Kategorie: Feature/Radio

Von 1989 bis 2004 habe ich ca. 100 Radiofeatures zur nachsowjetischen Entwicklung in Russland und deren lokelen und globalen Folgen erstellt. Sie basieren auf Gesprächen und Untersuchungen, enthalten daher eine Fülle authentischen Materials, das ich Ihnen hiermit zugänglich mache.

Sie finden die Features in der chronologischen Reihenfolge Ihrer Erstellung. Gezielte Informationen können Sie sich durch die Suchfunktion erschließen. Die Audiofassungen liegen mir als Kassetten vor. Wer Interesse an der Audiofassung hat, möge sich melden.

Rußland nach der Privatisierung – Kapitalismus oder was?

Vortext:

Gut fünfzehn Jahre befindet sich Rußland nun  im Zustand der Transformation, die Hälfte davon, seit Anfang 1991 Boris Jelzin die Macht übernahm, im beschleunigten Übergang zur freien Marktwirtschaft. So lautet jedenfalls die Theorie. Alle bisherigen Krisen wurden mit Übergangsschwierigkeiten erklärt. Die letzte Krise zwingt dazu, genauer zu fragen, was erreicht wurde und wo Rußland heute steht.
Kai Ehlers hat sich bei Direktoren, Unternehmern, Soziologen und im Lande selbst nach Antworten zu dieser Frage umgesehen.

Analytiker:
Eine Stichwortgeberin der Perestroika Ende der achtziger Jahre war Tatjana Saslawskaja. Von ihrer ”Nowosibirsker Schule” gingen seinerzeit erste Impulse zur wissenschaftlichen Begründung der Perestroika aus. Vorübergehend war Frau Saslawskaja danach als Beraterin Gorbatschows tätig. Heute ist sie Co-Rektorin im ”Institut für Sozialwissenschaften” in Moskau. In ihrem Buch, die Gorbatschow-Strategie von 1989, hatte Frau Saslawskaja die Gellschaft der Sowjetunion als eine Mischung aus Sozialismus und Kapitalismus bezeichnet:

Zitator:
”Das beschriebene System  stellt eine Art Hybridprodukt  aus dem zentralisierten  planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen  System dar, wobei  es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht  mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird,  sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.”

Analytiker:
Schon damals waren diese Begriffe recht vage. Immerhin lösten sie aber die nichtssagenden Worthülsen vom wissenschaftllich-technischen Fortschritt unter Führung der Arbeiterklasse durch vorstellbare Beschreibungen ab. Heute aber scheinen Frau Saslawaskaja ihre damaligen Beschreibungen nicht mehr stimmig:

O-Ton 1:     0,34
”Ja vo pervie usche…
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Übersetzerin:
”Ich glaube nicht, daß der Begriff Hybrid noch zutrifft. Auch die Begriffe Kapitalismus oder Sozialismus können nicht mehr richtig erklären, womit wir es hier zu tun haben. Man braucht neue Begriffe. Insgesamt würde ich unsere Gesellschaft heute allerdings eher als kapitalistisch beschreiben. Aber was für ein Typ von Kapitalismus? Man verkauft das eigene Land unter Wert. Man stiehlt und verschleudert es; Fabriken, Parkplätze, Wälder; es gibt genug zu verkaufen. So ein Kapitalismus ist das: kriminell, antipatriotisch. Aber das ist auch wieder nicht richtig. Wie soll man es nennen? Am Ende ist es einfach so etwas wie ein Monster.”
…Monster polutschetsja.”

Analytiker
Intensivierung, also Übergang von massenhafter zu qualifizierter Produktion – so lautete die Hauptlinie, die Frau Saslawskajas für die einsetzende Perestroika vorschlug. Was ist nach ihrer Meinung daraus geworden?

O-Ton 2: Tatjana Saslawskaja    0,24
”Ja dumaju schto…
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Übersetzerin:
”Ich denke, wir befinden uns jetzt in einer ”Gesellschaft im sozialen Umbruch”. So habe ich es in meinem letzten Buch genannt. Alte Institutionen zerfallen, neue bilden sich erst heraus. Deshalb ist die Gesellschaft zerbrochen, befindet sich in diesem intensiven Prozeß der Transformation. Auf die Frage, gab es eine Intensivierung? kann ich deshalb nur antworten: Ja und auch nein. Hier kann es keine eindeutige Antwort geben.”
.. i da i njet.”

Erzähler:
Auf die Tatsache angesprochen, daß in der russischen russischen Öffentlichkeit heute kaum noch von Reform, dafür umso mehr von krimineller Privatisierung gesprochen, ja, die Regierung selbst als kriminell bezeichnet werde, antwortet sie:

O-Ton 3:  Saslawskaja, Fortsetzung                    0,34
”Kriminalni, eta fakt…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
”Kriminell – das ist ein Fakt, kriminelle Charakter der Gesellschaft, kriminelle Macht, kriminelles Eigentum. Das ist natürlich das erschreckendste Resultat. Daß die Produktion steht, daß die Leute keine Arbeit haben, daß alles zusammenbricht. Das ist alles wahr. Das ist sehr schlecht. Aber der das ist das Schlimmste. Wir haben nicht nur keinen Schritt in Richtung auf einen Rechtsstaat geschafft, sondern uns viele Schritte von ihm entfernt. Das scheint mir das Problem Nummer eins zu sein. Wie das Problem gelöst werden kann, weiß ich nicht, gerade wegen der Kriminalisierung der Macht.”
… kriminalisatia wlasta.”

Analytiker:
Jussev Diskin, nach eigenen Angaben Eliteforscher, tätig am ”Insititut für regionale Volkswirtschaft”, zwei Generationen jünger als Frau Saslawskaja, hält die Begriffe von Kapitalismus und Sozialismus ebenfalls nicht füpr ausreichend zur Beschreibung der heutigen russischen Gesellschaft. Aer er begnügt sich nicht mit dem Erschrecken über das entstandene kriminelle Monster; er versucht es analytisch zu packen:

O-Ton 4: Dimitri Diskin, Transofrmationswissenschaftler        1,05
”Nu, jesli goworits stroga…
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt

Analytiker:
Auf dieser Basis, erklärt Diskin weiter, habe sich ein System oligarchischer Clans herausgebildet, in denen sich politische Macht immer mit dem Zugriff auf das Budget verbinde. Die Clans konzentrieren sich, so Diskin, in Moskau, wo sie um den Einfluß auf das Budget kämpfen. Dort haben sie sich mit den transnationalen Monopolen verbunden. Es sind dies die großen Finanzimperien wie das der Oneximbank, der Bank Minotep, der riesige Clan um den Moskauer Bürgermeister Juri Lyschkow, den Ol-Gas-Konzern Gasprom, der als drittgrößtes Monopol der Welt gelten könne usw. In den Regionen  herrsche ein anderes System.

O-Ton 5: Diskin, Forts.                         0,35
”I u etawa dabawit…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
”Regionale Elite und Moskauer Clans repräsentieren unterschiedliche Interessen: Die Moskauer Oligarchen hängen mit den außenwirtschaftlichen Belangen zusammen, die regionalen Clans, vertreten durch die Gouverneure, eher mit weiterverarbeitender Industrie vor Ort, mit dem, was nicht so viel Geld bringt. In gewissem Sinne halten sich beide Typen von Clans gegenseitig in Schach. Wirtschaftlich gesehen heißt das, sie behindern sich gegenseitig und schaffen so selbst die Voraussetzungen dafür, die Marktentwicklung zu behindern. ”
… rinotschni perspektiwi”

Analytiker:
Die neuen oligarchischen Strukturen entstanden  aus dem Zerfall der Nomenklatura. Die aktiveren und jüngeren Mitglieder, vornehmlich Leitungskader des Jugendverbandes der Kommunistischen Partei Komsomol, rissen jene Teile des Parteivermögens an sich, die sie vorher verwaltet hatten. Gebäude, Liegenschaften, Transportmittel. Vor allem aber verstanden sie es, Beziehungen zu nutzen. Dies wurde für viele der Ausgangspunkt, von dem aus sie um Anteile an dem enstehenden ”Markt” den Kampf aufnahmen. Auf der anderen Seite, wesentlich in den nicht so einträglichen oder veralteten Betrieben, blieben die Direktoren der großen Betriebe ohne die früheren Verbindungswege der Partei zurück. Sie sahen sich vor die Aufgabe gestellt, für einen bis dahin von Aufträgen und Zuteilungen lebenden Betrieb eigene, oft illegale Beziehungen herzustellen.
In diese Gemengelage mischte sich die Mafia. Aber Mafia – das waren nicht nur Schutzgelderpresser, offene Kriminelle oder korrupte Bürokraten. Mafia – das waren die Bosse der Schattenwirtschaft und die Autoritäten einer in langer Tradition herangewachsenen Gegengesellschaft. Beobachter im Lande erklären das so:

O-Ton 6: Jefim, Forts.                0,56
”Jest sakoni zoni…
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Die Sache ist die: Rußland hat seine Tradition der Zonen, der Lager. Sie haben ihre eigenen Gesetze. In der Stalinzeit, als zeitweilig 50 Millionen Menschen in den Zonen lebten, jetzt Gulags genannt, entwickelten sie sich zur Gegenwelt des Staates. Diese Gegenwelt umfaßte nicht nur Kriminelle, sondern aller Gegner der Sowjetmacht. Im Zuge der Liberalisierung ist der Staat schwächer geworden. Das begann gleich nach dem Tode Stalins; mit Gorbatschow hat es sich nur fortgesetzt; jetzt ist die Mauer gegenüber der Zone ganz eingebrochen. Dabei ist das Gesetz des Staates aber nicht zu dem der Zone, sondern das der Zone zu dem des Staates geworden, wesentlich stärkere Gesetze hat. Sie sind nicht einmal geschrieben, sie wirken nur einfach in den Köpfen der Menschen. Heute herrschen im Geschäftsleben, in dem, was allgemein Demokratie genannt wird, und was Kohl und Clinton so sorgsam unterstützen, die Gesetze der Zone. Wir leben im Lager!“
… schiwjom Lagerje

Analytiker:
Der so spricht, ist Jefim Berschin, lange Zeit Sonderberichterstatter an sog. ”heißen Punkten” der nachsowjetischen Transformation, Transnistrien, Tschetschenien, wo er das Wirken der Mafia vor Ort studieren konnte.
Am Besten begreife man die Entwicklung an dem, erklärt er, was in der Sowjetzeit, aber auch im heutigen Rußland mit einem Zonenausdruck „Obschag“ genannt werde, was soviel wie Gegengemeinschaft bedeute:

O-Ton 7: Jefim, Forts.                    1,06
”Obschag, ransche…
Regie: To/n stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„`Obschag´ – Das ist so: Zur Zeit der Sowjetmacht gab es die sogenannte `Kasse´. Nehmen wir an, wir haben zusammen geklaut; dann hat man dich geschnappt und du sitzt im Lager; mich haben sie aber nicht geschnappt. Was mache ich? Ich nehme einen Teil des Geldes, das wir gemeinsam geklaut haben, ich benutze es, um deine Familie zu ernähren, deine Kinder, um dir Freßpakete ins Lager zu schicken. Allmählich hat sich aus solchen Aktionen eine ganze Organisation entwickelt. In neuerer Zeit ist es einfach nicht mehr sinnvoll, das Geld nur in Kassen zu halten und dann daraus einzusetzen. Heute gilt: Geld  muß es kreisen, und kreisen heißt: Geschäft! Ein Teil des Geldes im heutigen Geschäftsleben Rußlands ist deshalb Geld aus der `Obschag´. Und hier herrscht natürlich eine harte Disziplin. Wenn du dich nicht beugst, wirst du bestraft, ganz zu schweigen davon, daß dir schon niemand mehr hilft. Das bedeutet, die Gesetze dieser Lagerbrüderschaft werden von niemanden übertreten. Letztlich sind alle diese Gesetze faktisch auf den Staat übergegangen.“
…i tagdali,tadgali.”

Analytiker:
In den ersten Jahren der Privatisierung wurde der Kampf mit dem Messer und der Automatischen ausgetragen. Heute sind die großen Geldleute interessiert daran, die zusammengerafften Gelder zu legalisieren. Dafür brauchen sie Dokumente, legale Genehmigungen, legale Konten, Lizensen, Registrierungen usw. Wer glaubt ohne sie auszukommen, wird immer noch kaltgestellt. „Aber inzwischen“, so Jefim Berschin, „geht man zum Bürgermeister, wo man die Lizensen für die Geschäfte ausgibt, und schwupp, gibt es keine Lizens mehr.“ So wie es dem Benzin-König von Moskau ergangen sei:

O-Ton 8: Jefim, Forts.                    0,49
”Menja prosta posnakomja odin…
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Ich kenne ihn; er hatte alle Tankstellen unter sich. Er ist ein kluger, wohlerzogener Bursche, ehemaliger Komsomloliz, sehr jung noch, hat da ehrlich im Komsomol gearbeitet, dann im Busyness, na, eben auf diesem üblichen Weg. Er hatte ein Dach, natürlich. Dann begann er ziemlich eigenständig aufzutreten. Als der Krieg in Tschetschenien begann, weigerte er sich, Steuern zu zahlen, um den Krieg nicht zu unterstützen. Er bot Tschernomyrdin riesige Geldsummen an, wenn bloß der Krieg aufhöre; er weigerte sich, Geld für den Bau der Erlöserkriche in Moskau zu geben. Ergebnis: Am Ende des Jahres lief seine Lizenz für die Tankstellen ab – eine neue hat er nicht bekommen. Das war´s dann. Er ist einmal Benzin-König gewesen.“
…benzinom Karolom.”

Analytiker:
In einer kürzlich durchgeführten Konferenz im Internet zum Thema ”Rechtspolitik und Sicherheit in Rußland” faßten Alexander Rahr, Leiter der Arbeitsstelle Rußland/GUS der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, und sein Kollege Philippp Pachomow diese Entwicklung in die Worte:

Zitator:
”Mit der Reformpolitik von Michael Gorbatschow wurden in den Staaten Osteuropas revolutionäre politische, soziale und wirtschaftliche Prozesse ausgelöst. Doch die Liberalisierung und die damit verbundene Schwächung des Staates führten auch in der kriminellen Welt der ehemaligen Sowjetunion zu Veränderungen. Die russische organisierte Kriminalität ist keine vorübergehende und schon gar nicht eine zufällige Erscheinung. Die kriminelle Welt, die Jahrzehnte lang vom KGB kontrolliert, zuweilen auch kultiviert wurde, war während der siebzigjährigen Herrschaft der kommunistischen Nomenklatura längst zu einem Staat im Staate mit eigenen Gesetzen und Verhaltensregeln geworden. Mit dem Beginn der Reformen strömte das Verbrechen in die sich nun öffnenden Freiräume, verschmolz mit dem korrumpierten teil des Staatsapparats und strebt heute nach Einfluß auf die Politik und das öffentliche Leben Rußlands. Nicht nur für die junge russische Demokratie, sondern auch für die westlichen Industrieländer wird das organisierte verbrechen der ehemaligen Sowjetunion, oft auch als ”Russenmafia” bezeichnet, zu einer aktuellen Bedrohung. Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität ist inzwischen zu einem weltpolitischen Thema größter Tragweite auf dem Gipfeltreffen der G-8 Staaten geworden.”

Analytiker:
80% des russischen Kapitals seien heute mafiotisch, erklären Alexander Rahr und Philipp Pachomow; zwei Szenarien halten sie für möglich:

Zitator:
”Das negative Szenario sieht vor, daß sich Rußland zu einem halb kriminellen Staat entwickelt, dessen führende Kräfte die zentralen Bürokraten, Unternehmenskartelle und die kriminelle Elite sein werden. Eine solche Entwicklung könnte schließlich mit der Machtergreifung eines autoritären Anführers enden, der gegen Korruption und Kriminalität zwar hart durchgreifen, aber auch die Freiheitsrechte und demokratische Bestrebungen einschränken würde. Das zweite, positive Szenario geht von einer Legalisierung des kriminellen und halb-kriminellen Kapitals in Rußland aus. Dabei müssen die illegalen Vermögen in destruktives und konstruktives Kapital unterschieden werden. Das destruktive Kapital wird weiterhin für illegale Operationen eingesetzt und kann unter den Bedingungen der staatlichen Schwäche und der Instabilität im Lande rentabel eingesetzt werden. Sein Einsatz unterminiert jegliche Anfänge der Schaffung eines Rechtsstaates. Der bei weitem größere Teil des illegalen russischen Kapitals dürfte jedoch dem konstruktiven Kapital zugerechnet werden. Das konstruktive Kapital ist an stabilen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen interessiert und strebt zivilisierte Wirtschaftsformen an. Diese Rahmenbedingungen zu schaffen ist Aufgabe des Staates. Die russischen Fluchtgelder, die derzeit auf ausländischen Banken geparkt werden, werden gerade aufgrund der instabilen Situation im Inland abgezogen und stammen oft nicht unmittelbar aus illegalen Geschäften. Die Rückführung und Reinvestition dieser Gelder könnte der russischen Wirtschaft zum erhofften Aufschwung verhelfen. …Auf dieser Grundlage könnte in der Perspektive ein russischer Rechtsstaat wachsen. Rußlands zukünftige Entwicklung wird sich sicherlich im Rahmen dieser beiden Szenarios vollziehen. Welche Tendenz die Prozesse annehmen werden, ist heute noch nicht abzusehen.”

Analytiker:
Fast alles Mafia also?  – und doch Hoffnung? Werden die Verbrecher von heute die weißen Kragen von morgen sein, so wie es in Europa und in den USA war? Welche soziale und politische Kraft könnte diese Wende bewirken?
Auf diese Frage gibt die Mehrheit der russischen und ausländischen Analytikerinnen und Analytiker keine Antwort. Hinweise gibt Boris Kagarlitzki. Kagarlitzki war seit Mitte der 80er Aktivist der Perestroika, danach Abgeordneter der Volksfront im Moskauer Sowjet bis zu dessen Auflösung 1993, danach Berater der entstehenden unabhängigen Gewerkschaftsbewegung. Seit deren Einschwenken auf den Kurs Boris Jelzins ist er Radikaldemokrat ohne politische Heimat.
Auf die Frage, warum die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbreche, antwortete er bereit 1994 vollkommen eindeutig:

O-Ton 9:  Boris Kagarlitzyky                                 0,59
”No, wo pervich Rossije…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nun, erstens ist Rußland kein kapitalistisches Land. Aber ich sage noch mehr: Heute ist Rußland in seinem wirtschaftlichen Mechanismus weitaus weiter vom Westen entfernt, als, sagen wir, 1991. Das ist spürbar. Es findet eine Primitivisierung der Wirtschaft statt. Der einheitliche innere Markt ist zusammengebrochen. Elementare Bedingungen der, sagen wir, Vermittlung von nichtselbständiger Arbeit entfallen, wenn die Menschen keinen Lohn mehr bekommen. Es gibt keinen Arbeitsmarkt. Die Menschen arbeiten nicht, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern aus anderen Gründen. Aus Abhängigkeit, aus Tradition usw. Das heißt, in diesem Sinne hat sich Rußland in den letzten zwei Jahren allgemein vom westlichen Modell entfernt.“
… ot sapadnem modellom otdalilas”

Analytiker:
Aber Boris Kagarlitzki bleibt nicht dabei stehen, diese Tatsachen als Rückständigkeit Rußlands zu beklagen. Er sieht dahinter historisch gewachsene soial-ökonomische und politische Besonderheiten, die Rußland von der westlichen Welt unterscheiden. Wäre es in einem westlichen Industrieland möglich, daß die Bevölkerung über Monate, sogar Jahre keinen Lohn bekomme und doch nicht verhungere? Fragt er und antwortet selbst:  Nein, das wäre nicht möglich. Das ist keine kapitalistische Beziehung zur Arbeit.

O-Ton 10: Boris Kagarlitzki, Forts.            1,05
”Na u nas wasmoschna…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 48 -50 kurz hochziehen, abblebden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
”Aber bei uns ist das möglich, das ist normal. Das sind die Strukturen der Obschtschina, der Produktions- und Lebensgemeinschaft. Die Menschen leben auf Kosten der Solidarität der Gemeinschaft. Das ermöglicht dem Staat, seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen – aber sie bezahlen auch dem Staat nicht die Steuern, das muß man im Kopf behalten. Also, das ist die kompakte wechselseitige Haftung. Das ist der korporative Bau der Obschtschina, der nicht nur alte Elemente, vermischt mit sozialistischen bewahrt, sondern einfach aufgrund anderer Gesetzmäßigkeiten als die kapitalistische Welt existiert: das sind die Gesetze der naturalen Wirtschaft, einer Wirtschaft des unmittelbaren geldlosen Tauschhandels. Lohn wird nicht gezahlt, aber dafür werden Produkte ausgehändigt. Bei uns im Obschtschinatyp ist die Beziehung der Menschen zueinander von kollektiven Verpflichtungen geprägt und nicht individuellen. Das ist eine völlig andere Beziehung zwischen Staat und Individuum als im Westen. Bürgerliche Rechte existieren im Prinzip bei uns nicht und können nicht existieren. Insofern die Beziehungen in der Regel zwischen Korporationen bestehen und der Austausch über sie läuft, ist das keine bürgerliche Gesellschaft.”
…nje graschdantwo obschestwo.”

Analytiker:
Die Privatisierung, so Kagarlitzkis These, habe auf die Auflösung Obschtschina gezielt. Die katastrophalen Folgen der Privatisierung aber ließen zunehmend eine Gegenbewegung entstehen. Sie gehe von den Regionen aus, die am härtesten unter dem Zerfall der bisherigen Strukturen zu leiden hätten, und würden dort von der örtlichen Elite im Einvernehmen mit der Bevölkerung getragen. Politisch erscheine vielen dieser Vorgang als Rückkehr zur Sowjetzeit. Eine gewisse restaurative Dynamik liege aktuell sicher darin. Aber auf lange Sicht entstünden dort zur Zeit offenbar jene Formen des Kapitalismus, die Rußland heute hervorbringen könne: ein durch demokratische Wahl legitimierter bürokratischer Korporativismus auf der Basis kollektiven Privateigentums.

Die Thesen von Kagarlitzki überraschen: Solche Strukturen sind bisher in keinem Lehrbuch der Ökonomie zu finden. Aber Gespräche vor Ort zeigen, daß Kakagrlitzky recht hat: Die von den Reformern seit 1991 propagierte Selbstregulierung des Marktes stößt an Grenzen der real existierenden sozialen Strukturen, das heißt, der Obtschschina, und zwar in mehrfacher Hinsicht:  Zum einen ist der privatisierte Sektor ist zu großen Teilen auf Kosten des Gemeinschaftseigentums entstanden und lebt von ihm. Investiert wurde nicht. Klar gesprochen, die neue privatistische Elite lebt vom Speck des früheren und noch existierenden Gemeineigentums. Das ist nicht ewig fortsetzbar, auch wenn Rußlands Ressourcen unendlich erscheinen. Die neueste Krise hat das deutlich hervortreten lassen. Wer nicht vom Speck lebte, sondern mit eigener Hände Arbeit in den letzten Jahren ein kleines mittelständisches Unternehmen aufgebaut hat, sieht sich durch die aktuelle Krise in den Ruin, mindestens wieder in die Bereiche krimineller Geschäfte gedrängt, weil die Bevölkerung kein Geld hat, Waren oder Dienstleistungen zu bezahlen, weil die Steuern nicht zu bezahlen sind, weil die Schikanen einer mafiotischen Bürokratie, die sich Lizenzen mit Bestechungsgeldern bezahlen läßt, den Spielraum für Geschäfte allzusehr einengen.
Zum zweiten erweisen sich die Gemeinschaftsstrukturen der großen Betriebe als weitgehend resistent gegenüber ihrer Auflösung. Den Grund dafür kann man von Männern wie Viktor Alexandrowitsch Schmidt hören.
Schmidt ist Direktor der ”Kras-Les-Masch”, der Krasnojarsker Waldmaschinenfabrik. Rund sechshundert Beschäftigte hat das Werk. Obwohl der Direktor möchte, kann auch er die Löhne nicht ordnungsgemäß zahlen, Teile der Belegschaft stehen auf Kurzarbeit, die sozialen Leistungen sind eingeschränkt. Aber entlassen wird nicht. Warum nicht?

O-Ton 11: Direktor, ”Kras-les Masch”                           0,57                                                                                 ”Mi ne moschem…
Regie: O-Ton kur stehen lassen,  abblenden, unterlegen, hochziehen

Analytiker:
”Wir können nicht auf einmal alle Leute rauswerfen und zum Kapitalismus übergehen. Ich habe in Deutschland gelernt;  ich habe schon vor meheren Jahren gesagt, daß wir in diese Richtung gehen. Aber siebzig, achtzig Prozent der Menschen einfach rausschmeißen, das geht nicht! Umsoweniger als sie zum Teil fünfundzwanzig, dreißig, vierzig Jahre hier arbeiten. Der allgemeine Alltag um uns herum läßt das nicht zu. Nehmen wir an, wir täten es: dann bekämen wir eine Fabrik, die gut lebt, während rundum alles schlecht ist. Nein, so geht es nicht! Es muß schon eine allgemeine Entwicklung sein. Dafür muß ein staatliches Programm her. Wir sind ja Direktoren, keine dummen Leute, wir wissen natürlich, daß man letztlich nur verbrauchen kann, was man erarbeitet; und nur soviel Menschen kann man ernähren. Aber wohin mit den Übrigen? Die stehen dann vor dem Zaun, vergreifen sich an den Leuten, die hier noch verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Nein, diese Frage kann nur auf staatlichem Wege entschieden werden.”
… videmo gossudarstvom.”

Analytiker:
In Nowosibirsk schließlich gilt die ”Eisenbetonfabrik Nr 4” als Musterbetrieb für eine mögliche zukünftige Entwicklung. Mit knallharten Rationalisierungen und Arbeitszeiten bis zu 12 Stunden täglich für die Verbliebenen hat es der dortige Direktor geschafft, den Betrieb wettbewerbsfähig zu machen und nicht nur die Löhne zu zahlen, sondern zudem noch die soziale Versorgung seiner Belegschaft bis hin zu einer, allerdings in Naturalien ausgezahlten, Betriebsrente für ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu garantieren. Die Belegschaft stützt seinen Führungsstil. Direktor und Belegschaft fühlen sich als Kollektiv, das in gemeinschaftlichem Interesse miteinander verbunden ist.
Alles wie gehabt also? Keineswegs! erklären Vertreter und Vertreterinnen der Belegschaft des Eisenbetonwerks. Niemand wolle zurück in die Sowjetzeit. Darüberhinaus gebe es entscheidende Unterschiede. Der erste: Wer nicht mit vollen Einsatz arbeiten wolle, müsse gehen. Der zweite:

O-Ton 12: Betriebsbelegschaft                    35
”A sewodnja mi…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblernden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, abblenden, allmählich ausblenden

Übersetzerin:
”Heute sind wir eine Aktiengesellschaft, eine eigene Wirtschaft. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unsere Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung…”
..jest sabrannije”, Stimmen

Erzähler:
Von vierhundert Menschen, die in der Fabrik arbeiten,  sind achtzig Aktionäre. Sie halten, einschließlich des Direktors,  jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet, einen Rat der Aktionäre: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Seine politischen Ansichten sind Privatangelegenheit; sie werden in der Belegschaft keineswegs von allen geteilt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht jedoch zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet.
Die Aktionäre verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Betrieben empfehlen. In der Tat: Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten Direktor könnten ein Weg sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum und Privatisierung hinausführt.
Die Frage ist nur, welches Mischungsverhältnis das paternalistische und das demokratische Element darin miteinander eingehen, einfach gesprochen, wer in dieser Gemeinschaft bestimmt – und wie.

Kann man Rußland noch verstehen? Eine Momentaufnahme der aktuellen russischen Krise

Vortext
Rußland wieder in der Krise. Diesmal  scheint es schlimmer als je zuvor. Der Rubel fiel in den Keller, die Preise schnellten ins Uferlose, die Regale sind leer. Die Bergarbeiter revoltierten, die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf. Sie fordern eine neue Politik. Präsident und Duma blockierten sich wochenlang gegenseitig, bis man sich auf eine Kompromißregierung unter dem neuen Premier Jewgeni Primakow einigen konnte. Präsident Jelzin mußte zwar nicht gehen, wie von vielen gefordert; in Zukunft wird er sich aber vor allem damit beschäftigen müssen, die Zeit nach Jelzin zu organisieren. Entscheidende Wahlen stehen bevor: Ende 1999 soll die Duma, im Jahr 2000 soll ein neuer Präsident gewählt werden. Kann dieser Schritt gelingen? Und mit welchen neuen Programmen?
Kai Ehlers hat sich während der Krise im Lande umgeschaut.

O-Ton 1: Kinderfest        0,40
Musik beim Kinderfest
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Kinderfest im Kulturpark einer Republikhauptstadt. Tscheboksary an der Wolga. Ungeachtet der Krise wird Fröhlichkeit für die Kinder organisiert. Das städtische Puppentheater gibt eine Gratisvorstellung für Familien, die sich die teuren Kindergartenplatze nicht mehr leisten können. Auch die Karussels, Raupen und vieles anderes Vergnügungsgerät, das in diesem Park einst kostenlos zur Verfügung stand, steht verödet.
Geladen ist auch die Dichterin Raissa Sarpi, früher als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit ausgezeichnet. Sie ist Vorsitzende der regionalen Frauenorganisation, Redakterurin einer Frauen- und einer Kinderzeitung. Auch sie tritt kostenlos auf. Am Rand ihres Auftritts aber schüttet sie ihr Herz über den Zustand ihres Landes aus:

O-Ton 2: Raissa Sarpi        0,30
”Setschas w Rossije…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
“Zur Zeit gibt es in Rußland keinen Staat. Es gibt nur die Parodie eines Staates. Worin zeigt sich das? Der Mensch braucht Lohn, bei uns werden die Menschen zur Zeit aber rücksichtlos auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen. Sie bekommen keinen Lohn. Selbst die Sklaven, die die Pyramiden bauen mußten, wurden versorgt. Wir dagegen schuften Monate, Jahre und erhalten nicht eine Kopeke.  Der Mensch kann eine Woche ohne Wasser sein, ohne Nahrung, wie Christus kann er vierzig Tage überstehen. Aber wie oft sind wir schon vierzig Tage lang nicht mehr versorgt worden! Wenn wir nicht die Dörfer hätten, Verwandte, wären alle Leute schon vor Hunger umgekommen.”
… umerli bi.”

Erzähler:
Es werde große Veränderungen geben, fährt sie fort. Nicht nur vor Rußland, vor der gesamten Menscheit stehe die Frage des Überlebens. Aber was tun?

O-Ton 3: Raissa, Forts.        0,55
“Po swjem parametrom…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin bei 0,25 hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
“Allen Anzeichnen nach wollen die höheren Kräfte, die uns erschaffen haben,  uns vernichten. Aber insofern es auf der Welt einige hundert rechtschaffende, reine Leute gibt, die an Gott glauben und nach den göttlichen Gesetzen leben, entschieden diese Kräfte, ihretwegen den Planeten Erde zu erhalten. Die Apokalypse, die in der Bibel angekündigt ist, wird eintreten und das wird in nächster Zeit sein; was ist die Apokalypse…?”

Regie: Hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Atemlos treibt es die Dichterin voran. Sie hat eine Offenbarung zu verkünden. Es bleibt wenig Zeit: Schon im August 1999 werde die Ozonschicht des Planeten sich auflösen. Überleben können nur Menschen mit reiner Seele, erklärt sie, die keine negativen Energien anziehen, die einander lieben und sich gegenseitig helfen. Die üblen dagegen, die auf Kosten anderer Millionen und Milliarden an sich gerissen haben, werden vernichtet. Für sie ist keine Vergebung möglich. Die Demokratie, setzt Frau Sarpi noch hinzu, habe den Menschen die Wahl zwischen Gut und Böse gegeben. Man müsse wählen.
…nada delatj vibor

Erzähler:
Frau Sarpi ist beliebt in der Republik.  Ihre Gedichte werden vertont. Es ist ihre radikale Vision einer gerechten ökologischen Gesellschaft,  welche die Menschen bisher zu ihr zog. Aber ihre Auftritte, die noch vor wenigen Jahren im Dienst des erwarteten demokratischen Aufbruchs und der Souveränität der ethnisch geprägten tschuwaschischen Republik, ihrer Heimat, standen, werden mehr und mehr zu Verkündigungen jenseitiger Hoffnungen. Zwölf neue Propheten gebe es heute, meint Frau Sarpi, die auserkoren seien, die Menschheit zu retten. Sie zählt sich dazu. Die Offenbarungen eines anderen liegen auf ihrem Schreibtisch – ein dickleibiger Schmuckband unter dem Titel „Das letzte Testament,  dessen aufwendige Aufmachung auf potente Finanziers verweist. “Konjez swjeta”, das Ende des Lichtes und die Sammlung aller Gerechten wird auch darin verkündet.
Allerorten strömen die Menschen heute solchen Propheten zu, die Ersatz für die verlorene „lichte Zukunft des Sozialismus“ und Heilung vom Streß der neuen Wolfsgesellschaft versprechen.

O-Ton 4: Platzmusik in Andschero Sudschinsk     0,55
Musik
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam lassen, nach Erzähler kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Feiern, um die Weltuntergangsstimmung zu vertreiben, das gilt auch für Andschero Sudschinsk. Andschero Sudschinsk ist jener Ort im sibirischen Kemerowo, von dem im Sommer die Streiks der Bergleute und die Blockierung der Transsibirischen Eisenbahnstrecke ausging. Auch frühere Streiks hatten hier ihren Ursprung. Andschero Sudschinsk ist mit fünf Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, Kern des sibrischen Krisengebietes und Auslöser der letzten Krise. Den Statistikern gilt Andschero Sudschinsk als sterbende Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der russischen Föderation. Heute wird, allen Veränderungen der letzten Jahre und der aktuellen Krise zum Trotz, der “Tag des Bergarbeiters” gefeiert.

Regie: hier ausblenden
Erzähler:
Zwei Ecken weiter, gerade weit genug, um das laute Treiben nicht mehr zu hören, stehen die Menschen Schlange vor einem kleinen Kiosk, an dem Brot verkauft wird. Hier geht es ganz um den Alltag, den Anstieg der Preise, die fehlenden Löhne. Haben die Streiks einen Sinn? Kann man an der Situation etwas ändern?

O-Ton 5: Frau in der Schlange         0,25
“Nu vot jelesni…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Daß die Gleise blockiert wurden, das war natürlich schon nicht mehr gut.”, meint diese Frau, die selbst an den Aktionen nicht teilgenommen hat. „Aber andere Mittel hat man ja nicht mehr“, fährt sie fort. „Kein Geld, die Menschen hungern schon. Selbst Brot für die Kinder können manche schon nicht mehr kaufen.” So etwas habe es selbst im Krieg nicht gegeben.
Und wenn die Regierung jetzt Verbesserungen verspreche?
… takowa nje bila”

O-Ton 6: Mehrere Menschen, Schlange        0,16
„Nje veru ja…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ich glaube nicht ein Wort“, sagt der Mann. Die Frau stimmt ihm zu. Immer wieder Versprechungen, immer wieder dasselbe. So könne es nicht weitergehen, meint ein anderer. Das Wort Revolution klingt auf.

O-Ton 7: Schlange in Andschero-Sudschinsk     0,16
„Ne snajau, normalno…
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Ja, das wäre normal”, sagt der Mann. “Man muß möglichst bald eine Revolution machen. Dann gibt es vielleicht wieder Ordnung.”
Unter Revolution versteht er: “Oben muß aufgeräumt werden; ein Umsturz muß her!”
…djelat nada, Straße

O-Ton 8  Forts. Schlange        0,16
“Nam mnoga krowje…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 1. Absatz des Erzählers hochziehen

Erzähler:
“Viel Blut wird es geben“, wendet ein anderer ein. “Man muß alles auf friedlichem Wege machen.” Vorstellungen wie das geschehen könnte, hat er nicht. “Wir sind die Arbeiterklasse, “sagt er, “darüber sollen die da oben nachdenken.” Die Umstehenden stimmen ihm zu.
…tam verhach”, Stimmen

Erzähler:
Die Geduld der Menschen ist am Ende. Die Regierung ist ratlos. Aber eine Revolution findet nicht statt. Warum nicht? Ein junger Mann, Facharbeiter in der Maschinen-Fabrik des Ortes, erklärt das so:

O-Ton 9: Facharbeiter, Forts.         0,41
„Da,  potschti revolutionni
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Übersetzer:
„Ja, es ist eine nahezu revolutionäre Situation. Ich weiß nicht, wie das zustandekam, aber daraus erwächst jedenfalls nichts Gutes. Deshalb hat die Macht begriffen, daß Gewaltanwendung hier nicht möglich ist. Es gab keine Polizeieinsätze. Selbst die Sondertruppen hielten sich zurück. Sie sind ja selbst in der gleichen Lage. Sie kriegen ihren Lohn auch nicht. Sie wissen, daß die Leute gegen das Elend aufstehen. Deshalb sind sie mindestens neutral. Einige haben sich sogar offen solidarisch erklärt. …
Es müssen Maßnahmen her, die die Menschen beruhigen. Jelzin hat die Bergarbeiter betrogen, er muß weg. Das ist klar. Aber ob das nützt? Ich weiß es nicht, schwer zu sagen. Es ist eine nicht vorhersagbare Situation.“
…nje pedskasuimaja situatia“

Erzähler:
In der Verwaltung klingt es nicht viel anders: Nach den Streiks wurde der Administrator der Stadt Andschero-Sudschinsk ausgewechselt. Viktor Ifschan, der neue Mann, früher Direktor der größten Maschinenfabrik des Ortes, hat jetzt die Hinterlassenschaft der Streiks zu bewältigen. Sein Urteil ist so zweideutig wie die ganze Situation:

O-Ton 10: Administrator von Anschero-Sudschinsk    0,34
„No, objektivna…
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Übersetzer:
„Außer negativen Folgen haben die Streiks für die Stadt nichts gebracht. Das muß man sagen. Man muß aber auch sagen, daß die Bevölkerung sich in einer ziemlich schwierigen Lage befindet, insbesondere mit dem nicht gezahlten Löhnen, offener und versteckter Arbeitslosigkeit. Jeder Mensch hat das Recht dagegen zu protestieren, wenn er sich an die Gesetze hält. Warum dagegen einschreiten? Ich habe, noch als Direktor der Maschinenfabrik, meinen Leuten erlaubt, sich für drei Stunden am Tag an den Aktionen zu beteiligen.“

Erzähler:
Überdies hätten die Ereignisse auch Nützliches gebracht, findet der Administrator. Moskau habe sich endlich um die Region kümmern müssen.

O-Ton 11: Administrator, Forts.         0,32
„Obsche korne problemi..
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Übersetzer:
„Die allgemeine Ursache der Probleme liegt ja darin, daß wir gegenwärtig nicht wissen, was wir aufbauen, wohin wir gehen. Der Staat hat sich aus der Verantwortung gezogen. Verschuldung beim IWF,  innere Verschuldung, also Einbehaltung der Löhne, Sparpolitik. Das alles wird der Bevölkerung aufgelastet. Würde jemand  sagen, wohin der Zug geht, würde die Bevölkerung noch lange aushalten, nicht ewig, aber lange. Objektiv sind die Menschen bei uns ja bereit, auszuhalten, wenn sie nur wissen wofür.“
… kudasche mi idjom“
Erzähler:
Der Administrator sucht deshalb den Dialog. Im Dialog zwischen Betrieben und Arbeitenden möchte er einen Weg finden. Das Gleiche gilt für den Gouverneur der Republik Kemerowo, Tulejew, der sich klar gegen jede gewaltsame Lösung des Konfliktes ausgesprochen hat.
An Orten, die an den Aktionen nicht unmittelbar beteiligt, aber doch von ihren Auswirkungen betroffen waren, ist man nicht so nachsichtig. So etwa  in Nowosibirsk. Dort wettert Nicolai Matschalin, der Direktor der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“ in Nowosibirsk hart gegen die Streiks der Bergleute. Aus seiner Sicht sind das Provokationen gegen das russische Volk:

O-Ton 12: Fabrikdirektor Matschalin        0,31
„Oni tam sedeli…
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Übersetzer:
„Sie haben da gesessen und blockiert – wir haben keinen Zement bekommen, keine Bauteile usw.  Wir konnten die Steuern nicht zahlen, weil wir nicht produzieren konnten; unsere Pensionäre kriegten ihre Rente nicht, meine Arbeiter keinen Lohn, weil sie ihn nur bekommen, wenn sie arbeiten.  Wie kann da die Beziehung zu den Streikenden sein! Nun, natürlich extrem negativ! Das geht fast bis zum Haß. Der Staat, der Polizei und Spezialtruppen hat, OMON, wäre verpflichtet gewesen, die Bergarbeiter da wegzuräumen.“
…ubratj schachtörow srelzow“

Erzähler:
Moskau habe seine Schwäche gezeigt, fährt der Direktor fort, um sich gleich darauf wieder zu korrigieren – vielleicht ja auch seine Stärke,  indem es die Aktionen einfach ignoriert habe. Für die, die arbeiten wollten, wende sich die Lage durch solche Aktionen aber noch weiter zum Schlechteren. Ein Pinochet müsse her, ein entschlossener Diktator, meint der Direktor:

O-Ton 13 Direktor, Forts.    0,31
„Kak nowodil parajadok… Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Wie hat Pinochet die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß er dem Giutarrenspieler Viktor Jara die Hände  zerschlug; ja, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land! Und es war General Pinochet, der es zum Blühen brachte; dann ist er von selbst gegangen. Eisenhower, de Gaulle! Sie waren starke Generale, welche die Autorität des Volkes nutzten. Wenn ein paar hundert Leute im Stadion ohne Essen und Wodka zusammengetrieben würden, dann gäbe es ein bißchen Aufruhr und sonst nichts.“
… i nitschewo nje bila“

Erzähler:
Bedauerlicherweise, schließt der Direktor, gebe es im heutigen Rußland keine Führungspersönlichkeit, die dazu bereit wäre, diese Rolle zu übernehmen. Auch der von ihm verehrte General Alexander Lebed, obwohl für einen starken Staat, sei leider nicht bereit, den Weg der Diktatur zu gehen.
Eine revolutionäre Situation ohne Revolutionäre, das ist Rußland am Ende von sieben Jahren Jelzinscher Reform-Politik. Wie beurteilen russsiche Analytiker diese Situation? Hören wir dazu Tatjana Saslawaskaja, die große alte Dame der russischen Soziologie. Von ihrer „Nowosibirsker Schule“ gingen seinerzeit erste Impulse zur wissenschaftlichen Begründung der Perestroika aus. Heut ist Frau Saslawskaja Co-Rektorin im „Institut für Sozialwissenschaften“ in Moskau. Intensivierung – so lautete damals ihre Hauptforderung. Was ist ihrer Ansicht nach daraus geworden?

O-Ton 14: Tatjana Saslawskaja        0,25
„Ja dumaju schto…
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Übersetzerin:
„Ich denke, wir befinden uns jetzt in einer „Gesellschaft im sozialen Umbruch“. So habe ich es in meinem letzten Buch genannt. Alte Institutionen zerfallen, neue bilden sich erst heraus. Deshalb ist die Gesellschaft zerbrochen, befindet sich in diesem intensiven Prozeß der Transformation. Auf die Frage, gab es eine Intensivierung? kann ich deshalb nur antworten: Ja und auch nein. Hier kann es keine eindeutige Antwort geben.“
… i da i njet.“

Erzähler:
Auf den kriminellen Charakter der Privatisierung angesprochen, antwortet sie:

O-Ton 15:  Saslawskaja, Fortsetzung        0,35
„Kriminalni, eta fakt…
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Übersetzerin:
„Kriminell – das ist ein Fakt: krimineller Charakter der Gesellschaft, kriminelle Macht, kriminelles Eigentum. Das ist das Schlimmste. Daß die Produktion steht, daß die Leute keine Arbeit haben, daß alles zusammenbricht – das ist alles wahr. Das ist sehr schlecht. Aber die Kriminalisierung unserer Gesellschaft ist natürlich das erschreckendste Resultat. Wir haben nicht nur keinen Schritt in Richtung eines Rechtsstaates geschafft, sondern uns viele Schritte von ihm entfernt. Das scheint mir das Problem Nummer eins zu sein. Wie das Problem gelöst werden kann, weiß ich nicht, gerade wegen der Kriminalisierung der Macht.“
… kriminalisatia wlasta.“

Erzähler:
In ihren frühen Veröffentlichungen hatte Frau Saslawskaja die Gellschaft der Sowhetunion als Hybrid beschrieben: nicht Sozialismus, aber auch nicht Kapitalismus. Sie fand dafür den Begriff einer „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“. Für die nach der Privatisierung entstandene Situation scheint ihr aber selbst dieser vage Terminus noch zu bestimmt:

O-Ton 16:         0,35
„Ja vo pervie mje verju…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Ich glaube nicht, daß der Begriff Hybrid noch zutrifft. Auch die Begriffe Kapitalismus oder Sozialismus können nicht mehr richtig erklären, womit wir es hier zu tun haben. Man braucht neue Begriffe ……….Insgesamt würde ich unsere Gesellschaft heute eher als kapitalistisch beschreiben. Aber was für ein Typ von Kapitalismus? Man verkauft das eigene Land unter Wert. Man stielt und verschleudert es; Fabriken, Parkplätze, Wälder; es gibt genug zu verkaufen. So ein Kapitalismus ist das: kriminell, antipatriotisch. Aber das ist auch wieder nicht richtig. Wie soll man es nennen? Am Ende ist es einfach so etwas wie ein Monster.“
… Monster polutschajetsja.“

Erzähler:
Nicht mehr Kapitalismus, sondern weniger sei entstanden, meinen andere Analytiker. In einem aber sind sich alle einig: Das ehemalige staatsmonopolistische Eigentum wurde auf räuberische Weise privatisiert; die dabei erzielten Gewinne  wurden jedoch nicht investiert, sondern zu großen Teilen ins Ausland transferiert. Die zerfallende Nomenklatura verband sich mit ihrem Gegenstück, der mafiotischen Schattenwirtschaft zu neuen Oligarchien, die miteinander kämpfen.  Präsident Jelzin, obwohl von der Verfassung 1993 mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausgestattet, beschränkte sich auf die Erhaltung eines status quo. Der Schwächung der Zentralmacht aber entsprach die wachsende Bedeutung der Regionen. Kommen von dort die zukünftigen Alternativen?
Auf diese Frage antwortet Pjotr Fjodossow, Berater für den Vorsitzenden des 1993 neu geschaffenen Föderationsrates:

O-Ton 17: Pjotr Fjodossow        0,47
„Alternative..  (deutscher Text)
Regie: O-Ton  durchlaufen lassen

Pjotr Fjodosswo (deutsch):
„Alternative ist vielleicht nicht das optimale Wort, aber es steht für meine Begriffe fest, daß a)  der Schwerpunkt der Entscheidungsfassung sich zunehmend in die Regionen verlagert, also die Regionalisierung, die Föderalisierung findet real statt. Innerhalb von fünf Jahren, – vor fünf Jahren gab es diese Institution  hier gar nicht  – ist dieser Prozess sehr fortgeschritten. In den letzten zwei Jahren erst recht, weil in den letzten zwei Jahren die russischen Regionen sich diesem Prozess massiv angeschlossen haben. Damit verliert der Prozess der Regionalisierung und Föderalisierung seine ethnische Komponente, was ihn zu einer Normalität, zu einer wünschenswerten macht.“
…wünschenswerten macht.“

Erzähler:
Das zweite Argument Fjodossows ist nicht minder wichtig:

O-Ton 18 Pjotr Fjodossow        0,48
„Alternative..  (deutscher Text) Regie: O-Ton  durchlaufen lassen

Pjotr Fjodosswo (deutsch):
„Das andere ist, daß in vielen Regionen inzwischen eine wirtschaftliche, sozialwirtschaftliche Eigendynamik entstanden ist, daß Lösungen gesucht und auch gefunden werden, die oft landesweit sich nicht umsetzen lassen, aber in den Regionen doch umgesetzt werden können und die Regionen auf der Oberfläche halten. Die Lage ist sehr ungleich in verschiedenen Regionen, aber es gibt durchaus Regionen, in denen heute schon ein Wachstumstrend erkennbar ist. Ich glaube, daß mittelfristig die stärksten Impulse für die Sanierung der allgemeinen Situation aus den Regionen kommen werden.“
… kommen werden“

Erzähler:
Wie diese Impulse aussehen, läßt sich im Kleinen gut an der bereits erwähnten „Eisenbetonfabrik Nr. 4“ in Nowosibirsk studieren. Ungeachtet, möglicherweise aber auch dank der kruden Ansichten des Direktors gilt die Fabrik weit über Nowosibirsk hinaus als Musterbetrieb. Zu ihr werden Besucher geführt, denen man eine Alternative zeigen möchte.
Bereitwillig erklärt Direktor Matschalin, wie es dazu kam:

O-Ton 19: Direktor        0,34
„Nu, jesli po tschestnemu …
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nun, geradeheraus gesagt: In den letzten Jahren, insbesondere in den letzten vier Jahren, haben wir den Umfang unserer Produktion erweitert. Wir sind wieder auf das Niveau angestiegen, daß wir vor dem Niedergang hatten, also auf das Niveau vor Perestroika. Es gibt keine andere Fabrik hier bei uns, die in diesem Umfang tätig ist, mehr noch, viele Fabriken, die vom Umfang ihrer Produktion her früher Giganten waren, liegen weit unter der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“. Von  der Hauptadiministration des Gebietes haben wir daher Preise  für „Erfolgreiche Entwicklung von Geschäftstätigkeit in Sibirien“ erhalten.“
… w Sibirje.“

Erzähler:
Lässig zeigt er auf die Preise, die in dem modernisierten Büro augestellt sind. Dann schränkt er ein:

O-Ton 20: Direktor        0,38
„Nu, njeschni pokasateli…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nun, das sind die äußeren Anzeichen. Im Innern sieht es anders aus. Es ist alles sehr schwierig, es stimmt alles irgendwie nicht, vor allem mit den Steuern. Bei uns in Rußland wird jedes Unternehmen in die Enge trieben – dem Staat gegenüber, dem Budgetfonds, in gegenseitige Verrechnungen und Verschuldungen. Lebendiges Geld gibt es nur sehr wenig. Das lebendige Geld reicht gerade eben für den Fond zur Bezahlung der Arbeit. Alles andere chinchen wir irgendwie aus, mit dem Staat, mit der Stadt, mit dem Verwaltungsgebiet, mit unseren Kunden, tauschen irgendwie, mogeln uns durch.“
… schion no milo, tak.“

Erzähler:
Wie die Erfolge erzielt wurden? Die Antwort des Direktors läßt nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig:

O-Ton 21: Direktor        0,59
„Nu, rabotschi stali…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem 2. Übersetzer bei 0,25 hochziehen

Übersetzer:
„Die Arbeiter müssen mehr arbeiten. Ich fordere von ihnen vollen Einsatz. Zu Boomzeiten arbeiten sie 10 bis 12 Stunden, auf manchmal zwei, drei Monate überhaupt ohne Pause. Dafür gebe ich ihnen praktisch auch alles, was sie brauchen, um zu leben. Was kann man da nennen: freie Wohnung, Mahlzeiten, medizinische Versorgung, Kindergartenplätze, Kuraufenthalte.“

Regie: hier kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen
Erzähler:
Lang ist die Liste, die der Direktor aufzählt: Sogar eine persönliche Pension gibt es, die ehemalige Mitarbeiter in Form von Nahrungsmitteln bekommen.

Übersetzer:
„Diese Menschen gaben der Fabrik ihre ganze Jugend. Einige haben hier vierzig oder mehr Jahre gearbeitet. Nach der Privatisierung blieben sie auf der Abfallseite des Lebens. Außer uns hilft ihnen niemand. Ich versuche, was ich kann.“
015 … nikto ne pomoschet“ putajus..

Erzähler:
Auf den Staat oder auf Gott zu hoffen“, so bringt Matschalin sein Credo auf den Punkt, „da kannst du lange warten. Du mußt selber entscheiden.“

O-Ton  22: Direktor        1,02
„To est, sidit…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzung:
„Das heißt, hier sitzen und auf irgendwelche Aufträge vom Staat zu warten, das ist nicht seriös. Die Direktoren, die saßen und auf Aufträge aus dem Budget gewartet haben, aus Budgetfinanzierung, drei, vier Jahre zurück, die haben verloren. Sie haben sich verspätet. Der Zug ist abgefahren. Rekonstruktion, Modernisierung, Reorganisation der Produktion kostet jetzt ein irrsinniges Geld. Darüber hinaus ist der Markt besetzt und da Eingang zu finden, ist sehr schwierig. Worum geht´s also? Die Qualität der Produkte bei gleichzeitigen Niderigpreisen! Der Profit den wir dabei rausholen, ist minimal. Das heißt, wir bekommen den Profit auf Grund des Umfangs unserer Produktion herein. Da geht es dann auch nicht mehr an, daß man lange redet. Die Dinge ändern sich schnell, da muß schnell eingeschlagen werden. Der Direktor muß sein Wort halten. Das Wort des Direktors garantiert die Zukunft der Fabrik. Wenn heute ein Direktor ein einziges Mal jemanden reinlaufen läßt, dann kommt der nicht wieder, darüberhinaus erzählt der Klient das allen anderen und aus ist es. Alles übrige, daß die Fabrik nur unter schweren Bedingungen arbeiten kann – ja, wir haben es schwer! Ja, wir haben hier diese formlose Wirtschaft. Aber was, bitte!? Wir leben nun mal hier in Rußland und werden nirgendwohin auswandern.“
… nikuda uischats.“

Erzähler
Die Belegschaft fühlt sich von solchen Worten keineswegs getroffen. Im Gegenteil: Stolz bestätigt sie den Kurs ihres Direktors:

O-Ton 23: Betriebsbelegschaft        0,10        Kollektiv u nas otschen…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer ausblenden

Übersetzer:
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut. Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand  nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin, Veteranin des Betriebes, wie sie sagt, ergänzt:

O-Ton 24: Betriebsbelegschaft        0,55
„Nu, schto to Kollektiv…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes.. Wir wissen:  Um heute arbeiten und überleben zu können,  sind folgende Bedingungen notwendig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten:  Nicht nur versprechen und dann nicht tun; man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch ziemlich geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? machen wir!´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, wir erfüllen die Aufträge, die die Stadt heute braucht, verstehen Sie?  Klagen hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren? In Norden werden Röhren gebraucht? Also arbeiten wie Samstag und Sonntag über 12 Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
… i mi djelajem.“

Erzähler:
Die Arbeitsplätze der „Eisenbetonbafrik Nr. 4“ sind begehrt. Hier fühlt man sich sozial aufgehoben und geschützt. Alles beim Alten also? Was unterscheidet diese Organisation des Betriebes und diese Haltung zur Arbeit noch von Sowjetzeiten? Die Antwort der Belegschaft ist unmißverständlich: Zurück will niemand. Erstens: Wer so nicht so arbeiten will, kann gehen. Das war früher anders. Noch wichtiger aber:

O-Ton 25: Betriebsbelegschaft        1,52
„Kto my? My aktionernoe…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,25 hochziehen, abblenden, unterlegen, zwischendurch beliebig hochziehen, weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzerin:
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unsere Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung…“
… jest sabrannije, Stimmen

Regie: Zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Von vierhundert Menschen, die in der Fabrik arbeiten,  sind achtzig Aktionäre. Sie halten, einschließlich des Direktors,  jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Die Aktionärsversammlung wählt einen Aktionärssowjet: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Seine politischen Ansichten sind Privatangelegenheit; sie werden in der Belegschaft keineswegs von allen geteilt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht jedoch zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet.
Die Aktionäre verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Betrieben empfehlen. In der Tat: Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten Direktor könnten ein Weg sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum und Privatisierung hinausführt. Die Frage ist nur, welches Mischungsverhältnis das paternalistische und das demokratische Element darin miteinander eingehen, einfach gesprochen, wer in dieser Gemeinschaft bestimmt – und wie.

Erzähler:
In Krasnojarsk kann man die Impulse, die sich in der Aktiengesellschaft der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“  nur andeuten,  im Großen verfolgen.

O-Ton 26: Straße in Krasnojarsk         0,32
„Straße, Frage, Kak vam…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach dem Erzähler bei 0,8 hochziehen,  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:
Nach seiner Wahl zum dortigen Gouverneur von Stadt und Gebiet Krasnojarsk versucht der ehemalige General Lebed sich dort als Alternative zu Präsident Jelzin aufzubauen:

Regie: aufblenden, kurz stehen lassen

Erzähler:
„Lebed gefällt mir gut“, sagt diese Frau, die am Straßenrand Obst und Gemüse verkauft.  Mit Lebed werde Ordnung und Disziplin einkehren. „ Er ist ja Soldat“, sagt sie. Er wird die Preise stoppen, meint sie; er wird dafür sorgen, daß die Löhne und die Pensionen gezahlt werden. Eine Diktatur? Nein, die befürchte sie nicht. Sie habe ohnenhin nichts zu verlieren.
…gjla atwetow, Straße

Erzähler:
Gouverneur Lebed und seine Leute verstehen Krasnojarsk als Modell. Alexander Poluschin, Biograf Lebeds und nach dessen Wahl enger Mitarbeiter des Gouverneurs in der Administration, erklärt das so:

O-Ton 26: Poluschin, Forts.        0,30
„Sserze w etom smislom…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Es ist das Herz Rußlands. Hier gibt es erstens große Ressourcen. Und die Menschen haben gelernt, unter schweren Bedingungen zu leben. Die einheimische Bevölkerung und auch die, die hierher von der sowjetischen Macht verschleppt wurden. Diese Menschen sind fähig, Probleme zu lösen. …
Hier kann man zeigen, wie man die Ausplünderung, auch die durch Moskau, stoppen und eine elementare Ordnung herstellen kann. Das bedeutet, eine Diktatur des Gesetzes zu errichten.“
…diktaturu sakonna

Erzähler:
Ob das in Krasnojarsk gelingt oder ob Lebeds Hauptkonkurrent, der Moskauer Bürgermeister Juri Lyschkow, das Rennen gewinnt, macht kaum einen Unterschied. Beide treten für einen starken Staat ein, der den weiteren Ausverkauf Rußlands stoppen soll. Beide kommen aus der Regionalpolitik, Lyschkow allerdings mit dem Makel, aus Moskau, das heißt für viele, aus dem Zentrum  der bürokratischen Mafia zu sein, die das Land ausraubt.
Entscheidend ist, ob es gelingt, den bevorstehenden Machtwechsel zu vollziehen, ohne daß jemand meint, sich zu einem russischen Pichochet aufschwingen zu müssen. Dies ist eine Frage, die nicht nur Rußland angeht.

Krasnojarsk – Modell für ein neues Rußland? Auf den Spuren des Krisenmanagers Alexander Lebed

Vortext:
In Rußland beginnt ein Wahlkampf besonderer Art: Die Sommerkrise des Jahres 1998 hat die politische Ablösung des jetzigen Staatspräsidenten Boris Jelzin eingeleitet. Doch nicht nur ein neuer Präsident, auch eine Alternative zum politischen Kurs Boris Jelzins wird gesucht. Einer der möglichen Kandidaten, der ehemalige General Alexander Lebed, führt seine Alternative, die eines starken Staates, seit kurzem als Gouverneur von Krasnojarsk vor.
Kai Ehlers hat sich vor Ort umgeschaut, was das bedeutet.

O-Ton 1: Glocken von Osianko            0,56
Glocken….

Regie: Langsam kommen lassen, frei stehen lassen, unterlegen.

Erzähler:
Politischer Alltag Krasnojarsk. Ein Spätsommertag in Osianko, einem Dörfchen am Ufer des Jenessej nur wenige Kilometer vor der Stadt. Hier lebt der Schriftsteller Viktor Astawjew, einer der radikalsten Vertreter der „russischen Idee“ unter den zeitgenössischen russischen Autoren.
Passend zum „Tag der Literatur und der Bibliothek der russischen Provinz“ wird in seinem Heimatort eine von ihm gestiftete Kirche, ein Holzbau im altrussischen Stil, feierlich eingeweiht. Wer sich zum Krasnojarsker Kulturleben zählt, ist vertreten. Dazu viele Gäste aus anderen Regionen. Ebenso die Dörfler aus der Umgebung. Der General-Gouverneur, wie Alexander Lebed hier genannt wird, und seine Frau Inna sind ebenfalls erschienen. Nach dem Besuch der Kirche versammelt man sich am Ufer des Flusses vor der früher schon von dem Dichter gestifteten Bibliothek, einem Wunderwerk altrussischer Kultur. Nach freundlicher Begrüßung durch Inna Lebed spricht der Gouverneur selbst:

O-Ton 2: Alexander Lebed, live            1,03
„Dorogie Drusja….

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Liebe Freunde, in der heutigen Zeit teilen sich die Menschen in zwei ungleiche Teile; der größere Teil hofft auf Wnder. Das ist schon in Ordnung, denn anders kann man das Leben heute nicht ertragen. Ein kleinerer Teil aber, ruhig, klar, nimmt die Dinge in die eigene Hand. Vor vier Jahren hat Viktor Astawjew diese Biliothek hier gegründet. Auf solches Zeichen sibirischen Nationalbewußtseins kann man nur stolz sein. Jetzt hat er diese schöne Kirche gestiftet. Sie steht an einem Ort, wo Menschen gut und menschlich leben. So ist es richtig. Das sollte man allen zugänglich machen, die heute unter den materiellen Verhältnissen leiden. Eine große Treppe sollte man hier vom Jennessei herauf bauen, damit alle kommen und das sehen können. Das Wichtigste ist das Vertrauen in sich selbst, die Gewißheit, daß nach einem Winter 1941 auch ein Fühjahr 1945 folgt. Mit Gott dann!“
….c bocham“, Beifall

Erzähler:
Die Versammelten zeigen sich zufrieden mit dem Auftritt des Gouverneurs. Roman Solnzew, Vorsitzender des Krasnojarsker Schrifstellerverbandes, der mir tags zuvor noch seine Skepsis mitgeteilt hatte, ist voll des Lobes:

O-Ton 3: Roman Solnzew        0,26
„Nu, konjeschno choroscho…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach Übersetzer kurz hochziehen, nach Lachen abblenden

Übersetzer:
„Na klar ist das gut. Da tritt einer auf, mit dessen Hilfe dieses Fest hier zustande kam. Er selbst half; seine Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“ half. Das ist eine erste große Sache für die Kultur; hoffen wir, daß es nicht die letzte ist. Wir hatten das nicht erwartet. Wenn alle Militärs sich mit Kultur, Poesi  und Kunst befassen würden. Das wäre vortrefflich.“
…eta bila prekrasna.“

Eine Mitarbeiterin Solnzews findet den Vorschlag des Gouverneurs, eine Treppe vom Jenessei ins Dorf hinauf zu bauen, eher beängstigend:

O-Ton 4: Sekretärin des Schriftstellerverbandes        0,22
„Jesli Tschelowjek…“

Regie: Allmählich unter Übersetzerin kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Erzählerin:
Das  bedeute doch nichts anderes, meint sie schaudernd, als daß die Menschen, die jetzt dort am Ufer wohnten, umgesiedelt und das Ufer betoniert werden müßte; gräßlich, daß jemand die Macht bekommen könne, ganz Rußland mit solchen Vorstellungen zu überziehen.
„Andererseits“,  tröstet sie sich, „hat er eine sehr milde Frau. Mag sein, daß sie auf ihn Einfluß nimmt.“ Ihre Begleiterinnen stimmen ihr zu.
…na jewo powlejat“, Stimmen

Die Dorfbewohner sind einfach ergriffen und selbst  wo ihre Sorgen durchschlagen, überwiegt doch die Hoffnung, die der neue Gouverneur in ihnen erweckt:

O-Ton 5: Alte Frauen        0,44 (2X22)
„Nadeschda est? Gong…

Regie: Kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach Erzähler hochziehen und mit 2. Frau verbinden

Erzähler:
Gut, daß die Kirche gebaut wurde, findet eine Frau: Gut, daß der Gouverneur persönlich gekommen sei, um sie einzuweihen. Sie habe ihn zwar nicht gewählt, aber jetzt glaube sie doch, daß durch ihn etwas besser werden könne.

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:

„Nein, alles wird schlechter“, meint eine andere. Doch auch für sie ist Lebed ein guter Mann. Gut, wie er in Transnistrien Frieden gemacht habe, gut auch in Tschetschenien. Was er jetzt in Krasnojarsk erreichen könne, müsse sich aber erst zeigen. Das, betont sie, sei ihre ganz persönliche Meinung.
… moja mnenje,“ Glocke

Erzähler:
Und der Gouverneur zeigt sich. Er weiß, was er dem Volk schuldig ist. Während in Moskau um eine neue Regierung gefeilscht wird, während der Rubel stürzt und die Preise hochpreschen, zieht er unter dem Motto  „Hundert Tage seit der Wahl“ öffentliche Bilanz aus den ersten drei Monaten seiner Amtszeit. Ausführlich spricht er im örtlichen Fernsehen:

O-Ton 6: Lebed-TV        0,50
„Samie bolnoie wapros…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
„Das Problem des Lohnes ist gelöst“, versichert Alexander Lebed. Im Gebiet Krasnojarsk werde gezahlt. Für Pensionen gelte das Gleiche. es Verzögerungen höchsten von vier bis sechs Tagen. Dem Produktionstillstand rücke man im Gespräch mit den Unternehmen zu Leibe. „Wenn der Wille zum rechten Denken vorhanden ist“, erklärt der Gouverneur, „können alle Schwierigkeiten überwunden werden.“ Auf Rußland erstrecke sich der Einfluß dieses Willens noch nicht, aber für die Bevölkerung des Krasnojarsker Gebietes wirke er sich bereits in einer Verbesserung ihrer Lage aus. „Die Ernte im Gebiet ist eingebracht“, so Lebed, „die Schulen werden eröffnet, die Alten hungern nicht und werden nicht hungern, die Preise für Brot, Butter und Fleisch bleiben durch staatliche Kompensationen stabil.“
… produktami petannije“

Erzähler:
Was unter dem „Willen zum  rechten Denken“ zu verstehen ist, erfahre ich am nächsten Tag bei Sergei Scherkow, einem agilen Mann mittleren Alters, bei dem ich mich nach dem Wahrheitsgehalt von Lebeds Angaben erkundige. Andrej Scherkow muß es wissen; er hat soeben als neuer Chef des Krasnojarsker Pensionsfonds sein Amt angetreten.

O-Ton 7: Chef des Pensionsfonds        0,26
„Pensi sa Awgustje…

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Erzähler:
„Ja, die Pensionen wurden gezahlt“, bestätigt Scherkow, ganz so wie Lebed es gesagt habe. Wie das möglich sei? Krasnojarsk befinde sich in einer günstigen Lage: Entwickelte Industrie, Produkte, für die es Nachfrage im Ausland gebe wie etwa Nickel; darüberhinaus sei sie die Wirtschaft im Gebiet Krasnojarsk so vielseitig zusammengesetzt, daß sie bei einer vernünftigen Politik, wie Lebed sie jetzt machen könne, beste Entwicklungschancen habe:
449 …Dwigilcja i tagdali.“

Erklärung:
Meinem Erstaunen über diesen verblüffenden Optimismus begegnet er mit einer noch verblüffenderen Offensive:

O-Ton 8:         0,39
„Nu, vidite, Kak…

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Übersetzer:
„Nun sehen Sie, das ist wohl genau der Grund, warum man mich hierher geholt hat. Ich sehe die Dinge sehr grundsätzlich. Ich sehe, wo man etwas machen kann und wo nicht: Wenn nicht gezahlt wird, gibt es natürlich reichlich Möglichkeiten von Sanktione, aber ich habe ein anderes Herangehen an die Betriebe, ein komplexes. Wenn ich hier sehe, daß uns ein Holzkombinat nicht bezahlt, und da zahlt ein Zelluslosekombinat nicht, dann überlege ich, wie man beide zusammenbringen kann, um ihnen zu helfen. Und da ich eine reiche Fantasie und reiche Erfahrung habe, fällt mir in der Regel dazu etwas ein.“
594 ..mne udajotsja.“

Erzähler:
Das Bewußtsein: „Wir räumen auf“ treffe ich bei allen an, die ich in den Wochen meines Krasnojarsker Aufenthalts in der Nähe Alexander Lebeds  kennenlerne. Da ist zum Beispiel Roman Ignatow, in dessen „Kwartir“ ich während meines Aufenthalts wohnen kann. Roman ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er ist in Nowosibirsk zuhause, wo er einen Videoladen aufgebaut hat. Er unterstützte Alexander Lebed in der Organisation seiner krasnojarsker Wahlkampagne. Jetzt ist er Leiter der Kontrollkomission, welche die Durchführung der Erlasse der Gebietsadministration zu überwachen hat. Romans junge Frau blieb in Nowosibnirsk zurück.
Wie er so plötzlich in die Politik gekommen ist, kann Roman selbst nicht beantworten. Aber eins ist für ihn klar:

O-Ton 9: Roman Ignatow        0,22
„ Nu prosta, w Prinzipje…

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Übersetzer:
„Alexander Iwanowitsch hatte gar keine andere Chance. Er hatte die Möglichkeit, in diesem Gebiet anzutreten, einer starken, reichen Region, die sich jetzt im Verfall befindet, und sie zu entwickeln. Hier hat er die Möglichkeit zu zeigen, daß er das kann. Das stärkt erstens seine Popularität und bringt zweitens großen Nutzen für ganz Rußland; drittens gibt es eine Plattform für den nächsten Kampf ab, den um den Sessel des Präsidenten.“
…presidentskaje kreslje.“

Erzähler:
Roman öffnet mir den Weg in die Administration. Alexander Lebed ist gut bewacht. Ohne „Propusk“, eine Zugangserlaubnis, kommt niemand in das Gebäude der Bezirksverwaltung. Eine weitere Kontrolle ist am Eingang zu dem Flügel im dritten Stock zu passieren, in dem Alexander Lebed mit seinem Kommando residiert. Dieser Stil hebt sich kaum von dem ab, was man heute aus den Etagen der Moskauer Macht kennt, allerdings erheblich von anderen Städten in der Region, etwa Nowosibirsk. Einmal durch die Kontrolle hindurch, erinnern Klima und Gesprächsbereitschaft allerdings eher an die Tage der frühen Perestroika als an das Hauptquartier eines Generals. Bereitwillig antwortet man auf alle Fragen.
Erste Auskünfte erhalte ich von Wladimir Poluschin, dem anerkannten Biografen Lebeds. In der neuen Administration betraute Alexander Lebed ihn mit der Leitung der Kulturverwaltung. Poluschin charakterisiert seinen, wie er sagt, Freund und Vorgesetzten, mit den Worten:

O-Ton 10: Wladimir Poluschin        0,33
„Alexander Iwanowitsch…
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Übersetzer:
„Alxander Iwanowitsch ist der Kapitän. Kapitän ist der Mensch, der die Situation beherrscht. Das Leben stellte Alexander Iwanowitsch an kritische Punkte, wo er Entscheidungen treffen mußte.
… Er selbst sagt: „Ich bin Spezialist für Krisenlagen.“ Jetzt brauchen wir gerade einen solchen Spezialisten für Krisenlagen. Denn was in Rußland seit 1917 geschah und was heute geschieht, ist eine Schande.“
684, …kuschunswenno“.

Erzähler:
Krasnojarsk ist für Wladimir Poluschin ein Modell. Krasnojarsk sei das Herz Rußlands, begründet er:

O-Ton 12: Poluschin, Forts.        0,40
„Sserze w etom smislom…

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Übersetzer:
„Herz in dem Sinn, daß es schon vom Territorium her viermal so groß ist wie Frankreich. Fast wie ein Staat im Staate. Aber es geht nicht um Abtrennung. Im Gegenteil, hier kann man zeigen, wie man die Ausplünderung, auch die durch Moskau, stoppen und eine elementare Ordnung herstellen kann. Das bedeutet, eine Diktatur des Gesetzes zu errichten. … Der Mensch muß klar wissen: Gesetz ist Gesetz. Er hat kein Recht es zu brechen. Wenn es unserem Kommando hier gelingt, diese elementare Ordnung herzustellen …. dann kann Krasnojarsk der Punkt der Umkehr in der Geschichte Rußlands werden, an dem eine echte Wende vom Bolschewismus und anderen Ismen in Richtung eines zivilisiertem Staates erfolgen kann.“
… gossudarstwom.“

Erzähler:
Beiläufig fällt hier der Name Pjotr Stolypins. Stolypin versuchte die Modernisierung Rußlands Anfang des Jahrhunderts mit einer gewaltsamen Agrarreform zu erzwingen, durch die er einen unternehmerischen Mittelstand schaffen wollte. Alexander Lebed sprach lobend von Pinochet, der Chiles Wirtschaft wieder in Gang gebracht habe. Sind dies die Vorbilder der „elementaren Ordnung“, die Lebed und sein Kommando im Sinn haben?

Erzähler:
Da müsse man differenzieren, antwortet Poluschin ohne jede Verlegenheit. Die wirtschaftlichen Erfolge seien doch unbestreitbar.  Den politischen Weg Pinochets aber könne Lebed niemals beschreiten:

O-Ton 11: Poluschin        0,44
„Eta wot drugaja strana…

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Übersetzer:
„Dieser Weg ist für Rußland nicht möglich, weil Rußland in der Zeit des Bolschewismus mehr als 100 Millionen Menschen verloren hat. Wenn jetzt blutige Kämpfe inszeniert werden, dann ist das das Ende für Rußland. Das versteht Alexander Iwanowitsch sehr gut. Und von daher wird er keinen Pinochet oder vergleichbare andere kopieren ….
Sehen Sie doch: 1991 war Lebed am weißen Haus – er ließ nicht zu, daß es Tote gab; in Transnistrien stoppte er den Konflikt, der viel Blut kostete; in Tschetschenien  beendete er das sinnlose Morden. Nein, nein, Alexander Iwanowitsch ist doch gerade der Mensch, der an all diesen heißen Punkten dafür eintritt, daß nicht blutige, sondern friedliche Lösungen der Probleme gefunden werden.“
…rischennije waprossow.“

Erzähler:
Eine besondere Variante fügt eine Mitarbeiterin Poluschins, jung und selbstbewußt, ebenfalls erst seit kurzem im Amt, diesem Bild ein paar Tage später hinzu, als sie ihre Beziehung zu Alexander Lebed mit den Worten beschreibt, ihr gefalle dessen patriotische Richtung, und dann fortfährt:

O-Ton 12:         0,26
„Kagda bili wibori…

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Übersetzerin:
„Als dann vor zwei Jahren die Präsidentenwahlen kamen, da war für mich sofort klar, daß Alexander Iwanowitsch mein Präsident ist. Er gefällt mir einfach als Mann. In Rußland gibt es zur Zeit sehr wenige starke, gesunde Männer, an denen sich die Augen einfach freuen können. Ich bin Frau im ganzen Sinne des Wortes und ich schätze Männer wegen ihrer männlichen Würde. Er ist starker Mann, ein Führer.“
…tschelowjek, on lider“

Erzähler:
Zur Beantwortung weiterer Fragen verbindet man mich aus der Administration heraus mit der Lebed-Bewegung. Das sind die Delegierten der „Republikanischen Volkspartei“ und die Aktivisten der Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“. Gleich neben der Administration haben sie ihr Stabsquartier eingerichtet. Igor Sacharow, ein junger Mann, ehemaliger Offizier, hat hier das Kommando. Hier geht es entschlossen zu. er soll der Wahlsieg Alexander Lebeds in politische Bewegung umgesetzt werden. Handeln ist angesagt. Zwei Ventilatoren sorgen für frische Luft.
Umso bemerkenswerter, wie der junge „Kommandir“ den zivilen Charakter der Bewegung und der eigenen Person in den Vordergrund stellt:

O-Ton 13:         0,44
„Djla w om schto, mi borilis..

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Erzähler:
Im Wahlkampf, erzählt er, hätten sie als lebendiger Organismus etwas Metallischem, der Maschine des Staates gegenübergestanden. Es sei ein ungleicher Kampf gewesen, meint er:

Übersetzer:
„Aber am Ende war es uns gelungen, den Mythos aufzubauen, daß wir in der Lage sind, die Maschine von innen anzugreifen. Es war uns gelungen, deutlich zu machen, daß der Mensch in dieser Maschine nur ein Schräubchen ist; bei uns dagegen ist der Mensch eine Persönlichkeit – Fahrer, Chef einer Abteilung, Chef des Wahlkampfstabes, jeder!“
…isberateli staba.“

Erzähler
„ür Lebed sei jeder Mensch wichtig“ fährt der „Kommandir“ fort, „Lebed ist mit jedem zu reden und von jedem zu lernen.“ Auf dieses Lob Lebeds folgt die verblüfffende Wendung:

O-Ton 14:         0,22
„Ja skasal, Lebed mnje…

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Übersetzer:
„Aber Lebed ist keine Ikone für mich. Ich bin kein Fanatiker. Meine Ikone ist Rußland, danach meine Familie, kann sogar sein, erst meine Familie und dann Rußland. Wenn man das heute sagt, wird das von vielen nicht akzeptiert und wer so denkt oder so fühlt, tut das noch mit Scham. Das ist natürlich nicht richtig, aber so üblich. Es wird wohl noch einige Generationen brauchen.“
…neskelki pakalanije“

Erzähler:
„Nicht mehr Soldat, aber noch kein Bürger“ – auf diese Formel bringt der „Kommandir“ sein gegenwärtiges Lebensgefühl. Seine bürgerlichen Träume nähren sich aus seiner Dienstzeit in Deutschland. Mit Wärme spricht er von der Kindlichkeit, welche die Deutschen sich bewahrt hätten. Ja, so eine entspannte Art. Alexander Lebed ist für ihn die letzte Hoffnung, einen solchen wie die Deutschen Weg auch für Rußland einschlagen zu können. Die Aufgaben, die nach der Wahl Lebeds zum Gouverneur für die mit ihm verbundene Bewegung daraus folgen, beschreibt der „Kommandir“ so:

O-Ton 15: Igor Sacharow        0,25
„Glawnije sadatsche…

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Übersetzer:
„Für die Struktur, die jetzt aufgebaut werden muß, ist die Hauptaufgabe, Lebed dabei zu helfen, sein Programm zu verwirklichen. Im Prinzip geht es darum, beständig Einfluß auf die Verwaltungsstrukturen zu nehmen, auf der Ebene der Mitarbeiter, der Exekutive, bei Chefs von Abteilungen usw. usf., wo immer es möglich ist. Auf dieser Basis können dann Wahlkampagnen gemacht werden, sei es für lokale Wahlen, sei es für die des Präsidenten.“
…presidjent i tag dali.“

Erzähler:
Wie man die Chancen einschätzt, dieses Programm zu verwirklichen, also Krasnojarsk tatsächlich zum Modell eines künftigen Rußland zu machen, erläutert ein weiterer Igor im Stabsquartier der Bewegung. Er wurde mir als „unser Ideologe“ vorgestellt:

O-Ton 16: „Ideologge“ Igor        0,55        „Nu, mi otschen nadejimcja..

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Übersetzer:
„Nun wir hoffen natürlich sehr, daß es so wird. Aber um das zu realisieren,muß noch sehr, sehr viel gemacht werden. Bedauerlicherweise sind all die Pläne und Maßnahmen, die wir hatten, alle sehr stark von der allgemeinen Finanzkrise Rußlands betroffen. Und so werden wir einiges korrigieren müssen. Wir können die Zeit, die wir brauchen, um das Modell zu verwirklichen, jetzt schon gar nicht mehr genau angeben. Aber wir hoffen natürlich auf ein Ende der Krise. Dann können wir wir Mitte 99 schon einiges realisiert haben. Der Plkan, wie er auf der letzten Sitzung der Partei angenommen wird, ist sehr einfach: Wir müssen ganz Rußland zeigen, wie man in einem einzelnen Subjekt der Föderation Ordnung herstellen kann, Ordnung in allen Sphären: In der Wirtschaft, in der Politik, das heißt in den Beziehungen zwischen Partei und Regierung, und besonders, in den Organen der Verwaltung.  Diese sehr große Aufgabe steht vor Alexander Lebed und seiner Bewegung. Ich denke, wir werden sie erfüllen. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
…wapros tolka wremeni.“

Erzähler:
Hauptproblem sind nach Igors Darstellung die „Giganten. Das sind jene Mammutbetriebe für zigtausende Beschäftige, die heute als totes Erbe als der Sowjetzeit stillstehen und verrotten. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen soll. Weniger problematisch sei die Entwicklung von Mittelbetrieben:

O-Ton 17:  Ideologe, Forts.    Band 27, B, 490
„Bce problemi

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Übersetzer:
„Um die Vorhaben Alexander Lebeds zu entwickeln, braucht es vor allem aber stabile politische Verhältnisse, damit nicht nur die Bevölkerung der Macht vertraut, sondern auch die Partner, Partner innerhalb Rußlands, außerhalb, also Länder der ehemaligen Union und die Lände des Westens, des Ostens usw.  Bei den Dingen, die jetzt bei uns vorgehen, investiert hierher niemand. Die Situation wird sich erst ändern, wenn eine stabile Macht antritt, die ein verläßlicher Partner ist. Solange das nicht so ist, geht es abwärts.“
… i budit rasruschatsja.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf den Kern des Lebedschen Programms wirft ein Besuch bei der gerade in Gründung befindlichen Lebed-Jugend. Man findet sie im fünften Stock im Hotel „Tourist“, einer der ersten Adressen in Krasnojarsk.
Anders als in den kleinen Amststuben der Administration, anders auch als in den engen Räumen, in denen sich die Aktivisten von Bewegung und Partei drängeln, riecht es in dieser Etage nach Geld: Elegante Geschäftsräume, reichlich mit nagelneuer Elektronik bestückt, modische junge Männer, wie man sie in den letzten Jahren im Kreise des illegalen „bisness“ zu sehen gewohnt ist. Was ist das für eine Jugend? Was spielt sich hier ab?

O-Ton 18:    0,45
„Mi natschinajem…

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Übersetzer:
„Wir beginnen aus eigenen Mitteln“,  erklärt Nikolai Werner, der mir ein Interview im Chefzimmer gewährt. Fünfunddreißig Jahre ist er alt, erfolgreicher Unternehmer. Wir, das ist eine Gruppe junger Leute, die in den letzten Jahren zu Geld gekommen sind. Sie haben sich zusammengeschlossen, um Lebed zu unterstützen; jetzt wollen sie ihren Einfluß auf ganz Rußland ausweiten. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Jugend aus den Fängen der Sucht und des Verbrechens zu befreien, ihr Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu zeigen und sie wieder an geistige Werte, vor allem russische Kultur heranzuführen:
„Wir fragen heut nicht“, faßt Nikolai Werner schließlich das Programm seiner Organisation zusammen, „wir machen Vorschläge, was man tun kann. Wir schlagen vor, der Schmied des eigenen Glückes zu werden“
..mechka gaworja.“

Erzähler:
Die Organisation einer Lebed-Jugend, das wird auf dieser Edeletage klar,  ist der Versuch, Jugendlichen, die bisher im kriminellen oder halbkriminellen Mileu hängenblieben, einen legalen Weg zu politischer Verantwortung und wirtschaftlichem Erfolg zu ermöglichen. Dahinter schimmert die Absicht Alexander Lebeds hervor, Korruption und Mafia zu bekämpfen, indem er sie legalisiert und in die politische Verantwortung zieht.

O-Ton 19:  Unterwegs mit der Bewegung             0,20            Radiomusik im Auto…

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Erzähler:
Wenige Tage später verschafft mir „Kommandir“ Igor die Gelegenheit, die Arbeit der Bewegung außerhalb von Krasnojarsk zu studieren. Im leeren Kulturhaus eines kleinen Ortes, wo wir einen Zwischenhalt machen,  erlebe ich meine erste Überraschung. Auf die Frage, ob sie mit dem neuen Gouverneur zufrieden sei, antwortet eine der dort anwesenden Frauen:

O-Ton 20: Alte im Kulturhaus        0,10        „Nu, Kak skasatj…

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Übersetzerin:
„Nun, wie soll ich es sagen: Bisher hat er sich noch mit nichts offenbart. Aber die Pension zum Beispiel hält man zurück hier bei uns.“

O-Ton 21: Unterwegs, Forts.         0,17
„Kakoi Odnoschennije…

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Erzähler:
Draußen dasselbe Bild: „Lebeds Versprechungen sind nur Worte“, klagt der Alte. Woanders habe man die Preiserhöhungen gestoppt, nicht so bei ihnen.
…abblenden

Erzähler:
In einem finsteren Seitenräumchen des riesigen Kulturhauses hat eine soeben entstehende Ortsgruppe ihr Büro eingerichtet. Was sagt ihr Leiter, ein ehemaliger Soldat, zu dem Widerspruch zwischen Lebeds Angaben zur Pension und den Klagen der Ortsansässigen?

O- Ton 22:         0,34
„Nu, ja snaju…

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Übersetzer:
„Nun, ich weiß, daß die Verzögerungen nicht groß sind. Davor, buchstäblich für Juli, August gab es keine Verzögerungen. Alles war normal. Aber was zur Zeit in Moskau vorgeht, hat sich hier wohl niedergeschlagen.“
… bil, nemnoschka“.

