Seite soll man sich zuwenden?
Wir am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind es gewohnt, in Zerfallszeiten zu denken – erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg; für viele geht nun es mit dem Zerfall der Ordnungsmacht UdSSR, der sich in dem Rußlands fortsetzt, unaufhaltsam dem dritten großen Krieg entgegen. Die lange im Bann der russisch-sowjetischen Herrschaft gehaltenen Konflikte zwischen den Völkern des großen euro-asiatischen Raumes sieht man nun unkontrolliert hervorbrechen: In Kaukasien, in Moldawien, in Tadschikistan und anderen ehemaligen zentalasiatischen Republiken, im Baltikum. Auch an der mittleren Wolga, wo sich im Durchzugsgebiet der großen Wanderungen viele Völker im Lauf der Geschichte miteinander vermischt haben, bevor die Russen das Gebiet kolonisierten, kündigen sich große Veränderungen an. Jugoslawien erscheint vielen nur als schwacher Vorbote der kommenden Entwicklung. So lautet, nachdem die erste Freude über den Zerfall des Angstgegners Sowjetunion vergangen ist, die allgemeine westliche Linie denn auch: Stärkt Moskau. Nur ein starkes Moskau, so scheint es vielen, könne das das drohende Chaos abwenden. Nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen, so war es auf einem der letzten Seminare deutscher Wirtschaftsvertreter zur russischen Frage zu hören, lasse sich die Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft vollziehen. Der chilenische Weg läßt grüßen.
Schwierig ist es dagegen, die andere Seite zu sehen, die Keime des Neuen in der zusammenbrechenden alten Ordnung zu erkennen. Schwierig ist es, weil ein festgelegter Blick nur das als positiv erkennt, was bekannt ist. Gut, so meinen viele, sei es, wenn die ehemalige Sowjetunion nun nach dem Modell der westlichen Demokratien funktioniere. Offensichtlich aber funktioniert sie nicht so. Nicht nur die in siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft gewachsenen Strukturen widersetzen sich ihrer einfachen Umkehrung. Auch die Hinterlassenschaften des in tausend Jahren gewachsenen russischen Imperiums fordern ihre Rechte in der jetzigen Umwandlungsphase. Das Wichtigste: Der Vielvölkerstaat und der tief in den Völkern des russischem Imperiums verwurzelte Kollektivismus, zwei Elemente, die nirgend sonst in der Welt in dieser Form, in dieser Intensität und in dieser Kombination zu finden sind.
Das für den Raum Neue, die Privatisierung des Besitzes und die Dezentralisierung der Herrschaft, tritt im Kampf mit dieser Geschichte an, nachdem jetzt auch für dieses Imperium die Stunde gekommen ist, die für die westlichen Imperien klassischen Zuschnitts schon mit dem ersten und dem zweiten Weltrieg geschlagen hatte. Nicht eins seiner inneren Probleme ist mehr durch weitere Ausdehung lösbar. Der Staatskollektivismus drohte durch Gängelung jeglicher persönlicher Initiative zudem eine Erneuerung der Gesellschaft von unten endgültig zu ersticken.
Aber auch wenn das alte System in den Augen ausnahmslos aller Bewohner und Bewohnerin des Landes reformbedürftig war, auch wenn nicht einmal ein Mensch von denen, die lauthals über die jetzige Krise schimpfen, tatsächlich zurück will vor die Zeit Gorbatschows, so ist doch auch klar, daß sich das Neue nicht gegen, sondern nur auf Grundlage der gewachsenen Gegebenheiten dieses Landes entwickeln kann. Schritt für Schritt müssen alte kollektive und neue selbstbestimmte Strukturen, alter Zentralismus mit neuen föderalen Prinzipien ineinandergreifen, wenn nicht das Alte einfach zerstört werden soll, ohne funktionsfähiges Neues an dessen Stelle zu setzen. So wie die Japaner einen japanischen Weg der Entwicklung, so müssen die Russen einen russischen finden, auf dem die materiellen und die geistigen Bedürfnisse einer zweihundertfünfundzig Millionen umfassenden Bevölkerung mit den Lebenserwartungen von Weltbürgern des 20. Jahrhunderts  befriedigt werden können.
Dies ist zur Zeit die eine große Herausforderung, und zwar nicht nur für die russische Bevölkerung wie die anderen Völker des euro-asiatischen Raumes, sondern auch für ihre westlichen Berater: Die Strategie der Total-Privatisierung führt zur Zerstörung der alten Strukturen, bevor etwas Neues entstehen konnte. Wer sich ein einziges Mal in Fabriken, in Instituten, in Sowchosen und Dörfern auf dem Lande umsieht, der oder die kann die Folgen nicht übersehen: Geschlossene Betriebe, bankrottierende Sowchosen, eine zerfallende soziale und materielle Infrastruktur. Früher waren die Kollektive für Wegebau, für die Sozialversorgung, für die Kultur usw. verantwortlich. Jetzt liegt das in der Kompetenz der „neuen Macht“. Die aber hat kein Geld, er mangeln die Erfahrung und die alten Verbindungen. In der Folge all dessen besteht die Gefahr des vollkommenen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zusammenbruchs mit unabsehbaren Folgen. Es müssen andere Wege gefunden werden als die der bloßen Liquidierung des Alten, Wege, auf denen kollektive und privaten Formen des Wirtschaftens auf lange Sicht miteinander koexistieren, ja im Ineinandergreifen neue Formen des sozialen Lebens sich entwickeln können. Der gegenwärtige Konflikt zwischen Boris Jelzin und dem obersten Kongreß hat wesentlich die Auseinandersetzung um diese Frage zum Inhalt. Dort stehen sich wesentlich Jelzins Administratoren und die gewählten Direktoren der Kollektive gegenüber. Für die Fortsetzung der Reform sind beide Seiten – aber wie, ohne die sozialen Strukturen soweit zu zerreißen, daß die alte Motivationslosigkeit nur durch eine neue ausgetauscht wird? In der Suche nach einem Kompromiß zwischen Staatskollektivismus und Totalprivatisierung liegt die Kraft des Neuen.
Die andere Herausforderung liegt in der Befreiung der neuen Völkervielfalt, deren Grundlage die Besinnung auf den Wert des Einzelnen, der Minderheit, des kleinen Volkes gegenüber Jahrzehnten der sozialistischen Gleichmacherei und davor liegenden Jahrhunderten der Russifizierung ist. Auch in der Entwicklung gleichberechtigter Beziehungen verschiedener Völker liegt die Kraft des Neuen – wenn die alten zentralistischen Mächte, wenn das alte zentralistische Bewußtsein es zuläßt.

In dem Feature „Jenseits von Moskau“ versuche ich, ein Stück dieser Entwicklung greifbar zu machen.

Kai Ehlers, 29.4.93

Rußland vor dem Referendum

Die Krise der ehemaligen Sowjetunion treibt einem neuen Höhepunkt entgegen. Nachdem vor knapp anderthalb Jahren Michail Gorbatschow abtreten mußte, sieht sich nun sein damaliger Herausforderer Boris Jelzin in Bedrängnis. Am 25. April soll ein Referendum darüber entscheiden, ob er Präsident bleiben oder ob er vorzeitig aus dem Amt scheiden muß. Sein Vertreter Alexander Ruzkoi, zur Zeit für die Landwirtschaft verantwortlich, hält sich bereits zur Verfügung. Die nationalistische und neostalinistische Rechte drängt auf Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“.
Ist das Referendum eine Entscheidung zwischen Fortsetzung der Perestroika und ihrem Abbruch, zwischen Demokratie und Rückkehr zur kommunistischen Diktatur, wie man es von Boris Jelzins Parteigängern im Lande selbst, aber auch von westlichen Politikern und aus westlichen Medien hört?

Über die Hintergründe des Referendums berichtet: Kai Ehlers

Erzähler:: Die Situation ist kompliziert: Mit der Zerschlagung             der KPdSU ist die alte Staatsspitze liquidiert, eine neue soll erst entstehen. Der Kongreß der Volksdeputierten, im März 1990 noch als Organ einer Republik der Sowjetunion gewählt, wurde zur höchsten Institution des neuen russischen Staates. Die 1086 Delegierten, zwischen den Sitzungsperioden vertreten durch 252 Abgeordnete des ständigen obersten Sowjets, sind noch nach sowjetischen Wahlrecht gewählt. Sie kommen zu zwei Dritteln aus Betrieben, Institutionen und gesellschaftliche Gruppen. Ein weiteres Drittel wurde über Unterschriftenlisten der damaligen „Bewegung demokratisches Rußland“ gewählt.  In dieser Zusammensetzung repräsentiert der Kongreß die reale soziale Situation das Landes, wie sie vor der Auflösung der Union bestand.
In seiner ersten Sitzungsperiode im Mai 1991 wählte der Kongreß Boris Jelzin zum russischen Präsidenten. Am 16. 6. proklamierte er die Souveränität Rußlands. Als er nach dem 23. August den Präsidenten zum Aufbau einer neuen Verwaltungsstruktur ermächtigte, gab er damit grünes Licht für die Abschaffung seiner eigenen sozialen und politische Basis. Faktisch sind aber nur parallele Strukturen entstanden. Die Verabschiedung der neuen Verfassung, welche die Kompetenzen neu regelt, gewann damit von Tag zu Tag
mehr an Bedeutung.

Erzähler:Drei Projekte für eine neue Verfassung waren Anfang             des Jahres in der Diskussion: Das des Kongresses, das des Präsidenten und ein Kompromißvorschlag. Im November war davon nur noch das des Präsidenten übriggeblieben. Oleg Woronin Geschichtsdozent, Mitglied der neugegründeten reformlinken „Partei der Arbeit“ in Irkutsk erklärte:

take 1: O-Ton Oleg Woronin, Irkutsk:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegen.

Übersetzer:   „Also nur ein Projekt! Aber – um dieses Projekt wird             es einen brutalen Kampf in den höheren Organen der Macht geben. Die Sache ist so…“

Regie: O-Ton abgeblendet weiter laufen lassen.

Erzähler:     Insgesamt, so Woronin weiter, liege das             Projekt auf der Linie, die Sondervollmachten des Präsidenten verfassungsmäßig festzuschreiben, den Volkskongreß dagegen abzuschaffen und durch ein kleines Berufsparlament zu ersetzen. Auch die örtlichen Sowjets wolle man verkleinern und die Gouverneure stattdessen direkt dem Präsidenten unterstellen. Von Diktatur zu reden, sei sicher trotzdem nicht richtig, da dem Verfassungsgericht große Vollmachten zuerkannt würden. Aber das Projekt komme natürlich nicht durch. Abgesehen von allem anderen würde der Kongreß niemals seiner eigenen Abschaffung zustimmen.

take 2: O-Ton Oleg Woronin, Forts.:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer:   „Alle, die ganze Opposition, aber nicht nur die             Opposition, auch die Zentristen, alle würden dagegen stimmen. Das heißt, der Präsident habe nur einen Ausweg: Das Ganze aus dem Kongreß herauszunehmen und in ein Referendum zu verlagern. Aber ich fürchte, daß der Präsident in der gegebenen wirtschaftlichen Lage eine negative Antwort erhält. Das ist der Zusammenbruch. Das ist für ihn das Ende.“

Erzähler:     Pünktlich zum Ablauf der Fristen für die             Sondervollmachten des Präsidenten am Jahresende war es soweit: Das Tauziehen begann. Nach langem Hin und her, in dem sich Kongreß und Präsident wechselseitig beschuldigten, die Demokratie zu verraten, einigte man sich auf ein Referendum am 25. April. Es soll die Voraussetzungen für die weitere Klärung der Verfassungsfragen liefern. Vier Fragen soll die Bevölkerung beantworten:

Zitator:      Frage eins: Vertrauen Sie ihrem Präsidenten?
Frage zwei: Sind Sie mit der von der Regierung seit August 1991 betriebenen Wirtschaftspolitik einverstanden?
Frage drei: Sind Sie für vorgezogene Präsidentenwahlen?
Und Frage vier: Sind Sie für vorgezogene Kongreßwahlen?
Die Fragen gelten als entschieden, wenn mindestens 50 Prozent der 106 Millionen Wahlberechtigten mit „Ja“, bzw. „Nein“ gestimmt haben.

Erzähler:     Was aus der Entfernung wie eine Entscheidung             zwischen Fortsetzung der Reform oder Rückkehr zum alten System, wird von Kritikern im Land, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager zurechnen, ganz anders erlebt.
Boris Kagarlitzky ist ein auch im Westen bekannter Reformlinker. Er neigt eher zu düsteren Analysen. Seine Telefonauskunft zur aktuellen Entwicklung klingt dagegen geradezu zuversichtlich:

take 3: O-Ton Telefongespräch Boris Kagarlitzky:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen.

Übersetzer: „(…)Ehrlich gesagt, ich hoffe sehr, daß es eine             Mehrheit für die sofortige Neuwahl von Parlament und Präsident gibt, also für die gleichzeitige Wahl des einen und der anderen.“

Erzähler:Rund um diese Position habe sich eine große             Koalition aller politischen Kräfte einschließlich der Gewerkschaften gebildet, berichtet Kagarlitzky. Nur die Jelzinisten, die nationalistische und neo-stalinistische Rechte sowie die Deputierten seien dagegen, die einen gegen Neuwahl des Prässidenten, die anderen gegen Neuwahl des Kongresses.
Auf Deutsch fährt er fort.

take4: O-Ton Kagarlitzky, Forts.:

Regie: O-Ton bis zum Ende laufen lassen.

„Meiner Meinung nach ist das eine Möglichkeit, diese politische Krise, diese Sackgasse zu ändern. Heute ist die Macht meiner Ansicht nach volksfeindlich, menschenfeindlich, aber die Opposition ist nicht viel besser. Und weder die Macht noch die Opposition sind wirklich von den Menschen unterstützt. Daher kommt die einzigartige Möglichkeit, diese Situation zu ändern. Daher ist das meiner Meinung nach sehr positiv, was kommt.“

Erzähler:    Das Referendum, so Kagarlitzky, sei die             unvermeidliche Konsequenz aus der gescheiterten Politik Boris Jelzins:

Take 5: O-Ton Kagarlitzky, Forts.:

Regie: O-Ton stehen bis zum Ende lassen

„Jelzin hat seine soziale Basis verloren, seine soziale Unterstützung. Das war ja ein großer Block für diese Marktreformen und dann haben die Marktreformen die sozialen Schichten differenziert und so die soziale Basis desintegriert. Und auch einige, sozusagen bürgerliche Schichten oder quasi-bürgerliche Schichten sind oppositionell geworden, oder auch Technokraten sind oppositionell geworden, weil bei den neo-liberalen Reformen geschieht nichts, technisch passsiert nichts. (…) Daher sind viele soziale Gruppen und Schichten, die `91 oder `90 für Jelzin waren, jetzt oppositionell geworden.“

Erzähler: Andere teilen Kagarlitzkys Hoffnungen in die große             Koalition nicht. So Vadim Damier, ein junger Historiker, aktiver Grüner, Basispolitiker, Anarchist, den ich in seiner Moskauer Wohnung erreiche. Er setzt seine Hoffnung auf Boykott. In der Antwort, worum es gehe, wird er dagegen sogar noch etwas deutlicher:

take 6: O-Ton Vadim Damier, Moskau:

Regie: O-Ton bis zuende  abfahren.

„Um die Macht, erstens. Zweitens wahrscheinlich um die Neuverteilung des Eigentums, obwohl man darüber nicht offen spricht. Das heißt, es ist ganz klar, daß zwei verschiedene Konzepte der Privatisierung existieren und zwar seitens der Regierung einerseits und der Direktoren andererseits.“

Erzähler      Auf der Seite der Regierung stehe vor allem             Vermittler- und Mafia-Kapital, also unproduktive Gelder, während die Direktoren das produktive Industriekapital repräsentierten. Die Direktoren fürchteten, daß der internationale Währungsfond von Jelzin jetzt weitere Subventionskürzung fordere. Das würde für die Direktoren praktisch den Verlust der Betriebe bedeuten. Bei der Privatisierung zeige sich der Gegensatz ebenso: Die regierenden Kräfte seien für das Modell der Volks-Aktien. Praktisch stärke auch das die Mafia, weil ein Großteil der Aktien in ihre Hände gerate. Die Direktoren forderten dagegen die Übergabe des Kontrollpakets in die Hände des Betriebskollektivs, der Belegschaft. Praktisch heiße das allerdings, daß die Aktienmehrheit unter die Kontrolle der Direktoren komme, weil die Aktien innerhalb der Belegschaft ungerecht verteilt würden.

Erzähler      Ist dieser Konflikt zwischen Regierung und             Direktoren gleichbedeutend mit der vielbeschworenen Alternative zwischen Demokraten und Kommunisten?
„Lüge!“ wettert Boris Kagarlitzky. Mit 200.000 Mitgliedern sei die wiedergegründete KPdSU sehr schwach. Nicht sie, sondern seine eigenen ehemaligen Bündnisgenossen müsse Jelzin heute fürchten: seinen Vizepräsidenten Ruzkoi, seine ehmalige rechte Hand Chasbulatow, den Kongreß selber, der ihn erst zum Präsidenten erhoben und ihm dann Sondervollmacht nach Sondervollmacht eingeräumt habe.
Vadim Damiers fügt hinzu:

take7: O-Ton Vadim Damier, Forts.:
Regie: O-Ton bis zuende auslaufen lassen.

„Nein, Quatsch, Quatsch, es ist Quatsch. Eigentlich sind die Kommunisten überall, in allen Gruppen. Sie sind im nationalistischen Lager, in den Zentristen und überall, nicht offen natürlich, auch im Jelzin-Kommando – Jelzin selbst, ja?! Wer ist er?“

Erzähler:     Viktor Komarow ist noch spät abends im Büro der             oppositionellen Gewerkschaftszeitung „Solidarnost“ zu erreichen. Er beklagt eine bewußte Verzerrung der Ereignisse:

take 8:O-Ton Viktor Komarow:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, dem Übersetzer unterlegen.

Übersetzer:   „Ich glaube, daß diese Polarisierung künstlich             gemacht ist. Die konstruktiven Vorschläge kommen alle von der zentristischen Opposition, verstärkt durch die Linke. Die Extreme könnten dabei sogar wegbrechen.“ (…) Die Sache ist nur die, daß davon zur Zeit sehr wenig bekannt ist. (…)“

Erzähler:     In der Öffentlichkeit, so Viktor weiter, werde davon             leider wenig bekannt. Von den Massenmedien würden nur die Extreme geschürt, sodaß es so aussehe, also ob sich nur Jelzinisten und Neo-Stalinisten gegenüberstünden.
„Reformen mit dem Gesicht zum Menschen“, fordert Gewerkschafter Komarow. Das sei die Alternative des zentristischen Blocks. Boris Kagarlitzky wird deutlicher:

take 9: O-Ton Boris Kagarlitzky, Forts.:

Regie: O-Ton auslaufen lassen

„Mehr Staatseigentum, mehr Keyneseanismus, mehr Vergesellschaftung und Regulation, aber natürlich die legislative Garantie für Privateigentum, vielleicht, ich habe das nicht gern, aber einige legislative Garantien für ausländische Unternehmer, aber mit dem Staat als wichtigstem okonomischem Agenten, der mehr re-etablieren kann und den Staatssektor der Wirtschaft reorganisiert usw. “

Erzähler:     Das klingt nach Rückkehr zum Staatsdirigismus. Aber             tatsächlich geht es nicht um die Alternative: Abbruch oder Fortsetzung der Reformen. Zurück will niemand, außer den extremen Rechten: Ihr orthodox kommunistischer Teil bis zu Stalin, ihr patriotischer bis zum Zarismus. Der Mehrheit dagegen geht es nicht um die Liquidierung, sondern um die Steuerung der Reformen, vor allem auch ihrer sozialen Auswirkungen. Einen endgültigen Zusammenbruch mit unabsehbaren politischen Folgen wollen sie abwenden.
Diese Einsicht ist tatsächlich neu. Der Aufstieg Boris Jelzins war noch mit anderen Vorstellungen verbunden.

take 10: O-Ton Demo, August ’91:

Regie Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden und unterlegt weiter laufen lassen. Mit Text beenden.

ErzählerMoskau, Juni 1991. Unterstützung für den             Herausforderer Boris Jelzin. Rücktritt, Rücktritt, Rücktritt, rufen die Menschen. Michail Gorbatschow und sein Wirtschaftsminister Ryschkow sollen gehen. Mit einem 500-Tage-Programm will Jelzin die martwirtschaftliche Öffnung das Landes verwirklichen und die Krise beenden.
Einen Monat später ist Michail Gorbatschow abgesetzt. Die Kommunistische Partei ist zerschlagen, die Sowjetunion aufgelöst, die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“, G.U.S., an ihre Stelle getreten. Boris Jelzin ist Präsident der russischen Föderation. Der Oberste Sowjet gibt ihm Sondervollmachten bis Ende Dezember 1992. Bis dahin sollen die wichtigsten Schritte des 500-Tage-Programms durchgeführt und eine neue Verfassung verabschiedet, mindestens aber vorgelegt sein, die den gesetzlosen Zustand nach der Auflösung der Sowjetunion beendet. Noch im November erfolgt die erste Freigabe der Preise. Im Mai eröffnet die von Jelzin eingesetzte Regierung Jegor Gaidars die offizielle Kampagne zur Privatisierung. Ein System von Administratoren, die unmittelbar dem Präsidenten verantwortlich sind, soll vorläufig für deren Durchsetzung sorgen.
Aber schon im Frühjahr 1991 warnen selbst ausgemachte Befürworter marktwirtschaftlicher Reformen vor der Gefahr eines wilden Kapitalismus als Ergebnis überhasteter und schlecht durchgeführter Maßnahmen der neuen Regierung. So Oxana Dimitriewa, Doktorin der Ökonomie am Finanzwissenschaftlichen Institut in St. Petersburg. 1989 wurde sie ausgezeichnet für ein Projekt zur marktwirtschaftlichen Entwicklung der Stadt, damals noch Leningrad. Später war sie als selbstständige Unternehmensberaterin tagtäglich mit Problemen der Privatisierung befaßt.

take 11: O-TonOxana Dimitriewa:
Regie: T-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegt weiterlaufen lassen.

Übersetzerin: „Nun, die Regierung überlebt, natürlich. Aber es             ist eine selbstmörderische Politik für das Land. Tatsächlich vernichteten sie die Mittelklasse. Über Nacht vernichteten sie sie und trieben das Volk unter die Armutsgrenze. Jetzt sehen sie, daß die `Lumpen‘ gegen sie aufstehen, also einfach die Menschen, die nicht qualifiziert sind, solche die kommunistische Überzeugungen haben usw. So versuchen sie das Land davon zu überzeugen, daß die einzige Opposition gegen sie die Leute seien, die Porträts von Stalin und Breschnew tragen.  (…)
Aber wer sind denn die „Lumpen“, wer sind die Leute unter der Armutsgrenze? Professoren! Sie leben weit unter der Armutsgrenze, weit drunter. Ärzte, Lehrer, Ingenieure, die ganzen hochqualifizierten Leute, Leute aus dem Bereich des technischen Fortschritts. Sie alle liegen unter der Armutsgrenze. Außerdem alle Produzenten, tatsächlich alle wichtigen Unternehmen. Die Regierung tut so, als handele es sich nur um die Direktoren. Aber ich denke, das stimmt nicht, denn inzwischen fällt das Interesse von Direktoren und Beschäftigten der Betriebe zusammen.“

Erzähler: Das Privatisierungsgesetz werde nicht             funktionieren, prognostizierte Frau Dimitriewa schon damals. Eine neue Konfliktlinie zwischen Regierung und Bevölkerung zeichne sich stattdessen ab:

take12: O-TonOxana Dimitriewa, Forts.:

Tegie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzerin „Das hat schon begonnen. Gestern oder vorgestern             konnte man es im Fernsehen sehen. Da wurde ein Treffen mit dem Vorsitzenden der baltischen Schiffahrtsgesellschaft gezeigt, die eine sehr mächtige Gesellschaft im Lande ist. Sie hatten Valuta. Sie hatten sehr hohe Löhne. Sie stellten den Präsidenten der Agrogrombank. Das waren also einfach die Mitglieder der alten ökonomischen Elite. Sie erklärten, daß sie sich an die Regierung mit einer Art Ultimatum gewendet hätten. Die Leute werden auf ihrer Seite stehen. Früher haben sie die Demokraten gewählt, weil sie neue Leute in der Regierung sehen wollten. Aber inzwischen haben sie begriffen, daß ihre Interessen nicht von diesen neuen Leuten vertreten werden, die nichts waren, aber die neu gewonnene Macht nun benutzen, um sich selbst zu bereichern, statt etwas für das Land zu tun. Vertreten werden sie von ihren Direktoren, die ihre eigene Arbeit wirklich repräsentieren.“

take13: O-TonDemonstration, 11.November 1992:

Regie: O-Ton einen Moment frei stehen lassen, dann abblenden und unterlegen.

Erzähler: Moskau, ein Jahr danach, im November 1992: Die             Opposition hat sich formiert. Gut 50.000 Menschen, kommunistische und patriotische Gruppen, ziehen trotz heftiger Gegenpropaganda zum Jahrestag der Revolution am 11. November mit der Parole „Halt stand großes Rußland“ in die Innenstadt. „Jelzin ist ein Verbrecher“ rufen sie. Kritiken wie „Mafianisierung“, „Korruption“, „nomenklaturische Privatisierung“ sind zu Schlagworten der Rechten geworden. „Schluß mit dem Ausverkauf“, „Schluß mit der Entwürdigung des russischen Volkes“, „Für eine Regierung der nationalen Stabilität“ lauten die Forderungen.

Die Rechten stehen nicht allein. Nur einen Monat zuvor hatte die „Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Rußlands“ landesweit erstmals zum Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung aufgerufen.

Zitator:“Verehrte Mitbürger!
Sie sehen, wie das Lebensniveau mit jedem Tag fällt, rasant steigen die Preise, die Produktion steht still. Im großen Maßstab wächst die Korruption und die Willkür, blüht das Verbrechen.
Die Zeit ist gekommen, sich zu wehren. Gegen Elend, Arbeitslosigkeit und ein zerstörtes Leben können Sie sich und Ihre Familien nur durch ihren eigenen aktiven Einsatz verteidigen.
Wenn Ihnen das Schicksal Rußlands nicht gleichgültig ist, wenn Sie Ihre Familie wertschätzen, wenn Sie die Hoffnung nicht verloren haben, ein Leben nach menschlichen Normen zu führen, dann bekunden Sie Ihre Solidarität mit den Arbeitenden. Kommen Sie zum Meeting am 24. Oktober um dort `Nein‘ zu sagen gegen das weitere Absinken in Armut, um von den Machthabern zu fordern, die Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen zu wenden.“
Erzähler:    Beim wöchentlichen Koordinationstreffen der             Gewerkschaftsvorsitzenden der St. Petersburger Großbetriebe erklärt einer aus der Runde:
take 14: O-TonGewerkschafts-Versammlung:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen, mit Text enden lassen.

Übersetzer:   „Das Wichtigste ist, daß die, – nun, sagen wir –             brutale Gängelung immer noch besteht: Der bürokratische Apparat, der mit dem alten Regime zusammenarbeitet. Es gibt ja keinen Markt! Das ist diese Einseitigkeit. Perestroika hat den Staat noch monopolistischer werden lassen. Die Monopole wurden noch schlimmer, noch mafiotischer, kann man sagen.“

take 15: O-Ton Gewerkschaft, Forts. Frauenstimme:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen

Übersetzerin: „Das Alte gibt es schon nicht mehr, das neue noch             nicht.“

Erzähler:Dies, fügen andere Kollegen hinzu, gelte nicht nur             für die Produktion, sondern auch für die soziale Infrastruktur, die bisher von den Betriebskollektiven getragen worden sei: Kindergärten, Ferienheime, Datschensiedlungen, Wohnungsbau, Rentenfonds, Kulturhaus. Nichts aus dem sozialen Bereich, was nicht vom Betriebskollektiv getragen worden sei. Dies alles zerfalle jetzt.

Jenseits der großen Zentren konnte man schon im Sommer 1992 von Jelzins eigener Mannschaft hören, was das vor Ort bedeutet:
Wladimir Bachom, ehemaliger Kolchosdirektor, ist heute Administrator des Bezirks Bolotnoje, ein junger, dynamischer Mann. Sechzehn Sowchosen, das sind ca. fünzig Dörfer, sowie das Bezirkszentrum mit ca. 20.000 Menschen, zusammen vielleicht 30.000 Menschen, stehen unter seiner Verwaltung. Selbstverständlich führe er die Anweisungen zur Privatisierung aus Moskau durch, erklärt er, aber es gebe große Schwierigkeiten .

take 16: O-Ton Wladmir Bachom, Bezirkadmistrator:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer:   „Die erste Schwierigkeit besteht darin, daß der             Staat, nennen wir es so, also wir als Vertreter der staatlichen Macht, die Privatbauern nicht mit dem Nötigen versorgen können, das heißt mit technischer Ausrüstung, mit sozialer Infrastruktur. Es gibt keine Wege, keine Wasserversorgung, keine Weiterverarbeitung, keine Möglichkeit, die Waren auf den Weg zu bringen. Das sind so die Schwierigkeiten mit den Bauern.
Allgemein gibt es noch den rein psychologischen Faktor, auch eine großes Problem: Nicht Alle in den Sowchosen und Kolchosen haben eine normale Beziehung zu privaten Bauern. Die Hälfte unserer inzwischen zweihundert Bauern arbeitet gut. Die andere Hälfte, muß man allerdings sagen, die hat Kredit genommen, sich etwas angeschafft. Ansonsten haben sie keine Ahnung, produzieren nichts. Das gibt natürlich Probleme. “

Erzähler:   Zu offenen Konflikten, bei denen jemand             geschadet worden sei, sei es noch nicht gekommen. Aber Bachom ist gegen jede weitere Forcierung der Privatisierung:

take 17: O-Ton Admistrator, Bolotnoje, Forts.:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abbblenden, dann unterlegen.

Übersetzer:  „Ich bin dagegen, daß heute Sowchosen und Kolchosen             liquidiert werden. – Ich spreche für verschiedene Formen des Eigentums, aber angesichts des Zustands, in dem sich bei uns heute die private Bauernwirtschaft befindet (…) muß natürlich jeder die Kolchosen und Sowchosen kräftigen und unterstützen.
Und was die soziale Infrastruktur angeht, haben Sie vollkommen recht: Das muß der Staat natürlich auf die Schultern nehmen. Das gilt allgemein. Der Bezirk mit seinem Budjet, also wir, sollten ja Mittel erhalten, Steuern usw. usw., Budgetgelder, Sie verstehen. Aber heute sind die privaten Bauern für die Zeit von fünf Jahren alle von den Steuern befreit. Das heißt, von daher kommt keine Unterstützung. Und wir vom Bezirk können nichts geben. Nötig wären Gelder aus dem staatlichen Budget. Subventionen. – Nun, bei uns geht das noch: Wir haben die Kindergärten jetzt in unsere Obhut genommen, auch die Schulen haben wir praktisch alle übernommen. Aber allgemein kann man heute die Tendenz feststellen: In den Bezirken gibt es kein Geld. In den Kolchosen und Sowchosen hat man aufgehört, Geld in diesen Bereich zu stecken. Das bedeutet: Das Leben der Bevölkerung erstarrt.“

Erzähler:Alexander Petrow ist im August 1991 Verwalter in             einem Dorf an der mittleren Wolga geworden. Er übernahm die Verantwortung für die Aufteilung von 363 Hektar der örtlichen Sowchose. Heute zweifelt er an seinen früheren Überzeugungen.

take 18: O-Ton Alexander Petrow:
Regie: O-Ton sehr kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt laufen lassen.

Übersetzer:   „In unserer Geschichte war es häufig so: Das eine             zerstört man, aber Neues baut man nicht auf. Ich denke heute auch so: Wofür muß man dieses mächtige Sowchosen-System zerstören? (…) Jetzt geht alles sehr schlecht. Kolchosen und Sowchosen schlachten bereits ihr Vieh. Warum? Weil es keinen Nutzen bringt, Fleisch und Milch zu produzieren. Ich lebe selbst auf dem Dorf. Ich verstehe heute einfach die Politik dieser Reform nicht mehr, ehrlich gesagt.“

Erzähler:     Vincenti Tengerekow ist stellvertretender             Vorsitzender des „Agroprom“, auf deutsch des „landwirtschaftlich-industriellen Verwaltungskomplexes“ der Republik Altai. Bei ihm wird erkennbar, wie verschlungen die Widerspruchslinien im Lande verlaufen. Er zeigte mir verschiedene Orte, wo die „Agroprom“ weisungsgemäß die Privatisierung eingeleitet hat. Auf der Rückfahrt zog er Bilanz:

take 19: O-Ton Tengerekow Vincenti, Altai:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegt laufen lassen. Mit Text beenden.

Übersetzer:   „Wir haben schon viele Reformen erlebt. Das ging             immer auf Kosten der Bevölkerung, immer auf die Knochen der Bauern. Das gilt auch für die Reform, die Ruzkoi jetzt durchführt. Die Bauern sind ohne Schutz.“

Erzähler:      Der Bauer, so fährt er fort, könne nicht streiken             wie beispielsweise die Minenarbeiter. Aber die Preise für Industrieprodukte, für Autos, für Maschinen, für Mähdrescher und anderes sei gestiegen. Daraus ergebe sich ein gestörtes Gleichgewicht. Ruzkoi müsse die Landwirtschaft subventionieren. Überall auf der Welt werde sie subventioniert. Jelzin habe erklärt, das solle lokal geschehen, aber lokal geschehe nichts. Wenn aber keine Unterstützung komme, könne der Bauer nichts kaufen: Keine Land-Maschinen, kein Inventar, keine Düngemittel. Ohne das sei keine landwirtschaftliche Produktion möglich.

take20: O-Ton Vincenti, Forts.:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegen. Mit Text beenden.

Übersetzer:   „Die Kolchosen und Sowchosen waren so ein             Schutz. Die Leiter haben sich miteinander getroffen, sie kannten sich, sie konnten als eine Front auftreten. Die kleinen Unternehmen, die jetzt entstanden sind, kommen nicht zusammen. Sie kennen sich nicht. Sie können nicht in einer Front auftreten.“

Erzähler:     Aber Vincentis Hoffnung liegt nicht in der Rückkehr             zu alten Führunsmethoden. Vizepräsident Ruzkoi ist für ihn nichts weiter als ein Soldat, der die Landwirtschaft mit den ihm vertrauten Methoden kommandieren wolle, statt sie zu entwickeln.

take21: O-Ton Vincenti, Forts.:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegen. Mit Text beenden.

Übersetzer:    „Die landwirtschafts-Gewerkschaft nützt auch nur             ihren Führern und klüngelt mit der Macht zusammen. Was die Vertreter des obersten Sowjet oder der Regierung sagen, das ist für sie Gesetz. Nötig wäre eine unabhängige Gewerkschaft.“

Erzähler:     Und nicht nur das: Gebraucht werde eine echte             Demonopolisierung, fährt er fort, in der die Arbeit vor Ort und nicht in Moskau organisiert werde. Die Ausrufung des Altai zu einer souveränen Republik im Juni 1991 ist für Vincenti Tengerekow ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Mit dem Referendum sollen alle diese Widersprüche jetzt neu gebündelt werden. Die positivste Variante dessen, was geschehen könnte, übermittelte Oleg
Woronin, ebenfalls aktuell per Telefon, aus Irkutsk:

take 22: O-Ton Oleg Woronin, Telefon:

Regie: O-Ton kurz stehenlassen, dann abblenden, unterlegen.

Übersetzer:“Die Reformen gehen nicht vom Fleck. Einzig in der             Privatisierung passiert überhaupt noch etwas. Deshalb scheint es mir jetzt einfach notwendig, daß sie schneller vorangebracht werden. Das kann aber nur eine normale Macht und nicht das, was uns da aus der Vergangenheit zurückgeblieben ist.“

Erzähler: Ob die Bevölkerung diesen Auftrag, eine „normale             Macht“ zu bilden, am kommenden Sonntag formuliert, bleibt abzuwarten. Was dann geschieht, ist offen. Denn was unter den Bedingungen der russischen Krise unter einer „normalen Macht“ zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

Referendums-Arithmetik von links (Text)

Eine komplizierte Situation ist entstanden: Nach dem gescheiterten Putsch vom August `91 zerfiel nicht nur die UdSSR, mit der Zerschlagung der KPdSU wurde auch die alte Staatsspitze liquidiert. Ein nach sowjetischem Recht gewählter Kongress einer früheren Teilrepublik der Union avancierte unvermutet zum höchsten Staatsorgan des neuen russischen Staates. Er ist zu Zweidrittel aus Betriebs- und Institutsvertretern und einem Drittel aus Kandidaten der damals oppositionellen Bewegung demokratisches Russland zusammengesetzt. Damit repräsentierte er die reale Sozialstruktur des Landes. Heute will er einen Präsidenten wieder unter Kontrolle nehmen, den er selbst erst zum Präsidenten der Republik und nach dem August `91 durch Sondervollmachten zum Alleinherrscher machte, damit er sein „500-Tage-Programm“ von oben ohne Behinderung durchsetzen könne. Faktisch entstand dabei aber nur eine Doppelstruktur, bei der dem Präsidenten die soziale Basis und der sozialen Basis die politische Macht fehlt. Der Ausgleich soll unter der Kontrolle eines Verfassungsgerichtes geschehen, dessen Kompetenzen ebenfalls noch aus der sowjetischen Zeit stammen und das auf der Grundlage der alten Verfassung arbeitet. Es ist klar, dass das Land unter solchen Bedingungen zunehmend in Clanstrukturen, Patronage und offen korrupte Seilschaften zerfallen muss.
Mit dem Referendum am 25.4. soll nun der Versuch gemacht werden, der Staatsmacht eine neue Legitimation zu verschaffen. Vier Fragen soll die Bevölkerung nach anderthalb Jahren Jelzin-Herrschaft beantworten: Vertrauen Sie dem Präsidenten? Billigen Sie seine Wirtschaftspolitik? Sind sie für vorgezogene Neuwahlen des Präsidenten? Sind Sie für vorgezogene Neuwahlen des Kongresses?
Noch wenige Tage vor dem Stichtag nimmt das Taktieren, das schon die letzten Monate bestimmt hat, kein Ende: Boris Jelzin will per Dekret den Abstimmungsmodus ändern. Die Gegenseite erklärt seine Absicht als verfassungsfeindlich. Die einen erklären ein Misstrauen gegen den Präsidenten, die anderen das gegen den Kongress als Katastrophe und wollen das Referendum als Abstimmung über Fortsetzung oder Abbruch des Reformkurses erscheinen lassen. Folgerichtig fordern beide ihre Anhänger und Anhängerinnen auf, gegen vorgezogene Neuwahlen zu votieren – die Jelzinisten gegen die des Präsidenten, die Deputierten gegen die des Kongresses.
Neulinke Kritiker, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager zurechnen, geben ein vollkommen anderes Bild von der Lage: „Zwei nein, zwei Ja“ erwartet Boris Kagarlitzki, ein auch im Westen bekannter Analytiker. Er ist heute einer der Köpfe der reformlinken und gewerkschaftsorientierten „Partei der Arbeit“, die seit Sommer `92 einen Kurs zwischen Regierung und Alt-Kommunisten zu finden versucht und sich dabei zunehmend den Kräften des „Zentrums“ angenähert hat. Seine Prognose: „Es wird so sein, dass die Leute nicht zur Abstimmung gehen, die Mehrheit. Kann sein, dass die Hälfte zur Stimmabgabe geht. Ehrlich gesagt, ich hoffe sehr, dass die Mehrheit für die sofortige Neuwahl von Parlament und Präsident abstimmt, also die gleichzeitige Wahl des einen und der anderen.“
Jelzin und der Kongress, so Kagarlitzki weiter, seien heute gleichermaßen unpopulär. „Meiner Meinung nach ist die Macht menschenfeindlich, aber die Opposition ist nicht viel besser. Und weder die Macht noch die Opposition werden wirklich von den Menschen unterstützt; daher die einzigartige Möglichkeit, diese Situation zu ändern. Deshalb ist das sehr positiv, was da kommt.“
Eine große Koalition aus „Bürgerunion“ und linken Gruppierungen habe sich gebildet, berichtet er, einschließlich der „Partei der Arbeit“ bis hin zu „Sozialistischen Partei der Werktätigen“. Auch die Gewerkschaften gehörten dazu. Die „Kommunistische Partei Russland“ sei isoliert. Ihre Positionen in dieser Frage seien aber dieselben wie die der Koalition.
Keineswegs, so Kargarlitzki, gehe es um die Alternative: Fortsetzung oder Abbruch des Reformkurses. Vielmehr gehe es um Korrekturen, die die Fortsetzung der Reformen ermöglichten: Boris Jelzin habe seine soziale Basis verloren, seine soziale Unterstützung. „Es gab ja einen großen Block für die Marktreformen. Dann haben sie die sozialen Schichten differenziert und so die soziale Basis desintegriert. Und auch einige, sozusagen bürgerliche Schichten oder quasi-bürgerliche Schichten sind oppositionell geworden, ebenso Technokraten. Bei den neo-liberalen Reformen geschieht ja nichts, praktisch kommt nichts voran. Daher sind viele soziale Gruppen und Schichten, die `91 oder `90 für Jelzin waren, jetzt gegen ihn.“ Nicht die Kommunisten seien Boris Jelzins Problem. Sie hätten zu ihrer Neugründung ganze 200.000 Leute mobilisieren können. Nein, die Ex-Jelzinisten seien es gerade, wie Alexander Ruzkoi, wie Ruslan Chasbulatow, die zu einer sehr aggressiven und sehr starken Opposition herangewachsen seien.
Andere Teile der Linken sind mit der zentristischen Orientierung der „Partei der Arbeit“ nicht einverstanden. So Vadim Damier, Historiker, Grüner Aktivist, Anarchist. Er setzt seine Hoffnung auf einen Boykott des Referendums. In der Beurteilung, worum es bei dem Referendum gehe, ist man sich jedoch vollkommen einig: „Natürlich erstens um die Macht. Zweitens wohl um die Neuverteilung des Eigentums, obwohl man darüber nicht offen spricht. Das heißt, es ist ganz klar, dass zwei verschiedene Konzepte der Privatisierung existieren und zwar seitens der Regierung und der Direktoren. Das ist zum einen vor allem Vermittler- und Mafia-Kapital, während die Direktoren andererseits die Rolle des industriellen Kapitals spielen. Wichtig ist außerdem, dass der internationale Währungsfond Subventionskürzung fordert. Für die Direktoren heißt das praktisch Verlust der Betriebe, also der kontrollierten Zonen.“
Die regierenden Kräfte, so Vadim weiter, seien vor allem für das Aktionierungs-Modell nach dem tschechischen Muster. „Das heißt“, erklärt er, „dass ein Großteil praktisch in die Hände der Mafia gerät. Für die Direktoren geht es theoretisch um die Übergabe des Kontrollpakets in die Hände des Kollektivs, der Belegschaft; praktisch heißt das natürlich unter die Kontrolle der Direktoren, weil die Aktien innerhalb der Belegschaft ganz ungerecht verteilt werden.“
Auch Vadim kann in dem Referendum keine Alternative zwischen Kommunisten und Demokraten sehen: „Nein, Quatsch, Quatsch, das ist Quatsch. Eigentlich sind die Kommunisten überall, in allen Gruppen. Sie sind im nationalistischen Lager, bei den Zentristen und überall, nicht offen natürlich, auch im Jelzin-Kommando – Jelzin selbst, ja?! Wer ist er?“ Klar unterstütze die nationalistisch-kommunistische Koalition gegenwärtig den zentristischen Block gegen Jelzin, aber die Interessen seien nicht dieselben.
Die Polarisierung sei künstlich gemacht, um davon abzulenken, dass die konstruktiven Vorschläge zurzeit alle aus der „zentristischen Opposition“ kämen, erklärt Viktor Komarow, Sekretär der gewerkschaftsoppositionellen Zeitung „Solidarnost“ in St. Petersburg. „Dabei“, so Viktor, „ist das linke Zentrum wohl noch der konstruktivere Teil.“ Die Extreme dagegen, die Radikalliberalen, also die Jelzinisten auf der einen und die national-bolschwistischen Kräfte auf der anderen Seite, könnten dabei weg brechen. In der breiten Öffentlichkeit sei das alles leider wenig bekannt.
Worin besteht die Alternative des Blocks? Die Reformen müssten menschlicher werden, fordert der Gewerkschafter Viktor. Darin sei man sich mit dem Zentrum einig. Das stimmt im Übrigen mit den Forderungen der „Föderation unabhängiger Gewerkschaften“ überein, die unter der Parole „Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen“ im Oktober ’92 erstmals föderationsweit zum Widerstand gegen die Regierungspolitik aufgerufen hatte. Vor allem müsse man die staatlichen Vermögen und Unternehmen stärken. „Dass heißt, „so Viktor, „die Privatisierungspolitik ändern. Sie muss zugunsten der arbeitenden Kollektive stattfinden, für die, die im Unternehmen arbeiten.“
Boris Kakarlitzki wird deutlicher. Wirtschaftliche Alternative heißt für ihn in der gegebenen Situation: „Staatseigentum, mehr Keyneseanismus, mehr Vergesellschaftung und Regulation, aber natürlich die legislative Garantie für Privateigentum, vielleicht, ich habe das nicht gern, auch einige legislative Garantien für ausländische Unternehmer. Der Staat aber muss der wichtigste ökonomische Agent sein, der mehr wiederaufbauen kann, der den Staatssektor der Wirtschaft reorganisiert usw.“
Das klingt wie ein Rückgriff auf kommandosozialistische Vorstellungen und die Gefahr besteht durchaus, dass der Zug auf dieses Abgleis kommt. Die Absichten zielen auf Anderes. Worauf, das kann man von Oleg Woronin hören. Woronin ist Dozent der Geschichte in an der Universität in Irkutsk und ebenfalls Mitglied der „Partei der Arbeit“. Wie Kagarlitzki hofft er auf eine Entscheidung zur Neuwahl. „Die Reformen kommen nicht vom Fleck. Nur in Sachen Privatisierung geschieht noch etwas. Deshalb denke ich, dass es jetzt einfach unumgänglich ist, die Reformen schneller zu betreiben. Das aber kann nur eine normale Macht bewerkstelligen und nicht eine solche, wie sie uns aus der Vergangenheit übriggeblieben ist.“
Bleibt zu wünschen, dass die Bevölkerung diesen Auftrag, eine „normale Macht“ zu bilden, am 25. formuliert. Was dann geschieht, ist offen. Keiner der Befragten macht sich darüber Illusionen. Denn was unter den Bedingungen der russischen Krise unter einer „normalen Macht“ zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

„Bill&Boris“ – die große Show von Vancouver (Text)

Positive Zeichen werden in der Politik zurzeit kaum gesetzt. Die alte Weltordnung zerfällt. Eine neue ist nicht erkennbar. Da kann mensch froh sein, wenn die Präsidenten der beiden wichtigsten Krisenmächte sich zu einer Reformgemeinschaft zusammenschließen, die das Überleben der Menschheit garantieren soll. In einem Punkt ist Bill Clinton hundertprozentig zuzustimmen: Wenn Russlands Reformprozess steckenbleibt, dann wird das katastrophale Folgen nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt haben.
2,5 Milliarden Dollar will der US-Präsident seinem russischen Kollegen zukommen lassen. Die übrigen westlichen Industrieländer schließen sich an: Die Kanadier ebenso wie die Engländer kündigten eine Erhöhung ihrer Subventionen an. Auf der nächsten G-7-Tagung will man weiter für die Unterstützung Boris Jelzins werben.
Kaum jemand stört es, dass die Milliarden genau ein Jahr zuvor schon einmal als Teil des internationalen 24-Milliarden-Programms eingesetzt – aber nicht gezahlt wurden. Russland habe die damit verbundenen Konditionen nicht erfüllt, heißt es. Was sind das für Konditionen?
Darüber erfährt die westliche Öffentlichkeit kaum etwas. Im Land sind ihre Konsequenzen umso härter spürbar. Es geht um die Vorschläge des IWF für Maßnahmen der Strukturanpassung, besser bekannt als „Schocktherapie“. Michail Gorbatschow war dazu nicht bereit. Er musste gehen. Boris Jelzin machte sich die IWF-Richtlinien als seine politische Leitlinie zu Eigen: Preisfreigabe, Total-Privatisierung, Abbau von industriellen Überkapazitäten, Reduzierung des Wissenschafts- und Ausbildungssektors, Inkaufnahme von Massenarbeitslosigkeit usw. usw. Eingliederung in den Weltmarkt, heißt diese Politik in der Sprache des IWF. Ihr erklärtes Ziel ist die Verwandlung der ehemaligen Sowjetunion in einen Rohstofflieferanten mit reduzierter eigener Industrie.
Kein Wunder, dass Boris Jelzin dieses Konzept nicht durchsetzen konnte. Von der Mehrheit der Bevölkerung wird es als Zerschlagung bisheriger sozial-ökonomischer Strukturen und als Ausverkauf an den Westen erlebt, an dem sich eine Minderheit bereichert. Dies wurde und wird mit jedem weiteren Tag krasser deutlich: Die Preisfreigabe führte nicht zur Brechung, wie von den IWF-Strategen prophezeit, sondern zur Stärkung der Monopole. Die Privatisierung stärkte nicht den produktiven Sektor, sondern den unproduktiven des Kaufs und Weiterverkaufs, während sie die alten Produktionsstrukturen in der Industrie und auch auf dem Lande zerstörte.
Vor diesem Hintergrund ist zu bezweifeln, dass die in Vancouver angekündigte Hilfe zur Stärkung Boris Jelzins führen wird, auch wenn die beiden Präsidenten sich bemühen, sie dieses Mal als „Hilfe zur Selbsthilfe“ erscheinen zu lassen. Zu offensichtlich ist, dass es um die weitere Abstützung des bisherigen IWF-Programms geht. Die „Lockerung“ der Konditionen soll erst für die Juli-Konferenz der „G-7“-Staaten Thema sein. Mit solchen Ankündigungen ist aber der Angst, dass der bisherige Katastrophenkurs nun noch verschärft werden soll, nicht zu begegnen. Das wäre nur mit einer prinzipiellen Änderung der IWF-Politik möglich, die bereit wäre, auf den gegebenen Strukturen aufzubauen, statt deren Zerschlagung zur Voraussetzung von Reformen zu machen.

*

Hallo,
wie wär’s mit einer Hintergrundanalyse zur IWF-Politik in einer der nächsten Ausgaben? Könnte ich (mit kleinen Aktualisierungen) direkt aus meinem unveröffentlichten dritten Buch zur Privatisierung nehmen.

Mit freundlichen Grüßen

Streiflichter an der Wolga

take 1: Gennadij und Rima singen (take 1)

Regie: O-Ton ein paar Takte klar stehen lassen, dann runterziehen und dem Erzähler unterlegen.

Erzähler:    Zu Gast bei Gennadij Kolzow und seiner Frau Rima in             Tingowatowa. Wir befinden uns im Norden der autonomen tschuwaschischen Republik mitten im Herzen der russischen Föderation. Ein Fußmarsch von gut zwei Stunden durch ein hügeliges Mischwaldgelände führt an die Wolga. Im Garten bin ich auf den Stumpf einer der mächtigen Weiden gestoßen, die hier in der Tradition der auf dem Dorf lebendigen vorchristlichen Religion als heilige Bäume verehrt werden.
Im Haus, einem Holzbau im Blockstil, ist alles so, wie die Großeltern es noch vor der großen Kollektivierung in den dreißiger Jahren angelegt haben: Ein Raum, durch einen Vorhang unterteilt, mitten darin der mächtige Petschka, der Kaminofen.
Gennadij wurde hier geboren, ist aber erst vor ein paar Jahren aus der Stadt hierher zurückgezogen.
Regie: Hier Musik kurz hochziehen
Erzähler:Gennadij ist Liedermacher. Seine Lieder werden im             tschuwaschischen Radio gesendet. Rima ist ebenfalls Musikerin. Sie kommt aus der Stadt. Jetzt leiten die beiden gemeinsam die Kulturarbeit in Tingowatowa. Rima ist Direktorin des Kulturhauses, Gennadi der musikalische Leiter. Gennadij gibt außerdem Musikunterricht in der Dorfschule von Tingowatowa und im Nachbarort. Jeweils einmal in der Woche vier Stunden. „Narodowolzen“, Volkstümler, möchten die beiden nicht genannt werden. Aber wie diese in den Jahren vor der Revolution sind sie jetzt aufs Land gezogen, um das Volk zu unterrichten. Wiedergeburt der Kultur, besonders der tschuwaschischen ist ihr Anliegen.

take 2:Kolchose Jangartschina, Raissa rezitiert (take 2)

Regie: Nach kurzem Anfahren zurückblenden (evtl. noch verblenden mit take 3 des Vorspielbandes)

Erzähler:  Kolchose Jangartschina. Mitglieder des             „tschuwaschischen Kulturzentrums“ und der Organisation „Wiedergeburt“ treten im großen Kultursaal auf. Raissa Sarbi, Poetessa, wie es hier heißt, zugleich Herausgeberin einer tschuwaschischen Frauen- und einer Kinderzeitung, rezitiert aus eigenen Gedichten. Außer den Kindern der kolchoseigenen Schule hat sich niemand durch Regen und Matsch hergetraut. Außerdem ist es mitten am Tag. Man hat zu tun. Die Kinder aber lauschen andächtig.
Raissa versteht sich als Übersetzerin kosmischer Botschaften, die, wie sie sagt, ihrem Volk in der Stunde des Zerfalls der Union zeigten, woher es komme, wohin es gehen müsse. Sie führt ihre Geschichte auf die Amazonen zurück. Die traditionelle Kopfbedeckung, im Tschuwaschischen „AMA“, der unverheirateten Frauen, die sich neben ihren Perlenornamenten durch die zum  Himmel weisende Spitze auszeichnet, sei ein Überbleibsel der Kriegskappe der Amazonen. Raissa belegt das mit etymologischen Ableitungen, in denen sie zugleich Verbindungen über die Jahrtausende ins alte Mesopotamien zieht. Von dort seien die Tschuwaschen einst aufgebrochen. Von dort hätten sie auch ihre Religion, den Zoroastrismus, die Sonnenreligion, mitgebracht, die heute wieder auflebe. „Wir Tschuwaschen haben eine matriarchalische Tradition“, erklärt sie stolz. Erst die Christianisierung durch die Russen im sechzehnten Jahrhundert habe diese Kultur zerstört.

take 3: Valentin Tusendik deklamiert (take 5)

Regie: Voll anlaufen lassen, dann runterblenden.

Erzähler:Ehemaliges Verlagshaus der kommunistischen Partei in             Tscheboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik. Es spricht Valentin Tusendik, ein verknitterter, halb bäurisch, halb vagabundisch wirkender Mann, zur Hälfte Tschuwasche, zur anderen Hälfte Tatare, wie er sagt. Valentin hat mich gebeten, mir als Mitglied der noch nicht existierenden Akademie der Wissenschaften der noch zu gründenden Wolga-Ural Republik ein Pamphlet für deren Gründung auf Band lesen zu dürfen.

Übersetzer:   „Wir Leute am Ende des 20. Jahrhunderts hier in der             Wolga-Ural-Region auf dieser Erde im Sonnensystem der galaktischen Spirale befinden uns im Zentrum der Welt, auf dem Kontinent Euro-Asien, in der Mitte zwischen Osten und Westen, die man das `Kleine Europa‘ oder das `Kleine Asien‘ nennen kann. Hier treffen sich zwei slawische Kulturen, außerdem die türkische und die finnisch-ugrische; hier treffen sich die drei Hauptreligionen der Menschheit: Christentum, Islam und Buddismus, außerdem Atheismus und Nicht-Christlicher Glauben, die sich – gemessen an den erschreckenden Auseinandersetzungen anderer Nationen – seit über zweihundert Jahren ohne Konflikte und Exzesse mieinander verbinden. Deshalb ist für die menschliche Gesellschaft nur hier echte Demokratie möglich. Voraussetzung dafür ist eine Bevölkerung vom Typ der großen bulgarischen Zivilisation mit einer Geschichte der Amazonen und Vertretern wie Lenin, außerdem ein besonderes Klima und Wetter…“
Erzähler    Die Forderung nach Vereinigung der             Wolgavölkerschaften in einer Wolga-Ural-Republik ist Valentins Konsequenz. Seine Vorstellungen kommen verschroben daher. Sie haben jedoch, einschließlich der Tatsache, daß Lenin zu einem Drittel tschuwaschischen Herkommens war, ihren historischen Kern.
Kommentator:  Im Jahre 451 endete der Hunnensturm mit der Niederlage Attilas auf den katalaunischen Feldern. Reste der hunnischen Scharen zogen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründeten sie, vermischt mit anderen Völkerschaften, das bulgarische Reich, welches Ende des siebten Jahrhunderts seine größte Blüte erlebte. Aber der Raum blieb unruhig, immer neue Völkerschaften strömten aus den Steppen in die fruchtbaren Gebiete zwischen Wolga, Don und Dnjepr, in das Herz des heutigen Rußland. Die Chazaren, die sich an der unteren Wolga festgesetzt hatten, zerschlugen das erste bulgarische Reich. Danach gründete ein Teil der Bulgaren das donabulgarische – etwa im Gebiet es deutigen Bulgarien – , ein anderer das Wolgabulgarische Reich. Hauptstadt des Wolgabulgarischen wurde Bulgar. Erst der nächste Völkersturm, nämlich die Züge der Mongolen im dreizehnten Jahrhundert vernichtete auch Bulgarstan, von dem nur eine Turmruine blieb, die man im Zuge der Perestroika heute besichtigen kann. Erst in den revolutionären Kämpfen der zwanziger Jahre erlebten die Vorstellungen einer Wolga-Ural-Republik eine neue Blüte, wurden aber von den Bolschewiki beiseitegeschoben, von Stalin dann endgültig als nationalistisch unterdrückt.

Erzähler:Drei Stunden weiter stromabwärts in Kasan. Mir             gegenüber sitzt Damir Isxakow, Ethnologe in Kasan, Mitglied des „tatarischen kulturellen Zentrums“.

take 4:  Kasaner Ethonolge spricht (take 6)
Regie: O-Ton anlaufen lassen, dann runterblenden.

Übersetzer:“Also, ich glaube, daß jede Nation, gleichwelche, in             erster Linie eine Vereinigung im höheren Sinne ist, nicht in staatlichen Grenzen. Es geht um Kultur, Sprache und ethnisches Selbstbewußtsein. In diesem Sinne existiert die tatarische Nation ziemlich lange. Wie viele andere Nationen hat sich auch die tatarische aus verschiedenen ethnischen Gruppen gebildet. Da kann man vor allem drei nennen: Die Wolgataren hier, die sibirischen Tataren und die Astrachan Tataren. Das sind die Bevölkerungen früherer tatarischer Khanate. Sie unterscheiden sich voneinander, aber nicht sehr stark. Die Unterschiede liegen, sagen wir, auf dem Niveau unterschiedlicher Dialekte.“

Erzähler: Auch der Wissenschaftler möchte verlorene             Zusammenhänge wiederherstellen. Diesmal geht es jedoch nicht um die Zeit nach dem ersten, sondern nach dem zweiten großen Völkersturm, um die Zeit der Mongolenreiche.

Kommentator:   Mehr als zwei Jahrhunderte stand Eurasien unter             mongolischer Herrschaft. Mit Beginn des 12. Jahrhunderts machten sich die mongolisch-türkisch-tatarischen Steppenvölker unter ihrem Führer Dschingis Khan zur Eroberung der Weltherrschaft auf. Zwei Generationen später waren die nördlichen Teile Chinas, der Iran, die arabische Welt, das erste russische Reich, die Kiewer Rus, und Südeuropa unterworfen. Im Übergang zum Nordrussischen und nordeuropäischen Raum hörten die Kämpfe nicht auf. In ihnen bildete sich Moskau im Verlauf des vierzehnten Jahrhunderts Schritt für Schritt als neues russisches Machtzentrum heraus, das die Teil-Khanate nach und nach unterwarf. Einige Gebiete wurden dabei christianisiert, andere wie Kasan nach seiner Eroberung Mitte des sechzehnten Jahhunderts als muslimischer Fremdkörper insgesamt einverleibt und im Lauf der Jahrhunderte von oben her russifiziert. Die Dörfer blieben dabei, wie übrigens auch in Tschuwaschien, weitgehend unberührt in ihrer traditionellen Kultur. So wie dort Tschuwaschisch ist hier Tatarisch die Sprache des Dorfes.

Erzähler:    Dies ist der Hintergrund, vor dem Damir Isxakow dann             von der tatarischen Diaspora spricht. Sie sei die größte nach der jüdischen. Scharf grenzt er sich aber von Vorstellungen ab, alle Tataren in einem Nationalstaat zusammenzuführen. Zu unterschiedlich seien die Völker und zu unterschiedlich deren Geschichte, um in einem einzigen Staat zusammengefaßt zu werden.
Erzähler: Die letzte Überraschung erlebte ich bei Michail Juchma: Juchma ist nämlich nicht nur tschuwaschischer Nationaldichter und Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“. Er ist auch der zweite Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“. Er lud mich zur dritten Konferenz der turksprachichen Völker in Baku ein. Mehr als zwanzig Völkerschaften der ehemaligen Sowjetunion nähmen daran teil, erklärte er mir, außerdem Türken, Aserbeidschaner, Iraner… So sah ich mich mitten in Rußland nicht nur mit der tschuwaschischen und tatarischen Wiedergeburt, sondern ganz unvermittelt auch mit der Pan-türkischen Bewegung konfrontiert. Gefragt, ob er eine Pantürkische Wiedergeburt für möglich halte, antwortete Michail Juchma:

take 5: Micha Juchma spricht (take 9)

Regie: O-Ton anfahren, dann schnell runterziehen und wegblenden.

Übersetzer:   „Möglich! Möglich durch kulturelle Vereinigung, durch             Kulturbewegungen, durch gegenseitige Hilfeleistung. Wenn Rußland selbst in Zukunft bei der Wiedergeburt der türkischen Völker nicht hilft, dann werden sie sich an andere Länder wenden, Aserbeidschan, Türkei und noch andere. Deshalb wäre es für Rußland jetzt wichtig, mehr Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu richten. Aber Rußland trifft bis jetzt keine Entscheidung in der nationalen Frage. Das russische Volk begreift bis jetzt nicht, wie riesig die türkische Welt ist und wie groß ihre Möglichkeiten – und wie groß auch die Gefahren sind: Im Kaukasus – türkische Völker. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan: Ein Konflikt mit der türkischen Welt.“
Erzähler Aber die Planung dieser Reise erwies sich als             Rechnung ohne die neue Realität! Schon war unsere Abreise vom Republikfernsehen für die Abendnachrichten aufgenommen, da sagte „aeroflot“, die immer noch das Flugmonopol im ehemaligen sowjetischen Raum hat, den Flug ab: Flüge nach Baku gälten nicht mehr wie bisher als Inlandsflüge. Für diese Linie könne man nur noch zentral von Moskau aus buchen. Mit dem Zug war die Konferenz nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.

Kai Elers, 15.3.93

Von Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

Jenseits von Moskau – Rußlands Türken

In Moskau stehen die Zeichen auf Sturm. Boris Jelzin kämpft um das politische Überleben. In einem Referendum soll die Bevölkerung nun über die Fortsetzung seiner Politik entscheiden. Der Ausgang ist ungewiß. Im Unionsrat, dem Gremium der Republik-und Provinzchefs, findet die Politik Boris Jelzins nur noch halbherzige Unterstützung. Aus der Republik Tatarstan verlautete gar, man werde ein Referendum auf keinen Fall mittragen. Nachdem die frühere Sowjetunion sich bereits zur G.U.S. wandelte, zeichnen sich weitere Teilungen innerhalb der russischen Föderation ab.

Generell für die Regie: Wenn nicht anders angegeben, gilt für die takes: Sechs Sekunden stehen lassen, dann abblenden und als Athmosphäre unterlegt weiterlaufen lassen. Wo takes unterlegt laufen, habe ich das Ende jeweils benannt. Wo der unterlegte Ton nicht nur Athmosphäre ist, sondern den Text belegt, habe ich es ebenfalls gesondert angegeben.       Bei Zitaten habe ich mich bemüht, Länge des O-Tons und der Übersetzung abzustimmen.

take 1:Kasan, Büro des „ToZ“  (1,11)
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen. Mit dem Text wegblenden.

Erzähler:   Kasan, Hauptstadt von Tatarstan, einer der sechs             autonomen Republiken an der mittleren Wolga. Hochbetrieb im Büro des „tatarischen gesellschaftlichen Zentrums“, kurz „TOZ“. Von sieben Millonen Tataren der russischen Föderation leben etwa zwei Millionen in diesem Gebiet. Mit 48 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung sind sie hier fast gleichstark mit den Russen, die 47 Prozent der Bevölkerung stellen. Die übrigen fünf Prozent gehören den Völkern der umliegenden Republiken an: Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mordawier und Marisken. Bis auf die Marisken, die finnisch-ugrischen Ursprungs sind, sind alle anderen turkstämmige Völkerschaften.
Freundlich wird der ausländische Journalist begrüßt. Gern nimmt man die Gelegenheit wahr, die friedlichen Absichten der tatarischen Unabhängigkeitsbewegung zu bekräftigen.

Regie O-Ton bei Stichwort „prijechal Trawkin…“ kurz hochziehen, dann wieder abblenden und dem Erzähler-Text weiter unterlegen. Mit dem Text wegblenden.

Erzähler:   Trawkin, eine der leitenden Männer der heutigen             Opposition gegen Boris Jelzin, sei 1990 ais Moskau nach Kasan gekommen, erzählt der Mann empört. Auf dem „Platz der Freiheit“ habe Trawkin eine Versammlung durchgeführt. Gleich auf der Straße habe er eine Partei organisiert. Dann habe er seinen Auftritt gehabt! So gehe das doch nicht! Was Trawkin wolle? Faschismus! „Er propagiert die Idee eines großen Rußland“, ergänzt der andere Mann. „Das Imperium.“ Obwohl doch alle sehen könnten, daß es zerfalle, wie vorher die Sowjetunion zerfallen sei. Die sei ja ohnehin nur die geschönte Fortsetzung des alten Imperiums gewesen, obwohl die Bolschewiki das Gegenteil behauptet hätten.
Die einheimische Opposition habe man bei dem „Miting“ nicht zu Wort kommen lassen. Die Russen seien einfach nicht bereit, ein souveränes Tatarstan zu akzeptieren,

Erzähler:   Vizepräsident Raschit Jegefarow erläutert mir die             Ziele des Zentrums. Er ist zugleich Beauftragter für Volksbildung und für die Belange der außerhalb der Republik lebenden Tataren. Er überreicht mir Statut und Programm des „ToZ“. Er legt Wert auf die Feststellung, daß das Zentrum eine staatliche Einrichtung sei. Dann erzählt er:
take 2: Vizepräsident „ToZ“ (1,10)
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzer:   „Alles begann bei uns als Volksbewegung vor zwei             Jahren, 1989. Zu Anfang waren es vielleicht elf Leute, Wissenschaftler, Historiker, eben, tatarische Intellektuelle. Es gab einfach das Verlangen, eine solche Volksbewegung zu schaffen, um für die Souveränität der Republik zu kämpfen. Erste Aufgabe war die Gründung einer Republik, ähnlich wie damals Usbekistan, Kasachstan. Das war das erste Ziel.“

Regie: O-Ton evtl. hochziehen, dann wegblenden.

Erzähler:   Das zweite Ziel, berichtet Jegeferow weiter,             bestehe darin, die Gleichbrechtigung der Sprachen durchzusetzen. Obwohl in den Dörfern der Republik generell tatarisch gesprochen werde, sei die Schulsprache überall Russisch. Zeitungen, Lehrbücher, Verträge, eben alle offiziellen Papiere seien auf Russisch verfaßt, obwohl doch fast die Hälfte der Bevölkerung Tatarisch spreche.

Regie: O-Ton wegnehmen.

Kommentator:  Am 13.8.91. erklärte Tatarstan seine staatliche             Souveränität. Das Referendum zu dieser Frage im März `92 brachte eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen von 61 Prozent dafür. Anfang Juni `92 trafen sich Tataren aus aller Welt zum All-Tatarischen Kongreß in Kasan. Er bekräftigte die Forderungen nach staatlicher Souveränität, nach Gleichstellung des russischen mit dem Tatarischen und nach Schaffung eines übergreifenden tatarischen Kulturraums. Im August ’92 wurde ein Gesetz über die Gleichbrechtigung der Sprachen verabschiedet.