Erzähler:
Ich verstehe: Auch der entschlossenste Krisenmanager mit einem ausgesuchten Team von Spezialisten ist heut nicht in der Lage, den Dschungel der Filzokratie vor Ort zu durchbrechen. „Es bleibt uns nichts anderes“, so der Vorstand, „als die örtliche Bürokratie mit politischen Mitteln zu überzeugen Mit Lebed können wir es vielleicht schaffen. Wir vertrauen ihm. Er ist der Einzige, mit dem es möglich ist, Rußland wieder auf die Beine zu stellen.“
…moschno rossije vestits.“

Erklärung:
Eine Überraschung ganz anderer Art erwartet uns tags darauf in Podjessewo, einem kleinen Flußhafen am Jenessei nördlich von Krasnojarsk.
Zu Sowjetzeiten war Podjossowo eine sogenannte „Basis“. Hier wurden Kriegsschiffe repariert; ein Raumhafen war angegliedert; gut 5.000 Menschen lebten hier gut versorgt in militärischer Abgeschiedenheit.
Heut rostet die Basis vor sich hin, der Raumhafen ist zur Hälfte stillgelegt, Arbeitslosigkeit ist in die ehemals wohlhabende Ortschaft eingezogen.
In den Räumen der örtlichen Administration empfangen uns fünf Uniformierte, das „Aktiv“ der örtlichen Lebed-Bewegung. Sie nehmen die Informationen aus Krasnojarsk wie militärische Instruktionen entgegen. Ungeachtet der Anwesenheit eines westlichen Beobachters erörtern sie, wie  aus ihrer Sicht zur Rettung Rußlands vorzugehen sei:

O-Ton 23: Uniformierte in Podjossowo        42,5            „Moskwa korrumpirowaani…
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Übersetzer:
„Moskau ist eine korrumpierte Stadt. Auf keines der Moskauer Organe ist Verlaß. Sie sind Gegner, Feinde unserer Gesellschaft. Dann die Investitionen: Der Internationale Währungsfond  plündert das Land aus zusammen mit dem Präsidenten und seiner Umgebung, bestimmte Leute, Minister. Von denen ist nichts zu erwarten; das ist doch alles total korrumpiert. Es muß etwas geschehen, aber was? Bürgerkrieg? Wollen wir nicht. Militärdiktatur? Ich bin dafür. Je eher, desto besser. Aber Bürgerkrieg brauchen wir nicht, nicht dieses Blut. Über Pinochet haben wir gesprochen. Ich denke, das war ganz in Ordnung, wie er es gemacht hat. Er klärte die Situation, übergab die Macht danach dem bürgerlichen Präsidenten. Wieso können wir es in Rußland nicht auch so machen?“
…vesti w Roccije

Erzähler:
„gor, der Ideologe,  in dessen Begleitung ich fahre, müht sich während der Fahrt zu nächsten Gruppe, den schlimmen Eindruck zu mildern:

O-Ton 24: Komissar Igor    0,23
„Nu, na tschot Pinotscheta…

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Übersetzer:
„Was Pinochet betrifft, so kam das mehr aus dem Gefühl. Letztlich fühlt jeder bei uns, daß Pinochet, auch wenn er die Wirtschaft geordnet hat und die Macht dann einem Präsidenten übergab, dies doch nur auf sehr blutigem Wege machte. Das unterstützt natürlich niemand von uns. Das kommt nur so aus dem Herzen, wie man bei uns sagt, wenn man derart gequält wird, hier vor Ort.“
… na mestach“

Erzähler:
Die nächste Gruppe in Lesnisibirsk, einer Stadt am Jenessei, die von der Holzverarbeitung lebt, schlägt genau in die andere Richtung aus. Igor hat sie als „Volksfrontgruppe“ angekündigt. In der Tat erinnert die Runde, in die wir nun kommen, stark an die wilden Versammlungen der ersten Perestroikajahre. Nur eines ist anders: der spürbare Wille zu einer gemeinsamen Disziplin.

O-Ton 25:         0,27
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„Da ich regieren soll“, so der zur Wahl des Vorsitzenden vorgeschlagene Kandidat in seiner knappen Wahlrede, „werde ich regieren. Alles geht über mich. Wenn ihr damit einverstanden seid, wählt mich.“
Nach kurzer Debatte wird er gewählt und die Tagesordnung nimmt ihren Lauf: Wahl eines Büroleiters; Wahl einer Person, welche die Verbindungen zur Verwaltung hält. Fragen werden diskutiert, beschlossen, zur Ausführung delegiert. Als die Frage auftaucht, wie man sich gegenüber den für den gewerkschaftlichen Protesttag angekündigten Streiks verhalten soll, erhebt sich Igor, der sich bis dahin nicht eingemischt hatte, und trägt vor, was im Umkreis von Alexander Lebed dazu beschlossen wurde:

O-Ton 26: Komissar Igor        0,23            „W aktie protestow…

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Übersetzer:
„An den Protesttaktionen nimmt die Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“ als eine der wichtigsten Initiatorinnen und Organisatorinnen teil und wird, wo es möglich ist, versuchen, sie zu führen. Denn wo die Mehrheit der Bevölkerung ihren Unwillen über das ausdrückt, was  bei uns vorgeht, da muß unsere Bewegung nicht nur teilnehmen, sondern diese Bewegung leiten“.
… eto dweschennije.

Erzähler:
Gefragt, ob er nicht Angst habe, daß Lebed zu stark werden könnte, betont der frischgewählte Vorstand:

O-Ton 27: Vorstand in Lesnisibirsk            0,27
„Mi dumajem…
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Übersetzer:
„Wir meinen, die Frage ist nicht: Lebed, sondern wer auf Lebeds Richtung  einwirkt. Er entscheidet nicht allein, es entscheidet sein Kommando. In unserem Glauben heißt es: Vorsehung Gottes. Es wird so, wie Gott es will. Das ist eine Frage von Gut oder Böse. Kommt es so, kommt es so, kommt es anders, kommt es anders. Aber wir hier bemühen uns, die Sache im Namen des Guten zu entscheiden.“
557 …dobra; Lachen
Erzähler:
Am 7. Oktober sah man Alexander Lebed in Krasnojarsk an der Spitze von 20.000 Menschen gegen die gegenwärtige Moskauer Politik demonstrieren. Gleichzeitig meldete er seinen Anspruch als Kandidat für die Präsidentenwahlen an. Der Weg Pinochets, so viel ist klar, ist das nicht. Ob es aber der Weg einer unblutigen Erneuerung werden kann, ist eine offene Frage. Das hängt in der Tat nicht allein von Alexander Lebed ab.

Auf den Spuren Attilas – Die Wiederentdeckung eines historischen Mythos.

Als sich vor Jahren der eiserne Vorhang hob, wurde ein anderer, viel älterer Vorhang sichtbar –  jener, der sich über die asiatische Geschichte Rußlands, genauer über den nomadischen Ursprung seiner Vielvölkerrealität gelegt hat. Heute kommt diese Realität wieder in Bewegung und damit die Erinnerung an die Helden dieser Bewegung, an, Attila, später, auch Tschingis Chan. Unser Autor Kai Ehlers folgt den Spuren dieser Erinnerung im heutigen Rußland.

O-Ton 1:  Klagelied im Bus            1,34

Regie:
Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden.

Erzähler:
Unterwegs an der mittleren Wolga.. Eine kleine Reisegesellschaft, zusammengestellt vom „Twuschwaschischen Kulturzentrum“ in Tscheboksary, befindet sich auf der Fahrt entlang des „Silbernen Ringes der alten tschuwaschischen Geschichte“. Tscheboksary ist die Hauptstadt der tschuwaschischen Republik an der mittleren Wolga. Zusammen mit fünf weiteren autonomen Republiken bildet sie dort einen ethnischen Flickenteppich nicht-russischer Völkerschaften im Herzen der russischen Föderation. Das Lied, das die kleine Reisegesellschaft singt, ist eine uralte tschuwaschische Volksweise. Es beklagt den Verlust der Heimat. Dasselbe Lied empfängt uns an allen Orten, wo uns kleine Komitees in Landestracht erwarten. Die mobile Geschichtskunde ist ein Ereignis, das gemeinschaftlich begangen wird. Früher wäre soetwas als nationalistische Abweichung unmöglich gewesen. Jetzt wird Geschichte erstmals wieder aus tschuwaschischer, nicht aus russischer Sicht erlebt:  Der Ring, den der Bus in drei Tagen erst flußabwärts, dann am anderen Ufer zurück in einem Gebiet von der Größe Süddeutschlands abfährt, beinhaltet eine Reise zu den vergessenen  Städten des mittelalterlichen Bolgarstan, dem Staat der Wolgaubolgaren. Von ihm leiten die heutigen Tschuwaschen ihre Herkunft ab.
…Ende des Liedes, Lautsprecher

Regie:            bei 1,04
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Erzähler:
Tajabo, Tikesch, Bolgar, Püler heißen die alten Städte, zu denen die Reise führt. Vergessene Namen. Über 70 befestigte Städte habe es in Bolgarstan in der Zeit vom siebten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts gegeben, erklärt der Schriftsteller Mischa Juchma, der als Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“ die Reise leitet. Sie wurden von den Bolgaren gegründet, die nach der Niederlage Aittlas auf den katalaunischen Feldern im Jahre 451 dort ein neues Zuhause fanden, nachdem sie vorher als Teil der Hunnen nach Westen gestürmt waren. Es waren stolze Festungen, die die Bolgaren bauten, aber nicht eine davon blieb erhalten, als Anfang des dreizehnten. Jahrhunderts eine zweite nomadische Völkerwelle nach Westen stürmte, die Mongolen:

O-Ton 2: Mischa Juchma            0,35

Regie:
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Übersetzer:
„“Kagda Mongoli prischli….
„Als die Mongolen kamen, war Püler die Hauptstadt unserer Vorfahren. Viele Lieder über den Untergang Pülars sind überliefert, lange, lange Epen. (…) Zar der Tschuwaschen war damals Ultenbyk. Fünfundvierzig Tage hielt er die Stadt. Ultenbyk fiel im Kampf, aber seine Tochter und ihr Mann kämpften noch fast zwei Jahre gegen die Mongolen. Für die Mongolen war das ganz und gar ungewohnt. Die asiatischen Städte, auch die festesten Burgen waren ihnen innerhalb von Tagen zugefallen. Darüber ist bis heute nichts bekannt, es ist fast vergessen; das wird unseren Kindern nicht erzählt.“
… nje goworili sowim djetim“

Erzähler:
Vieles ist nach Mischa Juchmas Ansicht am gängigen westlichen Geschichtsbild zu korrigieren, das sich auf russische Geschichtsschreibung stützt: Nicht die Russen, sondern die Vorfahren der Tschuwaschen, die Bevölkerung Bolgarstans,  hätten das Land gegen die Mongolen verteidigt., erklärt er der Reisegruppe. Die russischen Fürsten waren vereinzelt, sie halfen sich nicht gegenseitig, verrieten einander sogar an die Mongolen. Bolgarstan dagegen war ein einheitliches Reich. Die Mongolen, so Juchma, wußten genau, daß nicht die vereinzelten russischen Fürsten, sondern das vereinigte Königtum Bolgarstan das Bollwerk war, welches sie nehmen mußten, wenn sie auf ihrem Weg nach Westen den Rücken freihaben wollten. So hätten sie ihre Kräfte darauf  konzentriert, die bolgarischen Städte vollkommen dem Erdboden gleich zu machen. Russische Fürsten dagegen seien bereit gewesen, sogar Tribut für die Mongolen einzusammeln. Auf diese Weise habe auch Moskau zur neuen Macht heranwachsen können.
Und nicht nur das! Das neue Moskau wurde bald zur neuen Bedrohung für die verbliebene nicht-russische Bevölkerung. Sie geriet zwischen die Fronten des zerfallenden mongolischen Weltreichs und der mächtiger werdenden Russen.
Bei einer zweiten Fahrt des Tschuwaschischen Kulturzentrums auf das jenseits der Wolga liegende benachbarte Gebiet der autonomen Republik El Mari, dem Siedlungsbereich einer weiteren ehemals aus der Steppe kommenden Völkergruppe, erklärt Michail Juchma:

O-Ton 3:  Marschroute „Mala Kalzo“            1.05

Regie:
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Übersetzer:
„Etot marschroute nasiwajetsja…
„Diese Reiseroute nennt sich `Kleiner Ring des alten Tschuwaschien“; die Ereignisse auf diesem  Ring gingen im sechzenten Jahrhundert vor sich. Sie waren nicht nur für die Tschuwaschen wichtig, sondern für das ganze zukünftige Rußland. Damals gab es ja noch kein Rußland: Es gab das Moskauer Zarentum; es gab die harten Konflikte zwischen dem Moskauer und dem Kasaner Zarentum, das heißt den Mongolen. Hier waren die Tschuwaschen entscheidend daran beteiligt, wie sich der euroasiatische Kontinent entwickelte. Sie stellten sich zunächst auf die Seite Moskaus gegen die Mongolen, indem sie sich aktiv an der Eroberung Kasans beteiligten und unterstützten so die Expansion Moskaus nach Osten. Aber Iwan der Schreckliche erfüllte das Versprechen nicht, das er den Tschuwaschen gegeben hatte und buchstäblich anderthalb Monate nach der Eroberung Kasans begann ein Krieg der tschuwaschischen Völker gegen das Moskauer Zarentum. Dieser Krieg dauerte zweiunddreißig Jahre.Er wurde mit dem Fall von Tjala entschieden. Diese Stadt werden wir uns heute ansehen. Ihr Name steht für die Kämpfe um die Unabhängigkeit der tschuwaschischen und marizischen Völker.“
… i marizich narodow“

Erzähler:
Was wir nach Ankunft in dem entsprechenden Bezirk der Republik El Mari dann sahen, waren kahle Steilhänge an der Wolga, unter deren Bewuchs nur noch die historische Phantasie zu erkennen vermochte, was sich dort einst abgespielt haben mochte, als Iwan IV. seinen Krieg gegen die Mari, Tschuwaschen, Baschkiren und andere an der Wolga siedelnde Nachkommen ehemaliger Steppenvölker führte, nachdem sie ihm zuvor den Sieg über das mongolische Restchanat Kasan ermöglicht hatten. Als Krönung seines Sieges ließ Iwan den Adel der besiegten Völker verschleppen oder töten. Die übrige – nicht-russische Bevölkerung sah sich in Grenzgebiete gedrängt, wo sie als vorgeschobene Posten des expandierenden Zarenreiches, Kosaken genannt, in halber Unabhängigkeit vom Moskauer Hofe und halb in seinen Diensten lebten. In periodisch wiederkehrenden Abständen erhoben sie sich; in ebendenselben Rhytmen wurden sie blutig niedergeschlagen. Die sog. großen Bauernaufstände des Stenka Rasin  im 17. Jahrhundert, des Jemeljan Pugaschow im 18. Waren sicher auch Unruhen von Bauern; noch mehr aber waren sie Erhebungen nicht-russischer, halbnomadischer Völker gegen den Siedlungs- und Kolonisationsdrang des zaristischen Moskau.

O-Ton 4: Stimmen, Lied            0,46
Regie:
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Erzähler:
Beim Treffen im „tschuwaschischen Kulturzentrum“ geht es noch tiefer hinein in die Geschichte:  Mischa Juchma, selbst Restaurator eines fast vergessenen tschuwaschischen Epos über Attila, den „großen Zar der Hunnen“, wie er ihn nennt,  stellt – nach dem geselligen Teil der Versammlung – Fachleute zur tschuwaschischen Geschichte vor.
Da ist zunächst der greise Dichter Alexander Iwanowitsch Terentjew. Er ist von Haus aus Ingenieur, hat aber ein Buch über die Geschichte Tschuwaschiens und – was das Aufregendste ist – eine Ballade über Attila als tschuwaschischen Zaren verfaßt.
Wie kommt ein Ingenier, der eine tschuwaschische Geschichte schreibt, dazu, ein Ballade über Attila zu verfassen? Die Antwort des alten Mannes ist verblüffend:

O-Ton 5: Alexander Terentjew                0,24
Regie:
Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje o pomminannije tolka…
„Nach meiner Einnerung begann die Geschichte Tschuwaschiens mit der großen chinesischen Mauer: Stiller Ozean, China, Altai, danach die kaspische Steppe, das asowsche Meer; dann kommen schon die Bolgaren, noch nicht die Tschuwaschen. Die kommen später  – alles hunnische Geschichte, Attila. Die Bolgaren teilten sich; die einen wandten sich zur Donau, die anderen kamen an die Wolga.“
…na Wolgu“

Und Attila? drängte ich ihn. Wie entstand die Idee, über Attila zu schreiben?

O-Ton 6: Terentjew 2            0,14

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei Imperator hochziehen, wieder abblenden, weiter unterlegen
HIER O-TON ERGÄNZEN AUS BAND 5/A/330: bis Lenin

Übersetzer:
„Tschuwstwo gordostje…
„Das Gefühl des Stolzes! Keine Geschichte – und auf einmal war da ein berühmter Vorfahr! Auf einmal gab es da unseren eigenen Imperator.
…swoi Imperator“

Regie:
Nach Imperator wieder abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden.

Erzähler:
Jemand anderes habe es ja nicht gegeben,  fügt der dichtende Ingenieur noch hinzu, höchstens noch Lenin. Lenin stamme ja auch aus einer tschuwaschischen Stadt, aus Simbirsk. Er sei selbst zu einem Drittel Tuschwasche gewesen. Er habe versucht, den Tschuwaschen zu helfen, auch gegen Stalin. Auf Lenin seien die tschuwaschischen Intellektuellen natürlich auch immer stolz gewesen.                             …Text…

Regie:
O-Ton kurz hochziehen, danach abblenden

Erzähler:
Prof. Dr. Dimitri Wassili Dimitriwtsch, ebenfalls nicht der Jüngste, ist Dozent an der Fakultät für die mittlere und neuere Geschichte Tschuwaschiens an der Universität von Tscheboksary. Für ihn sind die Hunnen nicht von den Mongolen zu trennen. Sie haben beide dieselbe Wurzel, meint er:  die Völkerwiege des Altai. Sie habe immer wieder die unterschiedlichsten nomadischen Völker hervorgebracht, alle irgendwie ethnisch, sprachlich und kulturell miteinander verwandt. Auf die Frage, warum Attila und später Tschingis Chan so große Siege erringen konnten, antwortet der Professor:

O-Ton 7: Prof. Dimitri Wassili        1,09
Regie:
Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach (erstem) Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„O Attileje eschtscho bil… „
Unter Attila gab es das System der kriegerischen Demokratie: Starke militärische Führer, große Nähe zum Volk, Lebensgemeinschaft. Ihre Ausbildung für den Krieg begann schon im Alter von zwei Jahren. Sie waren sehr gute Kämpfer. Sie kannten das chinesische Kriegshandwerk, besonders Belagerungstechniken, sie hatten sogar chinesische Strategen bei sich. Die Hunnen haben ja beständig Krieg mit den Chinesen geführt. Auch ihre Bögen waren den anderen ihrer Zeit überlegen. Mit den Mongolen war es nicht viel anders. Auch sie holten sich viele Kenntnisse von den östlichen Techniken.“

Erzähler:
„Das wichtigste aber“, widerholt der Professor, mehrere Male,  „war ihr starker Zusammenhalt, die kriegerische Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Völker, sowohl bei den Hunnen, als auch später bei den Mongolen. Man war nicht einfach untergeordnet, man stand für ein und dasselbe Ziel, man gehörte zusammen, Unterschiede gab es nicht, kaum feudale Schranken. Nomaden haben zwei Ziele“, faßt der Professor zusammen: „die Herden zu hüten und Kriegsbeute zu machen. Der Krieg gilt bei ihnen als Arbeit. Das ist der Grund, warum sie so gut kämpfen konnten.“
…magli woiewat“

Erzähler:
Damit war ich, mitten in Rußland, ganz in die Geschichte der euroasiatischen Steppenvölker eingetaucht. Ein Weiteres tat noch Mischa Juchma, als er zum Abschied in die Truhe seiner literarischen Schätze griff, um mir das tschuwaschische Epos von „Atil und Krimkilte“ zu zeigen. Bedächtig knüpfte er die Schleifen auf, mit denen das Manuskript eingebunden war und begann feierlich vorzutragen:

O-Ton 8:            0,31
Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, sehr allmählich runterziehen, abblenden

Erzähler:
„Chir chir urolo utrom…

Regie:
Kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen,

Zwölf Heldengesänge hat das Epos: Sie berichten über die Kämpfe der Hunnen mit den Völkern des Westens. Eines Tages entdeckt Attila die blonde Schönheit Kriemhilde unter den von seinen Truppen eingebrachten Gefangenen. Er verliebt sich in sie, wirbt um die Widerstrebende, vergißt alle seine Kriergs-Staats- und Familienpflichten, bis sie schließlich einwilligt, als Nebenfrau in seine Jurte zu ziehen. In der Hochzeitsnacht kommt Attila ums Leben. Es beginnt die Zeit der Verwirrung für die von ihm geführten Völker, die erst mit deren Ansiedlung in den neuen Siedlungsräumen endet.
Auf dem Weg in Mischa Juchmas Heimatdorf Sugut, wo er mir zeigen will, wie die tschuwaschische Tradition und die Erinnerung an Attila heute lebt, habe ich Gelegenheit, Mischa nach weiteren Einzelheiten des Epos zu fragen. In welchem Zustand ist es?

O-Ton 9: Im Auto nach Sugut: über Attila    1995, Band 16 A, 571 – 592

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Ü*bersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Eta rasrusnjene raskasi…
„Es sind einzelne Gedichte, einzelne Strophen, Prosaerzählungen, ein unzusammenhängender Text. Der allgemeine Inhalt ist ungefähr so: Da wird erzählt, daß Attila anfangs ein guter Herrscher war. Er bemühte sich um das Volk. Später, als er schon viele Völker besiegt hatte, wandelte er sich sehr stark zum Schlechten. Er brachte seinen Bruder um, begann die Gesetze seines Volkes zu mißachten, seine Frau zu beleidigen. Er machte seinen zweiten Sohn zum Lieblingssohn, das heißt zum Erben. Darüber entstand Streit zwischen den  Völkern, die im hunnischen Bund waren. Es entstanden Kämpfe, aber Attila kümmerte sich nicht darum. Er fand Gefallen daran, sich immer aus Neue mit jüngeren und noch jüngeren Frauen zu verheiraten.“
…na maladix genschin“
Erzähler:
Die ganze Zeit? Immer aufs Neue? Wunderte ich mich.

O-Ton 10: Über Attila, Forts.     1995, Band 16 A, 592 – 634

Regie:
O-ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Aha, wsjo wremia…
„Ja, immer aus Neue! Und er feierte die ganze Zeit Feste, statt sich um die Stärkung des Staates zu kümmern. So verlor er seine Mannschaften. Sie verließen ihn. Da entschied einer seiner Verwandten, ihn zu beseitigen. Aber das war nicht möglich, weil Attilas Autorität, auch seine Leibwache groß war. Später verliebte sich dieser Verwandte in Kriemhilde. Als Attila dieses Mädchen sah, forderte er von dem Verwandten, daß er ihm dieses Mädchen abtrete. Der verabredete daraufhin mit Kriemhilde, daß sie Attila täuschen solle, also ihm Liebe verspreche und so weiter. Am Ende kommt es dann so, daß sie zustimmt, seine Frau zu werden. Aber als die Hochzeit war und sie schon in die Gemächer Attilas gehen sollten, sagte sie: Ich liebe dich nicht, ich werde mit deinem Verwandten fortgehen. Über diese Ungeheuerlichkeit regt er sich so auf, daß er stirbt. So die Erzählung. (…618… ) Die Moral des Epos lautet also: Wenn Du ein großer Herrscher bist, dann liebe dein Volk, hilf ihm und fordere es nicht sinnlos heraus. So wird erklärt, warum Attila starb. Er starb, weil er unmäßige Macht wollte, unmäßig alle jungen Frauen haben wollte und unmäßig trank. Es ist eine interessante Lehre, die die Erzählung gibt: Sie rechtfertigt den Verwandten, der ohne Gewalt, auf geschickte Weise mittels der Frau den hart und brutal gewordenen Attila zu beseitigen versteht.“
..ot jestokowa Attila“

Erzähler:
Krimhild hilft, sich von dem Tyrannen zu befreien. Sie zeichnet sich durch Schönheit, Verstand und Glaubwürdigkeit aus. Das ist eine andere Bewertung ihrer Rolle als die, welche sie im Kied der Burgunder zugewiesen bekommt. Auch die Beziehung der Hunnen zu den übrigen Völkern erscheint in etwas differenzierterem Licht:

O-Ton 11: Attila, Forts.     1995, Band 16 A, 640 – 653

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„…(Neuer Ton) Voskowlaetja krassata…
„Der Verwandte Attilas ist der Ansicht, mit den Völkern müsse man in Frieden leben. Aber Attila meint: `Nein, wir sollten die Eroberer sein: Alle sollten sich uns unterordnen!´ So streiten sie sich die ganze Zeit. Attila sagt: `Sie sollen sie unsere Sprache lernen, sie sollen sie sich in unserer Sprache verständigen.´ Der Verwandte sagt: `Nein, wir sollten Übersetzer haben, laß sie doch in ihrer eigenen Sprache sprechen.“ Dieser interessante Streit geht beständig zwischen ihnen ab.“
…swjo wremia idiot“

Erzähler:
Viele Einzelheiten erzählt Mischa Juchma noch. Woher er das alles wisse? Von Babuschka, seiner Großmutter,  antwortet Mischa, wie übrigens auch all die anderen frühen Mythen, Legenden und Erzählungen der Tschuwaschen, ebenso wie die der anderen Völker an der Wolga. Mischas Großmutter war Geschichtenerzählerin im Dorf Sugut:

O-Ton 12: Mischa über seine Großmutter    Band 17, 1995, S. B., 652 – 673

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach Übersetzen hochziehen.

Übersetzer:
„U Babuschke sabiralis…
„Bei Babuschka versammelten sich, als ich noch sehr jung war, die Alten des Dorfes, um sich miteinander zu besprechen. Das war die Gilde der Erzähler. Ich saß zwischen ihnen und hörte zu. Sie stimmten einige Dinge miteinander ab: Hier muß man etwas so, da etwas anders erzählen.; über dieses Dorf muß man das sagen, anders ist es nicht richtig, so geht es nicht! Ich erinnere mich gut an diese Gespräche, die mich sehr beeindruckt haben. Besonders erinnere ich mich daran, wie sie eine Erzählerin aus einem entfernteren Nachbardorf kritisierten, die sagte, daß Ultenbyk gestorben sei. Sie stellten klar, daß man das so nicht sagen dürfe, daß man sagen müsse: Er verschwand; wohin er verschwand, ist nicht bekannt, aber er erscheint manchmal Leuten am Horizont auf weißem Pferd und umgeben von seinen Kriegern, tschuwaschischen Truppen.“
…tschuwaski atrjadi

Erzähler:
Heute ist Michail Juchma selbst Babuschka. So werden Schriftsteller gelegentlich im Volksmund genannt. Die wirkliche Babuschka könne er natürlich niemals ersetzen, wehrt er ab. Sie habe unermeßlich viel mehr gewußt als er, denn sie sei die Bewahrererin des tausendjährigen Wissens. Zwischen ihr und ihm fehle eine ganze Generation, die Kriegsgeneration, die Stalingeneration.  Außerdem habe sie besondere Kräfte gehabt:

O-Ton 13: Mischa über  Babuschka, Forts.         Band 17, 1995, S. B. (703 – 733    )

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Sie war mehr als nur eine Märchenerzählerin. Sie bewahrte das ganze Erzählgut (…) Sie hatte auch religiöse Aufgaben. In die Kirche konnte sie natürlich nicht gehen, die waren ja niedergerissen. Aber in ihren Erzählungen gab es immer alte tschuwaschische Götter. … Sie kannte alle Götter und Mythengestalten. Aber sie erzählte nicht nur, daß es sie gab, sondern auch wo sie sich aufhielten, auf einem bestimmten Berg, an einem bestimmten Ort. Da waren große Drachen, riesige Schlangen. Und ich fragte: Großmutter, warum gibt es diese Schlangen in unserer heutigen Welt nicht? Und sie sagte: `Das war damals, lang zurück, lange zurück zur Zeit unserer Vorfahren.´  Diese Erinnerung an die alte Natur hat sich bei Großmutter sehr gut erhalten.“
…otschen charascho sakranilas“

Erzähler:
Unter solchen  Gesprächen erreichten wir die kleine Druckerei, in denen die von Mischa aufgeschrieben Geschichten, auch das Epos von Attil und Krimkilte heute in kleine Broschüren gepreßt werden. Im Bleisatz wird hier noch jede Zeile gesetzt – eine Technik, die selbst schon fast zu Vergessen verurteilt ist.

O-Ton 14: Druckerei                Band 16, A, 215

Regie:
Während der letzten Worte langsam kommen lassen, stehen lassen, unterlegen, allmählich abblenden

Sammler, Stimmen, Druckerpresse

Erzähler:
Das Stampfen der Druckerpressen noch im Ohr, komme ich in Nowosibirsk, einer späteren Station meiner Reise zu neuen, überraschenden Blicken hinter den hunnisch-mongolischen Vorhang der russischen Geschichte: 90% Prozent der Namen sibirischer Flüsse, Berge und Landschaften, höre ich, seien mongolischen, tatarischen, turksprachigen oder sonstigen nomadischen Ursprungs. Bei einem guten Bekannten,Juri Gorbatschow, Journalist, Poet und Liedermacher, den ich bei einer früheren Begegnung als gemäßigten russischen Nationalisten kennengelernte, stoße ich auf  eine Überraschung besonderer Art. Ich finde ihn beschäftigt damit, ein Lied über die zu schreiben, die er die neuen Hunnen oder auch die neuen Wikinger nennt. Befragt, wie das zu verstehen sei, antwortete er:

O-Ton 15: Juri Gorbatschow                0,59
Regie:
O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, slowa nowi Gunni…
„Nun, das Wort neue Hunnen benutze ich, um die Strukturen des heutigen Verbrechens zu kennzeichnen. Es ist ungefähr so wie bei Tschgis Chan: Es sind Krieger. Nimm die  gut organisierten Brigaden von Schutzgelderpressern, (…) die überall ihre Gelder eintreiben. Sie sind nach dem Prinzip der Kampfgemeinschaften organisiert. Die kann man mit den Wikingern, mit den Hunnen oder mit den Horden Tschingis Chans vergleichen. Das sind Banden, Banditen, Kämpfer, die sich versammeln, um Beute zu machen. Töten ist für sie kein Problem. Die Wikinger hatten ihre Schiffe; danach bestimmte sich die Größe ihrer Brigade. Die Hunnen hatten ihre Jurtengemeinschaft. Heute bilden sich Minibrigaden nach der Menge der Leute, die in ein Auto passen, fünf, sechs Leute und noch ein gewisses Hilfspersonal. Alles nach alten Prinzipien.“

O-Ton 16: Juri, Guitarre            0,28
Regie:
Unter dem Erzähler langsam kommen lassen

Erzähler:
Mit diesen Worten hat Juri zur Guitarre gegriffen, um mir seine neueste Schöpfung vorzuspielen.

Regie:
Nach Erzähler kurz stehen lassen, abblenden Allmählich abblenden

Erzähler:
Prof. Derewianko, Leiter des Instituts für Archäologie der Universität von Novosibirsk, den ich auf Juris Empfehlung hin anschließend aufsuchte, ist gar nicht einverstanden mit solchen neuen Begriffen. Er hält sie für modisches Gerede, Verfälschung der wirklichen Geschichte, Ausdruck der Oberflächlichkeit der neuen Zeit. Sicher seien sie alle Räuber gewesen, so der Professor. Die Wikinger aber seien bezahlte Söldner, dazu noch Händler und von Haus aus seßhaft und bald in die einheimische Bevölkerung integriert gewesen; Hunnen und Mongolen dagegen nomadische Krieger, die sich fremde Völker unterwarfen. Das gelte es strikt zu unterscheiden, betont der Professor, auch wenn die einen wie die anderen tiefe Spuren in der russischen Geschichte hinterlassen hätten. Daß die Tschuwaschen Attila für sich reklamieren, quittiert der Professor mit einem gemütlichen Lächeln: Die Herkunft der Hunnen aus dem nordchinesischen Raum unterliege keinem Zweifel, meint er, ebenso auch die hunnischen Wurzeln der Mongolen. Welche Völker aber im Einzelnen zu den Hunnen gehörten und wie sie sich im Zuge der verschiedenen Wanderungswellen mischten,  könne niemand bisher mit wissenschaftlicher Genauigkeit sagen. Das herauszufinden sei Sache zukünftiger Forschung, findet er. Wichtiger ist ihm, bei aller Gleichartigkeit auch die Unterschiede zwischen der hunnischen und der mogolischen Bewegung herauszuarbeiten:

O-Ton 17:        1,48
Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Dschweschennije Mongolow…
„Die Bewegung der Mongolen hatte einen anderen Charakterals die der Hunnen. Nach der Bildung des Imperiums durch Tschingis Chan war die mongolische Bewegung schon nicht mehr spontan, wie die hunnische zuvor. Die setzte sich wie ein Schneeball durch die Steppe fort. Die mongolische war bereits auf Eroberung gerichtet, trug klar politische Züge: Die Unterwerfung Nord-Chinas, des Hsi-reiches, das den Westen Chinas beherrschte, die Vernichtung der zentralasiatischen Reiche, schließlich, Ost-, dann Westeuropa. Alles nacheinander. Das zielte bewußt auf Weltherrschaft, wie es das vorher nur unter Alexander von Macedonien und Rom gegeben hatte.“

Erzähler:
Aus heutiger Sicht, so der Professor, müsse man Attila, ebenso wie Tschingis Chan wohl als brutale Tyrannen bezeichnen, doch müsse man zu verstehen versuchen:

Übersetzer:
„Das war jene Welt; das war jene Zeit – die Brutalität, der Mord an Verwandten, die Tötung von Ehefrauen, sogar des Vaters, der Mutter; das alles war üblich in der damaligen nomadischen Welt und nicht nur bei ihnen, auch in der römischen oder der griechischen Zivilisation. Unter dem Aspekt der Weltgeschichte würde ich daher die Rolle der Hunnen, erst recht die der Mongolen nicht vollkommen negativ bewerten. Die Millionen an Toten, die sie hinterließen, sind vom Standpunkt menschlicher Moral nicht zu vertreten, aber in beiden liegt eine gewisse Unausweichlichkeit der Menschheitsentwicklung; das war sozusagen die Rückseite der menschlichen Geschichte. Darin aber, daß das Imperium Tschingis Chans schließlich zwei Welten, die östliche und die westliche, engstens zusammenbrachte, lag natürlich sehr viel Positives.“
…mnoga polaschitelno.“

Erzähler:
Die Hunnen zertrümmerten die römische Welt und schufen so die Voraussetzungen für die Entstehung der europäischen Zivilisation, so der Professor. Hauptsächliche Erben des mongolischen Weltreiches aber wurden die Russen. „Schritt für Schritt“, so der Professor, „vollzog sich unter dem Einfluß der Mongolen die Entwicklung der russischen Staatlichkeit, während Moskau die Herrschaft der Chane weiter und weiter nach Osten zurückdrängte. Mongolisches Tribut- und Gefolgschaftsprinzip, ethnischer Pluralismus bei zentralisierter Führung, Sprache und nicht zuletzt nomadische Mentalität gingen so in das entstehende russische  Imperium ein. Aber nicht nur Mongolen und Russen, nicht nur zwei Ethnien, betont der Professor, zwei Welten trafen so aufeinander, die nomadische und die seßhafte. Der Konflikt zwischen ihnen habe die Geschichte der Menschheit begleitet und sei heute im Begriff neu aufzubrechen.

O-Ton 18: Musik

Regie:
Musik allmählich kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, stehen lassen, mit Applaus abblenden

Erzähler:
Damit hat der Professor ein Stichwort genannt, das über die Schwelle des Jahres 2000 hin Gültigkeit haben wird. Wenn es wohl auch keinen neuen Attila oder Tschingis Chan geben wird, so kommt doch mit Sicherheit eine neue Begegnung von Ost und West auf uns zu.

gesendet in:  Bayerischer Rundfunkk, Schulfunk

Normalisierung oder Mafianisierung? Eine Skizze zu Rußlands neuen Eliten

Vortext:
Erneuerung der Führungsstrukturen, Schaffung eines selbstständigen Mittelstandes und Anhebung des allgemeinen Konsumniveuas auf westliche Standards war das Ziel der als Perestroika bekanntgewordenen sowjetischen, später russichen Reformen. Eine Modernisierung für das kommende Jahrtausend sollte es werden. Anfang 1997, nach seiner Bestätigung als Präsident, kündigte Boris Jelzin eine zweite Reformwelle an. Sie werde, versprach er, den wilden Kapitalismus durch einen zivilisierten ablösen. Nur ein Jahr später tauschte er die gesamte Regierung aus – mit derselben Begründung.
Was geht in Rußland vor? Unser Autor Kai Ehlers berichtet.

O-Ton 1: Metro, Straßenagitation        1,20
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Moskau. Immer noch Zentrum der politischen Macht in Rußland. Im Rednereck auf dem Platz der Revolution agitieren Ultralinke gegen die „kommunistische Partei Rußlands“. Kompromißlertrum wirft man ihr vor, Beteiligung am Ausverkauf des Landes, Klassenverrat. Werte aus der Zeit werden beschworen, als die kommunistische Partei noch die einzige politische Kraft war. Vergeblich: Die Partei der alten Nomenklatura gibt es nicht mehr. Vielfalt ist anstelle des früheren Machtmonopols getreten. Auch die direkten Erben der alten Staatspartei haben sich in mehr als ein Dutzend Nachfolger gespalten. Die „Kommunistische Partei Rußlands“, mit rund zwanzig Millionen Mitgliedern die größte unter ihnen, ist zugleich die größte Partei im Lande. Umstürzlerische Töne sind von ihr jedoch kaum noch zu vernehmen. Was ist geschehen?
Iossif Diskin, Soziologe am Institut für regionale Volkswirtschaft, nach eigenen Aussagen Spezialist für Transformation und darüberhinaus Eliteforscher, glaubt eine Erklärung zu haben:

O-Ton 2: Iossif Diskin        1,20
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer (bei 0,20) vorübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer:
Schto presaschlo? Na moi wsglad…
„Was geschehen ist? Meiner Ansicht nach verwandelte die Kommunistische Partei sich in einen Teil des russischen Establishments. Sie ist nicht mehr an grundlegenden Veränderungen interessiert. Sie ist einfach zu einer starken Opposition geworden.“

Regie: vorübergehend hochziehen
… stala Opposizii uwelitschii.

Erzähler:
Die Fakten sprechen für Diskins Sicht: 1994 stimmte die Kommunistische Partei Rußlands der Verfassung zu, danach dem von Boris Jelzin ausgerufenen Burgfrieden; ihre Mitglieder sind in allen regionalen Verwaltungen aktive Träger der offiziellen Politik. Die soziale Rolle der Partei hat sich verändert: 1991, nach ihrem Verbot, war sie marginalisiert; seit den Wahlen, die sie als stärkste Kraft der Opposition auswies, ist sie wieder attraktiv. Sie bietet Zugänge zum gesamten Verwaltungsapparat Rußlands auf allen Ebenen. Damit finden auch junge Leute dort wieder Aufstiegsmöglichkeiten.
„So funktionieren doch linke Parteien in ganz Europa!“, wehrt Diskin  Zweifel in die Glaubwürdigkeit der Partei ab: Mit einer Hand beteilige man sich an der Macht, mit der anderen führe man politische Meetings durch; in diesem Sinne, setzt er ganz ohne Ironie nach, baue sich im heutigen Rußland ein westliches politisches System auf.
..sapadni polititschni system.

Erzähler:
Der anderen, der regierenden Seite dieses von Diskin so genannten westlichen Systems kann man nur wenige Schritte vom Platz der Revolution entfernt im Büro Jefgeni Proschtschetschins etwa begegnen. Jefgenei ist einer der 33 Abgeordneten der Moskauer Stadtduma. Vor der Wende 1991 arbeitete er als Heizer in einem der Moskauer Hochhauskeller. Das war seinerzeit einer der typischen Berufe für kritische Intellektuelle. Der Keller diente auch als Anlaufpunkt für das dort entstehende „Antifaschistische Moskauer Zentrum“. Als dessen Chef wurde Jefgeni nach der gewaltsamen Auflösung der Sowjets durch Boris Jelzin 1993 in den Moskauer Stadtsowjet gewählt. Dort übernahm  er die „Kommission für nationale Fragen und Extremismus“. Ein Jahr später zog er aus dem Ein-Zimmer-Loch, in dem er mit Frau und Kind gehaust hatte, in eine neue, komfortable Drei-Zimmer-Wohnung.
Im Büro herrscht hektische Aktivität. Neben dem Abgeordneten selbst befinden sich noch weitere fünf Personen in dem Raum, die dort vier Telefone, FAX, Computer, dazu noch mehrere Mobiltelefone bedienen. Jefgeni erklärt seine Arbeit; zu den Führungsstrukturen des Staates befragt, antwortet er:

O-Ton 3: Jefgeni Proschtschetschin        0,50
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Tut nektorie njepominannije…
„Hier gibt es einige Unklarheiten: Ob liberaler, ob sogenannter liberal-demokratischer Staat! – In Rußland ist es vollkommen unmöglich, vom Staat als einem Ganzen zu sprechen. Das sind zwanzig, dreißig verschiedene Richtungen. Allein schon Moskau! Da sind die Bezirke, da sind Subpräfekturen mit eigenen Stabsquartieren. Ist das die Macht? Das ist die Macht! Die kontrolliert niemand. Bei uns in Rußland herrscht zur Zeit solch ein Chaos! Zu denken, daß es da irgendwelche Strukturen gäbe, die direkt vom Präsidenten zu irgendeinem Dorf gingen, nein!“
…passiolka, njet.

Erzähler:
Seinen eigenen Platz als Abgeordneter in diesem Chaos beschreibt Jefgeni mit einem Ausflug in die Physik:

O-Ton 4: Jefgeni Proschtschetschin, Forts.    1,11
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Wy snaetje, we Rossije…
„Wissen Sie, in Rußland treffen wir heute auf das, worauf die Physik stieß, als sie vom Makrokosmos auf den Mikrokosmos vordrang. Dort gelten schon andere Gesetze als die Newtons. Wo befindet sich das Elektron? fragten die Physiker damals. Aber wer die Quantenmechanik auch nur ein wenig kennt, der weiß, daß die Frage einfach nicht korrekt gestellt war. Es ist eben nicht klar, wo das Teilchen sich befindet; unklar ist auch, was Wirklichkeit und was Möglichkeit ist; man kann es nicht sagen! Genausowenig weiß ich, wo ich mich befinde. Im tschetschenischen Krieg war ich in der Opposition; jetzt ist Boris Nemzow Vizepremier, da bin ich für ihn. Wo ich morgen stehe, weiß ich nicht. Wir hängen weiter zwischen Himmel und Erde. Wir ähneln den Alpinisten, die abstürzen und von denen einer zum andern sagt: `Was denn, das soll das Ende sein? Hände und Füße sind doch noch ganz; wir fliegen ja noch!´“
… my jeschtscho letim.

Erzähler:
Man müsse weiter beobachten wie seinerzeit Niels Bohr, fährt der Abgeordnete fort, müsse sich selbst als Teil des Experiments begreifen, dessen Fortgang durch eigene Aktivitäten zu beeinflussen suchen. Nur Schritt für Schritt könne man heute in Rußland in Richtung rechststaatlicher Strukturen vorankommen.
Teil des von Jefgeni beschriebenen Experiments ist offenbar auch eine attraktive junge Frau, die sich ebenfalls in dem Büro aufhält. Sie fällt zunächst nur dadurch auf, daß sie rundherum freundlich Tee einschenkt, Gebäck reicht, im Hintergrund telefoniert und mit den Anwesenden schwatzt. Sie scheint selbst Gast zu sein. Sekretärin ist sie jedenfalls nicht; Sekretärin ist Olga, die den Computer bedient. Aber niemand kümmert sich besonders um die Unbekannte. Direkt befragt, erweist sich ihre Identität als im höchsten Maße erstaunlich:

O-Ton 5: Vera                0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
Menja sawut Vera…
„Ich heiße Vera, ich bin Managerin. Ich bin noch Studentin, aber gerade im Abschlußsemester. Ich habe fünf Jahre an der Moskauer humanistischen Universität studiert. Ich schreibe soeben mein Diplom. Da ich Zeit über habe, kann ich noch arbeiten.“

Erzähler:
Vera ist in einer Baugesellschaft tätig. Im Büro der Duma sucht sie praktische Erfahrung. Sie gehe in dieses Busyness nur hinein, sagt sie, um Nuancen kennenzulernen, Beziehungen herzustellen, Verhandlungen anzubahnen, Treffen einzuleiten.
…delawoi stretschi, Bürogeräusche.

Erzähler:
Dem Erstaunen, was sie als Managerin eines Baugeschäftes in einem Büro der Stadtduma zu tun habe, begegnet sie mit der entwaffnenden Erklärung:

O-Ton 6: Vera, Forts.        0,29
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:
Nu, potamutschta…
„Nun, weil das in unserem Lande so – (lacht) – das Passende ist. Hier im Büro kann man legal tätig sein. Hier kann man sich mit dem großen Geschäft befassen. Das ist ja äußerst schwierig. Firmen, die eben erst anfangen, die gerade ein Büro aufmachen wollen, wie die unsere, müssen ja immer darauf achten, daß sie gut angesehen sind, vor allem in der kriminellen Welt – in diesem Gebäude gibt es diese Welt nicht.“
… eta sdannje nje nachoditsja.

Erzähler:
Ruhige Arbeit, Verbindungen, Beziehungen zu Amtsstellen, das alles suchen Vera und ihre Auftraggeber in diesem Büro. Beziehungen seien schon immer wichtig gewesen, erklärt Vera. Aber heute könne ein junger Mensch und auch eine Firma ohne Verbindungen überhaupt nicht mehr existieren. Eine allgemeine Struktur kann Vera in dieser Art der parlamentarischen Büroorganisation aber nicht erkennen. Heftig wehrt sie derartige Vermutungen ab:

O-Ton 7: Vera, Forts.        0,32
Regie: Ton stehen lasssen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
Njet, njet, eta…
„Nein, nein, das ist zufällig. Kann sein, daß es das woanders auch gibt. Aber das kommt einfach daher, daß man gute, freundschaftliche Verbindungen hat. Es sind rein persönliche Verbindungen, rein persönliche Interessen. Man kennt sich lange und versucht sich gegenseitig weiterzuhelfen. Aber ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen darf.“
..ne snaju, lacht

Erzähler:
Dabei bleibt es. Einzelheiten mag Vera, aller Liebenswürdigkeit zum Trotz, nicht mitteilen. Weitere Elemente des Freundschaftsgeflechtes läßt jedoch ein Besuch in der Wohnung des Abgeordneten erahnen: Zu Gast ist an diesem Tage auch Sergei, ein recht beleibter und unter den Anstrengungen des Essens schwitzender leutseliger Mann mittleren Alters. Sergei ist Mitarbeiter in dem eigens vom Präsidenten geschaffenen Kontrollapparat, dem die Überprüfung der präsidialen Erlasse im Lande obliegt. Gefragt, wofür eine solche Kontrolle nötig sei, wenn es doch schon die Administration, die föderativen-, die Landes und die Ortsparlamente gebe, dazu noch die allgemeine Rechtsaufsicht, Prokura genannt, die Staatsanwaltschaft und die Polizei, schließlich noch den Geheimdienst des Innenministeriums als Nachfolger des KGB, antwortet Sergei:

O-Ton 8: Sergei, Kontrolleur        1,10.
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:
Nu, potamuschta u nas…
„Nun, weil es bei uns, bei der Mehrheit der Menschen keine automatische Erfüllung der Gesetze gibt. Schon Lenin sagte ja, Sozialismus ohne Kontrolle kann es nicht geben. Heute ist es nicht anders: Solange wir noch in dem Zustand sind, einen Rechtsstaat zwar zu wollen, ihn aber noch keineswegs haben, brauchen wir diese Kontrolle.“

Erzähler:
Als Organ der Führungskontrolle soll Sergeis Amt im Hintergrund wirken, die juristische Abwicklung der Fälle dagegen den öffentlichen Stellen überlassen; faktisch müßten sie deren Tätigkeit jedoch noch mit überwachen, klagt Sergei.
… do konza

Erzähler:
Die Privatisierung hat all die feinen Unterscheidungen zwischen `öffentlich´ und `nichtöffentlich´ hinfällig werden lassen, klagt Sergei. Daß er selbst Teil des Filzes ist, sieht er nicht. Die informelle Hilfe, die sich die Büros der Dumas und jene der Verwaltungen über Amts-, Partei- und Ortsgrenzen, ja, sogar über die politischen Flügel hinweg leisten, irritiert ihn in keiner Weise. Anders könne man heute in Rußland nicht arbeiten; da ist auch Jefgeni mit ihm ganz einer Meinung.

O-Ton 9: Metro, Gesang        0,15
Regie: Allmählich hochziehen, kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Die Karriereleiter der kommunistischen Partei, die Bürofreundschaften der Stadtduma repräsentieren nur Ausschnitte der neuen russischen Wirklichkeit. Auf der Suche nach dem ganzen Bild stoßen wir auf Jefim Berschin und Kyrill Swetitschki. Beide sind Redakteure der „Literaturnaja Gaseta“ in Moskau. Als Berichterstatter in Grosny waren sie intime Beobachter des tschetschenischen Krieges und enge Gesprächspartner Alexander Lebeds, des Generals, der den Krieg schließlich beendete und der im anschließenden Präsidentenwahlkampf 1996 zum großen Saubermachen aufrief. In Grosny hatten Jefim und Kyrill Gelegenheit, das ganze Ausmaß der Verfilzungen ihres Landes kennenzulernen.
Allem voran, so die beiden, sei nach den Ergebnissen der großen Umverteilung, der Privatisierung des Partei- und Volksvermögens zu fragen. Nur so lasse sich erkennen, wer jetzt im Lande die Kommandogewalt habe:

O-Ton 10: Jefim Berschin, Kyrill Swetitschki    0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
Na samom delje Sowjetskom Sojuse…
„Im Wesen war die Sowjetunion ja so aufgebaut, daß die Partei das Geld hatte. Aber das große Geld lag natürlich nicht irgendwie herum, es war den Strukturen zugeschrieben – durch bestimmte Betriebe, durch Erholungsanlagen, durch soziale Versorgungseinrichtungen usw., die zur Partei, vor allem aber auch zum Komsomol, ihrer Jugendorganisation gehörten. Als die Privatisierung begann, mußte man sich nur nehmen, was man schon hatte.“

Erzähler:
Im Grunde seien all die neuen Besitzer kriminell, befindet Kyrill, denn die Formierung der neuen Klasse, genauer, die Neuformierung der alten rund um das Geld, habe da begonnen, wo das Volk mit undurchsichtigen Methoden enteignet worden sei. Letztlich sei alles nur eine Frage des Daches erklärt Jefim:

O-Ton 11: Jefim, Forts.        0,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Kryscha, eta to….
„Ein Dach, Kryscha, ist das, was dich beschützt. Der Schutz wird heute von kriminellen Banden gestellt. Privatunternehmer können heute ohne solche Beschützer nicht überleben.
…bes akrana ti ne vysawisch

Erzähler:
Das gelte sogar für die früheren Komsomolzen. Sie hätten ja früher nicht nur über die Vermögen verfügt, sondern auch besondere Verbindungen zum KGB und zu Spezialdiensten gehabt. Deshalb werde ihr Dach heute vornemlich aus diesen alten Kreisen des Staatssicherheitsdienstes gestellt. Steuergesetze, Zoll – das seien für sie alles keine Probleme. Sie hätten überall ihre Leute. Aber auch für sie seien die Kämpfe in den ersten Jahren brutal gewesen:

O-Ton 12: Berschin, Forts.        0,39
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Perwie Moment…
„Anfangs wurde jeden Tag erschossen, gemordet, irgendjemand aufgehängt. Es ging um die Aufteilung der Einflußsphären. Jetzt ist das schon nicht mehr so. Jetzt hat man sich schon irgendwie miteinander arrangiert. Im Kern wird heute nicht mehr auf dem Niveau von Banditen mit Pistolen entschieden, sondern auf der Ebene großer Leute, einschließlich der Regierung. Man trifft sich im Restaurant, unter großen Mafiosi; man nimmt sich eine Flasche guten Spirit und redet miteinander.“
…i dogawariwatsja.

Erzähler:
Diese Leute hätten vor nichts mehr Angst, so Jefim weiter, anders als die frühere Nomenklatura, die die Kontrolle der Partei befürchten mußte. Auch die Presse sei ihnen gleichgültig; die meisten Zeitungen gehörten inzwischen ohnehin dem einen oder anderen Clan. Das einzige, was noch Wirkung zeige, seien Kompromate, kompromittierende Informationen. Aber auch sie tauchten nur kurfristig in den Medien auf, um politische Änderungen zu erzwingen; danach seien sie schnell vergessen:

O-Ton 13: Kyrill, Forts.        0,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Eta proischodit tak…
„Das geht so: Iwan Iwanow klaut am Kiosk fünf Flaschen Wodka. Das Kompromat verkündet nun, daß Iwanow eine Flasche Wodka klaute. Iwanow weiß, daß es fünf Flaschen waren und er weiß auch, daß der Präsident es ebenfalls weiß. Also macht er sich ruhig davon, sonst könnte es geschehen, daß auch die anderen vier Flaschen noch erwähnt werden…“
…(lachen)

Erzähler:
Die Orgnanisation der Dächer ist streng geregelt. Es gibt offizielle Bewachungsfirmen mit großem Einfluß. In ihnen sind vor allem die früheren Spezialdienste tätig. Daneben existieren die mafiotischen, rein kriminellen Formen. Auch sie haben eine feste Struktur: Da gibt es eine Leitung – das sind die Leute, die irgendwie im Geschäft sind, und es gibt die unten – sie werden „Byki“, Bullen genannt. Sie haben nichts zu sagen, erfüllen Lohnaufträge. Dazu kommen Verbindungen zur Bürokratie, der man bestimmte Gelder zahlt:

O-Ton 14: Berschin, Forts.        1,14
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Jesli ti atkriwaesch…
„Wenn Du eine Firma eröffnest, kommen sie von selbst. Auch wenn da nichts Geschriebenes ist, kommen sie. Sie wissen so oder so bescheid. Da kommen dann Leute zu dir, so nette Leute, im Schlips und mit intelligenten Umgangsformen. Lieber Iwan, sagen sie zu dir, wir möchten gern mit dir zusammenarbeiten. Wir schließen mit dir folgenden Vertrag für den Bezirk, in dem wir arbeiten: Du arbeitest ruhig, bezahlst uns 10%, möglicherweise 20, dann bist du sicher, dann wird dich niemand anfassen. – Daneben gibt es noch die andere Variante: Da fordert man keine Prozente, du mußt auch nichts für sie erledigen, da geht es nur noch um schwarzes Geld. Sie sagen dir: `Iwan, du hast ein Konto, hier nimm unser Geld, damit es gemeinsam in den Kreislauf kommt.´ Und die Prozente, die dir nicht gehören, die nehmen sie für sich. In diesem Fall nützt das allen. Sie nehmen keine Kopeke von dir, sie verschaffen dir Sicherheit und Euer Geld arbeitet gemeinsam. Es gibt also unterschiedliche Mechanismen.“
…raslitschni mechanismi

Erzähler:
Die großen Geldleute, erklärt Jefim, sind heute interessiert daran, die zusammengerafften Gelder zu legalisieren. Dafür brauchen sie Dokumente, legale Genehmigungen, legale Konten, Lizensen, Registrierungen usw. Wer glaubt ohne sie auszukommen, wird kaltgestellt. „Aber inzwischen“, so Jefim, „gehen sie zum Bürgermeister, wo man die Lizensen für die Geschäfte ausgibt, und schwupp, gibt es keine Lizens mehr.“ So wie es dem Benzin-König von Moskau ergangen sei:

O-Ton 15: Jefim, Forts.        0,49
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Menja prosta posnakomja odin…
„Ich kenne ihn; er hatte alle Tankstellen unter sich. Er ist ein kluger, wohlerzogener Bursche, ehemaliger Komsomloliz, sehr jung noch, hat da ehrlich im Komsomol gearbeitet, dann im Busyness, na, eben auf diesem üblichen Weg. Er hatte ein Dach, natürlich. Dann begann er ziemlich eigenständig aufzutreten. Als der Krieg in Tschetschenien begann, weigerte er sich, Steuern zu zahlen, um den Krieg nicht zu unterstützen. Er bot Tschernomyrdin riesige Geldsummen an, wenn bloß der Krieg aufhöre; er weigerte sich, Geld für den Bau der Erlöserkriche in Moskau zu geben. Ergebnis: Am Ende des Jahres lief seine Lizenz für die Tankstellen ab – eine neue hat er nicht bekommen. Das war´s dann. Er ist einmal Benzin-König gewesen.“
…benzinom Karolom

Erzähler:
Methoden wie im Westen, spöttelt Jefim. Kyrill ist skeptisch: Rußland ist nicht der Westen, findet er. Im Westen seien die Verhältnisse seinerzeit völlig andere gewesen. Da habe es einen starken Staat, Imperatoren, Monarchen, Landesherrn und soziale Schichten gegeben, die den Prozess der Kapitalisierung insgesamt trugen. Mit ihnen konnte die kriminelle Welt nicht konkurrieren. Rußland habe dagegen heute eine schwache Regierung, doch eine starke kriminelle Struktur:

O-Ton 16: Jefim, Forts.        0,33
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Jest sakoni zoni…
„Die Sache ist die: Rußland hat seine Tradition der Zonen, der Lager, der Verbannung; die ist schon sehr alt. Das sind bisweilen ganze Landstriche. Sie haben ihre eigenen Gesetze. In der Stalinzeit, als zeitweilig 50 Millionen Menschen in den Zonen lebten, jetzt Gulags genannt, entwickelten die Zonen sich zur Gegenwelt des Staates. Sie umfaßte nicht nur Kriminelle, sondern aller Gegner der Sowjetmacht oder solche, die dazu erklärt wurden. Im Zuge der Liberalisierung ist der Staat schwächer geworden. Das begann gleich nach dem Tode Stalins; mit Gorbatschow hat es sich nur fortgesetzt. Jetzt ist die Mauer gegenüber der Zone ganz eingebrochen. Dabei ist das Gesetz des Staates aber nicht zu dem der Zone, sondern das der Zone zu dem des Staates geworden, weil die Zone wesentlich organisierter ist als der Staat, weil sie wesentlich stärkere Gesetze hat. Sie sind nicht einmal geschrieben, sie wirken nur einfach in den Köpfen der Menschen. Heute herrschen im Geschäftsleben, in dem, was allgemein Demokratie genannt wird, und was Kohl und Clinton so sorgsam unterstützen, die Gesetze der Zone. Wir leben im Lager!“
… schiwjom Lagerje

Erzähler:
Eine ganze Gesellschaft im Lager? Doch, doch! beharrt Jefim.
Am Besten begreife man es an dem, was in der Sowjetzeit, aber auch im heutigen Rußland mit einem Zonenausdruck „Obschag“ genannt werde, was soviel wie Gegengemeinschaft bedeute. .

O-Ton 17: Jefim, Forts.        1,06
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende kurz hochziehen

Übersetzer:
Obschag, ransche…
„`Obschag´ – Das ist so: Zur Zeit der Sowjetmacht gab es die sogenannte `Kasse´. Nehmen wir an, wir haben zusammen geklaut; dann hat man dich geschnappt und du sitzt im Lager; mich haben sie aber nicht geschnappt. Was mache ich? Ich nehme einen Teil des Geldes, das wir gemeinsam geklaut haben, ich benutze es, um deine Familie zu ernähren, deine Kinder, dir Freßpakete ins Lager zu schicken. Allmählich hat sich aus solchen Aktionen eine ganze Organisation entwickelt, Leute, von denen schon nicht mehr allein ein Mensch abhängt, sondern schlicht die ganze kriminelle Welt. Sie bestimmen die Summen, die zu zahlen sind, sammeln das Geld ein und von diesen Geldern werden die Familien derer unterstützt, die im Gefängnis sitzen oder im Lager leben usw.usw.“
…i tagdali, tagdali.

Erzähler:
In der sowjetischen Zeit waren diejenigen, die aus dem Lager kamen, praktisch vogelfrei! Sie bekamen keine Papiere, ohne Papiere bekamen sie keine Arbeit, ohne Arbeit kein Zuhause. Mit dem Geld der „Obschag“ wurde ihnen ein Überleben ermöglicht. Man kaufte eine Wohnung, man kaufte Bürokraten, um die nötigen Unterschriften unter die Dokumente zu besorgen. So wurde „Obschag“ ein ganzes System. Es gab Leiter, „Derschateli“ genannt, die „Halter“. Das waren diejenigen, welche die Kasse verwalteten. „In neuerer Zeit“, so Jefim, „ist `Obschag´ ins Geschäfstleben übergegangen; es war einfach nicht mehr sinnvoll, das Geld nur in Kassen zu halten und dann daraus einzusetzen. Heute gilt: Wenn Geld vorhanden ist, muß es kreisen, und das heißt: Geschäft!“

O-Ton 18: Jefim, Forts.        0,48
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
To est, Tschast sowodnischewa…
„Ein Teil des Geldes im heutigen Geschäftsleben Rußlands ist deshalb Geld aus der `Obschag´. Und hier herrscht natürlich eine harte Disziplin. Wenn du dich nicht beugst, wirst du bestraft, ganz zu schweigen davon, daß dir schon niemand mehr hilft. Das bedeutet, die Gesetze dieser Lagerbrüderschaft, die jeder kennt, der irgendeine Beziehung dazu hat, ohne das sie aufgeschrieben werden müßten, werden von niemanden übertreten. Und letztlich sind alle diese Gesetze faktisch auf den Staat übergegangen.“
…faktitschiski gossudarstwa.

Erzähler:
Das gilt sogar für die Sprache, meint Kyrill. So heiße Boris Jelzin bei vielen Menschen heute „Pachan“. Das bedeute so viel wie Chef und sei der Zonenausdruck für Papa. Auch in den Zeitungen, im Fernsehen, in den staatlichen Strukturen tauchten mehr und mehr Zonenausdrücke auf. Die Hauptaufgabe der Juristen der Zone, so Jefim, bestehe heute darin, keine Gesetze durchzulassen, welche die der Zone durchkreuzten. Deshalb unterhalte die Zone eine ziemlich starke Lobby in der Duma. Sie finanziere die Wahl von Delegierten, sie kaufe Entscheidungen, indem sie Abgeordnete besteche. Das laufe alles auf hohem Niveau. Selbst ein neuer Stalin könne diese Verhältnisse heut schon nicht mehr ändern. Es fehlten die entsprechenden staatlichen Strukturen. Der tschetschenische Krieg habe gezeigt, was von den Staatsorganen heute zu halten sei. Um die Gesellschaft von den Gesetzen der Zone zu befreien gebe es heute nur zwei Wege:

O-Ton 19: Jefim, Forts.        0,58
Regie: Ton stehen lassenm, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Putj pervi…
„Der Erste Weg: Die ganze Bevölkerung Rußlands aus diesem Staat zu vertreiben. Aber wohin? Der zweite: Warten, bis sich die Gesetze der Zone in mehr oder weniger zivilisierte Umgangsformen verwandelt haben – wenn das überhaupt möglich ist; auf jeden Fall kann das lange dauern. Mit Gewalt ist nichts zu wollen, solange das Gesetz der Zone in achtzig, neunzig Prozent der Gesellschaft wirkt.“

O-Ton 20: Metro, Musik            0,38
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Was für ein Bild! Entspringt es nur der professionellen Schwarzmalerei zweier, zudem eher koservativer Redakteure? Kehren wir zu dem Eliteforscher und Transformationswissenschaftler Diskin zurück. Er konstatiert zunächst:

O-Ton 21: Dimitri Diskin            (1,05)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Was aber noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende. Geld im Kriegsgeschäft war wichtig, um Aufträge zu bekommen. Geld in der Leichtindustrie war etwas völlig anderes. Geld in der Hand des Volkes war noch etwas anderes. Bargeld war wieder etwas anderes. Viele verschiedene Gelder gab es. Auch heute gibt es in der Wirtschaft ganz unterschiedliche Gelder: Geld, das dir zum Beispiel von Budget aus zusteht, ist kein Geld, bevor es nicht bei dir angekommen ist. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird usw., dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt.“

Erzähler:
Dennoch sieht Diskin Rußland im Übergang vom traditionellen zum modernen. Was für den traditionellen Staat typisch sei –  Mechanismen scharfer Kontrolle, unmittelbarer Sanktionen usw. – sei in den letzten zehn Jahren der sowjetischen, jetzt auch in der russischen Gesellschaft abgebaut worden. Andere Mechanismen hätten mehr Einfluß bekommen, solche wie die Freiheit der Wahl, des Vertrauens vor Kontrolle, der allgemeinen Wohlfahrt, der persönlichen Freiheit usw. Das Ganze sei aber ein langwieriger Prozess, der zudem nicht nur eine soziale Schicht betreffe. Er erfasse alle gesellschaftlichen Bereiche und sehr unterschiedlich entwickelte Regionen. Von daher könne es keinen geradlinigen Verlauf geben:

O-Ton 22: Diskin, Forts.        0,58
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer vorübergehend hochziehen, abblenden unterlegen

Übersetzer:
Na moi wsglad…“
„Meiner Ansicht nach hat sich in Rußland zur Zeit ein politisches System wie in den südamerikanischen Übergangsgegesellschaften entwickelt, ein System oligarchischer Clans, die auf der Basis finanzieller Vermögen und im Zugriff auf das Budget aufgebaut sind. Sie haben sich auch mit den transnationalen Monopolen verbunden. Diese Clans sind Banken, das sind ganze Imperien, auch der riesige Clan Michail Lyschkows zum Beispiel, des Moskauer Bürgermeisters; Gasprom, der Öl-Gas-Konzern, von dem so viel die Rede ist, kann als drittgrößtes Monopol der Welt gelten. Dazu kommen große Auslandsvermögen. Die Zusammenarbeit und die Widersprüche dieser Clane konzentrieren sich auf Moskau; dort kämpfen sie miteinander um den Einfluß auf das Budget. In den Regionen gibt es ein anderes, ein zweites System: Dort herrscht soetwas wie ein bereichsweiser Autoritarismus.“
…segmentirowannije awtoritarism.

Erzähler:
Die Führer der regionalen Elite und die Oligarchien, konkretisietisiert Diskin, repräsentierten unterschiedliche Interessen. Die Oligarchie hänge weithin mit Export, mit den außenwirtschafdem Belangen zusammen, die Gouverneure dagegen eng mit der weiterverarbeitenden Industrie, mit dem, was nicht so viel Geld bringe. Zwei antidemokratische Kräfte hielten sich auf diese Weise im heutigen Rußland die Waage. Machtbalance eines oligarchischen Pluralismus, lautet das Stichwort des Eliteforschers Diskin. Dabei faßt er die Kommunistische Partei als Clan unter Clans auf. Die Aufgabe des russischen Präsidenten sieht er darin, dieses Machtgleichgewicht zu erhalten.
Andere russische Soziologen haben andere Begriffe für diesen Zustand gefunden: So Tatjana Saslawskaja, die große alte Dame der neuen russischen Soziologie: Sie beschrieb die sowjetische Gesellschaft früher als „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“, als eine undefinierbare Mischung aus Kapitalismus und Sozialismus. Die jetztigen Verhältnisse bezeichnet sie als „Monster krimineller Verfilzung“. Der Leiter des „Zentrums für Meinungsforschung“ in Moskau, Juri Lewada, spricht von „kriminellen Clans, die sich gegenseitig stabilisieren“. Das Ergebnis nennt er Normalität. Der im Westen bekanntere Grigorij Jawlinksi, unterlegener Kandidat in der Präsidentenwahl 1996, faßt die Situation unter dem Begriff des „Korporativismus“ zusammen. Kaum jemand erklärt jedoch, was diese Struktur trotz allem zusammenhält.
Einen Ansatz dazu macht Boris Kagarlitzki, radikaldemokratischer Reformsozialist, Perestroikaaktivist, Abgeordneter des Moskauer Stadtsowjets bis zur gewaltsamen Auflösung der Sowjetstruktur 1993.
Gefragt, was heute in Rußland umgebaut werde, antwortet er:

O-Ton 23: Boris Kagarlitzki        1,30
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali

Erzähler:
Boris Kagarlitzki sieht die russische Gesellschaft heute in drei Sektoren aufgeteilt: einen engen sog. formellen, vor allem in Moskau, St. Petersburg oder anderen Großstädten; man könne ihn auch als Enklave westlicher Wirtschaft bezeichnen; einen zweiten sog. nichtformellen, das, was gemeinhin als kriminell oder mafiotisch bezeichnet werde. Den dritten Sektor bilde die `Óbschtschina´, allerdings im Stadium der Auszehrung. Die Staatsmacht setze heute bewußt auf deren Zersetzung mittels Privatisierung, sozialer Differenzierung und Vernachlässigung der Gemeinschaftseinrichtungen; mit der Reformwelle von 1997, der sogenannten 2. Privatisierungs, sei ein erneuter Vorstoß dieser Art bebsichtigt gewesen. Als Antwort auf die Zerstörung der Lebensgrundlage der Bevölkerung entwickle sich aber schon seit geraumer Zeit eine Gegenbewegung direkt aus den Gemeinschaftsstrukturen heraus und es sehe so aus, als ob auch die aktuellen Angriffe an ihren Strukturen breche, weil die Óbschtschina, selbst in ihrer zerstörten Form, für viele die einzige Möglichkeit sei zu überleben.
Dazu kommt, so Boris Kagarlitzki, daß inzwischen auch in den Enclaven westlicher Wirtschaft Unzufriedenheit entstehe; dort komme jetzt ebenfalls Arbeitslosigkeit auf. Sie gefährde den neuen Lebensstandard, der sich daraus ergeben habe, daß man dort in westlicher Währung verdiente, aber in russischen Preise zahlte.
Wenn der Protest aus den Strukturen der Obschtschina, so Kagarlitzki, sich mit der Unzufriedenheit aus dem Bereich des modernisierten Sektors verbinde, könne daraus eine explosive Kraft erwachsen, die umso stärker sein werde, je mehr sich auch die örtliche Nomenklatura einmische. Worin solche Erwartungen begründet seien?

O-Ton 24: Kagarlitzki, Forts.        0,53
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
No, primerno, schto…
„Nun, etwa so: Alles wurde doch privatisiert! Alle wissen, daß viele Betriebe eben deswegen nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben! Es gibt keine unternehmerische Bourgeoisie, also gibt es auch keine Investitonen und keine Ausssicht darauf. Es droht Hunger, Elend, Unruhe im Bezirk, in einigen Bezirken ist es schon so. Was machen die örtlichen Bürokraten? Sie beginnen die Betriebe vor Ort zu `nationalisieren´, wie wir sagen, d.h., erneut zu vergemeinschaftlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten monolithischen Staatssektors nunmehr dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen, gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Und das bedeutet: die Óbschtschina beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren.“
…sebja rekonstruirowats.

Erzähler:
Außer Direktoren und höheren Bürokraten, so Boris Kagarlitzki, würden aus den Gemeinschaften auch die hinausgedrückt, die man heute in Rußland die „neuen Russen“ nenne. Demgegenüber bilde sich ein Mittelstand aus jenen neuen kleinunternehmerischen Kräften, welche die Interessen der Gemeinschaften bedienten, statt sie nur zu verbrauchen, also ihren privaten Profit aus der Befriedigung der Bedürfnisse der Gemeinschaft, statt aus deren Zerstörung erwirtschafteten:

O-Ton 25: Boris Kagarlitzki, Forts.        1,13
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Übersetzer:
Tschem asobenost novich ruskich…
„Denn was macht den `neuen Russen´ aus? Daß er die Óbschtschina im Ganzen ausbeutet! Die neuen Russen sind daran interessiert, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Russsiche Betriebe sind bisher generell nicht auf Arbeitsbeziehungen westlicher Art, also der Ausbeutung von angestellter Arbeitskräfte, gegründet; sie sind aufgebaut auf Ausbeutung bestehender Ressourccen oder bestehender Kollektive. Und daran ändern die `neuen Russen´ nichts. Die meisten Betriebe dieser Art arbeiten zudem als äußerst spezialisierte Kollektive, die Geld von großen Kollektiven erhalten, die ihrerseits aus früheren staatlichen Betrieben zurückgeblieben sind, die jetzt privatisiert wurden. Die neuen Betriebe sind nur wie Transistoren, die Geld aus dem einen, alten Sektor der Wirtschaft, in den anderen, neuen schaffen. Darin besteht die Funktion dieser Firmen.“
…funkti etich firm.

Erzähler:
Damit, muß ergänzt werden, machen sie schnelles Geld, tragen aber wenig, bzw. nichts zur Investition in neue wirtschaftliche Strukturen bei. Kein Wunder, wenn die Gemeinschaften sich dagegen zu wehren beginnen und nach eigenen Wegen suchen.
Einen aktuellen Einblick in Vorgänge dieser Art vermittelt ein Ereignis im sibirischen Regierungsbezirk Irkutsk:

O-Ton 26: Versammlung Irkutsk        0,56
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Ba uriwinje antimoskowskowo…
Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die hier auf einer Versammlung von gut zwanzig Vertretern aus Wirtschaft, Justiz und örtlichem Busyseness am Rande eines historischen Gedenktages der Region Irkutsk Ende 1997 verhandelt wird. Einer der Anwesenden, Oleg Woronin, ehemaliger Aktivist der Perestroika, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und erfolgreicher Geschäftsmann zugleich, spricht unter dem Thema: „Kompromiß als Weg“.
Ohne Mikrofon, heftig und mit oft überkippender Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Interessengegesätze der Moskauer Finanzclans für den Aufbau der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab zur Unterstützung der örtlichen und regionalen Bürokratie, ganz in dem von Boris Kagarlitzki skizzierten Sinne, will man bilden, der den regionalen Beamten zur Hand gehen soll. Nach der Veranstaltung erläutert der akademische Neuunternehmer genauer, was er unter „Kompromiß als Weg“ versteht:

O-Ton 27: Oleg Woronin        0,54
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Übersetzung:
Nu, ä, smisle dakladow…
„Nun, was ist der Gedanke des Vortrags? Ich denke schon lange und sehe es immer mehr so, daß die marxistischen Termini auf Rußland nicht zutreffen. Die Aufteilung in Klassen korrespondierte nicht mit der Realität, wie wir Soziologen sagen. Als Ergebnis der Stalinzeit hatten wir vielmehr, abgesehen von der Nomenklatura, eine destrukturierte, eine amorphe Gesellschaft. Reale, klar abgegrenzte soziale Strukturen gab es nicht; sie veränderten sich zu Quasi-Strukturen, die den von der Partei gezogenen Privilegiengrenzen folgten. Jetzt geht es darum, wie eine Wiedergeburt sozialer Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft erfolgen kann.“
…sowremennom obschestwo.

Erzähler:
Dieser Vorgang, so Oleg Woronin, könne sich nur auf der Grundlage realer Interessen vollziehen, die Menschen verschiedener sozialer Schichten mittelfristig miteinander verbinde. Solche Interessenbündnisse gebe es zur Zeit nur bei den Kommunisten und bei den marginalisierten Randgruppen der Rechten bis hin zu Wladimir Schirinowski. Das Stillhalteabkommen zwischen ihnen und der Macht könne man wohl einen Kompromiß nennen; nur durch Ihn könne die Gesellschaft zur Zeit existieren, aber dieser Kompromiß beruhe auf Korruption und sei daher sehr brüchig:

O-Ton 28: Oleg, Forts.        0,38
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Übersetzer:
Glawna eta..
„Das Wichtigste ist natürlich, daß die eigentlichen grundlegenden Strukturierungsprozesse in der Elite vor sich gehen. Das ist die finanzindustrielle Elite, die Unternehmerlite usw. In der Bildung der großen, korporativen, ich wiederhole: korporativen Monopole von der Art Gasproms, von der Art des russischen oder des Irkustker Energieverbunds und anderer vollziehen sich die Strukturierungen dringender mittelfristiger wirtschaftlicher Interessen.“
… interessom

Erzähler:
Gut zwei Dutzend solcher Industrie-Finanzgruppen sieht Oleg Woronin gegenwärtig miteinander darum kämpfen, wie die russische Torte endgültig aufgeteilt wird. Aber nicht große Privateigentümer sieht er an ihrer Spitze, sondern Top-Manager, die einem kollektiven sozialen Körper verpflichtet seien. Von der Gemneinschaft losgelöste Privatinteressen, so Oleg Woronin, hätten in diesem korporativen Zusammenhang keinen Platz. Den Ursprung dieser Strukturen sieht auch Woronin in der Óbschtschina; die heutigen Produktions- und Lebenszusammenhänge seien allerdings größer als die ihre klassischen Vorgänger; sie seien heute nicht mehr ans Dorf, ja, nicht einmal mehr  mehr an einen Ort gebunden, sondern überregional, sogar international organisiert. In diesen Korporationen jedoch entwickle sich heute der soziale Kompromiß, den Rußland zum Überleben brauche:

O-Ton 29: Oleg Woronin, Forts.        0,54
Regie: O-Ton kommen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochzziehen

Übersetzer:
To est, strukturirowannije…
„Das alles heißt: Die Strukturierung der Gesellschaft läuft in den Bahnen sozialer Bindung von oben und unten. Selbstverständlich bilden die großen Banken, nachdem sie in der Privatisierung die staatlichen Vermögen an sich gerissen haben, zunächst Holdings usw. Aber danach sehen sie, daß sie ohne politische Versorgung der Bevölkerung nicht wirklich agieren können. Sie müssen Rücksicht auf die bestehenden sozialen Strukturen nehmen. Also kaufen sie Leute ein, Lobbyisten in der Duma, in der Regierung, in den Massenmedien; es ist vollkommen klar, daß sie in nicht allzuferner Zeit auch politische Parteien entweder selbst aufbauen oder finanzieren.“
…polititschiski strukturi.

Erzähler:
Gewerkschaften, so Oleg Worin, würden schon jetzt von ihnen finanziert. So unterhalte Gasprom eine Gewerkschaft der Gasarbeiter. Die Elektrogewerkschaft befinde sich unter der Kontrolle des russischen Energieverbundes, ähnliches gelte für den Irkustker Oblast. Die Mehrheit der Streiks im Kusbass, in Workuta und andernorts., so Oleg, seien direkt von den Direktoren dieser Werke inspieriert worden, von den Managern also. Es geht, so Oleg, um die soziale Legitimierung der neuen Machtstrukturen. Die immer neuen Umbesetzungen in Moskaus Regierungsetagen sind für ihn nur Ausdruck dieser Entwicklung:

O-Ton 30: Oleg Woronin, Fortsetzung        1,15
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Übersetzung:
Wosnawnoi takoi obsche smisl…
„Kern ist der Kampf um die reicheren, mehr Perspektive aufweisenden Unternehmen der Region. Aber das ist nur der erste Schritt. Die Kontrolle kann man sich leicht aneignen. Die Frage ist dann, wie können diese Betriebe arbeiten, insofern die Mehrheit von ihnen moralisch und physisch überaltert ist und, was die Hauptsache ist, über keinerlei Investitionsmittel verfügt? Die Banken fordern Rationalsierungen: Das bedeutet Einsparung des Personals, Abbau sozialer Strukturen wie Kindergärten, Kinderclubs, Lager für Kinder, Krankenhäuser usw. Alles, was früher die Unternehmen aus ihrem Gewinn unterhielten, wird jetzt den Gemeindebudgets zugeschoben. Die haben aber kein Geld; es wird praktisch der Vernichtung anheimgegeben. Das heißt, dieser aktuelle Prozess in der Übereignung des Eigentums läuft ziemlich krank ab.
…dstatischno bolesno.

Erzähler:
Trotz dieser Kritik gibt sich auch Oleg Woronin zuversichtlich, daß langfristig eine entscheidungsfähige Elite und ein lebensfähiger Mittelstand aus diesen Kämpfen enstehen werde. Aber kann die Bevölkerung solche Langfristigkeit ertragen?

O-Ton 31: Oleg, Ende        1,18
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach erstem Erzähler hochziehen, abblenden

Nu, nawerna…
„Nun, wahrscheinlich! Das Niveau des Konsums steigt zwar nur langsam, für einige Teile der Bevölkerung fällt er sogar, weil sie einfach kein Geld haben; das ist natürlich gefährlich; aber die Menschen gewöhnen sich daran, daß es besser ist, sich um das Eigene zu kümmern. Sie kümmern sich um die kleine Gemeinschaft, die Familie, möglicherweise auch die große Familie im Dorf, in der Stadt, auch um die große kooperative Familie der Stadt, auf dem Lande, schließlich um die große Wirtschaft. Das heißt nur, daß die Menschen mehr und mehr an sich glauben und nicht an den Staat. Und wenn sie mit ihren eigenen Dingen beschäftigt sind, werden immer weniger protestieren und so werden allmählich normale Arbeits- und Lebensstrukturen entstehen.“

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Die weitestreichenden Veränderungen sehen André Fursow und Juri Perawar kommen. Sie sind Dozenten an der Afanasjew-Universität in Moskau. Dort werden nicht nur Manager und Managerinnen ausgebildet wie Vera, die wir im Büro des Abgeordneten der Moskauer Duma antrafen. Die Humanistische Universität Moskau versteht sich gerenell als Elite-Schule. Ihr Motto lautet: Bildung ist Macht. Neuerdings wurde dort ein gesondertes Institut für russische Geschichte eingerichtet. André Fursow und Juri Perawar leiten dieses Insitut. Auf die Frage, wie angesichts des Zerfalls der früheren Zentralmacht in Zukunft in Rußland gesellschaftliche Kontrolle ausgeübt werden könne, verweist André Fursow auf die beschleunigte Computerisierung des Landes:

O-Ton 32: Afanasjew-Uni        0,39
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Ponimaetje,tak. Vot scomputerom…
„Verstehen Sie, mit den Computern ist das so: Mit dem Computer sind zentralsisierte Strukturen schon nicht mehr notwendig, um Menschen zu kontrollieren. Die bolschgewistische Diktatur hat, als sie zur Macht kam, die Unterschiede zwischen privater und öffentlicher Sphäre aufgehoben. Dasselbe macht heute schon der Computer. Durch ihn kann die Macht direkt auf dein Leben zugreifen. Jetzt braucht man keinen KGB, keine Gestapo mehr; man braucht nur noch den Computer; das ist alles.“
… i wsjo

Erzähler:
Der Befürchtung, dies könne in neuer Diktatur oder heilloser Anarchie enden, widerspricht sein Kollege Juri Parawar. Seit Anfang des Jahrhunderts, erklärt er, sei auch der russische, dann der sowjetische Mensch, wenn auch in brutalen Formen, so doch durch eine ähnliche historische Schule gegangen wie die Westeuropäer. Weiterhin von elementarem Anarchismus des russischen Menschen zu sprechen, der nur durch äußere Macht gezügelt werden könne, sei nicht mehr vertretbar:

O-Ton 33: Afanasjew, Forts.        0,48
Regie: Ton stehen lassen, abblendeb, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

potamuschta smotritje……
„Denn sehen Sie! Alles brach seit 1990 zusammen, und doch hat kein allgemeiner Bürgerkrieg eingesetzt, keine weiteren Katastrophen vom Typ Tschernobyls usw. Das spricht, bei aller Skepsis, die ich für die nächste Zukunft unseres Landes habe, davon, daß während des Kommunismus bei uns doch ein historisches Subjekt entstand, das man dem europäischen oder westlichen der Richtung nach vergleichen kann. Es ist noch nicht in dem Maße rechtsstaatlich orientiert – wie die Deutschen beispielsweise. Aber es ist doch schon nicht mehr der wilde Mensch, der es im 19. Jahrhundert war.“
…datnatzatom wekje

Erzähler:
Damit ist eine Hoffnung formuliert.

O-Ton 34: Musik
Regie, langsam kommen lassen, nach Ende des Textes hochziehen, allmählich abblenden.

Erzähler:
Ob sie Wirklichkeit werden kann, hängt nicht nur von denen ab, die die Computer programmieren oder verkaufen, sondern auch von denen, die sie benutzen. Eine Elite, oder die, die sich dafür halten, kann letztlich nur so kriminell sein, wie die Bevölkerung es zuläßt. Wie mächtig die neue russische Elite ist und wie sehr sie den traditionellen Gemeinschaftstrukturen verpflichtet bleiben wird, genauer gesagt, wieder verpflichtet werden kann, ist eine Frage, die noch nicht entschieden ist.

Von dieser Sendung existieren außerdem unterschiedlich lange Kurzfassungen

Mongolei – Heimat der letzten Indianer oder Chance zur Modernisierung?

O-Ton 1:    Applaus, Foyer, Instrumentalmusi    1,37
Regie:    Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden und unterlegt halten

Erzähler:
Ulaanbaator, Hauptstadt der Mongolei. Der mongolische Präsident empfängt den Kongreß der Mongolisten zu einer Arbeitspause im Winterpalast des Bogd Chan, so genannt nach dem ersten geistlichen Oberhaupt der lamaistischen Staatskirche. Es ist der siebte Kongreß dieser Art. Die Tagungen selbst finden in dem neuen Luxushotel namens Tschingis Chan statt, dem größten Vorzeigebau an dem architektonisch im übrigen tristen Ort.
Mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind aus fast allen Teilen der Welt angereist: Chinesen, Japaner, Süd-Ost-Asiaten, Russen, Amerikaner, Ost- und Westeuropäer. Auch Australien ist vertreten. Dazu kommen über 100 örtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nur der schwarze Kontinent, Afrika, fehlt.
Das ist bedauerlich, weil auch die Afrikaner zum Thema des Kongresses einiges beizutragen hätten. Letztlich geht es um die Frage, wie ein nomadisches Land modernisiert werden kann, ohne seine Kultur zu zerstören. Drei Tage harter Kongreßdiziplin liegen bereits hinter den Teilnehmern. Die Pause kommt allen recht, um sich in lockerer Athmosphäre über die Sektionen hinaus auszutauschen.