Erzähler:Fünf von sieben Millionen russischer Tataren leben             in der „Diaspora“, wie Raschit Jegeferow es nennt, also in den umliegenden Republiken und anderen Teilen der früheren UdSSR. Wie kann unter diesen Umständen ein tatarischer Staat aussehen? Stimmen die Gerüchte, frage ich Jegeferow, daß man im „ToZ“ eine Wolga-Ural-Republik anstrebe, die die hier lebenden Völker vereinigen solle?

take3:Vizepräsident „ToZ“, Forts. (0,30)

Regie: O- Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit Ende der Übersetzung wegnehmen:

Übersetzer:   „Ich glaube, das wäre sehr gut, wenn man eine             solche Vereinigung zustande bekäme. Sehr gut wäre das, selbstverständlich! Wie das konkret sein müßte, als Konföderation oder wie, darüber haben wir hier natürlich noch nicht gesprochen. Aber jedes Volk muß erst seine eigene Souveränität haben, bevor man sich wirklich vereinigen kann. Das ist klar.“

Erzähler   Eine Vereinigung aller Tataren in einem tatarischen             Nationalstaat aber lehnt Jegeforow ab. So etwas könne nur von der gegnerischen Propaganda erfunden werden. Tonnenweise, klagt er bitter, habe man aus Moskau solches Material gegen sie in Umlauf gebracht und im Fernsehen Lügen verbreitet über die angeblich kriegerischen Absichten der Tataren.
take 4: O-Ton Jegeferow, Forts. (1,12)

Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer unterlegt auslaufen lassen:

Übersetzer:“Aber zu glauben, hier alle Tataren zusammenführen             zu können, nein, das ist nicht möglich. Die Tataren leben ja in vielen Regionen, in Sibirien, an der unteren Wolga, an der oberen Wolga, am Ural. Ihre historische Heimat ist äußerst weiträumig. Sie alle zusammenzuführen, ist einfach Utopie. Sicher, es gab hier bei uns einen sehr großen Staat vor dem 14. Jahrhundert: Wolga-Bulgarien. Vielleicht haben Sie davon gehört. Das ist natürlich eine lange Geschichte, aber die Kasaner Tataren hier sehen in den Wolga-Bulgaren ihre Vorfahren. Sie gingen dann ja im Mongolensturm unter, der aus Sibirien kam. Übrig blieb das Kasanische Khanat. Sie wissen, daß Kasan dann 1552 von den Russen erobert wurde.“
Regie: O-Ton hochziehen, dann wegblenden.

Erzähler:   Jegeferow setzt statttdessen auf die Wiedergeburt             der tatarischen Nation als kulturelle Einheit: Sprache, Literatur, Kunst, Kultur und Religion, also Islam. Das, vor allem die religiöse Einheit, liegt ihm am Herzen. Letztlich aber, lacht er, ginge es um ein großes Exepriment, nämlich wie man bei so viel Unterschieden in diesem Raum zusammen leben könne.

Erzähler:  Nur ein paar Häuser weiter kommt das neue             tatarische Selbstbewußtsein in rauheren Tönen zum Ausdruck. Dort treffe ich auf Rafik Signatulin, pensionierter Militär, heute ehrenamtlicher Organisator eines „tatarischen Unternehmerzentrums“.

take 5: Pensionär im „tartarischen Unternehmerzentrum“ (0,22)

Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:   „Ich bin ehemaliger Kommunist. Jetzt bin ich             gläubig. Das heißt, ich habe viele Fehler gemacht. Aber es zeigt sich, gläubig zu sein, ist gut. Der Atheist ist ein potentieller Verbrecher. Er glaubt an nichts. Er achtet nichts. Man muß glauben. Ich glaube den Kommunisten nicht mehr, aber ich glaube an Gott. “
Erzähler:Auf die Frage, von welchen Fehlern er spreche, platzt er los:

take 6: Forts. Pensionär. (1,20)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer (langsam Sprechen) unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:“Ich habe 25 volle Jahre in der Armee gedient.             Überall in unserer UdSSR habe ich gedient. Ich habe die Akadmie durchlaufen. Ich bin Tatar. Ich habe mir die russische Sprache gut angeeignet, ich bin zu Wetbewerben in der Akademie angetreten, alles war gut, der Dienst war gut – aber: als ich zum Volk kam, sah ich, daß die Kinder nicht unsere sind! Sie können nicht in ihrer Muttersprache reden. Ich begann zu lernen, ich begann zu begreifen und ich verstand: Daß Kultur und ethnisches Überleben solcher Völker wie der Tschuwaschen, der Mordawzier und so weiter vor der Vernichtung stehen. Schulen in der Muttersprache gibt es nicht. Die Traditionen sind vergessen. Die Geschichte kennen sie nicht. Jetzt setzt der Zerfall der Schulen sich weiter fort. Wer hält das auf? Jetzt arbeitet die Schule wieder nach dem Programm eines totalitären Regimes! Das totalitäre Regime ist um viele Male schlechter als das koloniale Regime der Zarenzeit.  Damals haben die Leute sich wenigstens um ihr Eigentum gesorgt. Aus Gründen der Religion.“

Erzähler:   Jelzin-Regierung, Sowjetunion, Zarismus – die             Unterschiede verschwimmen. Was bei Rafik Signatulin bleibt, ist die Abgrenzung gegen die Russen:

take 7: Zweite Fortsetzung: Pensionär  (0,31)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzung  „Russische Dörfer kaben keine Zäune. Die Häuser             sind verkommen. Die Leute sind alle betrunken, sie beklauen sich gegenseitig. In den tatarischen und tschuwaschischen Dörfern dagegen kann man gut leben. Tatarische Dörfer sind sauberer. Das liegt daran, daß dort der Hochmut geringer ist. Von der Religion her sind die Menschen mehr angehalten zu arbeiten: Nur Arbeit macht das Leben!“

Erzähler:     Alfred Xwalikow, Archäologe und Ethnologe,             ebenfalls Tatare, dessen Spezialgebiet die Erforschung der Geschichte der Turkvölker ist, kann darüber nur lachen. „Sie saufen doch alle“, sagt er. Im übrigen hält er die nationalistischen Differenzierungen für ein Erbe der sowjetischen Herrschaft.

take 8: Alfred Xwalikow (1,10)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:   „Jedes der hier lebenden Völker hat seine eigene             interessante Geschichte. Und jedes von ihnen hat die engsten Verbindungen zum anderen, sodaß die gewaltsame Abwendung von den anderen nur die eigene Lage verschlechtern würde. Das begreift das Volk im übrigen auch sehr gut. Das Volk ist nicht tschuwaschisch, nicht tatarisch, nicht baschkirisch, nicht mariskisch. Es hat nie danach gestrebt zu sagen: Wir sind besser, wir sind ein ausgewähltes Volk und ihr seid schlechter. Kaum aber tauchte die sowjetische Intelligenz auf, wurde ihre Herrschaft genau darauf gegründet: `Faßt nur die Russen nicht an, die Russen sind Eure großen Brüder; die anderen dagegen sind nichts. Wer sind denn die Tschuwaschen? Die Tataren sind bloß russische Eroberer…‘ – Nein, nein, das ist alles sowjetische Ideologie.“

take 9: Fahrtgeräusche auf der „Meteor“ (0,50)

Regie: Fahrgeräusche langsam kommen lassen, dann unterlegt laufen lassen, mit Text beenden.

Erzähler:   Auf der Wolga. Drei Stunden braucht die „Meteor“,             das linienmäßig verkehrende Luftkissenboot, von Kasan nach Tscheboksary. Tscheboksary, die Hauptstadt der Tschuwaschischen Republik ist mein Ziel. Gerade haben wir den Anleger von Joschkar-Olar verlassen, Zentrum der Mariskischen Republik auf der anderen, der östlichen Seite der Wolga. Alles liegt hier nah beieinander. Frauen mit Warenkörben drängen ins Boot, Landarbeiter. Sie wollen auf den Markt in Tscheboksary. Zu viele. Das Boot kann nicht alle aufnehmen. Man schlägt sich um den Zugang. Die Hälfte der Wartenden bleibt am Steg zurück. Tschuwaschen, Tataren, Russen. Die Szene bestätigt die Worte Professor Xwalikows: Im Alltag werden keine Unterschiede mehr gemacht.

Regie: O-Ton wegnehmen:

Erzähler:In Tscheboksary führt mich mein Weg direkt ins             „Tschuwaschische Kulturzentrum“, kurz „Tschokz“. Es entspricht dem Kasaner „ToZ“. Hier soll ich Grüße überbringen. Man kennt sich. Micha Juchma, der Vorsitzende des tschuwaschischen Zentrums, hört sich aufmerksam meine Kasaner Eindrücke an. Dann erklärt er mir sein Verständnis von „Wiedergeburt“:

take 10: Im „tschuwaschischen Kulturzentrum“ (2,50)

Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, bis zum Ende des takes als Atmosphäre stehen lassen:

Übersetzer:   „Das ist die Erneuerung, die Wiedergewinnung der             eigenen Persönlichkeit. Vor allem ist es die Wiedererlangung verlorener kultureller Werte. Es ist die Selbstachtung einer Nation, damit der Mensch, hier bei uns der Tschuwasche, wieder lernt, darauf stolz zu sein, daß er ein Tschuwasche ist, daß er diesem Volk entstammt. Es ist ja soweit gekommen, daß allein schon das Wort `Tschuwasche‘ zu einem Schimpfwort geworden ist, genau wie das Wort `Tatare‘ in Tatarstan. Das heißt, ein verkehrtes Leben hat sich bei uns entwickelt. Unsere Ziele darf man aber auf keinen Fall mit Gewalt zu erreichen versuchen. Das muß alles auf dem Weg des Dialogs erfolgen. Vor allem muß man lernen, dem Nachbarn zuzuhören. Das ist bei uns zur Zeit absolut nicht so.“

Regie: O-Ton bleibt unterlegt.

Erzähler: Seine Großmutter, von der er viel gelernt hat, habe             noch auf dem Dorf gelebt, erzählt Micha Juchma. Sie habe ihm als Kind eine Grundregel beigebracht: Man solle sich immer so verhalten, daß die Leute, die einem auf der Straße begegnen, danach glücklich weiter ihren Weg gehen könnten.
Micha Juchma ist tschuwaschischer Nationaldichter. Von Kindheit an hat ihn die Großmutter mit den Sagen, Mythen und Erzählungen des tschuwaschischen Volkes und mit der tschuwaschischen Gechichte vertraut gemacht. Was er nicht von ihr lernen konnte, fand er in unaufgearbeiteten – und in der Stalinzeit – geheimgehaltenen Archiven oder trug es aus Gesprächen mit Dorfbewohnern Stück für Stück zusammen. So entstand eine reiche Sammlung von Büchern über die Geschichte der Tschuwaschen als Teil der großen Völkerwanderung turkstämmiger Völker von Mesopotamien nach Zentralasien. Von dort wandten sie sich gen Westen – in dem großen Hunnensturm.
Auch Micha Juchma erzählt mir die Geschichte von dem großen Reich Bulgarstan. Für ihn aber sind dessen Nachkommen nicht die Tataren, sondern die Tschuwaschen, die nach dem Rückzug der Hunnen aus Westeuropa im mittleren Wolgagebiet geblieben und dort den Staat Bulgarstan gründeten. Im zwölften Jahrhundert hätten die Mongolen das Reich überrannt. Die Tataren dagegen, meint Micha Juchma, seien erst mit dem Mongolensturm nach Mittelrußland gekommen. Sie hätten Bulgarstan also nicht nur zerstört, sondern im Kasaner Khanat später auch dessen Kultur überlagert. Zeitweilig hätten sie den Tschuwaschen auch den Islam aufgezwungen, aber dann hätten diese sich dem Christentum zugewandt. Schließlich habe sich das russische Imperium dann beide gleichermaßen einverleibt wie auch die übrigen Völker des Raumes. Eine Wolga-Ural-Republik zusammen mit den Tataren erscheint Micha Juchma denn auch nicht wünschenswert. Das, so meint er, würde deren alte Hegemonieansprüche sofort wieder aufflammen lassen.
Heute gibt das tschuwaschische Kulturzentrum, ähnlich wie das tatarische, Bücher, Schriften, Schallplatten und eine eigene zentrale, sowie mehrere lokale Zeitungen heraus. Sie bemühen sich, die tschuwaschische Geschichte wieder ans Tageslicht zu holen, sozusagen unter unter der Geschichtsschreibung der russischen Sieger wieder hervorzuziehen.
Letztenendes aber, so Juchma, müsse er Professor Xwalikow zustimmen:

take11: Micha Juchma, Fortsetzung (0,24)

Regie: O-Ton vier Sekunden kommen lassen, dann ablenden und unterlegen, mit dem Text beenden:

Übersetzer:   „Die Tschuwaschen wollten sich nie von anderen             Völkern unterscheiden. Seit Ankunft der Tataren-Mongolen, das zeigt die Geschichte, stand das tschuwaschische Volk nicht vor der Frage: Wie sich von irgendwelchen anderen Völkern unterscheiden, sondern wie sich selbst erhalten, wie physisch als Volk überleben.“

take 12: Jeep im Altai (O,42)

Regie: O-Ton drei bis vier Sekunden stehen lassen, dann abblenden, unterlegen:

Erzähler:    2500 Kilometer weiter Östlich. Im Grenzdreieck             zwischen den nördlichsten Ausläufern Chinas, der Mongolei und Kasachstan, in den nördlichen Ausläufern des Pamirgebirges. Wir sind in den Tälern des Altai unterwegs, zu Zeiten der UdSSR autonomer Kreis, seit 1991 selbstständige Republik. Wir nähern uns dem Dorf Besch-el-Tir, dem Dorf der fünf Täler. Ich fühle mich an die tschuwaschischen Dörfer erinnert: umfassende Einfriedung, kleine, akkurate Holzhäuser, bemalte Fassaden.
Regie: Nach dem Stichwort „strastwuitje“ (Guten Tag) O-Ton hochziehen und auslaufen lassen.

Erzähler:   Auch der junge Bürgermeister dieses Ortes erinnert             mich an meine tschuwaschischen Bekannten: zart, freundlich, dunkle Augen, dunkler Schopf. Sehr schnell sind wir auch hier bei der Frage der nationalen Wiedergeburt angekommen:

take 14: Bürgermeister von Besch-el-Tir (0,12)
Regie: O-Ton zwei Sekunden stehen lassen, dann abblenden, unterlegen, mit dem Ende des takes wegnehmen:

Übersetzer: „Natürlich gibt es das. Es gibt eine Bewegung. Ein             republikanischer Fond wurde gebildet. Es gibt eine Vereinigung. Sie nennt sich `Enetil‘. Das heißt Wiedergeburt.“

Erzähler:    Die Bewegung ist eine städtische Angelegenheit,             erläutert der Bürgermeister. Sie wird von Leuten getragen, die das Land verlassen haben, um im nahegelegenen Gorno-Altaisk zu leben. Dort leben zur Hälfte Russsen und zur Hälfte Altaizis. Da geht es natürlich um die Gleichberechtigung der Sprachen. Im Dorf haben sich die alten Gebräuche erhalten: Die Hochschätzung der Alten! Hier braucht man sich dazu nichts Neues auszudenken.

take 15: Fortsetz. Bürgermeister  (0,22)

Regie: O-Ton 4 Sekunden stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit dem Übersetzer beenden:

Übersetzer::  „Tendenzen gibt es natürlich, daß die Jungen sich             mit den Traditonen des Volkes befassen, mit Volkskunst und so. Aber wir beschäftigen uns hier in unserem Dorfe zur Zeit nicht mit solchen Arbeiten. Das hängt alles mit den finanziellen Schwierigkeiten zusammen. Um sowas zu machen, braucht man Geld, muß man einen Fond bilden usw. “

Erzähler:     „Enitel“, erfahre ich, ist der altaizische             Ausdruck für Widergeburt. Ziel der Organisation ist nicht nur die sprachliche Gleichberechtigung, sondern die Wiederherstellung des verlorenen altaizischen Kulturraums. Er ist, wie ich zu meiner Überraschung von meinem Begleiter Vincenti erfahre, mit dem an der mittleren Wolga engstens verbunden.

take16: Vincenti Tengerow (0,45)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, dann als Atmosphäre während des Erzähler-Kommentars auslaufen lassen.

Übersetzer:  „Übereinstimmungen gibt es vor allem mit den             Republiken Tatarstan, Baschkirestan und mit den Tschuwaschen. Dort sind die Sippenverbindungen noch immer stärker. Es ist nicht wie bei den Russen, bei denen neben dem Vater auch der herangewachsene Sohn schon der Alte ist. Nein, da gilt das Prinzip des Ältesten. Und sie arbeiten im ganzen Familienverband. So überleben sie. Wie machen es die Bauern im Bezirk Synakos zum Beispiel? In allen Dörfern sprechen sich die Nachbarn ab: Erst wird für den einen das Heu gemäht, dann für den zweiten, dann für den Dritten. So arbeiten sie dort gemeinschaftlich in der `obschtschina‘, der Dorfgemeinde. Das haben sie schon vor der Revolution so gemacht.“

Erzähler:   Auf der Rückfahrt läßt Vincenti an einem zwischen             den Felsen herabstürzenden Wildbach halten. Bunte Fähnchen schmücken die umstehenden Bäume. In einem Becken am Straßenrand blinken hunderte von Münzen. „Eine heilige Quelle!“ lacht er, selbst eine Münze hineinwerfend. Das gehe auf alte schamanische Traditionen zurück. Schamanismus und Bhuddismus, so sagt er, kehren wieder in die Täler des Altai zurück – Religionen, die die Menschen viele Jahrhunderte geprägt haben. Der friedfertige Charakter der Altaizis, lächelt Vincenti, selbst orthodoxer Christ, habe hier seinen Ursprung. Das Christentum sei viel agressiver.
Im einzigen Buchladen von Gorno-Altaisk kann ich ganze zwei Bücher über den Altai erstehen. Die aber haben es in sich: Das erste illustriert die traditionelle Kleidung der Altaizis, unter anderem die der Schamanen. Das Zweite ist ein neues populär-wissenschaftliches Werk, in dem der Altai als Wiege der Turkvölker beschrieben wird. So hatte ich nicht nur im Dorf, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur Micha Juchmas Spuren der Hunnen wiederentdeckt – einen gewaltigen turksprachigen Raum, der sich heute vom südlichen Sibirien bis nach Nordeuropa erstreckt.
Mehr als ein gutes Jahrhundert stand dieser Raum vollständig unter russischer Herrschaft. Jetzt wird um seine Neuaufteilung gerungen. Bhuddistische, russisch-orthodoxe und islamische Welt stehen sich gegenüber.

take 17: Kongreß in Tscheboksary (2,30)

Regie: kommen lassen, nach Musikbeginn abblenden, unterlegt – auch unter take 18 – laufen lassen:

Erzähler:   Zurück in Tscheboksary. Nach dem all-tatarischen             Kongreß in Kasan Anfang Mai nun der all-tschuwaschische. Gefordert wird wie schon in Kasan: Staatliche Souveränität, wirtschaftliche Selbstbestimmung, sprachliche Gleichberechtigung und Schaffung eines einheitlichen Kulturraumes der turksprachigen Völker. Aus allen Teilen der früheren Union und sogar aus dem Ausland sind Delegierte angereist. Geografisch entspricht die tschuwaschische Diaspora, wie auch dieses Volk seine Situation beschreibt, der der Tataren. Von ca. vier Millionen Tschuwaschen leben etwa zwei Millionen in der Republik. Mit über sechzig Prozent bilden die Tschuwaschen allerdings die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Das ist einmalig in der russischen Föderation:
Die tatarische Republik als Bezugspunkt für die größte nicht-russische Bevölkerungsgruppe, die tschuwaschische als die einzige, in der Russen als eine Minderheit leben. Die beiden wichtigen Bastionen der pantürkischen Wiedergeburt sind so in der russischen Föderation, obwohl unauflösbar in ihrer Diaspora miteinander verknüpft, dennoch zwei entgegengesetzte Pole in der möglichen Entwicklung. Die Tataren sind an einer gemeinsamen Religion orientiert, dem Islam, die christlich geprägten Tschuwaschen streben nur nach einem gemeinsamen Kulturraum, in dem aber unterschiedliche Religionen miteinander koexistieren können.
Wie es weitergehen könnte, schildert Micha Juchma:

take 18: Micha Juchma (1,08)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzertext unterlegen, während des Erzählertextes zusammen mit der Musik aus take 17 auslaufen lassen.

Übersetzer:  „Alles hängt jetzt von der Position des Islam ab,             davon, wie sich der Islam entwickelt. Wenn der Islam sich als taktisch geschickt erweist, das heißt, mit der Methode der Schmeichlei vorgeht, dann kommt er hier durch. Das wiederum hängt aber ganz und gar von den Tschuwaschen ab. Was die Tschuwaschen machen, das machen auch die Marisken, Utmurten und die Mordawier. Warum ist das so? Alle übrigen turkstämmigen Völker sind Mohammedaner. Die chistlichen Tschuwaschen sind zwar auch turkstämmig, trotzdem wächst auch bei ihnen das Interesse am Pantürkismus und sie wenden sich ihm mehr und mehr zu. Auch die anderen, die Russen, begreifen das: Die schwächste Front der russisch-orthodoxen Kirchen des Prawaslawismus an der Wolga sind die Tschuwaschen. Deshalb wird die islamische Welt jetzt die Tschuwaschen attakieren.“

Erzähler:   Der Kampf hat schon begonnen und dies nicht nur             zwischen den drei großen Kulturkreisen, sondern auch noch innerhalb der islamischen Welt. So ist Micha Juchma im „TschoKz“ nicht nur zugleich als zweiter Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“ tätig, die eng mit türkischen Kräften außerhalb der russischen Föderation zusammenarbeitet. Er und seine Freunde werden auch von Gesandten islamischer Fundamentalisten gedrängt, zum Islam überzutreten.
Aus Moskau reiste im Sommer `92 auch Boris Jelzin samt seinem „Kommando“ an, wie seine Regierung hier genannt wird. Man bot den Tschuwaschen an, sie könnten bei der Umwandlung der zentralen Staatsbetriebe 35 Prozent der Aktienanteile übernehmen. Dabei blieben die Betriebe zwar immer noch in Moskauer Hand. In der Hierarchie der Angebote, das die „Moskauer“ in den Provinzen machten, ist dies bisher einmalig. Außerdem versprach Boris Jelzin hohe Subventionen für die vor dem Bankrott stehenden Großbetriebe der Republik. Das macht deutlich: Man will sie als Gegengewicht gegen Tatarstan und seine islamischen Freunde stabilisieren.

Regie: O-Ton auslaufen lassen.

Erzähler:  Weniger taktisch formuliert Alexander Prochanow             von der vaterländischen Rechten, die Boris Jelzin Anfang des Jahres 1993 so sichtbar unter Druck setzen konnte, wie er sich die Lösung dieser Probleme vorstellt:

take19: Alexander Prochanow (0,17)
Regie: O-Ton einen Moment stehen lassen, dann abblenden, unterlegen:

Übersetzer:   „Ich bin traditioneller russischer Imperialist. Das             ideale Rußland, das ist für mich ein euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der Völkervielfalt hervorgeht, — das zentrale Volk jedoch, das regulierende Volk, das sind die Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind kommunikativer und sie leben überall. Die heutige russische Föderation ist ein totes Stück Holz, sinnlos, Nonsens. Es kann kein Rußland geben, wo dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen ihrer Heimat leben.“

Erzähler      Damit sind die Konfrontationslinien für die             nächste Generation abgesteckt.

Was ist am russischen Chauvinismus so anders? (Text)

In St. Petersburg hält man Moskau für ein zu groß geratenes Dorf. Michail Gorbatschow, dessen Heimatort Stawropol schon zum Süden der ehemaligen Union zählte, musste sich vorrechnen lassen, wie viele grammatische Fehler und „nicht-russische“ Redewendungen er sich während seiner Reden zuschulden kommen ließ. Die Kaukasier gelten als „Tschornie“, Schwarze, inzwischen auch schlicht als Mafiosi. Von allen übrigen Völkern, den Wolga-Anrainern nicht anders als den Asiaten und den sibirischen Ureinwohnern, erfährt man in St. Petersburg vor allem eins – dass sie „nje kulturni ludi“, Leute ohne Kultur seien.
Moskau unterscheidet sich von St. Petersburg dadurch, dass man die Stadt an der Newa für ein Kunstprodukt hält, das in dem Sumpf, aus dem Peter I. es vor zweihundert Jahren stampfen ließ, am besten wieder versänke. Ihre Bewohner gelten den Moskowitern  als Kulturchauvinisten, die sich auf ihre Westnähe allzu viel einbilden.
Nowosibirsk, nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte Stadt der russischen Föderation und die größte der sibirischen Russen, hat sich als einzige Stadt neben ihren Vorbildern im europäischen Russland eine Metro bauen lassen, die ihren Anspruch, ebenfalls unter die Zentren gerechnet zu werden, unübersehbar dokumentiert. Im übrigen geben sich die Sibiriaken russischer als die europäischen Russen. Ohne sie, so das Selbstverständnis der Sibiriaken, wäre Sibirien noch heute nichts anderes als eine von Reiternomaden durchzogene Steppe und einsamen Eskimos besiedelte und Schneewüste .
Dies alles scheint nicht mehr als gewöhnlicher Lokalpatriotismus zu sein, wie man ihn an jeder Ecke der Geschichte dutzendweise zu sehen gewohnt ist, lediglich ein wenig auf die Dimensionen des russischen Raumes hochgerechnet. Da kann es geschehen, dass schon der Lokalpatriotismus chauvinistische Züge gewinnt. Auch dies wäre nichts Außergewöhnliches. Was also zeichnet den russischen Chauvinismus so aus, dass man sich besonders mit ihm beschäftigen müsste?
Die aktuellste Antwort darauf fand ich bei Alexander Prochanow, dem Herausgeber der Zeitung „Djen“, Organ der „duchowni opposizii“, der höheren Opposition, wie sie sich selbst nennt. Er ist zugleich der ideologische Kopf der „Nationalen Rettungsfront“, der Sammlungsbewegung der neuen russischen Rechten. Mit 150.000 Auflage gibt „Djen“ den Kadern dieser Bewegung, vor allem in den Zentren, aber auch in größeren Städten der übrigen russischen Föderation die wöchentlichen Stichworte. „Ich sage Ihnen“, erklärte er mir in seiner Moskauer Redaktion unumwunden, „ich bin ein traditioneller russischer Imperialist. Für mich ist Russland im Ideal ein eurasischer Staat, in dem die Regulierung und Gleichgewichtsform einer Vielzahl von Völkern verwirklicht wird. Das zentrale Volk, der Regulator, ist das russische Volk, denn es ist das größte und das kommunikativste. Und sie leben überall. Die heutige russische Föderation ist ein Stumpf, eine Sinnlosigkeit, nonsens. Es kann kein Russland geben, in dem dreißig Millionen Russen jenseits seiner Grenzen leben.“ Das soll heißen: Wo im euroasiatischen Raum Russen leben, da ist auch russisches Herrschaftsgebiet.
Vier Elemente fallen am russischen Chauvinismus auf:
Erstens: Seine materielle Basis liegt in der Besonderheit des Raums zwischen Europa und Asien: Die Weite, die Grenzenlosigkeit, der unermessliche Reichtum des Raumes ließ das „Prinzip Landnahme“ zum vorherrschenden Entwicklungsprinzip werden. Wo sonst auf der Welt hätte sich der Typ des Bauernnomaden so entwickelt und so lange gehalten wie hier? Für ihn wurde nicht Kultivierung und Intensivierung des Bodens und die Herausbildung verfeinerter Vorratswirtschaft, sondern das Weiterziehen in neue Landstriche, die ewige Kolonisierung Grundlage seiner Entwicklung. Die Notwendigkeit, in der unermesslichen und feindlichen Weite einen Stütz- und Orientierungspunkt zu schaffen, ließen andererseits erst die Kiewer Rus, später Moskowien, dann Russland entstehen. Die Sowjetunion setzte das Erbe unter anderen ideologischen Vorzeichen fort; durchgehende Linie blieb: Die extreme Grenzen- und Maßlosigkeit bringt als ihre Gegenbewegung den ebenso extremen Zentralismus hervor.
Davon untrennbar ist der zweite Aspekt, der historische: Prochanow begründet seinen Anspruch auf Führerschaft durch die Russen nicht rassistisch, sondern territorial, glatterdings imperial. Er steht mit dieser Begründung nicht allein: In Nowosibirsk antwortete mir der stellvertretende Ottomane der dortigen Kosaken, die ja immerhin das Imperium in den Grenzen von 1914 verteidigen wollen, auf meine provozierende Frage, ob ich denn auch Kosake werden könne, wenn das Kriterium der Mitgliedschaft nicht Blutszugehörigkeit sei: Ja, das könne ich, wenn ich mich nur bereiterkläre, das Imperium gemäß ihrer Statuten zu verteidigen. Die Mitgliedschaft sei keine biologische, sondern eine geistige Frage, eine des Bewusstsein, der Entscheidung für eine Gemeinschaft.
Die Gründe für diese Haltung liegen tief: Schon die Kiewer Rus, also das erste russische Reich, begründete sich nicht aus der Blutszugehörigkeit, sondern aus der militärischen Gefolgschaft. Rus war identisch mit Herrschaft, nicht etwa mit ethnischer Zugehörigkeit zu den Slaven. Nicht von ungefähr leitet die älteste russische Chronik die erste Staatsgründung nicht aus Blutsrecht her, sondern aus Herrschafts- und Schutzakten fremder Militärgenossenschaften, nämlich der im neunten Jahrhundert aus Schweden kommenden Varäger, auf deutsch auch Wikinger. Auch unter den Moskowitern war das Herrschaftsprinzip innerhalb der eroberten Territorien danach nicht rassische Ab- und Aussonderung, sondern Assimilation, und zwar nicht nur einfache, sondern kollektive, also Eingliederung ganzer Ethnien oder Glaubensverbände – wenn sie die sie Herrschaft anzuerkennen bereit waren. Darin folgte die moskowitische Eroberungspolitik ganz dem Vorbild ihrer mongolischen Gegner. Nicht einmal die Anerkennung des Christentums war notwendig.
Was heißt drittens „duchowni opposizii“? Ein Blick auf die von Prochanow mit herausgegebene neue Theoriezeitschrift der Rechten, „Elemente“, gibt Auskunft: Dort ist auf dem Umschlag der zweiten Ausgabe eine Karte Euro-Asiens zu sehen. In ihrem Mittelpunkt am Ort Moskaus das „dritte Rom“, Ausdruck des spät-byzantinischen russischen Missionsanspruchs gegenüber der übrigen „nicht gäubigen“ oder „falschgläubigen“ Welt.
Dies alles bedeutet: Russisch, das ist keine biologische, russisch, das ist eine Herrschaftskategorie, Herrschaft durch Glaube, Gefolgschaft, Unterordnung. Der „höhere Patriot“ ist der von der kulturellen und geistigen Mission des Moskauer Imperiums als notwendiger Ordnungsfaktor im euro-asiatischen Raum durchdrungene Mensch. Das Kriterium ist Herrschaftsfähigkeit, nicht slawisches, arisches oder sonst wie sauberes Blut. Bezeichnend für diese Tatsache ist, dass die russische Sprache kein Wort kennt, das unserem Begriff des Staates entspricht. Im Russischen gibt es nur „Gossudarstwo“ – Herrschaft.
Dies alles galt schon vor der Revolution von 1917. Und damit komme ich zum vierten Element: Ergebnis der Revolution war eine nochmalige Übersteigerung der russischen in die sowjetische Mission: Führer der Weltrevolution, Schaffung des „homo sowjetikus“, der Glaube, an der Spitze der Menschheitsentwicklung zu stehen. Von der Höhe dieser Illusion sieht die russische Bevölkerung sich nun auf einen der letzten Plätze verwiesen. Für die russischen Chauvinisten ist das Öl auf ihr Feuer.   Umso schärfer steht heute die Frage, ob aus dem Zusammenbruch der russisch-sowjetischen Herrschaft ethnische Zerwürfnisse und damit begründet eine Erneuerung des alten Herrschaftsanspruchs erwächst. Dies kann nur Krieg bedeuten. Oder werden die Völker in der Lage sein, neue Regulations-Mechanismen zu entwickeln, die es ihnen erlauben, ihre Konflikte auf friedliche und kooperative Weise direkt miteinander und nicht über „das Zentrum“ vermittelt zu lösen?

Moskau – Kampf der Alternativen? (Text)

Im Frühjahr 1992 etwarf Boris Kagarlitzky, ein auch im Westen bekannter Reformsozialist, mir ein bedrückendes Szenario: Boris Jelzins „Schockprogramm“, insbesondere die Strategie der Privatisierung, die das Jelzin-Kommando in Verfolgung der IWF-Richtlinien umsetzen wolle, werde sich sehr schnell als nicht durchführbar erweisen. Gegen Ende des Jahres `92, spätestens zum 1. Januar 93, wenn seine Sondervollmachten endeten, mit denen er im August ’91 als Sieger aus dem Machtkampf mit Michail Gorbatschow hervorging, werde die Krise keineswegs, wie versprochen, überwunden, sondern im Gegenteil Jelzin am Ende sein. Die Direktoren der industriellen und landwirtschaftlichen Staatsbetriebe, gestützt auf die von ihnen vertretenen Arbeitskollektive, würden eine Änderung der Politik von ihm erzwingen. Er werde Gaidar fallen lassen müssen. Wenig später werde er selbst gehen und den Platz für Alexander Ruzkoi freimachen oder selbst auf dessen politische Position rücken müssen. Aber auch das werde nur ein Zwischenspiel sein. Am Ende werde so etwas stehen wie der Kriegskommunismus nach der Revolution von 1917, eine nationale Stabilitätsdiktatur, die die Privatisierung der Staatsbetriebe stoppen und im übrigen zur rigiden staatlichen Lenkung der Wirtschaft übergehen werde. Ob dem später eine Demokratisierung folgen könne wie in Chile, sei offen.
Die jetzigen Ereignisse in Moskau erscheinen vor dem Hintergrund dieses und ähnlicher Szenarien, wie eine Aufführung nach Drehbuch: Jegor Gaigar mußte Viktor Tschernomyrdin, einem Mann der „Bürgerunion“, also des Direktorenkorpus, weichen. Boris Jelzin tritt den Souveränitätsbetsrebungen innerhalb der russischen Föderation hart entgegen. Sein Außenminister reklamierte in der „Nato Review“ den ehemaligen sowjetischen Staatsbereich in Euro-Asien jetzt als Einflußzone Rußlands. Die Koversionspolitik, die die Rüstungsmonopole an den Rand des Bankrotts trieb, ist einer neuen Rüstungspolitik gewichen – diesmal unter „marktwirtschaftlichen“ Vorzeichen. Jelzin selbst kritisierte sein Wirtschaftskabinett wegen zu großer Zurückhaltung in dieser Frage. Die vaterländische Rechte hat sich inzwischen als „Nationale Rettungsfront“ zu einer ernstzunehmenden Kraft entwickelt, gegen die sogar die großrussischen Positionen von Alexander Ruzkoi noch maßvoll wirken. Aber Ruzkoi und die „Bürgerunion“ sind sich nicht zu schade, den Präsidenten jetzt im Bündnis mit diesen Kräften noch weiter auf ihre Linie zu drängen – wenn er nicht den Hut nehmen will.
In den neuesten taktischen Wendungen auf der Moskauer Bühne sieht es so aus, als könne Boris Jelzin noch etwas mehr Zeit herausschinden, als von seinen Kritikern erwartet. Aber die Tagesprognosen, die in den Medien ausgegeben werden, schwimmen an der Oberfläche. So galt der Präsident nach seinem letzten Zug, mit dem er ein Plebiszit für den 25. April ankündigte, den einen als Sieger, den anderen als Verlierer, den dritten schlichtweg als interessanter Spieler.
Nur in einem ist man sich in der westlichen Berichterstattung fast vollkommen einig: daß es um einen Machtkampf zwischen Demokratie und kommunistischer Reaktion gehe. US-Präsident Clinton versprach Soforthilfe. Staatspräsident Mitterand eilte vor Ort, um den angeschlagenen Jelzin zu stützen. Bundeskanzler Kohl ermahnte die Japaner, nun endlich aus der Reserve zu kommen. Die Konferenz der „G-7“-Staaten in Honkong beschloß sofortige „konkrete und sichtbare Unterstützung“. Gewaltenteilung oder Gewaltenkonzentration, demokratisches oder sowjetische Prinzip, Marktwirtschaft gegen Kommandowirtschaft. Das seien die Alternativen, heißt es, um die es gehe.
Aber ist damit die gegenwärtige Krise beschrieben?
Was Boris Jelzin absichern lassen will, ist ja keineswegs ein demokratisches System, das aus Initiativen von unten erwächst und sie fördert. Es ist ein System von Präfekten, das er im Lande aufgebaut hat, die von ihm selbst oder seinen Vertrauten bestellt werden. Das geht von den Landes- bis hinunter zu den Dorfadministratoren. Nach dem August 1991 zogen sie überall als „neue demokratische Macht“ in die Rathäuser und Dorfverwaltungen ein. In der Praxis erwiesen sie sich keineswegs als die Pioniere des Aufbaus neuer demokratischer Infrasturkturen, sondern als Instrumente der Liquidierung, über die die Strategie der Totalprivatisierung gegen die widerstrebenden Sowchosen, Kolchosen und sonstigen Kollektive durchgesetzt von oben und von den Regionen her gesehen von „Moskau“ aus durchgesetzt werden soll.
Was ist andererseits von den „Räten“ und selbstbestimmten „obschtschinas“ zu halten, in deren Namen Ruslan Chasbulatow und der Deputiertenkongress die Selbstherrschaft Boris Jelzins beschneiden wollen? Stimmt, der Kongreß noch zu Zeiten Michail Gorbatschows gewählt, als das Parteienmonopol der KPdSU noch galt, setzt sich in seiner großen Mehrheit aus Betriebs-, Sowchosen und sonstigen Direktoren zusammen. Die „Bürgerunion“, eine der stärksten Fraktionen im Kongreß, vertritt praktisch die Interessen der zentralen Monopole, das heißt unter den gegebenen Umständen die Interessen der postsowjetischen Industrie, des militärisch-industriellen Komplexes, darüber hinaus der landwirtschaftlichen Produktion. Arkadi Wolksi, leitende Figur der „Bürgerunion“ ist als Präsident des Unternehmerverbandes, Vizepräsident Alexander Ruzkoi als dekorierter Afghanistan-Veteran dessen passender Repräsentant.
Indessen sind sie nicht einfach die Überreste der alten Nomenklatura. Auch sie vertreten das Volk, und sie sind gleich doppelt gewählt: einmal als Betriebsleiter und zum zweiten als Vertretung von Betriebskollektiven im obersten Sowjet. Wer einmal im Lande war, weiß, daß das Betriebskollektiv, sei es in der Fabrik, in der Sowchose oder einem Institut, auch in der post-sowjetischen Gesellschaft nach wie vor die soziale Grundeinheit ist, über die der gesellschaftliche Austausch geregelt wird. Manches eins dieser Kollektive ist mit einem ganzen Dorf, einer Stadt oder gar einer region identisch. Einerseits zerstört die Krise zwar diese Struktur, andererseits läßt sie die darin liegende Abhängigkeiten noch schärfer hervortreten: Direktoren und Arbeiterschaft entwickeln das gleiche Interesse, nämlich, ihren Betrieb arbeitsfähig, mindestens aber lohnzahlungsfähig zu halten. Damit repräsentieren die Direktoren die real existierende Verfaßtheit der postsowjetischen Gesellschaft.
So stehen sich in der „Präsidialstruktur“ zum einen und den „Räten“ zum anderen nicht Marktwirtschaft und Komnandowirtschaft gegenüber, sondern altes und neues Kommandosystem. Das eine, Repräsentiert durch den Kongreß der Deputiuerten ist nach der Liquidierung der Partei wie ein Körper ohne Kopf, das andere wie ein Kopf, dem der Körper fehlt. Die Gefahr besteht nicht, daß Boris Jelzin eine Präsidialdiktatur errichten könnte. Er hat es bereits – nur fehlt ihm der Rückhalt im Volk und es ist zu bezweifeln, daß er das, was er in „500 Tagen“ nicht geschafft hat, nun in 5 Tagen schaffen könnte, wie es in dem neuesten Präsidenten-Dekret vorgekaukelt wird, wo die Wirtschaftsminister aufgefordert werden, innerhalb von fünf Tagen Vorschläge zur Lösung der Krise zu unterbreiten. Selbst das Heer steht nicht zu seinen Diensten. Er kann bestenfalls appellieren, daß es sich zurückhalten möge. Ebensowenig besteht die Gefahr einer Direktoren-Diktatur. Die Direktoren sind auf das Vertrauen ihrer Belegschaften existenziell angewiesen. Die Gefahr liegt in einem Handel zwischen beiden Kommandosystemen, in dem die soziale Kontrolle des einen mit der diktatorischen Exekutivgewalt des anderen auf der Grundlage des „nationalen Konsenses einer großrussischen Politik eine Synthese eingeht, anders gesagt, wenn das alte und das neue Kommandosystem sich verbinden und von der sozialen Schutzfunktion des Kollektivs nur die Kontrolle und von der Privatisierung nur die Rationalisierung und Verelendung der Masse der Bevölkerung übrig bleibt. Dann hat die Bevölkerung nichts mehr zu lachen.
(????)
So ist zu wünschen, daß der angestrebte Konsens von oben nicht zustande kommt, sondern daß das Volk tatsächlich befragt werden muß, und zwar nicht nur mit einem demagogisch benutzten Referendum, sondern indem es seine eigenen sozialen Interessen von unten selbst formuliert.
(????)
Wenn es eine Chance für eine demokratische und friedliche Bewältigung der post-sowjetischen Krise gibt, dann nur als Dialog zwischen den angeblichen Alternativen, nicht als dessen Unterbindung. Nicht Privatisierung oder Kollektivismus, nicht Kollektivismus plus Autokratismus, sondern individuelle und föderative Selbstbestimmung auf der Grundlage der besonderen kollektivistischen Geschichte Rußlands und der Sowjetunion wären der mögliche Weg. Es bleibt zu hoffen, daß auch die westlichen Beobachterinnen und Helfer endlich begreifen, daß man einer tausendjährigen Geschichte Rußlands nicht in einem Jahr, nicht in zwei Jahren und nicht in einer Generation den westlichen Stempel aufdrücken kann und das das auch nicht wünschenswert ist. Demokratie wird sich auch in Rußland nur nur entwickeln können, wenn sie an den Bedingungen des eigenen Landes anknüpft. Was dabei herauskommt, ist offen.

Zurück zum Dorf? Beobachtungen in der ehemaligen Sowjetunion

Vorspann: Die ehemalige Sowjetunion hat sich in die G.U.S. verwandelt. Schon ächzt die russische Föderation in allen Fugen. Weitere Teilungen des früheren Imperiums kündigen sich an. Aber der Wandel geht noch tiefer: Es zerfällt nicht nur das frühere Imperium, es zerfällt auch der Industriegigant, der sich jahrzehntelang als Spitze des Fortschritts verstand. Jetzt sieht man sich an dessen Ende versetzt. Die vermeintliche Bastion des Fortschritts, droht auf das Niveau eines Schwellenlandes wie Argentinien, Brasilien, ja, manche befürchten auf das Niveau von Indien oder darunter zu sinken. Dieser Entwicklung wurde bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. In einer Folge von Beiträgen wollen wir diesen Tatsachen im Lande selber nachgehn.

take 1: Versammlung im MOSSOWJET, Moskau (0,50)
Regie: Langsam hochfahren, einen Moment stehen lassen, dann den Erzähler-Text darüber legen.

Erzähler:   Dezember 1991, Versammlungsaal im MOSSOWJET, dem             Gebäude des Moskauer Stadtparlaments. Eine Gruppe reformlinker Abgeordneter hat öffentlich eingeladen, um über eine Alternative zur Regierungspolitik zu diskutieren. Das Wort bekommt Dr. Andre Kolganom, ein junger Wirtschaftsfachman der Moskauer Universität:

take 2: Rede A. Kolganom  (0,50)

Regie: Einen Moment stehen lassen, dann abblenden, Übersetzung darüber legen.

Übersetzer: „Es besteht die wachsende Gefahr von sozialen             Konflikten in Verbindung mit den bevorstehenden Massenentlassungen. Perspektiven der jetzigen Wirtschaftsreformen entsprechend der Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds sind für uns alle nicht erfreulich. Nach Auffassung des IWF soll sich unser Land auf die Produktion von landwirtschaftlichen Gütern, Rohstoffen und Energieträgern spezialisieren.“

Kommentator: Die Studie des IWF, die einem russischen Publikum             hier erstmals nahegebracht wird, wurde im Februar 1991 von denselben Leuten verfaßt, die wenige Jahre zuvor das sog. Schockprogramm für Polen ausgearbeitet hatten. In ihr wird dargelegt, was die Führer der Sowjetunion zu tun haben, wenn sie die die Unterstützung der internationalen Kapitalorganisationen zu Bewältigung ihrer Krise gewinnen möchten: Zuerst die Preisreform, dann die Privatisierung, danach alles Weitere. Boris Jelzin übernahm die Empfehlungen in seine erste Regierungserklärung. Im März `92 folgte ein „Memorandum“ der Regierung zur Wirtschaftspolitik auf derselben Linie. Im Mai `92 erließ Boris Jelzin Richtlinien zur Umwandlung der Sowchosen und Kolchosen in Aktiengesellschaften und zur Abgabe von Land an private Bauern. Bis Ende 1993 soll dieser Prozess abgeschlossen sein.

Erzähler:  Im Bezirkszentrum Bolotnoje bei Nowosibirksk in             Sibirien erhielt ich einen handfesten Eindruck davon, was das in der Realität bedeutet. Auf einem Gebiet von der Größe Hamburgs ist Bolotnoje Kopf für sechzehn Sowchosen und einige Kolchosen, die ihrerseits je drei bis fünf Dörfer zusammenfassen.
Früher war die Pyramide perfekt: Korn, Fleisch, Milch und sonstige landwirtschaftliche Produkte flossen von den spezialisierten Sowchosen und Kolchosen ins Zentrum, bzw. auch nach Nowosibirsk und von da bis Moskau zur Weiterverarbeitung und zum Verbrauch. Was übrig blieb, fand seinen Weg als Fertigprodukt zurück in den Dorfladen. Den gleichen Weg gingen die Gewinne. Als Budgetzuteilung kam, was nicht in die Zentren abfloß, an die Menschen im Dorf zurück.
Jetzt ist auch in Bolotnoje die neue Zeit angebrochen. In zwei Einheiten habe die Privatisierung schon begonnen, erfahre ich bei Fjodr Soloteika, dem derzeitigen Chef der Landwirtschafts-Verwaltung, die praktisch auch heute noch das landwirtschaftliche Produktions-Monopol innehat. Sehr überzeugt klingt er allerdings nicht:

take 3: Bei der Agrarverwaltung des Bezirks Bolotnoje (1,35)
Regie: Anfahren lassen, dann abblenden und Übersetzung darüberlegen.

Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute etwas             mehr aufzuklären. Offen gesagt, ich glaube, daß wir bei den beiden Gemeinschaften nicht viel erreicht haben. Die Leute haben die Sache nicht wirklich begriffen. Und die Beziehung zur Arbeit ist im Prinzip die alte geblieben. Keiner glaubt daran, daß das jetzt sein Anteil ist, daß er jetzt dort der Herr ist, daß er jetzt irgendein Kapital besitzt. Meiner Meinung nach ist das alles zu schnell gegangen. – Aber Befehl ist Befehl – und den muß man erfüllen…“

Erzähler: Der nächste Weg führt uns zu Wladimir Bachom, dem             Administrator des Bezirks. Er erweist sich als jüngerer dynamischer Mann, früherer Kolchosdirektor. „Natürlich ehemaliger Kommunist“, lacht er. Heute ist er der Arm Jelzins vor Ort, Kopf der Bezirksexekutive und damit verantwortlich für die Durchsetzung der neuen Politik. „Privatisieren, ja, aber bitte nichts forcieren“, ist sein Motto.
take 4: Administrator von Bolotnoje. (1,30)

Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegt laufen lassen.

Übersetzer:  „Ich möchte, daß Sie mich richtig verstehen. Ich bin             dagegen, daß heute Sowchosen und Kolchosen liquidiert werden. Ich spreche für verschiedene Formen des Eigentums. Aber angesichts des Zustands, in dem sich bei uns heute die private Bauernwirtschaft befindet… Also, erstens gibt es von ihnen wenige. Wenn bei uns heute zum Beispiel 200 000 Hektar gepflügt werden, die Farmer davon aber nicht einmal 6000 schaffen, dann muß natürlich heute jeder die Kolchosen und Sowchosen kräftigen und unterstützen.
Und was die soziale Infrastruktur angeht, haben Sie vollkommen recht: Das muß der Staat natürlich auf die Schultern nehmen. Das gilt allgemein. Der Bezirk mit seinem Budjet, also wir, sollten ja Mittel erhalten, Steuern usw. usw., Budgetgelder, Sie verstehen. Aber heute sind die privaten Bauern für die Zeit von fünf Jahren alle von den Steuern befreit. Das heißt, von daher kommt keine Unterstützung. Und wir vom Rayon können nichts geben. Nötig wären Gelder aus dem staatlichen Budget. Subventionen. Nun, heute geht das bei uns noch:  Wir haben die Kindergärten jetzt in unsere Obhut genommen, auch die Schulen haben wir praktisch alle übernommen. Aber allgemein kann man heute die Tenzenz feststellen: In den Bezirken gibt es kein Geld. In den Kolchosen und Sowchosen hat man aufgehört, Geld in diesen Bereich zu stecken. Das bedeutet: Das Leben der Bevölkerung erstarrt.“

Take 5: Im Büro der Sowchose Lebjaschewo (1,30)

Regie: Anlaufen lassen, dann Erzähler-Text darüber

Erzähler: Verwaltungsbüro der Sowchose Lebjaschewo, einer der             Betriebe, in der die Privatisierung schon begonnen hat: Iwan Michailowitsch, Hauptingenieur, also ein Mitglied des Leitungskollektivs, beantwortet die Fragen, was sich seit der Privatisierung bei ihnen verändert habe: Ja, sie hätten mit der Aufteilung der Anteile begonnen, sagt er. Eine Versammlung habe man durchgeführt, eine Aktiengesellschaft begründet. Was das konkret bedeute, könne er nicht sagen. Das verstehe er selber nicht. Man befinde sich in einer Übergangszeit. Die Praxis müsse es zeigen.
Unmißverständlich äußert sich dagegen ein knöteriger alter Sowchosnik, der mir dort im Düro als Mechanisator vorgestellt wird:

take 6:  Mechanisator (1,55)

Regie: Ton voll anfahren, dann runtergehen, der Übersetzung, dann dem Erzähler unterlegen.

Übersetzer: „Wie soll ich sagen, nun, ich habe hier ja schon ein             ganzes Leben hinter mir, siebenundsechzig Jahre. Meiner Meinung nach war das Leben, als wir im Kollektiv waren, besser und freundschaftlicher. Ich sage das geradeheraus. Was haben wir jetzt dafür eingefangen? Wohin gehen wir jetzt? Wofür arbeiten wir jetzt? Was machen wir?“

Erzähler: Eine Illusion sei es, meint er, daß die             Arbeitsmotivation steige. Die privaten Bauern kämen hinten und vorn nicht zurecht: Maschinen zu teuer, Preise für die Produkte zu niedrig. Sie könnten ja kaum sich selbst ernähren. Jeder denke nur noch an sich. Geklaut werde wie nie zuvor. Alle Ordnung drohe sich aufzulösen. Der Maschinenpark zerfalle. Die Straßen und Wege würden zusehends schlechter, die Kantine ebenso. Das habe es in den siebzig Jahren sowjetischer Macht nicht gegeben. „Früher haben wir das alles finanziert“, erklärt er, „das war unsere Arbeit. Die Sowchose war ja für alles verantwortlich. Wer macht das jetzt?“

Take 7: Gebrüder Kelm (2,25)

Regie:    O-Ton Ankunft bei den Brüdern Kelm kurz stehen lassen, dann runterziehen und Kommentar drüber.

Erzähler:    Die Kelms finde ich auf dem Feld. Sie gehören zu             denen, die es gewagt haben. Die Kelms, das sind drei Brüder, ihre Frauen und Kinder. Viktors Frau ist Lehrerin, die Frau Saschas arbeitet bei der Post. „Nur vom Farmereinkommen können wir nicht leben“, erklären sie. Allein komme man schon gar nicht zurecht. Sie bestätigen, was ich schon im Sowchosenbüro gehört habe: Zu teure Kredite, fehlende, zu teure Maschinen; Schwierigkeiten, sich außerhalb der eingefahrenen kollektiven Wege zu bewegen. Die Sowchosenleitung stehe zwar formal hinter der Privatisierung. In der Praxis verweigere aber der erste Ingenieur zum Beispiel die Anlage zum Trocknen des Getreides. „Ohne diese Anlage sind wir aufgeschmissen, da verfault uns das Korn, besonders bei diesem Wetter!“

Kommentator: Für den Verkauf ihrer Produkte gibt es keinen Weg an             der „Agroprom“, der zentralen Landwirtschafts-Verwaltung vorbei. Die neue Organisation „AKor“, „Assoziation der Farmer und Kooperativen“ stellt keine Alternative dar. Sie muß sich selbst der vorhandenen Einrichtungen bedienen – und die sind nun einmal durch und durch kollektiviert, zentralisiert und monoplolisiert.

Erzähler: Von Zusammenarbeit mit anderen privaten Bauern             wollen die Brüder Kelm nichts wissen. „Das gibt nur Streit. Das würde nur die alten Formen wiederholen. Später vielleicht.“ Früher hätten sie in einem der `Kollektive besonderer Intensität‘ gearbeitet, höre ich. „Jetzt probieren wir es eben so!“, lachen sie. „Neue Namen, alte Probleme.“ Die frühere Form, so ihr Urteil, sei effektiver gewesen. Dafür sei man jetzt sein eigener Herr. Einen Weg zurück gebe es nicht. Das sei nur durch Blut möglich. Das ist für sie sicher.

Erzähler: Die Kelms stehen mit ihren Ansichten nicht allein.             Ähnliches hörte ich in weiteren sibirischen Regionen, die ich besuchte, ebenso wie bei Neubauern im Altai oder an der Wolga. Die Unterschiede in der Haltung zur Privatisierung sind groß, aber in einem gleicht sich das Bild überall:
Kommentar: Viele Sowchosen und Kolchosen sind bereits lange             unprofitabel. Die ungleichzeitige Entwicklung der Preise wirft die Landwirtschaft jetzt völlig zu Boden. Während die Preise für Korn, Fleisch, Milch usw. unter die Produktionskosten sinken, steigen zugleich die für Maschinen und sämtliche Güter des täglichen Bedarfs. Selbst in traditonellen Viehaltungsgegenden wie dem Altai wird der Kuhbestand abgebaut, weil die Haltung der Tiere teurer ist als die Einnahmen aus Milch- oder Fleischverkauf. Viele Sowchosen und Kolchosen stehen vor dem Bankrott, noch mehr haben schon seit Monaten keine Löhne gezahlt. Die privaten Bauern andererseits können sich unter diesen Umständen gar nicht erst entwickeln.

Erzähler:Im Bezirkszentrum Zivilski bei Tscheboksary an der             mittleren Wolga bringen zwei Redakteure einer Bezirkszeitung die Entwicklung auf den Punkt:

take 8: O-Ton Regionalredakteure an der Wolga (1,20)
Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegen, Übersetzer drüber.

Übersetzer: „Eigenproduktion an Ort und Stelle wäre nötig: Du             verarbeitest, was Du hervorbringst. Vor Ort müßte das stattfinden. Fleischzentren müßte man vor Ort eröffnen, eine Kwaßanlage, eine Molkerei us. usw. Kleine Anlagen vor Ort. So was hat es ja früher gegeben. Aber heute gibt es das nicht. Nichts ist da. Alles geht nach Tscheboksary, ins Zentrum. Für alles andere fehlt das Geld!“

Erzähler:  In Moskau, wieder im MOSSOWJET, nahm ich an einer             Beratung mehrerer Organisationen zur Agrarfrage teil. Hauptpunkt aller Beiträge war die Forderung der Entwicklung von produktiven und sozialen Infrastrukturen vor Ort. Die Realität aber ist umgekehrt: Die vorhandenen Strukturen werden weiter abgebaut. Für den Aufbau der neuen – fehlt das Geld. Kredite versickern auf ihrem Weg von Moskau zu ihrem potentiellen Empfängern vor Ort in den Amtsstuben der neuen und alten Bürokratie. Aus dem ehemaligen Industriegiganten droht bei Fortsetzung dieses Kurses nicht einmal ein Agrarland, sondern ein nachindustrielles Trümmelfeld zu werden.
*

Von Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

Das neue Rußland: Zwischen Gestern und Morgen. Eindrücke diesseits und jenseits von Moskau.

Rußland, vormals Sowjetunion, Zentrum des euroasiatischen Kontinents: Größtes zusammenhängendes Imperium, das es je auf der Erde gab. Gestern wähnte man sich noch an der Spitze des Fortschritts. Heute sieht man sich ins letzte Glied verwiesen. Ein Menschheitstraum, für viele schon lange ein Albtraum, bricht zusammen: der des totalen Versorgungsstaats. Michail Gorbatschow versuchte, aus dem Niedergang einen neuen sozialistischen Aufbruch zu schmieden. Er mußte den Stab an Boris Jelzin übergeben. Der suchte sein Heil in der Übernahme westlicher Rezepte. Jetzt kämpft auch er um sein politisches Überleben: Nicht mehr die Sowjetunion allein, sondern darüberhinaus das lange gewachsene russische Imperium steht zur Disposition. Neue Kräfte wollen sich entfalten. In den Zentren, nur manchmal sichtbar an Ereignissen wie der Besetzung des Fernsehzentrums am „Ostankino“ in Moskau, sammeln sich dagegen die Mächte der Beharrung und imperialen Rückwendung, die sich ein Euro-Asien, das nicht unter russischer Herrschaft steht, die sich ein Leben nach westlichen Maßstäben nicht vorstellen können und auch nicht wollen. Wie entfaltet sich das Leben zwischen diesen Polen?

take 1:   Demonstration gegen Ryschkow

Regie:        O-Ton Demonstration langsam hochfahren, bis zu
dem Satz: „Jelzin schestzot dnei…“,
einschließlich deutscher Übersetzung, dann Ton
runter, unterlegen.

Erzähler:     Moskau, Sommer 1990. „Rücktritt, Rücktritt,
Rücktritt“ forden die Sprechchöre. 50.000
demonstrieren gegen den damaligen
Ministerpräsidenten Ryschkow, gegen das Zaudern
Gorbatschows, für das 500-Tage-Programm von Boris
Jelzin. Der Unmut ist stark. Die Hoffnungen sind
stärker. Einen Monat später ist Gorbtaschow
abgelöst. Ab jetzt bestimmt Boris Jelzin das Tempo.

Regie:        Nach dem Kommentar Ton hochziehen, dann Schnitt.

Mono, gesamt: 1,20

take 2:       Russ. Arbeiterfront

Regie:        O-Ton hoch anfahren, dann unterlegen, stehen lassen

Erzähler:     Moskau, vier Monate später. Versammlung der
„russischen kommunistischen Arbeiterpartei“ in der
Innenstadt. Die Opposition gegen Boris Jelzin
formiert sich. „Verrat der Geschichte“, „Ausverkauf
an den Westen“, „Knebelung der Opposition“ lauten
die Parolen.
Die Alternativen sind unmißverständlich:

Regie:        Ton anheben bei Stichwort „Alternative“

Übersetzer:   „Die historische Vergangenheit unseres Landes
wiederherstellen.“

Übersetzerin: „Die Sache Stalins fortsetzen“

Übersetzer:   „Stalin war ein großer Mann!“

Regie:        Ton hoch, dann Schnitt
Mono, gesamt: 0,50

take 3: Diskussion vor Metro

Regie:        O-Ton kurz nach Stichwort „Jelzin russki Muschik“                kurz anlaufen lassen, dann unterlegen.

Erzähler:      Moskau, Juni 92. Vor der Metro am „Platz der
Revolution“ gleich neben dem Kreml wird wüst
agitiert. Vor wenigen Tagen hat die Stadt ein
Zeltlager auf dem „Ostankino“ genannten Gelände
gewaltsam räumen lassen. „Patrioten“ und
Altkommunisten hatten dort seit mehreren Wochen
gemeinsam den Eingang zum staatlichen Fernsehen
blockiert, um sich Sendezeiten zu erzwingen.
Auf einer Wandzeitung ist von „sechs Opfern“ der
Räumungsaktion die Rede. Die Formulierung legt
nahe, sie seien tot. Beweise werden nicht genannt.
Einer der umstehenden Verkäufer „patriotischer“
Blätter erklärt:

Mono, gesamt: 1,40

take 4: Patriot

Regie:         O-Ton nur sehr kurz anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer:    „So weit wir wissen, haben sie einen Jungen,
ein Mädchen zusammengeschlagen, eine Frau, einen
Kriegsveteran. Unklar, ob sie überleben. Erst
haben sie mit dem Gummiknuppel zugeschlagen, dann
mit dem Stiefel wie die Faschisten; einem Mann
haben sie die Zeltstangen über dem Kopf
zerbrochen. Eine Frau rief: Warum macht ihr das?
Ihr bringt ihn doch um! So ist das alles
vorgegangen. Andere haben sie weggeschafft. Im
Krankenhaus haben sie die Sache dann
zuendegebracht. Da liegen sie jetzt. Aber man
sagt uns nicht, wo, damit das Volk nichts
erfährt.“

Regie:         Abblenden
Mono, gesamt: 1,00

take 5: Forts. Patriot

Regie:         Verblenden mit take 4, sodaß das Stichwort
„Patriot“ aus take 5 dem folgenden Kommentar vorangeht, den folgenden Text unterlegen.

Erzähler:      Eine Legende wird gestrickt. Nur echte Russen
seien auf dem Platz gewesen, nur Patrioten, nur
solche, die sich gegen den Ausverkauf des Landes
und für die Wiederherstellung der Würde des
russischen Volkes einsetzten.
So eindeutig wie die Opfer, so unmißverständlich
sind die Schuldzuweisungen.

Regie:         Ablenden
Mono, gesamt: 0,45

take 6: Forts. Patriot

Regie:         Verblenden. O-Ton mit Stichwort „Moskau“ hochziehen, dann unterlegen.

Übersetzer:    „Moskau und neuerdings auch Petersburg sind
Brutstätten des Freimaurertums. Hier wird heute
die russische Seele ausgebrannt. Moskau ist nicht
mehr die Haupstadt Rußlands. Hier ist doch nicht
eine Seele mehr Russisch! Der Grund ist: Unsere
Regierung fährt einen parteifeindlichen Kurs.
Voran Jelzin, und immer wieder Jelzin. Glauben
sie mir, Jelzin hat unser Volk von Anfang an
betrogen. Aber das russsische Volk ist sehr
sensibel. Und es liebt es nicht, wenn es
betrogen wird. Warum versteckt man sich?!
Stalin war Georgier, aber mit Stalin ist das
Volk in den Krieg gegangen. Das bedeutet, daß
Stalin die Interessen unseres Volkes in dieser
Periode vertreten hat. Warum kann man nicht sagen:
„Genossen, ich bin Jude? Ich habe zweimal meinen
Namen gewechselt“: Ewkri, Ewklin, und jetzt
Jelzin. Nun was? Wozu die Angst?! Er ist doch
Präsident Rußlands! Er liebt eben die Juden.
Alle wissen doch, daß er die Juden liebt.“

Regie:         O-Ton auslaufen lassen, während der Kommentar
gesprochen wird. Schließen mit Stimmen aus dem                    Volk Stichwort: „Maladez“, „Umni“ etc.

Erzähler:      Die „russische Frage“ erhitzt die Gemüter.

Mono, gesamt: 2,00

take 7 Pater Alexander

Regie:         O-Ton kurz anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer:     „Ich glaube, daß die Kommunisten die
Menschen niemals geachtet haben. Ich glaube, ihr
Ziel war, irgend eine Art Durcheinander zu
provozieren, damit es Opfer, Tote gibt, um einen
Grund für Proteste zu haben, um eine Mehrheit von
Leuten auf ihre Seite zu ziehen. Ich glaube, daß
das antidemokratische Kräfte sind. Wenn sie an
die Macht kommen, erlauben sie keinerlei
Demonstrationen, keine Proteste.“

Regie:         Weiterhin unterlegen, am Ende des Kommentars langsam ausblenden.

Erzähler:       Der so spricht, ist Pater Alexander,
Vorstand der im Wiederaufbau befindlichen „Kirche
der heiligen Cosma und Damjan“ in der Innenstadt,
zugleich demokratischer Abgeordneter des
russischen Parlaments. Pater Alexander bemüht
sich, Demokratie und Widergeburt des Glaubens
durch konkrete Hilfe im Alltag zu verbinden.

Regie: O-Ton weiter unterlegt.
Mono, gesamt: 2,05

take 8: Forts. Pater Alexander

Erzähler:  Aber auch ein Mann wie Pater Alexander kann
sich dem vaterländischen Druck nicht entziehen.
Die Mehrheit seiner Priester-Kollegen, klagt er,
ginge den konservativen Weg. Sie bestünden auf
Altslawisch als Kirchensprache, hätten eine
negative Beziehung zu anderen Konfessionen:

Regie:          O-Ton aus take 7 ausblenden. Mit O-Ton take 8 voll einsetzen, dann unterlegen.

Übersetzer:     Sie stehen den Kommunisten emotional sehr
nahe. Bei den einen wie bei den anderen tritt
im allgemeinen das Verlangen auf, die Menschen
mit Gewalt zu irgendeinem guten Leben zu führen.
Dazu kommt das allgemeine Syndrom der negativen
Beziehung zu den Juden, die Überzeugung, daß die
Welt von der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung
bedroht ist und dergleichen.“

Regie:         O-Ton laufen lassen, unterlegen.

Erzähler:      Mit dieser Kritik steht Pater Alexander in der
Minderheit. Die Konfrontation laufe nicht offen,
erklärt er vorsichtig. Aber Auseinandersetzungen
gebe es, das sei klar.
Am Abend erlebe ich eine Bibelstunde der
Gemeinde. Die Ereignise am Ostankino bestimmen
das Gespräch und auch die inständigen Gebete:
Wiedergeburt der Liebe, statt nationalistischen
Stolzes, erbittet man sich für die Zukunft.

Regie:         O-Ton abblenden
Mono: gesamt 1,00

take 9 Kurgenjan

Erzähler:      Für die zentristische Mehrheit, bei uns hieße
das, für die bürgerliche Mitte, erklärt Sergei
Kurgenjan, was seiner Meinung nach im Lande
vorgeht:

Regie:         O-Ton während des Kommentars anlaufen lassen,
kurz stehen lassen bei der Widerholung von
„Nationalni…“, dann unterlegen.

Übersetzer:    „Nationaler Befreiungskampf! Es läuft der
Kampf zur Befreiung der Nation! Diese Idee des
nationalen Befreiungskampfes darf nur ein Ziel
haben: Die Klique zu stürzen, die an der
Erniedrigung des Landes arbeitet. Diejenigen,
die wissentlich zerstören, zerteilen, auslöschen,
erniedrigen, die muß man entfernten. Alles. Mehr
nicht. Das ist nationaler Befreiungskampf.“

Regie:         O-Ton unterlegt halten.

Erzähler:      Kurgenjan unterhält ein Büro, das sich mit
Entwicklungsmodellen Rußlands befaßt. Er ist
berüchtigt für seine Vorstellung eines
„Korridors“, den Rußland zwischen Kapitalismus
und Kommunismus, zwischen Europa und Asien finden
müsse. Demokraten, Kommunisten und Patrioten will
er auf diesem Weg vereinen. Kurgenjan gilt als
Querdenker. Was andere verschweigen, spricht er
aus. Seine Schriften finden zunehmend Beachtung,
bei Linken wie Rechten.

Mono, gesamt: 1,20

take 10: Forts. Kurgenjan

Regie:         O-Ton hochziehen bei Stichwort „Oni glja
menja…“, dann unterlegen.

Übersetzer:     „Sie sind für mich wie Regen, gut oder
schlecht – das ist objektiv so. Sie sind
Fundamentalisten. Fundamentalisten existieren
nicht, um die Macht zu ergreifen, sondern um der
Macht zu zeigen, wo die Grenzen sind, über die sie
nicht hinauskommen wird. Das Schlimmste ist, wenn
Fundamentalisten die Macht ergreifen, aber noch
schlimmer, wenn sich so ein Verbrechen hält wie
zur Zeit. Sie sollten nicht an die Macht kommen.
Sie sind nicht bereit dafür. Aber wenn sich alles
so entwickelt, daß auf der einen Seite die
Fundamentalisten und auf der anderen diese
verbrecherische Clique steht, dann endet das
früher oder später damit, daß die Fundamentalisten
die Macht ergreifen.
Das wird nicht gut sein, Sie verstehen, aber
doch besser als mit den anderen.“

Regie:         Mit O-Ton auslaufen lassen, ohne abzublenden.

Mono, gesamt: 1,00

take 11: „Maxim singt… “

Regie:         O-Ton langsam einspielen, evtl. später in den take
reingehen (wo der Gesang stärker ist), dann
unterlegen undwährend der ganten folgenden Szene
unterlegt stehen lassen.

Erzähler:      Eintausend Kilometer weiter östlich:
Mitglieder einer ornitologischen Jugendgruppe
„Kanasch“, Wildhuhn, versammeln sich um das
abendliche Feuer. Sie haben ihr Expeditionscamp
in einem ehemaligen Pionierlager am Ufer der Wolga
aufgeschlagen. Die meisten kommen aus
Tscheboksary, Hauptstadt der tschuwaschischen
Republik, eine der sechs ethnisch geprägten
autonomen Republiken der früheren UdSSR an der
mittleren Wolga. Maxim besingt den Aufbruch in die
Ferne, den Wind, den Regen, schnelle Züge,
vorbeifliegende Landstraßen, Jugend und Liebe.
Die Jugendlichen erzählen, warum sie in der
Gruppe arbeiten.

Stereo, gesamt: 3,20

take 12 Gruppe „Karnasch“

Regie:         Mit take 11 verblenden. O-Ton-Mädchenstimme mit
seinen ersten Worten voll anfahren, dann
zurücknehmen. Darauf Kommentar.

Erzähler:      „Die lebenden Vögel Tschuwaschiens sind wenig
bekannt“, sagt ein Mädchen. Früher sei es ja schwierig
gewesen, sich mit Vogelkunde zu beschäftigen. „Mit
unserer Arbeit“, meint sie „machen wir einen
Anfang.“
„Damit die Leute bescheidwissen“, erklärt ein
Junge die Motive der Gruppe. „Auch die Kinder. Die
Kleinen, kommen und fragen: Was ist das für ein
Vogel? Was ist das für ein Schmetterling? Da könne                er ihnen alles erzählen, alles über die                Schmetterlinge zeigen.