Regie: Ton 1 (Musik) allmählich hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen

Erzähler:
Stoff für Gespräche haben die ersten Tage des Kongresses reichlich geliefert. Drei Grundlinien traten besonders hervor:
Zunächst die Bewertung Tschingis Chans: Ihm begegnet man auf dem Kongreß nicht, wie gewohnt, als Barbar, Despot oder Geißel der Menschheit. Ihn lernt man als Begründer einer „Pax Mongolika“ kennen, die Ost und West über hunderte von Jahren in fruchtbarem kulturellem Austausch verband. Dann die Ergebnisse der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung: Sie hat nicht, wie erwartet, zur endgültigen Auflösung des nomadischen Lebensstils geführt, sondern zu dessen Wiederbelebung.
Das Dritte ist eine Tatsache, die auch das äußere Bild des Kongresses mit prägt: Mehr als die Hälfte der heute 2,5 Millionen zählenden mongolischen Bevölkerung ist unter fünfundreißig Jahre alt; vor einer Generation waren es noch 1,5 Millionen.

O-Ton 2: Foyer, Gespräch mit Jugendlichen     1,05
Mongolisch, Russisch…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
Im Gespräch mit jungen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Kongresses wird denn auch am deutlichsten, welchen Problemen sich die Mongolei heute gegenübersieht: Auf die Frage, was sie von der Wiederbelebung des Nomadentums halten – russisch gestellt, mongolisch beantwortet, von einem aus der Gruppe ins Russische zurückübersetzt –  antworten sie hitzig:

Übersetzer:
„Wir gehen jetzt zur Marktwirtschaft über. Wir übernehmen sehr viel aus der westlichen Zivilisation. Einer der allernächsten Schritte wird das Privateigentum an Land sein. Das Wichtigste bei den Nomaden ist ja der Weideplatz; deswegen verändert sich nomadisches Leben natürlich, wenn man den Hirten bestimmte Plätze als Eigentum übergibt. Wir könnten ja weitermachen wie in den letzten tausend Jahren – Tiere weiden, hin und her ziehen. Möglich ist das, unsere nomadische Kultur ist einmalig auf der Welt, wir verehren unseren Urahn Tschingis Chan, wir haben eine große Geschichte. Aber wir können uns heute nicht abseits von der Welt entwickeln; vor uns steht die Wahl: Ein moderner Staat zu sein und eine modernisierte Nation zu werden oder all die alten Traditionen zu erhalten, die wir hatten.“
…sakranitz wsjo schto u nas bila.

O-Ton 3: Junge Leute, Forts.    0,31
Dumaitje eta vibor…?
Regie: direkt verblenden, kurz weiter stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen und abblenden

Erzähler:
Ein Entweder-Oder wollen die jungen Leute darin aber nicht sehen. Sie lieben die Freiheit der Steppe. Teile der Tradition müßten jedoch geopfert werden, finden sie, etwa die „zu starke Orientierung auf nomadische Tierhaltung“. Das Land brauche intensivere Produktion. Wie zu Sowjetzeiten. Nicht alles sei damals falsch gewese; man müsse differenzieren. Selbstverständlich müsse auch die Natur geschützt werden. Aber energisch wenden sie sich dagegen, ihr Land in eine Art, wie sie sagen, ethnografisches Museum für westliche Touristen zu verwandeln. „Der erste Schritt muß die Ausgabe von Hochtechnologie sein“, faßt der Übersetzer zusammen: „Wir müssen unsere natürlichen Reichtümer nutzen und gleichzeitig unsere Natur schützen.“
…kak sakranitz unikalni prirodu…

Erzähler:
Damit sind, allen Relativierungen zum Trotz, die Grundprobleme der heutigen Mongolei benannt; das Land droht in in zwei Teile zu zerfallen: Renomadisierung hier, Verstädterung da; Naturschutz hier, Industrialisierung da, Tradition hier und Jugend da.

O-Ton 4: Jurte bei Ulaanbaator, Athmo    0,44
Kuh, Melken, Kinder, Motrrorad…
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:
Wenige Tage nach dem Kongreß bin ich draußen. Hier kann ich mit eigenen Augen sehen, wovon vorher die Rede war: Kühe, Schafe, Pferde, Hunde, zahllose Kinder, drei Jurten, jene nach oben offenen Rundzelte der Nomaden – das ist alles, was es hier gibt, keine Straße, kein Wasser, kein elektrischer Strom, nicht einmal ein Plumsklo. Geheizt wird mit Arà, dem getrockneten Dung der Tiere. Die Steppe ist auch die Toilette für die Menschen. Dabei sind wir nicht einmal hundert Kilometer von Ulaanbaator entfernt. Ein älteres Ehepaar, beide pensioniert, bewirtschaftet diesen Platz. Er war Techniker, sie Krankenschwester. Nach der Reform von 1991 kauften sie eine Jurte und verließen die Stadt. In den beiden Nachbarjurten leben Kinder und Enkel von ihnen. Zur nächsten Jurtengemeinschaft führt ein Ritt von 15 Minuten mit dem Pferd, gegebenenfalls auch mit dem beiwagenbewehrten Motorrad.

O-Ton 5: Jurte, Forts.        0,23
Löffelklappern, Gesprächsfetzen, Schlürfen
Regie: langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Wir werden erst einmal leiblich versorgt: Kumys, die berüchtigte gegorene Stutenmilch, grüner Tee, fette Hammelsuppe werden abwechselnd gereicht. Derweil füllt sich die Jurte. Man kommt, die neuen Gäste zu sehen. Nach dem Essen antworten die beiden Alten auf meine Fragen. Was hat sie veranlaßt, hier in die Steppe zu ziehen?

O-Ton 6: Jurte, Forts.        0,47
Tschisti Vosduch…
Regie: allmählich hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und wieder abblenden

Erzähler:
Die Antwort kommt Mongolisch, dazwischen russische Brocken: „Frische Luft! Gesundheit!“ Darja, die Frau der Familie, die mich hierher mitgenommen hat, übersetzt zwischendurch:

Darja:
„Die Frau lag nur noch in der Klinik – zu hoher Blutdruck. Ihr Mann war auch krank. Jetzt sind sie beide gesund. Seine Eltern waren auch Hirten, sagt er. Deshalb wollte er unbedingt ein paar Tiere haben und hier mit den Tieren leben. Jetzt kann er seine Kinder ernähren und die Verwandten kommen zu Besuch.“

Regie: kurz aufblenden (Mann: mongolisch, Frau: russisch), abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Natürlich ist das Leben schwer, sagt er. Wegen der vier Jahreszeiten. Im Winter gibt es viel Schnee. Deshalb arbeiten sie ohne festgelegte Zeiten, abhängig vom Wetter. Mit den Tieren ist es sehr schwierig; man muß alles für sie tun. Am Anfang hatten sie nur fünfzehn Köpfe, jetzt sind es ungefähr zweihundert, dazu guter Nachwuchs. Darauf ist der Zeltvater besonders stolz.
…Mongolisch, Geplätscher

Erzähler:
Von der neuen Zeit halten die beiden Alten trotzdem nicht viel. Vieles müßte sich ändern, meint der Alte:

O-Ton 7: Jurte, Forts.        0,42
Mann und Frau, mongolisch…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß kurz hochziehen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Die Mongolei ist ja ein ländliches Land. Man müßte vor allem die Tierwirtschaft gut entwickeln. Aber die Organisation der Tierwirtschaft ist nicht besonders. Unserer Meinung nach wäre es besser, im ganzen Land kleine Betriebe und kleine Produktiuonsstätten zu haben, die landwirtschaftliche Produkte an Ort und Stelle weiterverarbeiten könnten und sie dann erst zum Markt zu schaffen. Dann könnten unsere Waren, Tiere und Tierprodukte,  vielleicht einen gewissen Preis bekommen. Die Weiterverarbeitung am Ort ist das Wichtigste. Aber die Organisation ist schlecht. Das ist das Schlimmste.“
…Mongolisch, jemu kaschtetsja….

Erzähler:
Nach diesem unerfreulichen Thema gleitet das Gespräch schnell zu angenehmeren Fragen: Dort, der Jurtenaltar! Wer und was wird dort verehrt? Der Alte antwortet, ohne zu zögern:

O-Ton 8: Gespräch Jurte, Mann    0,42
…Mongolisch…

Darja übersetzt:
„Wir haben zwei Götter. Einer bewahrt vor Dürre, Gewitter und anderen Naturgewalten, der andere steuert den Kreislauf des Jahres. Wir glauben an Astrologie. Wir achten sehr auf den Himmel, um frühzeitig zu wissen, ob Schnee, Regen oder anderes Wetter kommt. Im Himmel gibt es auch eine Göttin, die Schutzgöttin der fünf Tierarten. Das sind Pferde, Kühe oder Yaks, Schafe, Ziegen und Kamele. Zu den Jahresfesten wird den Göttern geopfert. Da bereiten wir alles vor, was an Milchspeisen und Fleisch haben. Die Hälfte eines Ochsen, von jeder Art Milchspeise opfern wir immer dem Himmel, auch wenn Milchschnaps getrunken wird. Der ist ja auch ein Produkt des Himmels; alles was gut tut..“
…Mongolisch, Frauenstimme: Nowi god…

Erzähler:
Darüber reden wir lange. Das Wichtigste, erklärt der Alte schließlich noch einmal, seien die Kinder und Darja faßt zusammen:

O-Ton 9: Jurtenvater        0,29
Mongolisch….
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, dann allmählich abblenden.

Übersetzer:
„Er hat selbst sechs, dazu kommen die der Verwandten. Er ist jetzt froh und stolz, daß sie alle bei ihm leben, daß sie sich alle hier von der Stadt erholen können und daß es auch seinen Verwandten gut geht, weil er ihnen helfen kann.“
…Mongolisch, Gemurmel, Frauenstimme…

Erzähler:
Einer von diesen Verwandten ist Zegur Dortsch, ein außerordentlich beleibter Herr im Trainingsanzug, ebenfalls Pensionär. Zegur Dortsch war, wie sich zu meiner Verblüffung herausstellt, früher Direktor im Ministerium für mongolische Volkserziehung. Jetzt hält er sich samt Familie für einen späten Sommermonat zur Erholung bei seinem Verwandten auf dem Lande auf. Sichtlich zufrieden.
Nach anfänglichem Zögern ist auch Zegur Dortsch bereit, in meinen Recorder zu sprechen. Die Reformen waren unvermeidlich, erklärt er. Einige Folgen jedoch seien nicht gut:

O-Ton 10: Zegur Dortsch        0,28
Sewodnja conjeschna u nas…
Regie: Direkt anfahren, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Heue haben wir ja den Markt. Das muß so sein. Aber nicht alles ist gut. Zu Zeiten des Sozialismus waren alle gleich. Heute dagegen sind einige sehr reich, während die Mehrheit mehr oder weniger verarmt. Das ist natürlich nicht das Wahre. Warum ist das so? Weil die Einführung der Marktwirtschaft nur eine Überganghsphase sein sollte, die zehn oder zwanzig Jahre dauert. Bei uns hatte man es aber zu eilig; deswegen diese Schwierigkeiten.“
…takoi trudnosti

Meine Frage, ob er in der Wiederbelebung des nomadischen Lebens ein Problem sehe, versteht er überhaupt nicht. Er sieht die Schwierigkeiten ganz woanders:

0-Ton 11: Forts. Zegur Dortsch             0,29
Samie glawnie..
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das größte Problem für die Stadt sind die Kinder und die Rentner. Denen hilft der Staat heute überhaupt nicht. Die Viehzüchter haben noch andere Probleme, es gibt ja keinen wirklichen Markt, aber denen hilft auch keiner. Früher gab es alle möglichen Koooperativen, Initiativen und Gemeinschaften. Der Staat hat immer allen geholfen. Heut muß man alles alleine schaffen, egal ob in der Stadt oder auf dem Lande. Das ist das Problem.“
…gorodski Ludi

Erzähler:
Mongolbaiar ist ein weiterer Verwandter. Er ist in Ulaanbaator als Verkehrspolizist tätig. Bei ihm verstehe ich, daß Verwandtschaft auch die des zweiten, dritten oder noch vielfacheren Grades sein kann. Insgesamt werden neun Generationen zurückgerechnet. Entscheidend ist so nicht die Familien-, sondern die Stammeslinie. Mongolbaier sieht die Dinge in hellerem Licht. Daß jeder heut machen könne, was er wolle, sei eine Chance, meint er. Zwar beklagt er, schon aus Profession, daß sich mit den Reformen eine unziemliche Regellosigkeit im Lande ausbreite. Aber Mafia wie in Rußland?

O-Ton 12: Polizist Mongolbaiar            0,25
U nas Mafia paka…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Bei uns ist die Mafia zur Zeit nicht so offen zu sehen. Später vielleicht; kann sein, daß wir demnächst auch so etwas bekommen. Aber jetzt? Nein! Warum? Warum kann man bei uns nicht von Mafia sprechen? Nun, hier in der Mongolei sind wir nur wenige Menschen. Deswegen kann die Mafia nicht agieren.“
..nje destwuit

Erzähler:
Im Verlaufe des dritten Tages kündigt sich ein besonderes Ereignis an: Die Hauptjurte wird ausgeräumt; alles, was zwei Beine hat, strömt in ihr zusammen. Was geht da vor?

O-Ton 13: Umsetzen einer Jurte        118
Hurra, Geschrei, Kinder….
Regie: Ton kommen lassen, etwas länger stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, hin und wieder hochziehen

Erzähler:
Nun ist es klar! Männer, Frauen und die schon etwas größeren Kinder haben sich rund um die Innenwände der leeren Jurte aufgestellt. Auf Kommando heben sie das ganze Gestell und setzen es zwanzig Meter weiter wieder auf den Boden. Am Morgen sei ein Fohlen tot aufgefunden worden, erklärt man mir. Nach geltender Tradition müsse die Familie danach den Ort wechseln, da der Boden, auf dem sie lebe, nun als verunreinigt gelte. Mit dem Versetzen um zwanzig Meter ist dieser Regel offenbar Genüge getan. Die Alte besprengt den Innenkreis der Jurte rundum mit frischer Milch. So bittet sie die Götter um Segen. Das Einräumen vollzieht sich in Windeseile. Zuerst wird das Faß mit Kymis hineingetragen, dann die Herdstelle eingerichtet, das zur Mittelöffnung hinausragende Ofenrohr wieder aufgesteckt. Zwei Betten, zwei Schränkchen, der Hausaltar, das flache Tischchen davor, die paar schlichten Hocker – schon ist die Einrichtung wieder perfekt. Das Ganze hat nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Während die Jurtenwirtin zusammen mit anderen Frauen noch dabei ist, die Herdstelle wieder anzuheizen, Wasser für Tee aufsetzt, Trockenfleisch und andere Nahrungsvorräte unter den Betten verstaut, wo sie bei hochgeschlagenen Jurtenboden im Sommer am kühlsten lagern, lassen die Männer bereits den Becher mit Kymis kreisen. So wird der neue Platz eingeweiht. Der Mann ist das Haupt der Familie, heißt es. Erst nach ihm trinken die Frauen.
…Stimme: „Sami perwi Kumis“, Stampfen

Erzähler:
Das Stampfen des Kumys noch im Ohr, finde ich mich wenig später bei Dr. Nalgar Erdennetsogt in der Universität für Landwirtschaft der Stadt Ulaanbaator wieder. Dr. Nalgar Erdennetsogt ist ökologischer Berater an der biologischen Fakultät der Universität. Er hat sich bereit erklärt, mir die Grundzüge nomadischen Lebens wissenschaftlich zu erläutern. Echte nomadische Tierhaltung gebe es praktisch nur in der Mongolei, erklärt er.
Dafür nennt er mehrere Gründe:

O-Ton 14: Nalgar Erdennetsogt            0,52
Smisle tom, schto…
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Erstens das kontinentale Klima: Alle Gebiete der Mongolei erheben sich weit über den Meeresspiegel; davon sind nur einzelne Stellen ausgenommen. Aus dieser Lage ergibt sich eine besondere Pflanzendecke. Auf dieser ökologischen Decke hat sich, das ist das Zweite, die fünfache Tierhaltung entwickelt: Pferde, Schafe, Ziegen, Rinderarten und Kamele. Diese fünfgegliederte Tierwelt ist wie eine einzige Rasse, die in symbiotischen Beziehungen miteinander und mit den Menschen lebt. Das Dritte ist die gänzliche Entlegenheit des Landes von jeglichen Meeren. Das Vierte ist: Das mongolische Land ist umgeben von hohen Gebirgen. Ein solches Land gibt es vermutlich nicht noch einmal in der Welt. Das ist eine entlegende, wilde, in sich geschlossene, eine ganz und gar andere höhere Welt. Andersartigkeit durch und durch!“
…sowsjem inaja.

Erzähler:
Dr. Erdennetsogts wissenschaftliche Erkenntnisse gingen von der Streßforschung aus, die er bei den in der Mongolei gehaltenen fünf Tierarten durchgeführt hat. Dies übrigens schon 1973, also lange vor Beginn der aktuellen privatwirtschaftlichen Wende. In diesen Forschungen hat er eine Erklärung für die Besonderheiten des mongolischen nomadischen Lebens gefunden:

O-Ton 15: Erdennetsogt, Forts.        ?? 0,30 ??
Eta tak, eta tak…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Das ist so: Die Menschen, Intellektuelle vornehmlich, denken, daß die nomadischen Tierhalter kein Wissen haben, daß sie äußerst bararisch und sehr primitiv seien. In der Praxis ist den Hirten der Streß jedoch bekannt. Sie wissen genau, wann ihre Tiere stressen und wann nicht, wann sich der Streß legt, wann nicht und wie man den Streß abbaut. Sie machen es durch das Hin-und-Herziehen, eben das Nomadisieren: Nicht Nomadisieren – das ist der Tod.“
…jest i smert.

Erzähler:
Die streßhaftesten Situationen habe es dann wohl gegeben, vermute ich, als sowjetische Wissenschaftler seinerzeit einreisten, um die Herden für eine industrialisierte Tierwirtschaft zu spezialisieren? „Genau!“ ruft der Doktor, „diese gesonderte Zucht ist Streß in Vollkommenheit!“ und wenn Streß auftauche, dann verschlechtere sich die Fähigkeit zur Adaption. Wenn das geschehe, träten sehr leicht Krankheiten auf. Viele Tierärzte seien dann hilflos und die Herden gingen verloren.
Mein Hinweis, daß auch westliche Ökologen heute das Prinzip der gestaffelten biologischen Lebensräume dem der industrieorientierten Spezialisierungen entgegenstellten, sich hier also offenbar uraltes Wissen mit modernsten ökologischen Erkenntnissen treffe, entlockt dem Doktor erst ein Stöhnen. Dann platzt er begeistert los:

O-Ton 16: Erdennetsogt, Forts.        1,15
Stöhnen! O,tak, kak istik…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oh, wie wahr! Wie das zusammenkommt! Da kann ich Ihnen nur eine Sache sagen, über das Nomadisieren: Nomadisieren – das ist Ökologie! Die universellste Art der Wandlung, das ist das Nomadisieren. Was bedeutet denn Nomadisieren? – Das ist die universelle ökologische Situation ständiger Veränderung! Es bedeutet, daß du die ökologischen Verhältnisse an jedem beliebigen Ort kennst, so machst du deine Umzüge zusammen mit den Tieren. Wenn du diese Bewegung mit den Tieren richtig machst, dann sind sie produktiv, dann sind sie gesund, dann leiden sie nicht unter Krankheiten. Aber klar ist auch, wenn ich nicht zur rechten Zeit umziehe, dann treffe ich auf widrige, unangenehme und manchmal sogar gefährliche Naturverhältnise. Bei richtiger nomadisierender Bewegung aber wird es in dem ganzen riesigen Territorium der Mongolei nicht ein einem einzigen Bezirk bedrängende Armut geben.“
…takoi betstwi.

Erzähler:
Die Frage, wie Industriewelt und ursprüngliche ökologische Lebensweise sich in der heutigen Mongolei treffe, will der Doktor jedoch nicht mehr beantworten. Hier ende das Gespräch, erklärt er kategorisch. Heute gebe es zwei Zivilisationsformen, kann ich ihm nur noch entlocken, die europäische und die asiatische, genauer, die nomadische und die nicht-nomadische. Beide hätten Vor- und auch Nachteile. Was wir bräuchten, sei eine dritte Zivilisation. Wenn ich dies aber zitieren wolle, wiederholt er mehrmals, dann müsse ich angeben, woher diese neue Idee komme: Diese dritte Zivilisation beginne nämlich auf mongolischem Boden.
Ich bin verblüfft. Es scheint, daß ich auf verletzten Nationalstolz, mindestens aber auf ein Trauma langandauernder Unterdrückung gestoßen bin. Offensichtlich will er geistiges Eigentum der Mongolei vor fremdem Zugriff schützen. Um genauere Antworten zu finden, muß wohl selbst weiter auf die Suche gehen.

O-Ton 17: Autofahrt, Athmo        0,53
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen vor Erzähler (2) hochziehen, danach wieder abblenden

Erzähler:
Wenige Tage später habe ich Gelegenheit, mit Saja und Sarja, zwei mongolischen Frauen, in die Jurtenvororte von Ulaanbaator zu fahren. Saja und Sarja, beide um die vierzig, verteilen im Namen einer von Deutschen gegründeten Hilfsorganisation namens „Die Jurte“ Spendengelder an Bedürftige, vor allem an unvollständige Familien. Das sind alleinstehende Frauen mit Kindern, manchmal auch Väter ohne Frauen oder Großeltern, die allein für ihre Enkel sorgen. Zwanzig Deutsche Mark pro Kind geben die Frauen an insgesamt 110 Kinder; das sind ungefähr dreißig Familien. Die Zahl schwankt, da immer wieder Veränderungen auftreten. Eine Familie zieht einfach fort, ohne daß man wüßte wohin; Kinder verlassen die Familien, um auf der Straße zu leben. Zwischen fünf und zehntausend Straßenkinder werden in Ulaanbator zur Zeit vermutet. Die Adressen erhalten Saja und Saja von den Bezirksverwaltungen. Das Geld muß persönlich übergeben werden. Dabei überprüfen die Frauen seine Verwendung. Das ergibt rund dreißig, manchmal mehr Besuche im Monat, die die Frauen mit einem gemieteten Fahrer absolvieren.
…Autogeräusche, zweimal Türenschlagen

Regie: hochziehen, wiederabblenden

Erzähler:
Die erste Adresse – Fehlanzeige: Wo im letzten Monat noch eine Jurte stand, ist der Platz leer. Die Nachbarn wissen nichts über den Verbleib. Unter der zweiten Adresse finden wir eine fast leere Jurte, darin drei halbwüchsige Kinder, eins davon ein Krüppel. Einen Vater gibt es nicht, erklärt Saja. Die Mutter arbeitet für 9000 Togrö als Putzfrau. Das sind rund zehn Mark, gerade genug, ein Brot pro Tag zu kaufen.
Wie lange sie schon hier leben, frage ich die Kinder.

O-Ton 18: Vorortjurte            0,25
Kinder: „Tin,Tin“ – Mongolisch…
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Zehn Jahre. Früher haben sie außerhalb der Stadt gewohnt. Die Kinder erinnern sich noch. Da war es besser, meint das Mädchen. Da hatten wir Oma und Opa, ergänzt der Junge. Da hatten wir auch Kühe und andere Tiere, fährt er fort. Aber Oma und Opa sind gestorben. Ob sie zurück wollen? Die Antwort ist kaum zu verstehen, aber doch ein unmißverständliches: „Ja“.
… gehaucht Aha

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir eine Bretterhütte, eingerichtet wie eine Jurte: Ein Ofen, zwei Betten, zwei Schränkchen. Hier wohnt eine Frau, die neun Kinder geboren hat, drei davon noch immer schulpflichtig. Wovon sie lebe, frage ich. Saja übersetzt mir ihre Antworten:

O-Ton 19: Mutter von 9 Kindern        0,37
Frau: Mongolisch…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abbblenden

Übersetzerin:
„Sie arbeitet als Inspektorin für Hygiene. Dafür bekommt sie ebenfalls 9000 Togrö. Das ist kein festes Gehalt. Sie bekommt Prozente, wenn sie Strafen verhängt. Sie kann natürlich nicht immer Strafen verhängen, sagt sie, weil die Menschen eben so leben. Sie tun ihr leid. Aber das bedeutet auch, daß sie nur auf 9000 kommt. Dazu kommen noch 9000 Leibrente von ihrem verstorbenen Mann. Davon kann sie nicht leben, erst recht die Schule nicht bezahlen.  Sozialhilfe gibt es nicht. Von dem Hilfsgeld hat der älteste Sohn Holz gekauft und Möbel gebaut. Das gibt ihr Kraft. Daraus kann vielleicht etwas Neues entstehen, meint sie.“
…Frau, Russisch: pomogaet…

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir einen ca. 12jährigen Jungen. Er sitzt apathisch auf einem fast nackten Bettgestell zwischen vier ebenso nackten Dünnbetonwänden. Der Junge müßte in die Schule gehen, erklärt Saja. Aber die Mutter kümmert sich nicht um ihn, sie verkauft Wodka an einem nahen Kiosk. Als die Frauen sie dort aufsuchen, ist sie betrunken. Schweren Herzens entscheiden Saja und Sarja, das Geld diesesmal zurückzuhalten. Vielleicht nächstesmal, sagen sie. Hoffnungsvoll klingt das nicht.

O-Ton 20: Fahrt                0,52
Türenklappen, Fahrgeräusche….
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzählung:
Wieder sind wir unterwegs. Noch drei Familien schaffen wir an diesem Tag. Die Muster wiederholen sich: Die Wohnverhältnisse sind primitiv, kein Wasser, keine sanitären Anlagen. Die Freiheit der Jurte wird hier zur Katastrophe: Kein Licht, kein Wasser, kein Klo, statt der Steppe ein zugesiedeltes, verbrettertes und versifftes Vorstadtgelände. Ungefähr 400.00 Familien leben unter solchen Verhältnissen. Das sind 250.000 Menschen, ein Drittel der Stadtbevölkerung. Saja ist bedrückt:

Übersetzerin:
„Sie machen einfach so weiter wie früher. Warum versuchen sie es nicht zu ändern? Ich habe auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Man muß doch seine Art zu leben verändern! Die Leute haben TV, sie schauen Filme, warum müssen sie in der alten Weise weiterleben? Ich verstehe es nicht. Mag sein, daß sie einfach müde sind vom Leben, von ihrer Armut. Sie haben keinerlei Verlangen nach irgendeiner Zukunft, ihnen ist schon alles egal, wahrscheinlich.“
…nawerna

Erzähler:
Von Modernisierung kann auch in der Stadt unter solchen Umständen keine Rede sein. Nötig wäre die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse der Nomadenwirtschaft orientierten Industrie, um das technische Niveau der Nomadenwirtschaft zu heben und den Städtern sinnvolle Arbeit zu schaffen. Faktisch entwickeln sich Stadt und Land aber auseinander: Die Hirten kehren zu vorindustrieller Tauschwirtschaft zurück, in der sich ihr Reichtum an Tieren in die Armut des unverkäuflichen Überangebots zu verwandeln droht. Das Wachstum der Stadt Ulaanbaator, die jetzt bereits mehr als ein Viertel der mongolischen Bevölkerung umfaßt, schreitet andererseits unaufhaltsam voran – aber nicht die Produktion steigt, sondern die Arbeitslosigkeit, nicht der Ausbau der Infrastruktur geht voran, sondern ihr Zerfall. Daß beides zugleich möglich ist, Rückkehr aufs Land und weitere Verstädterung, hat seine Ursache in dem enormen Geburtenüberschuß, der die Bevölkerung in der Stadt und auf dem Lande zugleich wachsen läßt. Darin liegt eine gro0e Kraft der mongolischen Bevölkerung, darin liegt aber auch der Keim einer möglichen Katastrophe, die nur solange ausbleibt, wie Hirten und Städter Tierprodukte und Industriewaren  auf dem Wege der gegenseitigen Verwandtschaftshilfe bargeldlos tauschen. Eine Geld- bzw. Marktwirtschaft westlichen Typs ist das jedoch nicht.
Am Tag meiner Abreise hatte ich Gelegenheit, mit Professor Bira, dem Sekretär der „Internationalen Assoziation der Mongolisten“ in Ulaanbaator über diese Beobachtungen zu sprechen.

O-Ton 21: Prof. Bira            0,50
This is the…

Übersetzer:
„Ja, das ist das Problem, das in der Mongolei zur Zeit am schwierigsten zu lösen ist. Es ist sehr wichtig, diese Situation in der Mongolei zu erkennen. Vor allem auch für diejenigen, die kommen, um uns Mongolen zu helfen. Mir scheint, das die ausländischen Ratgeber ohne jede Kenntnis darüber zu uns kommen. Sie kommen mit Autorität von oben, sie geben uns Modelle, die für seßhafe landwirtschaftliche Länder ausgearbeitet sind, für osteuropäische oder für Rußland. Fast dasselbe wurde seinerzeit von den russischen Kommunisten gemacht. Natürlich gab es einige Verbesserungen, aber so konnten keine wirklich guten Ergebnisse erzielt werden. Das gilt auch für die jetzigen sog. demokratischen Reformen. Nichts ist wirklich besser geworden. Mir scheint, all das Geld und all diese wirtschaftliche Hilfe geht in eine falsche Richtung. Deshalb ist davon auch nicht mehr zu sehen…“
…not sovisible results

Erzähler:
Als Beispiel verweist der Professor auf  die beabsichtigte Privatisierung des Weidelandes. Da werde man einen Weg finden müssen, der den nomadischen Bedingungen entspreche:

O-Ton 22: Prof. Bira, Forts.        0,25
There are only two ways…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das ist eine Frage des Überlebens für dieses kleine Land. Es gibt nur zwei Wege: Entweder werden wir, wie der Historiker Toynbee meinte, ähnlich wie andere kleinere nomadische Nationen vom Erdboden verschwinden oder wir finden einen Weg, auf eigener Basis zu überleben.“
..survive

Erzähler:
Die Gefahren für die Mongolei sind groß. Die Tatsache allerdings, daß die Mongolei anders als andere nomadische Nationen im Schnittpunkt geostrategischer Interessen zwischen Ost und West liegt, eröffnet die Chance, daß hier der Weg für eine Modernisierung gefunden wird, die ursprüngliche nomadische Ökologie und industriellen Fortschritt miteinander verbindet.

O-Ton 24: Musik        0,20
Regie: allmählich unter dem Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, mit Applaus abblenden.

Erzähler:
Das Bild dafür ist die Jurte, die durch einen Sonnenkollektor oder
durch mobile Windgeneratoren mit elektrischem Strom versorgt wird. Vereinzelt kann man solche Bilder in der heutigen Mongolei bereits sehen.


Mongolei – Heimat der letzten Indianer oder Chance zur Modernisierung?

O-Ton 1:    Applaus, Foyer, Instrumentalmusi    1,37
Regie:    Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden und unterlegt halten

Erzähler:
Ulaanbaator, Hauptstadt der Mongolei. Der mongolische Präsident empfängt den Kongreß der Mongolisten zu einer Arbeitspause im Winterpalast des Bogd Chan, so genannt nach dem ersten geistlichen Oberhaupt der lamaistischen Staatskirche. Es ist der siebte Kongreß dieser Art. Die Tagungen selbst finden in dem neuen Luxushotel namens Tschingis Chan statt, dem größten Vorzeigebau an dem architektonisch im übrigen tristen Ort.
Mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind aus fast allen Teilen der Welt angereist: Chinesen, Japaner, Süd-Ost-Asiaten, Russen, Amerikaner, Ost- und Westeuropäer. Auch Australien ist vertreten. Dazu kommen über 100 örtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nur der schwarze Kontinent, Afrika, fehlt.
Das ist bedauerlich, weil auch die Afrikaner zum Thema des Kongresses einiges beizutragen hätten. Letztlich geht es um die Frage, wie ein nomadisches Land modernisiert werden kann, ohne seine Kultur zu zerstören. Drei Tage harter Kongreßdiziplin liegen bereits hinter den Teilnehmern. Die Pause kommt allen recht, um sich in lockerer Athmosphäre über die Sektionen hinaus auszutauschen.

Regie: Ton 1 (Musik) allmählich hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen

Erzähler:
Stoff für Gespräche haben die ersten Tage des Kongresses reichlich geliefert. Drei Grundlinien traten besonders hervor:
Zunächst die Bewertung Tschingis Chans: Ihm begegnet man auf dem Kongreß nicht, wie gewohnt, als Barbar, Despot oder Geißel der Menschheit. Ihn lernt man als Begründer einer „Pax Mongolika“ kennen, die Ost und West über hunderte von Jahren in fruchtbarem kulturellem Austausch verband. Dann die Ergebnisse der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung: Sie hat nicht, wie erwartet, zur endgültigen Auflösung des nomadischen Lebensstils geführt, sondern zu dessen Wiederbelebung.
Das Dritte ist eine Tatsache, die auch das äußere Bild des Kongresses mit prägt: Mehr als die Hälfte der heute 2,5 Millionen zählenden mongolischen Bevölkerung ist unter fünfundreißig Jahre alt; vor einer Generation waren es noch 1,5 Millionen.

O-Ton 2: Foyer, Gespräch mit Jugendlichen     1,05
Mongolisch, Russisch…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
Im Gespräch mit jungen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Kongresses wird denn auch am deutlichsten, welchen Problemen sich die Mongolei heute gegenübersieht: Auf die Frage, was sie von der Wiederbelebung des Nomadentums halten – russisch gestellt, mongolisch beantwortet, von einem aus der Gruppe ins Russische zurückübersetzt –  antworten sie hitzig:

Übersetzer:
„Wir gehen jetzt zur Marktwirtschaft über. Wir übernehmen sehr viel aus der westlichen Zivilisation. Einer der allernächsten Schritte wird das Privateigentum an Land sein. Das Wichtigste bei den Nomaden ist ja der Weideplatz; deswegen verändert sich nomadisches Leben natürlich, wenn man den Hirten bestimmte Plätze als Eigentum übergibt. Wir könnten ja weitermachen wie in den letzten tausend Jahren – Tiere weiden, hin und her ziehen. Möglich ist das, unsere nomadische Kultur ist einmalig auf der Welt, wir verehren unseren Urahn Tschingis Chan, wir haben eine große Geschichte. Aber wir können uns heute nicht abseits von der Welt entwickeln; vor uns steht die Wahl: Ein moderner Staat zu sein und eine modernisierte Nation zu werden oder all die alten Traditionen zu erhalten, die wir hatten.“
…sakranitz wsjo schto u nas bila.

O-Ton 3: Junge Leute, Forts.    0,31
Dumaitje eta vibor…?
Regie: direkt verblenden, kurz weiter stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen und abblenden

Erzähler:
Ein Entweder-Oder wollen die jungen Leute darin aber nicht sehen. Sie lieben die Freiheit der Steppe. Teile der Tradition müßten jedoch geopfert werden, finden sie, etwa die „zu starke Orientierung auf nomadische Tierhaltung“. Das Land brauche intensivere Produktion. Wie zu Sowjetzeiten. Nicht alles sei damals falsch gewese; man müsse differenzieren. Selbstverständlich müsse auch die Natur geschützt werden. Aber energisch wenden sie sich dagegen, ihr Land in eine Art, wie sie sagen, ethnografisches Museum für westliche Touristen zu verwandeln. „Der erste Schritt muß die Ausgabe von Hochtechnologie sein“, faßt der Übersetzer zusammen: „Wir müssen unsere natürlichen Reichtümer nutzen und gleichzeitig unsere Natur schützen.“
…kak sakranitz unikalni prirodu…

Erzähler:
Damit sind, allen Relativierungen zum Trotz, die Grundprobleme der heutigen Mongolei benannt; das Land droht in in zwei Teile zu zerfallen: Renomadisierung hier, Verstädterung da; Naturschutz hier, Industrialisierung da, Tradition hier und Jugend da.

O-Ton 4: Jurte bei Ulaanbaator, Athmo    0,44
Kuh, Melken, Kinder, Motrrorad…
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:
Wenige Tage nach dem Kongreß bin ich draußen. Hier kann ich mit eigenen Augen sehen, wovon vorher die Rede war: Kühe, Schafe, Pferde, Hunde, zahllose Kinder, drei Jurten, jene nach oben offenen Rundzelte der Nomaden – das ist alles, was es hier gibt, keine Straße, kein Wasser, kein elektrischer Strom, nicht einmal ein Plumsklo. Geheizt wird mit Arà, dem getrockneten Dung der Tiere. Die Steppe ist auch die Toilette für die Menschen. Dabei sind wir nicht einmal hundert Kilometer von Ulaanbaator entfernt. Ein älteres Ehepaar, beide pensioniert, bewirtschaftet diesen Platz. Er war Techniker, sie Krankenschwester. Nach der Reform von 1991 kauften sie eine Jurte und verließen die Stadt. In den beiden Nachbarjurten leben Kinder und Enkel von ihnen. Zur nächsten Jurtengemeinschaft führt ein Ritt von 15 Minuten mit dem Pferd, gegebenenfalls auch mit dem beiwagenbewehrten Motorrad.

O-Ton 5: Jurte, Forts.        0,23
Löffelklappern, Gesprächsfetzen, Schlürfen
Regie: langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Wir werden erst einmal leiblich versorgt: Kumys, die berüchtigte gegorene Stutenmilch, grüner Tee, fette Hammelsuppe werden abwechselnd gereicht. Derweil füllt sich die Jurte. Man kommt, die neuen Gäste zu sehen. Nach dem Essen antworten die beiden Alten auf meine Fragen. Was hat sie veranlaßt, hier in die Steppe zu ziehen?

O-Ton 6: Jurte, Forts.        0,47
Tschisti Vosduch…
Regie: allmählich hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und wieder abblenden

Erzähler:
Die Antwort kommt Mongolisch, dazwischen russische Brocken: „Frische Luft! Gesundheit!“ Darja, die Frau der Familie, die mich hierher mitgenommen hat, übersetzt zwischendurch:

Darja:
„Die Frau lag nur noch in der Klinik – zu hoher Blutdruck. Ihr Mann war auch krank. Jetzt sind sie beide gesund. Seine Eltern waren auch Hirten, sagt er. Deshalb wollte er unbedingt ein paar Tiere haben und hier mit den Tieren leben. Jetzt kann er seine Kinder ernähren und die Verwandten kommen zu Besuch.“

Regie: kurz aufblenden (Mann: mongolisch, Frau: russisch), abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Natürlich ist das Leben schwer, sagt er. Wegen der vier Jahreszeiten. Im Winter gibt es viel Schnee. Deshalb arbeiten sie ohne festgelegte Zeiten, abhängig vom Wetter. Mit den Tieren ist es sehr schwierig; man muß alles für sie tun. Am Anfang hatten sie nur fünfzehn Köpfe, jetzt sind es ungefähr zweihundert, dazu guter Nachwuchs. Darauf ist der Zeltvater besonders stolz.
…Mongolisch, Geplätscher

Erzähler:
Von der neuen Zeit halten die beiden Alten trotzdem nicht viel. Vieles müßte sich ändern, meint der Alte:

O-Ton 7: Jurte, Forts.        0,42
Mann und Frau, mongolisch…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß kurz hochziehen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Die Mongolei ist ja ein ländliches Land. Man müßte vor allem die Tierwirtschaft gut entwickeln. Aber die Organisation der Tierwirtschaft ist nicht besonders. Unserer Meinung nach wäre es besser, im ganzen Land kleine Betriebe und kleine Produktiuonsstätten zu haben, die landwirtschaftliche Produkte an Ort und Stelle weiterverarbeiten könnten und sie dann erst zum Markt zu schaffen. Dann könnten unsere Waren, Tiere und Tierprodukte,  vielleicht einen gewissen Preis bekommen. Die Weiterverarbeitung am Ort ist das Wichtigste. Aber die Organisation ist schlecht. Das ist das Schlimmste.“
…Mongolisch, jemu kaschtetsja….

Erzähler:
Nach diesem unerfreulichen Thema gleitet das Gespräch schnell zu angenehmeren Fragen: Dort, der Jurtenaltar! Wer und was wird dort verehrt? Der Alte antwortet, ohne zu zögern:

O-Ton 8: Gespräch Jurte, Mann    0,42
…Mongolisch…

Darja übersetzt:
„Wir haben zwei Götter. Einer bewahrt vor Dürre, Gewitter und anderen Naturgewalten, der andere steuert den Kreislauf des Jahres. Wir glauben an Astrologie. Wir achten sehr auf den Himmel, um frühzeitig zu wissen, ob Schnee, Regen oder anderes Wetter kommt. Im Himmel gibt es auch eine Göttin, die Schutzgöttin der fünf Tierarten. Das sind Pferde, Kühe oder Yaks, Schafe, Ziegen und Kamele. Zu den Jahresfesten wird den Göttern geopfert. Da bereiten wir alles vor, was an Milchspeisen und Fleisch haben. Die Hälfte eines Ochsen, von jeder Art Milchspeise opfern wir immer dem Himmel, auch wenn Milchschnaps getrunken wird. Der ist ja auch ein Produkt des Himmels; alles was gut tut..“
…Mongolisch, Frauenstimme: Nowi god…

Erzähler:
Darüber reden wir lange. Das Wichtigste, erklärt der Alte schließlich noch einmal, seien die Kinder und Darja faßt zusammen:

O-Ton 9: Jurtenvater        0,29
Mongolisch….
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, dann allmählich abblenden.

Übersetzer:
„Er hat selbst sechs, dazu kommen die der Verwandten. Er ist jetzt froh und stolz, daß sie alle bei ihm leben, daß sie sich alle hier von der Stadt erholen können und daß es auch seinen Verwandten gut geht, weil er ihnen helfen kann.“
…Mongolisch, Gemurmel, Frauenstimme…

Erzähler:
Einer von diesen Verwandten ist Zegur Dortsch, ein außerordentlich beleibter Herr im Trainingsanzug, ebenfalls Pensionär. Zegur Dortsch war, wie sich zu meiner Verblüffung herausstellt, früher Direktor im Ministerium für mongolische Volkserziehung. Jetzt hält er sich samt Familie für einen späten Sommermonat zur Erholung bei seinem Verwandten auf dem Lande auf. Sichtlich zufrieden.
Nach anfänglichem Zögern ist auch Zegur Dortsch bereit, in meinen Recorder zu sprechen. Die Reformen waren unvermeidlich, erklärt er. Einige Folgen jedoch seien nicht gut:

O-Ton 10: Zegur Dortsch        0,28
Sewodnja conjeschna u nas…
Regie: Direkt anfahren, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Heue haben wir ja den Markt. Das muß so sein. Aber nicht alles ist gut. Zu Zeiten des Sozialismus waren alle gleich. Heute dagegen sind einige sehr reich, während die Mehrheit mehr oder weniger verarmt. Das ist natürlich nicht das Wahre. Warum ist das so? Weil die Einführung der Marktwirtschaft nur eine Überganghsphase sein sollte, die zehn oder zwanzig Jahre dauert. Bei uns hatte man es aber zu eilig; deswegen diese Schwierigkeiten.“
…takoi trudnosti

Meine Frage, ob er in der Wiederbelebung des nomadischen Lebens ein Problem sehe, versteht er überhaupt nicht. Er sieht die Schwierigkeiten ganz woanders:

0-Ton 11: Forts. Zegur Dortsch             0,29
Samie glawnie..
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das größte Problem für die Stadt sind die Kinder und die Rentner. Denen hilft der Staat heute überhaupt nicht. Die Viehzüchter haben noch andere Probleme, es gibt ja keinen wirklichen Markt, aber denen hilft auch keiner. Früher gab es alle möglichen Koooperativen, Initiativen und Gemeinschaften. Der Staat hat immer allen geholfen. Heut muß man alles alleine schaffen, egal ob in der Stadt oder auf dem Lande. Das ist das Problem.“
…gorodski Ludi

Erzähler:
Mongolbaiar ist ein weiterer Verwandter. Er ist in Ulaanbaator als Verkehrspolizist tätig. Bei ihm verstehe ich, daß Verwandtschaft auch die des zweiten, dritten oder noch vielfacheren Grades sein kann. Insgesamt werden neun Generationen zurückgerechnet. Entscheidend ist so nicht die Familien-, sondern die Stammeslinie. Mongolbaier sieht die Dinge in hellerem Licht. Daß jeder heut machen könne, was er wolle, sei eine Chance, meint er. Zwar beklagt er, schon aus Profession, daß sich mit den Reformen eine unziemliche Regellosigkeit im Lande ausbreite. Aber Mafia wie in Rußland?

O-Ton 12: Polizist Mongolbaiar            0,25
U nas Mafia paka…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Bei uns ist die Mafia zur Zeit nicht so offen zu sehen. Später vielleicht; kann sein, daß wir demnächst auch so etwas bekommen. Aber jetzt? Nein! Warum? Warum kann man bei uns nicht von Mafia sprechen? Nun, hier in der Mongolei sind wir nur wenige Menschen. Deswegen kann die Mafia nicht agieren.“
..nje destwuit

Erzähler:
Im Verlaufe des dritten Tages kündigt sich ein besonderes Ereignis an: Die Hauptjurte wird ausgeräumt; alles, was zwei Beine hat, strömt in ihr zusammen. Was geht da vor?

O-Ton 13: Umsetzen einer Jurte        118
Hurra, Geschrei, Kinder….
Regie: Ton kommen lassen, etwas länger stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, hin und wieder hochziehen

Erzähler:
Nun ist es klar! Männer, Frauen und die schon etwas größeren Kinder haben sich rund um die Innenwände der leeren Jurte aufgestellt. Auf Kommando heben sie das ganze Gestell und setzen es zwanzig Meter weiter wieder auf den Boden. Am Morgen sei ein Fohlen tot aufgefunden worden, erklärt man mir. Nach geltender Tradition müsse die Familie danach den Ort wechseln, da der Boden, auf dem sie lebe, nun als verunreinigt gelte. Mit dem Versetzen um zwanzig Meter ist dieser Regel offenbar Genüge getan. Die Alte besprengt den Innenkreis der Jurte rundum mit frischer Milch. So bittet sie die Götter um Segen. Das Einräumen vollzieht sich in Windeseile. Zuerst wird das Faß mit Kymis hineingetragen, dann die Herdstelle eingerichtet, das zur Mittelöffnung hinausragende Ofenrohr wieder aufgesteckt. Zwei Betten, zwei Schränkchen, der Hausaltar, das flache Tischchen davor, die paar schlichten Hocker – schon ist die Einrichtung wieder perfekt. Das Ganze hat nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Während die Jurtenwirtin zusammen mit anderen Frauen noch dabei ist, die Herdstelle wieder anzuheizen, Wasser für Tee aufsetzt, Trockenfleisch und andere Nahrungsvorräte unter den Betten verstaut, wo sie bei hochgeschlagenen Jurtenboden im Sommer am kühlsten lagern, lassen die Männer bereits den Becher mit Kymis kreisen. So wird der neue Platz eingeweiht. Der Mann ist das Haupt der Familie, heißt es. Erst nach ihm trinken die Frauen.
…Stimme: „Sami perwi Kumis“, Stampfen

Erzähler:
Das Stampfen des Kumys noch im Ohr, finde ich mich wenig später bei Dr. Nalgar Erdennetsogt in der Universität für Landwirtschaft der Stadt Ulaanbaator wieder. Dr. Nalgar Erdennetsogt ist ökologischer Berater an der biologischen Fakultät der Universität. Er hat sich bereit erklärt, mir die Grundzüge nomadischen Lebens wissenschaftlich zu erläutern. Echte nomadische Tierhaltung gebe es praktisch nur in der Mongolei, erklärt er.
Dafür nennt er mehrere Gründe:

O-Ton 14: Nalgar Erdennetsogt            0,52
Smisle tom, schto…
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Erstens das kontinentale Klima: Alle Gebiete der Mongolei erheben sich weit über den Meeresspiegel; davon sind nur einzelne Stellen ausgenommen. Aus dieser Lage ergibt sich eine besondere Pflanzendecke. Auf dieser ökologischen Decke hat sich, das ist das Zweite, die fünfache Tierhaltung entwickelt: Pferde, Schafe, Ziegen, Rinderarten und Kamele. Diese fünfgegliederte Tierwelt ist wie eine einzige Rasse, die in symbiotischen Beziehungen miteinander und mit den Menschen lebt. Das Dritte ist die gänzliche Entlegenheit des Landes von jeglichen Meeren. Das Vierte ist: Das mongolische Land ist umgeben von hohen Gebirgen. Ein solches Land gibt es vermutlich nicht noch einmal in der Welt. Das ist eine entlegende, wilde, in sich geschlossene, eine ganz und gar andere höhere Welt. Andersartigkeit durch und durch!“
…sowsjem inaja.

Erzähler:
Dr. Erdennetsogts wissenschaftliche Erkenntnisse gingen von der Streßforschung aus, die er bei den in der Mongolei gehaltenen fünf Tierarten durchgeführt hat. Dies übrigens schon 1973, also lange vor Beginn der aktuellen privatwirtschaftlichen Wende. In diesen Forschungen hat er eine Erklärung für die Besonderheiten des mongolischen nomadischen Lebens gefunden:

O-Ton 15: Erdennetsogt, Forts.        ?? 0,30 ??
Eta tak, eta tak…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Das ist so: Die Menschen, Intellektuelle vornehmlich, denken, daß die nomadischen Tierhalter kein Wissen haben, daß sie äußerst bararisch und sehr primitiv seien. In der Praxis ist den Hirten der Streß jedoch bekannt. Sie wissen genau, wann ihre Tiere stressen und wann nicht, wann sich der Streß legt, wann nicht und wie man den Streß abbaut. Sie machen es durch das Hin-und-Herziehen, eben das Nomadisieren: Nicht Nomadisieren – das ist der Tod.“
…jest i smert.

Erzähler:
Die streßhaftesten Situationen habe es dann wohl gegeben, vermute ich, als sowjetische Wissenschaftler seinerzeit einreisten, um die Herden für eine industrialisierte Tierwirtschaft zu spezialisieren? „Genau!“ ruft der Doktor, „diese gesonderte Zucht ist Streß in Vollkommenheit!“ und wenn Streß auftauche, dann verschlechtere sich die Fähigkeit zur Adaption. Wenn das geschehe, träten sehr leicht Krankheiten auf. Viele Tierärzte seien dann hilflos und die Herden gingen verloren.
Mein Hinweis, daß auch westliche Ökologen heute das Prinzip der gestaffelten biologischen Lebensräume dem der industrieorientierten Spezialisierungen entgegenstellten, sich hier also offenbar uraltes Wissen mit modernsten ökologischen Erkenntnissen treffe, entlockt dem Doktor erst ein Stöhnen. Dann platzt er begeistert los:

O-Ton 16: Erdennetsogt, Forts.        1,15
Stöhnen! O,tak, kak istik…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oh, wie wahr! Wie das zusammenkommt! Da kann ich Ihnen nur eine Sache sagen, über das Nomadisieren: Nomadisieren – das ist Ökologie! Die universellste Art der Wandlung, das ist das Nomadisieren. Was bedeutet denn Nomadisieren? – Das ist die universelle ökologische Situation ständiger Veränderung! Es bedeutet, daß du die ökologischen Verhältnisse an jedem beliebigen Ort kennst, so machst du deine Umzüge zusammen mit den Tieren. Wenn du diese Bewegung mit den Tieren richtig machst, dann sind sie produktiv, dann sind sie gesund, dann leiden sie nicht unter Krankheiten. Aber klar ist auch, wenn ich nicht zur rechten Zeit umziehe, dann treffe ich auf widrige, unangenehme und manchmal sogar gefährliche Naturverhältnise. Bei richtiger nomadisierender Bewegung aber wird es in dem ganzen riesigen Territorium der Mongolei nicht ein einem einzigen Bezirk bedrängende Armut geben.“
…takoi betstwi.

Erzähler:
Die Frage, wie Industriewelt und ursprüngliche ökologische Lebensweise sich in der heutigen Mongolei treffe, will der Doktor jedoch nicht mehr beantworten. Hier ende das Gespräch, erklärt er kategorisch. Heute gebe es zwei Zivilisationsformen, kann ich ihm nur noch entlocken, die europäische und die asiatische, genauer, die nomadische und die nicht-nomadische. Beide hätten Vor- und auch Nachteile. Was wir bräuchten, sei eine dritte Zivilisation. Wenn ich dies aber zitieren wolle, wiederholt er mehrmals, dann müsse ich angeben, woher diese neue Idee komme: Diese dritte Zivilisation beginne nämlich auf mongolischem Boden.
Ich bin verblüfft. Es scheint, daß ich auf verletzten Nationalstolz, mindestens aber auf ein Trauma langandauernder Unterdrückung gestoßen bin. Offensichtlich will er geistiges Eigentum der Mongolei vor fremdem Zugriff schützen. Um genauere Antworten zu finden, muß wohl selbst weiter auf die Suche gehen.

O-Ton 17: Autofahrt, Athmo        0,53
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen vor Erzähler (2) hochziehen, danach wieder abblenden

Erzähler:
Wenige Tage später habe ich Gelegenheit, mit Saja und Sarja, zwei mongolischen Frauen, in die Jurtenvororte von Ulaanbaator zu fahren. Saja und Sarja, beide um die vierzig, verteilen im Namen einer von Deutschen gegründeten Hilfsorganisation namens „Die Jurte“ Spendengelder an Bedürftige, vor allem an unvollständige Familien. Das sind alleinstehende Frauen mit Kindern, manchmal auch Väter ohne Frauen oder Großeltern, die allein für ihre Enkel sorgen. Zwanzig Deutsche Mark pro Kind geben die Frauen an insgesamt 110 Kinder; das sind ungefähr dreißig Familien. Die Zahl schwankt, da immer wieder Veränderungen auftreten. Eine Familie zieht einfach fort, ohne daß man wüßte wohin; Kinder verlassen die Familien, um auf der Straße zu leben. Zwischen fünf und zehntausend Straßenkinder werden in Ulaanbator zur Zeit vermutet. Die Adressen erhalten Saja und Saja von den Bezirksverwaltungen. Das Geld muß persönlich übergeben werden. Dabei überprüfen die Frauen seine Verwendung. Das ergibt rund dreißig, manchmal mehr Besuche im Monat, die die Frauen mit einem gemieteten Fahrer absolvieren.
…Autogeräusche, zweimal Türenschlagen

Regie: hochziehen, wiederabblenden

Erzähler:
Die erste Adresse – Fehlanzeige: Wo im letzten Monat noch eine Jurte stand, ist der Platz leer. Die Nachbarn wissen nichts über den Verbleib. Unter der zweiten Adresse finden wir eine fast leere Jurte, darin drei halbwüchsige Kinder, eins davon ein Krüppel. Einen Vater gibt es nicht, erklärt Saja. Die Mutter arbeitet für 9000 Togrö als Putzfrau. Das sind rund zehn Mark, gerade genug, ein Brot pro Tag zu kaufen.
Wie lange sie schon hier leben, frage ich die Kinder.

O-Ton 18: Vorortjurte            0,25
Kinder: „Tin,Tin“ – Mongolisch…
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Zehn Jahre. Früher haben sie außerhalb der Stadt gewohnt. Die Kinder erinnern sich noch. Da war es besser, meint das Mädchen. Da hatten wir Oma und Opa, ergänzt der Junge. Da hatten wir auch Kühe und andere Tiere, fährt er fort. Aber Oma und Opa sind gestorben. Ob sie zurück wollen? Die Antwort ist kaum zu verstehen, aber doch ein unmißverständliches: „Ja“.
… gehaucht Aha

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir eine Bretterhütte, eingerichtet wie eine Jurte: Ein Ofen, zwei Betten, zwei Schränkchen. Hier wohnt eine Frau, die neun Kinder geboren hat, drei davon noch immer schulpflichtig. Wovon sie lebe, frage ich. Saja übersetzt mir ihre Antworten:

O-Ton 19: Mutter von 9 Kindern        0,37
Frau: Mongolisch…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abbblenden

Übersetzerin:
„Sie arbeitet als Inspektorin für Hygiene. Dafür bekommt sie ebenfalls 9000 Togrö. Das ist kein festes Gehalt. Sie bekommt Prozente, wenn sie Strafen verhängt. Sie kann natürlich nicht immer Strafen verhängen, sagt sie, weil die Menschen eben so leben. Sie tun ihr leid. Aber das bedeutet auch, daß sie nur auf 9000 kommt. Dazu kommen noch 9000 Leibrente von ihrem verstorbenen Mann. Davon kann sie nicht leben, erst recht die Schule nicht bezahlen.  Sozialhilfe gibt es nicht. Von dem Hilfsgeld hat der älteste Sohn Holz gekauft und Möbel gebaut. Das gibt ihr Kraft. Daraus kann vielleicht etwas Neues entstehen, meint sie.“
…Frau, Russisch: pomogaet…

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir einen ca. 12jährigen Jungen. Er sitzt apathisch auf einem fast nackten Bettgestell zwischen vier ebenso nackten Dünnbetonwänden. Der Junge müßte in die Schule gehen, erklärt Saja. Aber die Mutter kümmert sich nicht um ihn, sie verkauft Wodka an einem nahen Kiosk. Als die Frauen sie dort aufsuchen, ist sie betrunken. Schweren Herzens entscheiden Saja und Sarja, das Geld diesesmal zurückzuhalten. Vielleicht nächstesmal, sagen sie. Hoffnungsvoll klingt das nicht.

O-Ton 20: Fahrt                0,52
Türenklappen, Fahrgeräusche….
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzählung:
Wieder sind wir unterwegs. Noch drei Familien schaffen wir an diesem Tag. Die Muster wiederholen sich: Die Wohnverhältnisse sind primitiv, kein Wasser, keine sanitären Anlagen. Die Freiheit der Jurte wird hier zur Katastrophe: Kein Licht, kein Wasser, kein Klo, statt der Steppe ein zugesiedeltes, verbrettertes und versifftes Vorstadtgelände. Ungefähr 400.00 Familien leben unter solchen Verhältnissen. Das sind 250.000 Menschen, ein Drittel der Stadtbevölkerung. Saja ist bedrückt:

Übersetzerin:
„Sie machen einfach so weiter wie früher. Warum versuchen sie es nicht zu ändern? Ich habe auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Man muß doch seine Art zu leben verändern! Die Leute haben TV, sie schauen Filme, warum müssen sie in der alten Weise weiterleben? Ich verstehe es nicht. Mag sein, daß sie einfach müde sind vom Leben, von ihrer Armut. Sie haben keinerlei Verlangen nach irgendeiner Zukunft, ihnen ist schon alles egal, wahrscheinlich.“
…nawerna

Erzähler:
Von Modernisierung kann auch in der Stadt unter solchen Umständen keine Rede sein. Nötig wäre die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse der Nomadenwirtschaft orientierten Industrie, um das technische Niveau der Nomadenwirtschaft zu heben und den Städtern sinnvolle Arbeit zu schaffen. Faktisch entwickeln sich Stadt und Land aber auseinander: Die Hirten kehren zu vorindustrieller Tauschwirtschaft zurück, in der sich ihr Reichtum an Tieren in die Armut des unverkäuflichen Überangebots zu verwandeln droht. Das Wachstum der Stadt Ulaanbaator, die jetzt bereits mehr als ein Viertel der mongolischen Bevölkerung umfaßt, schreitet andererseits unaufhaltsam voran – aber nicht die Produktion steigt, sondern die Arbeitslosigkeit, nicht der Ausbau der Infrastruktur geht voran, sondern ihr Zerfall. Daß beides zugleich möglich ist, Rückkehr aufs Land und weitere Verstädterung, hat seine Ursache in dem enormen Geburtenüberschuß, der die Bevölkerung in der Stadt und auf dem Lande zugleich wachsen läßt. Darin liegt eine gro0e Kraft der mongolischen Bevölkerung, darin liegt aber auch der Keim einer möglichen Katastrophe, die nur solange ausbleibt, wie Hirten und Städter Tierprodukte und Industriewaren  auf dem Wege der gegenseitigen Verwandtschaftshilfe bargeldlos tauschen. Eine Geld- bzw. Marktwirtschaft westlichen Typs ist das jedoch nicht.
Am Tag meiner Abreise hatte ich Gelegenheit, mit Professor Bira, dem Sekretär der „Internationalen Assoziation der Mongolisten“ in Ulaanbaator über diese Beobachtungen zu sprechen.

O-Ton 21: Prof. Bira            0,50
This is the…

Übersetzer:
„Ja, das ist das Problem, das in der Mongolei zur Zeit am schwierigsten zu lösen ist. Es ist sehr wichtig, diese Situation in der Mongolei zu erkennen. Vor allem auch für diejenigen, die kommen, um uns Mongolen zu helfen. Mir scheint, das die ausländischen Ratgeber ohne jede Kenntnis darüber zu uns kommen. Sie kommen mit Autorität von oben, sie geben uns Modelle, die für seßhafe landwirtschaftliche Länder ausgearbeitet sind, für osteuropäische oder für Rußland. Fast dasselbe wurde seinerzeit von den russischen Kommunisten gemacht. Natürlich gab es einige Verbesserungen, aber so konnten keine wirklich guten Ergebnisse erzielt werden. Das gilt auch für die jetzigen sog. demokratischen Reformen. Nichts ist wirklich besser geworden. Mir scheint, all das Geld und all diese wirtschaftliche Hilfe geht in eine falsche Richtung. Deshalb ist davon auch nicht mehr zu sehen…“
…not sovisible results

Erzähler:
Als Beispiel verweist der Professor auf  die beabsichtigte Privatisierung des Weidelandes. Da werde man einen Weg finden müssen, der den nomadischen Bedingungen entspreche:

O-Ton 22: Prof. Bira, Forts.        0,25
There are only two ways…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das ist eine Frage des Überlebens für dieses kleine Land. Es gibt nur zwei Wege: Entweder werden wir, wie der Historiker Toynbee meinte, ähnlich wie andere kleinere nomadische Nationen vom Erdboden verschwinden oder wir finden einen Weg, auf eigener Basis zu überleben.“
..survive

Erzähler:
Die Gefahren für die Mongolei sind groß. Die Tatsache allerdings, daß die Mongolei anders als andere nomadische Nationen im Schnittpunkt geostrategischer Interessen zwischen Ost und West liegt, eröffnet die Chance, daß hier der Weg für eine Modernisierung gefunden wird, die ursprüngliche nomadische Ökologie und industriellen Fortschritt miteinander verbindet.

O-Ton 24: Musik        0,20
Regie: allmählich unter dem Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, mit Applaus abblenden.

Erzähler:
Das Bild dafür ist die Jurte, die durch einen Sonnenkollektor oder
durch mobile Windgeneratoren mit elektrischem Strom versorgt wird. Vereinzelt kann man solche Bilder in der heutigen Mongolei bereits sehen.

Sie leben nicht vom Lohn allein Aufriß der politisch-sozialen Lage Rußland im Frühssommer 1997

Vortext:
Rußland ist wieder in die Schlagzeilen gekommen. Millionen Menschen demonstrierten in der ersten Hälfte dieses Jahres für die Auszahlung ausstehender Löhne und für die Erhaltung sozialer Leistungen. Präsident Boris Jelzin berief neue Leute in die Regierung. Sie sollen die Reformen beschleunigen. Steht Rußland vor einer Zeit sozialer Unruhen?

O- Ton 1: Gesang in der Metro            (1,10)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach dem zweiten Absatz noch mal hochziehen, danach allmählich abblenden.

Erzähler:
Moskau, April `97, Stadt im Glanz. Das Netz der Metro hat sich zum Zentrum quirlenden Lebens entwickelt. In den Unterführungen jeder der über 150 Metrostationen drängen sich die Menschen an überfüllten Kiosken. Auf den Straßen setzt sich das Bild fort: neue Imbißbuden, Restaurants, Cafés laden zum Verweilen; Fassaden und Auslagen neueröffneter Ladenketten glitzern. Die Preise sind hoch, sie liegen auf westlichem Nivau. Aber die Menschen kaufen. Die Zeiten der leeren Auslagen in den Geschäften scheinen endgültig vorbei. Rundum wird gebaut, geputzt, renoviert. Und dies alles nicht mehr nur in der Innenstadt. Kaum zu glauben, daß noch vor wenigen Wochen Millionen Menschen im ganzen Lande dagegen protestierten, unter das Existenzminimum gedrückt zu werden. Staunend vernimmt man das allgemeine Lob für Bürgermeister Juri Lyschkow. Er beweise, heißt es, daß man in Rußland heute etwas erreichen könne – wenn man nur wolle. Staunend hört man auch, wie die Demonstrationen in den Regierungsetagen beurteilt werden.

Regie: Musik kurz hochziehen, danach allmählich abblenden

Erzähler:
Leonid Gossmann ist psychologischer Berater des nach den Protesten neu zum Ministerpräsidenten ernannten Anatoli Tschubajs. Er arbeitet in einem supermodernen Repräsentativbau, der halb von der Regierung, halb vom „Busyness“ genutzt wird. Auf die Frage, welche Bedeutung die Regierung den Demonstrationen beimesse, erklärt er im Brustton dessen, der offizielle Wahrheiten mitzuteilen hat:

O-Ton 2: Leonid Gossmann, Berater von Tschubajs    (0,16)
Regie: kurz stehen lassen, langsam abblenden

Übersetzer:
Oh, wi snaetje glja prawitesltwo, eta….
„Ach, wissen Sie, für die Regierung bedeutet das meines Wissen herzlich wenig, ehrlich gesagt. Nun, der Präsident meinte, das sei ein Signal, das muß er ja sagen; damit bringt er seine Wertschätzung dieses Problems zum Ausdruck. Tatsächlich war das Niveau der Proteste verblüffend niedriger als von den Organisatoren vorausgesagt.“

Erzähler:
Gefahren vermag Leonid Gossman in der neuen Situation nicht zu erkennen. Die Organisatoren der zurückliegenden Demonstrationen, die Gewerkschaften, sind für den Psychologen vom Dienst „schon organisch“ nicht in der Lage, irgendwelche revolutionären Aktivitäten zu organisieren, sie sind für ihn nicht mehr als als „genetische Zustimmer, Claqeure, Feiglinge, Bestochene und Diebe“. Auf die Frage, welche Konsequenzen die Regierung aus den Protesten zu ziehen gedenke, antwortet er:

O-Ton 3: Gossmann, Forts.                1,25
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:
„Nu, tje ludi, kotorie swasiwajetsja…
„Nun, die Leute, die mit dem liberalen Flügel um Ministerpräsident Tschubaijs, auch Gaidar zu tun haben, sind überzeugt davon, daß die Reformen nicht nur fortgesetzt, sondern beschleunigt werden müssen. Es ist ja alles viel zu langsam gelaufen. Das Land kam in die Situation, wie soll ich sagen, eines Kranken, bei dem die Opreration begonnen, aber nicht ausgeführt wurde. Das ist schlimmer, als wenn man nicht begonnen hätte. Deshalb muß man vollenden, was begonnen wurde. Das ist die allgemeine ideologische Priorität; was die wirtschaftlichen Dinge betrifft, so geht es darum, das auszuführen, was 1992 hätte ausgeführt werden müssen: die Strukturelle Perestroika.“

Erzähler:
Staatliche Förderung profitabler Unternehmen, Schließung unrentabler Betriebe, schroffe Sparpolitik im sozialen Bereich lautet das Programm, das Leoniod Gossmann jetzt als neue Regierungslinie skizziert. In einem Rückgriff auf das Gaidarsche Schockprogramm von 1992 sollen die nach wie vor bestehenden sozialen Verbindlichkeiten der großen Staatsbetriebe aufgelöst werden: Wohnungen, Strom, Gas, Wasser, Dienstleistungen und andere Vergütungen, die von der Mehrheit der Menschen immer noch ganz oder fast unentgeltlich direkt über die Betriebe bezogen werden, sollen in bezahlte Dienstleistungen umgewandelt und die Preise dafür freigegeben werden wie seinerzeit die Preise der Industrieprodukte. Der „Internationale Währungsfond“ fordert diesen Schritt schon lange von Boris Jelzin, wenn er weiter in den Genuß westlicher Kredite kommen wolle. Der Öffentlichkeit präsentiert die Regierung ihr Vorhaben als Offensive zur lange überfälligen Auflösung der „natürlichen Monopole“, die die Gesellschaft im Würgegriff hätten und mit ihren alten Strukturen den Reformen entgegenstünden. Zu diesen Monopolen zählen zum Beispiel „GAS-PROM“, die Hausmacht Ministerpräsident Tschenomyrdins im Erdöl und Ergassektor, aber auch der Elektroenergiekonzern, die Wasserwerke, das Bauwesen, die Bahn und noch einige andere dieser Art.

O-Ton 4: TV, Musik, Ansage            (0,28)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Die Medien machen sich zum Sprecher der neuen Reformoffensive. Unisono präsentieren sie Boris Nemzow als Hoffnungsträger des Jahres, der seine in Nischninowgorod mit dieser Art von Privatisierung gewonnenen Erfahrungen nun auf das ganze Land übertragen soll. Nur so könne die Haushaltskrise überwunden, nur so könnten Löhne in Staatsbetrieben wieder bezahlt, könnten die sozialen Verpflichtungen des Staates eingelöst, die Armee befriedet, eine Arbeitslosenversicherung aufgebaut werden usw.
Die  Schulden von „Gas-Prom“ gegenüber dem Staat, kann Boris Nemzow im Fernsehen behaupten, seien höher als alle Schulden des Staates gegen Lehrer, Kindergärten etc. zusammen. Dann fährt er fort:

O-Ton 5:. Boris Nemzow im TV            (o,25)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Maja sadatscha stoit v schtom to,…
„Meine Aufgabe ist es, Schluß damit zu machen, daß diese großen Monopole das Land regieren. Mich wundert deshalb, wie die Frage von Gas-Prom in der Duma behandelt wurde…

Erzähler:
In der Statsduma, dem Parlament, war Widerspruch gegen die sozialen Folgen der geplanten neuen Privatisierungswelle laut geworden. Mit Boris Nemzows Angriff auf die Duma werden diejenigen gleich vorsorglich eingeführt, die man später als Schuldige belasten kann, wenn auch diese Offensive wieder nur zur einer Verschärfung der Krise führen sollte. Die Bevölkerung ist allerdings nicht mehr so leicht zu gewinnen. Zu viel wurde schon versprochen und nicht gehalten. Babuschka, die Rentnerin, die den Auftritt Boris Nemzows von ihrem Invalidenlager aus am Fernsehschirm verfolgt hat, traut weder dem neuen Kabibett noch dessen Gegenspielern in der staatlichen Duma.

O-Ton 6, Musik, Babuschka            (1,05)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
(stockend) „Keiner von denen, die da rummachen, kümmert sich um den Staat. Sie sind für niemanden nutze. Für niemand! Das sind Leute, die nichts tun, nichts schaffen, außer für die eigene Tasche. Sie reden nur; jeder hat nur seine eigene Sache im Sinn. Aber für unseren Staat ist es jetzt nötig, daß das Leben wieder in Ordnung gebracht wird.“

Erzähler:
360.000 Rubel bekommt die alte Frau im Monat. Das sind ca. 60 Dollar. Die werden immerhin bezahlt. „Hier in Moskau ist es besser“, erklärt Babuschka ihrem erstaunten Logiergast, „hier kriegen wir unser Geld.“ Aber ihre Tochter, die nicht in Moskau lebt, hat seit Monaten keinen Lohn mehr ausbezahlt bekommen. Ihr Sohn ist arbeitslos. Beide leben von der Pension ihrer Mutter. So ist es auch in anderen Familien. Verkehrte Welt, die Jungen leben von den alten, das Land von der Stadt. Mit zehn Dollar pro Nacht ist der ausländische Gast für diesen Monat und vielleicht noch für den nächsten die Überlebensquelle für diese Familie. Solche Tatsachen lassen sich durch Fernsehreden allein nicht verdrängen. „Die Worte der Politiker sind nur Kleingeld“, meint Babuschka.
… eto melotsch

Erzähler:
Aber nicht nicht nur Babuschka ist skeptisch. Staunend kann man vernehmen, daß das Stichwort von der „kriminellen Privatisierung“, das früher vor allem von Konservativen benutzt wurde, in der russischen Hauptsstadt inzwischen so zum Alltag gehört wie die Frage nach dem Befinden oder die nach dem Wetter. Jefim Berschin und sein Freund Kyrill Swetitschki, beide Redakteure der früher angesehenen, heute zu konservativen Positionen neigenden Zeitschrift, „Literaturnaja Gaseta“, gehören schon seit Jahren zu denen, die Ausverkauf und Kriminalisierung der Gesellschaft beklagen. Heute konstatieren sie nur noch sarkastisch:

O-Ton 7: Jefim Berschin, Kyrill Swetitschki, Redakteure      (1,07)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, am Ende hochziehen

Übersetzer:
„To est, perwi moment kaschdi…“
Anfangs, als alles anfing, da wurde jeden Tag geschossen, jeden Tag getötet, irgendjemand aufgehängt usw. Es ging um die Aufteilung der Einflußsphären. Jetzt ist das schon nicht mehr so, nur noch, wenn sich mal einer nicht unterordnen will. Im Kern werden die Dinge nicht mehr mit Pistolen entschieden. Die Mafiosi treffen sich auf dem Niveau der großen Leute im Restaurant, sie greifen zu einer guten Flasche und sprechen sich ab. Das bedeutet, die Mafia ist heute schon so sehr mit der Macht verflochten, sie stützt so sehr die gegenwärtige Ordnung, daß sie schon nicht mehr auf der Straße agieren muß. Die Polizei achtet nur noch darauf, die Mafia von der Straße zu holen, damit sie da nicht die Leute belästigen und die Menschen ihren Alltag ruhig leben können. Das ist für die Leute gut und für die Mafia ist es auch gut. Wenn man dir also sagt, daß du hier nicht auf die Straße gehen kannst, dann ist das Unsinn. Die Mafia braucht die Straße schon nicht mehr. “
… eta nje prawda

Erzähler:
Die reformorientierte Linke ist dazu übergegangen, öffentlich Alternativen zur „kriminellen Privatisierung“ zu thematisieren. Zu einem Vortrag über „Alternativen zur kriminellen Privatisierung“ im Haus der Wissenschaftler finden sich gut vierhundert Menschen ein. Vortragender ist Professor Sarasow, ein Wirtschaftswissenschaftler, der sich dem sozialdemokratischem Spektrum zurechnet. Dazu gehören auch Vereinigungen wie die „Stiftung Gorbatschow“ und ähnliche Kräfte, die sich weder der kommunistischen Linken noch den Radikalreformern verbunden fühlen. Viele von ihnen sind enttäuschte Reformer. Der Professor beginnt seinen Vortrag mit dem Hinweis, daß in der Geschichte bekanntlich nicht immer alles so komme wie geplant. So bei den Bolschewiki, die den Sozialismus wollten und den Stalinismus ernteten:

O-Ton 8: Professor Sarasow im Haus der Wissenschaftler    (1,14)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Beifall am Ende hochziehen, danach abblenden

Übersetzer:
Tosche samije tjeper…
„Dasselbe heute: Am Anfang der demokratischen Umwälzungen dachten wir, daß wir Markt und Demokratie aufbauen, eine effektivere Wirtschaft als die des Planes. Tatsächlich kam es ganz anders: die jetzige Wirtschaft ist weniger effektiv als die Planwirtschaft. Der Umfang der Waren, die die Bevölkerung erhält, sank um das Zweifache. Was muß man mehr sagen? Ja, wir forderten die freie Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie. Ja, wir forderten das private Unternehmertum! Aber wir forderten nicht den Zerfall des Staates und wir forderten nicht die Übergabe des Eigentums an die nomenklaturische Mafia. Aber genau so ist es gekommen. Und jetzt muß man begreifen: Von den anfänglichen Zielen sind wir heute weiter entfernt als vor fünf Jahren. Und wir sehen, daß wir nicht dahin gehen, wohin wir wollten. Darüber werde ich sprechen.
…letzte Worte, Beifall

Erzähler:
Die Alternative, die der Professor vorträgt, lautet „Renationalisierung“. Unmißverständlich fordert er eine Wiederverstaatlichung der Wirtschaft, und zwar je eher, desto besser. Durch den Zusammenschluß von unten müsse dem Raub von oben entgegengetreten werden. Das, erklärt er, sei der einzige Weg, um dem volkommenen wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch entgegenzuarbeiten, den die Regierung jetzt auch noch zu beschleunigen drohe. Das Auditorium debattiert mehrere Stunden. Fragen und Ergänzungen gibt es viel, Widerspruch kaum.
In den offiziellen Kreisen der wissenschaftlichen Analytik ist es nicht sehr viel anders. Typisch für die Zerrissenheit, in die die reformwilligen Intellektuellen Rußlands heute gekommen sind, ist Tatjana Saslawskaja. Als Kopf der sogenannten Nowosibirsker Schule war sie einst Vordenkerin der Perestroika. Heute ist als die Große alte Dame der neuen russischen Sozialwissenschaften Co-Rektorin am „Internationalen Zentrum für Sozialwissenschaften“, das Strategien für die Regierung ausarbeitet, und Leitererin der „Moskauer Hochschule für Sozialwissenschaften“. Sie ist also eine Person, die wissen sollte, wohin das Schiff steuert. Direkt befragt, was sie von den Ansichten Professor Samarows halte, beklagt auch sie die kriminelle Privatisierung, dazu die allgemeine Kriminalisierung der Gesellschaft, und, was das Schlimmste sei, die „kriminelle Macht“. Dies ist für sie das erschreckendste Ergebnis der Perestroika. Aber was tun? In der Antwort darauf entwischt ihr ein Eingeständnis, das sie zugleich wieder zurückzuholen versucht:

O-Ton 9: Tatjana Saslawskaja            (0,47)
Regie: kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzerin:
„Renationalisazia…
„Was die Renationalisierung betrifft: Ehrlich gesagt, mit dem Herzen würde ich sie begrüßen! Denn wirklich haben Banmditen das Gemeineigentum an sich gerissen! Aber mir scheint, sie ist nicht real. Erstens befindet sich ein großer Teil des Eigentums bereits im Ausland. Zweitens ist nicht bekannt, bei wem welche Gelder liegen und von wem man es zurückholen müßte. Entscheidend aber ist, daß dadurch ein Bürgerkrieg entstehen könnte. Die Clans würden sich gegenseitig bekämpfen. Wessen Gesetze sollten da gelten? Das läuft nur auf einen Kampf der einen kriminellen Struktur gegen die andere hinaus. Das ist einfach hoffnungslos.“
…prosta besnadjoschno.

Erzähler:
Das Herz schlägt für den sozialistischen Weg, der Kopf diktiert den marktwirtschaftlichen; die Wirklichkeit wiederum ist eine unberechenbare Gesellschaft, in der alles möglich ist. Der einzige Ausweg, den Rußlands bekannteste wissenschaftliche Vorkämpferin der Perestroika aus dem Dilemma sieht, lautet: Bloß nicht an das labile Gleichgewicht rühren! Andere sehen genau in diesem Gleichgewicht Rußlands Chance. Als pluralistische Balance unterschiedlicher Oligarchien, zwischen denen der Präsident des Landes lavieren könne, beschreibt Dimitri Diskin, ein jüngerer Wissenschaftler, das von Frau Saslawskaja beklagte Dilemma. Diskin ist am  „Institut für Volkswirtschaft“ als Spezialist für Fragen der Transformation und für die Entwicklung von Eliten tätig. Er stimmt der allgemeinen Charakterisierung der aktuellen russischen Verhältnise als krimineller zu. Ihm geht es aber um mehr. Um zu verstehen, was heute in Rußland vor sich gehe, reiche es nicht, nur von Markt zu sprechen. Diskin fordert dazu auf, tiefer in die historisch gewachsene Sozialstruktur Rußlands hineinschaun. Sie bringe ganz eigene Entwicklungen hervor. Ob Rußland sich auf dem Wege zum Kapitalismus befinde?

O-Ton 10: Dimitri Diskin, Transofrmationswissenschaftler        (1,05)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Was aber noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende. Geld im Kriegsgeschäft war wichtig, um Aufträge zu bekommen. Geld in der Leichtindustrie war etwas völlig anderes. Geld in der Hand des Volkes war noch etwas anderes. Bargeld war wieder etwas anderes. Viele verschiedene Gelder gab es. Auch heute gibt es in der Wirtschaft ganz unterschiedliche Gelder: Geld, das dir zum Beispiel von Budget aus zusteht, ist kein Geld, bevor es nicht bei dir angekommen ist. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird usw., dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt.“

Erzähler: Auch heute, so Diskin, lebe man in Rußland nicht vom Geld allein. Man fahre fort mit dem Austausch von Dienstleistungen, von Naturalprodukten; mit Bartergeschäften; man lebe von Gärten und Höfen. In dieser Tatsache sieht Diskin den Grund für eine soziale Stabilität, die auch durch die aktuelle Krise, die wesentlich eine Geldkrise sei, nicht zu erschüttern sei. Im Gegenteil, nach der Wahl 1996 hat sich der Einschätzung Dimitri Diskins folgend gerade auf Basis der Tatsache, daß die Menschen nach wie vor nicht vom Geld allein leben, soetwas wie eine politische Stabilität hergestellt:

O-Ton 11: Diskin 2Forts.                 (1,03)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Prinzipalno waschno, schto…:
„Es ist von prinzipieller Wichtigkeit, daß sich nach den Wahlen die politischen Konstruktion der russischen Föderation geändert hat. Früher waren die Gouverneure ernannt, jetzt sind sie gewählt. In diesem Sinne ist die staatliche Organisation demokratischer geworden. Zweitens hat sich der politische Status der kommunistischen Partei in entscheidendem Maße geändert. Sie hat die Verfassung anerkannt, sie führt den Dialog mit der Regierung, sie stimmte dem Budget zu, sie ist Stütze der regionalen Bürokratien, sie dient jungen Oppositionellen als Karriereleiter. Wenn sie vorher eine totale Oppositionspartei war, so ist sie jetzt ein Teil des Establishments.“
…tschast establischmenta.“

Erzähler:
Im „Zentralen Institut für Meinungsforschung“ wird aus Stabilität sogar Normalität. Nicht ohne allerdings ebenfalls einen Ausflug über die Kriminalität gemacht zu haben, faßt Professor Juri Levada, der Leiter des Instituts die politischen Lage nach den Demonstrationen zu einem gänzlich undramatischen, fast melancholischen Bild zusammen:

O-Ton 12: Juri Lewada                (1,08)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, nitschewo ossobije nje bilo…:
„Es war nichts Besonderes. Es gab Artikel, Aufzeichnungen, verschiedene Berichte darüber. Aber die Regierung ängstigte sich. Sie schüchterte die Leute ein und das auf sehr unkluge Weise, finde ich, indem sie polizeiliche Macht demonstrierte. Es kam zwar nicht zu Einsätzen, aber es war nicht nötig einzuschüchtern. Es ist doch so, daß unsere Opposition keinerlei Verbindungen mit der Massenbewegung hat. Unsere Kommunisten sind nicht mit den Gewerkschaften verbunden und unsere Gewerkschaften sind generell folgsam. Sie beschränken sich auf kleine Forderungen, reine Mildtätigkeiten, genau besehen. Und die Leute glaubten im Vorfeld nicht, daß diese Aktivitäten irgendeinen Sinn haben könnten. Deshalb haben nur wenige Leute teilgenommen, ohne irgendwelche Schärfen. Es zeigte sich einfach eine allgemeine Hilflosigkeit – der Macht, der Opposition und des Volkes.“
… oppositii i naroda.“

Erzähler:
Dem neuen Anlauf der erneuerten Regierung gibt Prof. Lewada, obwohl er gern möchte, keine Chance, ebensowenig den polternden Schimpfkannonaden des Präsidenten, der mit lauten Worten verurteilt, was Ergebnis seiner eigenen Politik ist: ein gesellschaftliches Klima, in der nur noch der eigene Vorteil zählt. Der Professort hofft allein auf einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung, der es der Regierung erlauben könnte, wenigstens die gegebene Balance für eine Zeit aufrechthalten. Wie lange? Dazu will er keine Prognose wagen.