Stereo, gesamt: 0,50

take 13: Kinder-Öko-Lager

Regie          Verblenden, langsam hochfahren bis zum Stichwort:
„Suda iditje!“ Lachen, Aufregung, Stühlerücken;
dann unterlegen.

Erzähler:  Wieder an der Wolga. Wenige Tage später. Wieder in
einem ehemaligen Pioniercamp. „Kommt näher“, ruft
eine Frau. Gut hundert Kinder haben sich drei
Wochen lang mit Umwelt-Fragen beschäftigt. Heute
ist ihr letzter Tag und heute haben sie die
Vertreter des erst vor einem Jahr gegründeten
Ministeriums für Ökologie zu sich eingeladen.

Regie:         Runtergeblendet stehen lassen.

stereo, gesamt: 1,00

take 14:       Forts. Öko-Lager

Regie:         Verblenden mit take 13, O-Ton aus dem Beifall
vorlaufen lassen. Dann unterlegen.

Erzähler:      Hat es euch gefallen? fragt die Leiterin.

Regie:         Zu hören ist der Chor der Kinderstimmen „Ja!“
Noch mal O-Ton hoch, dann wieder unterlegen.

Übersetzerin:  Ihr wißt jetzt, denke ich, mehr über die gefahren, die unserer Natur heute drohen. Was
ich noch sagen möchte: Sehr lange hat man uns für das
Kollektiv erzogen, daß wir alle zusammen eine
Gruppe, eine Kette der Pioniere bilden müssen, daß wir alle wir einer sind.
Ich glaube aber, daß man an
erster Stelle daran denken muß: Von Dir persönlich
hängt es ab, dies oder das zu tun – und soweit es das
Umwelt-Lager betrifft: von dir Peter, von
dir Swjeta, ob unsere Erde sauberer wird, ob
unser Himmel blauber wird. Wenn ihr das versteht
und euch selbst bemüht, wenn ihr das wißt, dann
bringt eure Sache und die Sache eurer Freunde
bestimmt Nutzen.
Ich will nicht länger reden. Ich möchte nur,
Kinder, daß ihr, wenn ihr in die Schule kommt,
unbedingt von diesem Lager erzählt. Und denkt
auch an das, was uns Olga Georgina vom
Ministerium für Ökologie heut erzählt hat, daß
wir in Zukunft helfen, nein, nicht nur helfen,
sondern selbst an unserem Boden arbeiten, weil wir
ja darauf leben müssen.“

Regie          Beifall, Lachen, nach dem Lachen ausblenden.

stereo, gesamt: 2,40

Take 15: Bauernversammlung

Regie:         Rede langsam anlaufen lassen, dann unterlegen

Erzähler:      Versammlung der Bauernunion im
Gewerkschaftshaus von Tscheboksary. Raissa Sarbi,
leitendes Mitglied des tschuwaschischen
Kulturzentrums, Nationaldichterin, Herausgeberin
einer Kinder- und einer Frauenzeitung in
tschuwaschischer Sprache und mögliche Kandidaten
für die Wahlen zu einem tschuwaschischen
Staatspräsidenten hat mich hierher geführt. Sie
will mir das tschuwaschische Dorfleben zeigen.
Hier, wo heute die Direktoren aller Sowchosen
und Kolchosen der Republik zusammengekommen sind,
sei am ehesten eine Ausflugsgelegenheit aufs Land
zu organisieren, meint sie. Eine Stunde später
sind wir unterwegs.

Regie:         Abblenden
stereo, gesamt: 0,40

take 16: Fahrt im Auto

Regie:         O-Ton voll anlaufen lassen, dann unterlegen

Erzähler:      Alexei Nekifirowitsch, Direktor der Kolchose
Oraschai, der uns mitgenommen hat, spricht über
die morgendliche Versammlung. Es gehe darum, wie
man die Bauern schützen könne, sagt er. Das
mittlere Einkommen der Landarbeiter in
Tschuwaschien liege fünf mal unter dem der
Industriearbeiter, erfahre ich. Der Verkaufspreis
für die Milch, Fleisch und andere
landwirtschaftliche Produkte liege weit über dem,
den man den Kolchosen und Sowchosen zahle. Das
stehe in keinem Verhältnis mehr zu den
Lebenskosten. Vor einem Jahr sei deswegen die
Bauernunion enstanden.

Regie:         Wenn der O-Ton „Fahrer“ beim Stichwort „Tscheres
etot sojus…“ steht, dann:

Erzähler       In der Union führen sie die Interessen der
Bauern zusammen, erklärt unser Fahrer. Sonst
begreife sie ja keiner. Sogar, die, die vom Lande
kämen und jetzt in der Verwaltung arbeiteten, also
die Sowjetminister, der oberste Sowjet, sogar die
Abgeordneten direkt aus der tiefsten Provinz
wollten die Schwierigkeiten der Bauern nicht
begreifen.

Regie:         Wenn der O-Ton bei der Frauenstimme angekommen
ist, dann:

Erzähler:      „Aufsteiger, aus der Gosse in den Palast“,
ergänzt Raissa.

Regie:         O-Ton- Fahrer beim Stichwort „Da, eto…“

Erzähler:      „Ja, das ist das Erschreckendste“, bestätigt
Alexei Nekifirowitsch. Der einzige Weg, sich zu
schützen, könne jetzt nur sein, daß die Bauern
selber die Bauern verteidigten. Deswegen könne
die Union, das Streikomitee sich vielleicht sogar
zu einer politischen Organisation entwickeln,
zu einer Art Partei.

Die Gegenseite sei ja zu keinem Kompromiß bereit,
fügt er hinzu. Aber jetzt gehe es darum, denen da
oben zu zeigen, daß man mit den Bauern nicht
alles machen könne.

Regie:         Mit Musik aus dem Radio abblenden

stereo. gesamt: 2,25

take 17: Ankunft bei Raissas Eltern

Regie:         Kommen lassen bis zum Stichwort:
„Hoi rabotschiki…!“, kurz stehen lassen, dann                unterlegen.

Erzähler:      Ankunft in Norwasch-Schigali. Die Begrüßung
gilt Vater und Mutter Raissas, die hier leben.
Ein kleines Holzhaus im Blockstil, ein paar
angeflickte Schuppen, ein Garten, das ist ihr
ganzes Anwesen.

Regie:         Verblenden
stereo, gesamt: 0,15

take 18:       O-Ton-Garten

Regie:         Verblenden, kurz anlaufen lasen, dann unterlegen.

Erzähler:      Der Vater führt uns zuerst in den Garten. Drei
Sorten Äpfel gäbe es, erkärt er. Dann zeigt er
Gemüse, Tomaten, Erdberen, Kartoffeln, Salat,
Kohl. Tierhaltung gibt es nicht. Dazu reiche die
Arbeitskraft nicht mehr, meint er bedauernd, und
die jungen Leute seien zu selten daheim. Wie das
wohl werden solle.

Regie:         Verblenden
stereo, gesamt: 0,45

Take 19: O- Ton Haus

Regie:         Verblenden, kurz anlaufen lassen, dann unterlegen.

Erzähler:      Im Hause ist es eng. Wie überall in russischen
Wohnungen läuft der Fernseher, wenn Gäste kommen.
Ein Geschenk der Kinder, erklärt der Vater,
nachdem sie in die Stadt gezogen seien. Die Mutter
hat Brot und Tee hingestellt. Raissa und ihr Vater
widersprechen dem allgemeinen Eindruck, daß nur
alte Leute auf dem Dorfe wohnten.

Regie:         Verblenden
stereo, gesamt: 0,40

take 20: O-Ton Raissa, Stichwort: „Njet, Njet…

Regie:         O-Ton hoch, dann unterlegen

Übersetzung:  „Nein, nein, in unserem Dorf sind sehr viele
junge Leute. Unser Dorf ist groß, sechhundert
Höfe. Jetzt haben sie gerade einen Weg angelegt.
Ein Weg hat eine riesige Bedeutung. Wenn man sich
einen Weg leistet, dann bleiben die jungen Leute
im Dorf. Siehst Du, da bauen sie schon drei
Häuser! Wer so ein riesiges Haus baut, geht
nirgendwo mehr hin. Ich möchte zu gern, daß hier
noch mehr gebaut wird. Der Platz ist schön.
Gärten gibt es, Gemüsebete, das Wasser ist gut.“

Erzähler:      Auf dem Dorf könne man besser leben als in
der Stadt, schließt Raissa.

Regie:         Schnitt, verblenden: O-Ton „Vater singt“ mit
seiner Ankündigung kommen lassen.

stereo, gesamt: 0,40

take 21: Vater singt

Regie:         Lied anlaufen lassen, kurz allein stehen lassen,                dann für die takes 22, 23 und 24 unterlegt stehen                lassen.

Erzähler:      Zur Bekräftigung hat der Vater inzwischen ein
Instrument hervorgeholt, das an eine Ballalaika                erinnert, und beginnt leise zu spielen. Raissa                erzählt von der tschuwaschischen Wiedergeburt:
stereo, gesamt: 4,50

take 22: O-Ton Raissa

Regie:         „Vater singt“ stehen lassen.
Darauf den O-Ton anfahren. Dann O-Ton auch
runterziehen. Darauf Übersetzung.

Übersetzung:   „Wenn ich mich plötzlich entscheiden würde,
Präsidentin zu werden, wenn ich mich doch zu den
Wahlen stellen sollte, würde ich meine
Aufmerksamkeit in aller erster Linie auf das Dorf
richten: Damit die Leute dort besser leben
könnten, damit sie anständige Bedingungen hätten,
Spezial-Kleidung; jedes Dort müßte sich mit
Straßenbau beschäftigen, in jedem Dorf müßte ein
eigenes kleines Unternehmen sein, damit die
Gemeinde gut vorankommt. Jedes Dorf hat ja seine
eigenen Bedingungen: Hier gibt es einen kleinen
Fluß, der eine Mühle treibt; ein anderes Dorf kann
in ihrem Fluß Fische züchten, wieder andere können
Hopfen anbauen. Die Dörfer können miteinander
kooperieren, gegenseitig mit ihren Produkten
Handel treiben. Vor allem aber müssen Straßen
gebaut werden! Die Dörfer sollten außerdem
unbedingt ihre eigene Energieversorgung haben.
Es gibt doch kleine Flüsse! Da kann man kleine
Stauwerke bauen. Ich war in Japan. Mein Gott, die
Japaner sind toll! Sie haben keine
Wasserkraftwerke. Die Flüsse dort führen nur
niedriges Wasser. Da gibt es in jedem Haus eine
eigene Sonnenergenie-Anlage. So kann man es
machen. Jedes Dorf kann es so machen, daß kleine
Anlagen für ein, zwei oder drei Häuser Energie
geben. Darauf würde ich in erster Linie meine
Gedanken richten.“

Regie:         O-Ton „Vater singt“ aus take 20 weiter
unterlegt halten.

Erzähler:      Im Winter, schwärmt Raissa, könnten die
tschuwaschischen Frauen, die, wie sie sich
ausdrückt, einfach nicht still sitzen mögen, in
den Kolchosen Hüte, Söckchen, Handschuhe und
andere typische tschuwaschische Näh- und
Stickarbeiten produzieren. Sie sehe bei ihren
Auslandsreisen doch, wie beliebt tschuwaschische
Volkskunst sei. Die Dörfer könnte man für den
Tourismus ausbauen.

mono, gesamt: 2,00

take 23:       Forts. Raissa

Regie:         O-Ton „Vater singt“ weiter
unterlegt, darauf O-Ton Raissa „Wot u nas..“
anlaufen lassen, dann runterfahren. Darauf
Übersetzung.

Übersetzerin:  „Bei uns gibt es keine Bodenschätze, Land
gibt es wenig, die Bevölkerungsdichte ist bei uns
größer als sonstwo in der Welt. Deshalb ist es nur                die Exotik, von der wir heute leben können.
Man muß sich um den Tourismus kümmern. Die
Menschen müssen mehr darauf aufmerksam gemacht
werden, was für ein interessantes und besonderes
Volk die Tschuwaschen sind, das kennenzulernen
sich lohnt. Dazu kommt, daß wir Nachkommen der
Sumerer sind, ein Volk, von dem man glaubte, daß
es untergegangen sei. Nun zeigt sich plötzlich,
daß wir genau diese Sumerer sind. Auf dieser
Grundlage können wir das Leben unseres Volkes
weiterführen. Jetzt leben wir ja im russischen
Staat, abhängig von den Russen. Sechzig oder
siebzig Prozent der Produkte gehen nach Rußland
weg. Nichts bleibt. Deshalb wollen einige unserer
jungen Leute die Selbstständigkeit. Allerdings
wissen sie selbst nicht, wie man dann überleben
kann. Einige möchten das frühere „große Bulgarstan“
wieder reorganisieren. Das bedeutet, sich mit den
Tataren zu vereinigen.“

Regie:         O-Ton „Vater singt“ bleibt unterlegt.

Erzähler:      So lande man, schließt Raissa, am Ende
unvermeidlich bei der Politik. Aber ohne Politik
komme man in der gegenwärtigen Zeit einfach nicht
durch. Noch weniger allerdings ohne Glauben.

mono, gesamt: 1,30

take 24: Forts. Raissa

Regie:         „Vater singt“ weiter unterlegt, O- Ton- Raissa mit
Stichwort „A ja nje chotschu.. anfahren, dann
runterblenden; darauf Übersetzerin.

Übersetzerin:  „Ich will nicht, daß nach mir die Sintflut
kommt. Ich will, daß man nach mir auch lebt. Ich
schreibe, damit auch meine Kinder, meine Enkel und
Urenkel und ihre Freunde meine Gedichte lesen. Die
Menschen wissen nicht, daß sie unsterblich sind.
Sie denken: Nun, wir genießen unser Leben, wir
sterben, egal, was dann kommt. Viele leben so.
Aber ich will in unserer Zeitung davon erzählen,
daß wir selbst zu unseren zukünftigen Enkeln, zu
unserer zukünftigen Generationen zurückkehren
werden. Wir selbst werden leben, in hundert
Jahren, in zweihundert Jahren. Jetzt verdammen wir
alles, sagen, nun, früher haben wir gute Luft
geatmet. Jetzt hat man die Luft verdorben, das
Wasser vergiftet. Wir schimpfen. Aber wen müssen
wir beschimpfen? Mir müssen uns selbst
beschimpfen. Denn wir, unsere Seele lebte auch
schon vor hundert, vor zweihundert Jahren. Der
Mensch wird siebenhundertsiebenundsiebzig Mal
wiedergeboren. Und ich glaube, daß man den
Menschen in eingänglicher, einfacher, menschlicher
Sprache erklären muß, daß wir unsterblich sind und
daß jeder Mensch für das Leben, für die
Vergangenheit und die Zukunft
verantwortlich ist.“

Regie:         O-Ton „Vater singt“ abblenden, sodaß er mit
take 25 neu ansetzt.

mono, gesamt: 1,20

take 25:       O-Ton „Vater singt“ verblenden. Kurz stehen
lassen, wo das Kinderlied erkennbar wird und
Raissa einsteigt, kurz stehenlassen, dann
zurückfahren.

Erzähler:      Mit einem tschuwaschischen Kinderlied entläßt
uns der Alte wieder in die Stadt.

Regie:         Kinderlied ausblenden.
stereo, gesamt: 1,05

take 26: Kolchose Jangartschina

Regie:         O-Ton sehr kurz kommen lassen, evtl. später
einsteigen, schwach unterlegen.

Erzähler:      Das Tschuwaschische Kulturzentrum im Einsatz.
Im großen Saal der Kolchose Jangartschina werden
Bilder ausgestellt, Vortäge über die
tschuwaschische Geschichte gehalten. Zehn Leute
sind in einem Kleinbus angereist. Soeben rezitiert
Raissa Sarbi für die Schulkinder der Kolchose aus
ihren Gedichten.
Ich suche den Direktor der Kolchose in seinem
Büro auf. Die Kolchose, einst sehr ertragreich,
stehe vor dem Bankrott, erklärt er. Er überlege
schon, sich selbständig zu machen. Eine
Tonaufzeichnung will er nicht zulassen.
Im kolchoseigenen Jeep läßt er mich dann aber
zu dem ersten und einzigen Privatbauern fahren,
den es in den drei Orten der Kolchose gibt. Der
Bauer ist nicht zuhause. Seine Frau klagt über
mangelnde Technik, fehlende Unterstützung, über
das Unverständnis der Nachbarn. Auch sie will
keine Aufzeichnungen.
Dafür komme ich mit Nachbarn darüber ins
Gespräch, was sie von Privatbauern halten:

mono, gesamt: 0,35

take 27:  Nachbarn im Dorf

Regie:         O-Ton anspielen, dann unterlegen.

Erzähler:      Wir wollen kein Land kaufen, sagt dieser Mann.
Bei ihnen gebe es das Kollektiv, die Sowchose.
Könne er denn allein das Land bearbeiten?
Kollektiv müsse man arbeiten. Nur dann ginge es.
Ich bin für das Kollektiv, schließt er.

Ein anderer Alter begründet, warum die
Dorfversammlung einem Antragsteller kein Land
geben will.

Regie:         O-Ton zum Stichwort „Sa Kollektiv“ wieder
hochziehen. Hochgezogen beim Stichwort „On suda
prijesch…“ zum nächsten Alten übergehen, dann
unterlegen.

Erzähler:      Das ist ein Zugereister, erklärt er. Der habe
sich am Ort vorher nie gezeigt. Woher solle man
wissen, daß er überhaupt richtig arbeiten könne?
Blender und Betrüger, höre ich später, liebe man
auf dem Dorfe nicht. Das Mißtrauen gegen die
Fremden aus der Stadt ist groß. Gerade heute wird
es dadurch vertieft, wird es, daß viele
Städter nur mit dem Boden spekulieren, aber nicht
wirklich auf dem Land leben und arbeiten wollen.

mono, gesamt: 1,20

take 28: Kolchose Jangartscha: Abschiedsgesang

Regie:         O-Ton Gesang mit take 27 verblenden, langsam
kommen lassen, dann unterlegen.

Erzähler       Verabschiedung im Büro der Kolchose. Der Direktor
verteilt Äpfel und reicht das Gemeinschaftsglas
herum, aus dem er jedem neu einschenkt. Wodka,
natürlich. Auch die Frauen müssen mithalten.
Hier will man sich nicht auf die neuen
individualistischen Sitten einlassen. Das gilt
auch für die Mitglieder des Kulturzentrums. Im
Gegenteil: Tschuwaschische Widergeburt – das ist
Wiedergeburt des eigenen Kollektivs, der eigenen
Tradition, des eigenen Volkes, während der
Staatskollektivismus zerfällt.

Regie:         O-Ton Gesang nochmal kommen lassen, dann
ausblenden.
mono. gesamt: 1,20

take 29: Sowchose Morskoje:

Regie:         O-Ton-Fahrt hart beginnen, dann unterlegen.

Erzähler:      Noch weiter im Osten: Sibirien, 50 Kilometer
vor Nowosibirsk. Unterwegs auf dem Gebiet der
Sowchose Morskoje am Ufer des „obschen Meeres“.
So heißt hier der auf gewaltiger Fläche gestaute
Ob. Juri Gorbatschew, ein Dichter-Journalist aus
der Stadt, spezialisiert auf die Agrarfrage, hat
mich hinausgeführt. Der kolchoseneigene
Geländewagen quält sich über die im Schlamm
früherer Tage ausgefahrenen, inzwischen hart
gewordenen Wege. Nach dem Besuch im Büro ist
unser Ziel jetzt die Gemüsebrigade auf dem Feld.
Links und rechts am Weg tauchen neue Häuser und
Baustellen auf. Privatbauern, sagt man mir. Sie
wohnen im Dorf, aber bauen draußen.
Heute zählt man in Morskoje 19 „bäuerliche
Wirtschaften“, also private Bauern. Die Größe der
Höfe variiert zwischen vier und fünfundreißig
Hektar. Von den neunzehn Privatbauern sind sechs
ehemalige leitende Funktionäre der Sowchose.
Weitere fünf sind immer noch leitende Personen
der Stadtverwaltung, die meisten aus dem
agrarwissenschaftlichen Institut.
Fast 3000 Menschen wohnen in der Sowchose. 500
von ihnen arbeiten dort, noch einmal soviel
arbeiten in der Stadt. Der Rest sind Arbeitslose,
Pensionäre und Kinder.
Morskoje war früher eine Mustersowchose. Über
der Eingangstür hängt auch heut noch die Parole:
„Das leben ist ein wirtschaftliches Experiment.“
„Unser neuestes Experiment ist die
Privatisierung“, hat man mir lachend erklärt.
Die Ernte werde zeigen, ob man es fortsetzen
könne.

Regie:         O-Ton-Fahrt hochziehen und – sehr knapp –
Verblenden mit O-Ton Ankunft, so daß das Anfahren
und Aussteigen zu erkennen ist und erste Sätze
fallen.

stereo, gesamt:2,35

take 30: Brigade, Ankunft

Regie:         Verblenden mit take 29, so daß O-Ton take 30 mit
Ankunft (Türenschlagen) beginnt. Nach den
ersten Sätzen der Frauen langsam runterfahren und
Kommentar darüber legen.

Erzähler:      Waldrand. Mittagspause. Die Brigademitglieder
lösen sich aus den Gruppen, in denen sie lagern
und kommen näher. Presse! ruft mein Begleiter. Die
Neugier ist groß, zumal dem Besucher aus
Deutschland gegenüber.
„Bei euch glaubt man ja nicht wie wir hier
leben“, werde wir empfangen. Hier hat sich nichts
verändert, erzählen die Frauen. Nur das Geld werde
jeden Tag weniger. Für das wenige könne man zudem
noch weniger kaufen.

Regie:     Nach dem Kommentar O-Ton kurz wieder hockommen lassen.

stereo, gesamt: 1,40

take 31: Gemüsebrigade

Regie:         Verblenden, O-Ton take 31 bei Stichwort „Jesli…“
hochfahren, kurz stehen lassen, dann unterlegen.
Der Erzähler begleitet das Geschehen.

Erzähler:      Zur Privatisierung hat man in dieser Runde
eine unmißverständliche Meinung.
„Nicht interessant,“ heißt es.
„Wer alles hat, für den ist es interessant“, wirft
ein Mann ein.

Regie:         Bei O-Ton-Position: Frauenstimme, Stichwort: „Na, glja…“

Erzähler:       „Interessant für Leute wie ihren früheren
Direktor“, erklärt diese Frau. Der habe
Traktoren. Der habe alles. Der kleine Lohn
dagegen, den sie mit ihrer Familie habe, gehe
allein schon für Fleisch, Brot und Butter weg.
Mehr liege nicht drin. Eine Melone für das Kind
könnten sie sich schon nicht mehr leisten.

Regie:         Position: Nach dem Chor der Frauenstimmen.

Erzähler:      Ein Mann hat gefragt, wie es mit der Kleidung
steht. Die Frage ruft helle Empörung hevor. „Mein
Mädchen trägt schon alles bis zum letzten“, sagt
diese Frau. Ein einfacher Sportanzug koste im
Kaufhaus heute soviel, wie sie im Monat verdiene.
Wenn sie so einen Anzug kaufe, dann müsse sie
einen Monat hungern. Da sei es schon schon gut,
wenn sie wenigstens ihre Kartoffeln im Garten
habe. Gut, daß ihre Mutter gleich gegenüber wohne.
Die gebe ihr ein paar Kartoffeln, ein Hühnchen,
wenn sie das habe. „Aber was wäre, bitte sehr“,
fragt sie, „wenn Mama nicht wäre, wie das hier
bei einigen ist. Wer ernährt die? Niemand!“

Regie:         Bei O-Ton-Position: „opjat sche…“

Erzähler:      Die Ablehung des privaten Weges ist nicht
grundsätzlich. „Natürlich wäre er interessant“,
sagt diese Frau. Wenn sie früher Geld
genug zusammengekriegt hätte! Dann wäre jetzt
alles möglich. „Dann könnte ich Technik kaufen“,
sagt sie. „Dann könnte ich alles kaufen, was ich
brauche, um den Boden in Pacht zu nehmen. „Klar“,
sagt sie, „dafür werde ich mich abmühen, dafür
werde ich arbeiten. Klar, ein solches Leben wäre
für mich interessant. Aber wenn ich jetzt
rausgehe, habe ich nicht eine einzige Kopeke für
mich selbst. Ich kann nicht einmal selbst von dem
Geld existieren.“
„Ohne Geld ist der private Weg
einfach beängstigend“, sagen die Frauen.
Selbst mit Geld sei die Angst vor dem eigenen
Weg groß. Nicht jeder könne den Mut haben!

Regie:         Bei O-Ton-Position Dialog von Frauen- und
Männerstimmen, Lachen Ton noch. Danach wieder
zurückgenommen, unterlegt.

Erzähler:      „Kein sozialer Schutz, kein Geld, keine Technik“
faßt ein Mann die Situation zu sammen.
„Und Waffen geben sie auch nicht“ witzelt ein
anderer von der Seite.
Das Mißtrauen ist groß:
Die Zeit werde es  zeigen, ergänzt die Frau.

Erzähler:      „Wer jetzt aus der Sowchose austritt“ erklärt
ein junger Mann, „dem geht es wie 1924. Da wird
wieder entkulakisiert. Die sowjetische Macht ist
kaputt; der Regierung kann man nicht glauben.
Heute sagen sie das, morgen wieder was anderes.“

Regie:         Nach take 31 verblenden

stereo, gesamt: 2,55

take 32: Forts. Gruppe

Regie:         Verblenden, mit O-Ton: „Plocha mi schiwjom…“
hochfahren, dann unterlegen unterlegen.

Erzähler:      Sehnsüchtig erinnert man sich an früher:
Früher war nicht nur bei uns alles besser, sagt
diese Frau unter allgemeinem beifall. Allgemein,
überall in Rußland sei es viel besser gewesen. Die
Preise seien akzeptabel gewesen. Obwohl sie wenig
verdient hätten, habe es doch in den Geschäften
alles gegeben. „Bei uns“, sagt sie, „gab es immer
Butter, Wurst und Milchpulver. Jetzt gibt es in
unseren Geschäften und Haushaltsläden weder Milch,
noch Milchpulver. Im Laden gibt es seit Tagen
weder Milch, noch Fleisch, noch sonst
irgendetwas.“

Regie:         Verblenden mit take 33

stereo, gesamt: 0,45

take 33: Forts. Gruppe

Regie:         Verblenden, O-Ton langsam anlassen.

Erzähler       Was erwartet man von der Zukunft?

Regie:         O-Ton zum dem Stimmenchor  hochziehen, dann Ton
zurück.

Erzähler       Mehr Geld, gesunde Kinder, keinen Hunger, wünscht
diese Frau. Und Frieden, selbstverständlich, rufen
die anderen. Das sei das allerwichtigste.

stereo, gesamt: 0,30

take 34: Bauer

Regie:         O-Ton langsam kommen lassen bis zum Abstellen des
TV, dann unterlegen.

Erzähler:      Zu Besusch bei Familie Gorbatski. Die Gorbatskis
gehören zu denen, die es gewagt haben. Fjodr
Gorbatski war früher Traktorist auf der Sowchose.
Seine Frau war Melkerin. Wie fühlen sie sich als
selbstständiger Bauer?

Regie:         O-Ton hochziehen zum Stichwort: „Da, fermer
schtscho daleko…“

Übersetzer:    „Ja, was heißt Bauer? Bauer, das ist noch
weit! Das ist erreicht, wenn alles Nötige
irgendwie zusammenläuft. Jetzt – quälen wir uns
eher ab. Schwierig ist es! Gerade eben bin ich
bei der Stadtverwaltung in Novosibirsk gewesen,
um mir noch einige Hektar überschreiben zu lassen.
Ich habe ja meinen ganzen Boden schon bearbeitet.
Ich ging zur Bank, wollte einen Ergänzungskredit
erwirken, um Technik zu kaufen. Es ist ja alles
sehr teuer. Um mein Land rechtzeitig zum Winter
umzupflügen, muß ich einen Traktor mit Ketten
kaufen. Aber sie geben kein Geld.“

Erzähler:      Der junge Bauer erzählt, wie er von einer
Stelle zur nächsten geschickt wird: Zuerst muß er
überhaupt einen Traktor finden, den man kaufen
kann. Das ist bereits fast unmöglich. Kleine
Traktoren sind absolute Defizitware. Als er aber
endlich einen unterschriftreifen Kaufvertrag hat,
schickt ihn die städtische Kreditstelle zur
bezirklichen, die bezirkliche zurück zur
städtischen.
Es fehlen Kenntnisse. Es fehlen Möglichkeiten
der Weiterverarbeitung. Die Abhängigkeit von der
Sowchose ist hundertprozentig. Ihr Direktor hilft
nicht, er behindert auch noch, läßt ihn zum
Beispiel nicht an den Saattrockner heran. Die
Nachbarn sind mißtrauisch. Im günstigsten Fall
belächeln sie die jungen Leute. Andere tuschenln
über „neue Kulaken“. „Was werden soll, wenn es so
weitergeht“, sagt der junge Neubauer, wisse er
nicht.
Aufgeben wollen die beiden aber keinesfalls.

Regie:         O-Ton abgeblendet stehen lassen.

stereo, gesamt: 1,50

Take 35 Bäuerin

Regie:         O-Ton Bäuerin mit take 34 verblenden, einen Moment
laufen lassen. Dann unterlegen.

Übersetzerin: „Das Leben ist aber besser geworden“,
sagt die junge Frau. „Auch im Moralischen Sinn. Man hat
niemanden über dem Kopf, man ist selbst
verantwortlich für das, was man tut. Was morgen
wird, ist unsere Sache. Man hängt von niemanden
ab, das ist natürlich schon eine Freiheit! Für uns
ist das Leben interessanter geworden, je länger,
desto besser, wenn Du für dein Interesse
arbeitest! Als mein Mann als Chauffeur gearbeitet hat,
mußte er machen, was der Chef sagt. Der Lohn war
niedrig. Jetzt weiß man selbst am besten, wo etwas
profitabel ist. Natürlich ist das interessanter.“

Regie:         O-Ton mit take 36, Hundegebell. verblenden

stereo, gesamt: 0,40

take 36: Hundegebell

Regie:         O-Ton mit take 35 verblenden und dann ausblenden.

stereo, gesamt: 0,10

take 37 Chemie-Kombinat:

Regie:         O-Ton Fabriklärm langsam hochfahren, dann
unterlegen.

Erzähler:      Zellfaser-Konzern in Baikalsk am Baikal-see.
Für 9000 Rubel leisten Frauen hier Schwerstarbeit.
Dreischichtbetrieb. Wegen der Nässe in
Gummistiefeln.
„Sogar unser Chef sagt immer, daß Frauen hier
nicht arbeiten sollten“, klagt die Kollegin. „Wenn
es einen Ort gäbe, den man finden könnte, wo die
Arbeit einem mehr geben würde und vor allem
leichter wäre, dann wäre es besser, hier fortzugehen
und nicht weiter hierzu arbeiten.“
Aber wohin? fragt sie. Der Lohn sei überall
niedriger.
Die Wahl ist nicht groß, sagt die andere Frau.
Die Plätze sind begrenzt. Fürs Krankenhaus, für
die Kantine, überall werde eine Ausbildung
gefordert.

Regie:         O-Ton höher nach Stichwort: „Esli wi dumaitje…,
dann unterlegen.

Erzähler:      Die Frauen wissen, daß das Kombinat den Baikalsee
vergiftet. Von seiner Schließung halten sie jedoch
nichts.

Übersetzerin: „Wo sollen wir arbeiten?“, sagt die Frau.“ Bei
so vielen Leuten, die hier in der Fabrik
beschäftigt sind?
„Wie soll ich es ihnen erklären? Man hat uns die
Arbeit gegeben. Wir arbeiten. Man hat uns
eingestellt. Wir arbeiten. Man schließt die
Fabrik, gut, also schließen. Dann muß man uns eine
neue Arbeit geben. Das liegt nicht in unserer
Macht.“

Regie:         O-Ton Fabrik im Hintergrund auslaufen, verblenden
mit take 36

Erzähler:      Mehr als 20.000 Menschen leben von dem Betrieb,
die ganze Stadt Baikalsk. Es gibt keine
Alternative. Ein großer Teil der Belegschaft
eträgt das Leben nur mit Alkohol. Alle zwei Jahre
übernimmt ein neuer Direktor den Betrieb.
Vor der Fräserei treffe ich auf den
Betriebselektriker Gawaleri Antonin. Er ist schon
Pensionär, aber noch bei der Arbeit, weil die
Rente nicht ausreicht. Er schimpft über die
wachsende Anarchie.
Ob es denn früher besser gewesen sei, frage ich.

Regie:         O-Ton Fabrikgeräusche verblenden mit take 38.

stereo, gesamt: 1,40

take 38: Arbeiter der Chem. Fabrik.

Regie:         O-Ton Arbeiter verblenden mit take 37, stehen
lassen, dann unterlegen.

Übersetzer:    „Nein! Ich war nie ein Befürworter des
Breschnjew-Regimes. Ich weiß nicht, was weiter
werden wird. Ich weiß nur eins, daß es bisher
keine wirklichen Veränderungen gegeben hat. Nur Gespräche,
nur Glasnost, die einzige Errungenschaften ist,
daß man anfing zu reden. Mehr nicht. Aber daß
sich etwas im Staatsgefüge, etwas in der
Regierung geändert hätte? Nein, wer an der Macht
war, ist an der Macht geblieben. Auf den Posten,
auf denen die Partrokraten saßen, sitzen sie noch
jetzt. Nichts hat sich geändert.“

Regie:         O-Ton auslaufen auslaufen lassen, verblenden

stereo, gesamt: 0,30

take 39:       Fabriklärm

Regie:         Material zum Verblenden, schwach unterlegen.

Erzähler:      Die Zukunftserwartungen des Spezialisten sind
andere als die der Arbeiterinnen in der Fräserei,
aber auch sie offenbaren das ganze Dilemma des
postsowjetischen Menschen:

stereo, gesamt: ,135

take 40:       Forts. Chemie-Arbeiter

Regie:         verblenden mit take 39, O-Ton Arbeiter mit
Stichwort „Ja…“ hoch anfahren, dann unterlegt
halten.

Übersetzer:    Ich mache mir keine Sorgen, ich lebe von meiner
eigenen Wirtschaft. Ich halte Nerze, Fretten,
Schweine und Hühner. Bei uns gibt es
nur anderthalb Dutzend, die sich so mit den
Dingen beschäftigen, daß es was bringt. Aber ich
hoffe eben nicht mehr auf den Staatsbetrieb. Ich
habe schon lange mit ihm gebrochen. Es ist eine
so unstabile Lage im Lande. Es ist alles sehr
schwierig. Morgen kann sich alles ändern. Morgen
kann alles in die Luft gehen. Ich bin 53. Ich habe
größere und noch größere Verbote überlebt. Das
habe ich alles überlebt. Ich glaube jetzt
niemanden mehr. Unser Staat ist heute so eine
gähnende Ödnis, heute Jelzin, morgen Iwanow,
Petrow, Tiderow und wer da noch kommen mag:
Salzmann oder so. Alles fängt von vorne an.
Plötzlich gibt es wieder einen Stalin. Kreuz und
quer. Ich habe kein Vertrauen. Ich glaube heute
nicht an Gott, nicht an den den Teufel, nicht an
Diabolus, nicht an Gorbatschow, nicht an Jelzin,
überhaupt niemanden glaube ich. Ich bin zu oft
betrogen worden. Ich bin bis zu diesem Augenblick
betrogen worden.“

Regie          O-Ton hochziehen, auslaufen lassen.

stereo, gesamt: 1,00

take 41:       Fabriklärm

Regie:         Verblenden, mit Lärm langsam abblenden.

stereo, gesamt: 1,10

take 42: tschuwasch. Kongreß

Regie:         O-Ton mit 41 verblenden, Beifall kurz stehen
lassen, dann unterlegen.

Erzähler:      Wieder Tscheboksary, Oktober 1992,
all-tschuwaschischer Kongreß. Aus allen Teilen der
früheren Union, Rußlands und auch aus westlichen
Ländern sind Delegierte gekommen.

Regie:         O-Ton hoch, Foyer-Situation, Beginn der Musik,
dann unterlegen. Unterlegt halten bis zum Ende
von take 44.

Erzähler       Raissa Sarbi und ihre Freunde vom
tschuwaschischen Kulturzentrum, die Widergeburt
als kulturellen Prozess verstehen und für den
Dialog zwischen Russen und Tschuwaschen, bzw.
zwischen Tschuwaschen und anderen Völkern                eintreten, sind nicht eingeladen, mehr noch, man
hat sie ausdrücklich von der Teilnahme
ausgeschlossen. Die Bewegung für die
nationale Widergeburt hat sich gespalten:
Das Wort auf dem Kongreß führt Atner Chusangai,
Sohn eines Literaten, der die Auseinandersetzung
um die politische Macht in den Vordergrund rückt.

Regie:         O-Ton etwas hochziehen.

mono, gesamt: 3,37

take 43: Atner Chusangai

Regie:         O-Ton 42 (Musik) unterlegt halten, O-Ton 34 kurz
anfahren, dann zurückgehen, darauf Übersetzer.

Übersetzer:    „Das System muß anders werden, das
Budgetsystem, das Steuersystem, nicht so wie
jetzt, nicht so zentralisiert. Nun, bestimmte
Vollmachten sind wir ja bereit der russischen
Föderation zu geben, bitte sehr – aber wir
sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das,
das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von
oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist euers;
das ist unsers usw. Aber sie kennen unsere
Situation hier nicht. Es muß umgekehrt sein: Das
ist euer, das fassen wir nicht an. Das müssen
sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der
Militärindustrie: Das ist euers, aber das da ist
unsers, unsers, unsers. Diese Politik gibt es zur
Zeit bedauerlicherweise nicht. Das heißt, es muß
eine härtere, unbeugsamere Position für die
Realisierung des Schutzes unserer Souveränität
der Republik her. Diese Position gibt es zur Zeit
leider nicht.“

Regie:         O-Ton take 42 (Musik) auslaufen lassen, abblenden

mono, gesamt: 1,02

take 44 Demo Moskau, 7.11.

Regie:         O-Ton kurz anfahren, dann unterlegen.

Erzähler:      Moskau, 7. November, Jahrestag der Revolution.
Unter der Losung „Steh auf großes Land!“ hat die
aus dem „Ostankino“-Konflikt im Sommer
hervorgegangene „Front der nationalen Rettung“
zur Demonstration für den Jahrestag der Oktober-
Revolution aufgerufen.
Der Redner erinnert daran, wie man im Jahr zuvor
trotz des Verbotes der kommunistischen Partei auf                die Straße gegangen sei. „Moskau hielt stand!“
ruft er. „Moskau kämpft! Der Kommunismus ist nicht
besiegt! Der Kommunismus wird siegen!“

Regie:         O-Ton hoch: „Hurra!!“. verblenden mit take 45.

stereo, gesamt: 0,40

take 45 Forts. Demo

Regie:         Lied anfahren, kurz stehen lassen, dem folgenden
Kommentar unterlegen.

Erzähler:      50.000 folgen dem Zug. „Patrioten“ und
Altkommunisten, auch ein paar versprengte Neu-
Linke haben sich eingefunden. Moskau im Fieber
des Patriotismus. Die Ereignisse vom „Ostankino“
tragen ihre Früchte. Alexander Prochanow,
Herausgeber der Zeitung „Djen“, Tag, ist einer
der ideologischen Schrittmacher der „Nationalen
Befreiungsfront“. Seinem Credo stimmt inzwischen
jede fünfte Person in den Hauptstädten St.
Petersburg und Moskau zu:

Regie:          O-Ton stehen lassen.

stereo, gesamt: 2,25

take 46: Alexander Prochanow

Regie:         O-Ton take 45 unterlegen. O-Ton Prochanow hoch
anfahren, dann runterfahren, darauf Übersetzer:

Übersetzer:    „Die Ideologie, die die auseinanderfallende
russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei
Komponenten. Das ist die Komponente der sozialen
Gerechtigkeit – das ist die sozalistische
Komponente – und die nationale Gerechtigkeit, also
die nationale Komponente. Das ist also eine
zukünftige nationalsozialistische Ideologie oder
sozialnationalistische, wie beliebt. Im Kern wird
das möglicherweise Faschismus – ohne rassistische
Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie
kann es verschiedene Formen der politischen Kultur
geben.
Ich bin traditioneller russischer Imperialist.
Das ideale Rußland, das ist für mich ein
euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der
Völkervielfalt hervorgeht, — das zentrale Volk
jedoch, das regulierende Volk, das sind die
Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind
kommunikativer und sie leben überall. Die heutige
russische Föderation ist ein totes Stück Holz,
sinnlos, Nonsens. Es kann kein Rußland geben, wo
dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen
ihrer Heimat leben.“

Regie:         O-Ton take 45 auslaufen lassen, verblenden mit
take 45 (Musik)

stereo, gesamt: 1,10

take 47: Ende Demo

Regie:         Verblenden. O-Ton hochziehen, „Tawarischtschi… ,
dann langsam abblenden. Darauf die Absage machen.
Ende nach der Musik.
— Ende nach der Musik —

stereo, gesamt: 0,40
*

Von Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

Streiflichter an der Wolga

Take 1: Gennadij und Rima singen (take 1)

Regie:
O-Ton ein paar Takte klar stehen lassen, dann runterziehen und dem Erzähler unterlegen.

Erzähler:     Zu Gast bei Gennadij Kolzow und seiner Frau Rima in

Tingowatowa. Das Dorf Tingowatowa gehört zum Einzugsbereich der Sowchose Imbjurtowo im Bezirk Zivilski. Wir sind im westlichen Teil der tschuwaschischen Republik. Ein Fußmarsch von gut zwei Stunden durch ein hügeliges Mischwaldgelände führt an die Wolga. Im Garten bin ich auf den Stumpf einer der mächtigen Weiden gestoßen, die hier als heilige Bäume verehrt werden. Auch die Stümpfe werden nicht angerührt.
Im Haus, einem Holzbau im Blockstil, ist alles, wie die Großeltern es noch vor der großen Kollektivisierung in den dreißiger Jahren angelegt hatten: Ein Raum, durch einen Vorhang unterteilt, mitten darin der mächtige Petschka, Kaminofen.
Gennadij wurde hier geboren, ist aber erst vor ein paar Jahren hierher gezogen. Gennadij ist Liedermacher. Seine Lieder werden im tschuwaschischen Radio gesendet. Rima ist ebenfalls Musikerin. Sie kommt aus der Stadt. Jetzt leiten sie gemeinsam die Kulturarbeit in Tingowatowa. Rima ist Direktorin des Kulturhauses, Gennadi der musikalische Leiter. „Sie ist der Chef“, lacht er und sie blinzelt ihm fröhlich zu. „Das Kulturhaus ist der einzige Ort weit und breit, wo die Menschen sich nach der Arbeit erholen können. Sogar aus den Nachbarorten kommen sie“, erklärt Rima. Gennadij gibt außerdem Musikunterricht in der Dorfschule von Tingowatowa und im Nachbarort Schordauschi. Einmal in der Woche vier Stunden.
Gennadij und Rima sind zwei von vielen, die ich getroffen habe. Moderne „Narodowolzen“, Volkstümler, wie sie auch vor der Revolution von den Städten aufs Land zogen, um das Volk zu unterrichten. Wiedergeburt der Kultur, besonders aber der tschuwaschischen Kultur ist ihr Anliegen.
Wir üben tschuwaschische Lieder, sagt Gennadij, aber nicht nur, auch russische und ausländische.

take 2: Kolchose Jangartschina, Raissa rezitiert (take 2)

Regie: Nach Kurzem anfahren zurückblenden (evtl. noch verblenden mit take 3 des Vorspielbandes)

Erzähler:  Kolchose Jangartschina. Mitglieder des  „tschuwaschischen Kulturzentrums“ und der Organisation „Wiedergeburt“ treten im großen Kultursaal auf. Raissa Sarbi, Poetessa, wie es hier heißt, zugleich Herausgeberin einer tschuwaschischen Frauen- und einer Kinderzeitung, rezitiert aus eigenen Gedichten. Außer den Kindern der Kolchoseigenen Schule hat sich niemand durch Regen und Matsch hergetraut. Außerdem ist es mitten am Tag. Man hat zu tun. Die Kinder aber lauschen andächtig.
Raissa versteht sich als Übersetzerin kosmischer Botschaften, die ihrem Volk in der schwierigen Stunde des Zerfalls der Union zeigen, woher es kommt und wohin es gehen müsse.
Raissa versteht sich und ihr Volk als Nachkommen der Amazonen. Die traditionelle Kopfbedeckung, im Tschuwaschischen „AMA“, der unverheirateten Frauen, die sich neben ihre Perlennornamenten durch die zum  Himmel weisende Spitze auszeichnet, sei ein Überbleibsel der kriegerischen Kopfbedeckung. Raissa belegt das mit etymologischen Ableitungen, in denen sie zugleich Verbindungen ins altertümliche Mesopotamien zieht. Von dort seien die Tschuwaschen einst aufgebrochen. Von dort hätten sie auch ihre Religion, den Zoroastrismus, die Sonnenreligion mitgebracht. „Die Tschuwaschen haben eine matriarchalische Tradition“, erklärt sie mir. In der ehrfurchtsvollen Anrede der Alten etwa, zum Beispiel in der Erzählung alter Geschichten, werde im Tschuwaschischen im Gegensatz zum Russischen bis heute immer noch zuerst die „Staruschka“, die Alte und dann der Alte genannt. Erst die Christianisierung durch die Russen im sechzehnten Jahrhundert habe diese matriarchalische Kultur zerstört. Raissa ist aber überzeugt davon, dass die Frauen besser verstehen, was die Welt heute braucht: Liebe, Pflege, ökologisch orientierte Verantwortung für die kommende Generation. „Sie sind Mütter“, sagt sie, „sie wissen, worum es geht.“

take 3: Valentin Tusendik deklamiert (take 5)

Regie: Voll anlaufen lassen, dann runterblenden.

Erzähler: Ehemaliges Verlagshaus der kommunistischen Partei in Tscheboksary, der Hauptstadt der Tschuwaschischen Republik. Es spricht Valentin Tusendik, ein verknitterter, halb bäurisch, halb vagabundisch wirkender Mann, zur Hälfte Tschuwasche, zur anderen Hälfte Tatare, wie er sagt. Valentin hat mich gebeten, mir als Mitglied der noch nicht existierenden Akademie der Wissenschaften der noch zu gründenden Wolga-Ural Republik ein Pamphlet für deren Gründung auf Band lesen zu dürfen.

Übersetzer:   „Wir Leute am Ende des 20. Jahrhunderts hier in der Wolga-Ural-Region auf dieser Erde im Sonnensystem der galaktischen Spirale befinden uns im Zentrum der Welt, auf dem Kontinent Euro-Asien, in der Mitte zwischen Osten und Westen, die man das „Kleine Europa“ oder das „Kleine Asien“ nennen kann.“ Hier treffen sich zwei slawische Kulturen, die türkische und die finnisch-ugrische; hier  treffen sich die drei Hauptreligionen der Menschheit: Christentum, Islam und Buddhismus, außerdem Atheismus und Heidentum, das sich, gemessen an den erschreckenden Auseinandersetzungen anderer Nationen seit, über zweihundert Jahren ohne Konflikte und Exzesse assimiliert. Deshalb ist für die menschliche Gesellschaft nur hier echte Demokratie möglich. Voraussetzung dafür ist eine Bevölkerung vom Typ der großen bulgarischen Zivilisation mit einer Geschichte der Amazonen und Vertretern wie Lenin, außerdem ein besonderes Klima und Wetter. Winter und Sommer, Herbst und Frühling sind hier gleich lang, das heißt wir haben die ruhigste, die engste Beziehung von allen zur Erde, philosophisch gesprochen.
Unsere Seele lebt zwischen West und Ost, zwischen slawischer und türkischer Kultur. Das muss alles richtig zusammengeführt werden. Dafür braucht man einen eigenen Staat, eine unabhängige Region, die aufs neue entsteht aus Tschuwaschien, Utmurtien, Tatarstan, Mari, Baschkiry, dem Orienburger, dem Uljanoswker und dem Samnarski-Bezirk. Der Name soll sein: `Föderative Republik Bulgarien‘ `kleines Europa‘ oder `kleines Asien‘, ein Kontinent zwischen den Flüssen.“

Erzähler  Valentin wohnt in der Hauptstadt der Nachbarrepublik Kasan, ist aber ständig auf Achse, in den neu entstandenen Kulturzentren der Völkerschaften an der Wolga für seine Vorstellung zu agitieren – in den autonomen Republiken der Tschuwaschen, der Utmurten, der Baschkiren, der Marisken und der Moldawzen sowie der Tataren, außerdem in den angrenzenden einfachen Verwaltungsbezirken, in denen noch große Sprengsel dieser Völkerschaften leben. Seine Vorstellungen kommen verschroben daher. Sie haben jedoch ihren historischen Kern.

Kommentator:  Im Jahre 451 endete der Hunnensturm mit der Niederlage Attilas auf den katalaunischen Feldern. Reste der hunnischen Scharen zogen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründeten sie, vermischt mit anderen Völkerschaften, das bulgarische Reich, das Ende des siebten Jahrhunderts seine größte Blüte erlebte. Aber der Raum blieb unruhig, immer neue Völkerschaften strömten aus den Steppen in die fruchtbaren Gebiete zwischen Wolga, Don und Dnepr, das Herz des heutigen Russland. Die Chazaren, die sich an der unteren Wolga festgesetzt hatten, zerschlugen das erste bulgarische Reich. Danach gründete ein Teil der Bolgaren das Donabulgarische, ein anderer das Wolgabulgarische Reich. Hauptstadt des Wolgabulgarischen wurde Bulgar. Erst der nächste Völkersturm, nämlich die Züge der Mongolen im dreizehnten Jahrhundert vernichteten auch Bulgarstan. In den revolutionären Kämpfen der zwanziger Jahre erlebten die Vorstellungen einer Wolga-Ural-Republik eine neue Blüte, wurden aber dann von den Bolschewiki beiseite geschoben, von Stalin dann endgültig als nationalistisch unterdrückt.

Erzähler: Drei Stunden weiter stromabwärts in Kasan. Mir gegenüber sitzt Damir Isxakow, Ethnologe in Kasan, Mitglied des „tatarischen kulturellen Zentrums“.

take 4:  Kasaner Ethnonolge spricht (take 6)

Regie: O-Ton anlaufen lassen, dann runterblenden.

Übersetzer: Also, ehrlich, glaube ich, dass jede Nation, gleich welche, in erster Linie eine Vereinigung im höheren Sinne ist, nicht in staatlichen Grenzen. Das ist Kultur, Sprache und ethnisches Selbstbewusstsein. In diesem Sinne existiert die tatarische Nation ziemlich lange. Wie viele andere Nationen hat sich auch die tatarische aus verschiedenen ethnischen Gruppen gebildet. Da kann man vor allem drei nennen: die Wolgataren hier, die sibirischen Tataren und die Astrachan Tataren. Das sind die Bevölkerungen früherer tatarischer Khanate. Sie unterscheiden sich voneinander, aber nicht sehr stark. Die Unterschiede liegen, sagen wir, auf dem Niveau unterschiedlicher Dialekte.

Erzähler: Der Glaube steht auch in Kasan an erster Stelle. Auch der Wissenschaftler möchte verlorene Zusammenhänge wiederherstellen. Diesmal geht es jedoch nicht von um die Zeit nach dem ersten, sondern nach dem zweiten großen Völkersturm, der Zeit der Mongolenreiche.

Kommentator:   Mehr als zwei Jahrhunderte stand Euroasien unter mongolischer Herrschaft. Mit Beginn des 12. Jahrhunderts machten sich die mongolisch, türkisch, tatarischen Steppenvölker unter ihrem Führer Dschingis Khan zur Eroberung der Weltherrschaft auf. Zwei Generationen später waren die nördlichen Teile Chinas, der Iran, die arabische Welt, das erste russische Reich, die Kiewer Rus, und Südeuropa unterworfen. Im Übergang zum Nordrussischen und nordeuropäischen Raum hörten die Kämpfe nicht auf. In ihnen bildete sich Moskau im Verlauf des vierzehnten Jahrhunderts Schritt für Schritt als neues russisches Machtzentrum heraus, das die Teil-Khanate nach und nach unterwarf. Einige Gebiete wurden dabei christianisiert, andere wie Kasan nach seiner Eroberung Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als muselmanischer Fremdkörper insgesamt einverleibt und im Lauf der Jahrhunderte von oben her russifiziert. Die Dörfer blieben dabei, wie übrigens auch in Tschuwaschien, weitgehend unberührt in ihrer traditionellen Kultur. So wie dort Tschuwaschisch ist hier Tatarisch die Sprache des Dorfes.

Erzähler:     Dies ist der Hintergrund, vor dem Damir Isxakow dann von der tatarischen Diaspora spricht. Sie sei die größte nach der jüdischen. Scharf grenzt er sich aber von Vorstellungen ab, alle Tataren in einem Nationalstaat zusammenzuführen. Man könne die Tatarische Republik nur dazu benutzen, den in der Welt verstreuten Tataren einen kulturellen Bezugspunkt zu schaffen. Auch eine Wolga-Ural-Republik hält er nicht für möglich. Zu unterschiedlich seien die Völker und zu unterschiedlich deren Geschichte, um in einem einzigen Staat zusammengefasst zu werden.

take 5: Alltschuwaschischer Kongress (take 10)

Regie: Anlaufen lassen bis zur Musik. Musik dann unterlegt stehen lassen.

Erzähler: Wieder Tscheboksary, Oktober 1992, all-tschuwaschischer Kongress. Aus allen Teilen der früheren Union, Russlands und auch aus westlichen Ländern sind Delegierte gekommen. Hier bekommen die vielen unterschiedlichen kulturellen Rinnsale ihre politische Richtung. Das klingt dann schon wesentlich schärfer.

take 6:   Atner Chusangai  (take 11)
Regie:  O-Ton anfahren, dann unterlegt halten. Darauf Übersetzer.
Übersetzer:   „Das System muss anders werden, das Budgetsystem, das Steuersystem, nicht so wie jetzt, nicht so zentralisiert. Das heißt, wir selbst müssen von unten, – nun bestimmte Vollmachten sind wir ja bereit der russischen Föderation zu geben, bitte sehr – aber wir sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das, das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist euers; das ist unsers usw. Aber sie kennen unsere Situation hier nicht. Es muss umgekehrt sein: Das ist euer, das fassen wir nicht an. Das müssen sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der Militärindustrie: Das ist euers, aber das da ist unsers, unsers, unsers. Diese Politik gibt es zurzeit bedauerlicherweise nicht. Das heißt, es muss eine härtere, unbeugsamere Position für die Realisierung des Schutzes unserer Souveränität der Republik her. Diese Position gibt es zurzeit leider nicht.“

Erzähler: Bei Micha Juchma erlebe ich die letzte Überraschung: Er ist nicht nur tschuwaschischer Nationaldichter und Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“. Er ist auch der zweite Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“. Zusammen mit Raissa Sarbi bereitete er sich vor, an der dritten Konferenz der türkisch-sprachigen Völker in Baku teilzunehmen. Rund zwanzig Völker der ehemaligen Sowjetunion zählte er mir als potentielle Teilnehmer über die des Wolgaraums hinaus auf, dazu noch die Türken, die Aserbeidschaner, Afghaner, Iraner… Über die turkstämmigen Völker, erklärte er mir, sei auch die erste mit der zweiten Völkerwanderung verkoppelt: Turkstämmige Völker hätten sich in vorchristlicher zeit vom Zweistromland über Persien nach Nordosten bis zum Altai und die sibirische Südebene hin ausgebreitet. Als Hunnen seien sie selbst, unter mongolischer Führerschaft im dreizehnten Jahrhundert dann als Teil des mongolischen Heeres nach Westen gezogen. So komme es denn auch, lächelt Micha Juchma, dass er sich nicht nur als Nachkomme der Hunnen, sondern auch als Nachkomme Zaratustras betrachte – der Name seines Clans und der Zaratustras stimmten überein – während er die Tataren eher als feindliche Geschwister empfinde.

Micha Juchna lud mich ein, mich der tschuwaschischen Delegation als Dritter anzuschließen. Aber die reise erwies sich als Rechnung ohne die neue Realität! Schon war unsere Abreise vom Republikfernsehen für die Abendnachrichten aufgenommen, da sagte „aeroflot“, die immer noch das Flugmonopol im ehemaligen sowjetischen Raum hat, den Flug ab: Flüge nach Baku gälten nicht mehr wie bisher als Inlandsflüge. Für diese Linie könne man nur noch zentral von Moskau aus buchen. Mit dem Zug war die Konferenz nicht mehr rechtzeitig zu erreichen.
So lud Micha Juchma mich stattdessen zu sich nach Hause ein, wo er mir bei tschuwaschischer Kräutersuppe und Tee auf die Frage, ob er nicht nur eine tschuwaschische, sondern eine pantürkische Widergeburt für möglich halte, erklärte:

take 7: Micha Juchma spricht (take 9)

Regie: O-Ton anfahren, dann schnell runterziehen und wegblenden.

Übersetzer:   „Möglich! Möglich durch kulturelle Vereinigung,  durch Kulturbewegungen, durch gegenseitige Hilfeleistung. Wenn Russland selbst in Zukunft bei der Widergeburt der türkischen Völker nicht hilft, dann werden sie sich an andere Länder wenden, Aserbeidschan, Türkei und noch andere. Deshalb wäre es für Russland jetzt wichtig, mehr Aufmerksamkeit auf diese Dinge zu richten. Aber Russland trifft bis jetzt keine Entscheidung in der nationalen Frage. Das russische Volk begreift bis jetzt nicht, wie riesig die türkische Welt ist und wie groß ihre Möglichkeiten – und wie groß auch Gefahren sind: Im Kaukasus – türkische Völker. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbeidschan: Ein Konflikt mit der türkischen Welt.“

Erzähler: Hört man dann noch, dass Micha Juchma als zweiter Vorsitzender der Organisation türkischer Völker von islamischen Fundamentalisten umworben wird, den Islamischen Fundamentalismus aber ablehnt, hört man, wie er erschreckt aserbeidschanische Fundamentalisten mit dem Ruf „Tötet alle Christen“ zitiert, dann erkennt man, wie sich hier Geschichte im Dreieck zwischen Pantürkismus, Panslawismus und Panislamismus vor unseren Augen in Zukunft verwandelt.

Russland ist anders (Text)

In Russland wird gekämpft. So viel ist sicher. Aber worum? Und wer kämpft gegen wen? Wer diese Frage aus den Ereignissen auf der Moskauer Bühne beantworten will, kann mit Recht verzweifeln.
Jetzt hat der Kongress der Volksdeputierten die Durchführung des Referendums beschlossen, um das Boris Jelzin seit Wochen kämpft, dies nun aber unter Bedingungen, die der Präsident wiederum auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen will. Beide Parteien werfen sich gegenseitig weiterhin die Verletzung dieser überholten Verfassung und die Aufstachelung zum Bürgerkrieg vor. Morgen sind wieder neue taktische Windungen zu erwarten.
Wenn zudem die Meßlatte westlicher Demokratien angelegt wird, dann können Urteile wie das der „Frankfurter Allgemeinen“ nicht mehr verwundern, die anmerkt, nun sei Russland endgültig auf das Niveau einer Bananenrepublik abgesunken, die aber doch eine atomare Großmacht mit militärischem Zerstörungspotential bleibe. Andere Kommentatoren kapitulieren schlicht vor dem angeblich undurchdringlichen Chaos. Russenangst hält wieder Einzug in westliche Redaktionsstuben.
Heilige Einfalt! Oder böse Demagogie? Wann in der Geschichte wären Machtkämpfe in Moskau nach westlichen Regeln, gar nach den Regeln der heutigen formalen Demokratie abgelaufen? Hat denn irgendjemand ernsthaft geglaubt, die Verabschiedung einer Privatisierungspolitik nach IWF-Vorstellungen, die Ersetzung der Einparteien-Führung durch eine neben den bisherigen Strukturen stehende Administrationslinie und die Umtaufung von Sowjets in Parlamente habe aus der Sowjetunion einen Staat gemacht, der sich nun aus einem industriellen Trümmerfeld wieder in eine Fortschrittsoase verwandeln würde, nur diesmal nach westlichen Modellen?
Dieses Land ist durch und durch – und nicht erst durch die 70 Jahre Kommandowirtschaft unter bolschewistischer Führung – anders strukturiert als seine gegenwärtigen Vorbilder Europa und Amerika. Sein Kollektivismus ist ein struktureller: Das beginnt bei der Clan- und Dorfgemeinschaft, das endet bei der Tatsache des Vielvölkerimperiums, in dem die Vielfalt der Kommunen und Völker in der Weite des Raumes über mehr als tausend Jahre Geschichte durch straffste Zentralisierung und monokulturelle Arbeitsteilung von oben zu regulieren versucht wurde. Dies ist weder durch neue Kommandostrukturen, noch durch Kabinettstricks ersetzbar. Hier müssen Mischformen zwischen dem gewachsenen Kollektivismus und der Verwirklichung individueller Selbstbestimmung von unten gesucht werden. Dabei geht es um Generationen.
So ist es auch nicht nur die Frage eines neuen Wahlgesetzes, wie die Liberalen meinen, mit dem statt nach Betriebskollektiven, gesellschaftlichen Gruppen und Unterschrifteninitiativen nun nach einem formal-demokratischen Wahlrecht gewählt wird. Selbst wenn jetzt auf die Schnelle ein neues Wahlgesetz nach westlichem Muster verabschiedet würde, so fehlt doch das zu diesem Gerippe gehörende Fleisch! Schließlich sind diese kollektiven Mechanismen auch nicht einfach eine ideologische Erfindung der Bolschewiki. Sie haben sie lediglich verstaatlicht und ideologisch dogmatisiert. Das ist schlimm genug, weil es zu Gleichmacherei und Entrechtung der Menschen, ja, sogar zu einer Enteignung von ihren ursprünglichen Formen der Demokratie geführt hat; aber so ist es und nicht anders und nur vor diesem Hintergrund werden die Kämpfe in Moskau begreiflich, mehr noch, die dahinterliegenden Interessen erkennbar.
Schon im Frühjahr 1992 entwarf Boris Kagarlitzki, ein auch im Westen bekannter Reformsozialist, mir ein bedrückendes Szenario: Boris Jelzins „Schockprogramm“, insbesondere die Strategie der Privatisierung, die das Jelzin-Kommando in Verfolgung der IWF-Richtlinien umsetzen wolle, werde sich sehr schnell als nicht durchführbar erweisen. Gegen Ende des Jahres `92, spätestens zum 1. Januar 93, wenn seine Sondervollmachten endeten, mit denen er im August ’91 als Sieger aus dem Machtkampf mit Michail Gorbatschow hervorging, werde die Krise keineswegs, wie versprochen, überwunden, sondern im Gegenteil Jelzin am Ende sein. Die Direktoren der industriellen und landwirtschaftlichen Staatsbetriebe, gestützt auf die von ihnen vertretenen Arbeitskollektive, würden eine Änderung der Politik von ihm erzwingen. Er werde Gaidar fallen lassen müssen. Wenig später werde er selbst gehen und den Platz für Alexander Ruzkoi freimachen oder selbst auf dessen politische Position rücken müssen. Aber auch das werde nur ein Zwischenspiel sein. Am Ende werde so etwas stehen wie der Kriegskommunismus nach der Revolution von 1917, eine nationale Stabilitätsdiktatur, die die Privatisierung der Staatsbetriebe stoppen und im übrigen zur rigiden staatlichen Lenkung der Wirtschaft übergehen werde. Ob dem später eine Demokratisierung folgen könne wie in Chile, sei offen.
Die jetzigen Ereignisse in Moskau erscheinen vor dem Hintergrund dieses und ähnlicher Szenarien, wie eine Aufführung nach Drehbuch. Dass manch einer der Spieler hin und wieder seinen Taxt vergessen zu haben scheint und ein paar Passagen improvisieren muss, ändert an diesem Gang des Stückes nur wenig. Eine Änderung könnte nur von denen erzwungen werden, die man jetzt in der Rolle des Publikums zu halten versucht.

„Das Dilemma des Antifaschismus“ – eine Skizze über die ehemalige UdSSR. von Kai Ehlers, Schulfunksendung 2/93

Take 1: O-Ton Demonstration in Moskau
Regie:              O-Ton hart anfahren, kurze Zeit stehen lassen, dann runterfahren, Kommentar darüber ziehen, unterlegen, nach Belieben auslaufen lassen.
gesamt:  4,50

Erzähler:           Moskau, 7.11.1992: Kranzniederlegung am Denkmal Georgi Dimitrows bei der Demonstration zum Jahrestag der Oktober-Revolution in Moskau. Vom Lautsprecherwagen dröhnen die Lieder des traditionellen Antantifaschismus: „bella ciao“, das Lied der italienischen Partisanen und „Die Moorsoldaten“, das Lied der deutschen KZ-Häftlinge.
Geehrt wird, wie der Redner verkündet, „der große Sohn des Bulgarischen Volkes, der Gründer des Antifaschismus“.

Kommentator:        Georgi Dimitrow trug seine Analyse des Faschismus erstmals auf dem siebten Kongreß der Kommunistischen Internationale 1935 vor. Er erklärte Faschismus als die Herrschaft der agressivsten Teile des Finanzkapitals und propagierte die antifaschistische Einheitsfront von Kommunisten, Sozialdemokraten und Bürgerlichen gegen den Faschismus. Seine Theorie wurde zur Grundlage und Richtschnur für die kommunistische Faschismusinterpretation und die historische Forschung in den sozialistischen Ländern. Sie bestimmte auch die Geschichte des deutschen Antifaschismus.

Erzähler:           Träger der Demonstration ist die „Front der                     nationalen Rettung“. Das ist ein Bündnis aus patriotischen, neo-stalinistischen und kommunistischen Gruppen. Unter der Leitparole „Steh auf großes Land!“ wird die Zeit des „großen vaterländischen Krieges“ beschworen, als der Antifaschismus die Klammer war, mit der Stalin das Vielvölkerreich gegen Nazi-Deutschland mobilisieren konnte. Unter der Losung „Verteidigung des Vaterlands des Sozialismus“ wurde Antifaschismus zum Synonym für Prosowjetismus – und dies nicht nur in der Sowjetunion.
Diese Definition galt – übrigens ebenfalls nicht nur dort – noch bis in die Ära der beginnenden Perestroika 1985/86 als offizielle Doktrin. Mit dem Zerbrechen der Union im August ’92 verwandelte sich der frühere offizielle Antifaschismus in eine Ideologie der Rückwendung. Er wurde wurde zum Kampfbegriff für alle diejenigen, die sich gegen die Öffnung nach Westen und den Zerfall des Imperiums wenden, gleich, ob des russischen oder des sowjetischen. Als Faschisten werden die beschimpft, die man für den Zerfall verantwortlich macht: Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und ihre westorientierten Parteigänger.

take 2:  O-Ton „Meeting“

Regie:              O-Ton hoch anfahren, Moment stehen lassen,                     dann unterlegen und den Kommentar drüberfahren.

Übersetzer:           „Wir haben hier offenen Verrat“ antwortet diese Frau auf die Frage, warum sie unter einer Parole „Kampf dem Faschismus“ demonstriere, „die Aufgabe des Landes an den Westen.“ Unter dem Diktat des Westens hätten Boris Jelzin, Michail Gorbatschow und ihre Leute das Land auseinandergenommen. „Auseinandergeklaut“, ergänzt der Mann.