O-Ton 13: Metro                 (020)
Regie: allmählich während der letzten Worte kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler: Im Gewerkschaftsbüro gegenüber dem „Weißen Haus“ will man von Hilflosigkeit nichts hören. Auf die Frage, ob sie die Demonstrationen als Erfolg betrachten, antwortet Michail Nagaitzew, Vorsitzender der „freien Gewerkschaften Moskaus“:

O-Ton 14: Michail Nagaitzew, Gewerkschafter    (0,37)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Ja, dumaju da…
„Ich denke ja. Die Gewerkschaften haben einfach eine neue Qualität erreicht. Wenn du bedenkst, daß man früher im Fernsehen überhaupt nichts gezeigt hat, so wurde über diese Aktion in Rußland ebenso wie im Ausland überall sehr gut berichtet. Unsere Losung war: Eine Neue Regierung – und wir haben eine neue Regierung! Schmackow, unser Vorsitzender, wurde nach den Aktionen vom 25. März zum Beispiel von der Internationalen Bank für Wiederaufbau und vom Internationalen Währungsfonds zu einem Vortrag über die sozial-ökonomische Situation in Rußland eingeladen.“

Erzähler: Einen korrumpierten Kapitalismus mit kriminellen Strukturen habe Rußland erhalten. Das findet auch Michail Nagaitzew. Etwas Katastrophales kann er darin aber nicht sehen:

O-Ton 15: Nagaitzew, Forts.            (0,54)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja i profsojus…
„Ich selbst und auch die Gewerkschaft, wir denken nicht, daß die Situation katastrophal ist. So denkt Szuganow, das meinte auch Goworuchin mit seinem Film `So kann man nicht leben.´ Aber Goworuchin sagte das unter der sowjetischen Macht. Da war es in der Tat unmöglich so so leben. Heute denke ich absolut nicht, daß die Situation katastrophal ist. Nach den Demonstrationen im März haben alle gesehen, unter anderem in Deutschland, auf allen Radiostationen überall in der Welt, was hier in Rußland vor sich geht. Eine Woche danach fand in Moskau eine Konferenz statt, wo die Frage der sozialen Partnerschaft erörtert wurde. Wir, die Moskauer Föderation, alle Chefs der Administration der Kreise und der umgebenden Republik und sowie die Arbeitgeber versammelten sich. Zwei Tage beratschlagten wir über die Situation. Auf Demonstrationen kannst du ja nichts entscheiden. Wir haben schon im vorigen Jahr eine solche Sozialpartnerschaft vereinbart. Ich denke, daß das ziemlich seriös ist. Der Grundgedanke, mit dem wir in die Verhandlung gehen, lautet: Für sozialen Frieden, muß man bezahlen!“
…nuschno platits.“

Erzähler: Die Arbeitgeber selbstverständlich, konkretisiert Michail Nagaitzew. Was er darunter versteht, wird in der Position deutlich, die er zur Privatisierung bezieht:

O-Ton 16: Nagaitzew, Forts.            (1,00)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, danach abblenden, unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Für mich ist Privatisierung zum Schimpfwort geworden. Ich denke, das ist unsere offizielle Position, daß wir – die Gewerkschaft – das Recht auf Reproduktion der Arbeitskraft privatisieren sollten. Das ist es, womit ich mich jeden Tag befasse.“

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler: Unter der sowjetischen Macht, erklärt Michail Nagaitzew, erhielten die Arbeiter 19/20% Lohn vom Mehrwert, mit der kostenlosen sozialen Versorgung kletterte der Anteil auf 30 bis 35%. Heute ist das Niveau des ausgezahlten Anteils am Mehrwert erhalten geblieben, aber der Staat hat sich aus seinen sozialen Verpflichtungen herausgezogen. Wörtlich fährt Nagaitzew fort:

Übersetzer: „Deshalb sagen wir dem Staat jetzt: Wir sind bereit, euch von dem Problem zu entlasten. Aber dann gebt den Leuten, wenn sie zum Beispiel eine Million Rubel verdienen, noch eine Million drauf, damit sie nicht auf der Straße stehen und demonstrieren; die können wir selbst austeilen, Fonds einrichten für Rente, für Arbeitslosenhilfe, für Versicherung usw. – aber ihr laßt die Finger von den Fonds!“
… i ni troga eti fondi.

Erzähler:
So wie Moskau insgesamt, so glänzt der Sekretär der Moskauer freien Gewerkschaften mit Zahlen über Moskaus niedrigen Arbeitslosenstand, über die hohe Zahl mittlerer Betriebe, über die nach wie vor in Betrieb befindlichen Kindergärten usw. Radikalen Forderungen von Gennadi Szuganow, dem Chef der KP Rußlands und Alexander Lebed, dem bekannten Ordnungspolitiker durch die Organisation der Proteste das politische Wasser abgegraben zu haben, erfüllt ihn mit besonderer Befriedigung.
Was aber passiert, wenn die Sozialpartnerschaft nicht funktioniert und wenn man über die Grenzen Moskaus hinausschaut, das beschreibt Andre Kolganow. Er ist Professor für Wirtschaft an der Moskkauer Universität, war lange Zeit führendes Mitglied der gewerkschaftsoppositionellen „Partei der Arbeit“ und als Ratgeber in den „freien Gewerkschaften“ tätig. Heute ist er deren imtimster Kritiker.
Auch Prof. Kolganow hält das heutige russische Wirtschaftssystem nicht für Kapitalismus, auch er hebt die Tatsache hervor, daß man in Rußland nicht vom Lohn allein lebe, sondern von naturalen und sozialen Bezügen, die die Betriebe tragen. Dann aber hält er es für nötig einzuschränken:

O-Ton 17: Prof. Kolganow                (1,05)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Seitschas paschlui usche…:
„Jetzt ist das leider fast nicht mehr so. Schon 1992 und 1993 befanden sich viele Unternehmen in einer schwierigen finanziellen Lage. Sie schafften es aber immer noch, Wohnungen für ihre Arbeiter zu bauen, Kindern zu niedrigen Preisen Sommerurlaub zu ermöglichen usw. Inzwischen gibt es diese Möglichkeiten kaum noch. Wenn es keinen Lohn gibt, dann heißt das heute, es gibt gar nichts. Moskau ist eine Ausnahme, Hierhin  fließen 80% des Budgets. Hier wird gezahlt. Hier will man keine Unruhe. Insgesamt haben wir jetzt aber Erscheinungen, die denen des Kriegskommunismus während des Bürgerkriegs sehr vergleichbar sind, also wie 1918, 1919, 1920, als man den Arbeitern die Produkte gab, die ihr Betrieb herstellte. Eine Fabrik, die Geschirr herstellt, bezahlt mit Geschirr. Die Arbeiter müssen das Geschirrr verkaufen, um Geld für ihre Existenz zu erhalten. Das ist vor allem in den Regionen und den kleineren Städten so. Das kannst du sogar auf den wilden Märkten Moskaus beobachten, wo sie Geschirr verkaufen oder sonst irgendetwas, was bei ihnen gerade produziert wird.“.
…ilu eschtscho schto to.

Erzähler:
Seit Jahren gehe das nun schon so, räumt er ein, jetzt aber komme eine qualitative Grenze in Sicht: Die Privatisierung, die jetzt noch mal angeschoben werden solle, werde am Widerstand der Monopole scheitern, bestensfalls den Zerfall und die individuelle Bereicherung beschleunigen, keinesfalls aber Geld für Investitionen freisetzen. Die Produktion werde weiter absinken, die Landwirtschaft befinde sich schon jetzt in tödlicher Lage:
O-Ton 18: Kolganow, Forts.             (1,09)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Oni mogut prodalschatsja…
„Man kann natürlich noch weiter die Ressourcen verkaufen und damit die Bevölkerung ernähren. Das trägt zur Zeit! Wie lange das noch geht, ist jedoch ungewiß. Beim Öl etwa läuft auch so ein Prozess der beständigen Einschränkung der Produktion. Sehr wenig Mittel werden in die Modernisierung, noch weniger in geologische Erkundungen gesteckt. Im Gasbereich ist es etwas besser; die Kohle ist schon ganz und gar vernichtet; andere Bereiche, etwa die Forstwirtschaft liegen ebenfalls am Boden. Die Konjunktur auf dem Weltmarkt hat sich für sie verschlechtert und seither sind sie in eine schwierige Lage gekommen. Dasselbe gilt für die Produktion von schwarzen Metallen. Die Maschinen  veralten, die Zahl der Unfälle steigt. Noch funktioniert die Eisenbahn, noch arbeitet das Elektrizizätsnetz, die Heizung der Häuser, das Telefonnetz. Insgesamt hält sich die Wirtschaft auf dem, was früher produziert worden ist. Genau läßt sich nicht sagen, wie lange unser technisches System sich ohne Erneuerung noch hält.“
…bes technischteskowo obnowlenije.“

Erzähler:
Für die Zukunft sieht Professor Kolganow drei mögliche Varianten: den Weg Pinotchets, den asiatischen Weg wie in China oder Korea, als autoritäre, vermutlich sogar blutige Lösungen seien beide Wege aber nicht , oder eine völlige Änderung des jetzigen Kurses in Richtung auf Wiedereinbeziehung der traditionellen korporativen und kollektiven Strukturen des Landes. Prioritäten sieht er für keine der Lösungen. Alles ist möglich:

O-Ton 19: Kolganow, Forts.            (0,47)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna est u…
„Natürlich besteht bei einigen das Verlangen, die eiserne Faust einzusetzen, um ihre Ziele durchzusetzen. Aber es sieht so aus, als ob heute die reale Möglichkeit für soetwas nicht besteht. Das heißt nicht, daß sie nicht in der Zukunft auftritt. Alles hängt aber davon ab, bis zu welchem Grad sich die ökonomische und soziale Krise im Lande entwickelt. Wenn sie bis zur vollkommnenen Desorganisation der Wirtschaft voranschreitet, dann ist alles möglich; wenn sie irgendwie angehalten werden kann, ich rede gar nicht von Wachstum oder so, dann ist nichts Schlimmes zu erwarten.“
…sabiti budut proschodits.

Erzähler: Die Gründe für Prof. Kolganows Gleichmut liegen wie bei Dimitri Diskin und allen anderen nicht im wirtschaftlichen, sondern im politischen Bereich: Er verweist auf die demoralisierte Armee, auf konkurrierende Sicherheitsdienste, auf eine Polizei, die sich von einer kriminellen Regierung mißbraucht fühlt. Das Wichtigste aber sei die Bevölkerung, die nicht bereit sei, sich aus den kollektiven Strukturen zu lösen. Darüberhinaus gebe keine Führer, die eine für eine Mehrheit glaubhafte Alternative zur Regierung formulieren könnten.

O-Ton 20: Pressekonferenz Szuganow        (1,03)
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Atmo Saal, Szuganow spricht…
Als lege sie es darauf an, ihre Angepaßtheit vor aller Augen zu bestätigen, lud die Kommunistische Partei Gennadi Szuganows im April erstmals in ihrer Geschichte per offizieller Pressekonferenz öffentlich zu ihrem bevorstehenden Parteitag ein. Mit Fragen der Parteidemokratie werde man sich befassen, erklärt Szuganow leidenschaftslos. Nichts Sensationelles sei zu erwarten, bekräftigen seine Sekundaten.
Auf die Frage aus der Versammlung, wie die Partei auf die Ankündigung einer neuen Schockwelle seitens der Regierung zu reagieren gedenke, hebt der Parteivorsitzende zunächst mit starken Worten an:

O-Ton 21: Pressekonferenz, Forts.        (1,08)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Szuganow spricht…
Heute habe man es mit dem Versuch zu tun, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Zerstörung Rußlands zuende zu bringen, sagt er. Nachdem er in den nächsten Sätzen Regierung und Gewerkschaften in einem Atemzug als „Taschenträger des internationalen Kapitals“ hingestellt hat, kommt er dann nur noch dahin, seine Hoffnung zu äußern, daß die neue Gruppe der Radikalreformer sich die Zähne ausbeißen möge. Eine nochmalige – ungeduldige – Nachfrage aus dem Saal, welche Maßnahmen die Partei dagegen zu ergreifen gedenke, wiegelt er unwillig mit dem Hinweis ab, man werde sich aller bekannten legalen Mittel bedienen…
…Spassibo, Athmo

Erzähler:
Nicht viel anders im Stabsquartier von Alexander Lebeds und der von ihm gegründeten „Russischen republikanischen Volkspartei“. Wer harte Töne gegen die Regierung erwartet hätte, sähe sich enttäuscht. Nur mit friedlichen Mitteln und über geduldige Öffentlichkeitsarbeit wolle man eine Dritte Kraft, eine gesetzliche Ordnung aufbauen, versichert der Sekretär ein um das andere Mal. Selbst provokatives Nachfragen, wer diese Ordnung durchsetzen solle, wenn die Regierung es nicht wolle, entlockt ihm nicht mehr als die immer noch überaus sanfte Erklärung:

O-Ton 22: Pressebüro von A. Lebed        (0,25)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, snaetje, ne chotjat…
„Was heißt hier: nicht wollen? Man muß eine verläßliche exekutive Vertikale aufbauen, eine normale, mit einer Mannschaft von Leuten, die das Bewußtsein vereint: jeder an seinem Platz. Das ist klar. Dann wird dieser Mechanismus es tatsächlich schaffen die Leute dahin zu bringen nach dem Gesetz zu leben. Wenn du die Gesetze verletzt und wenn das bewiesen wird, dann wirst Du eben zur Verantwortung gezogen.“
…verzieht die Worte

Erzähler:
Am Klarsten brachte ein dritter Opponent die Situation auf den Punkt: Martin Schakkum, einer der in der Präsidentenwahl abgeschlagenen Konkurrenten Boris Jelzins. Mit Versatzstücken aus Sozialismus, Staatstreue und einer gehörigen Portion Eigenliebe leitet er ein „Institut für Reform“. Es beschäftigt sich mit der Ausbildung von Regierungs- und Verwaltungskadern. 1991 stellte es einen großen Teil der von Boris Jelzin neu eingesetzten Adminsitration. Auch viele der heutigen höheren Beamte stammen aus Schakkums „Denkfabrik“, wie er das Institut nennt. Beide Hände reichen ihm nicht, um sie aufzuzählen. Inzwischen aber, so Schakkum, arbeite das Institut nur noch „für die Zeit danach“. Der Regierung sei nicht mehr zu helfen. Ob er gegebenenfalles auch bereit sei, Lebed oder Suganow zu unterstützen? Aber klar, antwortet er, warum nicht?

O-Ton 23: Martin Schakkum            (1,07)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
…jesli on gatow provodits
„Heute geht es um die Frage der Rettung Rußlands, wenn die Politik im Rahmen eines vernüftigen Korridors liegt, obwohl – ich bin praktisch zu allem bereit. Wie soll ich sagen? Der Korridor der Möglichkeiten für eine neue Macht ist so eng, heute besteht die Abhängigkeit vom Westen und die eigenen Reserven Rußlands sind so klein, daß man nicht jede Politik machen kann. Wenn jemand hier einen Kriegskommunismus will oder einen totalitären Staat, dann lassen sie das einfach nicht zu. Sie drehen einfach den Hahn ab, die Bevölkerung Rußlands verhungert und die Macht wird auf der Stelle hinweggefegt. Aber nicht nur das: Darüberhinaus müssen die Führer oder ihre Mannschaften heute diese Gesamtheitlichkeit besitzen, diese mobilisierende Idee. In dem heutigen Rußland, nach all den schrecklichen Verwüstungugen, den blutigen Ausschreitungen und Ausplünderungen, die wir hinter uns haben, muß man für eine gewisse Zeit mit einem mobilisierenden Regime arbeiten.“
…mobilisationem regime.“

Erzähler:

Die mobilisierende Idee ist für Martin Schakkum gleichbedeutend mit der Wiederherstellung eines würdigen Lebens in einem postindustriellen Zeitalter. Was das genau heißt und worin sich diese Vorstellungen von denen der Regierung effektiv unterscheiden, bleibt offen. Sicher ist nur, daß die Einheit des früheren russischen Imperiums irgendwie dazugehört. Daß die Auftritte Gennadi Szuganows, Alexander Lebeds, ebenso wie die Martin Schakkums und ähnlicher politischer Figuren nur die freundlichen Töne eines dahinter möglicherweise aufsteigenden Ungewitters sind, wird unüberhörbar, sobald man auf die Straße hinaustritt.

O-Ton 23: Metro und Roter Platz             (1,53)
Regie: kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, am Ende allmählich, noch einmal frei stehen lassen, dann abblenden

Erzähler:
Ein junger Mann, dem Anschein nach kaum aus der Pubertät heraus, spricht vor einem Haufen Unzufriedener am Platz der Revolution. Er agitiert im Namen der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“. Er beschuldigt den Führrer der KP Rußlands, Gennadi Szuganow, des Verrats. Die wütenden Tiraden des jungen Mannes, ebenso wie die seiner Nachredner lassen den Haß erahnen, der in die Mobilisierungen eingehen könnte, wenn es den Gewerkschaften und selbst noch der Kommunistischen Partei, Alexander Lebed oder Männern wie Martin Schakkum nicht mehr gelingen könnte, die Folgen einer neuen Schockwelle mit ihren Integrationsmechanismen aufzufangen.

Regie: Während des Schlußkommentars hochziehen und dann allmählich ausblenden.

Landreform in Rußland – gescheitert oder modifiziert? (Kurzfassung)

Vorspann:

In Rußland läuft nicht alles so, wie die  Befürworter einer schnellen Reform sich das 1991 gedacht haben. Das gilt vor allem für die Landreform. Die Mißernte des Jahres 1995 war die bisher sichtbarste Warnung. Mit einem Erlaß, der den privaten Landbesitz gestatten soll, machte Boris Jelzin diese Frage im Präsidentenwahlkampf 1996 erneut zum Thema, nachdem die Duma alle früheren Gesetzesakte zur Agrarfrage immer wieder annulliert hatte. Geht es nun wirklich zur Sache? Kai Ehlers zeichnet die Entwicklung seit 1991 nach.

O-Ton 1: Akkordeon auf dem Roten Platz     (045)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler:    Oktober 1992: Tag der Revolution. Die Opposition  sammelt sich zum Marsch auf den Roten Platz. Die Auseinandersetzung um die „Schocktherapie“ der Regierung hat den ersten Höhepunkt erreicht. Im Mittelpunkt steht die ungelöste Bodenfrage. Gegner und Befürworter einer Verfassungsreform, die privaten Landbesitz erlaubt, stehen sich hart gegenüber:

O-Ton 2: Agitator auf dem Roten Platz (…“pri sowjetski wlast“) (055)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach dem Stichwort „Präsident“ noch kurz stehen lassen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:   „Ein Präsident, der Land zum Gegenstand von Schacher macht, verletzt die Verfassung. Kauf und Verkauf von Land ist ein Verbrechen.“

Erzähler:    Bis Ende 1993 will die Regierung alle Kolchosen und Sowchosen in Aktiengesellschaften umwandelt haben. 400.000 private Höfe sollen bis dahin gegründet sein. Grundstücke für Gartennutzung werden umsonst vergeben.  Öffentliche Aufgaben, für die die Dorfgemeinschaften bisher zuständig waren, gehen an die „neue Macht“.
Ende 1992 ist die Mehrzahl der Sowchosen und Kolchosen tatsächlich als Aktiengesellschaft registriert. Für viele blieb die Umbenennung allerdings ein formaler Akt. Hören wir Fjodor Soloteika. Er ist 1992 Vorsitzender der Agrarverwaltung im Bezirk Bolotnoje nahe Nowosibirsk. Damit ist er verantwortlich für die Privatisierung von mehr als 150 Betrieben seines Bezirkes:

O-Ton 3:  Fjodor Soloteika in Bolotnoje       (… Ja tschitaju) (047)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:     „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute  besser vorzubereiten. Offen gesagt, wir haben jetzt zwar schon zwei Aktiengesellschaften eingerichtet, aber viel haben wir da nicht erreicht. Die Leute verstehen das nicht richtig. Ihre Beziehung zur Arbeit ist wie früher. Der Arbeiter sieht nicht, daß das jetzt sein Anteil ist. Er sieht nicht, daß er jetzt Herr ist auf dem Land. Meiner Meinung nach geht das alles zu schnell. Aber was soll man sagen? Anordnung ist Anordnung, die muß man befolgen.“

Erzähler:    „Morskoje“ war eine der ersten Sowchosen, die sich registrieren ließ. Früher eine Mustersowchose gilt sie jetzt als Muster einer Aktiengesellschaft. Sioe hat sogar einen rechenschaftsbericht über ihre Erfahrungen veröffentlicht. Doch ausgerechnet hier prangt über dem Eingang zum Verwaltungsbäude nach wie vor die aus der Sowjetzeit stammende Parole: „Das Leben – ein ökonomisches Experiment!“ und unmißverständlich erklärt der junge Direktor:

O-Ton 4: In der Sowchose Morskoje    (Experiment, Experiment…) (020)

Regie: Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:    „Ja, es ist ein Experiment, sonst nichts. Jede neue Form der Bewirtschaftung ist für uns ein Experiment. Das schließt das Erproben neuer Gesellschaftsformen mit ein, egal welche. Jetzt probieren wir es eben so.“

Erzähler:     In „Morskoje“ wird noch ein weiteres Problem der Privatisierung sichtbar – die soziale Differenzierung: Der frühere Direktor verließ die Sowchose mit seinem Anteil als Erster; es folgten leitende Angestellte, dann qualifizierten Facharbeiter. Dazu kamen noch Städter mit Geld. Die Rest-Sowchose, jetzt AG, blieb für die Versorgung der verbleibenden Mehrheit, gut 1500 Menschen, verantwortlich.
Der Herbst werde zeigen, meint der junge Direktor knapp, ob das neue Experiment etwas bringe. Wenn nicht, werde man es beenden.

O-Ton 5: Privatbauer  (…Hunde, „prochaditje“) (030)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler;      Die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt haben. Der Traktor vor der Tür und der Hund im Hof weisen den Weg zum Privatbauern. Bauer Gorbatski ist stolz auf seine Leistung. Auf die Frage, ob er sich als Bauer fühle, wehrt er jedoch ab:

O-Ton 6: Privatbauer, Forts.  (… Da, Fermer, Lachen) (037)

Regie: Bis zum Lachen stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:   „Naja, Bauer! Bis zum Bauern ist noch weit. Bauer bist Du dann, wenn alles irgendwie zusammenläuft. Jetzt quälen wir uns erst einmal ab.“

Erzähler:   Er klagt über Probleme mit dem Saattrockner. An den kommt er erst heran, wenn das Sowchos-Getreide schon durch ist. Ähnliche Probleme gibt es mit der Verarbeitung der Rüben, dem Transport seiner Milch. Für alles muß er die Sowchosleitung fragen. Sie behindert ihn nicht, unterstützt ihn aber auch nicht. So sind er und die anderen Privaten immer die Letzten. Für den Erwerb seines kleinen Traktors mußte er bis nach Moskau reisen. Die versprochenen Kredite bleiben aus oder sind nur mit großem Aufwand zu beantragen. Die Nachbarn sind mißtrauisch. Hilfe gibt es nur noch gegen Bezahlung.
Seine Frau versucht den schroffen Eindruck etwas zu mildern:

O-Ton 7: Bäuerin   (…Kagda lutsche, interesneje stal…) (045)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin:    „Aber irgendwie wurde das Leben natürlich trotzdem interessanter: Du entscheidest selbst, was morgen ist. Du arbeitest für Deinen eigenen Gewinn. Das ist doch schon eine ziemliche Freiheit. Wir hoffen natürlich, daß auch das Andere besser wird.“

Erzähler:    Bei der Mehrheit der Sowchosniki stößt die Privatisierung auf blanke Ablehung. Die Mähdrescherfahrer etwa, die als besserbezahlte Spezialisten zu den Wunschpartnern der Reformer gehören, lassen daran keinen Zweifel:

O-Ton 8: Mähdrescherfahrer   (…Haha, …) (035)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen

Übersetzer:   „Ach, alles Quatsch! Gaukelei! Wie lange haben sie uns den Sozialismus versprochen! Kommunismus sogar! Und jetzt sollen wir auf einmal Privateigentümer werden. Sofort! Ja, wenn wir Geld hätten! Aber so? Das ist wieder so ein Experiment mit dem Volk. Es dreht sich alles im Kreis, Betrüger allesamt: Chruschtschow, Andropow, Gorbatschow – und jetzt wieder! Wie es bei uns heißt: „Der Fisch stinkt vom Kopf!“

Erzähler:     Selbst unter den Amtsträgern der neuen Regierung überwiegen die kritischen Stimmen. Admistrator Scherer, Bürgermeister des Dorfes Lebjaschewo, ist verantwortlich für die Privatisierung in seinem Dorf. Aus ihm spricht der Praktiker, den die Erfahrung belehrt hat:

O-Ton 9:  Administrator Scherer   (…katastrophitschnaja) (025)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:   „Wir haben eine katastrophale Situation. Die  Sowchosen zerfallen, die Privaten bringen nichts. Die Infrastruktur zerfällt. Die Wege verrotten. Niemand will mehr arbeiten, alle wollen irgendetwas bekommen. So kann man keine Reform machen: Verordnen, aber dann die Mittel nicht geben! Dekrete erlassen, ohne zu sagen, wie sie umgesetzt werden sollen! – Aber so war es immer in Rußland. Es wird abgerissen, bevor aufgebaut wird. Und jetzt steht wieder die typische russische Frage: Was tun? Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es das Ende der Reform sein. Niedergang. Hunger.“

Erzähler     In der Weiterverarbeitung ist es nicht besser.  Besonders deutlich wird das in entlegeneren Gebieten. Edmund Voll, Deutsch-Russe, ist Direktor des „Butter-Käse-Kombinats“ in Gorno-Altai, der sog. sibirischen Schweiz an der Südflanke Sibiriens. Das Kombinat hat das Monopol in einem Einzugsbereich, der halb so groß ist wie Deutschland. Auf die Frage nach der Privatisierung antwortet er:

O-Ton 10: Edmund Voll   (…Chotsche jest) (025)

Regie: Stehen lassen bis zu seiner eigenen deutschen Übersetzung, danach allmählich abblenden

Originaltext:   „Wollen schon, aber können nicht.“

Erzähler:     Bei Edmund Voll wird klar: Das Problem liegt in der Monopolstruktur. Sie hat dazu geführt, daß es in den Dörfern praktisch keine Möglichkeiten der Weiterverarbeitung gibt. Eine Privatisierung würde bedeuten, daß die Milch über Zwischenhändler abgeschlagen werden muß. Die aber drücken die Preise gegenüber den Bauern, dem Kombinat gegenüber treiben sie sie hoch. Die Endprodukte, früher zu festen Kontingenten nach Moskau oder in andere Zentren abgesetzt, müssen dann noch einmal durch die Mühle des Zwischenhandels. Dazu kommen die steigenden Transport- und Materialkosten. Dies alles läßt die Endprodukte so teuer werden, daß sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Importbutter ist billiger.
Einen Ausweg sieht Edmund Voll nur in der Schaffung kleiner Einheiten: Molkereien, Käsereien nach deutschem oder schweizer Muster. Nötig ist seiner Ansicht nach auch die Entwicklung eines eigenen Binnenmarktes in der Region und die Aufnahme eines eigenen Handels mit den Nachbarn. Aber wie? Für das eine fehlt das Geld, für das andere die politischen Mögichkeiten: Nach wie vor läuft noch alles noch über Moskau. So macht man weiter wie bisher – nur unter schwierigeren Bedingungen.
Schon im Herbst `92 ist damit klar, daß die Vorhersagen der Regierung nicht eintreffen werden.

O-Ton 11:  Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk  (…Uwaschaemi Deputati) (115)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:   Ein Jahr danach, Herbst 1993. Vor dem Haus der Sowjets in  Nowosibirsk: Rechte agitieren gegen die Agrarpolitik der Regierung. Die politische Saison wird mit einer Krisensitzung zur Landwirtschaft eröffnet. Statt zu steigen wie versprochen, fiel das landwirtschaftliche Gesamterzeugnis 1992 bei privaten und kollektiven Betrieben insgesamt um 9 Prozent.
Eine besondere Bloßstellung für die Regierung wurde die Kartoffelernte: Der Anteil der Neubauern an ihr lag bei nur einem Prozent. Einen Anstieg fand sie dagegen in Gärten, auf privatem Hofland oder auf den neu verteilten Ackerparzellen vor den Städten. Hier wurden über 80% aller Kartoffeln geerntet. Das zeigt deutlicher als alles andere: Die Bevölkerung ist zur Eigenversorgung übergegangen. Damit wird eine wirtschaftliche Struktur sichtbar, wie sie als Subsistenzwirtschaft bis dahin vor allem aus Ländern der früher sogenannten dritten Welt bekannt war.

O-Ton 12: Im Foyer  (Foyergemurmel, „u nas…“) (104)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:    Drinnen bei den Delegierten ist der Unmut ebenfalls unüberhörbar: Zentrale Subventionen will man sehen, um die Preisschere zwischen landwirtschaftlichen Produkten und Industrieprodukten auszugleichen. Den Spekulanten im Zwischenhandel soll das Handwerk gelegt werden. Ein eigener Zugriff auf das örtliche Budget wird gefordert, um die Kosten der Reformen vor Ort bestreiten zu können, außerdem eine einmalige Unterstützung, um die bevorstehende Ernte einzuholen. Die Vertreter der Regierung greifen alle Forderungen auf – und wenden sie gegen Moskau. Damit ist der Agrarkonflikt, der sich bisher zwischen westorientierter Reform-Bürokratie und den konservativeren Kreisen des obersten Sowjet bewegt hatte, zum Territorial-Konflikt zwischen Moskau und seinen Republiken angewachsen. Die Stimmung auf den Dörfern ist inzwischen auf dem Nullpunkt. Viele Sowchosleitungen sehen sich vor der Alternative, entweder Treibstoff für die Ernemaschiinen zu kaufen oder Löhne auszuzahlen. Im Kontor der Swochose „Sibir“, seit Ende `92 ebenfalls AG, kann man fünf beschäftigungslose Frauen antreffen. Sie verwalten dort, wie sie sagen, nur noch den Mangel. Im Übrigen gilt ihre Hauptsorge dem eigenen Überleben:

O-Ton 13: Kontor Sibir, zwei  (..schiwiom na tsch) (020)

Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin:  „Wir leben von dem, was uns die Nebenwirtschaft ermöglicht. Wir haben eigene Milch, eigenes Brot, eigenes Fleisch. Aber generell gesagt: Wir leben nicht, wir vegetieren. Sogar unser Brot backen wir neuerdings selbst.“

Erzähler:      Hierin sehen die Frauen das schlimmste Zeichen der Krise. Verständlich, wo man sich früher durch eine funktionierende Gemeinschaft versorgt sah, ist nun jeder auf sich selbst angewiesen. Kein Wunder, daß die Frauen zurück wollen: „Zurück zu den Zeiten“, fordert eine,  „als unsere Arbeit noch 150 Rubel wert war.“ „Zurück zum Kollektiv“, ergänzt eine andere, „denn allein wirst Du nichts.“
Den Privaten geht es nicht besser. Den Zustand, auf den sie Ende 1993 heruntergekommen sind, schildert Bauer Wassiljew Pitschennikow. Er war früher Brigadeführer einer Sowchose:

O-Ton 14: Bauer Pitschennikow   (My…) (030)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:   „Wir leben nicht besser, wir arbeiten nur mehr.“

Erzähler:  Bitter klagt er, daß alle versprochenen Hilfen ausgeblieben seien. Die Kredite sind nicht zu bezahlen. Nicht 25%, wie ausgemacht, sondern 72% verlangt die Staatsbank als Rückzahlung. Dazu kommt die Inflation. Dabei stagnieren die Preise für Milch, Butter und andere landwirtschaftliche Produkte, alles übrige steigt steil nach oben. Die notwendigen Maschinen sind unerschwinglich. Er muß sie bei der Sowchose leihen. Er sieht seinen baldigen Bankrott vor Augen.
Warum er unter solchen Umständen nicht aufgebe? Söhnne und Enkel sollen es einmal besser haben, antwortet der Alte. Aber wollen die das? Nur zögernd antwortet er, wobei der breite Konjunktiv seine Unsicherheit deutlicher macht als er selbst es wahrhaben will:

O-Ton 15: Bauer Pitschennikow  (… No, oni bili) (025)

Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Sie wären einverstanden, wenn es eindeutige Gesetze gäbe. Aber die gibt es nicht. Ich verliere ja nichts als Pensionär, aber wenn meinem Sohn alles wieder weggenommen würde, wie es schon so oft geschehen ist. Das wäre schrecklich. Das Schlimmste ist die Unsicherheit. Bei uns ist es ja so: Heute hü und morgen hott. Heute kommt dieses Gesetz, morgen ein anderes. Verstehen Sie? Keine Beständigkeit der Gesetze!“

Erzähler:     Die Unsicherheit macht selbst den Administratoren zu schaffen. Viele haben inzwischen kapituliert und sind zu alten Methoden zurückgekehrt. In Nowobibejewo, einer Waldarbeitersiedlung mit ca. 7.000 Seelen gleich neben der ehemaligen Sowchose „Sibir“ ist der Administrator ein junger Mann von vielleicht 30 Jahren. Er ist  zugleich Vorsitzender des örtlichen Sowjet.
Nicht eins der vielen Dekrete werde in den Dörfern umgesetzt, erklärt er. Entschuldigend weist er auf zwei gut ellenbogenhohe Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch: Rechts die Erlasse Jelzins, links die des obersten Sowjet:

O-Ton 16: Nowobibejewo, örtl. Macht (…Nje tolko) (038)

Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:      „Nicht nur, daß man sie nicht umsetzen kann – man schafft es ja nicht einmal sie alle zu lesen.“

Erzähler:     Völlig undurchsichtig für die örtliche Basis sind die Finanzen. Die Profite, die im Dorf gemacht  werden, entziehen sich der Kontrolle der „neuen Macht“. In Nowobibejewo gilt das vor allem für die Frage, wieviel Holz im Wald geschlagen und verkauft wird. Früher wurde das genau überwacht, jetzt herrscht Raubbau. Die Gewinne werden privatisiert, die sozialen Aufgaben schiebt man der Verwaltung zu. So fordert auch der junge Administrator: Mehr Rechte! Zugriff auf das örtliche Budget! Kontrolle der wilden Privatisierung und transparente Entscheidungen von oben!

Von „Oben“ war im Herbst 1993 allerdings nichts zu erwarten: Zwar hatte Präsident Jelzin eigens eine neue Behörde geschaffen, einzig um die Umsetzung präsidialer Dekrete zu kontrollieren. In der Nowosibirsker Zentrale dieser Behörde waren von deren Sekretärin, Frau Nikolajewna, aber nur Rechtfertigungen zu hören:

O-Ton 17:Im Kontroll-Apparat des Präsidenten  (…sakoni jest) (037)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin:    „Im Prinzip haben wir gute Gesetze. Eine andere Sache ist deren Umsetzung zu prüfen! In diesem weiten Land! Sie verstehen?! Das ist einfach nicht möglich. Das heißt in der Konsequenz: Die Leute, die bisher an der Macht waren, sind es auch heute. Es ist ein Clan – die einfachen Arbeiter, erst recht das Dorf bleiben da außenvor. Die müssen allein zurechtkommen.“

O-Ton 18:    Versammlung zur Selbstverwaltung   (Uwaschaemi tawarischi…) (110)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     Wieder ein Jahr weiter; Herbst 1994; wieder große Regionalversammlung in Nowosibirsk; die politische Szene hat sich erheblich verändert: Präsident Jelzin hat sich mit Gewalt gegen den obersten Sowjet durchgesetzt. Es gibt eine neue Verfassung, die das Recht auf Privateigentum garantiert. Die Bodenfrage ist allerdings nach wie vor nicht entschieden und nach der landesweiten Auflösung der Sowjets ist die Lage in den Dörfern eher verworrener geworden. Niemand weiß mehr, welche Kompetenzen wo gelten. Die offiziellen Stellen versuchen, die Unzufriedenheit mit einer Kampagne für örtliche Selbstverwaltung zu kanalisieren. Aber die Skepsis der Basis ist unüberhörbar:

Ton 19: Im Foyer    (Foyer…) (037)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin: „Das Problem ist: Nach der Auflösung des obersten Sowjet im Oktober 1993 haben viele Spezialisten die Verwaltung verlassen. Das bedeutet: Diejenigen, die die sich auskennen, sind gegangen. Und dann die Finanzen! Die Vorschläge zur Selbstverwaltung sind gut, aber die konkrete Hilfe ist gleich Null. Es wird schwierig werden – es bleibt nur zu hoffen. Ohne Hoffnung kann der Mensch ja nicht leben.“

Erzähler:   Im gewerkschaftlichen Bauernverband will man sich mit der Kampagne gar nicht erst aufhalten. Sekretär Alexander Lewaschow entwirft ein düsteres Bild:

O-Ton 20: Gewerkschaft, Bauernverband   (…Da, primerna…) (040)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegt halten, während des Erzählers allmählich abblenden,

Übersetzer:   „Ungefähr 20 Prozent der früheren Sowchosen und Kolchosen – jetzt Aktiengesellschaften – arbeiten heute normal, ohne Probleme, haben eine stabile Arbeit. Unter `normal` verstehe ich, daß sie zwar auch subventioniert werden müssen, aber doch irgendwie mit der Marktwirtschaft durchkommen werden. Der Rest, 80 Prozent, ist in der Krise. Wohin sie sie morgen gehen, ob sie aufgeteilt werden, ob sie überhaupt nicht interessant sind für eine Privatisierung oder ob sie einfach Bankrott gehen oder wie immer, das weiß Gott allein. Wir brauchen staatliche Unterstützung. Ohne das werden die Betriebe nicht überleben.“

Erzähler:   Statt Unterstützung zu erhalten, wurden die Landwirte auch noch besteuert, in manchen Gegenden bis zu 60%. Unter solchen bedingungen überholte die Entwicklung noch die Befürchtungen: Bereits Ende 1994 war die Mehrheit der Sowchosen zahlungsunfähig; die Zahl der privaten Betriebe stagnierte bei 270.000, Tendenz fallend. Pro Jahr geben seitdem mehr als 20.000 Privatbauern auf. Der Gesamtertrag im Agrarsektor fiel 1994 um sieben, die Getreideernte sogar um 18 Prozent. 1995 fiel die Gesamtproduktion um weitere 12%; die Getreideernte lag mit 60 Millionen Tonnen noch einmal um ein viertel niedriger als 1994 und erreichte damit den Tiefststand seit dreißig Jahren. 1996 setzte sich die Abwärtsbewegung weiter fort. Das böse Wort vom „landwirtschaftlichen Gulag“ machte die Runde.

Erzähler:  Gennadij Schadrin, Radiojournalist, seinem Selbstverständnis nach ökologischer Patriot, ebenfalls Mitglied der Bauernpartei, bringt die unterschiedlichsten Kritiken auf einen einfachen Punkt:

O-Ton 21:  Gennadij Schadrin   (… w nasche)
Regie: kurz stehen lassen,unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „In unserer Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“   …blago swjex

Erzähler:    Vorstellungen dieser Art waren es, die dem von der Duma 1994 verabschiedeten, 1995 noch einmal bekräftigten Agrarkodex zugrundelagen. Darin wurde die Vergabe von Land davon abhängig gemacht, ob es landwirtschaftlich genutzt werde. Dagegen hat Boris Jelzin jetzt seine neuerlichen Erlasse gesetzt. Anders als die Praktiker vor Ort will er den Grund für die Krise der Agrarreform offenbar darin sehen, daß die Privatisierung nicht entschieden genug vorangetrieben worden sei. Ob die neue Verordnung diesmal mehr als das Papier wert ist, auf dem sie veröffentlicht wurde, wird sich zeigen. Zunächst hat sie vor allem erst einmal polarisierenden Charakter.

gesendet im : Bayerischen Rundfunk,  Schulfunk

Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz (Kurzfassung)

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des Internationalen Währungsfonds.
Unser Autor hat sich im Lande umgeschaut, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe    0,53

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet dieder Ort den Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen eines Bezirks von der Größe Schleswig Holsteins. Die nächst größere Stadt ist Nowosibirsk, gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihre Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Probleme finanzirowannije…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema.“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Leherin: „Nu Trudnosti un nas… “

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf am Ende des Erzählertextes hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Bücher selbst zu interpretieren, wenn keine neuen zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern  der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am meisten Sorgen macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Sie gehen lieber in die örtliche Videothek, betreiben ein „kleines Busyness“ oder gammeln einfach herum. Nur disziplinarische Mittel halten sie noch in der Schule, obwohl es dort doch eigentlich ganz gemütlich sei, lacht sie, oder nicht?
…ujutna“, Lachen

Regie: hier bei Bedarf hochziehen, abblenden

Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kursi…“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standdarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
…sebe prinimajem.“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bhedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchternes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

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(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
…nu tejelo!

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, stoßen wir schließlich noch auf ein weiteres Problem:

O-Ton 6:                0,17
„Utschitelei mala…

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(nach Bedarf am Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins „busyness“, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann.“
… moschno bolsche sarabotats.“

Erzähler:     Wie in Ordinsk, so ist es in anderen Orten. In einer Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien.  Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 7: Maria Solochow        0,42
„Vot, nu w etom godu…

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(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer Arbeit dort hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
…kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus betreiben kann.
Daß die so Verbleibenden vor allem ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 8: Maria Solocha, 2    0,25
„No, wot wi snaetje…

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(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
…nje saprischajut.“

Erzähler:    Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es noch die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, örtliche Betriebe, manchmal ein einziger. In manchen Städten wie in Borodino trug ein einziges Unternehmen auch sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur bedeutete für viele dieser Institutionen das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus eines örtlichen Industriegiganten. 1500 Kinder für 30.000 Beschäftigte wurden hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, befragt, was sich durch die neue Zeit verändert habe, erzählt:

O-Ton 9: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…

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(nach Bedarf nach Übersetzer hochziehen, danach abblenden)

Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt, wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik! Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
…schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Ohne Wassiljew säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft des Ortes ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Lange aber kann das nicht so weitergehen, dann  muß auch dieses Haus geschlossen werden. Eine Alternative gibt es nicht.
Die Auswirkungen solcher Verhältnisse treffen zunächst vor allem die Familie. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Beobachter der Ruhr-Universität Köln haben die wenigen Daten, die bisher durch die russische Presse gingen, zusammengefaßt. Sie sprechen eine deutliche Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht.
20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme einschließlich „abweichenden Verhaltens“ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt. Die steigende Zahl von Selbstmorden  auch unter Jugendlichen ist ein Ausdruck davon. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.“

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise. Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten stolzer Festtag zu Beginn eines jeden Schuljahres. An diesem Tag wurde der unbestreitbaren Erfolge der sowjetischen Bildungspolitik gedacht wie der Überwindung des Analphabetismus, der wissenschaftlichen Leistungen in der raumfahrt und dergl. Auch heut ist dieser tag noch ein offizieller Feiertag. Inzwischen ist aber gerade er für viele zum Protesttag geworden. Selbst in braven Provinzstädten wie Tscheboksary an der Wolga ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen, die sich mit Alkohol künstlich bei Laune halten. Sie machen kein Hehl daraus, was sie von der Bildungspolitik der Regierung halten:

O-Ton 10: Jugendliche in Tscheboksary    0,48
Junger Mann: „Djen snannje?…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
hochziehen

Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ erklären sie. „Der Tag des Wissens“, spottet einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
…ich…
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ fährt er fort, „aber jetzt? Jetzt mußt du Bester sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein anderer, „aber es gibt keine Plätze. Selbst als bester kriegst Du nichts. Sie lassen nur 30 % zu. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
…prawilno!“

Erzähler:     Professor Oleg Melnikow kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in Nowosibirsk. Die Stadt bildet eines der wissenschaftlichen Zentren der russischen Föderation.
Mit Recht, findet der Professor, empören sich die jungen Leute über das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 11: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzer hochziehen, danach abblenden)

Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Nur die Besten wurden angenommen. War man auf einem Institut, bestand man dort die Prüfungen, hatte man seine Zukunft entschieden.
Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung überzugehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes nahmen, wie auch immer über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind und außerdem schon seit Monaten nicht gezahlt werden. „Die Besten“, so der Professor, „gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.“
Auch die Zahl der Studenten sank. Erst seit 1995 stieg sie wieder. Warum?

O-Ton 12: Prof. Oleg Melnikow, II    0,43
„Konkurs povecelis dwe pritschin…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzer Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschtschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     An der Universität ist es nicht besser. Von Pjotr Reschetka, dem Vorsitzenden des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“, kann man folgende Rechnung hören:

O-Ton 13: Pjotr Reschetka    0,19
„I posle..

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Übersetzer:     „Wenn junge Leute eine Ausbildung bekommen, dann bilden sie keine Banden. Sie als Verbrecher ins Gefängnis ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…scholje i institutje.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist die Realität, die er dann schildert, endgültig deren Scheitern: Kompetenzwirrwarr und Finanzmangel behindert Forschung und Lehre. Nach wie vor wird in Moskau entschieden. Die Regionen treten auf der Stelle.
Seit 1992 gehen die Ausgaben des Staatshaushaltes für den Bildungsbereich zurück. Lehrergehälter und Stipendien werden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, sodaß ein Teil der Lehrkräfte und Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums lebt. Spezialisten wandern nach Westen ab, 4000 allein aus Nowosibirsk. Die zurückbleibenden müssen sogar um ihren Wohnplatz fürchten, nachdem der Staat die früheren Dienstwohnungen zur Privatisierung freiegegeben hat.

Ein besonderes Problem ergibt sich aus der nationalen Vielfalt des Landes. Die Reformer sind sich dieses Problems bewußt:
So schreibt der stellvertretende Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, Wladimir Schadrikow, also ein Vorgesetzter des Nowosibirsker Professors:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer `sowjetischen´ bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Die neue Verfassung garantiert auch den Gebrauch der Muttersprache. Die großen ethnisch bestimmten Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien haben begonnen,  auf dieser Grundlage eine autonome zweisprachige Bildungspolitik zu entwickeln. Schon bei ihnen fehlt es allerdings an den notwendigen Mitteln. In  kleineren autonomen Gebieten bleiben ähnliche Versuche von vornherein Initiativen auf dem Papier.
So etwa in Dudinka hoch im Norden am Eismeer. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen, von denen der autonome Kreis seinen Namen ableitet. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 14: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…

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Übersetzerin:     „Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine davon kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch das Sprachprogramm zeigt: Was als Reform begonnen hat, droht sich in sein Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon zitierte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen daher bereits 1994 zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschtschenien hat diese Tendenz seitdem erheblich verschärft. Faktisch ist der Abbau der vom Internationalen Währungsfond dignostizierten Überqualikation schon lange eingeleitet.

O-Ton 15: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle…

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Mächtig schlägt sich die neue Zeit aber auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.
Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten, in dessen Hallen hier allerdings zum Ausgleich reichlich Topfpflanzen aufgestellt sind.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 16: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…

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Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
…Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 17: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagigi bedni, no ani…

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Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes. Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandars reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 18: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…

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Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
…eta bolschaja Problemea!“

O-Ton 19: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

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Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer eine dieser Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 20:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, auch Beziehungen; Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Häufig gelingt das nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 21: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna..

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Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje iswestna, schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNe“, welche die härtesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit den Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen ihre Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des Internationalen Währungsfonds.
Unser Autor hat sich im Lande umgeschaut, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe    0,53

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet dieder Ort den Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen eines Bezirks von der Größe Schleswig Holsteins. Die nächst größere Stadt ist Nowosibirsk, gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihre Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Probleme finanzirowannije…

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Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema.“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Leherin: „Nu Trudnosti un nas… „

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Bücher selbst zu interpretieren, wenn keine neuen zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern  der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am meisten Sorgen macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Sie gehen lieber in die örtliche Videothek, betreiben ein „kleines Busyness“ oder gammeln einfach herum. Nur disziplinarische Mittel halten sie noch in der Schule, obwohl es dort doch eigentlich ganz gemütlich sei, lacht sie, oder nicht?
…ujutna“, Lachen

Regie: hier bei Bedarf hochziehen, abblenden

Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kursi…“

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Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standdarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
…sebe prinimajem.“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bhedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchternes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

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Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
…nu tejelo!

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, stoßen wir schließlich noch auf ein weiteres Problem:

O-Ton 6:                0,17
„Utschitelei mala…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf am Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins „busyness“, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann.“
… moschno bolsche sarabotats.“

Erzähler:     Wie in Ordinsk, so ist es in anderen Orten. In einer Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien.  Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 7: Maria Solochow        0,42
„Vot, nu w etom godu…

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Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer Arbeit dort hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
…kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus betreiben kann.
Daß die so Verbleibenden vor allem ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 8: Maria Solocha, 2    0,25
„No, wot wi snaetje…

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Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
…nje saprischajut.“

Erzähler:    Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es noch die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, örtliche Betriebe, manchmal ein einziger. In manchen Städten wie in Borodino trug ein einziges Unternehmen auch sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur bedeutete für viele dieser Institutionen das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus eines örtlichen Industriegiganten. 1500 Kinder für 30.000 Beschäftigte wurden hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, befragt, was sich durch die neue Zeit verändert habe, erzählt:

O-Ton 9: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…

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Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt, wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik! Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
…schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Ohne Wassiljew säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft des Ortes ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Lange aber kann das nicht so weitergehen, dann  muß auch dieses Haus geschlossen werden. Eine Alternative gibt es nicht.
Die Auswirkungen solcher Verhältnisse treffen zunächst vor allem die Familie. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Beobachter der Ruhr-Universität Köln haben die wenigen Daten, die bisher durch die russische Presse gingen, zusammengefaßt. Sie sprechen eine deutliche Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht.
20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme einschließlich „abweichenden Verhaltens“ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt. Die steigende Zahl von Selbstmorden  auch unter Jugendlichen ist ein Ausdruck davon. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.“

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise. Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten stolzer Festtag zu Beginn eines jeden Schuljahres. An diesem Tag wurde der unbestreitbaren Erfolge der sowjetischen Bildungspolitik gedacht wie der Überwindung des Analphabetismus, der wissenschaftlichen Leistungen in der raumfahrt und dergl. Auch heut ist dieser tag noch ein offizieller Feiertag. Inzwischen ist aber gerade er für viele zum Protesttag geworden. Selbst in braven Provinzstädten wie Tscheboksary an der Wolga ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen, die sich mit Alkohol künstlich bei Laune halten. Sie machen kein Hehl daraus, was sie von der Bildungspolitik der Regierung halten:

O-Ton 10: Jugendliche in Tscheboksary    0,48
Junger Mann: „Djen snannje?…

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Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ erklären sie. „Der Tag des Wissens“, spottet einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
…ich…
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ fährt er fort, „aber jetzt? Jetzt mußt du Bester sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein anderer, „aber es gibt keine Plätze. Selbst als bester kriegst Du nichts. Sie lassen nur 30 % zu. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
…prawilno!“

Erzähler:     Professor Oleg Melnikow kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in Nowosibirsk. Die Stadt bildet eines der wissenschaftlichen Zentren der russischen Föderation.
Mit Recht, findet der Professor, empören sich die jungen Leute über das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 11: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…

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Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Nur die Besten wurden angenommen. War man auf einem Institut, bestand man dort die Prüfungen, hatte man seine Zukunft entschieden.
Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung überzugehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes nahmen, wie auch immer über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind und außerdem schon seit Monaten nicht gezahlt werden. „Die Besten“, so der Professor, „gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.“
Auch die Zahl der Studenten sank. Erst seit 1995 stieg sie wieder. Warum?

O-Ton 12: Prof. Oleg Melnikow, II    0,43
„Konkurs povecelis dwe pritschin…

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Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschtschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     An der Universität ist es nicht besser. Von Pjotr Reschetka, dem Vorsitzenden des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“, kann man folgende Rechnung hören:

O-Ton 13: Pjotr Reschetka    0,19
„I posle..

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Übersetzer:     „Wenn junge Leute eine Ausbildung bekommen, dann bilden sie keine Banden. Sie als Verbrecher ins Gefängnis ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…scholje i institutje.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist die Realität, die er dann schildert, endgültig deren Scheitern: Kompetenzwirrwarr und Finanzmangel behindert Forschung und Lehre. Nach wie vor wird in Moskau entschieden. Die Regionen treten auf der Stelle.
Seit 1992 gehen die Ausgaben des Staatshaushaltes für den Bildungsbereich zurück. Lehrergehälter und Stipendien werden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, sodaß ein Teil der Lehrkräfte und Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums lebt. Spezialisten wandern nach Westen ab, 4000 allein aus Nowosibirsk. Die zurückbleibenden müssen sogar um ihren Wohnplatz fürchten, nachdem der Staat die früheren Dienstwohnungen zur Privatisierung freiegegeben hat.

Ein besonderes Problem ergibt sich aus der nationalen Vielfalt des Landes. Die Reformer sind sich dieses Problems bewußt:
So schreibt der stellvertretende Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, Wladimir Schadrikow, also ein Vorgesetzter des Nowosibirsker Professors:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer `sowjetischen´ bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Die neue Verfassung garantiert auch den Gebrauch der Muttersprache. Die großen ethnisch bestimmten Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien haben begonnen,  auf dieser Grundlage eine autonome zweisprachige Bildungspolitik zu entwickeln. Schon bei ihnen fehlt es allerdings an den notwendigen Mitteln. In  kleineren autonomen Gebieten bleiben ähnliche Versuche von vornherein Initiativen auf dem Papier.
So etwa in Dudinka hoch im Norden am Eismeer. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen, von denen der autonome Kreis seinen Namen ableitet. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 14: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…

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Übersetzerin:     „Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine davon kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch das Sprachprogramm zeigt: Was als Reform begonnen hat, droht sich in sein Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon zitierte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen daher bereits 1994 zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschtschenien hat diese Tendenz seitdem erheblich verschärft. Faktisch ist der Abbau der vom Internationalen Währungsfond dignostizierten Überqualikation schon lange eingeleitet.

O-Ton 15: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle…

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Mächtig schlägt sich die neue Zeit aber auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.
Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten, in dessen Hallen hier allerdings zum Ausgleich reichlich Topfpflanzen aufgestellt sind.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 16: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…

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Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
…Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 17: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagigi bedni, no ani…

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Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes. Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandars reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 18: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…

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Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
…eta bolschaja Problemea!“

O-Ton 19: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

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Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer eine dieser Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 20:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…

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Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, auch Beziehungen; Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Häufig gelingt das nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 21: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna..

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Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje iswestna, schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNe“, welche die härtesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit den Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen ihre Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des „Internationalen Währungsfonds“.
Unser Autor untersucht, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe     0,53

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Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit seinen 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet Ordinsk den amtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen, die in einem Gebiet von der Größe Schlesig Holsteins leben. Von der nächst größeren Stadt, Nowosibirsk, ist Ordinsk gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihr Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Problemi finanzirowannij…

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Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Lehrerin: „Nu Trudnosti u nas…

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Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide,, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Für neue Schulbücher reicht es nicht. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Texte selbst zu interpretieren, wenn keine neuen Bücher zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am Meisten Sorge macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Nach zwei, drei Jahren, endgültig aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Viele der Dreizehn- bis Vierzehnjährigen können nur noch mit disziplinarischen Mitteln in der Schule gehalten werden.
Warum das so sei?
Auf diese Frage zuckt die Lehrerin hilflos mit den Schultern: Vielleicht weil die Fächer schwieriger wüeden? Vielleicht aber auch, weil viele der Kinder lieber in die örtliche Videothek gehen, ein „kleines Busyness“ betreiben oder einfach herumgammeln.
…ujutna“, Lachen
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Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin, II        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kurse…

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Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
..sebe prinimaem“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bjedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule aber nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchterndes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin, III        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

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Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung schaffen wir ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
… nu, tejelo!“

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, eröffnet sie mir ein weiteres Problem:

O-Ton 6: Direktorin, IV            0,56
„Utschitelei mala…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins `busyness´, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann. Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. In unserem Land ist die Erziehung überhaupt Frauensache, zu Haus, im Kindergarten, in der Schule. Die Männer verdienen Geld für die Familie. Die Frauen kümmern sich, auch wenn sie arbeiten, abends noch um den Haushalt und die Kinder. Wenn es die Mutter nicht macht, macht es die Oma. So ergibt es sich, daß die Erziehung der neuen Generation ganz in den Händen der Frauen liegt.“
…vospitiwajut nowi pakalennije“

Erzähler:     Wie in der „Schule 2“, so sieht es auch in den anderen Schulen des Ortes aus: Die Lehrerschaft wurschtelt sich durch. Die Eltern sind froh, überhaupt eine Schule zu haben. „In anderen Orten mußten Schulen bereits geschlossen werden“, meint die junge Bibliothekarin des Ortes, die mich zur Schule geführt hat. Sie hat selbst zwei  Mädchen im schulplichtigen Alter.
Auf die Frage nach den Möglichkeiten der Weiterbildung antwortet sie:

O-Ton 7: Mutter in Ordinsk    0,24
„A, nu da..“; Frage von mir; Lachen: „Nu, ja nje snaju, u nas njet tagowo…

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Nein, ich weiß nicht. Wir haben hier solche Möglichkeiten nicht. Hier heißt es nur einfach: Schule! Da gehst Du hin und fertig, ob du willst oder nicht. Wir haben hier nicht diese Möglichkeiten wie in großen Städten, wie in Nowosibirsk, wo jetzt Colleges eröffnet werden und alle möglichen speziellen Richtungen. Nein, sowas gibt es hier nicht. Bei uns gibt es noch die Musikschule und das war´s dann.“
…musikalnaja schola i swjo“

Erzähler:     Ja, eine Krise müsse man das schon nennen, findet sie. Aber wen wundere das bei der allgemeinen Krise des Landes? Darüber möchte sie schon gar nicht mehr reden. Alles ist so schwer geworden! Man kämpft sich durch! Lieber erzählt sie, wie sie und ihre Kolleginnen der örtlichen Bibliothek, auch alles Frauen, der abnehmenden Leselust der Ordinsker mit neuen Literaturangeboten zu begegnen versuchen. Auch das ist schwierig, denn die Leute haben anderes als Lesen im Sinne: Überleben!

So wie in Ordinsk, so ist es auch an anderen Orten. Die Krise ist unübersehbar. In einer ersten und zugleich der bisher letzten öffentlich zugänglichen Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: Den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien. Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin, verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 8: Maria Solocha        0,42
„Vot, nu w etom godu…

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Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer dort Arbeit hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
… kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Von oben zog sich der Staat, von unten zogen sich die nunmehr privatisierten Betriebe aus ihren sozialen und bildungspolitischen Verpflichtungen. Sie wurden durch Steuern ersetzt, die oft nicht gezahlt werden und von denen ein großer Teil zudem noch nach Moskau abgeführt werden muß. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus der dort Angestellten und Zuwendungen einiger einsichtiger Sponsoren betreiben kann. Daß die so Verbleibenden nach Lage der Dinge nicht nur Enthusiasten, sondern vor allem auch ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 9: Maria Solocha, II    0,25
„No, wot wi snaetje…

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Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
… nje sprischajut.“

Erzähler:     Statistisch ist nicht ausgewiesen, wieviele Pensionäre, vor allem in kleineren und mittleren Städten des Landes sowie in den Dörfern auf diese Weise im Beruf gehalten werden. Der von ihnen ausgehende konservative Einfluß unterliegt aber wohl keinem Zweifel.

Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen früher die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, mehrere örtliche Betriebe, manchmal auch nur ein einziger. In manchen Städten, wie in Borodino, unterhielt ein einziges Unternehmen sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur und der Übergang von kostenloser Rundum-Versorgung auf ein selbstfinanziertes Angebot offenem Markt bedeutete für viele dieser Institutionen bereits das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus der früheren Leninwerke. Das ist ein ehemaliger sowjetischer Musterbetrieb der Schwerindustrie, 1965 gegründet, 30.000 Beschäftigte. 1500 Kinder wurden seinerzeit hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, ein quirliger Mittvierziger, ist selbst hier aufgewachsen. Befragt, was sich durch die neue Zeit geändert habe, erzählt er:

O-Ton 10: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…“

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Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik. Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
..schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Die neueste Errungenschaft seines Hauses ist die Einrichtung einer „Schule der Auferstehung Marias“. Sie soll den Kindern das entstandene ideologische Vacuum durch Beschäftigung mit den Werten echter russischer Kultur ersetzen.
Ohne Wassiljew und seine Truppe säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Selbst das zentrale „Kulturhaus“ der Stadt, früher ebenfalls von der Gewerkschaft getragen, bezieht Impulse von ihm.
Lange aber kann das nicht so weitergehen. Schon jetzt fehlt es an allen Ecken. Wassiljew kann seine Mitarbeiterinnen, auch hier fast nur Frauen, nicht mehr bezahlen. Die Kinder, die oft nur noch beschäftigt werden können, wenden sich attraktiveren Akltivitäten, nicht zuletzt dem „kleinen busyness“ zu.
Wassiljew klagt bereits über abnehmende Gesundheit. Irgendwann wird er zusammenbrechen. Dann muß das Haus geschlossen werden. Ein anderer wird diese Arbeit, von der man nicht einmal die Familie ernähren kann, nicht übernehmen. Eine Alternative gibt es nicht.

O-Ton 11: Kinderhaus in Dudinka    1,29
Kinderhaus, Kinderstimmen…

Regie: langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

An anderen Orten ist die neue Zeit scheinbar spurlos vorbeigegangen.
So an Dudinka hoch im Norden an der Mündung des Jenessei, wo die Sonne im Sommer nicht unter, im Winter dafür aber auch nie richtig aufgeht.
Dudinka ist die Hauptstadt eines autonomen Kreises, der seinen Namen von den dortigen Ureinwohnern der Nenzen bekommen hat. Gut 45.000 Menschen leben in diesem Gebiet.
Hier im zentralen Kinderhaus der Stadt liegt noch alles fest in einer Hand. Die Kinder kommen soeben vom Essen in der Schule. Jetzt werden sie den Nachmittag hier verbringen, musizieren, basteln oder auch Exkursionen machen, um die Gegend kennenzulernen. Fünf Gruppen gibt es von je 25 Kindern. Alles ist kostenlos, selbstverständlich. Das Kinderhaus ist gleichzeitig Kulturzentrum.
Hier wird die neue Zeit vor allem als Problem wahrgenommen. Auf die Frage, ob sich die Kinder verändert hätten, antwortet eine der dort tätigen jungen Frauen:

O-Ton 12: Kindergärtnerin in Dudinka    0,29
„Da, otschen drugije…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Ja, sie sind sehr anders. Ich beurteile das natürlich nur nach mir selbst. – Wir waren gutmütiger, denke ich. Heut haben sie irgendwie eher Geld im Kopf. Ich habe auch selbst noch zwei Kinder. Von all dem weiß ich, daß ich mehr gelesen habe. Heut wollen sie vor allem Videos.“
… bolsche widiki!

Erzähler:     Im Kinderhaus von Dudinka gilt noch die Pionierordnung: Betten in Reih und Glied, Antreten zur Mittagsruhe, gemeinsamer Abmarsch. Die Veränderungen der letzten zehn Jahre, Sowjetunion, Perestroika und anderes sind hier kein Thema. Wofür auch, meint die junge Frau, mit ihr habe auch keiner geredet. Altes Denken und neue Gleichgültigkeit gehen hier direkt ineinander über.
Verwahrlosung auf der einen, Bevormundung auf der anderen Seite, häufig, wie hier in Dudinka, fatal miteinander verquickt, sind die beiden extremen Folgen der Entstaatlichung der vor- und außerschulischen Bildungspolitik.
Die Auswirkungen treffen zunächst vor allem die Familie und in der Familie wiederum die Mütter, bzw. Großmütter, die Babuschkas. Rußland erlebt eine Renaissance der Großmütter. Sie kümmern sich um die Versorgung des Haushaltes, der Datscha und der Enkelkinder.
Viele Frauen werden heute unfreiwillig in diese Rolle zurückgedrängt. Eine Babuschka, die diese Rolle im Alter von zweiundfünzig Jahren freiwillig übernahm, begründet ihren Schritt so:

O-Ton 13: Babuschka        0,38
„Ja ponimaju, schto ja…“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ich sehe, daß sie mich brauchen. So haben sie ausreichend Zeit für ihre Angelegenheiten, für ihre Arbeit. Wenn es mich bei ihnen nicht gäbe, müßten sie ganz anders arbeiten. Ich weiß überhaupt nicht, wie das gehen sollte. Da wären sie gezwungen, einzeln irgendwohin zu gehen, der eine mit den Kindern, die andere irgendwohin. Jetzt ist es so: Ich sitze bei den Kindern und sie sind frei.“
…ani swabodni.“

Erzähler:     Glücklich die Familie, die eine solche Babuschka hat, vielleicht sogar zwei. Viele Familien aber, zumal wenn es keine Babuschka gibt, werden unter den Anforderungen des heutigen Überlebenskampfes zerrieben, sodaß sie keine Kraft mehr finden, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Arbeitsgruppen der Ruhr-Universtät Köln haben die wenigen Daten, die immer wieder durch die russische Presse gingen, in ihrem „Halbjahresbericht zur Bildungspolitik in Rußland“ zusammengefaßt. Diese Daten sprechen eine erschreckende Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht. 20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme, einschließlich `abweichenden Verhaltens´ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt.“

Erzähler:    Das „Sich vernachlässigt-Fühlen“, fahren die Kölner Beobachter fort, ist nach Ansicht russischer Psychiater die Hauptursache für die steigende Zahl von Selbstmorden und Selbstmordversuchen nicht nur unter Erwachsenen, sondern auch unter Jugendlichen. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.
Ganz zu schweigen davon, eine Entlastung für die krisengeschüttelte Schule zu sein, ist das staatliche Fürsorgesystem selbst in einer tiefen Krise.
Drastisch beschreiben russische Praktiker die Lage, so Iwan Mitrofan, Dozent an der pädagogischen Hochschule von Tscheboksary an der Wolga:

O-Ton 14: Iwan Mitrofan, Dozent für Päadagogik    1,55
Deutscher Originaltext

Regie: Ganz durchlaufen lassen

„Die Pädagogik steht nicht isoliert unter anderen Wissenschaften und anderen Wissensbereichen. Die Erfolge auf dem Gebiet der Pädagogik hängen nicht nur von diesem engen Bereich ab, sondern auch davon, wie es oben organisiert ist. Ich habe oft daran gedacht: Pädagogik, ja, Wissenschaft! Aber gibt es Bildung unter den Tieren? Es gibt doch die Füchse und ihre Kinder, die Wölfe und ihre Kinder, die anderen, ja? Sie sind andres, verschieden unterrichtet sozusagen. Aber wie? Sie ahmen die Eltern nach. Das heißt, die Eltern machen es so und die Tierkinder machen ebenso. Aber bei den Menschen kommt etwas anderes vor: Die Erzieher, nun, erziehen bei den Schülern solche Eigenschaften und wollen erziehen, aber sie machen das nicht. Um es in der Erziehungssache besser zu machen, müssen alle von der Lebenstreppe sehr gewissenhaft und anständig sein, ja.“
…lacht

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise.
Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten ein stolzer Feststag zu Beginn eines jeden Schuljahres. Unbestreitbare Leistungen des sowjetischen Bildungssystenms standen in seinem Mittelpunkt wie die Überwindung des 60prozentigen Analphabetismus der vorrevolutionären Zeit durch die allgemeine Volksbildung, wie der Durchbruch zur wissenschaftlichen Führungsmacht mit dem Spart des ersten Weltraumsatelliten.
Auch heute ist der „Tag des Wissens“ noch offizieller Feiertag. Für viele ist aber gerade dieser Tag inzwischen zum Protesttag geworden.
Selbst in braven Provinzstädten wie dem Tschboksary des soeben zitierten Hochschuldozenten Mitrofan ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen. Sie halten sich mit  Alkohol künstlich bei Laune und machen kein Hehl aus ihrem Unmut:

O-Ton 15: Jugendliche in Tschboksary            1,33
Junger Mann: „Djen snannje?…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende wieder hochziehen, abblenden

Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ witzeln sie.
„Der Tag des Wissens“, meint einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ meint ein anderer, „aber jetzt? Jetzt mußt du der Beste sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein Dritter: „Aber es gibt keine Plätze. Selbst als Bester kriegst du nichts. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
„Genau, sie haben es so organisiert, daß 30% keinen Platz kriegen“, ruft ein weiterer: „Ich zum Beispiel falle unter diese 30%, obwohl ich die Uni mit Auszeichnung gemacht habe.“
„Wir erwarten nichts“, sagt ein Mädchen, „man nimmt die jungen Leute nicht zur Arbeit.“
„Unser Rußland ist groß! Es wird schon wieder auf die Beine kommen!“ pöbeln die Jungs schließlich, nicht mehr ganz nüchtern.
…charascho, spassiba.“

Erzähler:     Mehr als nüchtern dagegen ist die Bestandsaufnahme zur Lage seitens Professor Oleg Melnikows in Nowosibirsk. Er kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in der sibirischen Metropole, früher ein hoch angesehener Spezialist in der Ausbildungshierarchie.
Dazu muß man wissen, daß es im Ausbildungsgang der sowjetischen Zeit keine Lehrberufe, dafür aber neben den Universitäten eine ganze Palette von spezialisierten Instituten und Akademien gab, deren Abschluß zur Aufnahme der entsprechenden Facharbeit befähigte – und früher auch automatisch berechtigte.
Institute wurden entweder überhaupt – wie das Institut für Verkehrswesen – von Betrieben oder Betriebsverbindungen getragen oder es wurden langfristige Übernahmeverträge mit Betrieben geschlossen. Auf diese Weise wußten die Studierenden bereits bei Beginn ihres Studiums, wo sie später arbeiten würden – vorausgesetzt sie bestanden die entsprechenden Prüfungen.
Heute sind diese Verbindungen gelöst, genauso wie im schulischen und im außerschulischen Bereich.
Gegen die Auflösung des schematischen Einheitsunterrichts zugunsten von Standards mit Vorschlagscharakter hat Professor Melnikow nichts einzuwenden. Auch nicht gegen die gewachsene Eigenverantwortlichkeit der Direktoren und Rektoren. Veränderungen waren unumgänglich, findet er. Höchst problematisch aber findet er das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 16: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Da kamen nur sehr gute Leute durch. Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung übergehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes Namen, wie auch immer, über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß die Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind; außerdem werden sie schon seit Monaten nicht gezahlt. Früher hoch angesehene Leute werden zu Bettlern. Die Besten gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.
Auch die Zahl der Studenten sank in den Jahren seit 1991. 1995 allerdings stieg sie erstmalig wieder. Warum?

O-Ton 16: Prof. Oleg Melnikow, II            0,43
„No w etom godu…“
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Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens, das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschetschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter. Vielleicht herrschen dann andere bedingungen.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     Als Gegenleistung unterstützen die Eltern das Institut persönlich oder über ihren Einfluß in Institutionen. Ohne die Hilfe der Eltern können auch die Institute heut  nicht existieren.
Hier wird deutlich, worüber die jungen Leute sich empören: Wer keinen entsprechenden Hintergrund hat, kommt gar nicht erst auf ein Institut. Ganz zu schweigen davon, ob er oder sie mit der dort erlangten Ausbildung einen Arbeitsplatz findet. Außerbetriebliche Arbeitsvermittlung ist in Rußland von heute ein Wort, das eine fremde, nämlich westliche Realität beschreibt. In Rußland wirkt heute ein Mischsystem aus traditioneller Patronage und Anarchie.
Dazu kommt, daß die Kurve der Arbeitslosigkeit, heute noch offiziell bei 3,5 Prozent gehalten, bei Fortsetzung des jetzigen Wirtschaftskurses schnell auf 15 Prozent ansteigen könnte.

Erzähler:     Nicht weniger problematisch als die wirtschaftliche Seite der Krise findet Professor Melnikow ihre ideologische:

O-Ton 18: Prof. Melnikow, III    0,36
„Nu, pakasiwaitsja tak…
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Übersetzer:     „Nun, einfach ausgedrückt, ist es so: Wir haben in Sachen Ideologie gesagt: Was war, war schlecht. Aber eine neue Ideologie, die für Russen annehmbar wäre, gibt es noch nicht. Dieser leere Platz ist eine erschreckende Sache. Das heißt, man hat hier das biblische Gebot verletzt, welches da heißt: Wenn Du die neue Kirche noch nicht gebaut hast, zerstöre nicht die alte; andersfalls gibt es keinen Ort, wo man betet. Heute befinden wir genau in dem Zustand, in dem es keinen Ort zum Beten gibt. Heute hängt alles von den jedem Einzelnen, also auch von jeden einzelnen Lehrer ab. Das ist in gewissem Maße gut, aber wenn es keine bestimmte Ideologie gibt, die alle verbindet, dann ist das schlecht.“
…eta plocha.“

Erzähler:     Von der These, daß die russische Bevölkerung überqualifiziert sei und die zukünftige Bildung auf ein verwertbares Maß reduziert werden müsse, hält der Professor nichts. Erstens sei sowjetische Bildung durchaus an Effektivtät orientiert gewesen; zweitens sei das Recht auf Bildung ein unveräußerliches Menschenrecht und Kulturziel. Damit habe die sowjetische Bildungspolitik ernst gemacht und so den 60prozentigen Analphabetismus vom Anfang des Jahrhunderts überwunden. Der Kult des Geldes und des Pragmatismus könne eine Ideologie wie den Marxismus, der ein gemeinschaftliches Ziel gesetzt habe, nicht ersetzen, ebensowenig wie Newtons Mechanik  durch spätere Erkenntnisse der Relativitätstheorie und Quantenphysik außer Kraft gesetzt werde. Jedes gelte auf seiner Ebene. „Das Wichtigste ist“, findet der Professor, „daß es keine Abbrüche gibt“.

Abbrüche möchte auch Pjotr Reschetka vermeiden. Er ist Vorsitzende des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“.
Er ist damit Vertreter einer der profiliertesten wissenschaftlichen Verwaltungseinheiten der russischen Föderation: Die Nowosibirsker „Akadam Gorod“, zu deutsch Wissenschaftsstadt, ist nach Moskau das wichtigste Zentrum russischer Wissenschaft und Technik. Hier war der sogenannte militärisch-industrielle Komplex Sibiriens konzentriert. Anfang der Achtziger waren  es die Wirtschaftsforscherinnen und -forscher der „Akadem Gorod“, von denen die wissenschaftlichen Startzeichen für Gorbatschows Perestroika ausgingen.  Sie entwarfen die ersten Umbau-Programme.
Kein Wunder, daß der Vorsitzende dieses mächtigen Komitees von einer Krise der Bildung und Wissenschaft zunächst nichts hören will. Die Krise ist für ihn nur Ausdruck notwendiger Veränderungen, „schwierig, aber keineswegs ausweglos“. Die Regierung, findet er, tut, was sie kann, anders könne es gar nicht sein:

O-Ton 19: Pjotr Reschetka    1,12
„Eta sjasena tem schto…“

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Übersetzer:     „Das hängt damit zusammen, daß die Regierung unabhängig von der wirtschaftlichen Situation des Landes einfach gezwungen ist, in die Bildung zu investieren, weil das sonst sofort äußerst tiefgehende soziale Erschütterungen nach sich zieht. Allein in Nowosibrisk werden mehr als 100 000 junge Leute ausgebildet. Es folgen dann weitere 15 Jahre an Berufsschulen, Colleges, Technika, danach an Hochschulen. In dieser aktiven Zeit treiben die jungen Menschen sich nicht herum; sie geraten nicht in kriminelle Strukturen, sondern halten sich im intellektuellen Raum auf. Wenn auch unter ärmlichen Bedingungen, befinden sie sich auf diese Weise doch unter beständigem Ausbildungsdruck, wo sich ihre Persönlichkeit bildet. Nach der Hochschule fällt solchen jungen Menschen schwer, sich in Banden zu organisieren.
Das ist die eine Seite der Sache. Die andere ist: Sie als Verbrecher ins Gefängnis zu setzen ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…schkole i institute.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist das, was Professor Reschetka dann an, wie er es nennt, „rein organisatorischen Problemen“ aufzählt, daß die Krise auch vor dem Bereich von Wissenschaft und Forschung nicht Halt macht. Im Gegenteil, sie führt auch dort zu schweren Einbrüchen:

O-Ton 20: Reschetka, II        0,38
„Vot swoje i u rabote komiteta…“

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Übersetzer:     „Das ist erstens das Fehlen einer normativen Basis, das heißt ungenügende gesetzliche Regelungen für die Finanzierung. Nach wie vor werden Grundentscheidungen in Moskau getroffen, obwohl die Verfassung und der Föderationsvertrag festlegen, daß Fragen von allgemeinem wissenschaftlichen Interesse gemeinsam entschieden werden sollen. Aber welcher Jurist kann heute sagen, was Fragen von allgeminem Interesse sind? Keiner. Ebensowenig ist klar, was gemeinsame Beratungen sind.“
… Moskwje.“

Erzähler:     Nach einem kurzen Ausflug zur möglichen zukünftigen Rolle Sibiriens fährt er fort:

O-Ton 21: Reschetka, III        0,46
„Wtaroi problem…“

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Übersetzer:    „Es ist zweitens das, was man das „Abließen des Geistes“ nennt. Dabei geht es um das Weglocken von jungen Spezialisten in den Westen. Wir tragen die Kosten für die Ausbildung der jungen Leute, dann kommen Westfirmen und holen die ferigen Spezialisten für ein Bettelgeld. Auf diese Weise hat unsere „Akadem Gorod“ bereits 4000 Akademiker verloren. 120 arbeiten jedes Jahr vorübergehend im Ausland.“
…nischesti djengi.“

Erzähler:     Die Privatisierung der Wohnhäuser bezeichnet der Professor als drittes Problem. Früher vom Staat seinem wisenschaftlichen Personal in der geschlossenen Exklave der „Akadem Gorod“ zur Verfügung gestellte Dienstwohnungen stehen nach der Privatisierung heute zum Verkauf. Leute mit Geld, manche nicht einmal aus Nowosibirsk, kaufen sich in der „Akadem Gorod“ ein, während die unterbezahlten Dozenten, Wissenschaftler und das wissenschaftliche Personal in die Stadt, in deren Randbezirke oder gar noch weiter abgedrängt werden. Das Problem betrifft das ganze Land und alle staatlichen Strukturen. Es ist vor Ort praktisch nicht lösbar. Moskau aber unternimmt nichts.

Professor Reschetkas Versuch, die Bildungspolitik der Regierung zugleich zu beschönigen und zu kritisieren, zeigt mehr als er verbergen kann: In ihm wird zum einen die Naivität eines Professors erkennbar, den es vorübergehend in die Politik verschlagen hat, der aber noch nicht gelernt hat, diplomatisch zu reden. Das sagt einiges darüber aus, wie heute in Rußland Politik gemacht wird.
Zum zweiten gibt er einen kurzen, aber äußerst informativen Blick auf die Kosten-Nutzen-Rechnungen frei, die in höheren Etagen der russischen Politik heute angestellt werden. In ihnen wird Bildung nicht gegen Unbildung, Rückständigkeit nicht gegen Fortschritt abgewogen, sei er vermeintlich oder wirklich, sondern vor allem Kosten gegen Gewinn.
Was dabei, entgegen den Berechnungen Professor Reschetkas und anderer Reformer herauskommt, wird in der Studie der Ruhr-Universität schon 1994 so zusammengefaßt:

Zitator:    „Mit der Bestimmung, 10% des Nationaleinkommens jährlich für die Bedürfnisse des Bildungswesens aufzuwenden, wollte das Bildungsgesetz von 1992 die `Priorität´ dieses Bereiches unterstreichen. Dieser Anteil ist nie auch nur ansatzweise erreicht worden, im Gegenteil: Der Rückkgang der Produktion und die Inflation haben die Krise der Staatsfinanzen beschleunigt. Die Folgen:
– seit 1992 ist ein starker Rückgang der Ausgaben für den Bildungsbereich im Staatshaushalt zu verzeichnen;
– 1993 und 1994 ist der Staat den Zahlungsverppflichtungen nur zum Teil nachgekommen, Lehrergehälter und Stipendien wurden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, kommunale Dienstleistungen (Energie, Heizung) wurden nicht bezahlt.“
– die den Lehrkräften aller Ebenen zugesagte Verbesserung ihrer Einkommen ist weit von einer Realisierung entfernt, auch wenn 1992 eine neue Tarifstruktur eingeführt wurde, sodaß sich ein Teil der Lehrkräfte und der Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums befinden.“

Erzähler:    Faktisch war der Abbau der vom „Internationalen Währungsfond“ diagnostizierten Überqualifikation damit eingeleitet. Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschetschenien hat diese Entwicklung in den letzten beiden Jahren erheblich verschärft. Ohnehin ist es die nationale Frage, die überhaupt erst ins Zentrum der Probleme führt. Auch nach Abtrennung der Länder der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ umfaßt das heutige Rußland, je nach Zählweise, ja immer noch zwischen 100 und 200 Völkerschaften. Deren größte sind die Russen mit über 200 Millionen; ihre kleinste sind sibirische Nomaden, deren Verband nur wenige Familien zählt.
Die Reformer sind sich der Bedeutung, welche die nationale Frage für die Bildungspolitik hat, voll bewußt.
So schreibt Wladimir Schdrikow. Er ist  stellvertretender Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, also ein Vorgesetzter der genannten Nowosibirsker Kommission:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Grundlage für eine solche Politik wären seit 1993 jene Paragraphen der neuen russischen Verfassung, die neben dem Recht auf Bildung auch das Recht auf den Gebrauch der Muttersprache im Alltag, im Unterricht, in der Verwaltung und für schöpferische Tätigkeit garantieren.
Grundlage wäre auch das „Gesetz über Bildung“ von 1992, das den regionalen Organen weitgehende Entscheidungsbefugnis über die konkrete Ausformung und Durchführung der allgemeinen Bilgungsrichtlinien zuspricht.
Auf dieser Grundlage sind in ethnisch bestimmten Republiken, Kreisen und Städten tatsächlich zahllose Initiativen ergriffen worden. Vor allem große ethnisch bestimmte Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien, die ihre Namen nach den dort konzentrierter als anderswo lebenden nichtrussischen Völkerschaften tragen, haben sich auf Zweisprachigkeit umgestellt. Dort treten jetzt Kräfte hervor, die lange im Untergrund, vor allem in den Dörfern, gewachsen sind. Das läßt dort heute manche muttersprachliche Dorfschule neu entstehen. Ja, die dörfliche Kultur erweist sich als der eigentliche Nährboden für die muttersprachlichen Impulse, die von den Intellektuellen der Städte ausgehen.
Rosa Juchma, zweite Vorsitzende des „tschuwaschischen Kulturzentrums“ in Tscheboksary an der Wolga, das sich der „Wiedergeburt der tschuwaschischen Kultur“ verschrieben hat, ist sogar der Meinung::

O-Ton 22: Rosa Juchma, Kulturzentrum in Tschuwaschien     0,55
„Da, esteswenna, esteswenna…“

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Übersetzerin:    „Ganz sicher ist es so: Auf dem Dorf sind die Wurzeln tief im Volk verankert. Ich weiß es auch aus eigener Erfahrung: Ich lebte ja auf dem Dorf, wo ich nichts hatte, woran ich mich entwickeln konnte. Trotzdem konnte ich in der ersten Klasse der pädagogischen Hochschule mit denen Schritt halten, die von der ersten Klasse an hier in der Stadt gelernt hatten. Das ist heut nicht anders. Wir hatten vor allem anderen gelernt zu arbeiten – sähen, mähen, ernten, Kühe melken, alles, was mit Hofarbeit zu tun hat, Sie verstehen? Das verbindet den Menschen mit seinen Wurzeln. So kriegt man wohl auch größere Achtung vor dem Menschen überhaupt. Ja, es könnte schon sein, daß die innere Kultur dort letztlich höher ist als in der Stadt. Kann schon sein, daß dort Kräfte entstehen, die die krise überwinden.“
… tam wische.!

Erzähler:     Frau Juchmas Optimismus steht im Widerspruch zum Zorn der Jugendlichen, ungeachtet, ob Tschuwaschen oder Russen, denen man am „Tag des Wissens“ in derselben Stadt begegnen konnte. Beides aber ist Realität. Mehr noch: Während Tschuwaschien, Tatarstan oder andere Wolgarepubliken, in Maßen auch noch der sibirische Altai oder das der Mongolei benachbarte Chakasien getragen von ihren ethnischen Realitäten zweisprachigen Unterricht in Schulen, Instituten und den örtlichen Universitäten aufbauen, bleiben ähnliche Versuche anderswo Initiativen auf dem Papier.
So etwa in dem schon erwähnten Dudinka hoch im Norden. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich dort vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen. Von ihnen leitet der autonome Kreis seinen Namen ab. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 23: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…“

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Übersetzerin:     „Auch wir haben finanzielle Probleme. Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine Frau kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch im Sprachprogramm der Bildungsreform zeigt sich so: Was als Reform begonnen hat, droht sich in deren Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon mehrfach erwähnte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Auch diese Tendenz hat sich durch den Krieg in Tschtschenien ereheblich verschärft. Dort wurden ja nicht nur die dringend benötigten Haushaltsgelder verpulvert. Dort demonstrierte die russische Regierung auch, was sie mit denen zu tun bereit ist, die die Angebote zur Autonomie zu wörtlich nehmen. Dort erleidet das Selbstbewußtsein der Bbevölkerung der russischen Föderation als einheitliche Kultur- und Bildungsnation seinen tiefsten Einbruch.

Demoralisierung, Dequalifikation und Resignation sind aber nicht die einzigen Folgen der Krise. Mächtig schlägt sich die neue Zeit auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.

O-Ton 24: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle, im Gebäude…

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Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten. Allerdings sind hier in den der Hallen und Gängen ein pasar mehr Topfpflanzen aufgestellt.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 25: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…“

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Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
… Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 26: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagogi bjedni, no ani…“

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Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes! Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandards reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 27: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…“

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Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Paradox findet die Direktorin eine solche Situation. Paradox findet sie auch, daß viele Schüler über wesentlich mehr Geld verfügen als die Lehrerinnen, weil die jungen Leute aus Familien der sog. „neuen Russen“ kommen. Mit der Übersetzung von ein paar Seiten Geschäftspost oder Ähnlichem für die Eltern einer ihrer Schüler kann manche Lehrerin mehr verdienen, als sie im ganzen Monat mit dem Unterricht bekommt. Gegen solche Versuchungen hilft nur Professionalität und persönliche Lauterkeit, befindet die Direktorin.
Paradox findet Frau Raslawzewa auch, daß gerade in Zeiten wachsenden Geldmangels die schöpferische Kraft ins Ungewöhnliche wachse. Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Bewegt spricht sie über die Depression, die die Kinder erfaßt, wenn sie sehen müssen, wie ihre Eltern, zu denen sie früher aufblickten, heute nicht mehr zu den Vowertigen zählen: Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
… eta bolschaja problema.“

O-Ton 28: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

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Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Mit Wahlfächern, Kurssystem und der Ausrichtung auf eine verwertbare Schulausbildung ist die „Schule Nr. 10“ ganz westlich orientiert. Umso bemerkenswerter ist, daß man in
Familienfragen ausgesprochen traditionell bleibt. Die Mädchen werden in Kosmetik, Haushaltsführung, Babypflege und dergleichen, die Jungs in achtungsvollem Benehmen gegenüber Frauen, Hilfsbereitschaft und handwerklichen Fähigkeiten unterwiesen. Auch über Sexualität wird gesprochen. Aber alles erfolgt getrennt:

O-Ton 29: Direktorin der „Schule Nr. 10“, V.    1,00
„Mi chatim schenschini…“

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Übersetzerin: „Wir wollen die Frauen weiblich und die Männer männlich machen. Es gibt ja heute so viele Irritationen. Die Schule muß da korrigieren, scheint mir. Sie darf nicht zwingen, natürlich, sie muß überzeugen. Ich denke die Mission der Frauen in der Gesellschaft ist, die Schönheit zu tragen, die Harmonie in der Beziehung zwischen den Menschen. Frauen denken oft, ihre Aufgabe bestehe darin, Männer zu übertreffen. Ich versuche meinen Mädchen beizubringen, daß es falsch ist, die Männer übertreffen zu wollen. Man muß sie korrigieren, aber korrigieren durch Sanftheit, durch Liebe, durch Milde, ihnen die Augen für die Seiten des Lebens zu öffnen, die den Mann veredeln. Meine Mädchen sollen verstehen, daß die Männer die schwere Arbeit nicht auf sich nehmen, weil sie müssen, sondern daß sie es der Frau zuliebe tun, damit sie gut miteinander leben können. Gesunde Familien sind die Voraussetzung für die Überwindung unserer Krise. Das ist sehr wichtig.“
…eta otschen waschna.“

Erzähler:     Dann spricht sie von der Gefahr der „Feminisierung“ der Schule. In dieser Frage gleichen die Anschauungen der Direktorin der Eliteschule bis ins Detail denen ihrer Kollegin von der „Schule Nr. 2“ in Ordinsk auf dem Lande.

Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer diese Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 30:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…“

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Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, Beziehungen. Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“
… sa pristuplennije.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Die jungen Leute sind sich dieser Tatsache bewußt. Schülerinnen der „Schule Nr. 10“ etwa, auf ihre priveligierte Situation angesprochen, antworten nach kurzer Verlegenheit übereinstimmend::

O-Ton 31: Schülerinnen der „Schule Nr. 10“    0,59
Lachen, „ja nje snaju. Njet mi…“

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Erzähler:     „Wir haben uns schon daran gewöhnt.“ „Das Bildungsniveau ist erheblich höher.“ „Unsere Lehrerinnen sind einfach Spitze, Elite eben, sie verstehen es, mit den Kindern umzugehen und sie geben einen sehr guten Unterricht.“
An ihrer Schule herrsche ein anderer Ton, finden sie, nicht mehr der totalitäre Unterricht von früher wie noch an den meisten andeen Schulen, sondern kameradschaftlicher Umgang zwischen Lehrerinnen und Schülern. „Wir sind hier eine Gemeinschaft“, meint ein Mädchen, „auch die Eltern kennen sich lange, ohne Beziehungen kommt hier keiner rein.“
Von privaten Schulen halten sie wenig. „Was sagt schon ein Firmennamen wie `Ramoschka´ oder so“, erklärt eine andere, „der öffnet doch keine Universität. Leute von der zehnten Schule dagegen nehmen sie überall mit Vergügen, weil du eben an einer guten Schule gewesen bist, die ihr Image hat.“
…otlitsche drugich schol.“

Den Kindern ist eine solche Ausbildung zu gönnen. Zu gönnen sind ihnen auch die neuen Gymnasien und Lyzeen, wo es ähnlich zugeht. Auch Ergänzungsschulen nach der Art der „Theaterschule Smile“, ebenfalls Nowosibirsk, sind begrüßenswerte Erscheiunungen. Bei „Smile“ treffen sich Kinder aller Schulen der Stadt zu einer künstlerisch orientierten  Zusatzausbildung. Pädagogisches Ziel ist die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit.
Initiativen dieser Art gibt es inzwischen in allen größeren Städten. Dazu kommen private Angebote zur Weiterbildung an „freien Universitäten“. In lockerer Form, die wissenschaftliche Forschung und Identitätssuche verbindet, werden Arbeitsseminare, workshops, ganze Ausbildungszüge zu den verschiedensten brennenden Themen ergänzend zum offiziellen Wissenschaftsbetrieb angeboten. Initiatoren sind nicht selten Hochschullehrer und -lehrerinnen, die sich auf diese Weise zugleich ihren Lebensunterhalt verdienen.
Dies alles ist erfreulich – aber es kostet in der Regel mehr, als durchschnittlich verdienende Familien aufbringen können. Unter diesen Umständen wird die Bildungskrise zur sozialen Krise, ja, sie verschärft den sozialen Druck, indem die von  den jetzigen Veränderungen wirtschaftlich ohnehin schon Abgedrängten, nun auch noch von der Ausbildung ausschließt.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Das gelingt häufig nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 32: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna…“

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Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- – bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE des Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje istwestno schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNE“, die die militantesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen die Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

Landreform in Rußland (Text)

Landreform in Rußland

Im Frühjahr 1997, nach seiner Wiederwahl als Präsident und genesen von seiner Herzopration, kündigte der russische Präsident Boris Jelzin eine neue Phase der Reformen an. Nachdem die erste Phase der Privatisierung in der Industrie und auf dem Lande nunmehr erfolgreich abgeschlossen worden sei, sei nun die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ an der Reihe. Gemeint waren damit die Versorgung mit Gas, Öl, Elektrizität, das Verkehrs- und das Bauwesen, der Dienstleistungsbereich und auch das Bildungswesen. Besonders hob der Präsident hervor, daß nun endlich auch mit der Verkaufbarkeit von Grund und Boden ernst gemacht werden müsse.
Damit war erneut das Stichwort gefallen, um das es auch in diesem Stück zur „Landreform in Rußland“ geht: Die Umwandlung des landwirtschaftlichen Gemeineigentums in Privateigentum und die der kollektiv produzierenden Landwirtschaft in eine nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten wirtschaftende.
Ich sage „erneut“, weil diese Ankündigung des russischen Präsidenten nicht die erste dieser Art war. Sechs der gleichen Art sind ihr spätestens seit 1991 vorausgegangen, nachdem schon Michail Gorbatschow an dieser Frage scheiterte war und seinem Nachfolger Boris Jelzin mit der ungelösten Landfrage ein explosives Problem hinterließ.
Die Ankündigung einer sofortigen Privatisierung auf dem Lande, insbesondere der Umwandlung des unverkäuflichen Gemeineigentums in handelbares Land war einer der entscheidenen Programmpunkte, mit denen
Boris Jelzin und sein „Kommando“, wie die jeweilige Regierung in Rußland genannt wird, 1991/92 zur sog. demokratischen Revolution antraten.
Bis Ende 1993 sollten die Sowchosen und Kolchosen, als die Kollektivbetriebe in Aktiengesellschaften oder andere Gesellschaften bürgerlichen Rechts umgewandelt worden sein und das gemeinsame Eigentum nach Anteilen auf die Mitglieder der Gemeinschaft aufgeteilt sein. Jedes ihrer Mitglieder – vom Baby bis zum Rentner oder der Rentnerin, selbst solchen, die nur noch formal auf dem Dorf lebten – sollte das Recht erhalten, sich seinen Anteil entweder zur eigenen Bearbeitung als privater Bauer aushändigen, sich auszahlen zu lassen oder es selbst weiter zu verkaufen. Offen blieb, unter welchen Bedingungen das einzelne Mitglied ihr oder seinen Anteil verkaufen durfte. Gut 400.000 private Hofgründungen erwartete die Regierung bis Ende 1993. In ihnen sah man den Motor der Modernisierung für die in die Krise geratene Landwirtschaft.
Mehr als die Hälfte der kollektiven Betriebe war am Ende des Jahres tatsächlich zu Aktiengesellschaften umregistriert. Die einen als offene Aktiengesellschaften, in die auch Städter sich einkaufen konnten, die anderen als sogenannte „AGs geschlossenen Typs“, in denen die Anteile nur innerhalb der Gemeinschaft weitergegeben werden durften.
In einem war die Mehrheit der Betroffenen sich zu der Zeit einig, daß nur an solche Menschen verkauft werden dürfe, die das Land auch landwirtschaftlich nutzen wollten. „Spekulanten“ wollte man auf den Dörfern nicht sehen. Und auch die Städte zögerten mit der Freigabe der Grundstücke. So konnten inländische oder auch ausländische Gesellschaften zwar Anteile von Fabriken kaufen, konnten sogar Mehrheitsbesitzer von Aktien werden – aber der Grund und Boden, auf dem die Betriebe sich befinden, blieb nach wie vor Staatsbesitz, eben Gemeineigentum.
Nicht 400.000 private Höfe, wie angekündigt, sondern gut 200.000 waren Ende 1993 auf diese Weise entstanden. 1993 erhöhte sich die Zahl noch einmal auf 270.000. Schon jetzt war die Fluktuation ein erkennbares Problem, d.h. gut 10.000 Höfe waren bereits wieder aufgegeben worden. Seit 1994 geht die Zahl der Höfe auch absolut zurück.
Inzwischen wird der private Hof auch von der Regierung nicht mehr als der Weg zur Modernisierung der Landwirtschaft betrachtet. Das Schlagwort der Privatisierung ist schon lange durch das der „gemischten Wirtschaft“ ersetzt worden. Aber auch die kollektiven Wirtschaften befinden sich in der Krise. Ähnlich wie die Industrieproduktion so sinkt auch die landwirtschaftliche seit 1990/91 jährlich zwischen 8 und 10 Prozent. Die Tierhaltung ist rückläufig, Tiere werden geschlachtet und gleichzeitig die Aufzucht junger Tiere eingeschränkt.
Einen Boom, sofern man das so nennen kann, verzeichnet lediglich die private Garten- und Hoflandwirtschaft. Das betrifft die sog. Datschen, auf deutsch Schrebergärten vor den Städten, bzw. auch einfach nur die Beackerung eines von der Stadt vor den Toren zur Verfügung gestellten Stückchen Landes mit Kohl oder Kartoffeln. Es betrifft auch die Gärten, welche die in Kolchosen oder Sowchosen auch in deren neuer Form als Aktiengesellschaften lebenden Familien privat bewirtschaften. Dazu gehören in der Regel Hühner, ein paar Schweine, ein, zwei Kühe oder andere Tiere, deren Zahl im Hoflandbereich in den letzten Jahren kontinuierlich wächst. Hier, geschützt durch die Mitgliedschaft im Kollektivbetrieb, kann findet eine heimliche Privatisierung von unten statt.
Die von oben verordnete Linie der Privatisierung dagegen muß man heute als gescheitert betrachten. Das Fehlen der Ausführungsbestimmungen war nur das äußere Anzeichen dafür, daß die Regierung nicht in der Lage sein würde, die Auflösung der Gemeinschaftsstrukturen durchzusetzen. Die Mehrheit der Kollektivbetriebe hat sich zwar brav in AGs umbenannt, die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Gemeinschaften sind dadurch aber nicht effektiver, sondern uneffektiver geworden, sie arbeiten nicht profitabler, sondern weniger profitabel – gemessen an der Menge von Produkten, die sie der Gesellschaft zur Verfügung stellen können.
Einzelne, vor allem leitende Mitglieder der Gemeinschaften mögen sich an der Umwandlung bereichert haben. Auf solche Gedanken muß man bekommen, wenn man beim Besuch der Dörfer die neu aus dem Boden schießenden ein oder zweistöckigen gemauerten Häuser sieht, die dort in den letzten Jahren – außerhalb jeder, wie soll ich sagen? – ästhetischen Dimension mitten zwischen die Holzbauten gesetzt werden.
Aber insgesamt kann die Landwirtschaft nur noch mit massivsten Subventionen überleben. Die wiederum gehen, entsprechend der neuen „privatwirtschaftlichen“ Mentalität oft nicht in die Produktion oder bitter notwendige Verbesserung der maschinellen Ausstattung oder Infrastruktur der Landkreise ein, sondern versickern irgendwo in den Strukturen der örtlichen Macht.
Die Situation der Einzelbauern ist nahezu aussichtslos. Ausgegliedert aus der vorher alles umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Gemeinschaft, kämpfen sie sich, oft auch noch am Rande des früheren Sowchosgebietes, als Familienbetriebe durch den bäuerlichen Jahresrythmus. Aber es reicht nicht hinten und nicht vorne. Es fehlt der Machinenenpark, es fehlt das Saatgut, es fehlt die Möglichkeit der Weiterverarbeitung, es fehlen die Wege – alles war auf arbeitsteilige Großproduktion eingestellt; da fällen die Einzelbauern einfach zurück. Sie können ihre Milch nicht verarbeiten, sie können ihr Korn nicht trocknen. Manche sammeln ihre Kartoffeln mit der ganzen Familie wieder im Handbetrieb oder verzichten gleich darauf und bauen nur noch an, was sie grad für die eigene Versorgung noch brauchen. Die Kredite, die man ihnen versprochen hat, sind ausgeblieben, bzw. hat sich deren Rückzahlung derart verteuert, daß die privaten Bauern praktisch für ihr Leben in einer Höhe verschuldet sind, von der keine Aussicht haben, jemals wieder herunterzukommen.
„Flankierende Maßnahmen“, die Anfang 1992 unter dem Titel eines Programms „Zum Ausbau des Dorfes“ angekündigt waren, blieben ebenfalls aus. Sie fielen der von der Regierung betriebenen Sparpolitik zum Opfer.
So kann es nicht wundern, daß sich schon ab Mitte 1992 der Widerstand gegen die von der Regierung betriebene Agrarreform regte. Er fand seinen Ausdruck vor allem in den örtlichen und regionalen Sowjets, repräsentiert durch den Oberstens Sowjet in Moskau. Seit Mitte 1993 lähmten sich Regierung und Oberster Sowjet gegenseitig. In den Dörfern stapelten sich die Verordnungen der einen und der anderen Seite, die sich gegenseitig negierten. Wo sie übereinstimmten, fehlten in der Regel die Ausführungsbestimmungen; wenn diese gegeben waren, scheiterte die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen am Geld.
Mit der gewaltsamen Auflösung des Obersten Sowjet versuchte Präsident Boris Jelzin sich den Weg frei zu machen für die Durchsetzung seiner Vorstellungen von der Landreform. Auch danach hat sich nichts geändert. Exakte Durchführungsbestimmungen fehlen bis heute, bis heute ist unklar, ob Land auch dann verkauft werden darf, wenn es nicht landwirtschaftlich genutzt wird. Nicht nur, daß die Duma, das Nachfolgeorgan des Obersten Sowjet, die Verordnungen des Präsidenten in dieser Frage regelmäßig außer Kraft setzt. Durch die tendenzielle, aber im Einzeln en noch undurchschaubare Umwandlung des Zentralstaats in einen Föderalstaat, gelten auch unterschiedliche regionale und lokale Zusatzverordnungen. So dürfte auch von der neuerlichen Initiave des Präsidenten keine Lösung dieser Frage zu erwarten sein.
Um zu verstehen, warum das alles so ist, muß man sich für einen Moment von den gewohnten westlichen Vorstellungen lösen. Selbst der kürzeste Besuch in einer Sowchose, Kolchose, jetzt AG läßt erkennen, daß deren von oben verordnete Umwandlung in privat wirtschaftende Einheiten nicht funktionieren kann.

Was ist solch eine Sowchose? Das sind drei, vier oder mehr Dörfer, die eine soziale und wirtschaftliche Einheit bilden. Das sind Traditionen des Gemeinschaftsbesitzes, die sich in der russischen Geschichte allmählich herausgebildet haben, lange bevor sie von den Sowjets nach der Revolution von 1917 verstaatlicht wurden. In einer solchen Gemeinschaft hat das einzelne Mitglied seinen festen Platz, es ist wirtschaftlich versorgt, es hat den Hof, bzw. auch den Garten für die Absicherung der privaten Grundbedürfnisse, für Kindergarten, Schule, Kultur, für Strom, Wasser und Wege und dergl. sorgt die Sowchose, für das Alter bietet sie einen sicheren Platz. Welches Interesse sollte ein Sowchosmitglied an einer Auflösung eines solchen Verbandes haben? Keines, das ist klar. Deswegen werden alle Versuche, eine solche Art der Privatisierung von oben zu erzwingen, auch in Zukunft am Widerstand der Mehrheit der Landbevölkerung scheitern.

Begleittext zur Schulfunksendung des bayerischen Rundfunks

„Pust on ostajotsja“ – Soll er bloß bleiben: Jelzins Spurt vom Reformer zum Konservativen

Am 16. Juni wird in Rußland ein neuer Präsident gewählt. Elf Kandidaten stehen zur Wahl. Einen Monat vor dem Urnengang ist der amtierende Präsident Boris Jelzin in einem rasanten Spurt an allen anderen Kandidaten vorbeigezogen. Nach der Wahl zur Duma Ende 1995 stand sein „rating“, also seine statistische Sympathiekurve, aug 9 Prozent. Wenige Tage vor dem Wahltermin war sie auf 33 Prozent geklettert; das seines wichtigsten Konkurrenten, des Kommunisten Gennadij Szuganow, war auf 28 Prozent eingefroren. Die übrigen Bewerber blieben mit Daten zwischen sieben und fünf Prozent abgeschlagen zurück.
Unser Autor Kai Ehlers ist quer durch die russische Föderation gefahren, um zu beobachten, wie das geschehen konnte und was das zu bedeuten hat.

O-Ton 1: Abfahrt: Tür, Bremse…    0,24

Regie: Ton kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Start in Hamburg. Für Irina und Pawel, ein Psychologenehepaar aus Nowosibirsk, die mich eingeladen haben, sie beim Transport ihres in Hamburg gekauften neuen Autos nach Haus zu begleiten, geht es zurück in den Alltag. Für mich ist es der Aufbruch in den russischen Wahlkampf. Irina und Pawel sind die ersten, die ich befrage. Was bedeutet die Wahl für sie?

O-Ton 2: Irina                0,36

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Oh je, Kai, grausig! Besser, es bliebe alles, wie es ist! Aber Veränderungen sind zu befürchten. In dem Fall kann es nur  schlechter werden: Umgekehrte Privatisierung, du verstehst? Kann sein, daß ich meine Arbeit verliere, daß sie unsere Kooperative schließen. Vielleicht nimmt man uns unsere Wohnung oder auch dieses schöne Auto; ich kann nie mehr nach Hamburg kommen – das alles hat es gegeben und es kann wieder so sein! Das ist sehr gut möglich.

…i moschit bit, konjeschna.

O-Ton 3: Pawel                0,08

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    „Die Spurrillen des Totalitalismus sind noch frisch“, wirft Pawel ein. Der Wagen könnte wieder hineinschliddern, fügt Irina hinzu.
…moschno skatitsja.

O-Ton 4: Fahrtgeräusche        0,41

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, mit O-Ton 5 verblenden

Erzähler:    Erinnerungen an die Entkulakisierung werden wach. Sie löste die kurze Zeit der „neuen ökonomischen Politik“ nach der Revolution von 1917 ab. Unter der Parole
„bereichert Euch“ hatte die kommunistische Partei zur privaten Initiative aufgerufen. Millionen mußten ihr Vertrauen damals mit dem Tode bezahlen. In abgemilderter Form wiederholte sich das nach dem Tauwetter der Ära Chruschtschow. Geblieben ist die Angst, daß die heutige Reform wieder so enden könnte. Jelzins Wahlkampf ist voll auf diese Ängste abgestellt.

O-Ton 5: Halt                0,18

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:    Erster Halt: Ein Dorf bei Minsk. Schon hier in Weißrußland ist die Beunruhigung, die die Wahl hinterläßt, spürbar:

O-Ton 6: Frauen bei Minsk    0,56

Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler (1) hochziehen

Erzähler (1):    „Wir haben unsere eigenen Sorgen. Was kümmert uns Rußland“!“ wehren diese Frauen zunächst ab. Doch dann bricht es aus ihnen heraus: „Egal, wer Präsident wird, ob Jelzin, ob Szuganow. Egal, mit welchen Verordnungen der Neue um sich werfen wird – Hauptsache, es gibt keinen Krieg!
…nje bi woini bilo bi, Schritte

Erzähler:    Kein Wunder, daß sie so reden. Haben doch die Präsidenten der „Gemeinschaft uanabhängiger Staaten“, also die Erben der Sowjetunion, soeben in Moskau erklärt, nach einem Wahlsieg Szuganows werde die Gemeinschaft, vielleicht gar die russische Föderation auseinanderbrechen.

O-Ton 7: Hauptplatz in Jarzena: Moped, Besen    0,28

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Den nächsten Halt machen wir schon in der russischen Föderation: Jarzena, Hauptplatz. Hier scheint jede und jeder mit den eigenen Dingen beschäftigt. Gut 100.000 Einwohner hat die Stadt. Es gibt eine große Motorenfabrik, die aber steht. Arbeitslosigkeit ist das größte Problem des Ortes. Wie denkt man hier über die Wahl? Eine Frau, die eifrig den Platz fegt, ist die erste, die ich frage:

O-Ton 8: Frau, die den Platz fegt    1,27

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Übersetzerin: „Ach je, was die Wahl für mich heißt? Das weiß ich selbst nicht. Aber ich gehe für Jelzin. Ich habe diese Arbeit gekriegt. Jetzt hat er die Pensionen erhöht. Zu wenig immer noch, aber immerhin doch.“

Erzähler:     Szuganow findet sie auch nicht schlecht. Bei ihm werde das Brot wieder billig. Andere Kandidaten kommen für sie nicht in Frage. Gorbatschow? Um Gottes Willen! Der hat doch mit all dem angefangen, Perestroika, Zerfall! Schirinowski? Nein, der ist ihr zu aggressiv. Weitere Namen kennt sie nicht. „Entweder für Szuganow, schließt sie, oder für Jelzin. So ganz habe sie sich noch nicht entschieden.

O-Ton 9: Zweite Alte auf dem Platz    0,37

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin kurz hochziehen

Erzähler:     „Ich, ich bin für Szuganow“ antwortet eine andere Alte, die am Wegrand Samen verkauft. „Dem Volk geht es schlecht“, schimpft sie: „Nur den Chefs geht es gut. Szuganow wird die Produktion wieder ankurbeln und die Landwirtschaft in Ordnung bringen.“ Wer Handel treiben wolle, bitte sehr! Aber vor allem brauche das Volk Arbeit. „Ich bin die Frau eines Helden der Sowjetunion“, wettert sie. „Jetzt verkaufe ich hier Samen. Finden Sie das richtig? Eine Schande ist das. Ich schäme mich!“
…menja stidna, Kind lacht

O-Ton 10: Mann in Jarzewa        0,24

Regie: Hart anschließen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Zwei Arbeiter aus der stillgelegten Fabrik: Er werde für Schirinowski stimmen, sagt der eine. Sein Begleiter nickt. Viele Kollegen, bestätigt er, dächten wie sie.
Wieso ausgerechnet Schirinowski?

Übersetzer:     „Weil Schirinowski sagt, was ist und weil er das tut, was er sagt. Den Anderen kann man nicht glauben. Das ist alles.“
… nje mogu skasats

O-Ton 11: junger Mann, Jarzewa        0,55

Regie: Hart anschließen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Für Szuganow werde er auf keinen Fall stimmen, meint dieser junge Mann. Auch nicht für Schirinowski. Der junge Geschäfstmann ist aus Moskau zu Besuch und zum Trinken an einen der Kioske gekommen. In den kleinen Städten verstünden die Leute eh nicht, worum es ginge, meint er.

Übersetzer:     „Sie stimmen für das, was man ihnen sagt: für Wurst, Wodka und Hering. Hier denkt man nicht, hier wird man durch das Leben belehrt – nachher! Aber man muß denken: Wenn Szuganow gewählt würde, wäre das eine Katastrophe. Man läßt ihm keine Chance. Sie schlagen ihn einfach tot. Banditen gibt es genug in Moskau, ganz normale.“
…mnoga, normalni, Kioskmusik

O-Ton 12: weiter unterwegs, Irina    0,36

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, verblenden

Erzähler:    Wieder unterwegs: „Der Junge hat recht“, kommentiert Irina meine Aufnahmen von Jarzewa. Eigentlich müsse man sogar sagen: In kleinen Dörfern wird getan, was das große Dorf, Moskau, sagt. Vor allem jetzt werde das sichtbar, während der Wahl. „Die Leute“, sagt Irina, „fügen sich ja wie Wachs unter der Agitation.“
…na agitaziju

O-Ton 13: Kirche in Petuschki        1,12

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, dem Erzähler unterlegen, nach Erzähler verblenden mit O.Ton 14

Erzähler:     Wie wenig Verlaß in der jetzigen Situation des Landes indes selbst auf die vertrautesten Klischees ist, erfuhr ich schon beim nächsten Halt in Petuschkin. Das ist eine kleine Stadt nur wenige Stunden vor Moskau: Soeben aus der Abendandacht gekommen, überraschen mich eine Bäuerin und ihr Sohn mit einer Analyse der Wahlkampagne, die jedem demoskopischen Institut zur Ehre gereichen könnte:

O-Ton 14: Bäuerin und ihr Sohn in Petuschkin    0,31

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun ich denke, bei uns gibt es jetzt zwei; auf die beiden verteilt sich das Volk fünzig zu fünzig: Jelzin und Szuganow. Jelzin schlief, Jetzt ist er aufgewacht. Er macht jetzt sehr viel. Die Leute hatten ihren Glauben an ihn verloren. Jetzt glauben sie wieder. Viele stehen jetzt auf seiner Seite. Er hat versprochen, daß jeder sich mit dem befassen kann, was er angefangen hat, das heißt, daß ich das tun kann, was ich will.“
…xotschitsja to djelats

Erzähler:     Ihr Sohn sekundiert:

O-Ton 15: Sohn der Bäuerin    0,17

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, er verspricht viel, natürlich. Aber die Entwicklung ist inzwischen so, daß es keine Alternative gibt. Selbst Szuganow könnte nichts mehr zurückdrehen. Wenn es keinen Krieg geben soll, dann muß es so weitergehen wie jetzt. Verstehen Sie? Stabilität!
…ponimajete, stabilnost

O-Ton 16: Sohn, Forts.        0,22

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, unterlegt lassen, allmählich hochziehen, nach Übersetzer frei stehen lassen.

Erzähler:     Den übrigen Kandidaten geben die beiden keine Chance: Jawlinski? Zu intellektuell. Fjodorow? Besser, er bliebe Arzt. Lebed? Ein General! Schirinowski? Faschist! „Und Faschismus“, sagt der Sohn, „kommt in Rußland nicht durch!“
… nje proidjot

Erzähler:    Die verbleibenden finden sie „einfach nicht seriös“. Bleibt also Jelzin. Aber auch an ihn sind die Erwartungen nicht hoch. Hauptsache, alles bleibt, wie es war. Ob ein neuer Präsident Jelzin seine Versprechen einhalten wird, ist aus ihrer Sicht schon nicht mehr interessant:

O-Ton 17: A kto snajet…?    0,08

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehn, abblenden
…prosnulsja

Übersetzerin: „Wer will das Wissen? Ja, kann durchaus sein, daß er dann wieder einschläft.“

O-Ton 18 Abfahrt, Fahrt, unterwegs    0,51

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung hochziehen

Erzähler:    Irina und Pawel zeigen sich überrascht. „Die beiden haben dir ihre helle, vernünftige Seite gezeigt“, meint Irina. Mir komme das vielleicht normal vor, fügt sie hinzu, aber sie hätte nicht gedacht, daß einfache russische Leute in kleinen Orten so gut sprechen könnten.
…takoi prostoi, Fahrtgeräusche

O-Ton 19: Luberci, Vorstadt, Frauen    0,39

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler (1) vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen

Erzähler:     Jenseits von Moskau, in der berüchtigten Trabantenstadt Luberci treffen wir auf die andere, die dunkle Seite:

„Ich weiß nicht, ich bin für Schirinowski“, sagt diese Frau. Die Rückkehr Stalins fordert sie. Ordnung gab es da, findet sie. In der Fabrik wurde nicht lange gefackelt. Mit Säufern wurde kurzer Prozess gemacht. Mangel? Stagnation? Terror? „Ach was!“, winkt sie ab, „wir haben gekriegt, was wir brauchten. Wir haben gelebt, besser als jetzt.“
… no mi schili

Erzähler:    Mein Hinweis, Schirinowski wolle doch auch Kapitalismus, sei sogar selbst Kapitalist, provoziert nur Gelächter:
„Ja, soll er doch! Wir sind auch für den Kapitalismus! In einem halben Jährchen ist sowieso alles vorbei!
… Gelächter

Von Schuganow?.

O-Ton 20: Frauen in Luberci, Forts.    0,09

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Auch das noch! Wenn´s jetzt schon schlimm ist, dann wird`s noch schlimmer! Das muß ich nicht haben. Nein ich brauch Schirinowski!“
… Schirinowski nado, Lachen

O-Ton 21: TV im Hotel, Jelzin    1,02

Regie: Allmählich aufblenden, kurz stehenlassen, nach Beginn von Jelzins Rede abblenden, unterlegen, nach Übersetzung hochziehen.

Erzähler:     Abends im Hotel. Nachrichten. Jelzin auf allen Kanälen. Auf schneeigem Bild und in schlechtem Ton kommt seine polternde Absage an den Dialog mit Szuganow daher. Vergleichbare Informationen über andere Kandidaten sucht man vergebens:

Übersetzer:     „Ich war dreißig Jahre Kommunist. Ich habe es satt, diese Demagogie weiter zu hören. Ich kann sie mit meiner heutigen demokratischen Weltanschaung nicht mehr ertragen.    Ich sage klar, daß mir seine Debatte nichts bringt: Ich stehe zu Meinem! Er aber will zurück und will kommunistische Revanche. Das wird es nicht geben. Um keinen Preis!
…nje sa schto, Klick

O-Ton 22: Nischni-Nowgorod

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Nischni-Nowgorod ist die nächste Station. Hier frage ich vor allem nach Grigorij Jawlinski und seinem Partner, dem Bürgermeister der Stadt, Boris Nemzow. Beide gelten als junges, dynamisches Team. Sie stehen für ein alternatives Modell von Reformen. Doch heißt die Antwort auch hier:

O-Ton 23: Junger Mann         0,20

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen:

Übersetzer:     „Jelzin, Jelzin! Warum? Er ist im Prinzip in Ordnung. Mit gefällt, was im Land vorgeht. Es ist eine Zeit für die Jugend. Das gefällt mir. Es gibt große Wahlmöglichkeiten, wo man arbeiten will, Möglichkeiten, die eigenen Kräfte zu entwickeln. Was will man mehr?
… tscho jetschtscho?

Erzähler:     Der junge Mann ist Student. Zur Zeit verdient er als Barmann das Geld für sein weiteres Studium. Im Prinzip sei er durchaus für Jawlinski, erklärt er. Aber damit würde er seine Stimme verschenken und deshalb werde er Jelzin wählen. Auf Jelzins rücksichtslose Sozialpolitik und auf den Krieg in Tschetschenien angesprochen, konkretisiert er:

O-Ton 24: junger Mann, Forts.    0,21
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich stimme für Jelzin bloß deshalb, damit es keine globalen Veränderungen gibt, wie das vermutlich geschehen würde, wenn die Kommunisten drankämen. Dann ginge es wieder in Richtung Bürgerkrieg.“
…graschdanskie woinje

Erzähler:     Den Krieg befürchtet auch er allerdings nicht von Szuganow selbst, sondern von denen, die einen Wahlsieg der Kommunisten nicht akzeptieren würden: von den Bankiers, von den neuen Reichen und von der Mafia.
Vor wenigen Tagen erst, erinnert er sich, hätten die neuen russischen Finanzbosse in einem offenen Brief, der in allen großen Zeitungen erschien, nicht näher genannte „Maßnahmen“ für den Fall eines Wahlsiges der Kommunisten angekündigt.

O-Ton 25: Hund                0,41

Regie: Allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, allmählich ablenden

Erzähler:    Von Nischni Nowgorod sind wir der Wolga weiter ins Herz Rußlands gefolgt. Die Wolgaregion ist zugleich das ethnisch vielfältigste Gebiet der heutigen russischen Föderation. Sechs ethnische Republiken liegen hier beieinander: Tatarstan, Tschuwaschien, El Mari, Mordawzien, Utmurtien und Baschkortastan.
Wir nahmen zunächst Kurs auf die tschuwaschische Republik. Dort nächtigen wir jetzt als Gäste des Schrifstellers Michail Juchma auf dem Dorf. Juchma, Aktivist der tschuwaschischen Kulturbewegung, gibt uns ein Bild der Wahl aus der Sicht der kleineren Völker:
…Hundegebell

O-Ton 26: Michail Juchma    1,17

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Was kann man zu den Wahlen sagen?
Es gibt keine Kultur der Wahl in der Bevölkerung. Das Volk wählt zufällig. Wen es wählen wird, ist absolut offen. Alles, was die Statistiker zur Zeit voraussagen, wird so nicht kommen. Alles entscheidet sich in den letzten zwei, drei Tagen. Das ist das Eine.
Das Zweite ist: Niemand kann garantieren, daß die Wahl nicht in bestimmten Abhängigkeiten verläuft: Ich weiß aus Erfahrungen in unserer Republik, daß häufig nicht Einzelne entscheiden, sondern die Vorstände der Kolchosen, die bezirklichen und die dörflichen Wahlkomitees.“
…selskich wibernich komitetow

Erzähler:     Das Pendel drohe für Szuganow auszuschlagen. Jelzin habe zu viele Versprechungen nicht eingelöst.

O-Ton 27: Juchma, Forts.    0,45

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:     „Das Wichtigste ist jedoch der Krieg in Tschtschenien. Das gilt vor allem für die ethnischen Republiken. Er verliert eine gewaltige Menge Stimmen in Tschuwaschien, bei den Mari und bei den Völkern des nördlichen Kaukasus. Wegen des Krieges werden sie gegen ihn stimmen. Aus diesem Grunde kann Szuganow drankommen.“
…moschit proiti.

O-Ton 28: tschuwaschische Musik    2,11

Regie: Unter dem Erzähler langsam kommen lassen, am Ende des Erzählers frei stehen lassen, allmählich abblenden, wenn der Erzähler wieder einsetzt.

Erzähler:     Juchmas Traum eines Auswegs heißt: Michail Gorbatschow. Ihn hält er für den berechenbarsten Kandidaten. Ihm allein traut er zu, den Krieg in Tschetschenien wirklich zu beenden. Zusammen mit anderen demokratischen Bewerbern könne er eine dritte Kraft bilden. Wenn sie sich nur einigen könnten! Politischer Ehrgeiz und mangelnde demokratische Kultur allerdings, fürchtet Michail Juchma, sprechen dagegen. Seine Gäste aus Nowosibirsk stimmen ihm zu. Unter solchen Erörterungen und bei einem kräftigen tschuwaschischen Bier, aus eigenem Hopfen selbst gebraut, vergeht der Abend schnell.
…Musik

Regie: kurz freistehen lassen, mit einsetzem Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:     Vor der neuen Moschee in UFA, der Hauptstadt der baschkirischen Republik, sieht alles wieder ganz anders aus. Forsch offenbart mir der örtliche Imam, ein Baschkire, seine politischen Prioritäten, nachdem er mich zuvor daran gehindert hat, die Frauen zu befragen, die vor dem Tor betteln:

O-Ton 29: Imam der Moschee    0,38
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Man muß natürlich Jelzin wählen. Obwohl ich ihn persönlich nicht liebe, weil er die Ttschetschenen als Banditen bezeichnet. Sie sind keine Banditen. Sie kämpfen um ihre Freiheit. Jelzin und seine Leute haben Grosny zerstört, wie Hitler Stalingrad. Dann noch von Banditen zu reden! Trotzdem muß man Jelzin wählen. Er hat angefangen, soll er jetzt also auch bis zum Ende gehen. Kommt ein anderer, dreht der sich um 180 Grad oder geht wer weiß wohin.“
…kuda nibud

O-Ton 30: Bettlerin        0,54
Regie: Allmählich aufblenden, nach dem Erzähler hochziehen, frei stehen lassen

Erzähler:     Kaum ist der Imam fort, kommt eine der Frauen, die ich nicht befragen durfte, hinter mir hergerannt. Sie erklärt sich gegen Jelzin. Sie ist für Szuganow. Den Imam beschimpft sie. Ein Dieb sei er! Ein Trinkgeld, was er ihnen gebe! Sie schüttelt die Münzen. Drei Datschen, drei Autos habe er. Pfui, Teufel! Wie kann man! Empört spuckt sie aus.
…wi moschesch?!

Erzähler:     Welten prallen hier aufeinander. Nicht die nationale, mehr die soziale Frage scheint hier die Menschen zu trennen.
Das Innere der Moschee ist ganz mit Teppichen ausgelegt. Hier wachen ein paar rüstige Alte. Der eine war früher Ingenieur in einem Atomkraftwerk. Der andere Brigadeführer beim Bau. „Jetzt sind wir gläubig geworden“, sagen sie.
Sie versuchen das Alte mit dem Neuen verbinden. Auf meine Frage nach Szuganow und Jelzin antwortet einer von ihnen:

O-Ton 31: Alter in der Moschee    0,39

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer (1) vorübergehend hochziehen, dann weiter unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, wenn Suganow drankommt, ist das nicht wünschenswert. Man darf die Religion nicht beenden. Gleich, ob bei Christen oder in unserer Religion: Gott kommandiert die ganze Zivilisation. Sofern er Gott nicht anrührt, ist auch der Kommunismus in Ordnung. Er war ja auch nicht schlecht. Religion muß sein. Der Gläubige tut nichts Schlechtes. Er betrügt nicht, stielt nicht, macht andere Nationen nicht runter. Er gibt allen ihre Möglichkeiten. Alle Nationen sind gleich.“
…swje nazi odinakowo

Erzähler:    Auf Jelzins Politik in Tschetschenien hingewiesen, lacht er:

Übersetzer:  (2) „Nun, gut, soll er dazu lernen! Soll er sich beraten lassen. Dann wird er schon sehen! Die Tschtschenen setzen sich doch nicht ab! Wie denn!? Ohne älteren Bruder, ohne den Sohn, ohne gegenseitige Hilfe kann man nicht leben.“
…nje moschet schits, lachen

O-Ton 32: Sowchose        0,35

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:    Wieder im Bereich des Profanen: das Büro der Sowchose „Austrum“, jetzt Aktiengesellschaft. Sie liegt an der Grenze von Baschkortastan zum Verwaltungsbezirk von Tschjeljabinsk, einem der ödesten Gebiete im südlichen Ural. Hier hat man andere Sorgen. Ein starker Mann soll her, der endlich etwas für das Dorf tut. Das ist hier klar. Aber wer? Jelzin hat das Dorf verraten. Auch darüber ist man sich einig. Szuganow hat außer der Rekollektivierung nichts anzubieten. Ein General muß her, schlägt eine Frau vor. Alexander Lebed zum Beispiel! Löst ein General die Probleme?

O-Ton 33: Sowchose, 1. Frau     0,42

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:    „Aber ja!“ lacht die Frau. „Wir brauchen doch bloß jemanden, der mal richtig richtig zufassen möchte. Da wird uns doch gleich viel wohler!“
Der sexuelle Unterton ist unüberhörbar. Schirinowskis Anbiederungen aber lehnen die Frauen ab: Er sei ein grobschlächtiger Kerl, finden sie. Von der Sorte hätten sie genügend auf der Sowchose. Da könnten sie ja gleich einen Stallburschen nehmen.
Gorbatschow? Jawlinski? Fjodorow? Müde winken die Frauen ab. Keiner von denen sagt ihnen zu:

O-Ton 34: Sowchose, Ende    0,40

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:     „Aus dem größeren Übel wählen wir das Kleinere aus“, erklärt eine Frau. „Aber wer das sein wird, wissen wir noch nicht“
„Sie sind doch alle gleich“, murrt eine andere: „Viel Worte, keine Taten. Alles für ihre Taschen – für uns tun sie nichts!“
„Wir entscheiden am Tag vor der Wahl“, meint eine dritte. „Je nach dem Wetter?“, versuche ich zu scherzen. „Genau! Nach dem Wetter!“ geben die Frauen zurück.
…da, pagoda

O-Ton 35: Tür, Fahrt, Pawel    1,30

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:     „Er ist ein Mensch des Übergangs“ kommentiert Pawel während der weiteren Fahrt Boris Jelzins bemerkenswerte Auferstehung:

Übersetzer:     „In schwierigen Momenten aktiviert er sich und beginnt zu kämpfen. Er muß siegen. In alltäglichen, friedlichen Zeiten verfällt er in Depressionen, trinkt Wodka. Niemand weiß es genau, aber sein Gesicht sieht so aus. Jetzt ist er aktiv geworden, hat Versprechungen abgegeben. Einige davon bemüht er sich sogar zu erfüllen. Wenn er Präsident bleibt, wird er sich in einem halben Jahr wieder beruhigen und alles wird sein wie es war. Es kann sogar sein, daß das nicht schlecht ist für Rußland. Im Moment ist jede Veränderung gefährlich. Neue Leute könnten kommen, die das Bisherige niederreißen – aber nur in ihrem Interesse. Wie es immer in Rußland war. Dann kommen wieder neue und reißen wieder alles ein. Wann diese irre Situation aufhört, weiß ich nicht.“
…duratski situazi, ja nje snaju

O-Ton 36: Kolotschinsk, Bus-Ankunft    0,22

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mehrmals zwischendurch hochziehen

Erzähler:     Busbahnhof Kolotschinsk, sibirische Industriewüste. Unsere letzte Station. Der Ort besteht aus einer Ansammlung von kasernenartigen Bauten mitten auf freiem Feld. In dem halb verrosteten Bus warten Dörfler aus der Umgebung. Man sieht ihnen an, daß sie zu den Opfern, nicht zu den Gewinnern der Perestroika zählen. Hier mindestens hatte ich eine Stimmung für Szuganow oder Schirinowski erwartet:

O-Ton 37: Im Bus            0,50

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch nach Belieben hochziehen, nach Erzähler ganz hochziehen

Erzähler:     „Bloß nicht Suganow!“ krächzt eine Alte, „Laß Jelzin bloß bleiben!“ schallt es mir stattdessen von allen Seiten entgegen.. Schirinowski? Der hat doch auch keinen Rubel. „Wofür wählen?“ meint eine junge Frau, „das bringt doch nur Unruhue, sonst nichts!“
„Weiter wie es ist“, „Ordnung“, „Ruhe“, Stabilität“, „Soll er bloß weitermachen“. Das sind die Ansichten, die durch den Bus schwirren, als die Türen sich vor mir schließen.
…Abfahrt des Busses

O-Ton 38: Irina            1,12
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Wieder unterwegs. Die letzten Kilometer vor Nowosibirsk. „Das Alte“, kommentiert Irina die letzte Szene im Bus, „scheint ja immer besser als das Neue.“

Übersetzerin: „So war war es bei uns mit den Säuberungen, mit Stalin und mit Breschnjew. Ein Grund dafür, daß Leute Stalin wollten, war auch, daß man daran gewöhnt war. Alles war schon eingeübt. Die Musik war geschrieben und wurde gespielt, wieder und wieder.“
…igrali, ras sa ras

Erzähler:     Der Reformator Jelzin ist zum Symbol des Konservativismus geworden. Das Volk will keine Revolution. Es will Ruhe. Es will Ordnung. Und es wird den wählen, der diese Ordnung glaubhaft verspricht. Was man von Jelzin zu erwarten hat, weiß man oder glaubt es zu wissen. Was die anderen Kandidaten bringen werden, ist ungewiß.
Vor diesem Hintergrund entscheidet nicht das Programm, sondern persönliches Charisma und materielle Präsenz. Damit ist der amtierende Präsident, der Wahlgeschenke großzügig verteilen kann, allemal in der Vorhand.
Die wahrscheinlichste Variante des Wahlausgangs ist daher wohl ein wiedergewählter Boris Jelzin mit einem Gennadij Szuganow als starkem Opponenten. Das ist vermutlich auch der einzige Weg, der einer allmählichen Entwicklung in Rußland eine Chance gibt.

gesendet: Radio Bern

„Wir bauen eine Kirche“ Gang durch ein Dorf an der mittleren Wolgaendet: Radio Bern

Es ist das Jahr 1996. Wahljahr in Rußland. Krisenjahr. Das russische Imperium ächzt in allen Fugen. Boris Jelzin hat soeben seinen Ukas zur Privatisierung auf dem Lande erneuert, nachdem der erste von 1991 nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hat. Zuvor hatten seine Gegenspieler in der Staatsduma einen Kodex verabschiedet, der die Privatisierung auf dem Lande faktisch beendete, indem er die Landvergabe davon abhängig machte, ob der Boden von seinem zukünftigen Eigner landwirtschaftlich genutzt werden würde.
In Sugudski, einem kleinen Flecken an der mittleren Wolga, traut man weder der einen, noch der anderen Variante. Dort sucht man eigene Wege.     Ich werde überrascht sein. Das hatte mir mein Reisebegleiter versichert, der russisch-tschuwaschische Schriftsteller Michail Juchma, als er mich zu einer Fahrt in sein Heimatdorf einlud.
Man erreicht Sugudski nach einer langen Fahrt von Tscheboksary aus im Süden der Republik Tschuwaschien. Das ist eine der 15 autonomen Republiken, die in der russischen Föderation heute nach einer relativen Autonomie streben. Die Straße führt durch welliges, offenes Gelände. Ab und zu weisen Schilder nach links oder rechts, meist noch unter den alten Bezeichnung der Kolchosen. Auch Sugudski wird so angezeigt. Nur wenig später taucht das lockere Haufendorf am Horizont auf.

O-Ton 1: Ankunft im Dorf            (1,10)

Regie: Langsam kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler hochziehen:

Erzähler:     An schmucken Holzhäusern vorbei geht es ins Dorfinnere. Wir halten vor einem Bauplatz.
Was für ein Bild! Das ganze Dorf scheint versammelt.
„Hier wird eine Kirche gebaut“, erklärt einer der Männer. Es ist der ältere Bruder meines Reisebegleiters Michael Juchma. Er ist Lehrer hier im Ort. Hier helfe man sich gegenseitig, werde ich weiter belehrt: Fundament hat die Kolchose gesetzt. Alles Übrige ist Geld des Volkes. Jeder hat es etwas gegeben.
„Es baut Volk“, ruft man mir zu. „Mit dem Geld des Volkes.“
„Freiwillig. Ohne Bezahlung“, ergänzt Michail Juchma. „Volkstarif!“
„Freiwilliger Einsatz“, bekräftigt noch jemand.
…nemerna, nasewaitsja nasch, Frauenstimmen

O-Ton 2: Frauenstimmen            (0,27)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Hier steht eine Gruppe von Frauen am Betonmischer. Junge, alte. In geblümten Kleidern die einen, in Trainingshosen oder Jeans die anderen, fast alle in jenen typischen nach hinten gebundenen Kopftüchern.
„Eine Kirche bauen wir“ sagen sie.            Freiwllig? Na klar, freiwillig! Und ohne Bezahlung.
„Wir helfen“, lachen sie, „wir geben den Männern bescheid, damit sie es richtig machen.“

…snajem, Lachen

O-Ton 3: Männer                    (0,43)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     „Ja, das wird unsere eigene Kirche. Die bauen wir alle gemeinsam“, bestätigen diese Männer. Im Nachbardorf, bei den Tataren machen sie es genauso, setzen sie hinzu. Nur dort ist es eine Moschee.
Nach dieser Auskunft wenden sie sich wieder ihrer Arbeit zu, jetzt in tschuwaschischer Sprache. Das ist die Muttersprache, die hier auf dem Dorf gesprochen wird.

…Männer: tschuwaschisch

O-Ton 4: Männerstimme, Forts.             (0,24)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     Alle Dörfler beteiligen sich an dem Bau, sagt der Mann. Den ganzen Tag wird gearbeitet. In nur drei Tagen wurde das Fundament gelegt und die äußeren Mauern soweit hochgezogen, daß das Dach aufgesetzt werden kann. Am Turm wird auf halber Höhe gemauert. Unfaßbar, wenn man bedenkt, wie lange Bauten sonst in Rußland zu dauern pflegen.

… kak bistra ..(Frau): poverit

O-Ton 5: Kind                    (0,46)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    Auch die Kinder sind dabei.
„Nun sag schon, wie Du heißt, drängen die Erwachsenen, „und was Du hier machst.“
Sascha, antwortet der Kleine. Steine trägt er heran.
„Hier arbeitet das ganze Volk“, sagt Michail.     „Freundschaftlich miteinander“ ergänzen die anderen. „So kann man irgendwie überleben, aber das geht alles kaputt, wenn jetzt Perestroika stattfindet, sagt dieser Mann.“

Erzähler:     Über hundert Leute arbeiten hier auf diese Weise. Eine Gruppe junger Mädchen versuche ich vergeblich ins Gespräch zu ziehen. Mehr als verlegenes Kirchern ist ihnen nicht zu entlocken und so schnell wie möglich huschen sie weg.
Eine der umstehenden Frauen dagegen nimmt sich dafür umso mehr Zeit. Fast empört antwortet sie auf die Frage, wozu die Kirche nötig sei:

…Gänse…

O-Ton 6: Frau                            (026)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, untzerlegen, hochziehen

Übersetzerin: „Zum Beten doch! Betet man bei Ihnen nicht?
Bei uns gehen die Menschen viel in die Kirche. Aber die alte Kirche ist klein. Die Luft reicht nicht. Ja, ja. Deshalb gab es die Entscheidung, die Große zu bauen.“
…bolschoi stroits

Erzähler:    Stolz zeigt sie auf die alten Frauen, die rundherum beschäftigt sind:

O-Ton 7: Frau, Forts.             (0,26)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Übersetzerin: „An unserer neuen Kirche arbeiten auch die Großmütter. Sie sind mehr als sechzig, manche siebzig Jahre alt. Sie setzen sich alle für die Kirche ein. Zuhaus können sie ja sowieso nichts tun. Aber in die Kirche gehen sie. – Ja, es ist ein freundliches Volk hier.“

…narod druschni, Baugeräusche

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Wie es bei uns mit dem Glauben stehe, will sie noch einmal wissen. Meine Auskunft, daß die Menschen bei uns wenig zur Kirche gingen, paßt nicht in das Bild, das sie in den letzten Jahren vom Westen gewonnen hat:

O-Ton 8: Frau, Forts.             (0,42)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Wenig? Aber wie das? Wenn sie nach Moskau kommen, sind sie doch ganz besessen darauf, die Kirchen zu besuchen. Sie fahren extra dort hin. Ich habe sie gesehen, wenn sie ankamen, wie sehr sie sich interessierten.“

Erzähler:     Daß Touristen Kirchen als Kunstdenkmäler betrachten und allein deshalb aufsuchen könnten, ist ihr im höchsten Maße suspekt:

Übersetzerin: „Ach ja? Na sowas. Das höre ich bei Ihnen zum ersten mal. Das habe ich bisher nicht gewußt, daß sie nur so gehen. Ich dachte sie, seien gläubig.“

…veruischi,Stimmen Lärm, Zurufe

Erzähler:    Eine Gruppe von Männern ist mit dem Behauen und Richten der Dachbalken beschäftigt. Auch sie antworten bereitwillig auf alle Fragen.
Wie der Bau der Kirche zustandekam?
Spontan beginnt einer in tschuwaschischer Sprache zu reden. Erst als ich ihn darauf aufmerksam mache, daß ich ihn nicht verstehe, wechselt er fast unmerklich ins Russische:

O-Ton 9: Männer, Forts.            (1,13)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, wir bauen die Kirche auf Bitten unseres Väterchens und der Hauptadministration. Sie entschieden, diese Kkirche zu bauen.
Früher hatten wir ja eine Kirche. Das liegt wohl siebzig Jahre zurück. Sie wurde 1749 hier gebaut.“

Erzähler:    „Eine große Holzkirche war das“, ergänzt einer.
Dann zählen die Männer die Bedingungen auf, die den Bau der neuen Kirche erst möglich gemacht haben: Erstens: Das Dorf ist direkt im Gebietszentrum vertreten. So konnte man selbst entscheiden. Zweitens: Einige Dörfler arbeiten in der nahegelegenen Ziegelfabrik. So kommt man an die notwendigen Ziegel. Denn die sind Defizit.

Übersetzer:     „Vor allem aber helfen die Großmütter und Großväter! Sie alle arbeiten. Prachtkerle! Wenn sie nicht helfen würden, könnte man eine solche Kirche natürlich nicht in drei Tagen hinstellen. Prachtkerle, wie sie arbeiten!

…malatzi rabotajet (plus Frage)

O-Ton 10: Männer, Forts.             (0,25)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:    Aber trotz allem wird es nicht so schnell gehen, wie gewünscht: Finanzprobleme! Es ist nicht klar, wo das weitere Geld herkommen soll. Das wird trotz allen Enthusiasmus auch hier im Dorf  eine Pause erzwingen:

Übersetzer:     „Ja, ohne Pause schaffst Du es nicht. Aber im nächsten Jahr wird sie wahrscheinlich schon tätig sein.“

…usche rabotaet mit Geräusch

Erzähler:     Selbst das wäre für russische Verhältnisse noch ein Blitztempo. Das Geld muß schließlich von allen Seiten zusammengekratzt werden.

O-Ton 11: Männer, Forts.            (0,39)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Einige Leute geben sehr viel. Dann die Bevölkerung selbst. Auch die Kolchose hilft. Sie hilft mit Lastwagen, mit Zement und mit dem und dem  – das Fundament haben sie gelegt; die Bevölkerung hat vor allem mit Geld geholfen.“

…nacelennje, gänse

O-Ton 12: Männer, Forts.             (0,51)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Die Kolchose existiert wie früher, erzählen die Männer. Ob es denn keine Privatisierung gegeben habe? Hier noch nicht, antworten sie. Es gibt eine Genossenschaft von mehreren Bauern, aber auch die arbeiten gemeinsam und kooperieren mit der Kolchose. Insgesamt hat das Dorf 600 Höfe. 600 Familien leben darin. Das sind gut 2000 Menschen. Die meisten sind irgendwie in dritter oder vierter Linie miteinander verwandt.
„Bei uns ist die Kolchose noch nicht zerfallen“, sagt einer der Männer. „Ein Dorf, eine Kolchose“, bestätigt ein anderer. So wie man die Kirche baut? „Jaja“, stimmen die Männer zu: „Alle zusammen. Alle miteinander.“

…bjo mestje, da,da … Gänse 386)

O-Ton 13: Männer, Forts.            (0,59)

Regie: verblenden, hochziehen zum Stichwort „Satschem“, abblenden, unterlegen, nach dem 2. Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:     Hier wird deutlich, was eine Kolchose von eine Sowchose unterscheidet. Die Sowchose ist ein Staatsgut, die Kolchose ein freiwilliger Zusammenschluß. Dieser Unterschied hatte sich zeitweise verwischt. Heut wird er wieder wichtig. Dafür wird die Kirche gebraucht. Wieso?
Sie verstehen die Frage zunächst gar nicht:

Übersetzer:     „Wieso? Ach wieso! Um unsere alten Traditionen wiederentstehen zulassen, natürlich, die unserer Vorfahren.“

Erzähler:     Aber nicht die vorchristlichen Traditionen der tschuwaschischen Frühzeit sind damit gemeint. „Von so etwas reden nur die Intellektuellen in den Städten“. Darin sind die Männer sicher. „Das Volk, meinen sie, nimmt sowas nicht an.“
Alte Tradition bedeutet für sie Christentum: „russisch-orthodoxes Christentum, korrigiert einer der Männer.

…prawoslawna zerkwa, da,da

O-Ton 14: Männer, Forts.            (0,36)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Erzähler:    Es soll also alles so werden wie vor der Revolution? „Ja, ja“, bestätigt die Runde.
Michail Juchmas älterer Bruder, der Dorflehrer, bemüht sich um eine genauere Erklärung:

Übersetzer:     „Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie das war, als die Kirchen damals verbrannten. Aber diese Kinder, die hier mitbauen, hätten noch vor zehn Jahren eine Kirche nicht einmal betreten dürfen. Wenn ich als Lehrer etwa davon gewußt hätte, daß Kinder in die Kirche gehen, hätte man mich dafür aufgehängt. Jetzt kehren die Traditionen zurück, die es gegeben hat. Was man da jedoch über die alten Götter erzählt…ach, da war heute zum Beispiel so ein Artikel in der Zeitung: Sollen wir vielleicht ins Steinzeitalter zurück?“

…xotjat vernutsja?

O-Ton 15: Männer, Forts.             (0,37)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Erzähler hochziehen

Erzähler:     Hier deuten sich heftige Differenzen an; die den Dorflehrer auch mit Michail Juchma, seinem jüngeren Bruder, in Konflikt bringen könnte: Russische oder tschuwaschische Wiedergeburt?
Aber die Männer wollen keinen Graben aufbrechen lassen: „Wir haben nur einen Glauben“ sagt einer kategorisch. „Es geht um die Kirche. Es ist einfach der Glaube“, setzt ein anderer nach, „egal ob russisch oder tschuwaschisch.“
„Ich erkläre es ihnen“, springt der Lehrer ein:

…xoroscho, ja otbetschu

O-Ton 16: Männer, Forts.             (1,12)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,nach dem Erzähler kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegt halten

Übersetzer:    „Im zehnten Jahrhundert hat Wladimir die Russen christianisiert, 995; unsere Bevölkerung, die von Szugudslki, erst 1745. Das war spät, viel später natürlich. Aber diese Tradition ist nun doch schon 250 Jahre alt.“

Erzähler:    Auch Hinweise auf heidnische Feste, die in der tschuwaschischen Bevölkerung noch begangen werden, können den Dorflehrer von seiner Sicht nicht abbringen. Die alten Sitten hätten heut einen christlichen Sinn, findet er. Vorchristliche Vorstellungen seien schon lange vergessen.
Zur Bekräftigung läd er mich ein, der provisorischen alten Kirche einen Besuch abzustatten.

…posmotrim, idiom

O-Ton 17: In der alten Kirche            (0,18)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    Die alte Kirche liegt gleich nebenan im Hintergelände der neuen. Der blauweiß gestrichene Holzbau hebt sich kaum von den übrigen Häusern ab. Der Priester, vollbärtig, rundlich, von etwas schmuddeliger Gemütlichkeit führt uns gleich ins Innere: Das sind zwei winzige Räume, vollgestellt mit großen und kleinen Heiligenbildern, Kruzifixen und Leuchtern. Der Ort strahlt eine tiefe religiöse Intimität aus, vor allem durch die ungewöhnlichen Ikonen:

…zenu netto

O-Ton 18: Priester                (0,13)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:    „Hier diese hat jemand selbst gemacht. Ein örtlicher Künstler, der da drüben lebt. Und hier diese hat man uns von zu Hause gebracht.“

Erzähler:     Bereitwillig zeigt er die Reichtümer vor.

O-Ton 19: Priester, Forts.             (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Hier, die hat man auch von zu Haus gebracht. Man muß der Kirche ja helfen! Und so hat man alles hierhergebracht. Wenn wir später größere Möglichkeiten haben, dann können wir auch gute Ikonen aufstellen. Aber so geht es es jetzt erst einmal mit den selbstgemachten. Das ist ja alles hausgemacht.“

…swje vot eto damaschneje

Erzähler:     Der Dorflehrer nimmt die Gelegenheit wahr, die Frage nach den Traditionen noch einmal aufzugreifen:

O-Ton 20: Juchma der Ältere            (1,05)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Ich fahre fort: Also vor 250 Jahren hat unser Dorf das Christentum angenommen. Dahin kommen wir jetzt zurück. 1930 begann der Druck auf die Kirche. 1936 hat man sie geschlossen. 1956 war die alte Kirche vollkommen kaputt und 1991 wurde diese neue hier aufgemacht. Und was interessant ist: hier tagte früher der Dorfsowjet! Man konnte kein passendes Gebäude finden, da haben alle gemeinsam so entschieden. Der Bezirkssowjet, der Bauernsowjet, sie alle entschieden, daß man das Begbäude des Landwirtschaftssowjets für die Kirche nehmen kann. Den Turm haben wir nachträglich gebaut. – Das ist Wiedergeburt der Traditionen, Wiedergeburt des Alten.“

…vorrasschennije starinnije

Erzähler:     1991 veranlaßte Gorbatschow ein Gesetz zur Religionsfreiheit. Der Pater ist schon der zweite, der seitdem in der kleinen Kirche tätig ist. Wie sein Vorgänger hat er sich lange auf diese Tätigkeit vorbereitet:

O-Ton 21: Prister, Forts.             (0,20)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich habe früher gelernt, habe das Landwirtschafts Institut beendet, habe in der Kolchose gearbeitet. Dann bin ich in einen anderen Bezirk gegangen. Dort habe ich in einem Kloster gearbeitet, zehn, fünfzehn Jahre. Dann bin ich schon hieher berufen worden.“

…dawno, dawno

Erzähler:     Die eigene Laufbahn findet der Pater nicht besonders ungewöhnlich. Seine Gemeinede aber sit in seinen Augen etwas Besonderes:

O-Ton 22: Priester, Forts.            (0,28)
(483 – 490)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Ich sehe das so: Dieses Dorf ist wie eine Schlafgemeinschaft, wie eine Familie. Sie kennen einander, sie helfen einander, sie unterstützen sich gegenseitig, sie spornen sich gegenseitig an. Im Baterski Bezirk da draußen ist das ganz anders. Da kennt man sich nicht gegenseitig. Da gibt es diese Verbundenheit nicht, nicht diese Freundschaft, nicht diese Familiarität. Aber hier kennt man sich, schätzt man sich. Sicher gibt es einige, die nicht wollen, aber die meisten wollen so zusammenleben.“

Erzähler:     Als Ausnahme möchte er das Dorf aber doch nicht betrachtet wissen:

O-Ton 23: Priester, Forts.            (0,25)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    „Eine Ausnahme möchte ich es nicht gerade nennen. Dasselbe geschieht ja auch woanders. Ich möchte zum Beispiel nicht schlecht über das Nachbardorf reden, die Tataren. Obwohl sie keine Christen sind, helfen sie uns auch.“
…poderschit nas

Erzähler:     Daß die Tataren eine Moschee bauen, stört den Pater nicht:

O-Ton 24: Priester, Forts.            (0,36)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem 1. Erzähler hochziehen

Übersetzer:    „Nun, ja, sie bauen eine Mosche. Aber sie helfen auch uns, sie sind nicht gegen uns. Klar, gehen wir wir nicht direkt miteinander um. Aber als sie uns Geld schickten – Natürlich! Danke, das war gut. Das nehmen wir. Da gibt es nichts Schlechtes. Wir leben freundschaftlich miteinander, kollektiv. Ja, wenn wir um Hilfe bitten, dann kommt Hilfe. Es ist ein hilfsbereites Volk.“

Erzähler:     Fünfzehn neue Kirchen und ebensoviele Moscheen gibt es seit 1991 im Baterski Bezirk. Eine Art Wettbewerb ist entstanden, welches Dorf am schnellsten das schönste Gotteshaus bauen kann. Dabei geht es offenbar weniger um einen bestimmten Glauben als vielmehr um die Schaffung eines neuen moralischen Zentrums kollektiver Gemeinsamkeit. Das Gotteshaus ist der höchste Ausdruck der Dorfgemeinschaft. Dafür werden sowohl die persönlichen Altäre, wie die privaten Konten und sogar die nichtvorhandenen öffentlichen Gelder geplündert.

…narod otsifschowi und auslaufende Geräusche

Erzähler:     Vor der Kirche wartet schon der Dorfschulze. Er ist ein junger, dynamischer Mann von freundlichem Äußeren. In ihm könne ich einen Leiter neuen Typs kennenlernen, hatte Michail Juchma vor der Fahrt versprochen, einen, der die sowjetische Macht mit der neuen Art der Wirtschaftsführung in einer Funktion verbinde. Danach befragt, antwortet der Angesprochene locker, wie es diesem Image entspricht:

O-Ton 25: Administrator            (0,14)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Funktion? Naja, Aufgabe, meinen Sie: Kopf der Verwaltung dieses Dorfes und Vertreter der Kolchose in einem.“

…predsedatel Kolchosa

Erzähler:     Einige Widersprüche bringe diese Personalunion schon mit sich, räumt er ein, Aber der Demokratie schade das nicht, versichert er, jedenfalls nicht in so kleinen Orten wie in Sugudski:

O-Ton 26: Administrator, Forts.            (0,41)
(535 ..nach meiner Frage 545

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ja klar, Demokratie soll schon sein! Aber das bedeutet ja auch: Es ist so, wie es jeder versteht. Woanders sieht man es vielleicht anders: Hier ist alles in einer Person. Der Idee nach soll das Volk wählen: das ist geschehen, hier im Ort und dort in der Kolchose, in der Kolchose natürlich öffentlich, im Ort, für die Administration in geheimer wahl. Aber Demokratie war das schon. Das Volk selbst wollte es ja so.“

…polutschajetsja

Erzähler:    Auch sonst hat man der neuen Zeit durchaus Genüge getan, findet Pjotr Nikolajewitsch Nikiferow.
Und wie ist der Stand der Privatisierung?

O-Ton 27: Administrator, Forts.            (0,46)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nun, Privatisierung! Jeder Kolchosnik kennt heut seinen Anteil, weiß daß er Land hat. Das ist alles aufgeteilt nach einzelnen Stücken. Auch das Vermögen ist aufgeteilt. Alle wissen, wieviel Millionen wir hier rundherum besitzen. Aber niemand hat Eile, sich einzeln abzusetzen. Es gibt 19 einzelne Bauern, aber keine Privatbauern, sondern selbstständige Wirtschaften. Seit zwei drei Jahren gibt es die. Einige wollen zurück jetzt in die Kolchose.“

…kolchos, hm

Erzähler:     Eine Schule hat das Dorf, erzählt Nikiferow, unterstützt durch die Umstehenden. 420 Kinder werden dort unterrichtet. Ein Kulturhaus wird unterhalten. Im Dorf werden die traditionellen Feste gepflegt. Pjtotr Nikiferow persönlich hat den bekanntesten Sohn des Dorfes, Michail Juchma, zur Niederschrift der Geschichte des Dorfes angeregt. Er hat auch für die Herausgabe der entsprechenden Broschüre durch die Kolchose gesorgt. Die Häuser sind groß und gepflegt, viele sehr schön geschnitzt und bemalt.
Lebt man also nicht schlecht in diesem Dorf?

O-Ton 28: Adminstrator, Forts.        (0,42)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:         „Nun, wir leben“, lacht Pjotr Nikiferow, bevor der Dorflehrer Juchma die weitere Erklärung übernimmt:

Übersetzer:        „Wenn Sie durchs Dorf gehen, dann sehen Sie, was gebaut wird! Wie da Häuser gebaut werden! Wenn gut gebaut wird, wenn schöne, große Häuser gebaut werden, dann bedeutet das, daß man gut lebt. Wenn da kleine Hütten stehen, schief und kaputt, dann heißt das, man lebt schlecht. Bei uns im tschuwaschischen Volk liebt man es zu bauen. Kann sein, daß man manchmal nicht so gut ißt, aber man baut! Kann sein, daß man sich manchmal nicht so gut kleidet, aber man baut gute Häuser.“

…Trecker

Erzähler:     Sein Bruder Michael ergänzt:

O-Ton 29: Michael Juchma            (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Das Interessanteste ist natürlich, mit welchen Methoden gebaut wird; in der Art wie die Kirche gebaut wird, werden auch die Häuser gebaut: Wenn jemand in Elend gefallen ist, dann versammelt sich das Volk und baut gemeinsam ein Haus, ebenso wie jetzt da neben an. Das ist Familienhilfe, die Hilfe der `obschtschina´, der Dorfgemeinschaft.“

…obtschina, trecker

Erzähler:    Ich habe verstanden: Auf allgemeinen Zerfall antwortet das Dorf mit engerem Zusammenschluß, genereller gesprochen, auf den Verfall des Staatskollektivismus mit dem Bemühen um Wiedergeburt der ursprünglichen Dorfgemeinschaft. In Gemeinden wie in Sugudski kommt dazu noch das ethnische Band.
Aber schlägt denn die allgemeine Krise so gar nicht auf das Dorf durch?

O-Ton 30: Administrator, Forts.             (0,39)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Schwierigkeiten? Klar, gibt es genug, angefangen bei den täglichen Nahrungsmitteln. In diesem Jahr haben wir zum Beispiel besondere Probleme mit dem Gemüse. Wir haben zuviel Gurken, Kohl, Mohrrüben und dergleichen. Das wird schon an die Schweine verfüttert. Es liegt an den Finanzen. Die Realisierung geht nur schwer vor sich. Die Leute haben zu wenig finanzielle Möglichkeiten zu kaufen. Das wirkt sich schon auf die Finanzen der Kolchose aus.“

…na finanzogo kolchosa vlijajet

Erzähler:     Dazu kommen die Steuern: 60% Prozent muß ein landwirtschaftlicher Betrieb abführen.
Kommt Pjotr Nikiferow da nicht in Versuchung, falsche Zahlen anzugeben, wenn er als Direktor des Kolchos beim Administrator des Dorfes die Steuern erklären muß? Man sollte meinen, diese Frage, brächte ihn in Verlegenheit, weil er sich als Dorfzar hingestellt sieht. Aber der Gefragte lacht auch jetzt wieder gemütlich:

O-Ton 31: Administrator, Forts.            (0,51)
(613 (lachen) – 623)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, die Steuern der Kolchose werden auf einem Konto gesichtet. Wieviel zu zahlen ist, ist ja bekannt. Das überweisen wir. Es gibt ja auch eine Steuerinspektion bei uns, eine Steuerpolizei. Wenn die Gesetze mißachtet werden, kommen sie sofort. Da gibt es eine hohe Strafe. Es ist eine große Verantwortung. Was das Gebiet betrifft, so fallen da wenig Steuern an, vor allem Bodensteuer, kleine Summen nur.“

..ne bolhschaja summa

O-Ton 32: Administrator, Forts.            (1,40)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Aber „kranke Frage“ gebe es viel, bricht es dann doch aus ihm hevor, lauter noch als der Trecker:

Übersetzer:     „Die ganze Perestroika! Wie soll ich sagen? Die Fabriken stehen. Die Industrie arbeitet nicht. Maschinen für die Landwirtschaft werden nicht angeboten. Und wenn. dann sind sie sehr teuer, von mangelhafter Qualität. Früher haben wir aus Deutschland, aus der DDR Maschinen bekommen, die waren langlebig und von guter Qualität. Aber jetzt? Unsere? Mist!. Das ist das eine. Das andere ist die Disproportion der Preise zwischen den landwirtschaftlichen Produkten und den Maschinen. Im Ergebnis gab es keine Erneuerung der Technik in den letzten Jahren. Wenn  man die Kolchosen und Sowchosen des Bezirks betrachtet, dann hat kaum jemand Maschinen, Traktoren, Mähdrescher gekauft. Und wenn wir weiter so leben, ohne die Maschinen zu erneuern, dann gibt es in zwei, drei Jahren nichts mehr zu arbeiten, vermutlich.“

… nitschen ostajotsja nawerna (direkter Anschluß)

Erzähler:     Vom Leiter hänge natürlich in solchen Zeiten viel ab, relativiert Pjotr Nikiferow seinen Ausfall gleich wieder. Man könne einigermaßen existieren, wenn der Leiter aktiv sei. Das ist Michail Juchmas zweites Stichwort nach dem der „obschtschina“:

O-Ton 33: Michail Juchma            (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz     stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Siehst Du, jetzt werden die Schwierigkeiten von den Leitern aufgefangen. Von solchen, die es gewohnt sind, selbst zu arbeiten, nicht per Auftrag. Früher achtete jeder Leiter nur darauf, was das Bezirkskomitee sagt, das Gebietskomitee. Jetzt sind solche Leiter untendurch. Warum baut unser Dorf? Das hat es ihm zu verdanken, weil er genau weiß, was zu tun ist, wie es zu tun ist! Er sucht selbst Auswege. Er fährt selbst hinaus, er verhandelt selbst. Er sucht selbst die Leute auf, mit denen zusammenzuarbeiten ist.“

…nada rabotats

Erzähler:     Die Dorfgemeinschaft auf der einen, der starke Leiter neuen Typs auf der anderen Seite, der sich auch um das Wohl des Dorfes auf dem Markt kümmert. Das ist es, was Michail Juchma mir zeigen wollte. Und in Verbindung dieser beiden Elemente bekräftigt der so Gelobte in den dafür typischen russischen Sprachwendungen, in denen „Ich“ und „Wir“ nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind:

O-Ton 34: Adimistrator             (0,47)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „So leben wir einigermaßen. Wir haben Straßen gebaut in diesem Jahr. Auch die Elektrifizierung haben wir erneuert. Im nächsten Jahr wir die Heizung schon elektrisch sein. Trotz allem arbeiten wir irgendwie…“

Regie: kurz stehen lassen, abblenden,, nach Erzähler wieder hochziehen und auslafen lassen

Erzähler:     Mit diesen Worten verabschiedet Pjotr Nikiferowitsch sich. „Es ist ein reiches Volk“, präzisiert er später im Büro seine Alternative, „man muß ihm die Chance geben, die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln: nicht so viel importieren, sondern die eigenen Produkte vor Ort stützen.“
Damit ist aus der Sicht des Dorfschulzen gesagt, worüber die Wahl des Präsidenten in ein paar Wochen entscheiden soll.

…Fahrtgeräusche

gesendet:  Radio Bern

„Tränen in einem Ozean“ – Russische Medien zwischen Zensor und Mafia

Vorspann:

Rußlands „Glasnost“ ist ins Gerede gekommen.  Sechs Journalisten kamen in den ersten Monaten dieses Jahres in Rußland ums Leben; siebenundzwanzig waren es seit Anfang 1993.  14 Tote, 30 Verletzte, 23 Geschlagene, 100 mit „Warnschüssen“ Eingeschüchterte, 146 willkürlich Aufgehaltene sowie hunderte alltäglicher Behinderungen gehen dabei auf das Konto des Krieges in Tschetschenien. Kaum einer der Vorfälle wurde verfolgt. Eins von den wenigen Verfahren, das überhaupt angestrengt wurde, endete soeben als Farce: Die Erschießung Natalia Aljakowa-Mrozeks durch einen russischen Posten während der Geiselnahme von Budjonnowsk im Sommer 95. Ihr Tod soll als Zufall zu den Akten gelegt werden.  So war es kürzlich von Vertretern der Moskauer „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ bei einem Forum von Journalisten Hamburg zu erfahren. Alexej Simonow, Gründer der „Stiftung“, faßte die heute entstandene Lage auf dem Forum so zusammen:

O-Ton 1:    Alexej Simonow         (1,26)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzere hochziehen, verblenden

Übersetzer:    „Ich möchte mit einem Paradoxon beginnen: Als ich meine Thesen für diesen Vortrag schrieb, kam mir in den Sinn, die folgende Frage zu stellen: Ist ein Watergate im heutigen Rußland möglich? Dazu kann ich sagen: Material, das für zehn oder zwanzig Skandale im Stile Watergates gereicht hätte, wurde veröffentlicht. Doch die öffentliche Resonanz ist gleich Null. Daraus kann man recht klar die Grenzen dessen erkennen, was wir `Glasnost´ nennen: Glasnost, also die Möglichkeit Fakten herauszufinden und diese, wenn auch mit Risiko für deinen Beruf, deine Zukunft, dein Leben, zu veröffentlichen, besteht. Aber es gibt keinen gesellschaftlichen Mechanismus, um mit diesen Fakten auch Einfluß zu nehmen. So kommen wir zu dem Paradoxon, daß es in Rußland Glasnost gibt; eine Freiheit des Wortes als gesellschaftliche Übereinkunft aber nicht.“
(…w Rossije njet.“)

Erzähler:    Gisbert Mrozek, der Ehemann der getöteten Natajla Alikowa,  selbst als Journalist in Moskau akkreditiert, eröffnete seine Schilderung der Vorgänge um den Tod seiner Frau mit der Feststellung:

O-Ton 2:     Gisbert Mrozek     (0,34)
Regie: O-Ton ganz durchlaufen lassen

O-Ton Mrozek:    „Trotz aller Besonderheiten: der Tod von  Natascha, der Tod von Jochen Piest, der Tod von vielen anderen ist für mich nichts anderes als eine Träne im Ozean.  Das ist alles fürchterlich gewöhnlich. Und das Besondere war nur, daß hier plötzlich viele Leute auch in Europa, auch in Deutschland aufgehorcht haben und sich irgendwie geäußert haben.“

Erzähler:     Wer eine Erklärung für das von Alexei Simonow aufgezeigte Paradoxon sucht, daß Glasnost in Rußland besteht, die Freiheit des Wortes aber nicht, der muß in den von Gisbert Mrozek genannten Ozean tauchen.

O-Ton 3:     Druckmaschinen     (0,32)
Regie: langsam hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden.

Erzähler:     Eine Druckerei an der mittleren Wolga. Hier wird noch Handarbeit geleistet: Bleisatzverfahren.

O-Ton 4:     Hausbesichtigung mit dem Direktor     (0,43)
Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler:    Aufträge fehlen, Geld fehlt, teilt der Direktor  mit, während zum zweiten Stock hinaufsteigen, wo er mir die Satzcomputer zeigen will. Zwei ältere Modelle westlicher Bauart stehen da. Daneben eine alte Offsetpresse. Import aus Indien, bemerkt der Direktor müde. Alle Maschinen stehen. Früher sind wir mit zwei Schichten nicht ausgekommen, sagt der Direktor. Jetzt ist nicht einmal eine Schicht richtig besetzt.“
Ob die Drruckerei so überleben könne?
(.. w Rossije“)

O-Ton 5:     Direktor der Druckerei     (0,29)
Regie: O-Ton kommen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Schwer. Schwer. In letzter Zeit ist es so schwer. So arbeiten? Nein. Neue Entlassungen wird es geben, wie schon einmal `92. Wir hatten ja neun Zeitungen, aus neun Bezirken und noch andere Blätter. Die werden jetzt alle vor Ort gedruckt, nach alten Methoden, so wie unten bei uns. Bei uns ist es zu teuer: Man muß herfahren, einen Telegraf kann man nicht bauen. So muß alles am Ort gehen.“
(…swje na mestje)

Erzähler:     Vor der Tür treffen wir auf Wladimir Furkov, einen vierschrötigen, einfachen Mann. Er ist Lokalredakteur der Zeitung „Avantgarde“, die hier gedruckt wird. Wladimir Furkow ist aufgebracht:

O-Ton 6:     Redakteur der Landzeitung, Furkow     (0,42)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen, mit o-Ton 7 verblenden, bei Stichwort „..nje dadut nam“ kurz hochziehen, danach wieder abblenden, unterlegt halten.

Übersetzer:     „Vor drei Jahren hatten wir eine Auflage von 10.000. Das war 1980, als die Preise stabil waren und alle Geld verdient haben. Aber jetzt bekommen die Sowchosarbeiter keinen Lohn und so können sie die Zeitung nicht kaufen. Dabei ist es doch eine Zeitung für die Landbevölkerung hier bei uns. Selbst wir Redakteuere haben seit Monaten keinen Lohn gesehen. Sie geben uns einfach nichts.“

Erzähler:     Die Auflage ist auf ein Drittel gefallen. Geld durch Werbung hereinzubekommen, wie Zeitungen in der Stadt es machen, ist nicht möglich. Die Werbefirmen annoncieren nicht in einer Zeitung, die nur für die Landbevölkerung erscheint. Wladimir Furkow sieht nur einen einzigen Ausweg: Subventionen! Ohne Subventionen wird auch die Zeitung nicht überleben.
Die Frage, was er davon halte, daß die Presse „vierte Macht im Staate“ sein solle, ist für ihn schon fast eine Provokation:

O-Ton 7:     Wladimir Furkow, Forts.     (0,17)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ah, was?! Vierte Macht!? Wie kann das sein?, wenn Du abhängst von Leuten. Wenn Du um Geld bettelst. Wenn ich mein eigenes Geld hätte, dann könnten wir alles schreiben, alles herausschreien. Aber jetzt haben wir doch schon wieder Angst. Wenn man uns kein Geld mehr gibt, was dann?“

Erzähler:    Zweitausend Kilometer weiter im Osten treffen wir auf Juri Gorbatschow. Er war früher Agrarspezialist am „abendlichen Sibirien“. Seit zwei Jahren arbeitet er als Kriminalreporter. Die Zeitung ist eine von dreizehn, die heute wie eh und je im gemeinsamen „Druckhaus Sibir“ für die Stadt und die Region Nowosibirsk hergestellt werden. Früher war das Druckhaus Kopf einer regionalen Pyramide. 1989/90 war auch hier Glasnost angesagt. Jede Zeitung versuchte, ihren Weg zu finden. Man mußte Gelder durch die Werbung reinholen. Man fand neue Wege, die einen so, die anderen so: ein bißchen Abenteuer, ein bißchen Sensation, ein bißchen Erotik. Man überlebte. Jetzt spricht man auch in Nowosibirsk vom Zeitungssterben. Wieso?

O-Ton 8:     Juri Gorbatschow, Novosibirsk     (1,08)
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen, das Lachen stehen lassen, abblenden

Übersetzer:     „Nun, wenn man über die finanziellen Aspekte sprechen will, so hängt das mit dem Mord an Listjew zusammen. Obwohl das in Moskau geschehen ist, weit weg also, hat das auch hier zu finanziellen Einbrüchen geführt.“

Erzähler:     Listjew war Moderator des zweiten Fernsehkanals. Als man ihn im Sommer 1995 erschoss, wurde sein Tod in Zusammenhang mit mafiotischen Werbegeschäften gebracht. Es gab einen Erlaß der Regierung, der die Werbung aus den Medien hinausdrängen sollte. Das hat der Werbung wenig geschadet. Für die Zeitungen aber brach die wirtschaftliche Basis zusammen. Es hieß: Entweder ihr findet Geld oder es ist eben Schluß.
(…Lachen)

Erzähler:     Juri macht hält nicht hinterm Berg damit, was das seiner Meinung nach zu bedeuten hat:

O-Ton 9:     Juri, Forts.     (1,23)
Regie: verblenden, O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzer:     „Ich denke, unser Kollektiv erlebt zur Zeit seine erste Phase der Privatisierung. Das heißt, es geht darum, wer wen aussticht, wer wen fertig macht. Es geht um die Nomenklatura, darum, wer was aus dem Parteivermögen bekommen hat und jetzt bekommt. Das wird alles hier in unserem Mikrokollektv deutlich. Das kann man getrost Kommandokratie nennen. Ihr geht es um ihr eigenes finanzielles Überleben. Das Kommando rekrutiert sich nicht aus den Besten, nicht auf Grundlage von intellektuellen Leistungen, guter Recherche oder so. Es bildet sich auf Grundlage persönlicher Beziehungen. Wer oben war, ist oben geblieben. Ich selbst sehe mich plötzlich in der Situation, daß ein Buchhalter dreimal soviel verdient wie ich, obwohl ich doch Sonderkorrespondent bin.“
(…spezialni korrespondjent)

Erzähler:    Aber es sind nicht nur die Finanzen. Einen weiteren Grund sieht Juri in dem, was er den „Zusammenbruch das charismatischen Bewußtseins“ nennt. Auf Nachfrage erläutert er:

O-Ton 10:    Juri Forts.     (0,52)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:     „Nun das Charisma war derart, daß man eine Zeitung genommen hat und jedes Wort glaubte, buchstäblich. Etwa so: Das Dach ist bei einem kaputt? Er ruft an, damit ich das repariere. Er glaubt, das ich das kann. Oder das Wasser ist abgestellt?  Da ruft er mich an. Verstehst du? Die Leute wandten sich an uns. Jetzt ruft niemand mehr an. Es gibt kein Vertrauen mehr. Die Leute glauben nicht mehr, daß wir irgendwas bewirken können. Sie sehen, daß wir machtlos sind, einfach praktisch.“
(…tschista praktitschiski)

Erzähler:     Auch gut gemachte Unterhaltung, selbst Sensationen können diese Lücke auf Dauer nicht füllen. Das kann Juri aus eigener Erfahrung sagen:

O-Ton 11:     Juri, Forts.     (0,53)    Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:      „Naja, stell Dir jemanden vor, der gewohnt ist, Süßigkeiten zu kaufen. Nun wird er plötzlich mit Geschichten über Kriminalität konfrontiert, über Stalin, was der für ein Mistkerl war und keineswegs der tolle Typ, als der er immer hingestellt wurde. Und dann ständig Neues über die Krise! Das  brauchen die Leute alles nicht! Sie sagen: `Wir haben gut gelebt. Alles war in Ordnung. Jetzt kommt ihr an und erzählt uns, daß in der Nachbarschaft ein Pädophiler lebt und da oder dort hat man einen Banker erschossen.´
Das ist doch alles überflüssig! Die Streßbarriere ist bei den Leuten durch den ganzen Kram, den sie inzwischen gehört haben, so hoch, daß sie von all dem nichts mehr hören wollen.“
(…nje wosprinimajut usche)

Erzähler:     Im Rückblick auf fünf Jahre Perestroika kommt Juri zu einem sarkastischen Resumee:

O-Ton 12:     Gorbatschow, Forts.     (1,21)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich sehe das ungefähr so: Vor Jahren hatte man das subjektive Gefühl der Freiheit:  Jetzt, Leute, können wir also schreiben, was wir wollen! Aber das durchzuführen, verstanden wir nicht. Weil wir die Problematik des Marktes nicht begriffen. Das ist das eine. Außerdem war die Freiheit natürlich nicht so frei wie sie schien: Es gab sehr viele Schablonen, pseudodemokratische Mythologie, neue Zwänge. Heute verstehen wir den Markt besser, heute kann man schon konkreter arbeiten, mehr oder weniger wirklich professionell. Das ist so. Aber das Gefühl der Freiheit hat sich trotzdem verringert. Warum? Weil das Wissen um die Gefahr sich erhöht hat. Wir haben heute keine Zensur mehr, dafür sitzt der Zensor jetzt als Aufpasser mit der Automatischen und mit Pistolen im Foyer.
(…pistolettom)

Erzähler:    Um ein Beispiel gebeten, erzählt er:

O-Ton 13:    Juri, Forts.     (1,47)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, zum Lachen (1,24) zwischendurch hochziehen, wieder abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nun, an uns wenden sich Leute, die Konflikte haben mit der Bank. Da kommt eine frühere Kassiererin eines Geschäftes, das jetzt privatisiert worden ist. Sie beginnt alles über die Mafia zu erzählen, was sie weiß. Wie sieht sie das? Mit den Augen der Kassiererin natürlich: Dies ganze Herrenleben bei den neuen Besitzern: Autos, Frauen, Datschen und ich, die Kassiererin, habe nichts!
Nach der Kassiererin ruft mich der Besitzer dieses Ladens an. Er ist ein echter Mafiosi. Er gibt mir Informationen über die Bank. Aber die Bank gibt mir keine Informationen über den Mafiosi. Und so fange ich an, zwischen ihnen hin und her zu irren. Hier höre ich noch dies, dort noch das. Dann höre ich, daß schon Krieg ausgebrochen ist zwischen ihnen, daß sie sich schon gegenseitig jagen.
„Ich rufe sie also an und sage: Wissen Sie, ich will keinem von ihnen zu nahe treten, ich schätze sie alle sehr, sie sind alle sehr sympathische Leute.