Erzähler:   Die Würde des russischen Volkes wollen sie wiederherstellen. Die Sache Stalins fortsetzen.

gesamt: 0,45

take 3 Forts. Meeting

Regie:               Ton hoch zum Stichwort „Schto, we Kremlje…“, kurz anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer:          „Was im Kreml? Natürlich ist das                    Faschismus“, sagt dieser Mann, „richtiger Faschismus! Die Verrückten läßt man auf ihren Wunsch aus dem Irrenhaus los. Gangster und Verbrecher spazieren auf den Straßen und bringen das Volk um. Ist das etwa kein Faschismus, wenn man mich dafür, daß ich Russe bin und das auch offen sage, beschuldigt ein Faschist und Chauvinist zu sein!? Das gibt es doch in keinem Land. Das ist Faschismus. Die Alternative muß militärisch sein – eine christlich-orthodoxe Diktatur.“                                                                     gesamt: 0,30

Erklärung:          Solche Sätze fallen schon seit längerem bei Straßenversammlungen von Gruppen, die                    inzwischen zur „Nationalen Rettungsfront“ gehören. In diesem Fall handelte es sich um ein „Miting“, wie die Russen sagen, der „kommunistischen Arbeiterpartei“. Führer der „Rettungsfront“ wie etwa Alexander Prochanow, Herausgeber der Wochenzeitung „Djen“, der Tag, scheuen sich andererseits nicht, den Begriff des Faschismus neu zu interpretieren und in dieser Form für sich in Anspruch zu nehmen:

take 4     O-Ton Alexander Prochanow

Regie:              O-Ton hoch anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer          „Die Ideologie, die die auseinanderfallende russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei Komponenten. Das ist die Komponente der sozialen Gerechtigkeit – das ist die sozalistische Komponente – und die nationale                     Gerechtigkeit, also die nationale Komponente. Das ist also eine zukünftige nationalsozialistische Ideologie oder sozialnationalistische, wie beliebt. Im Kern wird das möglicherweise Faschismus – ohne rassistische Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie kann es verschiedene Formen der politischen Kultur geben.“
gesamt: 0,36

Erzähler             Im Gegenzug zu dieser, wie es im Lande genannt wird „braun-roten“ Bewegung, deren Führer sich offen zur Widerherstellung des Imperiums bekennen, entstanden seit 88/89 Gruppen in mehreren Städten der Union, die sich selbst antifaschistisch nannten. Das war 1988 die „Soziologische Assoziation“ in Leningrad. Im Februar 1989 gründete sich in Moskau ein „antifaschistisches Zentrum“. In einigen Städten mit starker „braun-roter“                     Aktivität entstanden Ableger. Im Sommer 1992                     brachte die Leningrader, inzwischen St.                     Petersburger Gruppe, eine erstes Journal                     „Barriere“ heraus. Die Moskauer planen eine                     antifaschistische Wochenzeitung.
Praktisch entstanden diese Gruppen als Selbsthilfe jüdischer Intellektueller gegen den organisierten Antisemitismus, der als eins der unerfreulichen Beiprodukte von Perestroika, vor allem in den „Pamjat“-Gruppierungen aufblühte.                         Auch theoretisch definierten diese Gruppen sich im Gegenentwurf zum traditionellen Antifaschismus. So Jewgeni Proschtschetschin, Kopf des Moskauer „antifaschistischen Zentrums“. In einem Heizungskeller der Moskauer Innenstadt, wo er als Dissident eine Arbeit gefunden hatte, erklärte er mir im Sommer 1990:

take 5 O-Ton Jefgeni Proschtschtschin

Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer:         Unter Faschismus verstehen wir jede beliebige Form totalitärer, antidemokratischer Diktatur, das heißt: Hitler, Mussolini, Mao-Tse-Tung, Pol Pot, Stalin, Kim il Sung, von denen, die noch leben, sind für uns gleichermaßen Faschisten. Wir geben immer gleich die Definition.
Das antifaschistische Zentrum ist vollberechtigtes Mitglied der „demokratischen Bewegung Rußlands.“ Wir nehmen an Wahlvorbeitungs- und Wahlkampagnen teil, Protesmärschen, Demonstrationen, Versammlungen. Aber wir haben noch eine besondere Aufgabe: Die besondere Aufgabe, über die allgemein demokratische hinaus, ist der ideologische Widerstand gegen die rechte Gefahr, beziehungsweise rechte Organisationen. Unter rechten Organisationen verstehen wir ohne Ausnahme alle Gruppen, die sich „Pamjat“ nennen. Davon gibt es viele. Sie mögen sich gegenseitig befeinden. Aber für einen demokratischen Menschen ist der Unterschied zwischen ihnen nicht von Bedeutung. Es ist der Unterschied zwischen stalinschem und hitlerschem Konzentrationslager. Mehr nicht.“
gesamt: 1,35

Kommentator:Der neue Antifaschismus ist allerdings bisher nicht mehr als ein Spiegelbild des alten: Statt pro-sowjetisch definiert er sich anti-sowjetisch. Als Unterscheidungsmerkmal bleibt bisher nur die Haltung zur sog. jüdischen Frage: In den Reihen der traditionellen Antifaschisten hat Judenfeindlichkeit, als Anti-Zionismus verbrämt, ihren festen Platz. Auch dies steht im Erbe der offiziellen früheren sowjetischen Politik. Die neuen Antifa-Gruppen dagegen werden in ihrer Mehrheit von russischen Juden getragen, aus deren Sicht die die neue antisemitische Welle in ihrem Land eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens ist.

Erzähler:           Im Ergebnis ist die Bezeichnung „Faschist“ zu einem Schimpfwort verkommen, mit dem sich die Parteien gegenseitiog als „volksfeindlich“ zu diffamieren versuchen. Sich als Faschist oder „Antifaschist“ zu bezeichnen oder von anderen so genannt zu werden, sagt nichts mehr über den gesellschaftlichen Standort aus, den eine Person oder Organisation bezieht.
Was bleibt, ist Verwirrung. Was bleibt, ist die Gefahr, daß die Krise auf Kosten der schwächeren sozialen Schichten gelöst und das Imperium mit Gewalt gegenüber kleineren Völkern wiederhergestellt wird. Widerstand dagegen muß sich entwickeln. Aber wenn er sich „antifaschistisch“ nennt, wird er den Inhalt von „Faschismus“ und „Antifaschismus“ neu bestimmen müssen.
*
Bei der St. Petersburger „soziologischen Assoziation“ gibt es erste Ansätze. Dort versucht man der Frage wissenschaftlich nachzugehen. Auf die Frage nach möglichen Zielen eines postsowjetischen Faschismus antwortete mir Valentina Usonowa mir im Winter `92:

take 6: O-Ton Valentina Usonowa

Regie:     O-Ton voll anfahren, dann zurücknehmen und unterlegen

Übersetzer:  „Die eingängige Losung, der Weg, wie der Faschismus sich entwickeln kann, verstehst Du besteht darin, dieses Land wieder an die Arbeit zu kriegen“.
gesamt: 0,08

Regie:  O-Ton unterlegt, darüber Kommentar.

Erzähler:  Valentina definierte auch eindeutig, aus welcher Richtung sie die Gefahr sieht:

Regie:       „Im Prinzip von den Zentralmächten, selbstverständlich. Sie ist nicht bereit, mit den Regionen in eine gleichberechtigte horizontale Beziehung einzutreten. Sie fährt fort zu diktieren. Natürlich ist das nicht mehr lange ertragbar und dann geht es bald los mit der Vernichtung.“                                                                     gesamt: 0,20

Erzähler:   Damit sind die Grenzen bereits gesetzt: Dieser „Antifaschismus“, wenn man es denn so nennen will, wird folgerichtig anti-imperial, antinational, aber  f ü r  den Aufbau selbstbestimmter föderaler wirtschaftlicher, kultureller und staatlicher Einheiten sein.

Die Decke reißt – Privatisierung in der ehemaligen Sowjetunion

Ansage:
In der ehemaligen Sowjetunion hat die Kampagne zur Privatisierung begonnen. Bis Ende 1992 soll der wichtigste Teil der bisherigen Staatsbetriebe in Privatbesitz überführt worden sein. Ein Volk von Eigentümern soll entstehen. Die Privatisierung, auch Entstaatlichung genannt, ist der zweite Schritt des „Schockprogramms“, mit dem Boris Jelzin nach der Ablösung Michail Gorbatschows die Empfehlungen des „Internationalen Währungsfonds“ in praktische Politik umzusetzen versucht. Neue Kreditzusagen des Fonds begleiten diesen Schritt. Man erwartet Erfolge.

Erzähler
Wer sich ins Land begibt, wird mit einer anderen Realität konfrontiert. Tausende stehen auf den Straßen. Sie verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist. In den Büros und Fabriken stockt die Arbeit. Überhöhte Steuern untergraben Handel und Produktion.
Auch die Valutahoheit hat der Staat wieder an sich gezogen. Damit sind alle Eigeninititiaven im Ost-West-Handel blockiert. Nichts geht mehr. Die kleinen Firmen stehen vor dem Bankrott.

Dima, Chef einer Computer-Kooperative in Moskau, die das neue Firmensterben bisher überstanden hat, beschreibt die Situation so:

Dima: (Take 1)
„Alles ist jetzt stehengeblieben. Alles ist gelähmt. Man verkauft nicht und kauft nicht. Irgendwelche alten Verträge werden noch erfüllt, die, die früher bezahlt wurden.“

Erzähler:
Zur Privatisierung befragt, erklärt Dima:

Dima:
„Ich denke, daß es überhaupt keine Privatisierung gibt, daß derselbe Kampf um die Macht läuft wie ehedem. Jeder zieht die Decke zu sich herüber. Nur, sie verstehen eine einfache Sache nicht: daß sie übertreiben! Wieviel Zeit ist schon vergangen? Die Decke reißt im Endeffekt einfach auseinander und keiner kriegt etwas. Alle erfrieren oder krepieren an Hunger.“

Erzähler:
Aber nicht jeder sieht die Lage so illusionslos wie dieser junge Unternehmer. Da sind zunächst die liberalen Befürworter der Jelzin-Linie, jene, die ihn im August `91 an die Macht brachten. Typisch ist Wladimir Markow. Markow ist Mitarbeiter am „Wernadski-Institut für natürliche Ressourcen“ in Moskau, dort verantwortlich für soziologische Regional-Analyse. Im Zuge der Perestroika wurde er vom wissenschaftlichen Beobachter zum regionalen Unternehmensberater, der den örtlichen Autoritäten von „Arsamas 16“, einem Distrikt im zentralrussischen Wolga-Raum, dabei helfen will, den Weg in die neue marktwirtschaftliche Wirklichkeit zu finden. Markow ist durchaus kritisch gegenüber Boris Jelzin. Er tritt für eine „sozialistische Privatisierung“ ein. Darunter versteht er die Schaffung einer leistungsorientierten Eigentümergesellschaft nach westlichem Vorbild.
Auf die Frage, was sich unter Jelzins Politik geändert habe, antwortet Wladimir Markow:

Wladimir Markov: (Take 2)
„Die wesentlichste Veränderung ist wohl die, daß jetzt ganz offensichtlich nach den Gesprächen über die Privatisierung die konkrete Handlung beginnt. Nur wird das noch auf der Ebene des örtlichen Verwaltungsapparates gemacht. (…) Eine Rückkoppelung zur Bevölkerung findet praktisch noch nicht statt.“

Erzähler:
Aber auch Wladimir Markov ist unzufrieden. Er kennt in seiner Region viele Menschen, die Unternehmer werden wollen. Aber ihre Ansätze bleiben stecken. Sie leben ständig in Sorge, daß der Staat alles wieder ändert.

Wladimir Markov:
„Die Bevölkerung in unserer Provinz ist ja mehr daran gewöhnt, Befehle auszuführen. Darin liegt eine der Schwierigkeiten unserer ganzen Entwicklung. Solange man unseren Leuten nicht etwas befiehlt – absurd, aber wahr – tun sie nichts. (…) Das ist ein Merkmal unserer russischen Gesellschaft. Es ist eine traditionelle Antipathie gegen die Macht, diese Überzeugung, daß du nicht der Träger von Bürgerrechten bist, sondern ein Objekt der Unterdrückung. Diese Antipathie ist schon genetisch bei uns. Sie zu überwinden, ist meiner Meinung nach eines der Hauptprobleme, das jetzt vor uns steht. Leider gibt sich nicht einer unserer Politiker Rechenschaft darüber, wie ernst diese Lage ist. Sie schicken nach wie vor mit neobolschewistischem Enthusiasmus Blitz und Donner, verschiedene Ukase, Befehle, Anweisungen, mit der Drohung von allem Möglichen. Daraus wird nichts. Sowas gab es sogar unter Stalin nicht. Wenn es das gab, dann mit schlechten Ergebnissen. Und jetzt ist das noch sinnloser.“

Erzähler:
Aber Markow will sich die Hoffnung nicht nehmen lassen. „Sozialen Optimismus“ nennt er das. Er ist überzeugt:

Wladimir Markow
„Man braucht nur einen klaren rechtlichen Rahmen, dann würde der Prozess der Eigentumsbildung losgehen, den aber giebt die Regierung nicht. So kommt alles zum Stillstand.“

Erzähler:
Der fehlende Rahmen kann es jedoch nicht sein, der den Stillstand verursacht. Schließlich gibt es durchaus Gesetze, wenn auch nicht gerade im westlichen Sinne demokratisch zustandegekommen. Grundlage der Privatisierungs-Kampagne ist ein „Ukas“, ein Erlaß des Präsidenten Jelzin vom 29.12.91, seit neuestem ergänzt durch ein „Memorandum“ der Regierung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik für das Jahr 1992, in denen privatisierungspflichtige, genehmigungspflichtige und nicht zur Privatisierung freigegebene Objekten detailliert aufgezählt werden.
Privatisiert werden sollen danach zuallererst kommunale Betriebe, das Transport- und Dienstleistungswesen, die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie. Für einige wenige kommunale Betriebe müssen besondere Genehmigungen eingeholt werden. Auch sie werden in dem „Ukas“ minutiös aufgezählt. Ein ausdrückliches Verbot der Privatisierung dagegen wird für alle natürlichen Ressourcen des Landes ausgesprochen, ebenso für Kultur und Wissenschaftsfonds, generell, wie es heißt, für alle Betriebe, die „gesamtstaatliche, strategische und kulturelle Interessen wahrnehmen“. Das beträfe nicht zuletzt Betriebe des sog. „Militärisch-industriellen-Komplexes.
Besonders hervorgehoben, wird die Notwendigkeit, Verlustbetriebe zu sanieren. Darauf soll vor allem auch das Interesse des ausländischen Kapitals gelenkt werden. Dessen Beteiligung an der Privatisierung profitabler Großbetriebe soll dagegen der Genehming der obersten russischen Behörden bedürfen. Dieser Passus ist allerdings zugleich der in der Öffentlichkeit am wenigsten bekannte.
Auch ein offizielles Verfahren wurde festgelegt: Laut Gesetz kann ein Antrag auf Privatisierung zwar von beliebigen Leuten eingeleitet werden. Das „Arbeitskollektiv“, also die Belegschaften, muß jedoch zustimmen. Eine durch die Kollektive kontrollierbare Privatisierungs-Kommission soll die Verkäufe dann durchführen und überwachen, nachdem die Betriebe als Aktiengesellschaft deklariert wurden. Die „Arbeitskollektive“ sollen außerdem mindestens 25% der Anteile umsonst erhalten. 5% sollen an die Betriebsleitung gehen, 10% zu ermäßigten Preis erworben werden können. Offizieller Stichtag für den Beginn der Kampagne war der 1. April.

Anders als die Liberalen, die die Verschleppung der Privatisierung beklagen, kritisiert die neue Opposition, Radikaldemokraten letzlich nicht anders als die Konservativen, deren unkontrolliertes Wuchern. Die Klagen der Regierung über den Boykott durch korrrupte Bürokraten sind in ihren Augen nur Ablenkungsmanöver, die die Bevölkerung über die eigentlichen Vorgänge täuschen sollen. Im „St. Petersbruger Jugendverband“, hervorgegangen aus dem „Komsomol“, der früheren Jugendorganisation der KPdSU, einer der opppositionellen Zellen St. Petersburgs, klingt das so:

Mitglied: Jugendverband: (Sollonninow) (Take 3)
„Offiziell ist die Privatisierung noch nicht verkündet worden. Offiziell fängt sie erst im April, Mai an. Aber in Wirklichkeit läuft sie schon, und das nicht erst ein Jahr. Das ist die sogenannte Nomenklatur- Privatisierung. Alles Wertvolle, was es bei uns im Staat noch gab – jene Werke, jene Produktionen, die rentabel waren, das, was man im Rahmen der Marktwirtschaft nutzen kann – wird verkauft, außerhalb der Gesetze, vorbei an irgendwelchen öffentlichen Kommissionen, ohne Einschaltung der Massenmedien, erst recht ohne die Beteiligung der Werktätigenkollektive. Das geht so in Privathand. Es kursiert jetzt ein Witz in der politischen Welt: Bei Beginn der Privatisierung wirde sich herausstellen, daß alles, was irgend nur möglich war, bereits privatisiert ist.“

Erzähler:
Der so spricht, ist Dimitri Sollonninow, Student der Informatik, Redakteur bei der St. Petersburger Jugendzeitung „Novaja Gasjeta“ und Aktivist des Jugendverbandes. Dimitri ist, wie die ganze Redaktion, erklärter Antistalinist, aber Sympathisant eines reformsozialistischen Weges. Auch Dimitri ist keineswegs prinzipiell gegen Privatisierung, vorausgesetzt, daß sie „zivilisiert“, darunter versteht er, kontrollierbar und im Interesse der arbeitenden Bevölkerung verläuft. Davon kann jedoch offenbar nicht die Rede sein. Verkauft wird, woran westliche Kreditgeber interessiert sind. Das sind keineswegs die Verlustbetriebe, sondern die besten Hotels, die interessantesten Plätze, die profitabelsten Fabriken. Die Belegschaften werden formal einbezogen, faktisch umgangen. Viele Beamte der staatsmonopolistischen Ministerien und Direktoren von Betrieben schieben sich die Aktienpakete auf inzwischen über 700 Börsen gegenseitig zu. Einen kontrollierbaren Kapitalmarkt, der die Preise für Angebot und Nachfrage kontrollieren könnte, gibt es nicht. Zurück bleibt der Schrott, verrottete Häuser, veraltete Produktion, ineffektive Arbeitsverfahren. Für diese Betriebe gibt es nur noch die Versteigerung, den Bankrott. Das gleiche gilt für die Privatisierung auf dem Lande.

Bitter resümiert Dimitri:

Dimitri Solloninow:
„Nichts hat sich geändert. Das System der Ministerien, der Sowchosen und Kolchosen funktioniert, wie es immer funktioniert hat. Es heißt jetzt nur anders. Das Minsisterium wird Konzern genannt, die Kolchose auf Erlaß des Präsidenten `Aktiengesellschaft geschlossenen Typs‘.

Erzähler:
Nostalgische Untertöne sind nicht zu überhören, wenn Dimitri fortfährt:

Dimitri Solloninow:
„Früher spielte die KPdSU die Rolle eines Mechanismus, der die Kontrolle über die Einhaltung von Regeln der Produktion, der Durchführung von rechtlichen Normen hatte – als all das zusammenbrach, blieb das Eigentum in alten Händen, aber das Kontrollsystem brach weg. Jetzt betrachtet jeder seine führende Stelle vor allem als Möglichkeit der eigenen Bereicherung.“

Erzähler:
Bereicherung ist auch das Stichwort Dr. Oxana Dimitriewas. Ihr kann man sicherlich keine Sympathie für sozialistische Nostalgie nachsagen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Finanz-ökonomischen Institut in St. Petersburg, empirisch tätige Soziologin und seit einigen Jahren Chefin eines Instituts zur Unternehmensberatung. 1989 erhielt sie einen Preis für das Konzept der „Selbstbewirtschaftung“ Leningrads. Ein Jahr später sah sie sich durch Pläne für eine „freie Zone Leningrads“ beiseitegeschoben, die statt des allmählichen Übergangs zu Marktverhältnissen deren sofortige Herstellung in einer Art Freihandelszone vorschlugen. Auch Frau Dimitriewa ist keineswegs prinzipiell gegen Privatisierung. Die aktuelle Politik der Regierung bezeichnet sie jedoch als „System der Mafianisierung“, das vor allem von priviligierten Westbeziehungen lebe. Die Entwicklung der „freien Zone“ ist für Frau Dimitriewa exemplarisch:

Oxana Dimitriewa: (Take 4)
„Ich habe Ihnen erzählt, daß das alles nur Worte waren, daß das niemals funktionieren würde. Und tatsächlich, es funktionierte nicht. Es hat nur den Leuten einige Vorteile gebracht, die darin engagiert waren. Sie reisten ins Ausland, hielten Vorlesungen, wurden dafür bezahlt. Das mag westlichen Leuten ziemlich gering erscheinen, aber für uns ist das, gemessen am Rubelkurs, ein großes Einkommen. Dafür müssen sogar Unternehmer auf höchster Ebene bei uns ein Jahr lang arbeiten. Diese Leute bekamen das dort für eine Vorlesung. Das ist eine ernsthafte Tatsache, die das Verhalten unseres Volkes, unserer Regierung beeinflußt und die man in Betracht ziehen muß: Reisen, Honorare für Vorlesungen, Artikel und sogar Bücher. Das muß man berücksichtigen, wenn man die Politik und das Verhalten der Macher der Politik analysiert. Ihr Wunsch nach Westkontakten ist nicht nur von objektiven Notwendigkeiten des Landes nach ökonomischen Beziehungen diktiert, sondern durch ihre persönlichen Interessen, solche Vergünstigungen zu erhalten. Ich möchte keine Namen nennen, aber viele, die ich kenne, haben es geschafft, von solchen Einkünften Wohnungen zu kaufen, Autos usw. Eine Wohnung z. B. kostet zur Zeit 2000 Dollar. Das ist gerade die Summe, die eine Person mit guter Ausbildung mit einigen Vorträgen im Westen einstreichen kann.“

Erzähler:
Frau Dimitriewa ist keine Anti-Westlerin. Sie hat in London studiert und verfügt selber über gute Kontakte zum Westen. Demokratie nach westlichem Standard für ihr Land zu erreichen, ist ihre Sehnsucht. Umso mehr wiegt ihr Urteil:

Oxana Dimitriewa
„So ist die ganze Sache mit der „feien Zone“ einfach ein Abenteuer und ein großer Reinfall. So haben sie die Leute zwei Jahre lang betrogen. Danach ist nichts! Die wirtschaftliche Situation in Leningrad ist schlechter als in vielen anderen Städten. (…) Aber dieselben Leute, die für diesen Unsinn verantwortlich sind, halten jetzt die Posten im Parlament und in der Regierung besetzt. Wie sie in den letzten beiden Jahren die St. Petersburger Bevölkerung getäuscht haben, so täuschen sie jetzt das ganze Land über ihre Wirtschaftspolitik. Nehmen wir zum Beispiel den Herrn Tschuwajs. Er war einer der Ideologen der „freien Zone“. Nachdem er die „freie Zone“ erfunden, die Leute genarrt, seine vollkommene Ingnoranz in wirtschaftlicher Praxis und Theorie bewiesen hat, hat er jetzt den Posten des Vorsitzenden der Privatisierungskommission in Moskau erhalten. So etwas ist in keinem anderen Land möglich.“

Erzähler:
Was der junge Unternehmer „Kampf um die Macht“, was Wladimir Markow „bürokratische“, was Dimitri Solloninow „nomenklaturische Privatisierung“ nannte, das nennt Frau Dimitriewa die „neue Welle“. Gemeint ist damit in allen Fällen dasselbe, nämlich die Erneuerung des Staatsdirigismus unter demokratischer Fahne. Alte und Neue Macht spielen sich Posten, Verbindungen und Gelder gegenseitig in die Hände. Vertreter der neuen Macht, die vor ihrem Aufrücken in die neue Bürokratie niemanden außer sich selbst und allgemeine demokratische Programme repräsentierten, vertreten inzwischen handfeste Interessen der so erneuerten herrschenden Schicht. Nicht Entstaatlichung, wie offiziell verkündet, sondern neuerliche Verstaatlichung sind die Folgen der gegenwärtigen Politik.   Schon 1989 hatte Frau Dimitriewa den Antritt der „neuen Macht“ als bloßen Elitenwechsel kritisiert. Durch den Machtantritt Jelzins sieht sie diese Entwicklung in unheilvoller Weise vollendet:

Oxana Dimitriewa:
„Sie erdrosselten die unabhängigen Geschäfte und öffneten den Weg für sich selber. Das war der erste Widerstand gegen die Entstehung einer unabhängigen mittelständischen Unternehmerschicht. Das hat die Initiativen niedergeschlagen. Nun wiederholt sich die Situation, allerdings durch eine neue Welle von Bürokraten. Jede Welle nutzt ihre Zeit an der politischen Macht zur Akkumulation ökonomischer Macht. Aber, um das in westlicher Terminologie auszudrücken, das heißt nichts anderes als Korruption. Und es bedeutet, daß es unter diesen Umständen niemals einen Rahmen für unabhängiges Unternehmertum geben wird. Sie werden immer versuchen, die unabhängigen Unternehmer, die nicht mit ihnen verbunden sind, zu isolieren und ihr eigenes Monopol zu sichern. Diese Situation wiederholt sich jetzt. (…) Wir stehen vor einer Katastrophe.“

Erzähler:
Für Valeri Jewalkow, 22 Jahre ist die Katastrophe schon da. Er ist Facharbeiter bei „LOMO“, das ist die „leningrader optisch-technische Vereinigung“. Valeri möchte sich mit Freunden zusammen selbstständig machen. Sie möchten Keramik produzieren. Gefragt, wie er sich das konkret vorstelle, antwortet er:

Valeri Jewalkow: (Take 5)
„Erst müssen wir Geld verdienen, irgendwie, ohne Investitionen, durch Vermittlerdienste. Nehmen wir an: es gibt einen Verkäufer, der nicht weiß, wem er sein Geld anbieten soll. Ich finde für ihn einen Käufer und kriege dafür Prozente. Damit muß ich dann einen Haufen Geld machen, mir Produktionsmittel kaufen, ein Gebäude pachten, irgendwie auf die Beine kommen, mir eine materielle Basis schaffen. Dann muß ich aber auch schon mit der Produktion beginnen. Aber wie soll das jetzt funktionieren? Allein die Pacht und die Steuern würgen dich ab! (…) Ich habe viele Freunde, die in kleinen Unternehmen arbeiten, denen geht die Luft aus. Sie sitzen da und warten, daß sich die Steuerpolitik der Regierung ändert, damit man wenigstens irgendwas machen kann. (…) Die Regierung sagt, man soll dem Volk die Handlungsfreiheit geben, irgendwelche Vergünstigungen für Unternehmer, Möglichkeit hochzukommen. Aber sie fangen gleich an, alles abzuwürgen. Gerade hat einer angefangen und schon… “

Erzähler:
Für Valerie ist klar: Die Zukunft gehört nur den Großen. Bleibt zu ergänzen: Oder denen, die es geschafft haben, in den ersten Jahren der Perestroika soviel Kapital und politische Verbindungen zu akkumulieren, daß sie schon zu den Protegierten und nicht mehr zu den Opfern der „neuen Welle“ gehören.
Dies alles erweckt den Anschein, als ob in der ehemaligen Sowjetunion nur noch ein einziges Gesetz gilt, das Gesetz des „wilden“ Kapitalismus, das Wolfsgesetz. Aber die zu kurz gewordene Decke auf sich selbst zu ziehen, ist im Rußland der Privatisierung trotz allem nicht einfach identisch mit „persönlicher Bereicherung“. Offenbar ist es nicht einmal mit dem Kampf um die persönliche Vormachtstellung auf dem erhofften neuen Markt getan. Die Lage ist komplizierter: Es geht ums Überleben, und zwar nicht nur um das des Einzelnen, sondern um das Überleben jener kollektiven Strukturen, die die Existenz des Einzelnen erst garantieren.
Dimitri Solloninow versucht es so zu erklären:

Dimitri Solloninow:
„Logisch wäre es, scheint mir, das Geld aus den Privatisierungsverkäufen zur Modernisierung von Betrieben auszugeben. Das wäre von Vorteil, aber das passiert nicht. Für einen Teil des Geldes wird Konsumgut gekauft: Lebensmittel… Schuhe, all das, was früher über staatliche Wege besorgt wurde. Das macht der Betrieb, der verkauft wurde, selbst. Ein anderer Teil des Geldes geht an das Ministerium, zu dem der Betrieb gehört. Es versucht damit die Löhne zu erhöhen, die seiner Angestellten. Also versorgt das Ministerium, indem Teile eines Betriebes verkauft, im Endeffekt nur die Leute, die in ihm arbeiten. Es wird alles aufgegessen. Es geht nicht in die Modernisierung der Produktion im Land ein.“

Erzähler:
Ein Beispiel für das, was Dimitri beschreibt, ist das Kirowwerk in St. Petersburg. Früher war es einer der Musterbetriebe der Union. Panzer und schwere Landmaschinen wurden dort produziert. Ganz zu schweigen vom Rückgang der Rüstungsproduktion, stehen dort zur Zeit 1000 Traktoren auf Lager, das Stück zu 800.000 Rubel. Niemand kann solche Preise bezahlen, besonders nachdem den Sowchosen die Subventionen gestrichen worden sind, abgesehen davon, daß die Traktoren für die angestrebte Individualwirtschaft viel zu schwer sind. Jetzt wird dort in einer Schicht gearbeitet, vier Stunden. Das Werk soll privatisiert, also aus einem Staatsbetrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Noch aber ist nichts verkauft. Die Verhandlungen laufen. Nur durch Verkauf anderer Betriebe hat das Ministerium, dem das Kirowwerk, wenn man so sagen kann, gehört, noch Geld, den Arbeitern die Löhne zu zahlen. Ebenso macht es der Direktor des Betriebs selbst. Er verkauft nach und nach einzelne Teile des Werkes, einzelne Gebäude, einzelne Produktionsstätten, einzelne Werkbänke. Er verpachtet und verkauft den Vorrat an Metall, der noch vorhanden ist.

Dimitri Solloninow:
„Jetzt verkaufen alle Betriebe sich selbst auf diese Art. (…) Jeder weiß, daß ein nichtproduzierendes Werk Blödsinn ist. Es kann nicht bestehen. Das ist unnormal. Die Arbeiter müssen entlassen werden. Sie machen doch nichts! Aber wenn man sie entläßt, gibt es einen fürchterlichen sozialen Knall in der Stadt. Deshalb zieht man vor, das Werk Teil für Teil zu verkaufen.“

Erzähler:
Um zu verstehen, was Dimitri schildert, muß man sich die besonderen Strukturen der Wirtschaft der ehemaligen Sowjetunion vor Augen führen: Über 90% ihrer Betriebe sind staatlich. Monopolistische Großbetriebe sind die Norm. In Petersburg gehören allein 85% außerdem zum sog. militärisch-industriellen Komplex. Und nicht nur das: Jeder Betrieb ist ein Kosmos für sich. Er hat seine eigene Versorgungsstruktur, die parallel zur allgemeinen staatlichen verläuft. Er hat seine eigenen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Kindergärten, Ferienheime, ganze städtische Infrastrukturen sind Sache des Betriebes. Vor allem für Betriebe in der Provinz, wo häufig eine Stadt allein um ein Produkt herum entstanden ist, steht und fällt das eigene Wohlergehen daher mit Wohlergehen des Betriebes. Hier wird sichtbar, daß der Kampf um die Privatisierung weit über den bloßen Ärger wegen der neuen Korruption hinausgeht.

Auch Viktor Kamarow, Arbeiter bei „Elektron“, kann darüber einiges erzählen. Bei „Elektron“, wo die „nomenklaturische Privatisierung“ voll im Gange ist, zeigen sich die Folgen:

Viktor Kamarow: (Take 6)
„Es tauchen noch andere Schwierigkeiten auf. Sie sind damit verbunden, daß die Betriebe ihre Dienstleistungssphäre haben. Bei uns im Land war es ja so: Eine Gesellschaft hatte Krankenhäuser, Sanatorien, Pionierlager, Erholungshäuser. Das Kirowwerk hat beispielsweise ein Krankenhaus, das dem in nichts nachstand, in denen die Nomenklatura behandelt wurde, das Swerdlow- Krankenhaus. Dort wurden die Arbeiter s e h r gut behandelt, auf sehr hohem Niveau. Diese privilegierten Betriebe gab es bei uns. (…) Jetzt wird die Lage bei ihnen rapide schlechter.“

Erzähler:
Viktor Kamarow weiß, wovon er spricht. Bei „Elektron“ hat sich die Decke bereits als zu kurz erwiesen. Nach über 20jähriger Betriebszugehörigkeit wurde Viktor wie viele andere soeben entlassen. Er stände ohne Einkommen da, bezöge er nicht als Funktionär der „Föderation unabhängiger Gewerkschaften“ und aus kleineren publizistischen Tätigkeiten einen bescheidenen Unterhalt.
Die Privatisierung wird die Wirtschaft ruinieren, fürchtet Viktor. Zur Begründung verweist er auf die Besonderheiten der sowjetischen Produktion, in der profitable und nicht profitable Betriebe in einem System der Abhängigkeit miteinander verkoppelt waren.

Viktor Kamarow:
„Bei uns sind ja bisher verschiedene Betriebstypen in einem Konsortium zusammengefaßt. Ein Teil stellt Spezialprodukte her, ein anderer dient dem Konsum. Die `notwendige Produktion‘, wie wir das erste nennen, war profitabel. Das brauchten ja tausende vom Betrieben. Das für den Konsum ging so nebenbei. Die Betriebe waren aber verpflichtet, es zu machen, obwohl es nicht profitabel war, ja sogar am Rande des Verlustes lag. Aber es wurde durch die staatliche Förderung gedeckt und alles war in Ordnung. Jetzt läuft es andersherum. Jetzt wird Konsumgut gebraucht – na sowas wie Töpfe, Möbel, Lampen. Das wird jetzt lohnend. Die Produktion von Elektronik, von Zubehörteilen usw. wird dagegen unprofitabel. Der Staat hört auf, das zu fördern.“

Erzähler
Für Viktor liegen die Folgen auf der Hand: Zerreißen der gewachsenen Wirtschaftsverbindungen, Produktionsstillstand, Massenentlassungen.

Viktor Kamarow
„Heute haben wir eine verdeckte Arbeitslosigkeit. In Petersburg es zum Beispiel nur 10.000 offiziell registrierte Arbeitslose. Die Zahl ist jedoch sehr dehnbar. Die meisten Arbeitslosen sind nicht registriert. Sie schlagen sich irgendwie durch. Wissen Sie, nicht alles hat bei uns einen Herrn. Man kann bei uns von allem möglichen leben, ohne wirklich zu arbeiten. Aber wenn es zum massenhaften Stillstand der Betriebe kommt, dann wird es sehr schwer.“

Erzähler:
„LOMO“, Kirowwerk, „Elektron“, 30.000, 40.000, 100.000 Menschen,  die ganze Industrie dieses Riesenlandes – Millionen sind in solche heillosen Debatten verstrickt. Noch gelingt es, die zu kurz gewordene Decke immer wieder von einer Blöße auf die andere zu schieben. Aber der Tag ist tatsächlich absehbar, an dem sie endgültig zerreißt. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine neue, paradox erscheinende Konfrontationslinie im Lande heraus: Direktoren, Manager, kleine Unternehmer und Belegschaften, selbst solche, die schon privatisiert haben, entdecken ihr gemeinsames Interesse gegen die Privatisierungslinie des Staates. Das gilt für Produktionsbetriebe nicht anders als für Sowchosen und Kolchosen. Immer öfter treten Direktoren namens ihrer Kollektive im Fernsehen, in der Presse oder in politischen Versammlungen gegen die liberale Linie der Total-Privatisierung auf. Die Erklärungen dafür sind verschieden: Oxana Dimitriewa sieht darin die paternalistische Verantwortung der Direktoren, die die Katastrophe verhindern wollen. Wladimir Markow fürchtet die Wiedergeburt des russischen Kollektivismus im Geist der „obschina“, der russischen Dorfgemeinde. Konservative beschwören eben diese mentalität als Qualität des russischen Volkes.

Boris Kagarlitzky, einer der Köpfe der reformsozialistischen Bewegung sagt es nüchtern:

Boris Kagarlitzky: (Take 8)
„Sie sind Technokraten. Sie wissen, daß nahezu jede Privatisierungsstrategie die Unternehmen ruiniert. In diesem Sinne erhöht jede Privatisierung das Risiko für die Direktoren, weil sie dann nichts mehr zu leiten hätten. Sie sorgen sich um ihre eigenen Arbeitsplätze. (…) Wenn sie also die Arbeitskollektive zerstören, selbst um den Profit des Unternehmens zu erhöhen, dann zerstören sie in einer Wirtschaft wie der, die wir heute haben, ihre eigenen Überlebensmöglichkeiten. (…) Sie müssen ihre Belegschaft so loyal sich gegenüber halten wie irgend möglich. Wenn sie anfangen zu entlassen, haben sie sofort das Risiko von Streiks.“

Erzähler:
Allen Hoffnungen auf eine „demokratische“, eine „sozialistische“ oder sonstwie „richtige“ Privatisierung, sei es aus dem liberalen, sei es aus seinem eigenen Lager, mit denen die Ausuferungen der nomenklaturischen Korruption zu korrigieren seien, setzt Boris Kagarlitzky die harte Realität entgegen:

Boris kagarlitzky:
„Natürlich, die Privatisierung ist heute bürokratisch, weil es keine andere Möglichkeit gibt, etwas zu privatisieren, denn es gibt keine Bourgeoisie, keinen Privatsektor, der etwas kaufen könnte. Daraus resultiert, daß es keine Privatisierung geben kann, die nicht bürokratisch ist. Etwas anderes ist eine totale Utopie, Unsinn. (…) Die `nomenklaturische Privatisierung‘ wurde nicht wegen der schlechten Leute so beherrschend, nicht weil die Nomenklatura darauf drängte. Sie ist auch der technisch leichteste und der erfolgreichste Weg, weil sie weniger von der Wirtschaft zerstört als irgendeine andere Strategie. Mit jeder anderen Strategie wäre der Zusammenbruch noch schlimmer.“

Erzähler:
Auch die Aufteilung der Unternehmen an die Arbeitskollektive ist für Boris Kagarlitzky kein Ausweg. Sie ein einfach zu Eigentümern der Unternehmen zu erklären, ohne die Rahmenbedingungen zu ändern, hält er für den besten Weg, sie in den Bakrott zu treiben. Unvermeidlich ist für ihn auch die Vernichtung der gegenwärtigen neuen Mittelschicht. Sie bekomme nur, was sie sich mit der hemmungslosen Unterstützung der Jelzin-Regierung selbst angerührt habe.

Boris Kagarlitzky:
„Es gibt keinen Ausweg. Die Katastrophe ist unvermeidlich und notwendig. Die Strukturen, die jetzt existieren, haben sich als unfähig erwiesen, auch nur das Problem ihres eigenen Überlebens zu lösen, auch nur die minimalsten technischen Voraussetzung für das eigene Selbstinteresse zu liefern. Wenn so etwas geschieht, dann heißt das, daß solche sozialen Strukturen nicht verdienen, fortgesetzt zu werden. Man muß die Gesellschaft von Anfang an wieder aufbauen.“

Erzähler:
Der Realität, die Boris Kagarlitzky ausspricht, kann sich kaum jemand, wer sich im Lande umsieht. Aber was ein „neuer Anfang“ ist, darüber gibt es in zur Zeit wohl soviel Meinungen wie Menschen in der ehemaligen Sowjetunion. Nur eins ist sicher: In der Privatisierung allein liegt er nicht.

Kai Ehlers, 7.4.92

Von Kai Ehlers erschien soeben:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, 19,80 DM.

Die Decke reißt – Privatisierung in der ehemaligen Sowjetunion

Ansage:
In der ehemaligen Sowjetunion hat die Kampagne zur Privatisierung begonnen. Bis Ende 1992 soll der wichtigste Teil der bisherigen Staatsbetriebe in Privatbesitz überführt worden sein. Ein Volk von Eigentümern soll entstehen. Die Privatisierung, auch Entstaatlichung genannt, ist der zweite Schritt des „Schockprogramms“, mit dem Boris Jelzin nach der Ablösung Michail Gorbatschows die Empfehlungen des „Internationalen Währungsfonds“ in praktische Politik umzusetzen versucht. Neue Kreditzusagen des Fonds begleiten diesen Schritt. Man erwartet Erfolge.

Erzähler
Wer sich ins Land begibt, wird mit einer anderen Realität konfrontiert. Tausende stehen auf den Straßen. Sie verkaufen, was nicht niet- und nagelfest ist. In den Büros und Fabriken stockt die Arbeit. Überhöhte Steuern untergraben Handel und Produktion.
Auch die Valutahoheit hat der Staat wieder an sich gezogen. Damit sind alle Eigeninititiaven im Ost-West-Handel blockiert. Nichts geht mehr. Die kleinen Firmen stehen vor dem Bankrott.

Dima, Chef einer Computer-Kooperative in Moskau, die das neue Firmensterben bisher überstanden hat, beschreibt die Situation so:

Dima: (Take 1)
„Alles ist jetzt stehengeblieben. Alles ist gelähmt. Man verkauft nicht und kauft nicht. Irgendwelche alten Verträge werden noch erfüllt, die, die früher bezahlt wurden.“

Erzähler:
Zur Privatisierung befragt, erklärt Dima:

Dima:
„Ich denke, daß es überhaupt keine Privatisierung gibt, daß derselbe Kampf um die Macht läuft wie ehedem. Jeder zieht die Decke zu sich herüber. Nur, sie verstehen eine einfache Sache nicht: daß sie übertreiben! Wieviel Zeit ist schon vergangen? Die Decke reißt im Endeffekt einfach auseinander und keiner kriegt etwas. Alle erfrieren oder krepieren an Hunger.“

Erzähler:
Aber nicht jeder sieht die Lage so illusionslos wie dieser junge Unternehmer. Da sind zunächst die liberalen Befürworter der Jelzin-Linie, jene, die ihn im August `91 an die Macht brachten. Typisch ist Wladimir Markow. Markow ist Mitarbeiter am „Wernadski-Institut für natürliche Ressourcen“ in Moskau, dort verantwortlich für soziologische Regional-Analyse. Im Zuge der Perestroika wurde er vom wissenschaftlichen Beobachter zum regionalen Unternehmensberater, der den örtlichen Autoritäten von „Arsamas 16“, einem Distrikt im zentralrussischen Wolga-Raum, dabei helfen will, den Weg in die neue marktwirtschaftliche Wirklichkeit zu finden. Markow ist durchaus kritisch gegenüber Boris Jelzin. Er tritt für eine „sozialistische Privatisierung“ ein. Darunter versteht er die Schaffung einer leistungsorientierten Eigentümergesellschaft nach westlichem Vorbild.
Auf die Frage, was sich unter Jelzins Politik geändert habe, antwortet Wladimir Markow:

Wladimir Markov: (Take 2)
„Die wesentlichste Veränderung ist wohl die, daß jetzt ganz offensichtlich nach den Gesprächen über die Privatisierung die konkrete Handlung beginnt. Nur wird das noch auf der Ebene des örtlichen Verwaltungsapparates gemacht. (…) Eine Rückkoppelung zur Bevölkerung findet praktisch noch nicht statt.“

Erzähler:
Aber auch Wladimir Markov ist unzufrieden. Er kennt in seiner Region viele Menschen, die Unternehmer werden wollen. Aber ihre Ansätze bleiben stecken. Sie leben ständig in Sorge, daß der Staat alles wieder ändert.

Wladimir Markov:
„Die Bevölkerung in unserer Provinz ist ja mehr daran gewöhnt, Befehle auszuführen. Darin liegt eine der Schwierigkeiten unserer ganzen Entwicklung. Solange man unseren Leuten nicht etwas befiehlt – absurd, aber wahr – tun sie nichts. (…) Das ist ein Merkmal unserer russischen Gesellschaft. Es ist eine traditionelle Antipathie gegen die Macht, diese Überzeugung, daß du nicht der Träger von Bürgerrechten bist, sondern ein Objekt der Unterdrückung. Diese Antipathie ist schon genetisch bei uns. Sie zu überwinden, ist meiner Meinung nach eines der Hauptprobleme, das jetzt vor uns steht. Leider gibt sich nicht einer unserer Politiker Rechenschaft darüber, wie ernst diese Lage ist. Sie schicken nach wie vor mit neobolschewistischem Enthusiasmus Blitz und Donner, verschiedene Ukase, Befehle, Anweisungen, mit der Drohung von allem Möglichen. Daraus wird nichts. Sowas gab es sogar unter Stalin nicht. Wenn es das gab, dann mit schlechten Ergebnissen. Und jetzt ist das noch sinnloser.“

Erzähler:
Aber Markow will sich die Hoffnung nicht nehmen lassen. „Sozialen Optimismus“ nennt er das. Er ist überzeugt:

Wladimir Markow
„Man braucht nur einen klaren rechtlichen Rahmen, dann würde der Prozess der Eigentumsbildung losgehen, den aber giebt die Regierung nicht. So kommt alles zum Stillstand.“

Erzähler:
Der fehlende Rahmen kann es jedoch nicht sein, der den Stillstand verursacht. Schließlich gibt es durchaus Gesetze, wenn auch nicht gerade im westlichen Sinne demokratisch zustandegekommen. Grundlage der Privatisierungs-Kampagne ist ein „Ukas“, ein Erlaß des Präsidenten Jelzin vom 29.12.91, seit neuestem ergänzt durch ein „Memorandum“ der Regierung zur Wirtschafts- und Sozialpolitik für das Jahr 1992, in denen privatisierungspflichtige, genehmigungspflichtige und nicht zur Privatisierung freigegebene Objekten detailliert aufgezählt werden.
Privatisiert werden sollen danach zuallererst kommunale Betriebe, das Transport- und Dienstleistungswesen, die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelindustrie. Für einige wenige kommunale Betriebe müssen besondere Genehmigungen eingeholt werden. Auch sie werden in dem „Ukas“ minutiös aufgezählt. Ein ausdrückliches Verbot der Privatisierung dagegen wird für alle natürlichen Ressourcen des Landes ausgesprochen, ebenso für Kultur und Wissenschaftsfonds, generell, wie es heißt, für alle Betriebe, die „gesamtstaatliche, strategische und kulturelle Interessen wahrnehmen“. Das beträfe nicht zuletzt Betriebe des sog. „Militärisch-industriellen-Komplexes.
Besonders hervorgehoben, wird die Notwendigkeit, Verlustbetriebe zu sanieren. Darauf soll vor allem auch das Interesse des ausländischen Kapitals gelenkt werden. Dessen Beteiligung an der Privatisierung profitabler Großbetriebe soll dagegen der Genehming der obersten russischen Behörden bedürfen. Dieser Passus ist allerdings zugleich der in der Öffentlichkeit am wenigsten bekannte.
Auch ein offizielles Verfahren wurde festgelegt: Laut Gesetz kann ein Antrag auf Privatisierung zwar von beliebigen Leuten eingeleitet werden. Das „Arbeitskollektiv“, also die Belegschaften, muß jedoch zustimmen. Eine durch die Kollektive kontrollierbare Privatisierungs-Kommission soll die Verkäufe dann durchführen und überwachen, nachdem die Betriebe als Aktiengesellschaft deklariert wurden. Die „Arbeitskollektive“ sollen außerdem mindestens 25% der Anteile umsonst erhalten. 5% sollen an die Betriebsleitung gehen, 10% zu ermäßigten Preis erworben werden können. Offizieller Stichtag für den Beginn der Kampagne war der 1. April.

Anders als die Liberalen, die die Verschleppung der Privatisierung beklagen, kritisiert die neue Opposition, Radikaldemokraten letzlich nicht anders als die Konservativen, deren unkontrolliertes Wuchern. Die Klagen der Regierung über den Boykott durch korrrupte Bürokraten sind in ihren Augen nur Ablenkungsmanöver, die die Bevölkerung über die eigentlichen Vorgänge täuschen sollen. Im „St. Petersbruger Jugendverband“, hervorgegangen aus dem „Komsomol“, der früheren Jugendorganisation der KPdSU, einer der opppositionellen Zellen St. Petersburgs, klingt das so:

Mitglied: Jugendverband: (Sollonninow) (Take 3)
„Offiziell ist die Privatisierung noch nicht verkündet worden. Offiziell fängt sie erst im April, Mai an. Aber in Wirklichkeit läuft sie schon, und das nicht erst ein Jahr. Das ist die sogenannte Nomenklatur- Privatisierung. Alles Wertvolle, was es bei uns im Staat noch gab – jene Werke, jene Produktionen, die rentabel waren, das, was man im Rahmen der Marktwirtschaft nutzen kann – wird verkauft, außerhalb der Gesetze, vorbei an irgendwelchen öffentlichen Kommissionen, ohne Einschaltung der Massenmedien, erst recht ohne die Beteiligung der Werktätigenkollektive. Das geht so in Privathand. Es kursiert jetzt ein Witz in der politischen Welt: Bei Beginn der Privatisierung wirde sich herausstellen, daß alles, was irgend nur möglich war, bereits privatisiert ist.“

Erzähler:
Der so spricht, ist Dimitri Sollonninow, Student der Informatik, Redakteur bei der St. Petersburger Jugendzeitung „Novaja Gasjeta“ und Aktivist des Jugendverbandes. Dimitri ist, wie die ganze Redaktion, erklärter Antistalinist, aber Sympathisant eines reformsozialistischen Weges. Auch Dimitri ist keineswegs prinzipiell gegen Privatisierung, vorausgesetzt, daß sie „zivilisiert“, darunter versteht er, kontrollierbar und im Interesse der arbeitenden Bevölkerung verläuft. Davon kann jedoch offenbar nicht die Rede sein. Verkauft wird, woran westliche Kreditgeber interessiert sind. Das sind keineswegs die Verlustbetriebe, sondern die besten Hotels, die interessantesten Plätze, die profitabelsten Fabriken. Die Belegschaften werden formal einbezogen, faktisch umgangen. Viele Beamte der staatsmonopolistischen Ministerien und Direktoren von Betrieben schieben sich die Aktienpakete auf inzwischen über 700 Börsen gegenseitig zu. Einen kontrollierbaren Kapitalmarkt, der die Preise für Angebot und Nachfrage kontrollieren könnte, gibt es nicht. Zurück bleibt der Schrott, verrottete Häuser, veraltete Produktion, ineffektive Arbeitsverfahren. Für diese Betriebe gibt es nur noch die Versteigerung, den Bankrott. Das gleiche gilt für die Privatisierung auf dem Lande.

Bitter resümiert Dimitri:

Dimitri Solloninow:
„Nichts hat sich geändert. Das System der Ministerien, der Sowchosen und Kolchosen funktioniert, wie es immer funktioniert hat. Es heißt jetzt nur anders. Das Minsisterium wird Konzern genannt, die Kolchose auf Erlaß des Präsidenten `Aktiengesellschaft geschlossenen Typs‘.

Erzähler:
Nostalgische Untertöne sind nicht zu überhören, wenn Dimitri fortfährt:

Dimitri Solloninow:
„Früher spielte die KPdSU die Rolle eines Mechanismus, der die Kontrolle über die Einhaltung von Regeln der Produktion, der Durchführung von rechtlichen Normen hatte – als all das zusammenbrach, blieb das Eigentum in alten Händen, aber das Kontrollsystem brach weg. Jetzt betrachtet jeder seine führende Stelle vor allem als Möglichkeit der eigenen Bereicherung.“

Erzähler:
Bereicherung ist auch das Stichwort Dr. Oxana Dimitriewas. Ihr kann man sicherlich keine Sympathie für sozialistische Nostalgie nachsagen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Finanz-ökonomischen Institut in St. Petersburg, empirisch tätige Soziologin und seit einigen Jahren Chefin eines Instituts zur Unternehmensberatung. 1989 erhielt sie einen Preis für das Konzept der „Selbstbewirtschaftung“ Leningrads. Ein Jahr später sah sie sich durch Pläne für eine „freie Zone Leningrads“ beiseitegeschoben, die statt des allmählichen Übergangs zu Marktverhältnissen deren sofortige Herstellung in einer Art Freihandelszone vorschlugen. Auch Frau Dimitriewa ist keineswegs prinzipiell gegen Privatisierung. Die aktuelle Politik der Regierung bezeichnet sie jedoch als „System der Mafianisierung“, das vor allem von priviligierten Westbeziehungen lebe. Die Entwicklung der „freien Zone“ ist für Frau Dimitriewa exemplarisch:

Oxana Dimitriewa: (Take 4)
„Ich habe Ihnen erzählt, daß das alles nur Worte waren, daß das niemals funktionieren würde. Und tatsächlich, es funktionierte nicht. Es hat nur den Leuten einige Vorteile gebracht, die darin engagiert waren. Sie reisten ins Ausland, hielten Vorlesungen, wurden dafür bezahlt. Das mag westlichen Leuten ziemlich gering erscheinen, aber für uns ist das, gemessen am Rubelkurs, ein großes Einkommen. Dafür müssen sogar Unternehmer auf höchster Ebene bei uns ein Jahr lang arbeiten. Diese Leute bekamen das dort für eine Vorlesung. Das ist eine ernsthafte Tatsache, die das Verhalten unseres Volkes, unserer Regierung beeinflußt und die man in Betracht ziehen muß: Reisen, Honorare für Vorlesungen, Artikel und sogar Bücher. Das muß man berücksichtigen, wenn man die Politik und das Verhalten der Macher der Politik analysiert. Ihr Wunsch nach Westkontakten ist nicht nur von objektiven Notwendigkeiten des Landes nach ökonomischen Beziehungen diktiert, sondern durch ihre persönlichen Interessen, solche Vergünstigungen zu erhalten. Ich möchte keine Namen nennen, aber viele, die ich kenne, haben es geschafft, von solchen Einkünften Wohnungen zu kaufen, Autos usw. Eine Wohnung z. B. kostet zur Zeit 2000 Dollar. Das ist gerade die Summe, die eine Person mit guter Ausbildung mit einigen Vorträgen im Westen einstreichen kann.“

Erzähler:
Frau Dimitriewa ist keine Anti-Westlerin. Sie hat in London studiert und verfügt selber über gute Kontakte zum Westen. Demokratie nach westlichem Standard für ihr Land zu erreichen, ist ihre Sehnsucht. Umso mehr wiegt ihr Urteil:

Oxana Dimitriewa
„So ist die ganze Sache mit der „feien Zone“ einfach ein Abenteuer und ein großer Reinfall. So haben sie die Leute zwei Jahre lang betrogen. Danach ist nichts! Die wirtschaftliche Situation in Leningrad ist schlechter als in vielen anderen Städten. (…) Aber dieselben Leute, die für diesen Unsinn verantwortlich sind, halten jetzt die Posten im Parlament und in der Regierung besetzt. Wie sie in den letzten beiden Jahren die St. Petersburger Bevölkerung getäuscht haben, so täuschen sie jetzt das ganze Land über ihre Wirtschaftspolitik. Nehmen wir zum Beispiel den Herrn Tschuwajs. Er war einer der Ideologen der „freien Zone“. Nachdem er die „freie Zone“ erfunden, die Leute genarrt, seine vollkommene Ingnoranz in wirtschaftlicher Praxis und Theorie bewiesen hat, hat er jetzt den Posten des Vorsitzenden der Privatisierungskommission in Moskau erhalten. So etwas ist in keinem anderen Land möglich.“

Erzähler:
Was der junge Unternehmer „Kampf um die Macht“, was Wladimir Markow „bürokratische“, was Dimitri Solloninow „nomenklaturische Privatisierung“ nannte, das nennt Frau Dimitriewa die „neue Welle“. Gemeint ist damit in allen Fällen dasselbe, nämlich die Erneuerung des Staatsdirigismus unter demokratischer Fahne. Alte und Neue Macht spielen sich Posten, Verbindungen und Gelder gegenseitig in die Hände. Vertreter der neuen Macht, die vor ihrem Aufrücken in die neue Bürokratie niemanden außer sich selbst und allgemeine demokratische Programme repräsentierten, vertreten inzwischen handfeste Interessen der so erneuerten herrschenden Schicht. Nicht Entstaatlichung, wie offiziell verkündet, sondern neuerliche Verstaatlichung sind die Folgen der gegenwärtigen Politik.   Schon 1989 hatte Frau Dimitriewa den Antritt der „neuen Macht“ als bloßen Elitenwechsel kritisiert. Durch den Machtantritt Jelzins sieht sie diese Entwicklung in unheilvoller Weise vollendet:

Oxana Dimitriewa:
„Sie erdrosselten die unabhängigen Geschäfte und öffneten den Weg für sich selber. Das war der erste Widerstand gegen die Entstehung einer unabhängigen mittelständischen Unternehmerschicht. Das hat die Initiativen niedergeschlagen. Nun wiederholt sich die Situation, allerdings durch eine neue Welle von Bürokraten. Jede Welle nutzt ihre Zeit an der politischen Macht zur Akkumulation ökonomischer Macht. Aber, um das in westlicher Terminologie auszudrücken, das heißt nichts anderes als Korruption. Und es bedeutet, daß es unter diesen Umständen niemals einen Rahmen für unabhängiges Unternehmertum geben wird. Sie werden immer versuchen, die unabhängigen Unternehmer, die nicht mit ihnen verbunden sind, zu isolieren und ihr eigenes Monopol zu sichern. Diese Situation wiederholt sich jetzt. (…) Wir stehen vor einer Katastrophe.“

Erzähler:
Für Valeri Jewalkow, 22 Jahre ist die Katastrophe schon da. Er ist Facharbeiter bei „LOMO“, das ist die „leningrader optisch-technische Vereinigung“. Valeri möchte sich mit Freunden zusammen selbstständig machen. Sie möchten Keramik produzieren. Gefragt, wie er sich das konkret vorstelle, antwortet er:

Valeri Jewalkow: (Take 5)
„Erst müssen wir Geld verdienen, irgendwie, ohne Investitionen, durch Vermittlerdienste. Nehmen wir an: es gibt einen Verkäufer, der nicht weiß, wem er sein Geld anbieten soll. Ich finde für ihn einen Käufer und kriege dafür Prozente. Damit muß ich dann einen Haufen Geld machen, mir Produktionsmittel kaufen, ein Gebäude pachten, irgendwie auf die Beine kommen, mir eine materielle Basis schaffen. Dann muß ich aber auch schon mit der Produktion beginnen. Aber wie soll das jetzt funktionieren? Allein die Pacht und die Steuern würgen dich ab! (…) Ich habe viele Freunde, die in kleinen Unternehmen arbeiten, denen geht die Luft aus. Sie sitzen da und warten, daß sich die Steuerpolitik der Regierung ändert, damit man wenigstens irgendwas machen kann. (…) Die Regierung sagt, man soll dem Volk die Handlungsfreiheit geben, irgendwelche Vergünstigungen für Unternehmer, Möglichkeit hochzukommen. Aber sie fangen gleich an, alles abzuwürgen. Gerade hat einer angefangen und schon… “

Erzähler:
Für Valerie ist klar: Die Zukunft gehört nur den Großen. Bleibt zu ergänzen: Oder denen, die es geschafft haben, in den ersten Jahren der Perestroika soviel Kapital und politische Verbindungen zu akkumulieren, daß sie schon zu den Protegierten und nicht mehr zu den Opfern der „neuen Welle“ gehören.
Dies alles erweckt den Anschein, als ob in der ehemaligen Sowjetunion nur noch ein einziges Gesetz gilt, das Gesetz des „wilden“ Kapitalismus, das Wolfsgesetz. Aber die zu kurz gewordene Decke auf sich selbst zu ziehen, ist im Rußland der Privatisierung trotz allem nicht einfach identisch mit „persönlicher Bereicherung“. Offenbar ist es nicht einmal mit dem Kampf um die persönliche Vormachtstellung auf dem erhofften neuen Markt getan. Die Lage ist komplizierter: Es geht ums Überleben, und zwar nicht nur um das des Einzelnen, sondern um das Überleben jener kollektiven Strukturen, die die Existenz des Einzelnen erst garantieren.
Dimitri Solloninow versucht es so zu erklären:

Dimitri Solloninow:
„Logisch wäre es, scheint mir, das Geld aus den Privatisierungsverkäufen zur Modernisierung von Betrieben auszugeben. Das wäre von Vorteil, aber das passiert nicht. Für einen Teil des Geldes wird Konsumgut gekauft: Lebensmittel… Schuhe, all das, was früher über staatliche Wege besorgt wurde. Das macht der Betrieb, der verkauft wurde, selbst. Ein anderer Teil des Geldes geht an das Ministerium, zu dem der Betrieb gehört. Es versucht damit die Löhne zu erhöhen, die seiner Angestellten. Also versorgt das Ministerium, indem Teile eines Betriebes verkauft, im Endeffekt nur die Leute, die in ihm arbeiten. Es wird alles aufgegessen. Es geht nicht in die Modernisierung der Produktion im Land ein.“

Erzähler:
Ein Beispiel für das, was Dimitri beschreibt, ist das Kirowwerk in St. Petersburg. Früher war es einer der Musterbetriebe der Union. Panzer und schwere Landmaschinen wurden dort produziert. Ganz zu schweigen vom Rückgang der Rüstungsproduktion, stehen dort zur Zeit 1000 Traktoren auf Lager, das Stück zu 800.000 Rubel. Niemand kann solche Preise bezahlen, besonders nachdem den Sowchosen die Subventionen gestrichen worden sind, abgesehen davon, daß die Traktoren für die angestrebte Individualwirtschaft viel zu schwer sind. Jetzt wird dort in einer Schicht gearbeitet, vier Stunden. Das Werk soll privatisiert, also aus einem Staatsbetrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Noch aber ist nichts verkauft. Die Verhandlungen laufen. Nur durch Verkauf anderer Betriebe hat das Ministerium, dem das Kirowwerk, wenn man so sagen kann, gehört, noch Geld, den Arbeitern die Löhne zu zahlen. Ebenso macht es der Direktor des Betriebs selbst. Er verkauft nach und nach einzelne Teile des Werkes, einzelne Gebäude, einzelne Produktionsstätten, einzelne Werkbänke. Er verpachtet und verkauft den Vorrat an Metall, der noch vorhanden ist.

Dimitri Solloninow:
„Jetzt verkaufen alle Betriebe sich selbst auf diese Art. (…) Jeder weiß, daß ein nichtproduzierendes Werk Blödsinn ist. Es kann nicht bestehen. Das ist unnormal. Die Arbeiter müssen entlassen werden. Sie machen doch nichts! Aber wenn man sie entläßt, gibt es einen fürchterlichen sozialen Knall in der Stadt. Deshalb zieht man vor, das Werk Teil für Teil zu verkaufen.“

Erzähler:
Um zu verstehen, was Dimitri schildert, muß man sich die besonderen Strukturen der Wirtschaft der ehemaligen Sowjetunion vor Augen führen: Über 90% ihrer Betriebe sind staatlich. Monopolistische Großbetriebe sind die Norm. In Petersburg gehören allein 85% außerdem zum sog. militärisch-industriellen Komplex. Und nicht nur das: Jeder Betrieb ist ein Kosmos für sich. Er hat seine eigene Versorgungsstruktur, die parallel zur allgemeinen staatlichen verläuft. Er hat seine eigenen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Kindergärten, Ferienheime, ganze städtische Infrastrukturen sind Sache des Betriebes. Vor allem für Betriebe in der Provinz, wo häufig eine Stadt allein um ein Produkt herum entstanden ist, steht und fällt das eigene Wohlergehen daher mit Wohlergehen des Betriebes. Hier wird sichtbar, daß der Kampf um die Privatisierung weit über den bloßen Ärger wegen der neuen Korruption hinausgeht.

Auch Viktor Kamarow, Arbeiter bei „Elektron“, kann darüber einiges erzählen. Bei „Elektron“, wo die „nomenklaturische Privatisierung“ voll im Gange ist, zeigen sich die Folgen:

Viktor Kamarow: (Take 6)
„Es tauchen noch andere Schwierigkeiten auf. Sie sind damit verbunden, daß die Betriebe ihre Dienstleistungssphäre haben. Bei uns im Land war es ja so: Eine Gesellschaft hatte Krankenhäuser, Sanatorien, Pionierlager, Erholungshäuser. Das Kirowwerk hat beispielsweise ein Krankenhaus, das dem in nichts nachstand, in denen die Nomenklatura behandelt wurde, das Swerdlow- Krankenhaus. Dort wurden die Arbeiter s e h r gut behandelt, auf sehr hohem Niveau. Diese privilegierten Betriebe gab es bei uns. (…) Jetzt wird die Lage bei ihnen rapide schlechter.“

Erzähler:
Viktor Kamarow weiß, wovon er spricht. Bei „Elektron“ hat sich die Decke bereits als zu kurz erwiesen. Nach über 20jähriger Betriebszugehörigkeit wurde Viktor wie viele andere soeben entlassen. Er stände ohne Einkommen da, bezöge er nicht als Funktionär der „Föderation unabhängiger Gewerkschaften“ und aus kleineren publizistischen Tätigkeiten einen bescheidenen Unterhalt.
Die Privatisierung wird die Wirtschaft ruinieren, fürchtet Viktor. Zur Begründung verweist er auf die Besonderheiten der sowjetischen Produktion, in der profitable und nicht profitable Betriebe in einem System der Abhängigkeit miteinander verkoppelt waren.

Viktor Kamarow:
„Bei uns sind ja bisher verschiedene Betriebstypen in einem Konsortium zusammengefaßt. Ein Teil stellt Spezialprodukte her, ein anderer dient dem Konsum. Die `notwendige Produktion‘, wie wir das erste nennen, war profitabel. Das brauchten ja tausende vom Betrieben. Das für den Konsum ging so nebenbei. Die Betriebe waren aber verpflichtet, es zu machen, obwohl es nicht profitabel war, ja sogar am Rande des Verlustes lag. Aber es wurde durch die staatliche Förderung gedeckt und alles war in Ordnung. Jetzt läuft es andersherum. Jetzt wird Konsumgut gebraucht – na sowas wie Töpfe, Möbel, Lampen. Das wird jetzt lohnend. Die Produktion von Elektronik, von Zubehörteilen usw. wird dagegen unprofitabel. Der Staat hört auf, das zu fördern.“

Erzähler
Für Viktor liegen die Folgen auf der Hand: Zerreißen der gewachsenen Wirtschaftsverbindungen, Produktionsstillstand, Massenentlassungen.

Viktor Kamarow
„Heute haben wir eine verdeckte Arbeitslosigkeit. In Petersburg es zum Beispiel nur 10.000 offiziell registrierte Arbeitslose. Die Zahl ist jedoch sehr dehnbar. Die meisten Arbeitslosen sind nicht registriert. Sie schlagen sich irgendwie durch. Wissen Sie, nicht alles hat bei uns einen Herrn. Man kann bei uns von allem möglichen leben, ohne wirklich zu arbeiten. Aber wenn es zum massenhaften Stillstand der Betriebe kommt, dann wird es sehr schwer.“

Erzähler:
„LOMO“, Kirowwerk, „Elektron“, 30.000, 40.000, 100.000 Menschen,  die ganze Industrie dieses Riesenlandes – Millionen sind in solche heillosen Debatten verstrickt. Noch gelingt es, die zu kurz gewordene Decke immer wieder von einer Blöße auf die andere zu schieben. Aber der Tag ist tatsächlich absehbar, an dem sie endgültig zerreißt. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine neue, paradox erscheinende Konfrontationslinie im Lande heraus: Direktoren, Manager, kleine Unternehmer und Belegschaften, selbst solche, die schon privatisiert haben, entdecken ihr gemeinsames Interesse gegen die Privatisierungslinie des Staates. Das gilt für Produktionsbetriebe nicht anders als für Sowchosen und Kolchosen. Immer öfter treten Direktoren namens ihrer Kollektive im Fernsehen, in der Presse oder in politischen Versammlungen gegen die liberale Linie der Total-Privatisierung auf. Die Erklärungen dafür sind verschieden: Oxana Dimitriewa sieht darin die paternalistische Verantwortung der Direktoren, die die Katastrophe verhindern wollen. Wladimir Markow fürchtet die Wiedergeburt des russischen Kollektivismus im Geist der „obschina“, der russischen Dorfgemeinde. Konservative beschwören eben diese mentalität als Qualität des russischen Volkes.

Boris Kagarlitzky, einer der Köpfe der reformsozialistischen Bewegung sagt es nüchtern:

Boris Kagarlitzky: (Take 8)
„Sie sind Technokraten. Sie wissen, daß nahezu jede Privatisierungsstrategie die Unternehmen ruiniert. In diesem Sinne erhöht jede Privatisierung das Risiko für die Direktoren, weil sie dann nichts mehr zu leiten hätten. Sie sorgen sich um ihre eigenen Arbeitsplätze. (…) Wenn sie also die Arbeitskollektive zerstören, selbst um den Profit des Unternehmens zu erhöhen, dann zerstören sie in einer Wirtschaft wie der, die wir heute haben, ihre eigenen Überlebensmöglichkeiten. (…) Sie müssen ihre Belegschaft so loyal sich gegenüber halten wie irgend möglich. Wenn sie anfangen zu entlassen, haben sie sofort das Risiko von Streiks.“

Erzähler:
Allen Hoffnungen auf eine „demokratische“, eine „sozialistische“ oder sonstwie „richtige“ Privatisierung, sei es aus dem liberalen, sei es aus seinem eigenen Lager, mit denen die Ausuferungen der nomenklaturischen Korruption zu korrigieren seien, setzt Boris Kagarlitzky die harte Realität entgegen:

Boris kagarlitzky:
„Natürlich, die Privatisierung ist heute bürokratisch, weil es keine andere Möglichkeit gibt, etwas zu privatisieren, denn es gibt keine Bourgeoisie, keinen Privatsektor, der etwas kaufen könnte. Daraus resultiert, daß es keine Privatisierung geben kann, die nicht bürokratisch ist. Etwas anderes ist eine totale Utopie, Unsinn. (…) Die `nomenklaturische Privatisierung‘ wurde nicht wegen der schlechten Leute so beherrschend, nicht weil die Nomenklatura darauf drängte. Sie ist auch der technisch leichteste und der erfolgreichste Weg, weil sie weniger von der Wirtschaft zerstört als irgendeine andere Strategie. Mit jeder anderen Strategie wäre der Zusammenbruch noch schlimmer.“

Erzähler:
Auch die Aufteilung der Unternehmen an die Arbeitskollektive ist für Boris Kagarlitzky kein Ausweg. Sie ein einfach zu Eigentümern der Unternehmen zu erklären, ohne die Rahmenbedingungen zu ändern, hält er für den besten Weg, sie in den Bakrott zu treiben. Unvermeidlich ist für ihn auch die Vernichtung der gegenwärtigen neuen Mittelschicht. Sie bekomme nur, was sie sich mit der hemmungslosen Unterstützung der Jelzin-Regierung selbst angerührt habe.

Boris Kagarlitzky:
„Es gibt keinen Ausweg. Die Katastrophe ist unvermeidlich und notwendig. Die Strukturen, die jetzt existieren, haben sich als unfähig erwiesen, auch nur das Problem ihres eigenen Überlebens zu lösen, auch nur die minimalsten technischen Voraussetzung für das eigene Selbstinteresse zu liefern. Wenn so etwas geschieht, dann heißt das, daß solche sozialen Strukturen nicht verdienen, fortgesetzt zu werden. Man muß die Gesellschaft von Anfang an wieder aufbauen.“

Erzähler:
Der Realität, die Boris Kagarlitzky ausspricht, kann sich kaum jemand, wer sich im Lande umsieht. Aber was ein „neuer Anfang“ ist, darüber gibt es in zur Zeit wohl soviel Meinungen wie Menschen in der ehemaligen Sowjetunion. Nur eins ist sicher: In der Privatisierung allein liegt er nicht.

Kai Ehlers, 7.4.92

Von Kai Ehlers erschien soeben:
„Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, 19,80 DM.