Regie: Zum Lachen kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegt stehen lassen, zum Ende hochziehen

Du verstehst? Sie kämpfen ja alle irgendwie  um ihr Überleben, wenn auch vielleicht nicht in meinem Stil. – Sag mir, wozu da einmischen, wozu wenn ich in keiner Weise geschützt bin in einer solchen Situation? Wir haben nichts! Keinen Sicherheitsdienst, keine Hilfsmittel, keinen juristischen Schutz. Absolut nichts“
(…absolutna ni kak)

Erzähler:     Zur Angst für das eigene Leben kommen noch die elend niedrigen Honorare, von denen niemand existieren, geschweige denn eine Familie ernähren kann. Viele Journalistinnen oder Journalisten leben auf Kosten ihrer Ehepartner, ihrer Eltern oder sie schlagen sich mit Nebenjobs durch. Auch dies droht letztlich wieder auf mafiotische Wege zu führen, wenn sie mit dem Geld zu machen versuchen, was sie zuvor recherchiert haben.
Das Fazit ist niederschmetternd:

O-Ton 14:     Tajana Sidnikowa, Union der Journalisten (0,37)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Die Euphorie in Bezug auf die Freiheit der Presse ist vorüber. Wenn die Massenmedien früher alles getan haben, um dem Einparteien-Diktat zu entkommen, so hat das Diktat sich jetzt nur in ein ökonomisches verwandelt. Das hat die Massenmedien vor das Problem das faktischen Überlebens gestellt.“
(…vischewannije)

Erzähler:     So spricht eine offizielle Stimme des Journalismus. Frau Tatjana Sidnikowa ist Leiterin der journalistischen Fakultät der staatlichen Beamtenschule von Nowosibirsk, früher kurz „Kaderzentrum“ genannt. Als Vertreterin der „Union der Journalisten“ hat Frau Sidnikowa soeben an einem Kongress in Moskau teilgenommen, wo diese Organisation ihre neue Rolle in der heutigen  Entwicklung zu finden versucht. Wer einen zivilisierten und intelligenten Weg gehen wolle, so Frau Sidnikowa, finde sich heut in einer schwierigen Lage: Hohe Kosten für die typographischen Dienste, für die Verkehrsmittel; Defizit bei Papier:

O-Ton 15:     Sidnikowa, Forts.                 (1,20)
Regie: kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Ich will mich gar nicht erst über die Willkür der Druckereien beklagen. Ich kann sie verstehen, denn bei 85% unserer polygrafischen Basis wäre eine totale Erneuerung nötig. Da herrscht eine solche Archaik wie in der Steinzeit. Das ist vor allem in der Region so, wo Massenprodukte hergestellt werden. Früher hat es bei uns große Druckereien gegeben, die mit Ausrüstung aus der DDR versehen waren. Das galt damals für das beste. Aber heute ist das alles veraltet. Klar, daß die Druckereien auch aus der schlechten Lage heraus diktieren. Dazu kommen noch Postgebühren, Probleme mit dem Papier. Und schon stoßen wir gleich wieder auf die ökonomische Sphäre, Monopolisten! Wer am meisten zusammengeraubt hat, wer am meisten in der Hand hält, der diktiert dort.“
(…diktuit w etom..)

Erzähler:     Nur überregionale Blätter können diesem Druck standhalten, allerdings nur durch Erhöung ihrer Preiose. So sieht sich auch die zentrale Presse in einer schwierigen Lage. Zwar hat sich die Pyramide der Parteipresse mit Aufkommen der Perestroika seit 1987/8 geöffnet. Mehrere Linien entwickelten sich: die staatliche Presse, die unabhängige, die prokommunistische, die „gelbe“, also die Boulevardpresse, die profaschistische. Aber die Mehrheit der Leserschaft, die sich schon die örtliche Presse nicht mehr leisten kann, ist erst recht nicht mehr in der Lage, eine zentrale Zeitung zu abonnieren oder zu kaufen. Auch deren Auflage ist deshalb innerhalb der letzten zwei Jahre rapide gesunken, teilweise um fünfzig und mehr Prozent. Ergebnis, so Frau Sidnikowa, ist eine Katastrophe:

O-Ton 16:     Forts. Frau Sidnikowa                 (0,45)
Regie: Ton kurz stehen lassen, unterlegen, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Die ersten Köpfe des Landes pflegen die Kanäle ihrer Politik nicht mehr. Zeitungen haben keine Funktion mehr. Das ist das  eine Problem.
Das andere Problem ist: Da die Zeitungen nicht unter dem Schutz der großen Politik stehen, verkommen sie zu Instrumenten der örtlichen Administration. Und wird ein Redakteur, der da in irgendeinem sumpfigen Flecken sitzt, abhängig sein, von dem, was die örtliche Verwaltung meint? Na klar wird er! Schluß!
(…bsjo)

Erzähler:     Und als müsse sie die Einschätzung untermauern, die Alexej Simonow soeben in Hamburg gab, faßt sie ihre Erfahrung mit fünf Jahren Glasnost in den Worten zusammen:

O-Ton 17:    Sidnikowa, Forts.                     (0,39)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Wir erhielten die Möglichkeit, über alles zu schreiben, über alles, wozu Verstand, Herz und Umstände ausreichten, um wirklich nachzugraben. Sowohl in der zentralen wie auch in der regionalen Presse gibt es heute viele kritische Veröffentlichungen, die die heutigen Praktiken betreffen. Die werden dort erörtert oder auch nicht. Aber diese Veröffentlichungen beachtet niemand. Journalismus erweist sich als nicht mehr gefragt.“

Erzähler:     Besonders beunruhigt ist Frau Sidnokowa über das, was sie den „Verlust des journalistischen Ethos“, die „neue Skupellosigkeit“ nennt:

O-Ton 18:     Sidnikowa, Forts.                 (1,16)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Ich frage neulich auf dem Weg nach Haus einen Journalisten einer hier bei uns ziemlich bekannten Zeitung: Nun, haben Sie schon ihre Vorwahlkampagne geplant? Er antwortet: Wozu soll ich? Es gibt keine Notwendigkeit, wir sind eine unabhängige Zeitung. Ich sage, aber entschuldigen Sie, wenn Sie professionelle Journalisten sein wollen, dann können Sie nicht sagen, daß die wichtigste Frage des Landes für Sie ohne Bedeutung ist. Er antwortet mir: Na klar werden wir Stellung beziehen. Wer uns bezahlt, dem werden wir die Seiten geöffnet: wieviel er bezahlt, soviel Platz geben wir ihm.- Sehen Sie, da haben Sie es. Das ist typisch!“
(…wot ana typitschnaja)

Erzähler:    Zur Bekräftigung blättert Frau Sidnikowa eine Broschüre auf, die die Moskauer „Stiftung zum Schutz von Glasnost“ 1993 zusammen mit dem dortigen Goetheinstitut herausgegeben hat. Darin sind die gesetzlichen Bedingungen dokumentiert, unter denen Medien in Deutschland arbeiten. So, sagt Frau Sidnikowa, solle es sein. Aber das sei natürlich Zukunftsmusik… Die Wirklichkeit beschreibt derweil noch der Kommentar, den Oleg Panfilow von der „Stiftung zum Schutz der Glasnost“ in Moskau gab, als ich ihm dort meine in der Provinz gewonnen Eindrücke vortrug:

O-Ton 20:     Oleg Panfilow         (1,04)
Regie: kurz anspielen, abblenden, unterlegen, am Ende hochtiehen

Übersetzer:    „Ja, du kannst Artikel schreiben. Die Frage ist nur, wer sie druckt: Die Zeitungen in der Provinz sind praktisch staatliche Organe. Sie werden von der Administration der Stadt oder von der des Verwaltungsbezirks herausgegen. Private Zeitungen gibt es wenig. Wenn private Zeitungen irgendeine Kritik über die Administration schreiben, dann braucht man dort bloß zum Telefonhörer zu greifen, den Direktor der Druckerei anrufen und ihm sagen: „Mein Lieber, weißt Du eigentlich, das bei uns die Preise gestiegen sind und daß der Druck Deiner Zeitung morgen dreimal so teuer sein wird?“ Der sagt: „Verstanden!“ und schon wird dein Artikel nicht mehr gedruckt. Oder der Direktor ruft selbst den Redakteur an und erklärt ihm, daß das Papier morgen dreimal so teuer sein wird. Der Redakteur kapiert auch sofort und druckt natürlich nicht, was den Chefs nicht gefällt.
(…natschalswo)

O-Ton 21:     Redaktion „Kanasch“, leises Radio     (0,24)
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:    Weder von Frau Sidnikowa, noch von Oleg Panfilow erwähnt, verdient eine andere Art der Presse noch eine besondere Beachtung: die der ethnischen Minderheiten. In Uljanowsk, der Geburtsstadt Lenins, sitzen wir dem Redakteur einer solchen Zeitung, einem schmächrigen jungen Mann, jetzt gegenüber:

O-Ton 22:     Redakteur der Zeitung „Kanasch“     (0,59)
Regie: verblenden¬¬¬, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler hochziehen

Übersetzer:    „Wir befinden uns hier in der Redaktion von `Kanasch. Seit 1989 erscheint die Zeitung in tschuwaschischer Sprache. Als „Kanasch“ gegründet wurde, hatte sie eine Auflage von 15.000.“

Erzähler:    Heute ist die Auflage von „Kanasch“ auf 1500 gefallen. Das ganze Blatt besteht nur noch aus vier Seiten, von Aufmachung und Druckqualität einem „Samisdat“, den Untergrundblättchen der Breschnewära, ähnlicher als einer Zeitung. Die Redaktion nutzt zwei Räume im  „Haus der Freundschaft“. Daneben haben noch eine tatarische, eine deutsche, eine azerbeidschanische und eine jüdische Gemeinschaft hier Unterschlupf gefunden. Es ist sehr eng. Es fehlen die Mittel, gutes Papier, die Druckerschwärze zu bezahlen. Gründliche Recherchen kommen kaum noch zustande: Es fehlt das Geld, um das Benzin für eine Fahrt aufs Land zu bezahlen. Das Honorar des Redakteurs liegt unter dem Existenzminimum. Die Eltern helfen, gesteht er verlegen. Er arbeite nur noch aus Enthusiasmus, aber selbst damit seien die Arbeitsbedingungen nicht mehr lange zu ertragen:

O-Ton 23:    Redakteur „Kanasch“     (0,35)
Regie: verblenden, O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nehmen wir meine Arbeit: Ich bin ja Korrespondent. Ich ich fotografiere auch: Da fehlt die Chemie, das Papier ist äußerst teuer. Früher konnte man sich frei damit befassen. Da konnte man alles in den Geschäften kaufen zu billigen Preisen. Jetzt kaufst du das nicht, es ist sehr teuer. Wir haben bis heute kein Laboratorium. Ich mache die Entwicklung zuhause. Da gibt mir mal der eine was, mal finde ich hier was. Nur so geht es noch.“
(…stöhnen)

Erzähler:     Bei den Tataren eine Tür weiter ist es nicht anders. Die azerbeidschanische und die jüdische Gemeinde haben gar keine Zeitung. Die deutsche Minderheit bringt es mit ihren „Nachrichten“ immerhin noch auf 6000 Exemplare die Woche. Aber ohne sich selber Mut zuzusprechen geht es hier auch nicht:

O-Ton 24:     Familie Eugen Miller                    (1,02)
Regie: Ton ganz laufen lassen.

O-Ton Miller:  „Ich will die Realität immer so sehen, wie sie ist. Unsere zeitung kommt regelmäßig heraus, nur weil wir da alles rein geben…

Frager:    persönlicher Einsatz mit der ganzen Familie..

O-Ton Miller:  ..sonst wäre es schon längst aus damit. In diesem Jahr in Saratow ist die Zeitung schon einige Monate nicht herausgekommen, in Astrachan gestorben, „Neues Leben“ zusammengeschrumpft. Aber wir haben es sehr schwer. Wir tun alles Mögliche. Wir verkaufen jetzt unsere Bücher, die ich geschrieben habe. Dazu hat uns der VDA ein bißchen geholfen. das verkaufen wir und bezahlen den Menschen, die bei uns arbeiten, davon. Das Ministerium für Nationalität usw. verspricht mehr Geld, aber schon acht Monate, jetzt im September sollen wir das Geld bekommen.“

Erzähler:     Auch die ethnische Presse stirbt, wenn sie nicht wie in einigen der ethnisch geprägten Republiken Rußlands unter die Fittiche örtlicher Bürokraten schlüpfen kann oder wie die deutsche Minderheit vom „Verein der Auslandsdeutschen“ unterstützt wird. Von Selbstbestimmung kann unter solchen Bedingungen auch für die Presse der Minderheiten keine Rede sein. Das Zeitungssterben ist allgemein.
Gewinner dieser Entwicklung ist das Fernsehen:

O-Ton 25:     lokales TV     (0,35)
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:    „Nun, von uns hängt viel ab! Zeitungen sind Defizit – aber Radio und TV hören und sehen beinahe alle. Wenn es im TV eine gute psychologische Gruppe gibt, eine Gruppe, die Feingefühl dafür hat, was unsere Zuschauer beunruhigt, dann kann dieses TV oder Radio sehr wirksam sein.“

Erzähler:     Ludmilla Simonow ist Redakteurin in einem russischsprachigen Lokalsender an der mittleren Wolga. Sie fühlt sich sicher: einen Fernseher, sagt sie, mindestens einen für schwarz-weiß Empfang aus der Sowjetzeit habe doch praktisch jeder. Doch auch Frau Simonows Freiheit hat Grenzen. Die Grenze heißt: Moskau:

O-Ton 26:     lokales TV, Fortsetzung     (0,59)
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:   „Ich weiß es natürlich nicht genau; das handeln die oben miteinander aus, aber: man hat uns unseren eigenen Kanal versprochen. Für den gibt es jetzt kein Geld. Das Geld reicht nicht einmal, um uns richtig zu bezahlen. Wir haben ein äußerst geringes Gehalt. Das Geld dafür kommt aus Moskau. Alle regionalen und nationalen Studios galten ja früher als Filialen des Moskauer TV, früher, lange lange her. Aber es scheint, daß noch einiges davon erhalten geblieben ist. Zum Beispiel die Technik bringt man uns über Moskau. Die Finanzen kommen über Moskau. Die Örtlichen unterstützen uns sehr wenig.“
(…pomogajut)

Erzähler:     Von Moskau kommt auch die Qotierung. Quotierung bedeutet: Das Programm wird aus Moskau vorgegeben: Soundsoviel habt ihr für zentrale Sendungen, soundsoviel für lokale, soundsoviel – zwei Stunden – dürft ihr für eure nichtrussischsprachigen Programme benutzen. Vom Moskauer Geld hängt alles ab:

O-Ton 27:     lokales TV, Forts.     (0,53)
Regie: O-Ton kurz stehen lasdsen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:     „Ja, wenn das Geld nicht kommt, ist es aus. Kürzlich war es so, daß sie nur 20% brachten. Da war noch ein bißchen Geld aus kommerziellen Quellen, aber das war es aus. In dieser Weise sind wir von Moskau abhängig. Aber das ist vermutlich noch die bessere Lösung. Unsere haben ja nichts. Lehrer, Ärzte und andere Staatsangestellte leben außerdem noch schlechter als wir. Hier geht es noch einigermaßen – auf dem Niveau von Bettlern, natürlich, aber was schon! Wir verhungern noch nicht!“
(… Lachen)

Erzähler:     Die ökonomische Unterordnung läuft auch hier, stärker noch als im Bereich der Presse, auf eine neue Zentralisierung hinaus. Zwei staatliche und ein unabhängiger Kanal bilden die Spitze des TV-Imperiums in Moskau. Ihre Sendungen werden selbst in der G.U.S. noch empfangen. So ist die Vielfalt, die mit Perestroika entstand, von einer neuerlichen Monopolisierung der Information schon aus rein strukturellen Gründen bedroht, noch bevor der politische Hammer seitens der Regierung überhaupt erhoben werden müßte.
Scharfe Kritik an dieser Entwicklung kommt von der „Union der Journalistverbände der G.U.S.. In ihr haben sich vornehmlich die russischen Journalisten der ehemaligen Sowjetrepubliken zusammengeschlossen. Die Union klagt über den Verlust eines „einheitlichen Informationsraums“. In Moskau erläutert ihr Sekretär Wladimir Suchamilow, was man darunter versteht:

O-Ton 28:     „Union der Verbände der G.U.S.    (0,34)
Regie: kurz stehen lassen, ablneden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:     „Das ist ein Weg mit Verkehr in zwei Richtungen. Es ist ja irgendwie paradox, aber in der sowjetischen Zeit waren die Informationskanäle auf gegenseitige Begegnung ausgerichtet. Jetzt geht der Informationsfluß nur aus Moskau in die früheren Republiken. Alle unsere Pläne zielen darauf, diese früheren Informationskanäle wiederherzustellen.“
(…na etot schot)

Erzähler:     In eine andere Richtung weisen die Worte, die Gisbert Mrozek am Schluß der hamburger Veranstaltung an seine Moskauer Kollegen richtete:

O-Ton 29:    Gisbert Mrozek                        (1,23)
Regie: O-Ton ganz abfahren

O-Ton Mrozek:    „Eure Stiftung heißt „Stiftung zur Verteidigung der Glasnost“. Wir, die Freunde von Natascha, schlagen vor, noch eine Stiftung zu gründen, eine „Stiftung zur Förderung des Journalismus“, die das macht, was ihr nicht macht, nicht machen könnt, weil eure Aufgaben viele sind, und schwer.
Eine Stiftung zur Förderung des Journalismus in Rußland, eine Stiftung, die getragen wird von russischen und europäischen Journalisten, ein Gemeinschaftsunternehmen, keine humanitäre Hilfe, um das bißchen, was es an Pressefreiheit in Rußland gibt, zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
Eine Stiftung, die z.B. Austausch organisiert zwischen deutschen und russischen Redaktionen. Für deutsche Kollegen ist es auch, glaube ich, sehr wichtig, auch für die Fortbildung, auch die berufliche, sich mal in Rußland in einer russischen Redaktion, nach Möglichkeit in der Provinz, den Ausnahmezustand, den alltäglichen anzusehen.“

Erzähler:    Mit dem Aufbau solcher Partnerschaften ist die Vielfalt der Medien und der aufrechte Gang in Rußland sicher besser zu verteidigen als durch die Wiederherstellung des einheitlichen Informationsraums aus der sowjetischen Zeit.

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“ Unterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“ U  nterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland                    ——————————————-

O-Ton 1: Metro-Untergrund    (055)   … Genurmel, Hall, Stimmen…
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen

Erzähler: Früjahr 92. Moskau. Unterführung der Metro. Boris  Jelzin hat ein Gesetz unterzeichnet, das die unter Stalin unterdrückten Völker rehabilitieren soll. Am Pressestand der Patrioten wird heiß diskutiert, ob das auch für die Deutschen gilt, die Stalin 1941 von der Wolga an den Ural und nach Sibirien deportieren ließ. Haben sie ein Recht auf Wiederherstellung einer eigenen Republik an der Wolga? Oder ist Deutschland ihr eigentliches Zuhause?
Ein kräftiger Mann mit mächtigem Bart drängt sich vor. Abu Kadr, Kaukasier.

Regie: Beim Lachen hochziehen, abblenden, unterlegen

Abu Kadr ist Mitglied des Komitees für die „Wiedergeburt der Deutschen an der Wolga“. Das Komitee setzt sich für die Rückkehr der Deutschen an die Wolga ein. Abu Kadr`s Begründung läßt aufhorchen. (Der unterlegte Ton stimmt mit Text überein):

O-Ton 2: Mitglied der Wiedergeburt, Forts.    (060)   („Samije ruskije…)

Regie: Verblenden, mit Stichwort „samije russkije“ kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, schon vor dem Ende des Übersetzers mit O-Ton 3 verblenden

Übersetzer:“Die russischen Menschen werden selbst begreifen, über kurz oder lang, daß das Wolgagebiet sich in einer katastrophalen Lage befindet. Dort droht ein ökologischer Genozid. Die Gründung einer deutschen Republik an der Wolga, die massenhafte Zureise von Deutschen dorthin würde die Situation ändern. Die Deutschen sind ja eins der tatkräftigsten Völker der Welt. Diese energischen, arbeitsliebenden Menschen würden eine Infrastruktur in dieser Region aufbauen. Sie würden zu einer Art Katalysator, zu einer Art konkretem Impuls.“ …Impuls.“)

O-Ton 3: Musik   (042)

Regie: Kreuzblende, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

O-Ton 4: Ankunft im deutschen Dorf    (060)    (…Türenschlagen, Hunde…)

Regie: Kreuzblende, allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:  Ein Jahr später. Sibirien. Besuch in einem deutschen Dorf. Jetzt verstehe ich Abu Kadr und die vielen anderen, die mich seitdem noch drängten, mir deutsche Dörfer anzuschauen: Die Dorfstraße ist staubig wie überall im sibirischen Sommer. Links und rechts stehen die üblichen Blockhäuser. Aber Fenster und Türen sind frisch gestrichen. Die Höfe sind gefegt. Es fehlen die Wucherungen aus Schuppen, Stall und Nebengebäuden, die sich sonst zwischen den Haupthäusern über die Hofgelände verbreiten. Die Frauen sitzen im Schatten, den ein großer Baum auf eine Bank vor dem Haus wirft. Im Garten leuchten nicht nur Blumen. Akkurat sind Beete angelegt. Akkurat, geradezu pedantisch ist auch das Holz für den Winter gestapelt. Vor den anderen Häusern sieht es ähnlich aus: Die Verständigung klappt auf Anhieb.
Regie: Beim Stichwort „ich bin auch Deutsch“ hochziehen, stehen lassen bis Ende, nach dem Lachen abblenden, unterlegt halten

Text O-Ton: „Ich bin auch Deutsch. Wir verstehen alles. Wir verstehen wohl. Wir sprechen nur nicht richtig. Nicht ganz so wie in `Literaturni Jasik‘. Wir sein zwischen den Russen aufgewachsen. – Ein kleiner Akzent ist nicht zu überhören –  (…Lachen)

O-Ton 5: Deutsch Dorf, Frauen, Forts.     (045)     („Wir sind wenig…

Regie: Verblenden, mit Stichwort „Wir sind wenig“ hochziehen, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Wir sind wenig, was Russen hier sein. Hier seind auch schon viel Gemischte: Haben eine russische Frau, einen russischen Mann. Grade, die so sind wie wir, die seind nicht so viel Gemischte, aber die jungen sind alle durchgemischt. Wir sind beide Deutsch. Wir haben fünf Kinder, von fünf Kindern hat nur der jüngste Sohn eine deutsche. Viele haben eine russische Frau, Mann und so gehts“ (…geht’s)
Regie: Bei Stichwort geht`s“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler: In den dreißiger Jahren sind sie als Kolonisten  aus der Ukraine gekommen, erzählen die Frauen. Freiwillig. Anfangs lebten sie einzeln. Die Kolchose wurde erst später eingerichtet.

O-Ton 6: Frauen im Dorf, Forts.    (040)   („Mi, kagda…

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen
Erzähler:  Auch das Dorf entstand erst mit der Kolchose.

O-Ton-Text:Und das war 1937. Und im 38. Jahr haben sie die Männer alle weggenommen. Männer und Frauen sind viele mit. Auch meinen Vater haben sie mitgenommen. Und dann haben wir rübergebaut in die „derewnje“    (…Derewnje.“)

Regie: Mit dem Stichwort „derewnje“ abblenden, unterlegen

Erzähler:   Sind deutsche „derewnje“, also Dörfer wirklich schöner als russische? Sauberer? Reicher? Was halten die Frauen von solchen Ansichten?

O-Ton 7: Frauen , Forts.    (050)   („Nu, jaja…

Regie: Verblenden, hochziehen,

Text-O-Ton:    „Nun, jaja, unser Dorf! Als sie die Männer alle weggeholt hatten und nur die Frauen geblieben waren. Und dann haben sie ja auch die Frauen noch alle weggenommen. Auch das junge Volk. Nur alte Leute und kleine Kinder waren geblieben. Unser Dorf war zu gar nichts mehr imstande. Aber nach dem Krieg hat sich unser Dorf flink `wostanawliwajet`. Und wenn jetzt so kommen, und ihr kam oftmals so ein Milizionär, dann sagt er:

Regie: Den russischen Ton kurz anlaufen lassen, dann ablenden, unterlegen, dann wieder hochziehen

Erzähler:  Von der Erneuerung des Dorfes redet sie. Daß daß so schnell gehen würde und daß die Deutschen so leben würden, hätte der Milizionär nicht gedacht.

O-Ton Text:“Und so wundern se sich.“   (…wundern se sich.“)

Regie: Nach dem Stichwort „wundern se sich“ abblenden, unterlegt halten (hier evtl. akkustisches Loch aus der beigelegten Schleife „Dorf 1″ füllen)

Erzähler:Man lebt nicht schlecht in diesem Dorf. Besser  jedenfalls als in der benachbarten Sowchose, wo man voll neidischer Achtung vom deutschen Dorf spricht. Bleiben oder gehen“ ist trotzdem die Frage, die viele beunruhigt:

O-Ton 8: Frauen, Forts.     (025)   („Von uns ist erst..)
Regie: Verblenden, kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text: „Von uns ist erst eine Familie weggefahren. Wir täten ja auch fahren. Aber bei wem soll man hinfahren? Wir haben doch nirgends keine nich. Oder haben wir wohl soviel Kapital, daß wir können fahren? So ein teueres Billet! Wir können, nein, wir müssen schon hier bleiben, bis wir schon sterben. “ (…sollen wir hin?“)

Regie: Beim Stichwort sterben abblenden, unterlegen

Erzähler:Von einem Umzug an die Wolga redet hier niemand.     Deutschland lockt. Aber noch ist die Barriere hoch:

O-Ton 9: Frauen, Forts.     (0,25)   (… „Wir haben nichts…)

Regie: Verblenden, bei „Wir haben nichts“ hochziehen, stehen lassen

Text O-Ton:“Wir haben nichts. Wir sein doch Russen.
Hier sein Faschisten ein Leben lang gewesen und da sind wir russisches Schwein. (…Schwein.“)

Regie: Beim Stichwort Schwein abblenden, unterlegt halten (Hier ebenfalls evtl. Ton aus Schleife „Dorf 1″ einspielen)

Erzähler:“Faschisten“, „Russisches Schwein?“ Harte Worte, die eine harte Wirklichkeit beschreiben. Damit ist zunächst alles gesagt. Die Einladung in eins der benachbarten Häuser beendet diesen Teil des Gesprächs.

O-Ton 10: Eintritt in ein Haus     (0,48) (… Hunde, Hall, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:  Die Hausfrau entschuldigt sich für die  Unordnung. Dabei ist es sauber wie im Museum: Der Fußboden ist gebohnert; ebenso der furnierte Schrank. Die Sessel tragen Schonbezüge.

O-Ton Text:    „Sehr guten `Parjadok‘ haben wir nicht. `Pomolenko‘.  Aber leben kann man. Früher haben wir noch nicht so gelebt.“

Regie: Russischen Text kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:  „Früher war alles viel kleiner“, sagt sie. „Selbst auf dem Boden haben wir gelebt. Egal. Man mußte leben, hat gelebt. Jetzt ist es ein bißchen besser.“ (..lutsche)

Regie: Nach dem Stichwort „lutsche“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Jetzt mischt die Tochter sich ein. Auf Russisch.  Sie ist etwas anderer Ansicht. Deutsch versteht sie zwar noch, lann es aber nicht mehr sprechen. Sie ist zudem mit einem Russen verheiratet.

O-Ton11: Junge Frau im Haus, Tochter(030)     („Djela w tom schto…“)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Die Sache ist so: Früher hat man sich für seine  Nationalität geschämt, dafür geschämt, daß man deutsch ist. Deutsch zu sein, das war peinlich, eine Schande. Jetzt ist es umgekehrt, jetzt spricht man mit Stolz davon, daß man Deutsche ist. Das hat sich erst in den letzten zehn Jahren entwickelt. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt. (…progress.“)

O-Ton 12: deutsche Hausfrau    (024)    („Da, wot, odno tolka…)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:   Nur eins sei schlecht, widerspricht die Mutter: daß  die „deutsche Nation“ – so wird in Rußland die ethnische Gruppe genannt – sich vermutlich einfach verliere.

Regie: Bei Stichwort „die Kinder“ hochziehen, stehen lasssen

O-Ton-Text:    „Die Kinder gehen in die Schule, lernen Russisch. Die verstehen nicht ein Wort. Wir verstehen ja noch ein bißchen. Aber die Kinder die jetzt wachsen, verstehen nicht zu lesen. Was sind das für Deutsche, die nicht können sprechen. (..sprechen)

Regie: Mit „sprechen“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Das muß auch die Tochter bestätigen.

O-Ton 13: Tochter, Forts.  (037) („Kultura, obitschi…)

Regie: Verblenden, Ton kurz kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen, verblenden

Übersetzerin: „Ja, Kultur, Sitten, alles ist verloren gegangen. In der Vergangenheit war ja alles verboten. Jetzt ist es frei. Doch jetzt ist es schon sehr schwer, sich zu erinnern. Überhaupt, was heißt erinnern? Alte Leute, die selbst noch Wurzeln in der Volkskunst haben, gibt es nicht mehr. Unsere Eltern wissen vielleicht noch Einiges. Wir, meine Generation, kaum noch. Unsere Kinder wissen schon gar nichts mehr.“ (…snajet)
Ton 14: Alter im Haus  (044)  („Liebe Tochter, …)

Regie: Verblenden, stehen lassen, nach Stichwort „fremd“ abblenden, unterlegen
O-Ton-Text:“Liebe Tochter, es ist noch anders: Wir sein hier  nicht zuhaus – und da sein wir auch nicht zu Haus. Hier sein wir noch geboren, großgewachsen. Hier haben wir noch Bekanntschaft um uns herum. Aber komm dahin, da ist alles fremd.“ (…fremd.“)

Regie: Nach Stichwort „fremd“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Früher wurde Deutschland schlecht gemacht,  erzählt der Alte. Heute ist es genau umgekehrt. Er traut niemanden mehr. Fremdheit und Angst bestimmen das Lebensgefühl der Alten hier im Dorf. In Anwesenheit des seltenen Gastes brechen, stärker als vorher schon auf der Straße, lange abgekapselte Erinnerungen auf:

O-Ton 15: Alter, Forts.     (060)   („Mir haben se…)

Regie: Verblenden, Ton stehen lassen
Text O-Ton:“Mir haben se sechs Brüder verschossen. Ich bin der siebente. Ich war der jüngste. Den Vater haben sie auch nicht verschossen. Den haben sie sein gelassen….“

Regie: Russischen Text nach Stichwort gelassen“  kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen, nicht wieder hochziehen, verblenden

Erzähler: Vom NKWD, erzählt der Alte, Stalins  Geheimpolizei: Nachts kamen sie ins Dorf. Die Leute mußten packen, wurden aufgeladen, ab. Zwei Monate später waren sie tot. Die Frau des Alten ergänzt: Ihr Vater wurde ebenfalls erschossen. Vor drei Jahren wurde er rehabilitiert. Aber die zynische Offenheit des Bescheids, der sie nur über die Erschießung informiert, ohne Worte des Bedauerens zu finden, macht ebenso Angst wie die Lügen zuvor. Die Mutter zeigt das Schreiben. Es lag griffbereit bei den Wertsachen. Während sie sich die Augen wischt, liest die Tochter vor:

1O-Ton 16: Tochter liest Rehabilitationsurkunde   (037)   (Sobschaem: Ttscho was otez…

Regie: Verblenden, Ton, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung zum Lachen hochziehen

Übersetzerin: „Wir erklären: Daß ihr Vater Rosin, Alexander  Iwanowitsch, geboren 26.Mai 1886 im früheren Kuban, vor seiner Verhaftung als stellvertretender Vorsitzender der Kolchoose „Thälmann“ arbeitete. Er wurde angeklagt der Beteiligung an einer konterrevolutionär-faschistischen, aufrührerisch-terorriristischen nationalistischen Organisation für Spionage und Diversion. “ (…Lachen)

Regie: nach dem lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Solche Briefe haben sie jetzt zu Millionen  verschickt, sagt die Mutter.  Ihr Lachen verbindet die alte Angst mit der neuen. Aus einer Seele bestätigen die beiden Alten::

O-Ton 17: Mutter und Vater   (050)   („Das ist nicht vorbei…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Das ist nicht vorbei. Vorbei ist es nur für die, die es nicht erlebt haben.   ‚Konjeschna‘, die Leute haben Angst. Die glauben nicht.
Das ist ein und jetzt das Zweite: dubro…“

Regie:: Nach „jetzt das Zweite: abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:“Das Zweite“, von dem der Alte spricht, ist die Angst, daß auch die heute ausgegebene Parole: „Bereichert Euch“ nicht von langer Dauer sein werde. Zu nah sind die Erinnerungen. Nicht zuletzt waren es ja gerade die Deutschen, die „entkulakisiert“ wurden, wie es im Russischen heißt, also umgebracht wurden, weil sie reicher waren als die anderen. Die heutige Zunahme der Morde beunruhigt den Alten. Heut gebe es mehr Morde als vor Perestroika, meint er. Damals habe die Polizei schon wenig gearbeitet. Jetzt tue sie überhaupt nichts mehr. „Aber wir sind doch wehrlos“, schließt er. „Außer einer Axt haben wir nichts.“ (…njetto.“)

Regie: Nach dem Stichwort „njeto“ abblenden, unterlegen, verblenden

O-Ton 18: Abschied aus dem deutschen Dorf  (…Tür, „da,da,da“, Hunde, Auto…)

Regie: Verblenden, kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, Kreuzblende mit O-Ton 19

Erzähler: Es geht nicht vor und nicht zurück, aber  man ist entschlossen, das Vorhandene zu halten – mit diesem Eindruck verließ ich das Dorf.

O-Ton 19: Wiederholung von Ton 3 (Musik)    (042)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 18, sehr kurz stehen lassen, sodaß eben der Wiedererkennungseffekt eintritt, dann Kreuzblende mit O-Ton 20

O-Ton 20: Deutsches Dorf 1994    (044)   (…Fahrgeräusch, Türenklappen, Stimmen Lachen…)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler: Ein Jahr später, ein anderes Dorf: „Mor-Swochos“ nahe der mongolischen Grenze. Hier wohnen Russen und Deutsche gemeinsam. Diese Deutschen kamen nicht mehr freiwillig. Sie wurden wie Millionen andere 1941 aus dem Wolgaraum deportiert. Hier haben sie eine kleine Siedlung gebildet. Die deutschen Häuser fallen auch hier sofort durch ihre Akkuratesse ins Auge.

Regie: Mit dem Stichwort „Wir sind auch Deutsche“ hochziehen, mit „Lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Es ist ein besonderer Tag: Eine Familie rüstet sich soeben zum Aufbruch nach Deutschland. Es ist die fünfte von insgesamt elfen. Die Zurückbleibenden fühlen sich verlassen:

O-Ton 21: Frauen im deutschen Dorf II   (O37)   („Mir wolle auch nüber…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Wir wollen auch nüber. Aber ich weiß ja nicht, wann wir was kriegen. Die fahren alle nüber. Wollen noch mehr nach Deutschland.“

Regie: Nach dem Stichwort „Deutschland“ abblenden, unterlegen

Erzähler:Die Lage hat sich verschärft. Das spürt man sofort. Aber warum?

O-Ton-Text:    „Weil da alles schwerer ist. Da ist schwerer. Die daneben, die wollen jetzt fort schon. Wollen dahin, wo ist `parjadok‘.“ Noch: Lachen, Frage nach Schirinowski)

Regie: Nach der Frage: „Schirinowski?“ abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Dahin, wo Ordnung herrscht, wollen die Frauen.   Mit Schirinowski haben sie nichts im Sinn. Sie wissen nicht einmal, wer er ist. Deutsche Ordnung soll es sein, nicht Schlamperei, wie sie die hiesigen Verhältnisse nennen. Arbeit wollen sie und in Ruhe das Erarbeitete genießen. In diesem Punkt sind fast alle sich einig.
Aber eine ältere Frau widerspricht:
O-Ton 22: Zweite Frau im deutschen Dorf II        (029)          („Ich will net…“

Regie:  Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

O-TonText:“Ich will net nach Deutschland, ich will da bleibe in Rußland, ich bin russisch, was soll ich dort. Was soll ich in Deutschland?!“

Regie: Den folgenden russischen Satz bis Stichwort „Ruski“ kommen lassen, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, verblenden

Erzähler: „Hier sind wir Deutsche, dort Russen“, sagt die  Alte. Im Grunde spricht sie nur aus, was alle wissen: Nach zweihundert Jahren in Rußland liegen die Wurzeln der ehemaligen Einwanderer inzwischen in ihrer neuen Heimat. Daran ändert auch Umsiedlung und Deportation nichts. In Sibirien leben sie nun auch schon wieder zwei Generationen. „Historisch gewachsen“, nennt die Alte es. Das reiße man nicht von heut auf morgen heraus. Verzweifelt beschwört sie die alte Zeit:

O-Ton23: Forts. zweite Alte, Dorf II   (013)   („Ransche mi schili…

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende des Erzählertextes langsam hochziehen

Erzähler:“Früher lebten wir hier gut“, sagt sie. Erst seit drei Jahren sei es so wie jetzt. Und warum solle es nicht vielleicht in fünf Jahren wieder gut sein? Aber dann verläßt sie der Mut: Was dann kommen werde, das könne natürlich auch niemand sagen. Gott allein wisse, was morgen werde.“ (..budit.“)
Regie: Nach dem Stichwort „budit“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler:Schließlich kann sie die Tränen nicht mehr halten:

Ton24: zweite Alte, Forts.    (020)  („Die da wolle morge…)

Regie: Verblenden, stehen lassen (auch das Russische) bis nach dem Weinen

O-Ton-Text:    „Die da wolle morge fortfahre…
Regie: Nach dem nochmaligen Schluchzen abblenden, unterlegen, nach Erzähler mit „a mir sind lauter swoi“ wieder hochziehen

Erzähler:  „Alle bedauern es“, sagt die Frau, „Deutsche   genauso wie Russen.“ Fremde kaufen jetzt das Haus, klagt sie. Aber man gehöre hier doch zusammen! Trotz aller Unterschiede, Russen, Deutsche, Katholische und Orthodoxe.
Dann zitiert sie, was sie ein deutsches Sprichwort nennt:
O-Ton 25: zweite Alte, Deutsches Dorf II    (013)    („Ein Gott hat…“)

regie: Verblenden, bei „Ein Gott“ hochziehen stehen lassen

O-Ton Text:    „Ein Gott hat man nur. Gelt? Glauben kann man wie man will und Gott ist nur ein.“ (…ein.“)

O-Ton26: Geäusche auf dem Bauernhof  (045)     (…Türenklappen, Hofgeräusch, Morrrad,     Gänse…

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler: Im Hof nebenan ist man bereit. Die Gänse   schnattern wie immer. Aber die Stimmung ist gedrückt. Immerhin läßt die Familie Haus, Hof und Freunde zurück. Nur Handgepaäck kann sie auf ihrem Weg ins hannoveraner Auffanglager mitnehmen. Das Herz bleibe wohl noch hier, meint der junge Familienvater gefaßt.
Warum er dann gehe?

O-Ton 27: Ausreisender    (065)     (…Lachen, „Potschemu…?“

Regie. Verblenden, mit Lachen hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, dem Übersetzer und Erzähler unterlegen. Nach der zweiten Übersetzung hochziehen

Übersetzer: „Warum? Hier hat so ein verrücktes Leben   angefangen, ohne irgendwelche Konturen. Du weißt nicht, was morgen sein wird, übermorgen. Davor wäre es normal gewesen, nicht zu gehen, nirgendwohin zu gehen. Aber die, die schon gegangen sind, schreiben, daß Du dort besser lebst als hier.

Erzähler:  Die Ausssicht, als Emigrant in einem   Übergangslager verbringen zu müssen, schreckt ihn nicht.
Übersetzer:    „Das ist uns schon klar. Aber es heißt, daß das    nach fünf Jahren überstanden ist. Einmal angefangen, muß man es auch zuendebringen.“
(… na eto.“)

Regie: Mit Stichwort „na eto“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:Seine Mutter steht derweil ganz verloren mitten  auf dem Hof. Sie versteht nicht, was mit ihr, der Alten, der `Starije‘, geschieht:

O-Ton 28: Mutter des Ausssiedlers  (065)  (Warum?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Warum? Ach, wer weiß denn, warum. Das sind drei Bube und die wollen fort. Die `Starije‘, ich bin denen nicht nuschna. Ich bin do nicht `nuschna‘, und bin auch dort `nawerna‘ nicht `nuschna‘.“

Regie: Nach Stichwort „nuschna“ abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler wieder aufblenden

Erzähler: Alt, niemand nütze sei sie, klagt das Mütterchen.  Krank sei sie. Wenn sie doch bloß sterben könne:

Regie: Mit „fahren alle fort“ wieder aufblenden, stehenlassen

O-Ton-Taxt:    „Aber sie fahren ja alle fort. was kann man machen. Allein will man doch auch net bleibe, gell? Wann’s kan’s einem mitnehmt, da muß man dableibe. Wies kommt, so müssen wer’s mitnehme. Ist doch wahr. (andere Frau) Ja, so isses.“
(…ja, so isses.“)

Regie: Mit Stichwort „ja so isses“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton29: Kinder    (066)  (…Schmatzen, Kinderstimmen…)
Regie: Verblenden, kommen lassen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler: Vor dem Haus spielen die Kinder noch eine letzte   Runde. Für sie ist völlig klar, worum es geht:

Regie: mit Stichwort „potamu schto“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  „Hier verdient man zu wenig“, sagt der Kleinste. „Hier kann man nicht leben. Dort ist es besser. Da gibt es alles, zu essen und überhaupt.“
Was sie von Deutschland erwarten?
Regie: Mit dem Stichwort „Nu kak?“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, mit Stichwort „ja rad“ wieder hochziehen

Erzähler::     „Daß es besser wird“, hofft der Kleine. Besuch aus Deutschland sei im Dorf gewesen. Äpfel, Wurst und Konfekt hätten sie mitgebracht. „Und alles und alles.“ Er sei froh, daß es jetzt dorthin gehe, versichert er treuherzig.
(..ja rad!)

O-Ton-30: In der Küche   (060)    (…Stühlerücken, Gabeln, Geschirr, Stimmen…)

Regie Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen
Erzähler:  Die Einladung zu einem Häppchen können wir schließlich nicht ablehnen. Die Küche ist kühl trotz der sibirischen Hitze. Auch hier blitzt es vor Sauberkeit. Aus dem Häppchen wird schnell ein Mahl. Die ganze Siedlung scheint beteiligt. Der Tisch kann den Reichtum kaum tragen: selbstgemachte Butter, Milch, Käse, mehrere Sorten von Sahne. Stolz zeigt eine der Frauen die Buttermaschine. Eigener Honig, selbstgebackenes Brot, Wurst aus eigener Schlachterei. Tomaten, Zwiebeln, Früchte aus eigenen Gärten. „Wir haben alles“, erklären die Frauen stolz. „Alles selbstgemacht“. Der „Schnaps“, mit dem wir schließlich anstoßen, ist kein Wodka, sondern ein würziger Selbstgebrannter. Zum Abschied packen sie meinen russischen Begleitern und mir drei dicke Pakete mit selbstgeräuchertem Speck.

O-Ton 31: Abfahrt (025)  (…Doswidannije, Aufwiedersehn, Schlüssel, Anfahrt, Seufzer…

Regie: Verblenden, stehen lassen, bis Satz mit Stichwort „Vitamine“ gesprochen ist, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Erzähler: Meine russischen Begleiter können es nicht  fassen: „Die Vitamine fehlen! Sie haben alles! Aber für Vitamine wollen sie gehen!“
Unter Erörterungen  dieses unfaßbaren Paradoxons kehren wir zurück in den Normalalltag des nächstgelegenen Bezirkszentrums, gegen den die deutsche Siedlung in „Mor-Sowchos“ trotz aller Aufgeregtheit wie eine Idylle erscheint.

O-Ton-32: Musik im Foyer   (090, reichlich)    (…Musik)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, nach Beginn der Antwort der Frau abblenden, unterlegen

Erzähler:  Foyer eines der großen Kulturpaläste in Nowosibirsk.   Hier findet eine Versammlung der örtlichen Sektion „deutschen Gesellschaft für Wiedergeburt“ statt. Mit ca. 60.000 Deutschen beherbergt das Gebiet Nowosibirsk nur gut ein Zehntel der in Sibirien verstreuten Deutschen. Aber als größte Stadt Sibiriens ist es dennoch das Zentrum der Gesellschaft „Wiedergeburt“.
Heute abend werden Abgeordnete aus der Bundesrepublik erwartet. Es ist das erste Treffen dieser Art. Der Saal ist bereits voll. Aus der Stadt, aber auch aus weiter entfernten Dörfern sind die Menschen angereist. Man wartet auf die Gäste aus Deutschland. Im Foyer wird derweil noch getanzt. Die Erwartungen sind unterschiedlich. Eine der Tänzerinnen, noch ganz außer Atem, ist fröhlich und voller Schwung: Regie: Antwort der Frau kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen     Achtung! Hier habe ich möglicherweise zwischen Ende der Musik und Antwort der Frau einen Schnitt vergessen: Bitte ausblenden bis zur Abtwort, verblenden

Übersetzerin:^ „Nun, wir wollen von ihnen hören, was Sie zu sagen haben. Und sie sollten uns zuhören. Wir wollen, daß wir mit Ihnen zusammensein können, daß sie auch später öfter unsere Gäste sind.“

Regie: Nach dem Zitat abblenden

Erzähler:Andere sind nicht so zuversichtlich. Vor allem  die Spaltung der Deutschen Gemeinde macht ihnen zu schaffen:

O-Ton 34:Im Foyer, Forts.    (020)   („Schwer zu sagen…
Regie: Verblenden, Ton stehen lassen

O-Ton-Text: „Schwer zu sagen, aber ich glaube, da gibt’s so ein bißchen Politik, also wieder Auseinandersetzungen zwischen Deutschen hier im Land und im Gebiet Nowosibirskt. Aber wir sind alle Kinder einer Mutter. Das ist die Muttersprache des deutschen. Und die Mutter hat alle gleich lieb. Das tun, was gut ist für die Deutschen. Und nicht schimpfen.“ (…schimpfen“)

Regie: Nach Stichwort schimpfen abblenden, unterlegen

Erzähler:Erst auf Nachfrage erläutert die Frau die Differenzen, um die es geht:

Ton 34: Forts. Halle     (020) („Die Unterschiede?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

Übersetzerin:  „Die Unterschiede? Na jetzt – weiß ich nicht einfach. Früher war es so: Entweder die Wolga oder in den Westen. Und die anderen waren: Wir bleiben hier uns versuchen etwas für die Deutschen zu machen. Aber wenigstens um fünzehn Jashre hätte es früher passieren sollen. Zu viele sind schon drüben oder sind unterwegs.“
(…unterwegs.“)
Regie: Mit Stichwort „unterwegs“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton 35: Veranstaltungseröffnung     (089)    (…Beifall, Stimme, Beifall…)
Regie: Verblenden,  stehen lassen, mit dem Beifall nach der Ansage abblenden, unterlegt halten

Erzähler:      Mit großem Beifall werden die deutschen  Abgeordneten begrüßt. Der Leiter der deutschen Delegation, alle Mitglieder der CDU, wie er betont, hat als erster das Wort:

Regie: Mit Beifall“ hochziehen, Ton stehen lassen

Erzähler:      „Liebe Freunde, von der Wiedergeburt, liebe Mitglieder des zwischenstaatlichen Rates. – Wird mich jemand übersetzen? Muß man übersetzen? Zurufe: Nein! – Gut. Umso besser, dann verstehen wir uns auch so. In unserer deutschen Muttersprache.“ (..Muttersprache“)

Regie: Mit Stichwort „Muttersprache“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler;Deutschland sei bereit, den Rußlanddeutschen zu  helfen, versichert er:

O-Ton 36: Abgeordneter. Forts.   (089)   („Zweierlei…)

Regie: Verblenden, mit Stichwort

O-Ton Text:“Und das wird zweierlei bedeuten: Erstens möchte ich Ihnen sagen: Das Tor nach Deutschland bleibt weiter offen, für alle, die es benutzen möchten, die nach Deutschland wollen. Das Zweite ist: Diejenigen, die nicht nach Deutschland wollen, die sollen Hilfe erhalten hier in Sibirien, wenn sie das wünschen. Und ich kann ihnen versprechen, daß beides bleibt, und daß die Entscheidung bei ihnen liegt.“

Erzähler:  Der Redner beschwört die „positive Rolle“, die  die Deutschen für die Entwicklung von Kultur und Zivilisation Rußlands gespielt hätten, als sie von zweihundert Jahren von Peter I. und Katharina II. als Kolonisten, als Handwerker und Bauern, ins Land gerufen wurden. Er beklagt die schweren Zeiten, die danach gekommen seien, besonders unter Stalin und Hitler. Kein anderer Teil, der Deutschen, versichert er den Menschen im Saal,  habe so sehr unter den Folgen von Krieg und Vertreibung gelitten wie die Rußlanddeutschen. Damit aber sei es nun vorbei:

Regie: Mit Stichwort allmählich „denn wir alle hoffen doch“ langsam aufblenden, stehenlassen bis Ende, verblenden

O-Ton-Textt:“Denn wir alle hoffen doch, daß nach schweren Jahren, die noch bevorstehen, doch Schritt für Schritt Demokratie und Freiheit siegen werden. Und dann sind natürlich die Rußlanddeutschen, liebe Freunde, eine großartige, eine ideale Brücke zwischen den Deutschen und den Russen.“ (Beifall…)

O-Ton37: Musik: „Heimat“

Regie: Kreuzblende, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler abblenden

Erzähler:      Was die deutschen Abgeordneten versprechen, was  der Trachtenchor mit seinen Liedern zum Abschluß der Veranstaltung beschwört, scheint dem Vorsitzenden der „deutschen Widergeburt“, Dr. Weinhardt, der die Veranstaltung leitet, nicht mehr realistisch. In seinem Büro erklärt er tags darauf:

O-Ton 38: Dr. Weinhard, Forts. („Die ersten Jahre…)

Regie: Ton kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:    Die ersten Jahre der Perestroika machten uns Hoffnungen auf die Widerherstellung der Republik und der Mnschenrechte, obwohl die Deutschen in den vorherigen Jahren vielleicht ein halbes Jahrhundert unter dem Druck waren und das Vertrauen zu unsren Behörden völlig verloren hatten. Jetzt haben sie es noch mehr verloren. Wir stehen sogar im Minus. Wir sehen, daß die Regierung nur um ein Einziges bestrebt ist: Rußland in den heutigen Grenzen zu erhalten. Und sie wollen aber nicht verstehen, daß alle Völker ihre Rechte und Möglichkeiten haben sollten, ihre Kultur und ihre Muttersprache zu erhalten.“
(…erhalten.“)

Regie: Mit dem Stichwort „erhalten“ abblenden,
unterlegt halten

Erzähler: Die Hoffnung der Rußlanddeutschen auf eine Wiederherstellung einer autonomen Republik an der Wolga sind erloschen. Das Gesetz zur Rehabilitaion repressierter Völker sehen sie auf die lange Bank geschoben.
Aber auch der deutschen Regierung vetraut Herr Weingardt nicht mehr. Vom „offenen Tor“ werde bereits seit Jahren gesprochen. Tasächlich würden denjenigen, die nach Deutschland wollten, immer neue bürokratische Schwierigkeiten gemacht. Beispielsweise müßten sie Geburtsnachweise ihrer Eltern und Voreltern beibringen. Viele aber hätten diese Dokumente bei der Deportation doch verloren!
Die Vorstellung der deutschen Abgeordneten von den Rußlanddeutschen als „Brücke“ veranlaßt Dr. Weingardt schließlich nur noch zu einem milden Scherz:

O-Ton 39: Dr. Weinhardt, Ende

Regie: Kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Das kann man als Spaß einschätzen, als Witz vielleicht. Man darf keine Brücke, auf den Knochen eines repressierten Volkes aufbauen. da muß masn zuerst die Rußlanddeutschen fragen, ob sie noch viel Kräfte haben, das auszuhalten. Und diese Frage stellt keiner. Es gibt schon ehrliche Menschen, die das verstehen, aber noch ziemlich wenig.“

Erzähler:  Das Problem steht auf der Tagesordnung. Der Krieg  gegen die Tschtschenen, ein deportiertes Volk wie die deutsche Minderheit, hat es noch einmal verschärft. Wo ist die Lösung?

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“ Unterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“    Unterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland                    ——————————————-

Achtung: O-Ton 1, 2 und 3 (des Vorspielbandes) gestrichen.
Die ursprüngliche Zählung, wie sie der Reihenfolge auf dem Vorspielband entspricht, behalte ich bei)

Vorspann: Als Boris Jelzin 1991 Präsident wurde, atmete die                 deutsche Minderheit in Rußland auf. Kaum an der Macht, unterzeichnete er ein Gesetz, das die unter Stalin unterdrückten Völker rehabilitieren sollte. Viele schöpften Hoffnung, an die Wolga zurückkehren zu können, von wo Stalin sie 1941 an den Ural und nach Sibirien deportieren ließ. Ein Komitee „Wiedergeburt der Deutschen an der Wolga“ machte sich für die Rückkehr der Deutschen in ihre früheren Siedlungsgebiete stark. Die Gründung einer deutschen Republik an der Wolga, argumentierten sie, könne die wirtschaftlich zusammenbrechende Region wieder aufmöbeln. Die Deutschen könnten dort zu einer Art Katalysator, einem Impulsgeber der Reform werden.
Eine heiße Debatte entstand, und dies nicht nur in Rußland: Wo sind die Rußlanddeutschen zuhause? In Sibirien? An der Wolga? Haben sie ein Recht auf eine autonome Republik? Oder ist Deutschland ihr eigentliches Zuhause?

O-Ton 4: Ankunft im deutschen Dorf                     (060)          (…Türenschlagen, Hunde…)

Regie: Kreuzblende, allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:  Sibirien. Sommer 1993. Ein deutsches Dorf, Teil                 der Sowchose „Sibir“ im Gebiet des Bezirkszentrums „Bolotnoje“ bei Nowosibirsk.
Deutsche Dörfer erkennt man sofort, hatten russische Freunde mir gesagt. Ich wollte es nicht glauben. Jetzt verstehe ich: Die Dorfstraße ist staubig wie überall im sibirischen Sommer. Die Hitze ist fast unerträglich, mindestens dreißig Grad. Aber die Gruppe Frauen, zu der mein Führer aus Bolotnoje mich bringt, sitzt im Schatten, den ein großer Baum auf eine Bank vor dem Haus wirft. In ihren bunten Kitteln, den weißen und roten, hinter dem Kopf gebundenen Tüchern wirken sie frisch und locker, auch die älteren.   Im Garten leuchten nicht nur Blumen. Akkurat sind Beete angelegt. Akkurat, geradezu pedantisch ist auch das Holz für den Winter gestapelt.
Vor den anderen Häusern sieht es ähnlich aus. Es sind die üblichen Blockbauten. Aber die Rahmen der Fenster und Türen sind frisch gestrichen. Kleine Vorgärten werden von Zäunen eingefaßt, deren Latten in hellem Blau oder grün leuchten. Manche haben noch weiße Spitzen.
Die Höfe sind gefegt. Ställe, Schuppen und stehen in Reih und Glied, statt über das Gelände zwischen den Häusern zu wuchern.
Die Frauen begrüßen uns herzlich. Deutsch zu reden ist ungewohnt für sie. Das ruft Heiterkeit hervor. Aber die Verständigung klappt auf Anhieb.

Regie: Beim Stichwort „ich bin auch Deutsch“ hochziehen, stehen lassen bis Ende, nach dem Lachen abblenden, unterlegt halten

Text O-Ton: „Ich bin auch Deutsch. Wir verstehen alles. Wir verstehen wohl. Wir sprechen nur nicht richtig. Nicht ganz so wie in `Literaturni Jasik‘. Wir sein zwischen den Russen aufgewachsen. – Ein kleiner Akzent ist nicht zu überhören –
(…Lachen)

O-Ton 5: Deutsch Dorf, Frauen, Forts.                  (045)
(„Wir sind wenig…

Regie: Verblenden, mit Stichwort „Wir sind wenig“ hochziehen, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Wir sind wenig, was Russen hier sein. Hier seind auch schon viel Gemischte: Haben eine russische Frau, einen russischen Mann. Grade, die so sind wie wir, die seind nicht so viel Gemischte, aber die jungen sind alle durchgemischt. Wir sind beide Deutsch. Wir haben fünf Kinder, von fünf Kindern hat nur der jüngste Sohn eine deutsche. Viele haben eine russische Frau, Mann und so gehts“ (…geht’s)
Regie: Bei Stichwort geht`s“ abblenden, unterlegt
halten

Erzähler: Schnell hat sich ein kleiner Kreis gebildet. Fünf                 oder sechs Frauen mögen es sein. Ein älterer Mann hält sich im Hintergrund hinter seiner grauen Schiebermütze versteckt.
„In den dreißiger Jahren sind wir hierher gekommen“, erzählt eine der Frauen. Als Kolonisten aus der Ukraine. Woher ihre Elter davor gekommen sind, lönnen sie nicht beantworten. Nur ihr Dialekt verrät es: Schwaben. Ja, das könne schon sein, lachen sie verlegen. Aber freiwillig seien sie gekommen! Darauf legen die Frauen wert. Anfangs lebten sie als Einzelbauern. Später wurde die dann Kolchose eingerichtet:

O-Ton 6: Frauen im Dorf, Forts.                        (040)          („Mi, kagda…
Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen
Erzähler:      Auch das Dorf entstand erst mit der Kolchose.

O-Ton-Text:Und das war 1937. Und im 38. Jahr haben sie die Männer alle weggenommen. Männer und Frauen sind viele mit. Auch meinen Vater haben sie mitgenommen. Und dann haben wir rübergebaut in die „derewnje“    (…Derewnje.“)

Regie: Mit dem Stichwort „derewnje“ abblenden, unterlegen

Erzähler:   Und? ich kann mich nicht halten. Ich muß sie                 fragen: Sind deutsche „derewnje“, also Dörfer, wirklich schöner, sauberer, reicher als russische wie viele sagen? Was halten die Frauen von solchen Ansichten?

O-Ton 7: Frauen , Forts.                               (050)          („Nu, jaja…
Regie: Verblenden, hochziehen,

Text-O-Ton:    „Nun, jaja, unser Dorf! Als sie die Männer alle weggeholt hatten und nur die Frauen geblieben waren. Und dann haben sie ja auch die Frauen noch alle weggenommen. Auch das junge Volk. Nur alte Leute und kleine Kinder waren geblieben. Unser Dorf war zu gar nichts mehr imstande. Aber nach dem Krieg hat sich unser Dorf flink `wostanawliwajet`. Und wenn sie jetzt so kommen, und hier kam oftmals so ein Milizionär, dann sagt er:

Regie: Den russischen Ton kurz anlaufen lassen, dann ablenden, unterlegen, dann wieder hochziehen

Erzähler:     Von der Erneuerung des Dorfes redet sie. Daß daß
so schnell gehen würde und daß die Deutschen so leben würden, hätte der Polizist nicht gedacht.

O-Ton Text:“Und so wundern se sich.“               (…wundern se sich.“)

Regie: Nach dem Stichwort „wundern se sich“ abblenden, unterlegt halten (hier evtl. akkustisches Loch aus der beigelegten Schleife „Dorf 1“ füllen)

Erzähler:Man lebt nicht schlecht an diesem Ort. Besser                 jedenfalls als in der benachbarten Sowchose, wo man voll neidischer Achtung vom deutschen Dorf spricht: Platten und Holzbohlen gebe es dort, über die man im Frühjahr und Herbst ohne Gummistiefel von Haus zu Haus kommen könne. Bänke vor den Häusern, die Höfe, die Ställe gepflegt: Alles an seinem Ort; die Maschinen unter dem Dach, sogar Obstbäume in den Gärten. Pünktlich und arbeitsam, diese Deutschen!
Seit die Sowchose „Sibir“ eine AG wurde, müssen ihre Mitglieder selbst für Strom, Wasser, Planierung der Dorfstraße, Abfallbeseitigung usw. sorgen. Während die Sowchose im Müll erstickt, hat man deutschen Dorf noch alles im Griff. Zur größten Verblüffung der Sowchosniki. Ob es wahr sei, fragte mich eine junge, Frau im Kontor der Sowchose schließlich schüchtern und provokativ zugleich, als es um die deutsche Sauberkeit ging, daß man in Deutschland die Bürgersteige mit Schampoo sauberhalte?
Früher war die Kolchose nach Thälmann benannt. Heut heißt sie nur noch das deutsche Dorf. Es ist eins der wenigen geschlossenen deutschen Dörfer, die es in Sibirien heute gibt. Man ist also unter sich. Man steht gut mit den russischen Nachbarn. „Bleiben oder gehen“ ist trotzdem die Frage, die viele beunruhigt:

O-Ton 8: Frauen, Forts.                            (025)            („Von uns ist erst..)
Regie: Verblenden, kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text: „Von uns ist erst eine Familie weggefahren. Wir täten ja auch fahren. Aber bei wem soll man hinfahren? Wir haben doch nirgends keine nich. Oder haben wir wohl soviel Kapital, daß wir können fahren? So ein teueres Billet! Wir können, nein, wir müssen schon hier bleiben, bis wir schon sterben. “ (…sollen wir hin?“)

Regie: Beim Stichwort sterben abblenden, unterlegen

Erzähler:Von einem Umzug an die Wolga redet hier niemand.                 Deutschland lockt. Aber noch ist die Barriere hoch:

O-Ton 9: Frauen, Forts.                                (0,25)          (… „Wir haben nichts…)

Regie: Verblenden, bei Wir haben nichts
hochziehen, stehen lassen

Text O-Ton:“Wir haben nichts. Wir sein doch Russen.
Hier sein Faschisten ein Leben lang gewesen und da sind wir russisches Schwein. (…Schwein.“)

Regie: Beim Stichwort Schwein abblenden, unterlegt halten (Hier ebenfalls evtl. Ton aus Schleife „Dorf 1″ einspielen)

Erzähler:“Faschisten“, „Russisches Schwein?“
Harte Worte, die eine harte Wirklichkeit beschreiben. Damit ist zunächst alles gesagt.
Inzwischen hat die Kunde, daß ein Deutscher im Dorf ist, sich weiter verbreitet. Aus einem der etwas weiter entfernten Häuser ist ein älteres Ehepaar gekommen, sie rüstig in Kittel und Kopftuch. Er zusammengesunken, mit dem Gesicht eines Magenkranken. Sie laden mich ein, sie in ihr Haus zu begleiten. „Damit Sie sehen, wie wir wohnen“, sagen sie, „und zu Hause erzählen können.“

O-Ton 10: Eintritt in ein Haus                   (0,48) (… Hunde, Hall, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen,
abblenden, unterlegen

Erzähler:  Genau zweiundvierzig Häuser hat das Dorf, erfahre                 ich unterwegs. Sie sind wie Perlen an der Straße aufgereiht. Bei jedem Nachbarn ein kleiner Schwatz, dann geht es weiter. Das Haus, zu dem sie beiden Alten mich führen, gleicht den übrigen: Achtung! Tor mit Kopfbalken. Rechts vom Hof und nach hinten hinaus Schuppen und Stallungen. Links führen ein paar Holstufen zur Haustür hinauf. Drinnen ist es kühl. Das macht die Holzbauweise, erklärt der Alte. Seine Frau entschuldigt sich für die Unordnung. Dabei ist es sauber und fast leer wie im Museum: Der Fußboden ist gebohnert; ebenso der furnierte Schrank. Die beiden einzigen Sessel tragen Schonbezüge.
Als Gast muß ich im tiefsten Sessel Platz nehmen, direkt dem Fernseher gegenüber. Aber im Unterschied zur landesüblichen Sitte wird er nicht angestellt. Der Alte sinkt in den zweiten Sessel neben mir. „Mein Lieblingsplatz“, schmunzelt er. Seine Frau holt sich einen Stuhl aus dem Vorraum und setzt sich uns gegenüber. Neben ihr steht ihre Tochter, eine junge Frau, modisch gekleidet und sorgfältig geschminkt wie alle jungen Russinnen. Ein Haufen Wäsche im Korb verrät, daß wir sie beim Bügeln überrascht haben:

O-Ton Text:    „Sehr guten `Parjadok‘ haben wir nicht. `Pomolenko‘.  Aber leben kann man. Früher haben wir noch nicht so gelebt.“

Regie: Russischen Text kurz stehen lassen,
abblenden, unterlegen

Erzähler:  „Früher war alles viel kleiner“, sagt sie. „Selbst auf dem Boden haben wir gelebt. Egal. Man mußte leben, hat gelebt. Jetzt ist es ein bißchen besser.“ (..lutsche)

Regie: Nach dem Stichwort „lutsche“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Die Tochter ist anderer Ansicht. Sie sagt es auf                 Russisch. Sie verstehe noch deutsch, radebrecht sie, könne es aber nicht mehr sprechen. Und außerdem, lacht sie, habe sie einen russischen Mann:

O-Ton11: Junge Frau im Haus, Tochter(030)          („Djela w tom schto…“)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Die Sache ist so: Früher hat man sich für seine                 Nationalität geschämt, dafür geschämt, daß man deutsch ist. Deutsch zu sein, das war peinlich, eine Schande. Jetzt ist es umgekehrt, jetzt spricht man mit Stolz davon, daß man Deutsche ist. Das hat sich erst in den letzten zehn Jahren entwickelt. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt. (…progress.“)

O-Ton 12: deutsche Hausfrau                            (024)          („Da, wot, odno tolka…)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:   Nur eins sei schlecht, widerspricht die Mutter:                 daß die „deutsche Nation“ – so wird in Rußland die ethnische Gruppe genannt – sich vermutlich einfach verliere.

Regie: Bei Stichwort „die Kinder“ hochziehen, stehen lasssen

O-Ton-Text:    „Die Kinder gehen in die Schule, lernen Russisch. Die verstehen nicht ein Wort. Wir verstehen ja noch ein bißchen. Aber die Kinder die jetzt wachsen, verstehen nicht zu lesen. Was sind das für Deutsche, die nicht können sprechen. (..sprechen)

Regie: Mit „sprechen“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Das muß auch die Tochter bestätigen.

O-Ton 13: Tochter, Forts.                              (037)          („Kultura, obitschi…)

Regie: Verblenden, Ton kurz kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen, verblenden

Übersetzerin: „Ja, Kultur, Sitten, alles ist verloren gegangen.                 In der Vergangenheit war ja alles verboten. Jetzt ist es frei. Doch jetzt ist es schon sehr schwer, sich zu erinnern. Überhaupt, was heißt erinnern? Alte Leute, die selbst noch Wurzeln in der Volkskunst haben, gibt es nicht mehr. Unsere Eltern wissen vielleicht noch Einiges. Wir, meine Generation, kaum noch. Unsere Kinder wissen schon gar nichts mehr.“ (…snajet)
Erzähler:      Jetzt mischt sich auch der Alte ein. „Djadja“,                 Opa, nennt seine Tochter ihn respektvoll. Er spricht als sei er uralt,obwohl er nicht älter als ungefähr sechzig sein kann:

Ton 14: Alter im Haus                             (044)     („Liebe Tochter, …)

Regie: Verblenden, stehen lassen, nach Stichwort „fremd“ abblenden, unterlegen
O-Ton-Text:“Liebe Tochter, es ist noch anders: Wir sein hier                 nicht zuhaus – und da sein wir auch nicht zu Haus. Hier sein wir noch geboren, großgewachsen. Hier haben wir noch Bekanntschaft um uns herum. Aber komm dahin, da ist alles fremd.“ (…fremd.“)

Regie: Nach Stichwort „fremd“ abblenden,
unterlegen

Erzähler: Früher wurde Deutschland schlecht gemacht, fährt                 der Großvater fort. Heute ist es genau umgekehrt. Jetzt ist alles gut, was von da kommt. Von Faschisten spricht keiner mehr. Jedenfalls nicht mehr offen, wurft seine Frau ein.
Sie trauen der neuen Zeit nicht, die beiden Alten. Und nicht den Versprechungen der Regierung. Rückkehr an die Wolga? Alles Worte! winkt der Großvater müde ab. Nichts sei wirklich beschlossen. Und Morgen sei wieder alles ganz anders. Die Großmutter nickt heftig. Die Entrüstung steht ihr im erhitzten Gesicht. Die Tochter wirft mir einen schnellen Blick zu. Sie müssen verstehen, heißt das: die Erinnerungen!
Da bricht es auch schon aus dem Alten hervor:

O-Ton 15: Alter, Forts.                           (060)                          („Mir haben se…)

Regie: Verblenden, Ton stehen lassen
Text O-Ton:“Mir haben se sechs Brüder verschossen. Ich bin der siebente. Ich war der jüngste. Den Vater haben sie auch nicht verschossen. Den haben sie sein gelassen….“

Regie: Russischen Text nach Stichwort gelassen“                 kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen,
nicht wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:Vom NKWD, erzählt der Alte, Stalins                 Geheimpolizei: Nachts kamen sie ins Dorf. Die Leute mußten packen, wurden aufgeladen, ab. Zwei Monate später waren sie tot.
Die Großmutter ergänzt: Ihr Vater wurde ebenfalls erschossen. Erst vor drei Jahren wurde er rehabilitiert. Sie steht auf, geht zu dem Schrank, kramt ein schon leicht vergilbtes Schreiben hervor und zeigt es mir. Weil sie sich die Augen wischen muß, bittet sie die Tochter, es mir vorzulesen:

1O-Ton 16: Tochter liest Rehabilitationsurkunde        (037)          (Sobschaem: Ttscho was otez…

Regie: Verblenden, Ton, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung zum Lachen hochziehen

Übersetzerin: „Wir erklären: Daß ihr Vater Rosin, Alexander                 Iwanowitsch, geboren 26.Mai 1886 im früheren Kuban, vor seiner Verhaftung als stellvertretender Vorsitzender der Kolchoose „Thälmann“ arbeitete. Er wurde angeklagt der Beteiligung an einer konterrevolutionär-faschistischen, aufrührerisch-terorriristischen nationalistischen Organisation für Spionage und Diversion. “ (…Lachen)

Regie: nach dem lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Solche Briefe haben sie jetzt zu Millionen                 verschickt, sagt die Mutter. Ihr Lachen verbindet die alte Angst mit der neuen:

O-Ton 17: Mutter und Vater                             (050)          („Das ist nicht vorbei…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Das ist nicht vorbei. Vorbei ist es nur für die, die es nicht erlebt haben.   ‚Konjeschna‘, die Leute haben Angst. Die glauben nicht.
Das ist ein und jetzt das Zweite: dubro…“

Regie:: Mit dem erneuten Einsetzen des Alten abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:Die Menschen haben Angst, daß die heutigen                 Reformen nicht von langer Dauer sein werden. Zu tief sitzen die Erinnerungen daran, wie frühere Reformen zurückgenommen wurden. So die Parole „bereichert Euch“ während der „sogenannten „Neuen ökonomischen Politik“, mit der Lenin die Folgen des Kriegskommunismus überwinden wollte. Sie endete in neuerlicher Enteignung und der stalinschen Kollektivierung.   Und nicht vergessen ist, daß es vielfach gerade die deutschstämmigen Russen, waren, die Stalin „entkulakisieren“ ließ, wie es im Russischen heißt. Das heißt, sie wurden umngebracht. Denn weil sie härter arbeiteten und bessere Vorratswirtschaft betrieben, waren sie vielfach reicher als die anderen.
Aber die neue Zeit gefällt dem Alten ebensowenig. Die Zunahme von Mordfällen, vor allem auf dem Lande, hält er für ein schlimmes Zeichen. Heute gebe es ja mehr Morde als vor Perestroika, meint er. Dagegen erscheint ihm die alte Zeit schon wieder in rosigem Licht: Damals habe die Polizei schon wenig gearbeitet. Jetzt tue sie überhaupt nichts mehr. „Aber was sollen wir tun. Wir sind doch wehrlos“, schließt er. „Außer einer Axt haben wir nichts.“ (…njetto.“)

Regie: Nach dem Stichwort „njeto“ abblenden, unterlegen, verblenden

O-Ton 18: Abschied aus dem deutschen Dorf          (…Tür, „da,da,da“, Hunde, Auto…)

Regie: Verblenden, kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, Kreuzblende mit O-Ton 19

Erzähler: Es geht nicht vor und nicht zurück – mit diesem                 Eindruck verließ ich das Dorf. Diese Menschen haben bei einem Neuanfang an der Wolga, aber auch bei einem Umzug nach Deutschland nichts zu gewinnen. Sie verlieren nur die vetraute und relativ sichere Umgebung. Noch kann die in die AG umgewandelte Sowchose ihnen Arbeit geben. Und selbst als Beschäftigunfgslose sind sie mit ihren eigenen Höfen, Gärten ind privaten Feldern hier immer noch Könige. Dort wären sie abhängig von staatlicher Hilfe. Aber was wird geschehen, wenn die Krise sich noch weiter vertieft? Die Antwort darauf suchte ich ein Jahr später in einem anderen Dorf:

O-Ton 19: Wiederholung von Ton 3 (Musik)              (042) (Ich nehme an O-Ton 19 wird dann entsprechend der Streichung von O-Ton 1,2 und 3 ebenfalls gestrichen werden müssen?

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 18, sehr kurz stehen lassen, sodaß eben der Wiedererkennungseffekt eintritt, dann Kreuzblende mit O-Ton 20

O-Ton 20: Deutsches Dorf 1994                          (044)          (…Fahrgeräusch, Türenklappen, Stimmen Lachen…)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler: „Mor-Sowchos“ im Bezirk Kurageno nahe der                 mongolischen Grenze. Hier wohnen Russen und Deutsche gemeinsam. Diese Deutschen sind nicht freiwillig hergekommen. Sie wurden 1941 aus dem Wolgaraum deportiert. In „Mor-Sowchos“ haben eine kleine deutsche Siedlung gebildet. Die Bauweise ihrer Höfe entspricht dem der Umgebung: Hier sind es keine Blockhütten, hier bilden holzverschalte Wohnhäuser, daneben ebensolche Schuppen und Ställe je einen Hof. Aber auch hier fallen die Häuser der Deutschstämmigen sofort ins Auge: planierte Straße, Vorgärtchen, Zaun, Bank, der schattenspenderende Baum: die Spitzen der Zäune, die Tür- und Fensterahmen sind geweißt oder in anderen Farben abegsetzt. Kein Schuppen steht schief. Die Lattendächer, die Holzverschalung sind sorgfältig ausgerichtet und ebenfalls sauber gestrichen. Im Hof liegen Steinplatten. Auf eigens dafür gebauten Böcken stehen Milch- und sonstige Eimer nach Größen sortiert. Wieder ist es, als betrete man eine andere Welt.

Regie: Mit dem Stichwort „Wir sind auch Deutsche“ hochziehen, mit „Lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Heut ist ein besonderer Tag: Eine junge Familie                 mit zwei Kindern, dazu die Großmutter rüstet sich soeben zum Aufbruch nach Deutschland. Es ist die fünfte Familie von insgesamt elfen, die das Dorf innerhalb eines Jahres verlassen haben.
Auf der Bank des Nebenhauses haben sich die Nachbarsfrauen versammelt, so wie sie von der Arbeit in den Ställen und Gärten kommen: in Kittel und Kopftuch, mit leichten pantoffelartigen Überschuhen oder abgeschnittenen Gummistiefeln. Die Zurückbleibenden fühlen sich verlassen:

O-Ton 21: Frauen im deutschen Dorf II                  (O37)          („Mir wolle auch nüber…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Wir wollen auch nüber. Aber ich weiß ja nicht, wann wir was kriegen. Die fahren alle nüber. Wollen noch mehr nach Deutschland.“

Regie: Nach dem Stichwort „Deutschland“ abblenden, unterlegen

Erzähler:Die Lage hat sich verschärft. Das spürt man                 sofort. Aber warum?

O-Ton-Text:    „Weil da alles schwerer ist. Da ist schwerer. Die daneben, die wollen jetzt fort schon. Wollen dahin, wo ist `parjadok‘.“ Noch: Lachen, Frage nach Schirinowski)

Regie: Nach der Frage: „Schirinowski?“ abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Dahin, wo Ordnung herrscht, wollen die Frauen.                 Mit Schirinowski haben sie nichts im Sinn. Sie wissen nicht einmal, wer er ist. Deutsche Ordnung soll es sein, nicht Schlamperei, wie sie die hiesigen Verhältnisse nennen. Arbeit wollen sie und in Ruhe das Erarbeitete genießen. In diesem Punkt sind fast alle sich einig.
Aber eine ältere, kräftige Frau widerspricht. Ihr fehlen fast sämlttliche Vorderen Zähne. Es stört niemanden. Es gibt ihr eher, betont durch die derbe dunkle Joppe, die sie über ihrem geblümten roten Kittel trägt, eine gewisse natürliche Strenge:

O-Ton 22: Zweite Frau im deutschen Dorf II        (029)          („Ich will net…“

Regie:  Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

O-TonText:“Ich will net nach Deutschland, ich will da bleibe in Rußland, ich bin russisch, was soll ich dort. Was soll ich in Deutschland?!“

Regie: Den folgenden russischen Satz bis Stichwort „Ruski“ kommen lassen, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, verblenden

Erzähler: „Hier sind wir Deutsche, dort Russen“, sagt die                 Frau mit der Joppe: Im Grunde spricht sie nur aus, was alle wissen: Nach zweihundert Jahren in Rußland liegen die Wurzeln der ehemaligen Einwanderer inzwischen in ihrer neuen Heimat. Daran ändert auch Umsiedlung und Deportation nichts. In Sibirien leben sie nun auch schon wieder zwei Generationen. „Historisch gewachsen“, nennt die Alte es. Das reiße man nicht von heut auf morgen heraus. Verzweifelt beschwört sie die alte Zeit:

O-Ton23: Forts. zweite Alte, Dorf II                  (013)          („Ransche mi schili…

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende des Erzählertextes langsam hochziehen

Erzähler:“Früher lebten wir hier gut“, sagt sie. Erst seit                 drei Jahren sei es so wie jetzt. Und warum solle es nicht vielleicht in fünf Jahren wieder gut sein? Aber dann verläßt sie der Mut: Was dann kommen werde, das könne natürlich auch niemand sagen. Gott allein wisse, was morgen werde.“ (..budit.“)
Regie: Nach dem Stichwort „budit“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler:Schließlich kann sie die Tränen nicht mehr                 halten:

Ton24: zweite Alte, Forts.                            (020)          („Die da wolle morge…)

Regie: Verblenden, stehen lassen (auch das Russische) bis nach dem Weinen

O-Ton-Text:    „Die da wolle morge fortfahre…
Regie: Nach dem nochmaligen Schluchzen abblenden, unterlegen, nach Erzähler mit „a mir sind lauter swoi“ wieder hochziehen

Erzähler:  „Alle bedauern es“, sagt die Frau, „Deutsche                 genauso wie Russen.“ Fremde kaufen jetzt das Haus, klagt sie. Aber man gehöre hier doch zusammen! Trotz aller Unterschiede, Russen, Deutsche, Katholische und Orthodoxe.
Dann zitiert sie, was sie ein deutsches Sprichwort nennt:
O-Ton 25: zweite Alte, Deutsches Dorf II              (013)                          („Ein Gott hat…“)

Regie: Verblenden, bei „Ein Gott“ hochziehen stehen lassen

O-Ton Text:    „Ein Gott hat man nur. Gelt? Glauben kann man wie man will und Gott ist nur ein.“ (…ein.“)

O-Ton26: Geäusche auf dem Bauernhof             (045)     (…Türenklappen, Hofgeräusch, Morrrad,     Gänse…

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler: Ein paar Schritte haben mich in den Hof nebenan                 gebracht. Hier wird gepackt. Die Gänse schnattern wie immer. Aber die Stimmung ist gedrückt. Immerhin läßt die Familie Haus, Hof und Freunde zurück. Nur Handgepäck kann sie auf ihrem Weg ins hannoveraner Auffanglager mitnehmen. Ich treffe nur den jungen Familienvater an. Die Frau ist zur Zeit außer Haus. Die Kinder spielen draußen vor dem Hof. Er mag fünfunddreißig sein. Wir müssen Russisch sprechen. Deutsch verstehe er nicht, lacht er verlegen.
Das Herz bleibe wohl noch hier, antwortet er gefaßt, als ich ihn frage, wie er sich fühle.   Warum er dann gehe?

O-Ton 27: Ausreisender                                 (065)     (…Lachen, „Potschemu…?“

Regie. Verblenden, mit Lachen hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, dem Übersetzer und Erzähler unterlegen. Nach der zweiten Übersetzung hochziehen

Übersetzer: „Warum? Hier hat so ein verrücktes Leben                 angefangen, ohne irgendwelche Konturen. Du weißt nicht, was morgen sein wird, übermorgen. Davor wäre es normal gewesen, nicht zu gehen, nirgendwohin zu gehen. Aber die, die schon gegangen sind, schreiben, daß Du dort besser lebst als hier.“

Erzähler:  Er ist der letzte mit seiner Familie. Zwei brüder                 sind schon vor ihm gegangen. Die Ausssicht, eine Zeitlang als in einem Übergangslager verbringen zu müssen, schreckt ihn nicht.
Übersetzer:    „Das ist uns schon klar. Aber es heißt, daß das                 nach fünf Jahren überstanden ist. Einmal angefangen, muß man es auch zuendebringen.“
(… na eto.“)

Regie: Mit Stichwort „na eto“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:Seine Mutter, eine schüttere Greisin, steht                 derweil ganz verloren mitten auf dem Hof. Wie zum Schutz hat sie sich das Kopftuch fast ganz ins Gesicht gezogen. Sie versteht nicht, was mit ihr, der Alten, der `Starije‘, geschieht:

O-Ton 28: Mutter des Ausssiedlers                      (065)          (Warum?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Warum? Ach, wer weiß denn, warum. Das sind drei Bube und die wollen fort. Die `Starije‘, ich bin denen nicht nuschna. Ich bin do nicht `nuschna‘, und bin auch dort `nawerna‘ nicht `nuschna‘.“

Regie: Nach Stichwort „nuschna“ abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler wieder aufblenden

Erzähler: Alt, niemand nütze sei sie, klagt das Mütterchen.                 Krank sei sie. Wenn sie doch bloß sterben könne:

Regie: Mit „fahren alle fort“ wieder aufblenden, stehenlassen

O-Ton-Taxt:    „Aber sie fahren ja alle fort. was kann man machen. Allein will man doch auch net bleibe, gell? Wann’s kan’s einem mitnehmt, da muß man dableibe. Wies kommt, so müssen wer’s mitnehme. Ist doch wahr. (andere Frau) Ja, so isses.“
(…ja, so isses.“)

Regie: Mit Stichwort „ja so isses“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton29: Kinder                                       (066)
(…Schmatzen, Kinderstimmen…)
Regie: Verblenden, kommen lassen, nach Erzähler
hochziehen

Erzähler: Vor dem Haus finde ich die Kinder, die hier ein                 letztes Mal mit ihren Freunden spielen. Für sie ist völlig klar, worum es geht:
Regie: mit Stichwort „potamu schto“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:      „Hier verdient man zu wenig“, sagt auch der                 Kleinste. Er mag gerade fünf sein, aber in seinem kurzärmeligen weißen Hemd und seiner blauen Leinenhose sieht er beinah erwachsen aus.
„Hier kann man nicht leben. Dort ist es besser. Da gibt es alles, zu essen und überhaupt.“
Was sie von Deutschland erwarten?
Regie: Mit dem Stichwort „Nu kak?“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, mit Stichwort „ja rad“ wieder hochziehen

Erzähler::     „Daß es besser wird“, hofft der Kleine.
Besuch aus Deutschland sei im Dorf gewesen. Äpfel, Wurst und Konfekt hätten die mitgebracht. „Und alles und alles.“ Er sei froh, daß es jetzt dorthin gehe, versichert er treuherzig.
(..ja rad!)

O-Ton-30: In der Küche                                (060)    (…Stühlerücken, Gabeln, Geschirr, Stimmen…)

Regie Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen
Erzähler:  Die Einladung der Frauen zu einem Häppchen können                 wir schließlich nicht ablehnen. Die Küche ist kühl trotz der Hitze, die der sibirische Sommer wieder hervorbringt. Auch hier blitzt es vor Sauberkeit. Aus dem Häppchen wird schnell ein Mahl. Die ganze Siedlung scheint beteiligt. Der Tisch kann den Reichtum kaum tragen: selbstgemachte Butter, Milch, Käse, mehrere Sorten von Sahne. Stolz zeigt eine der Frauen die Buttermaschine. Eigener Honig, selbstgebackenes Brot, Wurst aus eigener Schlachterei. Tomaten, Zwiebeln, Früchte aus eigenen Gärten. „Wir haben alles“, erklären die Frauen stolz. „Alles selbstgemacht“.
Der „Schnaps“, mit dem wir schließlich anstoßen, ist kein Wodka, sondern ein würziger Selbstgebrannter. Zum Abschied packen sie meinen russischen Begleitern und mir drei dicke Pakete mit selbstgeräuchertem Speck.

O-Ton 31: Abfahrt                                      (025)     (…Doswidannije, Aufwiedersehn, Schlüssel, Anfahrt, Seufzer…

Regie: Verblenden, stehen lassen, bis Satz mit Stichwort „Vitamine“ gesprochen ist, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Erzähler: Meine russischen Begleiter, mit denen ich ins                 Dorf gekommen bin, können es nicht fassen:
„Die Vitamine fehlen! Sie haben alles! Aber für Vitamine wollen sie gehen!“
Sergei, Chefarzt des benachbartenn Bezirkszentrums kann sich gar nicht wieder beruhigen. Ebenso Pawel mein Begleiter aus Nowosibirsk. Ihnen erscheint die deutsche Siedlung in „Mor-Sowchos“ im Vergleich zu dem, wie die anderen hier leben, wie eine Idylle. Man muß verrückt sein, soetwas für ein ungewisses Ziel in der Fremde aufzugeben, finden sie.

O-Ton-32: Musik im Foyer                   (090, reichlich)               (…Musik)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, nach Beginn der Antwort der Frau abblenden, unterlegen

Erzähler:      Foyer eines der großen Kulturpaläste in                 Nowosibirsk. Hier findet eine Versammlung der örtlichen Sektion „deutschen Gesellschaft für Wiedergeburt“ statt. Mit ca. 60.000 Deutschen beherbergt das Gebiet Nowosibirsk nur gut ein Zehntel der in Sibirien verstreuten Deutschen. Aber als größte Stadt Sibiriens ist es dennoch das Zentrum der Gesellschaft „Wiedergeburt“.
Heute abend werden Abgeordnete aus der Bundesrepublik erwartet. Es ist das erste Treffen dieser Art. Der Saal ist bereits voll. Aus der Stadt, aber auch aus weiter entfernten Dörfern sind die Menschen angereist. Man wartet auf die Gäste aus Deutschland. Im Foyer wird derweil noch getanzt. Die Erwartungen sind unterschiedlich. Eine der Frauen, noch ganz außer Atem, ist fröhlich und voller Schwung:

Regie: Antwort der Frau kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen
Achtung! Hier habe ich möglicherweise zwischen Ende der Musik und Antwort der Frau einen Schnitt vergessen: Bitte ausblenden bis zur Abtwort, verblenden

Übersetzerin:^ „Nun, wir wollen von ihnen hören, was Sie zu                 sagen haben. Und sie sollten uns zuhören. Wir wollen, daß wir mit Ihnen zusammensein können, daß sie auch später öfter unsere Gäste sind.“

Regie: Nach dem Zitat abblenden

Erzähler:Andere sind nicht so zuversichtlich. Vor allem                 die in den letzten beiden Jahren voranschreitende Spaltung der Deutschen Gemeinde in unterschiedliche Lager macht ihnen zu schaffen:

O-Ton 34:Im Foyer, Forts.                             (020)                          („Schwer zu sagen…
Regie: Verblenden, Ton stehen lassen

O-Ton-Text: „Schwer zu sagen, aber ich glaube, da gibt’s so                 ein bißchen Politik, also wieder Auseinandersetzungen zwischen Deutschen hier im Land und im Gebiet Nowosibirskt. Aber wir sind alle Kinder einer Mutter. Das ist die Muttersprache des deutschen. Und die Mutter hat alle gleich lieb. Das tun, was gut ist für die Deutschen. Und nicht schimpfen.“ (…schimpfen“)

Regie: Nach Stichwort schimpfen abblenden,
unterlegen

Erzähler:Erst auf Nachfrage erläutert die Frau die                 Differenzen, um die es geht:

Ton 34: Forts. Halle                                  (020)
(„Die Unterschiede?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

Übersetzerin:  „Die Unterschiede? Na jetzt – weiß ich nicht einfach. Früher war es so: Entweder die Wolga oder in den Westen. Und die anderen waren: Wir bleiben hier uns versuchen etwas für die Deutschen zu machen. Aber wenigstens um fünzehn Jashre hätte es früher passieren sollen. Zu viele sind schon drüben oder sind unterwegs.“
(…unterwegs.“)
Regie: Mit Stichwort „unterwegs“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton 35: Veranstaltungseröffnung                      (089)                     (…Beifall, Stimme, Beifall…)
Regie: Verblenden,  stehen lassen, mit dem Beifall nach der Ansage abblenden, unterlegt halten

Erzähler:      Mit großem Beifall werden die deutschen                 Abgeordneten begrüßt. Der Leiter der deutschen Delegation, alle Mitglieder der CDU, wie er betont, hat als erster das Wort:

Regie: Mit Beifall“ hochziehen, Ton stehen lassen

Erzähler:      „Liebe Freunde von der Wiedergeburt, liebe Mitglieder des zwischenstaatlichen Rates. – Wird mich jemand übersetzen? Muß man übersetzen? Zurufe: Nein! – Gut. Umso besser, dann verstehen wir uns auch so. In unserer deutschen Muttersprache.“ (..Muttersprache“)

Regie: Mit Stichwort „Muttersprache“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler;Deutschland sei bereit, den Rußlanddeutschen zu                 helfen, versichert er:

O-Ton 36: Abgeordneter. Forts.                         (089)
(„Zweierlei…)

Regie: Verblenden, mit Stichwort

O-Ton Text:“Und das wird zweierlei bedeuten: Erstens möchte ich Ihnen sagen: Das Tor nach Deutschland bleibt weiter offen, für alle, die es benutzen möchten, die nach Deutschland wollen. Das Zweite ist: Diejenigen, die nicht nach Deutschland wollen, die sollen Hilfe erhalten hier in Sibirien, wenn sie das wünschen. Und ich kann ihnen versprechen, daß beides bleibt, und daß die Entscheidung bei ihnen liegt.“

Erzähler:  Der Redner beschwört die „positive Rolle“, die                 die Deutschen für die Entwicklung von Kultur und Zivilisation Rußlands gespielt hätten, als sie von zweihundert Jahren von Peter I. und Katharina II. als Kolonisten, als Handwerker und Bauern, ins Land gerufen wurden. Er beklagt die schweren Zeiten, die danach gekommen seien, besonders unter Stalin und Hitler. Kein anderer Teil, der Deutschen, versichert er den Menschen im Saal,  habe so sehr unter den Folgen von Krieg und Vertreibung gelitten wie die Rußlanddeutschen. Damit aber sei es nun vorbei:

Regie: Mit Stichwort allmählich „denn wir alle hoffen doch“ langsam aufblenden, stehenlassen bis Ende, verblenden

O-Ton-Textt:“Denn wir alle hoffen doch, daß nach schweren Jahren, die noch bevorstehen, doch Schritt für Schritt Demokratie und Freiheit siegen werden. Und dann sind natürlich die Rußlanddeutschen, liebe Freunde, eine großartige, eine ideale Brücke zwischen den Deutschen und den Russen.“ (Beifall…)

O-Ton37: Musik: „Heimat“

Regie: Kreuzblende, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler abblenden

Erzähler:      Die deutschen Abgeordneten versprechen, sich zu                 Hause für die Belange der Rußlanddeutschen einzusetzen. Ein Trachtenchor beendet anschließend den Abend. Mit deutschen Volksweisen des vorigen Jahrhunderts beschwört er die Heimat. Bereitwillig schunkeln die Versammelten nach Melodien von „Heimat“, „Lustig ist das Zigeunerleben“, „Ein Heller und Batzen“, „Sag danke schön mit roten Rosen“ noch gut eine Stunde. Für sie ist es ein Fest, das sie nicht alle Tage erleben. Für Dr. Weinhardt, den Vorsitzenden der „deutschen Widergeburt“, der die Veranstaltung leitet, sind all diese Versprechungen und Hoffnungen nicht mehr realistisch. „Zu viele Worte“, gibt er den Abgeordneten mit auf den Weg, „aber es fehlen die Taten.“
Am nächsten Tag suche ich ihn noch einmal in seinem Bürro auf. Dort erklärt er:

O-Ton 38: Dr. Weinhard, Forts.
(„Die ersten Jahre…)

Regie: Ton kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:    Die ersten Jahre der Perestroika machten uns Hoffnungen auf die Widerherstellung der Republik und der Mnschenrechte, obwohl die Deutschen in den vorherigen Jahren vielleicht ein halbes Jahrhundert unter dem Druck waren und das Vertrauen zu unsren Behörden völlig verloren hatten. Jetzt haben sie es noch mehr verloren. Wir stehen sogar im Minus. Wir sehen, daß die Regierung nur um ein Einziges bestrebt ist: Rußland in den heutigen Grenzen zu erhalten. Und sie wollen aber nicht verstehen, daß alle Völker ihre Rechte und Möglichkeiten haben sollten, ihre Kultur und ihre Muttersprache zu erhalten.“
(…erhalten.“)

Regie: Mit dem Stichwort „erhalten“ abblenden,
unterlegt halten

Erzähler: Die Hoffnung der Rußlanddeutschen auf eine                 Wiederherstellung einer autonomen Republik an der Wolga sind erloschen. Aber auch der deutschen Regierung vertraut Herr Dr. Weingardt nicht mehr. Vom „offenen Tor“ werde bereits seit Jahren gesprochen. Tasächlich würden denjenigen, die nach Deutschland wollten, immer neue bürokratische Schwierigkeiten gemacht. Beispielsweise müßten sie Geburtsnachweise ihrer Eltern und Voreltern beibringen. Viele aber hätten diese Dokumente bei der Deportation doch verloren!
Die Vorstellung der deutschen Abgeordneten von den Rußlanddeutschen als „Brücke“ veranlaßt Dr. Weingardt schließlich nur noch zu einem milden Scherz:

O-Ton 39: Dr. Weinhardt, Ende

Regie: Kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:“Das kann man als Spaß einschätzen, als Witz vielleicht. Man darf keine Brücke, auf den Knochen eines repressierten Volkes aufbauen. da muß masn zuerst die Rußlanddeutschen fragen, ob sie noch viel Kräfte haben, das auszuhalten. Und diese Frage stellt keiner. Es gibt schon ehrliche Menschen, die das verstehen, aber noch ziemlich wenig.“

Erzähler:  Das Problem steht auf der Tagesordnung. Der Krieg                 gegen die Tschtschenen, ein deportiertes Volk wie die deutsche Minderheit, hat es noch einmal verschärft. Wo ist die Lösung?
*

Soeben erschien von mir:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.
Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92

Landreform in Rußland – gescheitert oder modifiziert?

Vorspann:In Rußland läuft nicht mehr alles so, wie die  Befürworter einer schnellen Reform und ihre westlichen Berater sich das 1991 gedacht haben. Das gilt vor allem für die Landreform.  Neuester Ausdruck ist ein „Ukas 96“ des Ministerpräsidenten Tschernomyrdin vom März dieses Jahres. Formal handelt es sich bei dieser neuen Verordnung nur um ein Durchführungsgesetz zur Privatisierung auf dem Lande. Faktisch allerdings schreibt die Verordnung fest, daß Mitglieder der in Aktiengesellschaften umgewandelten Kollektivbetriebe nur dann von ihrem Recht auf private Nutzung ihres „Pais“, das heißt ihres Anteils am gemeinschaftlichen Vermögen und Land, Gebrauch machen dürfen, wenn sämtliche übrigen Aktionäre dazu ihre Zustimmung geben. Sind damit die Reformen gestoppt? Kai Ehlers versucht dieser Frage nachzugehen.

O-Ton 1: Akkordeon auf dem Roten Platz

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:Oktober 1992. Tag der Revolution. Die Opposition  sammelt sich zum Marsch auf den Roten Platz. Die Auseinandersetzung um die „Schocktherapie“ der Regierung Jegor Gaidars hat den ersten Höhepunkt erreicht. Man agitiert gegen wilde Privatisierung, gegen die Preisfreigabe, gegen den Zerfall der Union und gegen Jelzins westliche Ratgeber. Im Mittelpunkt steht die nach wie vor ungelöste Bodenfrage:

O-Ton 2: Agitator auf dem Roten Platz    (… „pri sowjetski wlast)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach dem Stichwort „Präsidjent“ noch kurz stehen lassen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:  „Ein Präsident, der Land kaufbar macht, verletzt die Verfassung. Kauf und Verkauf von Land ist ein Verbrechen.“

Erzähler:Gegner und Befürworter der Privatisierung von  Grund und Boden stehen sich in diesem Sommer `92 hart gegenüber: Im Regierungsprogramm wird erklärt, daß die erste Etappe der Privatisierung bis Anfang 1993 abgeschlossen sein soll. Diverse Dekrete Präsident Jelzins zur Bodenreform sorgen für entsprechenden Druck, nachdem frühere Erlasse aus der Zeit Gorbatschows steckengeblieben sind. Die Kollektiv-Betriebe sollen entstaatlicht und in Aktiengesellschaften umgewandelt werden. Jeder Anteilseigner soll berechtigt sein, sich seine Anteile direkt aushändigen oder in entsprechendem Geldwert auszahlen zu lassen. Grundstücke für private Nebenwirtschaften, Kleingärten und Wohnungsbau auf dem Lande sollen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Bis zum Ende des Jahres erwartet die Regierung die Gründung von rund 400 000 privaten Höfen. Mit 16 Millionen Hektar sollen sie rund 7% der insgesamt 220 Millionen landwirtschaftlicher Nutzfläche bewirtschaften und so die Landwirtschaft modernisieren. Der Anteil der privaten Nebenwirtschaften sprang schon von 1991 auf 1992 mit 40 Prozent geradezu explosionsartig in die Höhe.
Gemeinschaftsaufgaben wie Schaffung von Wohnraum, wie Straßenbau, wie das Energie-, Wasser und Gasversorgungssystem sowie das Fenrsprechnetz, für deren Pflege früher die Sowchosen und Kolchosen zuständig waren, sollen an die „neue Macht“übergeben werden, also an die dem Präsidenten direkt unterstehenden Administratoren der Dörfer, Bezirke und Verwaltungseinheiten .
Eine grundsätzliche Entscheidung zur Frage des Privateigentums an Land, also eine Veränderung der Verfassung, steht noch aus. Den schnell erlassenen Dekreten fehlen ausgearbeitete Durchführungsgesetze. Trotzdem geht die Mehrzahl der kollektiven Betriebe im Laufe des Jahres 1992 daran, sich als Aktiengesellschaft umregistrieren zu lassen, allerdings ohne recht zu verstehen und ohne innere Beteiligung. Typisch für diese Haltung ist Fjodor Soloteika. Er ist Vorsitzender der Agrarverwaltung von Bolotnoje. Das ist ein sibirischer Landkreis nördlich von Nowosibirsk. Damit ist er verantwortlich für die Privatisierung von mehr als 150 Betrieben:

O-Ton 3:  Fjodor Soloteika in Bolotnoje    (… Ja tschitaju)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute  besser vorzubereiten. Offen gesagt, wir haben jetzt zwar schon zwei AGs eingerichtet, aber viel haben wir da nicht erreicht. Die Leute verstehen das nicht richtig. Ihre Beziehung zur Arbeit ist wie früher. Der Arbeiter sieht nicht, daß das jetzt sein Anteil ist. Er sieht nicht, daß er jetzt Herr ist auf dem Land. Meiner Meinung nach geht das alles zu schnell. Aber was soll man sagen? Anordnung ist Anordnung, die muß man befolgen.“

Erzähler:Was Soloteika vermißt, sind Einzelanweisungen,  die nicht nur postulieren, daß das Gemeinschaftsvermögen aufgeteilt wird, sondern auch wie! Wie sollen die Maschinen aufgeteilt werden? Wie sollen Korn, Milch, Fleisch weiterverarbeitet werden, wenn die bisherige kollektive Organisation aufgelöst wird? Fjodor Soloteika zuckt mit den Schultern. Im Konkreten läuft alles wie früher, heißt das, nur schlechter.

„Morskoje“ ist ein weiteres Beispiel. Es ist eine stadtnahe Sowchose am Rande von Nowosibirsk. Über der Eingangstür ihres Verwaltungsgebäudes prangt nach wie vor in dicken roten Lettern, wenn auch ein wenig verschlissen die Parole: „Das Leben – ein ökonomisches Experiment!“. Unter diesem Motto hat man auch die Privatisierung begonnen:

O-Ton 4: In der Sowchose Morskoje   (Experiment, Experiment …)

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:“Ein Experiment, sonst nichts. Jede neue  Form der Bewirtschaftung ist für uns ein Experiment. Das schließt das Erproben neuer Gesellschaftsformen mit ein, egal welche. Jetzt probieren wir es eben so. Wir haben hier 19 Höfe. Damit liegen wir an der Spitze.“

Erzähler: Als der junge Direktor erzählt, wer die Höfe  gegründet hat, wird ein weiteres Problem sichtbar, das der sozialen Differenzierung nämlich: Der frühere Direktor ging allen anderen voran. Er privatisierte als Erster. Es folgten fünf leitende Angestellte, unter ihnen der Hauptbuchhalter. Die restlichen Höfe werden von qualifizierten Facharbeiter geführt. Dazu kommen noch drei oder vier Städter mit Geld. Von ihnen weiß man nicht, was sie mit dem Boden machen wollen. Bisher liegt er brach. Die Rest-Sowchose, nach wie vor für die Versorgung von gut 1500 Menschen verantwortlich, mußte sich mit Leuten aus der zweiten Reihe regenerieren. Der jetzige Direktor ist schon der dritte innerhalb eines halben Jahres.
Der Herbst werde zeigen, meint er, ob das neue Experiment etwas bringe. Und wenn nicht? Dann werde man es beenden, antwortet er ruhig.

O-Ton 5: Privatbauer     (…Hunde, „prochaditje“

Regie: Langsam kommen lassen, lurz stehen lassen, abblenden

Erzähler;  Die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt  haben. Der Traktor vor der Tür und der Hund im Hof weisen den Weg zum Privatbauern. Im übrigen unterscheidet sich das Gehöft nicht von den umstehenden Blockbauten. Bauer Gorbatski ist stolz auf seine Leistung. Auf die Frage, ob er sich als Bauer fühle, wehrt er jedoch ab:

O-Ton 6: Privatbauer, Forts.     (…Da, Fermer, Lachen)
Regie: Bis zum Lachen stehen lassen, dann abblenden
Übersetzer:    „Naja, Bauer! Bis zum Bauern ist noch weit. Bauer bist Du dann, wenn alles irgendwie zusammenläuft. Jetzt quälen wir uns erst einmal ab.“
Erzähler: Er klagt über Probleme mit dem Saattrockner. An  den kommt er erst heran, wenn das Sowchos-Getreide schon durch ist. So droht ihm sein Korn zu verfaulen. Ähnliche Probleme gibt es mit der Verarbeitung der Rüben, dem Transport seiner Milch. Für alles muß er die Sowchosleitung fragen. Sie behindert ihn nicht, unterstützt ihn aber auch nicht. So sind er und die anderen Privaten immer die Letzten. Für den Erwerb seines kleinen Traktor mußte er bis nach Moskau reisen. Die versprochenen Kredite bleiben aus oder sind nur mit großem Aufwand zu beantragen. Die Nachbarn sind mißtrauisch. Hilfe gibt es nur noch gegen „Butilkis“, Fläschchen, also gegen Wodka oder andere Naturalien. Geld will keiner mehr haben.
Seine Frau versucht den schroffen Eindruck etwas zu mildern:
O-Ton 7: Bäuerin                  (…Kagda lutsche, interesneje stal….)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:“Aber irgendwie wurde das Leben natürlich  trotzdem interessanter. Im moralischen vor allem: Niemand steht über dir, du entscheidest selbst, was morgen ist. Du weißt, was du von deiner Arbeit hast, Du arbeitest für Deinen eigenen Gewinn. Das ist doch schon eine ziemliche Freiheit. Wir hoffen natürlich, daß auch das andere besser wird.“

Erzähler:In der Gemüsebrigade draußen auf dem Feld  herrscht eine andere Stimmung: Die Auflösung der Sowchose habe nur Nachteile gebracht, hört man hier: sinkende Löhne, schlechtere Versorgung, Zerfall der sozialen Einrichtungen.
Ob die Privatisierung für sie interessant sei?

O-Ton 8: Gemüsebrigade  (… Njet, nje interesno)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:      „Nein, nicht interessant“, sagt die Frau. „Wer hat, der kriegt“, grummelt der Mann. „Typ unseres Direktors“, erklärt die Frau weiter. Aber sie, was habe sie schon? Nichts! Die paar Rubel, die sie bekomme, reichten doch nicht, sich so einen Hof zu leisten. Ja, wenn sie Geld hätte, wäre das interessant! Aber so? Mit dem Geld, das sie bekomme, könne sie ja nicht einnmal in die Stadt fahren.

Erzähler:      Was sagen die Mähdrescherfahrer? Immerhin gehören sie zu den besserbezahlten Spezialisten:

O-Ton 9: Mähdrescherfahrer    (…Haha, …)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „Ach, alles Quatsch! Gaukelei! Wie lange haben sie uns den Sozialismus versprochen! Kommunismus sogar! Und jetzt sollen wir Privateigentümer werden. Sofort!  Aber nichts ist passsiert, nie! Nur Betrug am Volk, immer wieder. Das ist es.“

Erzähler:   Ja, wenn die Regierung helfen würde. Ja, wenn es klare Gesetze gäbe. Wenn man sicher sein könne, daß nicht morgen wieder alles umgedreht werde. Aber man sehe doch, wie die Privaten sich abschinden müßten.

O-Ton 10: Mähdrescher zwei      (…eto )

Regie:Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:    „Das ist wieder so ein Experiment mit dem Volk. Es dreht sich alles im Kreis. Betrüger. Chruschtschow, Andropow, Gorbatschow und jetzt wieder. Wie es bei uns heißt: „Der Fisch stinkt vom Kopf.“

Erzähler: An anderen Orten ist es nicht anders: Die  Mehrheit der auf dem Land Beschäftigten kann mit der von oben verordneten Privatisierung nichts verbinden. Sie fürchten um den sozialen Schutz, die das Kollektiv ihnen gibt. Aber selbst unter den Parteigängern Jelzins überwiegen die kritischen Stimmen.
So Adminstrator Scherer, Bürgermeister von Lebjaschewo. Wie alle in diesem Früherbst trifft man ihn in seinem privaten Kartoffelfeld an. Als Vertreter der „neuen Macht“ ist er im Dorf für die Durchführung der Privatisierung verantwortlich. Er weiß also, wovon er spricht:

O-Ton 11:    Admionistrator Scherer     (… setschas katastrophitschnaja)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:“Wir haben eine katastrophale Situation. Die  Sowchosen zerfallen, die Privaten bringen nichts. Die Infrastruktur zerfällt. Die Wege verrotten. Niemand will mehr arbeiten, alle wollen irgendetwas erhalten. So kann man keine Reform machen: Verordnen, aber dann die Mittel nicht geben! Dekrete erlassen, ohne zu sagen, wie sie umgesetzt werden sollen. – Aber so war es immer in Rußland. Es wird abgerissen, bevor aufgebaut wird. Und jetzt steht wieder die typische russische Frage: Was tun? Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es das Ende der Reform sein. Niedergang. Hunger.“

Erzähler In der Weiterverarbeitung ist es nicht besser.  Besonders deutlich wird das in entlegeneren Gebieten. Edmund Voll, ein Deutsch-Russe, ist Direktor des „Butter-Käse-Kombinats“ in Gorno-Altai. Die Republik liegt an der Südflanke Sibiriens im Dreieck zwischen Kasachstan, Mongolei und Sibirien. Der von Edmund Voll geleitete Betrieb hat das Monopol für Milchverarbeitung in einem Einzugsbereich, der halb so groß ist wie Deutschland. Gorno-Altai ist zudem noch durch Gebirge in schwer zugängliche Täler zerklüftet. Auf die Frage, wie es bei ihnen mit der Privatisierung stehe, antwortet er:

O-Ton 12:Edmund Voll    (…Chotsche jest)

Regie: Stehen lassen bis zu seiner eigenen deutschen Übersetzeung. Danach abblenden

Originaltext „Wollen schon, aber können nicht.“

Erzähler: Das Problem liegt in der Monopolstruktur. Sie hat dazu geführt, das es in den Dörfern praktisch keine Möglichkeiten der Weiterverarbeitung gibt. Es existieren nicht einmal ausreichende Kühlmöglichkeiten. Soweit es die Milchwirtschaft betrifft, wurde die gesamte Infrastruktur des Gebietes, einschließlich der Transportwege und -Mittel, früher vom Kombinat unterhalten. Eine Privatisierung würde praktisch bedeuten, daß die Milch entweder in den Dörfern bleibt und dort verkommt oder über Zwischenhändler abgeschlagen werden muß. Die aber drücken die Preise den Bauern gegenüber, dem Kombinat gegenüber treiben sie sie hoch. Die fertigen Produkte, früher zu festen Kontingenten nach Moskau oder in andere Zentren abgesetzt, müssen dann noch einmal durch die Mühle des Zwischenhandels. Dazu kommen die steigenden Transportkosten. Dies alles läßt die Endprodukte so teuer werden, daß sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Importbutter ist billiger.
Einen Ausweg sieht Edmund Voll nur in der Schaffung kleiner Einheiten der Weiterverarbeitung: Molkereien, Käsereien nach deutschem oder schweizer Muster. Nötig ist seiner Ansicht nach auch die Entwicklung eines eigenen Binnenmarktes in der region und die Aufnahme eines eigenen Handels mit den Nachbarn. Aber wie? Für das eine fehle das Geld, für das andere die politische Mögichkeiten. Nach wie vor laufe doch alles noch über Moskau und auch im Westen habe er keine konkrete Unterstützung für seine Vorstellungen gefunden. Also werde man wohl weiter machen müssen wie bisher. Der kleine Mann hebt hilflos die Hände.
Bei Vincenti Tengerekow bekommt die Kritik allgemeinere Züge. Tengerekow ist stellvertretender Direktor des agrar-industriellen Komplexex in Gorno-Altai. Auch er ist im Prinzip für die Reform der Landwirtschaft. Auch er ist für die Steigerung ihrer Produktivität. Die aktuelle Agrarpolitik der Regierung jedoch hält er für kurzsichtig und inkompetent: Der amtierende Sonderbeauftragte für Landwirtschaft, Alexander Ruzkoi, zu dem Zeitpunkt noch Partner Boris Jelzins, entlockt ihm nur noch Sarkasmus:

O-Ton 13: Vincenti Tengerekow, Agro-Zentrum Altai      (…tosche samije)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „Jetzt wieder mit Ruzkoi. Ein General! Ein  General kümmert sich jetzt um die Landwirtschaft! Früher, bei Gorbatschow waren es Geografielehrer, die sich mit Landwirtschaft befaßten, jetzt ist es ein Militär! Der schickte einfach ein Telegramm: `Bis zum 1. Oktober sind Kolchosen und Sowchosen umzunenennen!‘ Und so spult sich das dann ab: Man bildet kleine Betriebe, AGs, private Bauernstellen.“

Erzähler:  Aber was fehle, so Vincenti, sei eine  Selbstorganisation der Betriebe von unten auf Basis einer breiten Demonopolisierung. Die bloße Auflösung der alten Strukturen könne das nicht ersetzen. Das sei blanke Anarchie, von der allein die Mafia profitiere.
Tengerekows Erwartungen in den Erfolg der Reformen sind düster:

O-Ton 14: Vincenti   (…Mi)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Wir haben schon viele Reformen überlebt. Sie  gingen allerdings immer auf Knochen der Bauern. So auch diesesmal. Auch diese Reform, die der Soldat jetzt durchführt, lastet schwer auf den Bauern: Die Bauern sind ohne Schutz. Andere können streiken – der Bauer kann das nicht. Die Industrie kriegt ihre Preise – der Bauer kriegt sie nicht. Das ergibt eine Disbalance. Man braucht aber eine Balance der Preise zwischen Industrie- und landwirtschaftlichen Produkten. Das ist nur mit Subventionen erreichbar – wie überall auf der Welt, wenn man die Bauern nicht zum Aufruhr treiben will. Stattdessen werden jetzt noch Steuern erhoben und die Zinsen für die Kredite erhöht. Das kann nicht gutgehen.“

Erzähler:In Moskau bemühte sich derweil eine Komission des  obersten Sowjet darum, die vereinzelten kritischen Stimmen zu einer Alternative gegenüber der herrschenden Agrarpolitik zusammenzuführen. Vertreter unterschiedlichster Organisationen stimmten darin überein, daß Privatisierung allein nicht eine tiefgreifende Agrarreform ersetzen könne, sondern daß Kriterien und Wege für eine effektive und zugleich gerechte Neuverteilung des Landes gefunden werden müßten. „Land nur an die, die darauf arbeiten“ hieß die Formel, auf die man sich in gemeinsamen Kommuniques einigen konnte. Völlige Ratlosigkeit aber zeigte sich an der Frage, wie diese Neuverteilung konkret organisiert, wie und von wem sie kontrolliert und wie sie schließlich gegen Mißbrauch von Spekulanten gesichert werden könne.

O-Ton 15:Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk  (…Uwaschaemi Deputati)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Ein Jahr danach. Vor dem Haus der Sowjets in  Nowosibirsk. Rechte agitieren gegen die Agrarpolitik der Regierung. Aus einzelnen kritischen Stimmen des Vorjahres ist eine Bewegung geworden, auf die die offizielle Politik eingehen muß, wenn sie den Rechten nicht das Feld überlassen will. Mit einer Sitzung zur Agrarfrage soll die politische Saison eröffnet werden. Die Befürchtungen vom Vorjahr haben sich bewahrheitet: Zwar wuchs der Anteil privater Produktion im Verhältnis zur kollektiven. Die angepeilte Marge von 400 000 Bauernwirtschaften konnte jedoch nicht erreicht werden. Und statt zu steigen wie versprochen, fiel die Agrarproduktion 1992 bei privaten und kollektiven Betrieben insgesamt um 9 Prozent.
In der Kartoffelernte lagen die Privaten mit 1 Prozent sogar ganz unten. Eine Steigerung der Kartoffelernte gab es dafür auf den Hofland- und Gartenparzellen: Deren Anteil an den Flächen für Kartoffelanbau stieg von 1990 auf 1992 um gut die Hälfte. 77 Prozent aller Anbauflächen für Kartoffeln waren 1992 Garten- und Hofland. Darauf wurden über 80% aller Kartoffeln geerntet. Das zeigt deutlicher als jede andere Zahl: Die Bevölkerung ist zur Eigenversorgung auf Subsistenzbasis übergegangen. Das ist eine Struktur, wie sie bis dahin vor allem aus Ländern der früher sogenannten dritten Welt bekannt war.

O-Ton 16:Im Foyer  (Foyergemurmel, „u nas…“)
Regie: Ton lansam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Auch drinnen hält man mit seiner Meinung nicht  zurück: „Besser leben“ antworten zwei städtische Abgeordnete auf die Frage, worum es für sie gehe. Für die Dörfler dagegen gehe es um alles. Wenn ihnen jetzt nicht geholfen werde, werde es eine Katastrophe geben: Hunger, Bauernaufstände, auch eine neue Revolution sei möglich. Zentrale Subventionen will man sehen, um die Preisschere auszugleichen. Den Spekulanten im Zwischenhandel soll das Handwerk gelegt werden. Ein eigener Zugriff auf das örtliche Budget wird gefordert, um die Kosten der Reformen vor Ort bestreiten zu können, außerdem eine einmalige Unterstützung, um die bevorstehende Ernte einzuholen.
Die Vertreter der Regierung greifen alle Forderungen auf – und wenden sie gegen Moskau. Damit ist der Agrarkonflikt, der sich bisher zwischen westorientierter Reform-Bürokratie und den konservativeren Kreisen des obersten Sowjet bewegt hatte, zum Konflikt zwischen Moskau und seinen Republiken angewachsen.
0-Ton 17: Werkhalle Sowchose „Sibir“     (…Türenkalppen, Annäherung, Hämmern, ..och,   charoschewa)

Regie: Ton langsam kommen lassen, unterlegen, beim Stichwort „oh, charoschewa“ hochziehen, bis zum Ende stehen lassen.

Erzähler: Für die Probleme in der „glubinkje“, im tiefen  Land, wie es in Rußland heißt, ist dies keine Lösung. Es verschärft die Lage eher noch. Ein neuerlicher Besuch im Bezirk Bolotnoje läßt keinen Zwiefel mehr offen. In der ehemaligen Sowchose „Sibir“ weit im Norden, jetzt auch eine „AG“, wo das Ackerland für hunderte von Kilometern in die sibirische Taiga übergeht, ist der Verfall nicht mehr zu übersehen: Schutt und Schrott, wohin das Auge schaut. Die Stimmung ist nicht mehr zu unterbieten. Auf die Frage, was sich mit der Privatisierung geändert hat und was sie mit ihrem Anteil jetzt anfangen wollen, antworten die Arbeiter in der Maschinenhalle:

Übersetzer: „Oje, nichts Gutes, wirklich! Im ganzen Land  Verfall. Die Landwirtschaft hat niemand mehr auf dem Zettel. Unter solchen Umständen kannst Du überhaupt gar nichts kaufen. Das ist alles nur eine Geste, sonst nichts.“

Erzähler:Im Kontor treffe ich fünf Frauen an, die dort,  wie sie sagen, nur noch den Mangel verwalten. Über die Versammlung im obersten Sowjet in Nowosibirsk wissen sie bescheid. Das ist ganz in ihrem Sinne:

O-Ton 18: Kontor Sibir  (…koneschna eto problem)

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Natürlich, das ist ja ein Problem aller  Kolchosen, aller Aktiengesellschaften, sogar auch der Bauern. Es ist das Problem aller auf dem Land Arbeitenden, nämlich: was wird aus dem Land?“

Erzähler:      Praktisch alle Produkte, erzählt eine Frau,  müssen inzwischen unter dem Gestehungspreis verkauft werden. Dazu kommt noch die Inflation. Unter diesen Umständen sind Brenstoffe für die Erntemaschinen, für Lastwagen, Heizung und dergl. nur noch zu bezahlen, wenn keine Löhne mehr ausgezahlt werden. Selbst dann reicht es nicht mehr. Praktisch ist das der Bankrott. Ohne Gelder von oben wird sich in diesem Jahr nichts mehr bewegen. Die Ernte droht auf den Feldern zu verfaulen. Nur die privaten Grundstücke werden noch bestellt. De facto ist die Sowchose auf Selbsterhaltung heruntergekommen:

O-Ton-19: Kontor Sibir, zwei              (..schiwiom na tsch)

Übersetzerin: „Wir leben von dem, was uns die Nebenwirtschaft ermöglicht. Wir haben eigene Milch, eigenes Brot, eigenes Fleisch. Aber generell gesagt: Wir leben nicht, wir vegetieren. Sogar unser Brot backen wir neuerdings selbst.“

Erzähler:  Hierin sehen die Frauen das schlimmste Zeichen  der Krise. Verständlich, zeigt sich im Ausbleiben der bisher immer noch subventionierten, früher fast kostenlosen Brotlieferungen aus der Stadt doch unmißverständlich, daß der Versorgungsstaat nicht mehr funktioniert. Wo man sich früher durch eine Solidargemeinschaft geschützt sah, ist nun jeder auf sich selbst angewiesen. Kein Wunder, daß die Frauen ihren Glauben an den Sinn der Reformen verloren haben. Sie wollen zurück:

O-Ton 20: Frauen im Kontor, zwei (…abratno)

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: „Zurück zu den Zeiten“, sagt eine der Frauen,  „als unsere Arbeit noch 150 Rubel wert war.“ „Zurück zum Kollektiv“, ergänzt eine andere, „denn allein wirst Du nichts.“ Die das sagt, ist nicht etwa eine konservative Matrone. Es ist die jüngste und chiqueste der ganzen Runde.

Über die Art der Veränderung bei den Privatbauern läßt Wassiljew Pitschennikow keinen Zweifel. Petschennikow. Er ist Pensionär. Nach 45 Jahren Arbeit in der Sowchose, davon mehr als der Hälfte als Brigadeführer, hat er zusammen mit seinen Söhnen einen Hof aufgemacht. Aber der Enthusiasmus der ersten Tage ist verflogen. Bitter klagt er, daß alle versprochenen Hilfen ausgeblieben seien. Die Kredite seien nicht zu bezahlen. Maschinen müsse er bei der Sowchose leihen. Sein Fazit ist knapp:

O-Ton 21:Bauer Piztschennikow   (Wir leben nicht besser…)

Übersetzer:    „Wir leben nicht besser, wir arbeiten nur mehr.“

Erzähler:Von fünf Uhr morgens bis in die Nacht  seien sie auf den Beinen. Trotzdem reiche es nicht und es sei nicht sicher, ob sie es durchhalten könnten.
Dringend bittet er seinen westlichen Besucher, in Deutschland Sponsoren zu suchen, die an der Unterstützung eines sibirischen Privatbauern interessiert seien. Nur mit westlicher Hilfe könne das Privatbauerntum überleben. Und nur, wenn sie persönlich übergeben werde. Alles, was über Moskau laufe, erreiche ohnehin nie sein Ziel. Die naheliegende Frage, warum er unter solchen Umständen nicht aufgebe, beantwortet in mit dem Hinweis auf seine Söhne und seinen Enkel. Die sollen es einmal besser haben! Aber wollen die das? Zögernd antwortet er, wobei der breite Konjunktiv seine Unsicherheit deutlicher macht als er selbst es wahrhaben will:

O-Ton 22: Bauer Pitschenkikow, zwei  (… No, oni.bili)

Übersetzer:    „Sie wären einverstanden, wenn es eindeutige Gesetze gäbe. Aber die gibt es nicht. Ich verliere ja nichts als Pensionär, aber wenn meinem Sohn alles wieder weggenommen würde, wie es schon so oft geschehen ist. Das wäre schrecklich.“

Erzähler: Dann aber läßt er seiner Kritik freien Lauf:

O-Ton 23: Bauer Pitschennikow, Ende   (…U nas)

Regie: Ganz stehen lassen

Übersetzer:“Bei uns ist es ja so: Heute hü und morgen hott. Heute kommt dieses Gesetz, morgen ein anderes. Verstehen Sie? Keine Beständigkeit der Gesetze!“

Erzähler: Die Unbeständigkeit der Reformen macht auch den  örtlichen Verwaltungsorganen zu schaffen. Der Definition nach sind sie Stützen der neuen Macht. Aber hier hat man schon längst vor dem Chaos kapituliert und ist zu alten Methoden zurückgekehrt.
So in Nowobibejewo, einer Waldarbeitersiedlung mit ca. 7.000 Seelen gleich neben der ehemaligen Sowchose „Sibir“. Dort ist der Inhaber der „Macht“, ein junger Mann von vielleicht 30 Jahren, zugleich Vorsitzender des örtlichen Sowjet. Nicht eins der vielen Dekrete werde in den Dörfern umgesetzt, erklärt er. Entschuldigend weist er auf zwei gut ellenbogenhohe Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch: Rechts die Dekrete Jelzins, links die des obersten Sowjet:

O-Ton 24: Nowobibejewo, örtl. Macht   (…Nje tolko)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Nicht nur, daß man sie nicht umsetzen kann – man schafft es ja nicht einmal sie alle zu lesen.“

Erzähler: Selbst wenn er es schaffe würde, erzählt der  junge Mann weiter, dann fehle das Geld. Sei ausnahmsweise aber einmal Geld vorhanden, dann erwiesen sich die Verordnungen entweder als praktisch undurchführbar oder sie höben sich gegenseitig auf. Das Schlimmste aber sei, daß er keinerlei Kontrolle über die Finanzen habe:

O-Ton 25: örtliche Macht, zwei    (…jesli)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Soweit es die Kontrolle der Gelder betrifft, die von oben kommen, geschieht die ohnehin in einer Art und Weise, daß von dem Geld, das verteilt werden soll, überhaupt nichts mehr unten ankommt.“

Erzähler: Aber auch die Profite, die im Dorf gemacht  werden, entziehen sich der Kontrolle der neuen Macht. In Nowobibejewo gilt das vor allem für die Frage, wieviel Holz im Wald geschlagen und verkauft wird. Früher wurde das genau überwacht, jetzt herrscht Raubbau. Die Gewinne werden privatisiert, die sozialen Aufgaben schiebt man der Verwaltung zu. Die Hauptforderung des jungen Administrators ist daher: Mehr Rechte für die Organe vor Ort! Dazu nennt er nmoch: Zugriff auf das örtliche Dudget! Kontrolle der wilden Privatisierung durch klare Entscheidungen von oben. Finanzielle Unterstützung für übergreifende Aufgaben. Andernfalls, so der junge Mann, werde alles im Chaos ersticken.

Von „Oben“ ist allerdings nichts zu erwarten: Zwar hat Präsident Jelzin zu den vielen bereits besteheneden noch eine neue Behörde geschaffen, die nur die Aufgabe hat, die Umsetzung präsidialer Dekrete zu kontrollieren. In ihrer Nowosibirsker Zentrale ist von Frau Nikolajewna, Mitarbeiterin der Behörde und zugleich Abgeordnete des Gebietssowjets, aber nur das Eingeständnis hören:

O-Ton 26:Im Kontroll-Apparat des Präsidenten  (… sakoni jest)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:“Im Prinzip haben wir doch gute Gesetze. Eine  andere Sache ist natürlich, daß niemand gleich jedesmal, gleich in jede Stadt angelaufen kommt und die Umsetzung überprüft. In diesem weiten Land! Sie verstehen? Das ist einfach nicht möglich, sogar hier am Ort nicht. Die Aufgabe ist einfach uneingrenzbar. Das alles bedeutet: Die Leute, die bisher an der Macht waren, sind es auch heute. Das ist vor allem anderen ein Clan: Man hat sich gegenseitig in die Positionen gebracht und hilft sich auch jetzt weiter – die einfachen Arbeiter oder auch das Dorf bleiben da außenvor. Die müssen allein zurechtkommen.“

O-Ton 27:Versammlung zur Selbstverwaltung  (Uwaschaemi tawarischi…

Erzähler:      Ein Jahr später, Herbst 1994. Wieder im Haus des Sowjets in Nowosibirsk. Der Konflikt zwischen den zwei Mächten ist entschieden. In Moskau wurde gekämpft. Der Präsident hat sich mit Gewalt gegen den obersten Sowjet durchgesetzt. Es gibt eine neue Verfassung, die das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden garantiert. Für die Dörfer hat sich jedoch wenig geändert. Nach der landesweiten Liquidierung der alten Sowjetstrukturen ist die Lage dort eher noch verworrener geworden. Niemand weiß mehr, welche Kompetenzen wo gelten. Die offiziellen Stellen reagieren mit einer Kampagne für die Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung. Aber schon die Art der Vorbereitung durch den neuen jelzintreuen Sowjet läßt ahnen, daß es hier wieder nur um einen Versuch geht, Unzufriedenheit von oben zu kanalisieren. Die meisten Delegierten bekommen den Entwurf erst bei ihrer Ankunft zu Gesicht, ganz zu schweigen von dessen Umfang, der eine praktische Anwendung unmöglich erscheinen läßt. Gleich heutze aber sollen Beschlüsse gefaßt werden. Die Debatte in Arbeitsgruppen zeigt: Fantasievolle Vorstellungen gibt es genug – aber es fehlen die Personen und es fehlen die Mittel zur Realisierung. Selbst bei Gutwilligen ist die Unzufriedenheit spürbar:

Ton 28: Im Foyer  (Foyer…

Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Die Schwierigkeit ist: Nach dem Ukas des  Präsidenten, also der Auflösung des obersten Sowjet im Oktober 1993, haben viele Spezialisten die Verwaltung verlassen. Das bedeutet: Diejenigen, die die sich auskennen, sind gegangen. Und dann die Finanzen! Wie es bei uns heißt: `Wo kein Geld ist, ist auch kein Weg.‘ Die Gesetze sind gut, aber die konkrete Hilfe ist gleich Null. Das wird schwierig. – Aber natürlich möchte man hoffen. Ohne Hoffnung kann der Mensch ja nicht leben.“

Erzähler: Im gewerkschaftlichen Bauernverband macht man  sich weniger Illusionen. Zu weit, erklärt Sekretär Wladimir Lewaschow in Nowosibirsk, klaffe die Differenzierung zwischen Industrie und Wirtschaft bereits auseinander; zu weit sei die Zerstörung der Sowchosen und Kolchosen bereits vorangeschritten, während die pivaten Bauern sich soeben gerade selbst erhalten könnten.

O-Ton 29: Gewerkschaft, Bauernverband  (…Da, primerna…)

Übersetzer:    „Ungefähr 20 Prozent der früheren Sowchosen und Kolchosen – jetzt Aktiengesellschaften – arbeiten heute normal, ohne Probleme, haben eine stabile Arbeit. Unter `normal` verstehe ich, daß sie zwar auch subventioniert werden müssen, aber doch irgendwie fühlen, daß sie mit Marktwirtschaft durchkommen werden. Der Rest, 80 Prozent, ist in der Krise. Wohin sie sie morgen gehen, ob sie aufgeteilt werden, ob sie überhaupt nicht interessant sind für eine Privatisierung, ob sie einfach bankrott gehen oder wie immer, das weiß Gott allein.“

Erzähler: Die offiziellen Zahlen, mit denen das Jahr 94  abgeschlossen wurden, übertrefen die düsteren Prognosen noch: Die Mehrheit der Sowchosen war am Jahresende zahlungsunfähig. Viele privaten Bauern gaben auf. Ihre Zahl ging gegen 200.000 zurück. Die Agrarproduktion insgesamt sank 1994 um 7 Prozent unter das ohnehin schon schlechte Ergebnis des Vorjahres. Die Getreidernte fiel um rund 10 Prozent. Damit ist sie seit 1992 um rund 25 Prozent, das ist ein Viertel gesunken. Für 1995 liegt die Prognose bei einem Rückgang der der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion um weitere 6 Prozent.

Erzähler:Um diese Entwicklung in den Griff zu kriegen,  bedarf es nach Ansicht der Bauergewerkschaft mehr als populistischer Maßnahmen nach Art des Selbstverwaltungsprojekt. So oder so werde sich so etwas wie eine gemischte Marktwirtschaft herstellen. Das hält auch Wladimir Lewaschow für unvermeidlich. Dies aber könne nur geschehen, wenn der Staat den Bauern, auch denen, die ihre Arbeit durch Schließung von Sowchosen verlören, das Überleben ermögliche und die wilde Privatisierung einer Kontrolle unterwerfe. Gennadij Schadrin, seinem Selbstverständnis nach ökologischer Patriot, Radiojournalist und wie Lewaschow Mitglied der Bauernpartei, bringt diese Vorstellungen auf den Punkt:

O-Ton 30:Gennadij Schadrin   (… w nache)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „In unserer Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nicht gibt, ist ein Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:Wenn solche Vorstellungen werden heute von  tonangebenden Mitgliedern der Bauernpartei vertreten werden, so läßt das hoffen, daß das „Dekret 96“ keineswegs das Ende der Reform bedeuten muß. Es könnte sich auch als der lange überfällige Hebel erweisen, der den Übergang von der bisherigen staatlichen Kommandowirtschaft zu gemischten Formen der Wirtschaft sozial kontrollierbar macht, statt die vorhandenen Strukturen einfach zu zerschlagen. Das könnte zu einer Entwicklung führen, in der das Wort „Reform“ nicht einfach gleichbedeutend mit individueller Bereicherung ist.

„Ich will Banker werden“ Kinder im heutigen Russland

Vorspann: Zehn Jahre Perestroika. Die Kinder der Ära Gorbatschow haben inzwischen selbst Kinder. Wie wächst die neue Generation heran? Was hat sie für Ansichten und Probleme? Einen Streifzug in dieses weite Feld unternimmt Kai Ehlers.

A-Ton 1: Kinderparade in Tscharypowo                   (1,50)
(…Stimmen, Gesang)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen,
stehen lassen, anblenden, unterlegen.

Erzähler: Sibirien. Kohlestadt Tscharypowo. Ehemaliges  Jahrhundertprojekt. Hier sollte das größte Energiezentrum Euro-Asiens entstehen. Jetzt liegt alles auf Eis. Aber heut ist ein strahlender Tag. Hunderte von Kindern haben sich versammelt. Die Mädchen tragen bunte Schleifchen im Haar, viele Jungs stecken in Anzügen. „Komm zu uns, komm zu uns, wir sind alle eine Familie“, singen sie. Eine Gruppe von Mädchen nähert sich. Sie trägen ein Transparent: „Frieden; Freundschaft; eine saubere, grüne Welt“, wünschen sie sich. (…Liedende)

B-Ton 1: Mädchen im Kinderumzug                   (0,35)     (… „Parad“ … bis „prischli“

Regie: Verblenden, hochziehen bei „Parad“, abblenden, unterlegen. Beim Stichwort „prischli“ wieder hochziehen.

Erzähler:  Amerikaner haben das Fest organisiert, erzählen die Mädchen. So etwas habe es noch nie gegeben. Klar, mache es ihnen Spaß: „Sehen Sie doch: Alle haben sich hier versammelt.“ Und natürlich sei alles freiwillig. Niemand wurde gezwungen. Alle wollten es. Und sind gekommen. („…prischli“)

Regie: nach „prischli“ abblenden, unterlegen

Erzähler:  Jetzt kommt ein Trupp Jungs. Sie sind nicht  minder begeistert. Doch, einmal habe es so etwas gegeben, erinnern sie sich, zum „Tag der Stadt“. Auch bei den Pionieren früher. „Aber das war nicht so gut“, finden sie.
Worin der Unterschied bestehe?

A-Ton 2: Jungs im Kinderumzug:

(0,18)             (… Schritte, „a tom bili tolka russki                …bis „sewodnja Amerikanzi, Indianzi sdjes“)
Regie: Verblenden, hochziehen bei „a tom“, stehen lassen bis „sdjes“, abblenden, unterlegen

Übersetzer:    „Ah, da waren es nur Russen. Heute sind                 Amerikaner und Inder hier.“

Erzähler: Bei den „Amerikanern“ haben sie in den letzten     Monaten Gedichte, Lieder und alles Mögliche gelernt. Haben vom Glauben an Bachai gehört. Bereitwillig erklären sie, was das heißt:

B-Ton 2: Jungs im Kinderumzug   (0,35)  (… „schto ta dobra budit        … bis „normalno“)

Regie: Hochziehen zum Stichwort „schto ta..“, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „normalno“ wieder hochkommen, dann abblenden, unterlegt halte

Erzähler: „Dass alles gut wird.“ „Wir beten mit ihnen  zusammen“. Ob sie das gut fänden. „Aber ja!“ Die Begeisterung ist nicht zu überhören. Und die Eltern? Die fänden das normal. …“normalno“

Regie: Ab Stichwort „normalno“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  Auch viele Frauen nehmen an dem Zug Teil. Väter sind kaum zu sehen. Worum es hier gehe, frage ich eine kräftige Babuschka. Freundlich strahlt sie mich an:

A-Ton3: Babuschka im Kinderzug  0,30)          (… „nje snaju …bis „radost“)

Regie: Verblenden, hochziehen zum Stichwort „ne snaju“, kurz stehen lassen, abblenden, dem Erzähler unterlegen, bei „radost“ wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht, ich Dummchen. Ich nehme nur teil. Bin ja nur Gast. Mein Neffe ist dabei.“

Erzähler: Ob es so etwas früher gegeben habe? Sie erinnert sich nicht. Zu ihrer Zeit sei Krieg gewesen. Aber schön findet sie es: „So eine Freude!“ …“radost“)

Regie: zum Stichwort „radost“ hochziehen, dann wieder abblenden, unterlegt lassen.

Erzähler: Da kommt eine junge Frau, Kindergärtnerin. Toll, findet sie es, wie die jungen Leute das gemacht haben! „Prachtkerle“! Alle ihre Kinder seien mit dabei.

B-Ton3:Kindergärtnerin im Kinderzug     (0,20)     (… „Djetim otschen rawitsja“              … bis „wjesseleje, krasitschneje“)

Regie: Verblenden, zum Stichwort „Djetim“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, am Ende des Erzählers zum Stichwort „etot parad“ wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Den Kindern gefällt das alles sehr. Sie ziehen daraus Gutes. Kinder kann man ja nicht betrügen. Kinder sehen, wo Gutes und wo Schlechtes ist: Sie hängen an den jungen Leuten aus Amerika.“

Erzähler: Klar habe es auch schon früher Paraden gegeben.  Bei den Pionieren. Aber diese sei heller, beseelter, lacht die junge Frau.

Regie Beim Stichwort „krassitschneje“ abblenden, unterlegt lassen

Erzähler: Passanten, die am Rande zuschauen, sind verunsichert. Sie wissen nicht, was vorgeht.
A-Ton 4:Passanten beim Kinderzug     (0,40)       (… „eto otschen interesna…       …bis „mnoga charoschowa“

Erzähler: „Sehr interessant“, meint der junge Mann, eine  gute Veranstaltung. Aber wer dafür verantwortlich sei, will er wissen. Die junge Frau fragt nach dem Ziel. Am Ende sind die beiden uneins: Bei den Pionieren waren die Paraden besser organisiert, meint sie. Aber irgendwie seien sie gezwungener gewesen, wehrt er ab. Nicht alles sei früher schlecht gewesen, lachen sie schließlich. (…charoschowa“)

Regie: Allmählich kommen lassen, bei „oni bili lutsche organisowanni“ stehen lassen bis „choroschewa“, abblenden, unterlegen, allmählich ausblenden

A-Ton 5: Beifall im Saal                     (1,40)     (… Lied, Beifall, Ansage         …bis  Lied „felloship“

Regie: Ton langsam kommen lassen, Applaus und erste Kinderansagen stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Kulturhaus. Der Saal ist überfüllt. Hier tragen die Kinder vor, was sie in vier Monaten bei den Bachai gelernt haben. Den Anfang machen die ganz Kleinen:

Regie: Mit dem Stichwort „Tschistata“ hochziehen, drei oder vier Begriffe abwarten, dann abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: (Abgesetzt lesen) „Sauberkeit.“ „Wie man zusammen arbeitet.“ „Einheitliche Menschheit.“ „Gutes Benehmen.“ „Freizügigkeit.“ „Den Eltern gehorchen.“ „Die Alten achten.“ „Vertrauen. Solidarität.“
Regie Nach Übersetzungen zum Stichwort „soduschestwo“ hochziehen, stehen lassen, bis „felloship“ erklingt, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Mit Tänzen, Gedichten, Akrobatik, mit Klavier und Guitarre geht es weiter. Auch Rock und Pop fehlen nicht. Ebenso wenig eine Erklärung der Organisatoren, dass dies alles nur für die Kinder geschehe, wenn auch letztlich zu Ehren des einzig existierenden Gottes, den Bachai neu für dieses Jahrhundert verkündet habe.
Mit dem Lob auf „fellowship, fellowship“, die große Gemeinschaft, findet das Fest seinen Ausklang.

B-Ton 4 Auf der Straße      (1,15)     (… Straßenlärm, Frage          …bis „Tscharypowo sabyrotsja“)

Regie:  Kreuzblende, nur halb kommen lassen, unterlegt halten

Erzähler: Andre`, im Ort geboren, aber zurzeit aus Nowosibirsk angereist, um hier mit anderen Ärzten zusammen eine öffentliche Sitzung gegen Alkoholismus durchzuführen, ist nicht so zurückhaltend:

Regie: Zum Stichwort „schto ja dumaju?“ hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, unterlegen. Beim Stichwort „powes nowi Gitler“ ganz hochziehen, stehen lassen, nach Stichwort „sabyrajutsja“ abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: „Was ich denke? Diese Parade ist die einzige Abwechslung, die es hier gibt. Die Leute kommen nicht deswegen. Hier gibt es einen Klub, da wo wir eben waren. Es gibt ein Kino. Andere Möglichkeiten, sich mit Kultur zu beschäftigen, haben die Kinder nicht. So ist also jede beliebige Aktion interessant, seien es die Bachai, seien es die Buddhisten, seien es bloß Hippies: Sie versammeln um sich gleichviel Volks – Und sei es auch ein neuer Hitler oder Wladimir Rolwowitsch persönlich! Da werden es sogar noch mehr. Da wird sich ganz Tscharypowo versammeln.“
Regie: Nach dem Stichwort „sabyrotsja“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler: Wladimir Rodolfowitsch – das ist Wladmir Schirinowski. Eine Art Vakuum sei entstanden, meint Andre`. Wie überall in der ehemaligen Union. Hier werde das besonders sichtbar, weil die Stadt mit ihren Kohlevorkommen vorher als „Jahrhundertprojekt“ gegolten habe. Noch schärfer urteilt Ira, seine Kollegin:
A-Ton 6:Irina auf der Straße                     (0,13)                     (… „dla etix detei“ …bis „norma“
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, bei Stichwort (Frauenstimme) „dlja etich detei“  hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, am Ende wieder hochziehen, nach Stichwort „norma“ (Lachen)abblenden, unterlegen

Übersetzerin:  „Für diese Kinder ist das alles ganz fremd. Bei der Hälfte der Kinder säuft der Vater. Das ist für sie die Norm.“

B-Ton5: Andree auf der Straße                         (0,28)    (…“djeti nje ponimaet“  …bis „sasnanije“

Regie: Verblenden, bei „djeti“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:  „Die Kinder verstehen kein Englisch. Wieso also  Bachais? Wieso englische Sprache? Sie sind russisch! Sie leben hier! Das ist alles irgendwie künstlich, ausgedacht, entspricht nicht ihrem Bewusstsein.“ (…sasnanije)

Regie: Nach „sasnanije“ allmählich ausblenden

Erzähler:  Amerikanische Käppchen und Fähnchen findet auch Olga, die junge Bibliothekarin befremdlich. Sie arbeitet in der Kinderbücherei der Stadt. Noch merkwürdiger findet sie, warum diese Gruppe junger Amerikaner ausgerechnet an diesen sterbenden Ort kommt. „Die könnten doch zu haus viel besser leben“, findet sie. Aber gegen eine Teilnahme ihres Kindes an der Parade hat sie nichts:

B-Ton 6: Bibliothekarin Olga                           (0,27)     (…“Nu, ja nje snaju“           …bis „pust ani werjat (Lachen)“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht, das Wichtigste ist doch, da mein Kind nicht krank wird. Dass es gesund ist, also, glücklich. Darum geht es. Aber ob es das da nun glaubt oder nicht glaubt: Hauptsache, es wird ein Mensch. Stimmt doch, oder? Schließlich müssen Kinder ja irgendwas glauben. Aber was können sie heute glauben? Also, las sie nur überhaupt etwas glauben!“ (pust ani werjat“
Erzähler:  Die Leerstelle, die heute von Gruppen wie den Bachai gefüllt wird, entstand, als nach der dem Sturz der Kommunistischen Partei 1991 auch deren Jugendorganisationen, die „Pioniere“ und die „Komsomolzen“ aufgelöst wurden. Beim Besuch eines  ehemaligen Pionierlagers an der mittleren Wolga, das heute „Feriencamp für Kinder“ heißt, erklärte mir Wladmir, ein junger Fernsehtechniker schon 1992, ein Jahr danach, worin er den Verlust sieht: Sein junger Freund Igor, noch keine siebzehn, arbeitslos, nickte dazu:

B-Ton 7: Im Pionierlager Rossinka                (1,40)   (…“Nu, ja (Genuschel)           … bis „tschelowjet obschinii“

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach dem Übersetzer wieder  hochziehen

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird.  `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen.
Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen. Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Viele junge Leute suchen ihr Heil in Banden. Statt des Halstuches tragen sie jetzt die Kutte. Früher war das alles nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache. Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“
(…tschelowjek obschtschinii“
A-Ton 7: Jungs vor der Post in Sawjala          (1,20)                 (… Auto, schwaches Gespräch … bis Lastwagen/Hahngeschrei)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, bei Stichwort „Kak wot, pioniri“ (nach Frage) kurz hochziehen

Erzähler:  Ein Jahr später. Sawjala, Bezirkszentrum nahe der kasachischen Grenze. Hier ist nichts mehr künstlich. Landalltag. Ein paar früh erwachsene Jungs lungern vor der Post herum. Sie langweilen sich. Als es die Pioniere noch gab, war mehr los, meint ein Zwölfjähriger. „Mehr Freundschaft“, ergänzt ein Knirps. Der älteste, er ist 15, bessert mit dem Austragen von Telegrammen den Lohn der Mutter auf, der sonst nicht zum Leben reicht. „Früher wurdest Du angemacht, wenn Du ohne Halstuch kamst“, meint er. „Heute ist es umgekehrt.“ Wie er das finde? „Nicht gut“, meint er. „Schlecht“, finden die andern.

Regie: Nach Stichwort „Nu, kak vot, Pioniri“ kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Die Pioniere organisierten alles. Sie sorgten  auch für den Schutz der Natur. Jetzt kümmert sich praktisch niemand. Eigentlich ist unser Sawjala doch schön, schöner Wald, Seen. Aber jetzt liegt überall Dreck rum, alles verkommt, Früher sind die Pioniere in die Wälder gegangen, haben sie gesäubert. Jetzt hat niemand das nötig. Man schmeißt alles einfach so weg. Jeder kümmert sich nur um sich selbst. (Lastwagen/Hahn)

Regie: Ton mit Lastwagengeräusch hochziehen, mit Hahnenschrei langsam abblenden.

B-Ton 8: Platz in Borodino                             (030)     (…Karre, Motorrad)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen

Erzähler: Borodino. Auch eine Kohlestadt. Noch ein Jahr später. Inzwischen sprach man im Lande von moralischer Wende. Der Platz vor dem gigantischen Kulturpalast ist menschenleer. Nur ein paar Jungs hocken auf einer Bank. Die Aussticht auf ein Gespräch mit einem Ausländer veranlasst sie, ernste Gesichter zu machen. Zuerst reden sie wie die Alten: Schlechte Zeiten! Die Preise! Man müsse sehen, wie man durchkomme. Von den „Pionieren“ sprechen sie nur noch in der Vergangenheit. Aber offenbar gibt es sie doch noch. Im Sommerlager gäbe es kostenlos Eis und Konfekt, schwärmt der Kleinste. Erst als ich sie nach ihren Berufswünschen befrage, blitzt die neue Zeit unverhüllt auf:

A-Ton 8: Jungs auf dem Paradeplatz, Forts.    (0,37)       (… „Komersantami, (Lachen)“          …bis „Reketeur, (Lachen)

Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen

Erzähler: „Händler“, „Geschäftsmann“, „Millionär“. Das bedarf wieder einmal keiner Übersetzung. Es entspricht im Übrigen dem, was die russischen Statistiker schon längst als Bild der neuen Generation ermittelt haben. Die Antwort des vierten Jungen, erst im örtlichen Kauderwelsch, dann in der amerikanisierten Übersetzung lautet: „örtlicher Racketeur“, also Schutzgelderpresser. Unbewegt erzählen sie von der örtlichen Mafia: Zwanzig- bis Einundzwanzigjährige gehen in die Häuser und fordern Geld. Einfach so. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Kürzlich haben sie jemanden umgebracht und einen Polizisten erschossen. Ob sie das alles richtig finden? Darüber sind die Jungs nicht so ganz einig:

Regie: Kurz hochziehen, dass das Lachen erkennbar wird, dann wieder abblenden.

B-Ton 9: Jungs in Borodino, Forts.               (0,40)  (…“Nawerna plocha“ … bis nach „plocha“

Regie: Verblenden, kommen lassen, abblenden, unterlegen.

Erzähler:  „Wohl schlecht“, meint der eine. „Gut, denke ich“, sagt der zweite. Für dich selbst gut, für andere schlecht, setzt der Erste noch einmal nach.

Regie: Beim zweiten „dlja tebja charascho“ hochziehen, stehenlassen bis „plocha“, dann abblenden, unterlegen

Erzähler: So ganz richtig findet der Forsche es aber auch nicht. Doch um das zu ändern, müssten die Preise überall gleich sein, meint er. In Moskau sei alles billiger, hier alles teuer. Kaufen und Verkaufen, darin sieht er den einzigen Weg, um zu überleben. Die Eltern der Jungs machen es auch so. Ein anderes Leben könnten sie sich schon vorstellen. So wie früher! Als man noch richtig arbeiten konnte! Als man sich etwas für morgen aufbauen konnte!

A-Ton9: Jungs in Borodino, Schluss                (0,15) (… Kichern …bis  lutsche schili“

Regie: Verblenden, langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hinterm Stichwort „schili“ abblenden-

Erzähler:  Da gehen alte und neue Klischees bei den Jungs offenbar sehr durcheinander. „Viele Grüße“ und „Für ein besseres Leben!“ rufen sie schließlich unseren Kindern über meinen Recorder noch zu. („lutsche schili“)

B-Ton 10: Im Dorf Nowobiobejewo              (068)          (… Motorrad, Lachen, Antworten               …bis Rambo odin, Rambo dwa“)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „Stallone“ hochziehen, wieder abblenden

Erzähler:  Nowobibejewo, Waldarbeitersiedlung ca. 1000 Einwohnern, Zwei Sägewerke, ein privates Videogerät. Zwei Junges auf der staubigen Dorfstraße. Sie können sich nicht erinnern, ob es bei ihnen „Pioniere“ gab. Boxen, „football“, „volleyball“ ist ihr Alltag, im Frühjahr mit dem Trainer, im Winter auf der Straße. Die Stadt finden sie langweilig. „Im Dorf ist es besser“, finden sie. „Da ist der Fluss. Da kann man baden.“ In der Stadt sind nur die Videos für sie interessant. „Videomanics“, lacht mein russischer Begleiter. „So sind sie alle. Ohne das können sie schon nicht mehr leben.“ Als ich nach ihren Lieblingsschauspielern frage, springt mich wieder die neue Zeit an: Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone.

Regie: Abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler kurz stehen lassen, nach „Rambo“ abblenden

Erzähler: Ihre Lieblingsfilme entsprechen dem: Rambo I und Rambo II.

A-Ton10:Kinderhaus Tscherepanowo  (059)    (…538: „etowo ribonka“, Kinderschreien   …Kinderschreien, „etot indalid“  …bis Schreibmaschine

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Erzähler: Einen noch tieferen Blick in die Wirklichkeit vermittelt der Besuch im „Heim für psychisch behinderte Waisen“ in Tscherepanowo, Sibirien. Eine Gruppe russischer Ärzte ist eingetroffen, um Kinder zur Adoption bei amerikanischen Eltern abzuholen. Das örtliche TV ist anwesend. Woher kommen die Kinder in diesem Haus, fragt der Redakteur des örtlichen TV die Leiterin, eine mächtige ältere Frau: (…Schreibmaschine)

B-Ton 11: Leiterin des Kinderhauses           (050)     (… „Tschas ja wam skaschu          …bis Kinderschreien

Regie: O-Ton verblenden mit vorherigem, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Übersetzerin: „Das werde ich Ihnen sagen. Kinder bis zu drei Jahren werden aus Krankenhäusern und Geburtskliniken gebracht. Es sind Kinder von Müttern, die ihre Kinder bei der Geburt oder gleich danach abgegeben haben. Manche Kinder findet man auch auf dem Bahnhof. In den Krankenhäusern hat man sie medizinisch versorgt, behandelt und ihnen Dokumente ausgestellt. Wenn sie dann niemand adoptiert, kommen sie zu uns.“

A-Ton 11: Kinderstimmen und andere  Forts.               (0,36)          (…Kinderstimmen, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz hochkommen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  Einmal für krank befunden, haben die Kleinen praktisch keine Chance. Nur wenige schaffen eine normale Entwicklung. In den Kinderheimen wird nicht geheilt, dort wird ruhig gestellt. Mehr wäre nach Ausbildung und Ausrüstung dieser Heime nicht zu schaffen, selbst wenn das Bewusstsein ein anderes wäre: Vier ausgebildete Kräfte, die Leiterin, eine Krankenschwester, eine Logopädin und eine Erzieherin, sind hier für mehr als sechzig Kinder zuständig. Heute kommt der allgemeine Verfall noch hinzu, der sich auf das Kinderhaus katastrophal auswirkt. Beschwert stöhnt die Krankenschwester, eine an sich eher zähe Vertreterin ihres Standes:

B-Ton12: Krankenschwester                        (050)          (… „I na schot pitanje“              … bis „wot takie dela“

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, wieder abblenden

Übersetzerin:  „Was die Verpflegung betrifft, muss ich noch einmal sagen – und mich Krankenschwester beleidigt das einfach: Die Kinder bekommen bei uns zurzeit nicht ausreichend zu essen. Nach den Marktpreisen sind wir einfach nicht in der Lage, die nötigen Dinge zu bezahlen. So schaffen wir Kohl, Mohrrüben, Zwiebeln, Blumenkohl ran, also das, was in unseren Gärten wächst, was wir zu Hause haben. So sieht das aus.“

A-Ton 12: Kinderstimmen, Forts.                    (055)      (…Kinderstimmen, Stimmen…)

Regie: Verblenden, kurz hochkommen lassen, unterlegen

Erzähler: Unter diesen Bedingungen starben auch früher schon viele Kinder in den ersten Jahren. Bei ihnen verfestigte sich, was anfänglich nur Zurückgebliebenheit war, zu dauernden Behinderungen. Mit fünf oder sechs Jahren verschwand die Mehrzahl in den allgemeinen Behindertenanstalten. Heute sind die Überlebenschancen dieser Kinder noch weiter gesunken. Trotz steigender Zahl der Ehescheidungen, Abtreibungen und der ausgesetzten Neugeborenen geht die Belegung der Betten zurück. Die Stimmung ist schlecht. Die Frauen haben Angst, dass man das Haus ganz schließt. Das würde für sie den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten und einer – trotz allem – besseren Versorgung, als die Nachbarn sie haben. Die Ärzte aus Nowosibirsk sind für sie eine ernste Bedrohung. Sie beschimpfen sie versteckt als Spekulanten, die nur Geld mit den Kindern verdienen wollten. Die Leiterin steigert sich zu einem kräftigen Crescendo:

B-Ton 13: Leiterin des Kinderhauses           ((0,36)                  (… „Mi kagda rabotajim…                …bix „bes sexa“, Lachen und Stimmen

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegt halten, beim Stichwort „raschdajetsja“ kochziehen
Übersetzerin:  „Als wir jung waren, haben wir über Arbeit gesprochen. In der neuen Generation geht es vor allem um Lohn, Sex, Spekulation! Wie im Westen! Aber sind bei uns früher nicht auch gute, gesunde Menschen geboren worden? Ohne Sex?“

Regie: Nach dem Stichwort „raschdajetsja“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  „Eiserne Babuschkas“ werden Frauen mit dem Auftreten dieser Leiterin im Land genannt. Durch das Lachen angestachelt, steigert sie sich zu Warnungen darüber, dass die schlechte Moral den genetischen Fond verderbe. Darin bringt sie problemlos auch Tschernobyl noch mit unter. Das Volk werde immer schlechter. Das könne sie ja an den Kindern sehen, die in ihr Haus kämen. Die um eine Generation jüngere Logopädin wehrt immerhin ab: Ohne Sex gäbe es wohl keine neue Generation! Aber dann fällt sie doch selbst in den Tenor ein:

B-Ton 14: Logopädin im Kinderhaus             (052)          (… „I ponimaetje, pri“               … bis „eto situatia“)

Regie: Schnell hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzerin:  „Verstehen Sie! Unter den Bedingungen, die heute für Frauen in Russland gelten, werde ich kein zweites Mal gebären. Auch wenn man mir sagt, dass die Geburtenzahl sinkt. Aber nicht, weil ich es vielleicht nicht wollte, sondern erstens, weil ich allein stehe, und zweitens weil ich gar nicht wüsste, wie ich dem Kind eine Ausbildung geben sollte. So ist das! Ich will nicht! Und ich bin eine normale, gesunde Frau! Andere haben zwei, drei, vier Kinder – reihenweise Nachwuchs. Aber, bitte sehr, das sind Familien von Alkoholikern, wo er säuft, wo sie säuft. Sie rechnen so: Für das Kind bezahlt man uns Unterstützung; für eins kriege ich was, für zwei, bei dreien kann ich schon trinken. Aber die drei Kinder überlässt man sich selbst. Klar, dass die nicht gesund sind. Das ist blanke Degeneration! So geht die Nation zugrunde. Die Gebärhäuser bleiben leer. Das ist unsere Situation.“ (…situatia)

Erzähler: Olga, Leiterin des örtlichen Geburtshauses in Kurageno, einem ähnlichen Bezirkszentrum wie Tscherepanowo, aber eine Tagesreise weiter im Krasnojarsker Gebiet, ca. 25 000 Einwohner, erzählt, wie sich solche Ansichten in konkreten Zahlen niederschlagen:

B-Ton 15: Olga in Kurageno, Hebamme                (056)     (… „Nu, a wot rabotaju“ … bis „mjesto“)

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, am Ende wieder hochziehen, nach Stichwort „mjestno“ abblenden

Übersetzerin:  „Nun, ich arbeite hier jetzt seit sechzehn  Jahren. Als ich hier ankam, hatten wir im Bezirk 1200, 1300, 900 Geburten. Aber dann gab es einen ständigen Rückgang. Im letzten Jahr hatten wir 335. Im Jahr davor waren es noch 600. Also, es geht abwärts. In diesem Jahr fühlen sich die Leute bei uns offenbar besser. Jetzt haben wir im halben Jahr so viele Schwangerschaften, wie letztes Jahr im ganzen Jahr Geburten. Also, scheint es wieder aufwärts zu gehen.  Aber für die Städte gilt das nicht, nur hier im Dorf.“ (…mjesto“)

Erzähler: Es ist ein Rückgang um ein Viertel. Olgas hoffnungsvolle neue Zahlen können das kaum relativieren. Sie zeigen nur, dass in letzter Zeit zunehmend Menschen aufs Land flüchten, wenn sie Familie gründen wollen. Alexander Solschenyzin sprach im letzten Jahr gar von einem Rückgang der Geburten auf 8% der früheren Raten. Patriotische Blätter warnen bereits seit Längerem vor einem Aussterben des russischen Volkes. Irina Poltawskaja, St. Petersburg, in den letzten Jahren mehrmals als Organisatorin von wissenschaftlichen Kongressen zur Aufarbeitung der Vergangenheit der orthodoxen Kirche hervorgetreten, fügt dem Bild noch einen weiteren Aspekt hinzu:

B-Ton 16: Irina Poltawskaja                             (040)          (223: „Posmotritje, na to“                …bis „wot eta“

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, nach Stichwort „wot eto“ abblenden

Übersetzerin:   „Sehen Sie sich die jungen Leute an, die heute Kinder bekommen, wie sie heute ihre Kinder erziehen. Völlige Wildbahn in der Erziehung! Motto: Was wachst das wächst, wenn`s daneben geht, geht`s eben daneben. So lernen die Kinder nichts. Sie orientieren sich entweder auf der Straße, was nicht immer das Beste ist oder sie richten sich nach ihren Eltern, die in Sachen Erziehung ebenfalls stumpf sind. Das heißt, ein ganz anderes Niveau von Menschsein entsteht da.“ (…wot eto.)

Erzähler: Die Degradierung, dieser Verlust historischen und sozialen Bewusstseins, wie Irina Poltawskaja es nennt, betreffe im Übrigen alle Schichten. Das betreffe auch die geistliche Sphäre, die Kirche. Auch die Verkündigung bleibe auf einem derart primitiven Niveau, das den Leuten nicht helfe.

B-Ton 17: Irina Poltawskaja                            (059)          (… „Ja mago tolka…“               …bis prosche, lechsche“

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzung wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich kann nur sagen, um all das in den Griff zu kriegen, braucht es Zeit. Und vor allem Menschen! Denn alles hängt in dieser Frage von den Menschen ab. Wird es solche Menschen geben? Welches Potential werden wir in zehn Jahren haben? Nun, dann sind das diejenigen, die, sagen wir, zur Zeit Chruschtschows geboren wurden. Ich weiß einfach nicht, was in deren Köpfen heute los ist. Ich weiß von meinen Verwandten, dass es in der Schule zurzeit äußerst schwierig ist – sowohl für die Lehrer mit den Schülern als auch für die Schüler mit den Lehrern: Das Niveau ist nicht, wie es sein sollte oder die Kinder sind einfach schlecht erzogen und ohne jede Achtung. Was daraus wird, was jedes Kind daraus macht, das hängt natürlich auch von jedem einzelnen Kind ab. Das eine wird vielleicht etwas schaffen. Aber viele werden den einfachen, den leichten Weg gehen.“

(Regie: Hier kann evtl. eine neutrale, orchestrale Musik eingefügt werden)

Erzähler:      In den ersten pädagogischen Konzepten von 1985/6 sucht man solche Gedanken vergebens. Dort war vor allem von Umstrukturierung die Rede. Gorbatschow gab das Schlagwort von der „Computerisierung“ der Bildung aus. So sollte der Anschluss an das internationale Niveau geschafft werden. Versteckt unter Projekten mit dieser Zielsetzung bildeten sich Ende der Achtziger erste experimentelle Schulen. Im Schutz der offiziellen Losung verfolgten sie das Konzept einer repressionsfreien Schule. Nina Poliwanowa ist eine von denen, die diesen Weg gingen. Im Sommer 1990 erläuterte sie mir ihr Konzept, die Kinder nicht durch Druck, sondern durch eigenes Tun die Lösung finden zu lassen:

B-Ton 18: Nina Poliwanowa                     (042)          (… „It is important“ … bis „it is really“)

Regie: Zügig kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzerin wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Das ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist das der Weg, um die Bereitschaft zur Verantwortung zu stärken. Zweitens wissen wir, dass wir in unserem Land überhaupt keine gut ausgebildeten Lehrer haben. Die einzige Hoffnung kann daher nur auf den Schülern liegen, nicht auf den Lehrern. Die Hoffnung, das Bewusstsein der Erwachsenen ändern zu können, ist unrealistisch. Bei Kindern ist es möglich.“ (…“really“)

Erzähler:  Frau Poliwanowa hatte große Hoffnung.

B-Ton 19: Nina Poliwanowa, Forts.                       (033) (… „I think you can…               …bis „you understand?“

Regie: Zügig hochziehen, kurz stehen lassen, (spätestens bei „Communikation“) abblenden, unterlegen, nach Übersetzung wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich denke, wir können die guten Ergebnis sehen. Erstens: Diese Kinder sind frei in der Kommunikation mit den Lehrer und den Klassenkameraden. Und vor allem: Sie wollen unbedingt arbeiten! Sie wollen Fragen stellen! Und sie sind sehr gut bei Kompositionen. In unserem traditionellen System haben wir ja keine Komposition. Da gibt es nur Kopien, Sie verstehen?“ (…“you understand?“)

Erzähler: Hauptproblem war für Frau Poliwanowa damals, ob dies ein Modell für das ganze Land werden könne. Immerhin wurden bei ihrem Experiment dreißig Experten für hundert Schüler und Schülerinnen eingesetzt. Ein Schulplatz kostete, in damaliger Währung gerechnet, 250 Rubel – die Computerausrüstung nicht mit berücksichtigt. Für einen üblichen Schulplatz wurden nur anderthalb aufgebracht.
B-Ton 20: Nina Poliwanowa, Forts.                       (1,25) (… „So the problem itself“              … bis „it is real bad“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen.

Übersetzerin: „So wird das Problem sein, dass erst einmal eine Menge Neureicher diese Schule nutzen wollen. Und sicher muss die Schule sich an ihren Wünschen ausrichten. Das wird für alle privaten Schulen gelten. Für den Anfang ist das unvermeidlich. Das ist selbstverständlich erst mal nicht so gut. Aber später wird die natürliche Konkurrenz dafür sorgen, dass sich das ändert. Ich kenne viele Eltern, die so eine Schule wie meine wollen. Sie bilden die wirkliche Struktur unserer Gesellschaft. Die Schule wird notwendig mehr oder weniger dieser Struktur entsprechen. Es ist also nicht so schlimm. Wirklich schlimm ist, gar nichts zu versuchen.“ (…“it ist realy bad“)

A-Ton 13: Kinderhaus Materwelinskaja         (0,54)          (… Stöckelschuhe, Schritte, Stimmen…)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, zügig mit Erzähler darüber gehen, unterlegt halten. (Falls Ton nicht ausreicht, dann in der Mitte ein Stück ganz ausblenden oder das Stöckeln einfach verlängern)

Erzähler: Vier Jahre danach: Besuch im Kinderhaus „Materwelinskaja“, einem vor- und außerschulisches Kulturhaus für 1500 Kinder in einem Vorort von Perm. Auf dem Weg ins Büro des Direktors. Inzwischen hat sich die soziale Differenzierung als das Hauptproblem herausgestellt. Viele Schulen haben geschlossen. Lehrer und Lehrerinnen, als sog. „budgednikis“, gehören zu den am schlechtesten bezahlten Menschen des Landes. Viele haben monatelang überhaupt keinen Lohn mehr gesehen. Sie müssen sich ihren Lebensunterhalt mit Nebenarbeiten verdienen. Da bleibt für die Kinder nicht mehr viel Zeit. Neue Schulen, die heute nicht nur in Moskau, sondern auch an anderen Orten entstanden sind, kosten das drei- oder vierfache dessen, was die Gewerkschaft als Existenzminimum ausrechnet. Aber auch diese Schulen werden von Lehrerinnen oder Lehrern betrieben, die im alten System gelernt haben. Die Mafia beginnt sich darauf zu spezialisieren, Kinder abzufangen, die auf solche Schulen gehen, um Lösegeld zu erpressen. Unter all diesen Umständen werden Einrichtungen wie „Materwelinskaja“ zu Inseln im tobenden Meer. Aber in der Antwort des Direktors auf die Frage, was sich in den letzten fünf Jahren verändert habe, wird deutlich, dass es auch dort heute in erster Linie um die Finanzen geht:
(… Stimmen)

B-Ton 21: Direktor des Kinderhauses           (101)                                  (… Perwie  bis … twortschikom)

Regie: O-Ton verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, am Ende hochziehen.

Übersetzer:    „Vor allem änderte sich die Frage der Finanzierung. Früher war dies ein gewerkschaftseigenes Haus. Den Unterhalt trug das Lenin-Werk. Alles Übrige, Kultur, Arbeitskreise, Künstler, alle möglichen Zuarbeiter, Regisseure, Verwaltung – das zahlte alles die Gewerkschaft. Jetzt müssen wir alles selbst aufbringen. Auch von der Stadt kommt nichts. Es gibt nur Absprachen von Mal zu Mal. Wenn der Bezirk ein Fest machen will, machen wir einen Vertrag – mit dem Bezirk, mit der Stadt, mit der Region, mit der Fabrik, mit dem Gewerkschaftskomitee. Wenn sie dann zahlen, führen wir das durch. Das geschieht alles auf rein kommerzieller Grundlage. Das heißt, heute bin ich einerseits in schöpferischer Hinsicht vollkommen frei. Als Künstler, als Betreiber eines solchen Hauses, als schöpferischer Arbeiter habe ich heute vollkommene Freiheit für die Entwicklung meiner Fähigkeiten. Niemand schränkt mich ein. Aber auf der anderen Seite hatte ich ein festes Einkommen. Der Staat garantierte es mir – jetzt nicht. Jetzt muss ich es für mich und für meine Mitarbeiter ranschaffen. Und sollen die Kinder auch noch kostenlos verpflegen. Das löscht mich als schöpferischen Arbeiter aus.“

Erzähler: Aber natürlich werde er nicht aufgeben. Schließlich sei er selbst in dem Haus aufgewachsen und inzwischen seit siebenundzwanzig Jahren dort tätig. Man werde schon Wege finden. Nach dieser Selbstermutigung spricht Wassili Alexandrow über die moralische Wende der letzten Jahre. Nicht nur die Gesellschaft allgemein, auch die Kinder haben sich verändert, meint er:

B-Ton 22: Direktor, Forts.                              (114) (… „Djeti stali…“              … bis „o tschom pogowori“

Regie: Ton zügig kommen lassen, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Die Kinder wurden, nun sagen wir, sie haben heute eine große Auswahl. Alle Kulturhäuser und Schulen, Klubs und Aufenthaltsore bieten eine breite Palette von Freizeitbeschäftigung für sie. Früher hat es das nicht gegeben. Jetzt hat das Kind die Möglichkeit auszuprobieren, selbst zu bewerten. Wenn es ihm gefällt, bleibt es, wenn nicht, dann nicht. Früher haben wir ja auch Angebote gemacht. Aber das blieb doch alles im engen Rahmen. Jedes Haus musste praktisch einen Satz vergleichbarer Komplexe anbieten. Jetzt ist das anders. Jetzt hat jedes Haus sein eigenes Gesicht, wofür es steht, worin es sich von anderen unterscheidet. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Kinder rationaler werden. Ja, rationaler! Sie wählen das, was ihnen nützt! Und da nun tagtäglich die Rede davon ist, dass jeder lernen sollte, Geld zu verdienen, ist es natürlich das, was die Kinder am meisten beschäftigt. Früher war das nicht so. Das ist zugleich gut und schlecht. Da gibt es einiges, worüber man reden muss.“ (..“o tschom pogowori“)

Erzähler: Auf der einen Seite, fasst der Direktor zusammen,  ergebe sich durch die neue Vielfalt eine große Möglichkeit für die Kinder, spielerisch zu lernen, ohne Zwang ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Er selbst befürworte das sehr. Zum Beweis führte er gleich seine Anzüge vor, die er trägt, wenn er, wie er es oft und wie man ihm ansieht, gern tut, den „Skomoroch“, den russischen Hans-Wurst spielt. Er sehe aber auch die Gefahr, dass die sozialen Fähigkeiten, die Fähigkeit zur Gemeinschaft, zu „obschtschina“, verschüttet würden, die die russischen Menschen immer besonders ausgezeichnet hätten, dass jeder nur noch an sich selbst denke.

B-Ton 22: Direktor, Forts.                 (Band 94/40/a)          (… 607: „W etom odnoschennije…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: „In dieser Beziehung gibt es einiges zu überdenken. Wir sagen doch immer: sei offen, sei hilfsbereit! Die Religion propagiert die Liebe, die Unterstützung für den Nächsten: Nimm auf Deine Schultern die Last des anderen Menschen, hilft ihm, lindere sein Leiden! Wie haben wir immer gesprochen? Wichtig ist, dass ich den Mensch nicht nur danach beurteile, was er mir gegeben hat, sondern dass Du mich verstehst. Wichtig ist das Mitleiden mit den anderen. Es ist manchmal alles so schwer, aber dann redest du mit anderen; du siehst einfach, dass die, mit denen du redest, dich verstehen – dann ist alles einfacher, leichter.“ …(prosche, lechsche“

A-Ton 14: Lehrerinnen im Kinderhaus                     (0.25)          (…Halle,Gemurmel, Stimmen…)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Erzähler: In den Gängen des Hauses treffe ich auf eine Gruppe von Lehrerinnen. Aus der Beratung mit ihnen hatte ich den Direktor vorher geholt. Rückhaltlos beklagen sie die desolate Lage an den Schulen, den allgemeinen Zynismus, ihre eigene Überforderung. In drei Schichten werde bei ihnen unterrichtet, erzählt eine junge Frau. Bei den anderen ist es nicht viel besser. Umso höher schlägt das Lob für den Direktor des Freizeithauses. Begreift man sich als Arbeitskollektiv, das gemeinsam plant?

B-Ton 23: Erste Lehrerin                   (018)          (… „Nicolai Wassiljewitsch?…      …tolko)

Regie:  Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Übersetzerin: „Wie sonst! Und nur mit ihm! Ohne ihn sind wir  wie ohne Arme und ohne Beine. Bei uns in der „Schule 48″ läuft nichts mehr außer Routine. Wir leben praktisch von diesem Haus hier. Alle anderen Möglichkeiten sind hin. Für unsere Schule sage ich: So, und nur so! Ohne dies hier sind wir hilflos.“ (… „bes nix mi ni kuda)

Erzähler: Die umstehenden Frauen stimmen zu. Eine von ihnen, die in einer erst vor zwei Jahren fertig gestellten Muster-Schule arbeitet, in der es sogar eine Sauna gibt, ergänzt:

A-Ton 15: Zweite Lehrerin                          (0,21)                           (…“U menja swjo est                   …bis Lachen, Stimmen)

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochkommen, mit Lachen abblenden

Übersetzerin:  „Wir haben alles, aber trotzdem ist es so, dass wir die Dinge, die hier gemacht werden, einfach nicht schaffen. Uns fehlt das Kulturprogramm. Das finden wir hier. Wassili Alexandrow ist eben ein befähigter Mann. Deshalb kommen wir alle gern hierher, um uns mit ihm zu beraten. “ (…Lachen)

B-Ton 24: Lieblingslied der Kinder von Tscharypowo (Band 94/32/B)      (…133: Lied „Prichadi kwam…“          bis Ende

Regie: O-Ton weiter hochziehen, aber noch unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen, dann ausblenden.

Erzähler: Der Sonntag von Tscharypowo und der Alltag von Perm liegen zwar mehr als zweitausend Kilometer voneinander entfernt. Und wenig scheinen die Welt der Bachai und die Besinnung auf die Tugenden der russischen „obschtschina“ miteinander zu tun zu haben. Aber es scheint, dass sie für viele doch näher beieinander liegen, als meine russischen Freunde in Tscharypowo dachten. Was beides verbindet, ist die Hoffnung auf Personen wie Wassili Alexandrow, der sich in einer aussichtslosen Situation mit ganzer Person engagiert und die Sehnsucht nach dem Erhalt der Gemeinschaft. Den Kindern ist zu wünschen, dass sie von beidem das Beste erhalten.

Skizze der russischen Obtschhina: „Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich?

„Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich?

Zu Gegenwart und Geschichte der russischen Gemeinschaftsstrukturen.

Erzähler: Seit 1991 wird in Russland privatisiert. Über die katastrophalen Folgen für die Wirtschaft kann man in letzter Zeit des Öfteren hören. Aber welche Auswirkungen hat die Privatisierung auf das soziale Leben der Menschen? take 1:Bäuerin in Sawjala (0,49) (…Schritte, Hund, Strastwuitje…)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, schwach unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: Salawaja. Ein Dorf im Altai, südliches Sibirien. Ein Jahr nach Beginn der Privatisierung. Hierhin verschlägt es nur selten Fremde. Wir wollen Milch kaufen. Milch gibt es nicht mehr. Stattdessen nimmt die alte Bäuerin die Gelegenheit wahr, ihr Herz auszuschütten: Ganz allein müsse sie heute zurechtkommen. Ihr Mann ist tot, die Kinder und Enkel leben in der Stadt, die Nachbarn haben mit sich selbst genug zu tun. Viele von ihnen sind ebenfalls alleingebliebene Alte. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:

take 2: Bäuerin Fortsetzung (1,17) (…widitje, u nas polutschajetsja tak…)

Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, ausblenden.

Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch für sich selbst lebt: Hast du Maschinen, hast du einen Traktor und alles, dann kannst du leben. Hast du nichts, kannst du sterben. In der Kolchose waren wir alle gleich. Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet. Jetzt hat einer die Kühe, die anderen müssen viel Geld für Milch ausgeben. Alles wird gekauft, verkauft; aber das Geld ist nichts wert. So ein System ist jetzt gekommen. Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“ Erzähler: Nicht nur die Alten auf den Dörfern reden so. Ähnliche Töne kann man in den Städten auch von jüngeren Menschen hören. Mit den „Pionieren“ und den „Komsomolzen“, den Organisationen der Parteijugend, ist eine Welt zusammengebrochen, höre ich von Wladimir, einem jungen Radiotechniker aus Tscheboksary an der Wolga. Der siebzehnjährige, arbeitslose Igor nickt dazu. Viele suchen Ersatz in Banden. Dort tragen sie statt der roten Halstücher nun ihre Lederjacken. Bei einem gemeinsamen Besuch in einem ehemaligen Pionierlager beschreibt Wladimir genauer, worin er den Verlust sieht:

O-Ton 2: Wladimir in Tscheboksary (1,40) (…Nu ja …)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird. `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen. Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen. Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Das war früher nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache. Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“

Erzähler: Was von der alten Dörflerin ebenso wie den jungen Städtern beschworen wird, ist mehr als sowjetische Nostalgie. Es sind die Traditionen der Bauerngemeinschaft, die die russische Geschichte wie die keines anderen Landes der industrialisierten Welt bis heute bestimmt haben. Erst spät rückte diese Besonderheit der russischen Entwicklung ins Bewusstsein der westlichen Gesellschaften: Erste Kunde brachte um 1850 Baron von Haxthausen, ein österreichischer Gesandter am russischen Hofe. Von ihm erfuhr die westliche Welt erstmals, dass in Russland anders als in den übrigen Ländern des christlichen Abendlandes das bäuerliche Gemeineigentum mit regelmäßiger Umverteilung neben der höfischen die bestimmende Eigentumsform im Lande geblieben war. Man nannte sie „obschtschina“, Gemeinschaft, oder „mir“ nach dem Dorfplatz, auf dem die öffentlichen Versammlungen abgehalten wurden. Der deutsche Graf Moltke schrieb wenige Jahre später in widerwilliger Faszination:

Zitator: „Innerhalb der Gemeinde gibt es nur Nutznießer. Es existiert demnach für Grund und Boden kein Erbrecht. Der Sohn erbt nicht den Acker seines Vaters. Er erhält seinen Anteil nicht kraft des Erbrechtes, sondern kraft seiner Geburt als Gemeindemitglied. Jeder Russe ist irgendwo ansässig und es gibt keinen Pöbel, kein Proletariat. Niemand ist ganz arm. Ein Vater kann alles durchbringen, die Kinder erben seine Armut nicht. Die Vermehrung der Familie, bei uns ein Gegenstand der Sorge, ist in Russland ein Zuwachs an Reichtum. Alles drängt zur frühzeitigen Heirat. Der Einzug selbst der mittellosesten Schwiegertochter ist ein Freudenfest der Familie. Sie bringt arbeitende Hände mit und für ihre Söhne werden schon bei der Geburt die Ackerparzellen dazugelegt. Andererseits leuchtet freilich ein, dass bei dieser Einrichtung der Ackerbau nie auf eine Stufe der Vervollkommnung gelangen kann. Wer wollte Meliorationen machen. Bäume pflanzen, Drainierungen anlegen auf einem Grundstück, welches nach fünfzehn Jahren vielleicht einem anderen gehört?“

Erzähler: Reformern aller Zeiten und aller Länder waren die Dorfgemeinde aus dem zuletzt von Moltke genannten Gründen immer ein Dorn im Auge. Aber während sie in Mittel- und Westeuropa schon frühzeitig zerschlage wurde, hat sie in Russland nicht nur alle derartigen Versuche überlebt, sondern selbst die Gesellschaft nach ihrem Bild geformt. Für den frühen russischen Zarismus war die „Obschtschina“ die einzige wirklich funktionierende und die bequemste Verwaltungseinheit in den ansonsten unüberschaubaren Weiten des Landes. Noch in der von Alexander I. angeordneten Bauernbefreiung des Jahres 1861 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen darauf verzichtet, die „Obschtschina“ aufzulösen. Folge: Die Bauern verwandelten sich nicht in freie Lohnarbeiter wie beabsichtigt. Die Industrialisierung stockte. Herzstück des nächsten großen Industrialisierungsschubs war der 1910 unter dem Zarenminister Stolypin herausgebende Ukas zur Ent-Kollektivierung der Bauern. Er wollte die Dorfgemeinschaften in wenige reiche Kulaken und eine Mehrheit landloser Tagelöhner, bzw. in die Städte ziehender Arbeiter spalten. Aufstände der Dorfarmen, sehr bald dann der Beginn des ersten Weltkrieges beendeten dieses Experiment. Mit der bolschewistischen Revolution wurde die Ordnung der Bauerngemeinde zunächst als „Kol-Chose“, das bedeutet Kollektivwirtschaft, dann als „Sow-chose“, das ist die staatlich gelenkte „Kol-chose“, zur Grundorganisation des Staates erhoben. Seine letzte, paradoxe Ausformung erhielt die Entwicklung in der großen Industrialisierungs-Kampagne, die Stalin 1929 einleitete. Sie zielte auf die Zerstörung der nach der Revolution wieder erstarkten dörflichen Selbstverwaltung. Stalin wollte die Bauern endgültig proletarisieren. Die mit der Kampagne einhergehende Zwangskollektivierung erneuerte aber zugleich die „obschtschina“. Der einzige Unterschied zu vorher bestand darin, dass sie nun unter staatliche Führung kam. Ergebnis dieser ganzen Entwicklung ist ein „Wir“-Gefühl in der russischen Bevölkerung, das der sibirische Dichter-Patriot Stanislav Kitaiski so zu erklären versucht:

O-Ton4: Stanislav Kitaiski (1,25) … Russki Tschelowek…

Regie: Ton kurz stehen lassen, dann abblenden

Übersetzer: „Der russische Mensch hat das Christentum als eine Religion der allgemeinen Gemeinschaftlichkeit so leicht angenommen, weil er von Natur aus ein Gemeinschafts-Mensch ist. Heute ist viel davon die Rede, dass die Persönlichkeit zuerst komme. Aber für den russischen Menschen hat das Interesse am Vaterland, am Volk immer höher gestanden als sein eigenes. Und warum konnte der russische Mensch derart auf diese idiotische Kollektivierung reinfallen? Weil dieser Kollektivismus irgendwie schon angelegt war! Mehr als 80% der russischen Bevölkerung lebten vor der Revolution auf dem Dorf. Das hieß: kollektive Nutzung des Bodens. Das hieß: kollektive Erziehung der Kinder. Ich bin selbst auf dem Dorf aufgewachsen. In meiner ganzen Kindheit gab es keine fremden Kinder. Das waren alles unsere eigenen. Das heißt, wenn sich da einer nicht richtig betragen hat, dann konnte ich ihn ruhig bestrafen; ich konnte ihm auch helfen, ich konnte ihn kleiden, ich konnte ihn in die Familie aufnehmen. Verstehen Sie? Da ist keine Fremdheit, sondern Gemeinsamkeit. Sogar die Kinder waren irgendwie gemeinsam. Auch wenn es die Kinder eines anderen waren und wir gar nicht verwandt waren. Das heißt, diese Gemeinschaftlichkeit machte die Menschen offen und ehrlich.“

Erzähler: Heute erlebt Russland einen erneuten Anlauf, die alten Strukturen zu zerschlagen. Diesmal unter dem Schlagwort der Überwindung des Sowjetismus. Stanislav Kitaiski sieht darin einen Versuch, der das Volk nur ratlos zurücklassen könne:

O-Ton5: Kitaiski, Forts. (0,35= (… Jest takaja Dilemma) Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann ausblenden.

Übersetzer: „Heute haben wir das Dilemma: Der Mensch ist Kollektivist – und will doch Herr im eigenen Haus sein. Bezüglich des Herrn im Hause wäre ich einverstanden. Aber interessant ist doch, dass jetzt, da unsere Regierung mit Gewalt diesen Kollektivismus zerstören will, das Volk Widerstand leistet. Es will nicht.“

Erzähler: Diese Worte fielen bereits im Sommer 1992. Inzwischen ist die Krise der kollektiven Landwirtschaft offenbar. Die Privatbauern vegetieren am Rande der Existenz. Im industriellen Bereich ist es nicht anders: Die Privatisierung hat zu einer Differenzierung der Bevölkerung in 10% „neue Reiche“ und eine Mehrheit geführt, die zunehmend verelenden. Für Aufgaben wie Straßenbau, Strom- und Wasserversorgung, Bau und Unterhalt von Schulen, Kindergärten, für Einrichtungen der Bildung und der Kultur bis hin zur Zahlung von Zusatzpensionen fehlt das Geld. Früher wurde das alles von der Gemeinschaft der Sowchosen, Kolchosen oder Betriebe für eine Gruppe von Dörfern oder eine ganze Stadt getragen. Jetzt kümmert sich niemand darum. Unter diesen Umständen ist das diffuse Unwohlsein zu einem breiten oppositionellen Strom geworden. Inzwischen werben Gruppen wie eine „Partei der russischen Ethik“ für die Rückkehr zur „nationalen Moral“. Gemeint ist das „Prinzip Obschtschina“. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, die das Land vor dem Ausverkauf an den Westen retten könnten. Aufrufe zu einem „Aufbau einer Bewegung der Obschtschina in Europa, eine westeuropäische Reformation“, füllen die Seiten der patriotischen Presse. Der Chef der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“, Schuganow erklärte jüngst die „Psychologie der Obschtschina“, die er „kollektivistisch, ökumenisch, korporativ und ewig erprobt“ nennt, zur Grundlage oppositioneller Reformpolitik, wenn es nicht zur Katastrophe kommen solle. Nicht alle wollen freilich zurück in die traditionellen Formen des Kollektivismus. Vor allem unter jüngeren Intellektuellen bilden sich sogenannte „Tuzowkas“, lockere Interessengruppen, in denen von einer anderen Bewältigung der Tradition geträumt wird. Am Ufer das Baikal in Irkutsk erläutern Oleg und Sergei, Studenten aus Irkutsk, ihre Vorstellung von den neuen Gemeinschaftsstrukturen.

O-Ton6: Tuzowkis am Baikal-See (1,25) (…Nu, ja wo perwije skaschu…)

Regie: O.Ton kurz stehen lassen, langsam abblenden (ggflls. bei Wellenschlag am Schluss hochziehen und ausblenden.)

Übersetzer: „Nun, das allererste ist, das sie verschieden voneinander sind. Und dass die Initiative von unten kommen muss. Da ist ja immer noch der alte Parteiapparat. Etwas Neues ist allerdings schon möglich: Klubs müssen sich bilden, Jugendgruppen, öffentliche Vereinigungen: kulturelle, interessengeleitete, solche für die Vermittlung von Wissen, auch zu wirtschaftlichen Zwecken, eben ganz und gar verschiedene. Diese Vereinigungen müssen sich beständig miteinander integrieren, so etwas wie eine Bewegung bilden, die auf einem höheren Niveau die Arbeit koordiniert. Kulturrevolutionär könnte man das nennen, vergleichbar der Entwicklung im Westen seit Mitte der Sechziger Jahre. Aber das ist ja auch schon fast wieder ein Schema: Das Leben selbst wird es hervorbringen. Alles wird spontan kommen, denke ich. Auf Politiker darf man nicht bauen. Direktiven darf es nicht geben. Soll sich doch alles entwickeln! Wie es kommt, so wird es kommen!“

Erzähler: Aber auch für Sergei und seine Freunde ist klar: Allein ist das Leben nicht zu meistern – und auch nicht lebenswert. Freundschaft, nicht Geld müsse die Beziehung zwischen den Menschen bestimmen. Welche neuen Formen des Zusammenlebens dieses Ringen hervorbringen wird, ist offen.

* Von Kai Ehlers ist soeben erschienen: „Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten. Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92 Kai Ehlers, D – 20099 Hamburg, Koppel 22 Datum: 18.2.95 Tel: 040/246953 FAX: 040/24 34 23 Kto: 1230/455980 BLZ: 20050550 Abdruck gegen Honorar (Bitte berücksichtigen Sie: Ich bin mehrwertsteuerpflichtig) Mein Zeichen: arbeit/9509müll

„Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich? Kurze Skizze der russischen Obschtschina

Zu Gegenwart und Geschichte der russischen Gemeinschaftsstrukturen.
Erzähler: Seit 1991 wird in Russland privatisiert. Über die                 katastrophalen Folgen für die Wirtschaft kann man in letzter Zeit des Öfteren hören. Aber welche Auswirkungen hat die Privatisierung auf das soziale Leben der Menschen?

take 1:Bäuerin in Sawjala                          (0,49)
(…Schritte, Hund, Strastwuitje…)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, schwach unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: Salawaja. Ein Dorf im Altai, südliches Sibirien.                 Ein Jahr nach Beginn der Privatisierung. Hierhin verschlägt es nur selten Fremde. Wir wollen Milch kaufen. Milch gibt es nicht mehr. Stattdessen nimmt die alte Bäuerin die Gelegenheit wahr, ihr Herz auszuschütten: Ganz allein müsse sie heute zurechtkommen. Ihr Mann ist tot, die Kinder und Enkel leben in der Stadt, die Nachbarn haben mit sich selbst genug zu tun. Viele von ihnen sind ebenfalls alleingebliebene Alte. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:

take2: Bäuerin Fortsetzung                            (1,17)     (…widitje, u nas polutschajetsja tak…)

Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, ausblenden.

Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch                 für sich selbst lebt: Hast du Maschinen, hast du einen Traktor und alles, dann kannst du leben. Hast du nichts, kannst du sterben. In der Kolchose waren wir alle gleich. Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet. Jetzt hat einer die Kühe, die anderen müssen viel Geld für Milch ausgeben. Alles wird gekauft, verkauft; aber das Geld ist nichts wert. So ein System ist jetzt gekommen. Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“

Erzähler:  Nicht nur die Alten auf den Dörfern reden so.                 Ähnliche Töne kann man in den Städten auch von jüngeren Menschen hören. Mit den „Pionieren“ und den „Komsomolzen“, den Organisationen der Parteijugend, ist eine Welt zusammengebrochen, höre ich von Wladimir, einem jungen Radiotechniker aus Tscheboksary an der Wolga. Der siebzehnjährige, arbeitslose Igor nickt dazu. Viele suchen Ersatz in Banden. Dort tragen sie statt der roten Halstücher nun ihre Lederjacken.
Bei einem gemeinsamen Besuch in einem ehemaligen Pionierlager beschreibt Wladimir genauer, worin er den Verlust sieht:

O-Ton 2: Wladimir in Tscheboksary                  (1,40)    (…Nu ja …)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit                 dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird.  `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen.
Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen.
Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Das war früher nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache.
Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“

Erzähler:  Was von der alten Dörflerin ebenso wie den jungen                 Städtern beschworen wird, ist mehr als sowjetische Nostalgie. Es sind die Traditionen der Bauerngemeinschaft, die die russische Geschichte wie die keines anderen Landes der industrialisierten Welt bis heute bestimmt haben. Erst spät rückte diese Besonderheit der russischen Entwicklung ins Bewusstsein der westlichen Gesellschaften: Erste Kunde brachte um 1850 Baron von Haxthausen, ein österreichischer Gesandter am russischen Hofe. Von ihm erfuhr die westliche Welt erstmals, dass in Russland anders als in den übrigen Ländern des christlichen Abendlandes das bäuerliche Gemeineigentum mit regelmäßiger Umverteilung neben der höfischen die bestimmende Eigentumsform im Lande geblieben war. Man nannte sie „obschtschina“, Gemeinschaft, oder „mir“ nach dem Dorfplatz, auf dem die öffentlichen Versammlungen abgehalten wurden.
Der deutsche Graf Moltke schrieb wenige Jahre später in widerwilliger Faszination:

Zitator: „Innerhalb der Gemeinde gibt es nur Nutznießer.                 Es existiert demnach für Grund und Boden kein Erbrecht. Der Sohn erbt nicht den Acker seines Vaters. Er erhält seinen Anteil nicht kraft des Erbrechtes, sondern kraft seiner Geburt als Gemeindemitglied. Jeder Russe ist irgendwo  ansässig und es gibt keinen Pöbel, kein Proletariat. Niemand ist ganz arm. Ein Vater kann alles durchbringen, die Kinder erben seine Armut nicht. Die Vermehrung der Familie, bei uns ein Gegenstand der Sorge, ist in Russland ein Zuwachs an Reichtum. Alles drängt zur frühzeitigen Heirat. Der Einzug selbst der mittellosesten Schwiegertochter ist ein Freudenfest der Familie. Sie bringt arbeitende Hände mit und für ihre Söhne werden schon bei der Geburt die Ackerparzellen dazugelegt.
Andererseits leuchtet freilich ein, dass bei dieser Einrichtung der Ackerbau nie auf eine Stufe der Vervollkommnung gelangen kann. Wer wollte Meliorationen machen. Bäume pflanzen, Drainierungen anlegen auf einem Grundstück, welches nach fünfzehn Jahren vielleicht einem anderen gehört?“

Erzähler: Reformern aller Zeiten und aller Länder waren die Dorfgemeinde aus dem zuletzt von Moltke genannten Gründen immer ein Dorn im Auge. Aber während sie in Mittel- und Westeuropa schon frühzeitig zerschlage wurde, hat sie in Russland nicht nur alle derartigen Versuche überlebt, sondern selbst die Gesellschaft nach ihrem Bild geformt.
Für den frühen russischen Zarismus war die „Obschtschina“ die einzige wirklich funktionierende und die bequemste Verwaltungseinheit in den ansonsten unüberschaubaren Weiten des Landes.
Noch in der von Alexander I. angeordneten Bauernbefreiung des Jahres 1861 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen darauf verzichtet, die „Obschtschina“ aufzulösen. Folge: Die Bauern verwandelten sich nicht in freie Lohnarbeiter wie beabsichtigt. Die Industrialisierung stockte.
Herzstück des nächsten großen Industrialisierungsschubs war der 1910 unter dem Zarenminister Stolypin herausgebende Ukas zur Ent-Kollektivierung der Bauern. Er wollte die Dorfgemeinschaften in wenige reiche Kulaken und eine Mehrheit landloser Tagelöhner, bzw. in die Städte ziehender Arbeiter spalten. Aufstände der Dorfarmen, sehr bald dann der Beginn des ersten Weltkrieges beendeten dieses Experiment.
Mit der bolschewistischen Revolution wurde die Ordnung der Bauerngemeinde zunächst als „Kol-Chose“, das bedeutet Kollektivwirtschaft, dann als „Sow-chose“, das ist die staatlich gelenkte „Kol-chose“, zur Grundorganisation des Staates erhoben.
Seine letzte, paradoxe Ausformung erhielt die Entwicklung in der großen Industrialisierungs-Kampagne, die Stalin 1929 einleitete. Sie zielte auf die Zerstörung der nach der Revolution wieder erstarkten dörflichen Selbstverwaltung. Stalin wollte die Bauern endgültig proletarisieren. Die mit der Kampagne einhergehende Zwangskollektivierung erneuerte aber zugleich die „obschtschina“. Der einzige Unterschied zu vorher bestand darin, dass sie nun unter staatliche Führung kam.

Ergebnis dieser ganzen Entwicklung ist ein „Wir“-Gefühl in der russischen Bevölkerung, das der sibirische Dichter-Patriot Stanislav Kitaiski so zu erklären versucht:

O-Ton4: Stanislav Kitaiski                            (1,25)     … Russki Tschelowek…

Regie: Ton kurz stehen lassen, dann abblenden

Übersetzer: „Der russische Mensch hat das Christentum als eine Religion der allgemeinen Gemeinschaftlichkeit so leicht angenommen, weil er von Natur aus ein Gemeinschafts-Mensch ist.
Heute ist viel davon die Rede, dass die Persönlichkeit zuerst komme. Aber für den russischen Menschen hat das Interesse am Vaterland, am Volk immer höher gestanden als sein eigenes.
Und warum konnte der russische Mensch derart auf diese idiotische Kollektivierung reinfallen? Weil dieser Kollektivismus irgendwie schon angelegt war! Mehr als 80% der russischen Bevölkerung lebten vor der Revolution auf dem Dorf. Das hieß: kollektive Nutzung des Bodens. Das hieß: kollektive Erziehung der Kinder. Ich bin selbst auf dem Dorf aufgewachsen. In meiner ganzen Kindheit gab es keine fremden Kinder. Das waren alles unsere eigenen.
Das heißt, wenn sich da einer nicht richtig betragen hat, dann konnte ich ihn ruhig bestrafen; ich konnte ihm auch helfen, ich konnte ihn kleiden, ich konnte ihn in die Familie aufnehmen. Verstehen Sie? Da ist keine Fremdheit, sondern Gemeinsamkeit. Sogar die Kinder waren irgendwie gemeinsam. Auch wenn es die Kinder eines anderen waren und wir gar nicht verwandt waren. Das heißt, diese Gemeinschaftlichkeit machte die Menschen offen und ehrlich.“
Erzähler: Heute erlebt Russland einen erneuten Anlauf, die                 alten Strukturen zu zerschlagen. Diesmal unter dem Schlagwort der Überwindung des Sowjetismus. Stanislav Kitaiski sieht darin einen Versuch, der das Volk nur ratlos zurücklassen könne:

O-Ton5: Kitaiski, Forts.                             (0,35=     (… Jest takaja Dilemma)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann ausblenden.

Übersetzer: „Heute haben wir das Dilemma: Der Mensch ist                 Kollektivist – und will doch Herr im eigenen Haus sein. Bezüglich des Herrn im Hause wäre ich einverstanden. Aber interessant ist doch, dass jetzt, da unsere Regierung mit Gewalt diesen Kollektivismus zerstören will, das Volk Widerstand leistet. Es will nicht.“

Erzähler:  Diese Worte fielen bereits im Sommer 1992.                 Inzwischen ist die Krise der kollektiven Landwirtschaft offenbar. Die Privatbauern vegetieren am Rande der Existenz. Im industriellen Bereich ist es nicht anders: Die Privatisierung hat zu einer Differenzierung der Bevölkerung in 10% „neue Reiche“ und eine Mehrheit geführt, die zunehmend verelenden.
Für Aufgaben wie Straßenbau, Strom- und Wasserversorgung, Bau und Unterhalt von Schulen, Kindergärten, für Einrichtungen der Bildung und der Kultur bis hin zur Zahlung von Zusatzpensionen fehlt das Geld. Früher wurde das alles von der Gemeinschaft der Sowchosen, Kolchosen oder Betriebe für eine Gruppe von Dörfern oder eine ganze Stadt getragen. Jetzt kümmert sich niemand darum.
Unter diesen Umständen ist das diffuse Unwohlsein zu einem breiten oppositionellen Strom geworden. Inzwischen werben Gruppen wie eine „Partei der russischen Ethik“ für die Rückkehr zur „nationalen Moral“. Gemeint ist das „Prinzip Obschtschina“. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, die das Land vor dem Ausverkauf an den Westen retten könnten.
Aufrufe zu einem „Aufbau einer Bewegung der Obschtschina in Europa, eine westeuropäische Reformation“, füllen die Seiten der patriotischen Presse. Der Chef der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“, Schuganow erklärte jüngst die „Psychologie der Obschtschina“, die er „kollektivistisch, ökumenisch, korporativ und ewig erprobt“ nennt, zur Grundlage oppositioneller Reformpolitik, wenn es nicht zur Katastrophe kommen solle.

Nicht alle wollen freilich zurück in die traditionellen Formen des Kollektivismus. Vor allem unter jüngeren Intellektuellen bilden sich sogenannte „Tuzowkas“, lockere Interessengruppen, in denen von einer anderen Bewältigung der Tradition geträumt wird. Am Ufer das Baikal in Irkutsk erläutern Oleg und Sergei, Studenten aus Irkutsk, ihre Vorstellung von den neuen Gemeinschaftsstrukturen.

O-Ton6: Tuzowkis am Baikal-See                        (1,25)                      (…Nu, ja wo perwije skaschu…)

Regie: O.Ton kurz stehen lassen, langsam abblenden (ggflls. bei Wellenschlag am Schluss hochziehen und ausblenden.)

Übersetzer: „Nun, das allererste ist, das sie verschieden voneinander sind. Und dass die Initiative von unten kommen muss. Da ist ja immer noch der alte Parteiapparat. Etwas Neues ist allerdings schon möglich: Klubs müssen sich bilden, Jugendgruppen, öffentliche Vereinigungen: kulturelle, interessengeleitete, solche für die Vermittlung von Wissen, auch zu wirtschaftlichen Zwecken, eben ganz und gar verschiedene. Diese Vereinigungen müssen sich beständig miteinander integrieren, so etwas wie eine Bewegung bilden, die auf einem höheren Niveau die Arbeit koordiniert. Kulturrevolutionär könnte man das nennen, vergleichbar der Entwicklung im Westen seit Mitte der Sechziger Jahre. Aber das ist ja auch schon fast wieder ein Schema: Das Leben selbst wird es hervorbringen. Alles wird spontan kommen, denke ich. Auf Politiker darf man nicht bauen. Direktiven darf es nicht geben. Soll sich doch alles entwickeln! Wie es kommt, so wird es kommen!“

Erzähler: Aber auch für Sergei und seine Freunde ist klar: Allein ist das Leben nicht zu meistern – und auch nicht lebenswert. Freundschaft, nicht Geld müsse die Beziehung zwischen den Menschen bestimmen. Welche neuen Formen des Zusammenlebens dieses Ringen hervorbringen wird, ist offen.

*

Von Kai Ehlers ist soeben erschienen:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.
Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92

Russlands künstliche Blüte

Atmo 1: Musik:“stranger in the night..“ (1,45)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler: St. Petersburg, Herbst 94. Kultur für ausländische Gäste. Russland präsentiert sich neu: Restaurants, Cafes, gefüllte Schaufenster, kleine Boutiquen, auffallend viele elegant gekleidete Menschen, vor allem jüngere; blinkende neue Autos. Ein Bekannter erzählt mir, in der Anlage-Gesellschaft mit dem unübersetzbaren Namen „MMM“ könne man innerhalb weniger Wochen seinen Einsatz verhundertfachen, ja, er wisse sogar von Fällen, in denen das innerhalb von Tagen geschehen sei. Ein plötzlicher Aufschwung, scheint es, hat das Land erfasst. Hat sich die Entwicklung normalisiert? Die Ansichten sind geteilt:

Zitat 1: Georgi, Bildhauer (1,17)                 (Ja ne mogu skasats…  … Mjebel is Itali“)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Ich würde nicht sagen, normalisiert, aber Mitte                 Februar tauchten plötzlich eine Menge Geschäfte auf, Cafes, Restaurants. In den Geschäften gab es nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kleidung, technische Geräte. Und das in reicher Auswahl. Seit März siehst du besser gekleidete Leute. Außerdem haben sich die Läden inzwischen differenziert. Es gibt kleine Läden, wo du alles Mögliche kriegst und Spezialgeschäfte für Make up aus Frankreich, Kleidung aus Deutschland, Möbel aus Italien.“ (… Mjebel is Itali“)
Erzähler: Georgien, mein Gastgeber, Bildhauer, an einfaches und schwieriges Leben gewöhnt, ist ganz angetan von dieser Entwicklung:

Zitat 2: Goeorgi, Forts. (0,45) (Natschinajetsja kakaja…     (… situati kladewitsja)

Regie: O-Ton kurz anfahren, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, ausblenden

Übersetzer: „Es beginnt eine Art Gewöhnung an die neuen Bedingungen, unter denen der Erfolg, der finanzielle, wirtschaftliche, nicht mehr von Oben abhängt, sondern von deiner eigenen Initiative: also, wo du einen Auftrag findest, ob über Bekannte oder durch Zufall, aber du musst ihn selbst finden! Wenn du eine geschickte Hand, wenn du einen Kopf hast, vielleicht eine Fremdsprache gut beherrschst oder ähnliches, dann kannst du zusätzliche Arbeit finden. Das verschafft dir auch zusätzliches Einkommen. Es ist sehr hoch im Verhältnis zum normalen Lohn. In dieser Art kommt die gegenwärtige Situation zustande.“ (… situati kladewitsja)

Erzähler: Allerdings gibt es auch Schattenseite aus Georgiens Sicht:

Zitat 3: Georgi, Forts. (0,13)     (Tschas u nas god…     ( … dwatzat pjat ras minimum)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Jetzt ist ein Jahr bei uns wie früher zwanzig oder fünfundzwanzig zur Zeit Breschnjews. Das heißt, das Tempo des Lebens hat sich mindestens um das Fünfundgzwangzigfache gesteigert.“
( … dwatzat pjat ras minimum)

Erzähler: Irina, Bibliothekarin, unverheiratet versucht die                 Entwicklung auch positiv zu sehen. Zwar reiche ihr Lohn immer noch nicht für größere Anschaffungen wie Fernseher und dergleichen, aber zusammen mit der Pension ihres Vaters doch für das, was sie beide zum täglichen Leben brauchten.
Zitat 4: Irina, Bibliothekarin (0,28)     (Mnje kaschetsja, schto eta s odnoi…      … othschen i otschen mnogim)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Mir scheint, einerseits ist es offensichtlich, dass das Leben besser wird. In den Geschäften tauchen Waren auf, von denen wir früher nicht einmal geträumt haben. Aber erstens sind das alles ausländische Waren. Das ist nicht unsere heimische Produktion. Und vor allem sind da natürlich die ungeheuren Preise, die den Beutel der Meisten übersteigen.“ (…othschen i otschen mnogim)

Erzähler  Alles hänge inzwischen von einem selbst ab. Das sei wahr. Vorausgesetzt, man sei gesund und jung, gebe das eine Freiheit, die man früher nicht gekannt habe:

Zitat 5: Irina, Forts. (0,59)     (A wi schto kassajetsja…          … kak ludi kassilis)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem ersten Erzähler (1) hochziehen
Übersetzerin:  „Aber ältere Menschen und Kinder – die tun mir natürlich unheimlich leid. Die Alten haben sowieso so ein schweres Leben. Sie haben den Krieg erlebt, haben ihre Gesundheit verloren und haben schon in der sowjetischen Zeit äußerst armselig gelebt. Die haben nie eine Banane gesehen oder gegessen. Schlimm, dass ausgerechnet sie heute übrigbleiben, niemandem nutze und schlimm, dass sie nur existieren können, wenn sie leibliche Kinder haben, die auch noch soweit moralisch in Ordnung sind, dass sie sich um sie kümmern und sie nicht einfach sitzenlassen, wie es jetzt häufig geschieht. Es gibt so schrecklich viele Einsame! Unglückliche. Das macht die allgemeine moralische Degradation. Sie ist ohne Beispiel! Und was die minderjährigen Kinder betrifft, so ist die Lage einfach so, dass wir inzwischen ein sterbendes Volk sind, denn heute ein Kind zu ernähren und aufzuziehen, ist unheimlich schwer.“

Erzähler:(1)Zum Beleg zitiert Irina eine von Alexander Solschenyzin tags zuvor im Fernsehen angeführte Statistik, worauf in Russland zurzeit auf tausend Lebende nur acht Geburten kämen. Beim Tod ihrer Mutter im Jahr zuvor habe sie selbst die unverstellbare Überlastung der Friedhöfe erlebt. Im örtlichen Radio habe sie im April des Jahres zudem eine Sendung gehört, dass im Jahre 93 mehr Menschen in St. Petersburg gestorben seien als zur Zeit der Blockade. „Einfach katastrophal“, wie die Menschen heute dahingerafft würden.
(… kak ludi kassilis)

Erzähler: Einen Schock versetzt mir ein Besuch im Büro von  „Solidarnost“. Das ist die Zeitung der „Föderation der unabhängigen neuen Gewerkschaften“. Eine junge Frau, Helena Rudnikowa, St. Petersburger Korrespondentin des Blattes, beantwortet meine Frage nach den Ergebnissen der bisherigen Reformen und insbesondere der Privatisierung unvermutet aggressiv:

Zitat 6: Helena, Korrespondentin (0,07)                 (Nu, wo pervich u nas…)     … mnogo tschewo budit)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Nun, erstens heißt es bei uns schon mal so: `Auf jede Privatisierung kommt eine Nationalisierung!'“ Also, da kommt noch einiges auf uns zu. (… mnogo tschewo budit)

Erzähler: Und zum zweiten. Was ich denn erwarte? Dieb bleibe Dieb! Niemals könne so einer die Produktion entwickeln, der könne nur stehlen. Sergei Kurgenjan, „unser Analytiker“, wie sie sich ausdrückt, habe die Zeit seit 1991 richtig als „Ball der Diebe“, als „kriminellen Karneval“ bezeichnet. Kurgenjan ist in Russland als rechter Theoretiker berüchtigt, der für eine korporativ-faschistische Lösung nach Vorbild Mussolinis eintritt. Als ich nachfrage, was sie von dessen Thesen halte, erklärt sie statt einer Antwort darauf, sie sei Mitglied des Widerstands. Resistence, übersetzt sie, damit ich auch ja recht verstehe. Bisher seien sie allerdings ohne Waffen.
Zitat 7: Helena, Korrespondentin (0,25)                 (Eta lud, katorie…     … nje bolsche, nje mensche)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen, wegblenden (reißt ab)

Übersetzerin:  „Das sind Leute, die glauben, dass sich an der Regierung gegenwärtig Okkupanten befinden, die gegen Russland agieren. Es gibt zwei Welten, zwei Zivilisationen: der Westen und Russland. Den Osten lassen wir mal beiseite. Die haben ihre eigene Sache laufen. Sagen wir so: Die westliche Welt, allgemein gesprochen, versucht uns zu okkupieren, nicht mehr und nicht weniger.“ (… nje bolsche, nje mensche)
Erzähler: Juri Swasin, ebenfalls Korrespondent bei „Solidarnost“, von Beruf ursprünglich Lehrer, hilft uns aus der Verlegenheit, indem er erklärt, Gewerkschaften in Russland seien heute pluralistisch. Im Übrigen gebe es heute in der Tat nur zwei Lager: für oder gegen die Regierung, was soviel bedeute wie für oder gegen den weiteren Ausverkauf des Landes. Nichts anderes sei ja durch die Gaidarschen Reformen geschehen und setze sich auch jetzt fort, nur unter langsameren Vorzeichen.

Zitat 8: Juri Swagin, Korrespondent (0,48)
(Wosnamnom ludi… …  rasruschetsja)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:     „Im wesentlichen ist es so, dass Leute, die Geld haben, Aktiengesellschaften oder andere Anlagefirmen gründen, um von denen, die wenig Geld haben, die Aktien aufzukaufen und so mehr Geld zu machen. Kaum eine der großen Kampagnen setzt ihr Geld in der Industrie ein. In der Folge fällt die Produktion in sich zusammen.“
(…  rasruschetsja)

Erzähler: Praktisch sei die Produktion in den letzten zwei Jahren liquidiert worden. Die Zahl der Betriebe, die nur mit Pausen arbeiteten, die halbe Schichten führen oder zwar den Betrieb aufrechterhielten, aber nichts produzierten, nehme mit jedem Tag zu. Die wenigen neuen Betriebe würden von der Steuerlast, von nicht vorhandenen Marktverbindungen und von der Mafia niedergedrückt. Wenn sie schließlich produzierten, dann so teuer, dass sie auf ihren Waren sitzen blieben und gegen die Konkurrenz aus dem Westen hoffnungslos im Hintertreffen seien. Draußen im Lande sei es noch schlimmer.

Zitat 9: Juri Swagin, Forts. (0,28) (Poetamu mi imeem tschista…     … dolga paduit moschno, Gemurmel, Lachen)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:   „Deshalb haben wir jetzt nicht nur einen Niedergang der Wirtschaft, sondern einen richtigen Erdrutsch.“ (… paduit moschno, Gemurmel, Lachen)

Erzähler: Die zweite Phase der Privatisierung, die jetzt eingeleitet worden sei, könne den Fall noch beschleunigen, wenn das wirklich durchgeführt werde, was angekündigt worden sei, nämlich die Schließung unrentabler Firmen. Das werde zu einer massenhaften Arbeitslosigkeit führen. Aber über Alternativen nachzudenken, sei zurzeit sinnlos. Russland sei ja ein großes Land, das lange fallen könne und in dem außerdem immer alles anders komme als irgendwelche intellektuellen Planerzirkel und auch westliche Journalisten sich das ausdenken könnten:

Zitat 10: Jzuri Swagin, Forts. (0,16) (Ja w etom smislom…     … mi ejo uvidim.)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:    „Ich bin in dieser Hinsicht Fatalist und Nachtrabpolitiker. Ich glaube, dass die Situation selbst ihren Ausweg hervorbringt und dass das Volk am Ende seinen eigenen Weg findet. Dann werden wir ihn schon sehen.“ (… mi ejo uvidim.)

Erzähler: Immerhin war Juri jedoch bereit, mir bei einem genaueren Blick auf die Realität behilflich zu sein: In der Sowchose Fjodorowna, die als erste im Gebiet St. Petersburgs in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, will er mir die Ergebnisse der Privatisierung vorführen.
Der Direktor, erfahre ich unterwegs, ist soeben von der Belegschaft fortgejagt worden. Er hat sich im Zuge der Umwandlungen maßlos bereichert, indem er Erzeugnisse, die die Sowchose auf dem unentwickelten Markt nicht mehr loswurde, über eigene alte Kanäle verschob. Die Sowchose hat er dabei in den Ruin getrieben. Unter einem neuen Direktor soll der Weg zum Markt nun fortgesetzt werden. Aber der Elan der ersten Stunde ist dahin. Was habe die Privatisierung denn schon gebracht?

Zitat 11: Dreher in der Sowchose Fjodorowka (0,12) (Nitschewo… … Mafia)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Nichts, absolut nichts! Nur Verschlechterungen. Es privatisieren ja nur die da oben. – Mafia!“ (… Mafia)

Erzähler: Und Boris Jelzins Versprechen, ein Volk der Eigentümer werde durch die Privatisierung entstehen sei doch nur ein Witz:

Zitat 12: Dreher, Forts. (0,19)                 (Sowchos kak bil…     … i swjo)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen

Übersetzer: „Die Sowchose ist wie sie war, nur jetzt eine AG. Alles so, wie es war, nur schlechter geworden. Die materiell-technische Basis ist hin. Die Sowchose ist nahezu auseinander gebrochen. Hält sich nur durch den Enthusiasmus der Arbeiter. Und das war’s!“ (… i swjo)

Erzähler: Sein Leben habe sich nur verschlechtert, klagt ein anderer Kollege. Und was noch komme, das wisse niemand. Er habe sein Vertrauen in die Oben verloren. Bisher sei er gegen Schirinowski gewesen, aber allmählich komme er zu der Überzeugung, dass so ein Mann hermüsse. Warum er so denke?

Zitat 13: zweiter Dreher (0,15) (Ja wam skaschu…     … wot eta mnje nrawitsja)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen

Übersetzer: Das will ich Ihnen sagen: Er spricht im Klartext aus, was mit der Regierung nicht stimmt, dass es Disziplin geben muss, dass jeder für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird. Das gefällt mir an ihm.“ (… wot eta mnje nrawitsja)

Erzähler:  Was sich hinter den Worten Swagins vom Erdrutsch der Produktion verbirgt, macht uns Alexander Kolatschkow deutlich. Alexander ist Dreher im Kirow-Werk, mit mehr als 30.000 Beschäftigten einer der Giganten des heute auf zivile Produktion verpflichteten ehemaligen St. Petersburger militärisch-industriellen-Komplexes. Seit Gründung des ständigen Streikommitees des Werkes im Frühjahr 1994 ist Alexander auch dessen Mitglied:

Zitat 14: Alexander Kolatschow, Arbeiter des Kirow-Werkes (0,45)
(Da, ja is perwowo…     … tschetirie tisatschi Rublej)

Regie:  O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „Seit dem ersten Juni befinden wir uns im kollektiven Urlaub. Im Juli gab’s dann mal Arbeit. Danach wurden wir wieder in den Zwangsurlaub geschickt. Für jeden Arbeitstag bekommen wir 1000 Rubel Unterstützung. Das macht 24.000 Rubel im Monat.“ (… tschetirie tisatschi Rublej)

Erzähler:  Bei Alexander versteht man auch besser, was es mit den „zusätzlichen Arbeiten“ auf sich hat, von denen Georgi spricht. Auf die Frage, wie er von 24.000 monatlicher Kompensation mit seiner Familie leben könne, seufzt der junge Mann:

Zitat 15: Kirow Arbeiter, Forts. (0,48) (Atem einziehen, Ah, mi…     …kakimto obrasim krutitsja)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Also, wir Russen sind so ein Volk, das zufrieden ist mit Nichts und Wenig. 24.000, das reicht ja gerade, um zwei Laibe Brot am Tag zu kaufen. So muss man also irgendwelche „linken“ Arbeiten finden, obwohl auch das sehr schwierig ist. Es gibt bei uns ganze Brigaden, die etwas gefunden haben, mit wöchentlichem Lohn. Das sind sehr gute Bedingungen. Aber die Masse der, sagen wir, Zugereisten weicht auf das Land aus. Davon existieren sie. Und die, die hierbleiben, müssen ganz schön rotieren.“ (…kakimto obrasim krutitsja)
Erzähler: Seit drei Jahren gehe das nun schon. Nach Gesetzen der Ökonomie müsse das Werk schon lange pleite sein. Praktisch werde es aber aus irgendwelchen schwarzen Kassen erhalten, außerdem würden Liegenschaften an Banken, Gesellschaften, an ausländische Kapitalgeber und sonst wen verpachtet. Von all dem Geld sähen die Arbeiter jedoch nichts. Das gehe alles in die Verwaltung. Alexander nennt die Forderungen des Streikkomitees: Wiederherstellung der Staatskontrolle über die großen Betriebe, Subventionierung durch staatliche Auftragsvergabe. Bürgermeister St. Petersburgs, Anatoli Sobschtschak habe Hilfe versprochen, ebenso wie Viktor Tschernomyrdin, den das Streikkomitee zusammen mit Vertretern anderer Betriebe in Moskau aufgesucht habe. Geschehen sei nichts:

Zitat 16: Kirow Arbeiter, Forts. (0,40) (Ja ponjal tak …     … na etom projed listom)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Ich verstehe das so: Auf Worte hört die Regierung gegenwärtig nicht! Es gibt massenweise Forderungen von überall aus dem Land. Aber die anstehenden Fragen werden nicht entschieden. Damit darf man sich nicht abfinden! Dann muss man eben auf eine allgemeinere Ebene kommen, um Russland vor dem Untergang zu bewahren: Rücktritt der Regierung. Und alle Kräfte sammeln, die in diese Richtung orientieren.“ (… na etom projed listom)

Atmo 2: Maschinen und Kettengeräusche (0,43)

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Ein paar tausend Kilometer tiefer im Land: Borodino im südsibirischen Kohlebecken. Größter Tageabbau der russischen Föderation. 25.000 Einwohner hat die Stadt, die davon lebt. Aber der Lärm täuscht: Hier werden nur Aufräumarbeiten gemacht. Viktor Kofienko, stellvertretender Direktor, zeigt mir die Grube. Als Russe deutscher Abstammung lässt er sich nicht nehmen, seine Erläuterungen auf Deutsch zu geben:

Zitat 17:Tagebau (0,53 = Echtzeit des gesamten O-Tons) (Fahrgeräusche, „Das ist unnormal…     … Nje!, Fahrgeräusche)

Regie: O-Ton verblenden, ohne Übersetzung stehenlassen bis zum Ende, verblenden (das Folgende ist eine Widergabe des O-Tons)

Kofienko: „Das ist unnormal. Alles steht hier. Alles steht.“
Autor: „Wie lange ist das jetzt schon so?“
Kofienko: „Das zweite Jahr ist es so. Bis drei Monate kriegen die Leute ihr Geld nicht Milliarden Rubel fehlen jetzt. Die Kohle ist schon raus  aus dem Tagebau, der Ras-Res, das ist schon verbrannt. Aber das Geld haben sie nicht        abgegeben. Sie haben kein Geld.“
Autor:     „Moskau bezahlt einfach nicht?“   Kofienko: „Nje!“  (… Nje!, Fahrgeräusche)

Erzähler; Mit den übrigen Kunden sei es nicht anders:

Zitat 18: Fortsetzung Kofienko im Tagebau (0,40)   (Fahrgeräusche, „Der Transport können…
…jetzt die Situation, Fahrgeräusche)

Regie: O-Ton verblenden, ohne Übersetzung stehenlassen bis zum Ende, abblenden (das Folgende ist eine Widergabe des O-Tons)

Kofienko: „Den Transport können sie nicht bezahlen, für die Kohle können sie nicht bezahlen. Sie hat kein Geld. Das kann ich gar nicht verstehen, was da passiert ist. Wo ist das Geld? Autor:  „Ja, wo ist das Geld. Ich habe zum Beispiel gesehen: `MMM'“. Kofienko: „Ja, MMM hat Geld.  So viel wie sie wollen.“ Autor: „Aber es wird nicht angelegt“. Kofienko: „Ich denke so der Schweiz oder so. Die             Kommerzfirmen machen es alle so: fahren das  Geld raus aus dem Land. Da kaufen sie die Dollars, fahren sie aus dem Land. Und die                   Leute sitzen, können sie nicht kaufen. Das Geld ist verdient. Sie können es nicht kriegen.“ Autor: „Und was ist mit den anderen Fabriken, die hier im Gebiet von der Kohlegewinnung abhängig snd? Stehen die auch still?“ Kofienko: „Ja, alles steht, fast alles. Und die, die nicht stehen, arbeiten ohne Geld.“ Autor:  „Und jeden Tag erscheinen neue 10.000 Rubel-Noten. Wenn ich das richtig verstehe, dann ist es so, dass die Produktion steht und verfällt, aber Geld gedruckt wird?“ Kofienko:  „Ja, das Geld kommt nicht zu uns. Das Geld ist alles in Moskau. Jeden Tag gibt es Prozente, Prozente und sie fahren alles raus. Alles aus  dem Land. So ist jetzt die Situation.“ (…jetzt die Situation, Fahrgeräusche)

Erzähler: Bei ihm zu Haus, bei einem Tee, setzt er seine Eläuterungen fort, diesmal auf Russisch:

Zitat19:Tagebau-Direktor, zu hause (0,50) (U nas paradoxalnaja situatia…        … mi ne moschem pradats)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Wir haben eine paradoxe Situation: Unsere Kohle ist die billigste in Russland, das bedeutet, die billigste in der Welt. Wir haben unglaublich einfache Abbaubedingungen. Aber heute sind die Tarife der Eisenbahnen derart hoch, dass wir unsere Kunden in Wladiwostok, in der Ukraine, in der Slowakei usw. nicht beliefern können. So ergibt sich die Situation, dass die billigste Kohle der Welt nicht verkauft werden kann.“ … mi ne moschem pradats)

Erzähler: Kofienko kritisiert die Politik der Regierung: Überall auf der Welt werde der Kohlbergbau staatlich unterstützt. In Russland würden dagegen immer höhere Steuern erhoben und die Preise für Verkehr, Gas, Strom usw. ins Gigantische getrieben. Mehr noch, nach der Privatisierung halte „Moskau“ jetzt die Aktienmehrheit in Borodino und benutze den Betrieb zur Schuldentilgung im Ausland. Die Grube müsse fast kostenlos liefern, zum Beispiel nach Ungarn. So komme es, dass der rentabelste Tagebau Russlands heute praktisch nur Schulden einfahre.
Die Frage, wie es unter diesen Umständen zu erklären sei, dass auch an Borodino der neue Reichtum nicht vorübergegangen sei, insbesondere dass an allen Ecken und Enden gebaut werde, vor allem kleine Einfamilienhäuser, antwortet Kofienko:

Zitat 20: Kofienko zuhause (0,50) (Eta jeschtscho odin…     … ni kamu nje iswestna)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, am Schluss des Übersetzers hochziehen
Übersetzer: „Das ist auch wieder so etwas, was bei uns in Russland ebenso wie im Westen niemand verstehen kann. Die Situation ist so: Früher hatten wir Geld, normales Geld, mit dem man normal bezahlen konnte. Es gab nie ernsthafte Probleme mit den Grubenarbeitern. Jetzt, wo es keine Ausrüstung gibt, praktisch keine Aufträge, keinen Lohn, kommen sie natürlich zu uns. Aber außer Kohle können wir ihnen nichts geben. Wir haben jetzt in Russland überhaupt so eine Erscheinung, nennen wir es Feudalismus, ich meine die Auszahlung des Verdienstes in Naturalwerten: Da wir den Lohn nicht zahlen können, verpflichten wir unsere Schuldner, in Naturalien zu liefern: etwa die Zementfabrik, die Ölraffinerie, das Sägewerk, auch die Lebensmittelwerke. Das betrifft Betriebe hier aus dem Kreis, aber auch aus anderen Regionen und sogar aus dem Ausland. Sie verstehen. Das Material geben wir an unsere Belegschaft weiter. Das ist eine Art von Wirtschaft, von der keiner weiß, was das ist.“ (… ni kamu nje iswestna)

Erzähler:  Nach einer Alternative befragt, ist er ratlos. Vielleicht Helmut Kohl ins Land holen oder Margaret Thatcher? versucht er zu scherzen. Dann wird er ernst:

Zitat 21: Kofienko, Ende  (1,23) (Nje predstawlaju…     … Tschernobl)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, Am Schluss des Übersetzers hochziehen

Übersetzer: „Ich habe keine Vorstellung davon. Ich weiß nur eine Antwort: Man muss arbeiten. Bei uns will ja heut niemand arbeiten. Alle wollen Dividende. alle wollen Profit, wollen handeln. Heute findest du keinen Arbeiter für die Produktion, die Werkbank, die Fabrik. Sie verhalten sich alle wie die Kinder, die „Snikers“ haben wollen: kaufen, verkaufen, nichts investieren, aber Prozente kassieren. Das versteht man bei uns heute als den Weg unserer Entwicklung. Die Produktion krepiert dabei einfach. Wenn die Regierung keine Entscheidungen trifft, wird Borodino streben. Wenn Bododino stirbt, dann friert auch Krasnojarsk ein und gleich nebenan Krasnojarsk 45 mit seiner geheimen Produktion, die etwas noch Schlimmeres als ein neues Tschernobyl hervorbringen könnte.“ (… Tschernobl)

Erzähler: Noch härter als Borodino hat es das auch im Krasnojarsker Gebiet gelegene Tscharypowa getroffen. Die Stadt wurde erst Anfang der achtziger aus dem Boden gestampft. Sie sollte der Mittelpunkt eines Jahrhundertprojekts werden. Geplant war der Ausbau des Krasnojarsker Gebiets zum  Wärme-Kraftwerk-Zentrum, das nicht nur Russland, sondern Europa und Asien versorgen könnte. Von den zehn geplanten Einheiten wurde allerdings nur eine gebaut und davon auch nur ein Block. Selbst der muss im Sommer abgeschaltet bleiben, da seine Betriebskosten aus dem Bedarf der umliegenden Städte und industriellen Abnehmer nicht gedeckt werden können. Für Tscharypowa gilt dasselbe wie für Borodino; hier ist nur alles noch viel krasser: In den Läden Westwaren, am Stadtrand Baustellen für Einfamilienhäuser, aber die auf breiter Fläche begonnene fieberhafte Neubautätigkeit der Pionierzeit ist über Nacht erstarrt. Hier werden der Eiseshauch und die tiefe Ratlosigkeit spürbar, die sich trotz allen Geredes von Intensivierung und Modernisierung über das Land gelegt haben. Konstantin Smol, Veteran der Gewerkschaft und ehemaliger Direktor der Arbeitsverwaltung des geplanten Giganten, kann sich nur noch in ätzenden Spott retten, wenn er an die Parole „Intensivierung statt Tonnenideologie“ aus den Anfängen der Perestroika zurückdenkt:

Zitat 22: Gewerkschaftssekretär in Tscharypowa (0,58) (Nu, sobstweni gawerja…     … ismenilos is sa eto period, Lachen)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Zitat kurz hochziehen mit folgendem O-Ton verblenden

Übersetzer:    „Nun, klar, geredet hat man darüber. Einen Plan zur Intensivierung gab es. Aber da scheint es Probleme gegeben zu haben: es war wohl einfacher, die Preise zu erhöhen, als die Produktion umzustellen. Ryschkow war auf dem richtigen Weg: Schritt für Schritt, evolutionär. Das wären neue Methoden gewesen. Ein Unglück, dass er nicht geblieben ist. Er war ein heller Kopf. So sind wir den alten Weg gegangen, genau wie 1917 und werden ihn weiter so gehen, nur mit anderen Vorzeichen: Damals sollten alle Reichen arm werden, heute alle Armen reich. So! Das ist alles. Mehr hat sich nicht geändert in diesem Land seit dieser Periode.“ (… ismenilos is sa eto period, Lachen)

Zitat 23: Gewerkschafter, Forts. (0,50) (A wot destwitelno…     … wsjo delani iskustwenna)

Regie: O-Ton mit Ton 21 verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Zitat wieder hochziehen.

Übersetzer:  „Wenn man die Produktion wirklich modernisiert, wirklich effektiviert hätte! Wenn man auf dieser Grundlage vorsichtig den Übergang zu marktwirtschaftlichen Beziehungen gesucht hätte, also mit Möglichkeiten der Konkurrenz, mit innerem Markt, mit äußerem Markt, dass wir zum Beispiel nicht nur italienische Schuhe einführen müssten! Das können wir doch alles selbst! Aber das wurde nicht gemacht, nur das Alte zerstört! Ich kann mich erinnern, wie wir seinerzeit, Anfang der Achtziger loslegten: Selbstbewirtschaftung, Schulung, Unterricht in Marktbeziehungen. Ich habe selbst vor Kollegen darüber gesprochen, was es heißt, Geld zu verdienen, zu erarbeiten, zu produzieren – und nicht einfach Geld aus Geld zu machen wie das jetzt läuft. Aber dann hat man von einem Tag auf den anderen die Preise freigegeben – fraß oder stirb: freier Markt! Dabei rausgekommen sind die großen Handelsstrukturen, riesige Investitionsgesellschaften, `MMM‘ und andere, Millionäre und Milliardäre in wenigen Jahren. Aber alles in so kurzer Zeit hoch gepuscht. Bluff! Alles künstlich aufgeblasen.“ (… wsjo delani iskustwenna)

Erzähler:     Eine Scheinblüte also? So könne man es nennen, bestätigt der Alte. Der Zusammenbruch werde nicht auf sich warten lassen.

Athmo 3: Auto Fahrt, Verkehrslärm, erste Worte) (1,20)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Den Zustand der Landwirtschaft, der in Fjodorowna schon ansatzweise erkennbar wurde, führt mir Wassili Horn vor Augen. Er ist Direktor der Sowchose Tulinskaja, auch sie seit einem Jahr Aktiengesellschaft. Sie liegt etwa 100 Kilometer im Süden am Ufer des zum See gestauten Ob. Früher sei Tulinskaja eine Mustersowchose gewesen, erzählt Wassili während der Fahrt dorthin, die größte Wirtschaft in der Region: vier Dörfer, 22. 000 Hektar, davon 6000 gepflügter Boden, 10.000 Weideland, 1500 Kühe und 8000 Schweine. Einen Profit von 1,5 Millionen Rubel habe der Betrieb 1984 gemacht, als er dort von der Partei eingesetzt worden sei. Heute kämpfe der Betrieb um sein Überleben:

Ton 24:  Wassili Horn (0,21)     (Tschas u nas tak…

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, dann abblenden (nicht hochziehen)

Übersetzer: „Jetzt ist bei uns alles auf den Kopf gestellt:  Je mehr Du arbeitest, umso mehr Verlust machst du. Zurzeit ist es nicht profitabel, Milch, Fleisch oder Brot zu produzieren.“

Erzähler: Grund: Die Preise, die die Sowchose für ihre Produkte erzielen kann und die für Ausrüstung, Gas, Öl, Strom usw. gehen immer weiter auseinander. Aber statt Unterstützung zu leisten, verlange die Regierung auch noch irrsinnige Steuern. Die staatlichen Kredite seien nicht zu bezahlen. Früher habe die Sowchose Straßen, Wohnungen und Produktionsanlagen gebaut. Jetzt könne sie nichts davon machen, alles verkomme:

O-Ton 25: Forts. Direktor (0,50)                 (Nu, djela w tom tscho…     … wabsche ruskuju natiu)

Regie. O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer kurz hochziehen, wieder abblenden

Übersetzer: „Auf allen Ebenen wird davon geredet, dass der Bauer wieder zum Bauern gemacht werden muss, damit er über das verfügen könne, was er selbst produziert. Damit bin ich einverstanden! Aber was jetzt geschieht, das hat es unter keiner Macht gegeben, nicht unter der zaristischen, nicht unter der sowjetischen, wo man uns abgerichtet hat. Jetzt ist angeblich alles freiwillig. Aber was heißt freiwillig, wenn man uns das Messer an die Gurgel setzt? Nein, ich habe das Gefühl, das da ein bestimmter Auftrag ausgeführt wird – ich weiß nicht, vielleicht die russische Nation überhaupt zu vernichten?“ (… wabsche ruskuli natiu)

Erzähler: Bestenfalls sei das Ganze nicht zu Ende gedacht: Wer was bei der Aufteilung des Eigentums bekomme, und wie das neu organisiert werden solle, so dass es auch weiterhin funktioniere, ohne dass der Bauer auf vollen Feldern krepiere. Auch die Umwandlung der Sowchose in eine AG sei letztlich nur ein formaler Akt:

O-Ton 26: Direktor Fortsetzung (1,35) (To jest, on stanowitzka sobstwennikom…     … ne koem obrasim)

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) hochziehen und wieder abblenden

Übersetzer:    „Die Leute sind zwar Eigentümer geworden, es ist eine Leitung gewählt, ein Sowjet, ein Vorstand des Sowjet; persönlich bin ich das, aber als höchstes Organ fungiert die Versammlung. Das Elend ist nur, dass die Leute sich nicht als Eigentümer des Bodens oder ihres Anteils am Gesamtbesitz fühlen.“

Erzähler: Auf der Grundlage dieser ganzen Unentschiedenheiten habe sich auch die Arbeitsdisziplin gelockert, hätten Diebstahl, Raub und Suff in erschreckenden Maße zugenommen. Das ganze spitze sich schließlich in der Frage zu: Wohin mit diesen Leuten, die nicht arbeiten wollten? Und auch denen, die es nicht könnten? Zur Entscheidung dieser Frage gebe es zurzeit überhaupt keine Mittel. Er könne ja nicht einmal den Lohn auszahlen. Ob er größere Konflikte befürchte?

Übersetzer:(2)  „Nein, wir sind alle so erzogen, dass es keine Konflikte geben darf. Der einfache Mann weiß auch gar nicht, wie er das machen soll. Die Leute spüren, dass man uns gegeneinander hetzen will. Aber hier in Sibirien wird es so was nicht geben. Die Menschen begreifen, dass die gegenwärtige Macht gegen ihre Interessen, dass sie dem Volk feindlich ist. Nein, etwas anderes beunruhigt mich: dass das Volk nach einer harten Hand verlangen könnte, einem Mann wie Schirinowski. Denn das es so nicht weitergeht wie jetzt, das ist jedem klar. In keiner Weise!“ (… ne koem obrasim)

Erzähler: In den nächsten Tagen sah ich es mit eigenen Augen: Wo wir hinkamen, wurde der Direktor wegen nicht gezahlten Lohnes, mangelnder Versorgung und fehlender Arbeitsmaterialien zur Rede gestellt, wurde nach hartem Durchgreifen verlangt. Wenn es bisher bei scharfen Worten bleibt, dann deswegen, so Wassili Horn, weil die Leute wüssten, dass ihr Direktor auch nichts entscheide.

Atmo 4: Metro(1,30)

Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:  In den analytischen Zentren wird die Krankheit des Landes inzwischen klar benannt. So etwa im St. Petersburger finanz-wirtschaftlichen Institut, Abteilung regionale Diagnostik, wo man sich seit Jahren mit „Monitoring und Überwachung der Reform“ befasst. Hier bekommt das Stichwort der künstlichen Blüte, das der alte Gewerkschafter in Tscharypowa gegeben hat, konkretere Gestalt. Nur 10% der Bevölkerung hätten die Mittel, sich die angebotenen Waren zu kaufen: Nomenklatura, die neuen Reichen, im Volksmund „neue Russen“ genannt, ein schmaler Dienstleistungsbereich und eine kleine Schicht qualifizierter Arbeiter. Auf die Frage, woher das Geld komme, erklärt Natalja Petuchowa, eine Mitarbeiterin des Instituts:

Zitat 27: Natalja Petuchowa, finanz-wirtschaftl. Institut (0,48)                 (Ja dumaju…     … sarabatnaja plata, ponimaetje?

Regie: O-Ton kurz stehenlassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Ich denke, als erstes verkauft man große Menge Ressourcen. Zum zweiten bringen die, welche die Ressourcen verkaufen, dafür Waren aus dem Westen heran und sie sind natürlich interessiert daran, eine zahlungsfähige Nachfrage zu schaffen. Sie wollen, dass die Waren gekauft werden. Ich denke, dass einfach Geld gedruckt und in der Bevölkerung in Umlauf gebracht wird. Der Mechanismus ist natürlich komplizierter. Im Prinzip ist es aber so: Es geschieht einfach eine Erzeugung von Geld aus Geld. Die Unternehmen sind praktisch bankrott und trotzdem gibt man ihnen Kredite, um Lohn auszuzahlen. Sie verstehen?“  … sarabatnaja plata, ponimaetje?
Erzähler: Andererseits, fügt sie hinzu, wirkten natürlich  die nicht gezahlten Löhne auch wie ein gewaltiger Kredit, den man der Bevölkerung zwangsweise aus der Tasche ziehe. Die Arbeit sei ja geleistet, aber bezahlt werde nicht. In Bezug auf den Boden sei es noch komplizierter, aber im Prinzip das Gleiche: Obwohl es noch keine gesetzliche Grundlage dafür gebe, würde von städtischen Spekulanten im Zuge der Privatisierung der Sowchosen und Kolchosen Land zu Spottpreisen erworben und mit enormen Gewinnen verpachtet oder weiterverkauft, in vielen Fällen auch an Ausländer, ohne es in die Produktion oder Weiterentwicklung zu stecken. Dass dies die Vernichtung der Kolchosen bedeute, sei ja ohnehin klar und auch beabsichtigt.

Zitat 28: Petuchowa, Forts. (1,06)     (Eta snatschit…          … skromno, no dostoino?)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der zweiten Übersetzerin (2) hochziehen

Übersetzerin:   „Es bedeutet aber die Vernichtung der Landwirtschaft als Branche überhaupt ihre Unterordnung unter die vollkommene Abhängigkeit vom Westen. Noch ist das nicht so, aber die Tendenz ist vollkommen klar. Das Ganze ist natürlich eine katastrophale Situation.“

Erzähler:      Aber Russland, relativiert auch sie dann, wie vor     ihr schon der Gewerkschafter Juri Swagin und andere, sei ja ein reiches Land, das lange von seinen Vorräten leben könne. Das gelte für die Ressourcen des Landes ebenso wie für jede einzelne Familie, die jetzt auf Kosten der Dinge lebe, die sie sich vor Beginn der Reformen angeschafft hätte. Und schließlich stelle sich überhaupt die Frage:

Übersetzerin: (2) „Muss das alles so sein? Der russische Mensch hat ein anderes Verhältnis zu Reichtum und Geld. Geld kommt erst an zweiter Stelle. Jedes Volk hat seinen nationalen Charakter. Und der wird sich durchsetzen. Warum müssen wir leben wie in Amerika? Kann man nicht so leben: bescheiden, dafür aber würdig?“ (… skromno, no dostoino?)

Erzähler: Boris Kagarlitzki, analytischer Kopf der Reformlinken aus Moskau, sieht es schärfer. Er spricht nicht nur von Scheinblüte. Auf die Frage, warum die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbreche, antwortet er:

Zitat 29: Boris Kagarlitzki (0,59)     (No, wo pervich Rossije…
… ot sapadnem modellom otdalilas)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Nun, erstens ist Russland kein kapitalistisches Land. Aber ich sage noch mehr: Heute ist Russland in seinem wirtschaftlichen Mechanismus weitaus weiter vom Westen entfernt, als, sagen wir, 1991. Das ist spürbar. Es findet eine Primitivisierung der Wirtschaft statt. Der einheitliche innere Markt ist zusammengebrochen. Elementare Bedingungen der, sagen wir, Vermittlung von nichtselbständiger Arbeit entfallen, wenn die Menschen keinen Lohn mehr bekommen. Es gibt keinen Arbeitsmarkt. Die Menschen arbeiten nicht, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern aus anderen Gründen. Aus Abhängigkeit, aus Tradition usw. Das heißt, in diesem Sinne hat sich Russland in den letzten zwei Jahren allgemein vom westlichen Modell entfernt.“ … ot sapadnem modellom otdalilas)

Erzähler: Russland sei heute eher einem asiatischen oder afrikanischen oder sonst einem Land der früheren dritten Welt ähnlich. Nicht einmal mit Brasilien oder Argentinien sei es vergleichbar, schon eher mit Indien oder dem Iran sei es vergleichbar. So ein Land, bestätigt Boris sarkastisch, könne mit einer zerstörten Wirtschaft sehr lange existieren und wenn notwendig, überhaupt ohne Wirtschaft.

Was damit konkret gemeint sein könnte, demonstriert das neueste Krisenlösungsmodell der Bauernpartei, das Wladimir Lewaschow, verantwortlicher Gewerkschaftssekretär des Nowosibirsker Agrar-Industriellen-Komplexes mir vorstellte. 80% der Landwirtschaft, Sowchosen wie privater Neubauern, steckten hoffnungslos in der Krise. Sie und im Ergebnis praktisch ganz Russland seien zum Untergang verurteilt, wenn keine kollektiven Rettungsmaßnahmen ergriffen würden. Die Bauernpartei habe daher die Schaffung eines „Departements für Produktion“ vorgeschlagen, was allseits mit Sympathie und Hoffnung aufgegriffen werde. Lewaschow erläutert das Modell:

Zitat 30:  Gewerkschaftssekretär, Nowosibirsk (1,49)     (Departement prodowolstwo…          …ras mnogi, mnogi stepenje)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Das Departement für Produktion, das jetzt gebildet werden soll, wird logischerweise alle Ketten zusammenschließen: Die Produzenten, finanziert von der Gläubigerbank der Administration, die Konsumenten, alle einzelnen Bewirtschaftungseinhheiten. Ein einfaches Beispiel: Das Departement sagt: Sie haben Milch gebracht, abgegeben im Butterkombinat. Wofür brauchen sie Geld!? Doch nur für Lohn. Aber vielleicht brauchen sie Kühlschränke, Autos? Wir werden ihnen über das System der Gläubigerbank und durch das Departement der Produktion alle diese Produkte überstellen. In dieser Weise verringert sich der Geldumlauf um viele, viele Stufen.“ ( …ras mnogi, mnogi stepenje)

Erzähler: Hier wird die Reduzierung der Wirtschaft auf den Naturaltausch und ein von oben geregeltes Zuteilungssystem zum Prinzip erhoben. Was könnte deutlicher machen als dieses  Modell, dass die russische Entwicklung auch heute anderen Wegen folgt als denen der westlichen Marktwirtschaft? Hier werden nicht in erster Linie wirtschaftliche, sondern nach wie vor politische Lösungen gesucht, und zwar auf der Basis einer patriarchalen Grundorganisation des Lebens. Sie ist durch die neu entstandenen Verhältnisse nicht geschwächt, sondern eher verstärkt worden. Welche Regierungsform das annehmen wird, ist zurzeit offen.

Bitte denken Sie auch dieses mal an mein Buch, das in diesen Tagen erscheint:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.

Auf der Suche nach dem Russischen (Langfassung)

Athmo 1: Straßenszene in St. Petersburg (0,30)

Regie: O-Ton langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem ersten Erzähler hochziehen.

Erzähler: Russland, Herbst 1994, St. Petersburg. Vertreter der „unversöhnlichen Opposition“ agitieren auf der Straße. Die Frau erregt sich über „Okkupanten aus dem Westen“. Sie fordert „Russland für das eigene Volk!“. Es geht um die Nation, um die Wiedergeburt des Russischen, um die „Rus“.

Erzähler:    Ausgerechnet sibirische Freunde, Psychologen, mit Sicherheit keine Patrioten, überraschen mich wenige Tage später mit einer Entdeckung, die sie im Lauf des letzten Jahres in Perm am Ural gemacht hätten:

O-Ton 1: Frau aus Sibirien (junge, nachdenkliche Stimme) (2,30)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann runter, am Ende des zweiten Einsatzes der Übersetzerin kurz hochziehen.

Übersetzerin:  „Dort habe ich zum ersten Mal im Leben gefühlt. was das ist: die Rus. Nicht, dass ich mich selbst als Russin gefühlt hätte. Aber ich spürte in gewissem Sinne, was das ist, russischer Geist….“

Erzähler: Dann versucht Irina zu erklären: Sie berichtet von kleinen Geschäften, in denen sie noch im letzten Jahr Berge von Ikonen gesehen habe, die aus verlassenen Häusern der Region geholt worden seien. Das habe die Regierung jetzt gestoppt. Aber immer noch könne man in den Dörfern alte Haushaltsgeräte, Bilder, Briefe, alles Mögliche finden. Das liege da einfach so herum, für niemanden nutze.

Übersetzerin: „Und überall stößt du auf Zeugen der Zone. So heißen die Gulags heute. Und dann die Radioaktivität! Die Leute wissen das alles. Es bewegt keinen. Sie leben ganz für sich. Sich abkämpfen und leiden, das ist ihr Lebensgefühl. Viele sind aus ihrem Dorf noch nie herausgekommen. Wenn man dem Muschik dort sagt, dass der Feind vor der Tür steht und dass man jetzt sofort in den Krieg ziehen muss, dann wird er einen Moment protestieren – und geht in den Krieg. Der sibirische Muschik ist ganz anders! Der geht in den Wald, versteckt sich vor dem Krieg, im besten Fall geht er zu den Partisanen.“

Regie: Hier O-Ton 2 hochziehen.

Erzähler:   Wenn ich interessiert sei, schlug Ira vor, könne ich sie auf einer ihrer nächsten Arbeitsreisen nach Perm begleiten. Dann würde ich selber verstehen.

Athmo 2: Kirche in Perm, Litanei und Chor (0,32)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler: Perm. Die Kirche wurde erst kürzlich wiedereröffnet. Es ist der erste Ort, an den Galina Britwina, Direktorin des gewerkschaftlichen, früher städtischen Kulturzentrums, eine junge, tatkräftige Frau, mich führt, um mir zu zeigen, was Wiedergeburt russischer Kultur ist.
Der ist die Staatsgalerie: Meisterwerke der Ikonografie in einem Saal, schwer bewacht. Im Hauptgebäude eine Sammlung monumentaler geistlicher Holzplastiken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Hier ist aus der Permer Region zusammengetragen, was den Plünderungen und Zerstörungen des zwanzigsten Jahrhunderts und der letzten zehn Jahre des neuen Russland entgangen ist. Aus einem kostbaren Fotoband zur Geschichte der Skulpturen, mit denen Galina und ihre Kolleginnen mich beschenken, ergibt sich ein widersprüchliches Bild:

Sprecher:  „Es ist eine Region im Abseits der Geschichte. Lange war sie nur Umschlagplatz für Naturgüter wie Salz, Felle, Honig, Fett und dergleichen, die auf den Flüssen nach Süden und Westen transportiert wurden. Hier haben sich heidnische Anschauungen lange gehalten. Erst im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wurde die Region christianisiert. Aber schon Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelte sich die Region zu einem Zentrum der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Ikonografie. Von hier gingen die Impulse zur Reichserneuerung aus, die die „Smuta“, der verwirrten Zeit nach dem Ende der ersten Dynastie beendeten und die neue Dynastie der Romanows begründeten.“

Erzähler: Mit anderen Worten: Die Permer Region, mit ihrem alten Mittelpunkt Tscherdin, wurde russischer als die im Tatarensturm untergegangene Kiewer Rus, das erste russische Reich. Aber immer blieb es das Land im Abseits, aus ausgebeutet und geschunden wurde. Die Zaren machten es zur Eisengrube Russlands, die Sowjets zum atomaren Übungsgelände. Es war Verbannungsort vor der Revolution von 1917, es war Stalins Gulag danach. Heute ist es Gefangenenlager des neuen Russland. Sehnsucht nach Geistigkeit und entseelte Realität könnten nicht extremer aufeinanderprallen als in diesem Gebiet.

Galina hofft auf Impulse der Erneuerung wie zur Zeit der historischen „Smuta“:

O-Ton2: Galina Britwina, Direktorin des Kulturhauses Perm (volle, mutig entschlossene Stimme) (0,46)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, am Schluss des Zitats hochziehen.

Übersetzerin: „Jetzt sind alle verwirrt. Jetzt wissen die Leute nicht, womit sie sich befassen sollen, was vorgeht im Lande, was in der Wirtschaft geschieht. Jetzt  geht der Kampf ums Überleben, wie durchkommen und nicht verhungern. Aber ich denke, dass der Menschen nach einer gewissen Zeit für sich einen Platz in der Gesellschaft findet, und sich dann mit dem befassen wird, was ihm entspricht. Und in der Politik werden Leute kommen, die leiden für unser Russland und nicht solche, wie wir sie jetzt sehen.“

Erzähler:   Maya, eine ältere Kollegin Galinas, wegen der Umstellung des Kulturhauses auf eigene Bewirtschaftung vor Kurzem zwangspensioniert, erklärt mir bei einem unserer Ausflüge, warum alles so ist, wie es ist: Die russische Seele!

O-Ton 3: Maya über die russische Seele. (melancholisch) (0,31)

Regie: langsam kommen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen.

Übersetzerin: „Das ist das, was sich der Logik nicht beugt, ein Ergebnis der Tradition. Es gibt nationale Charaktere, scheint es, die voraussagbar sind. Aber die Seele des russischen Menschen kannst Du nicht vorhersagen. Heute streitet man sich darüber. Nehmen Sie Dostojewski, auf den kommen wir wieder zurück: Seine Menschen, seine Helden. Das russische Volk handelt zunächst nicht vom Kopf, sondern aus der Seele. Es ist nicht besser als andere Völker, es ist einfach nur rätselhaft. Der Russe ist ein zerrissener Mensch, ein Mensch, bestimmt von seinem inneren impulsiven Seelenzustand. Er handelt, wie es ihm sein Gewissen eingibt, sein leidendes.“

Erzähler: Viele verschiedene Völker, viele verschiedene Charaktere seien im russischen Volk zusammengewachsen, erzählt sie, besonders auch hier in der Region, in die sich seinerzeit ganze Völker vor den Mongolen geflüchtet hätten. Verständigung, Freundschaft, Bereitschaft zur Kooperation sei daher das oberste Gebot für den russischen Menschen.

Übersetzerin:  „Nehmen sie die Lieder. Da geht es um die Tafel, um die Liebe, um Zärtlichkeit. Wovon spricht das? Nationalismus sei dem Volk fremd. Die Politiker sind es, die solche Gefühle hochspielen:“

O-Ton 4: Maya singt (0,23)

Regie: Ton langsam hochkommen lassen, stehen lassen, Kreuzblende

Athmo 3: Ankunft in Tscherdin (0,38)

Regie: Kreuzblende, langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.

Erzähler: Endlich Tscherdin. Eine Nachtfahrt mit dem Zug, Stunden auf einer abenteuerlichen Flussähre, ein halber Tag in einem überfüllten Bus durch endlose Wälder und Sümpfe liegen hinter uns. Der Ort erhebt sich am Hochufer der Kama. Malerisch klettern Holzhäuser in alter russischer Holzbausweise die Hügel vom Fluss herauf. Oben auf dem Kammweg, der alten Hauptstraße, verbreiten steinerne Herrenhäuser den spröden Glanz verlassenen Reichtums. Zahllose Zwiebeltürme werden sichtbar, viele vergoldet. Sie glänzen in der Abendsonne. Sechzehn oder siebzehn seien es, erklärt Irina, die mich begleitet.
Wieso es viele Kirchen in so einem kleinen Ort gebe, frage ich eine „Babuschka“, die uns entgegenkommt.

O-Ton 5: Babuschka in Tscherdin (kräftige Stimme) (0,51)

Regie: O-Ton kurz anlaufen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzerin-Zitat hochziehen.

Übersetzerin: „Es ist eine alte Stadt. War ein Handelszentrum. Früher gab es hier Kaufleute. Die haben die Kirchen gebaut, für ihren eigenen Gottesdienst. Die hatten eigene Schiffe und Häuser. Sie haben alles selbst herangeschafft, zusammengekauft, gehandelt. Die gaben dem Volk damals, die haben für das Volk gesorgt. Jetzt gibt keiner mehr eine Kopeke.“

Erzähler:  Sie selbst sei erst in den Dreißigern aus einem der Nachbardörfer zugezogen. Viele seien heute Zugereiste. Von weither habe man sie gebracht.

Übersetzerin:   „Leute, die sich der sowjetischen Macht nicht beugen wollten. Vierzig Familien trieb man her, die nicht in die Sowchose wollten. Einfach im Wald abgeladen hat man sie, ohne Dokumente, ohne alles. Dann lebten sie in Baracken, in kleinen Hütten. Zum Schluss bauten sie ein Dorf. Da gab man ihnen Dokumente. Jetzt leben sie gut.“

Erzähler: Ein paar Straßen weiter begegnen uns zwei junge Mädchen. Was wissen sie von ihrem Ort? Ohne sich beim Genus ihres Kaugummis stören zu lassen, antworten sie:

O-Ton6: Junge Mädchen in Tscherdin (selbstbewusst) (0,25)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Text der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun, die Stadt steht auf sieben Hügeln. Das wissen doch alle. Wie Moskau zum Beispiel oder wie Rom. Deshalb hat sie einen besonderen Wert, eine lange Geschichte. Interessant.“

Erzähler: Woher sie das wüssten? Aus der Schule, natürlich! Und ob sie hier leben wollten?

Übersetzerin:  „Aber ja, hier befinden sich doch unsere Freunde, unsere Bekannten. Ich hoffe, dass wir hier leben können und nicht auswandern. Hie sind unsere Verwandten und alles. Hier ist uns alles vertraut.“

Athmo 4: Eintritt ins Jugendhaus: Treppen, Schlüssel, Tür (0,25)

Regie: Kommen lassen, stehen lassen, dann abblenden

Erzähler: Zentrum für junge Touristen. Hier ist seit langem nichts mehr berührt worden. Früher war Tscherdin ein beliebtes Ziel für Bildungsfahrten der Pioniere und des Komsomol, erzählt uns der Verwalter, verknittert, nicht ganz nüchtern. Heute komme selten noch jemand:

O-Ton 7: Verwalter des Jugendhauses (nuschelt) (0,57)

Regie: Kurz kommen lassen, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Aus Omsk kamen sie und sagten, das ist ja ein Dorf bei Euch. Aber das war nicht richtig. Als Tourist konnte man einiges Interessantes hier finden. Und Fische konntest Du fangen. Jetzt gibt es kaum noch welche. Mit den Pilzen ist es nicht besser. Früher hatten wir solche! Und jetzt? Es geht alles kaputt. Heute ist schon alles vorbei. Heute leben wir, wie sagt man jetzt? – nach eigenen Interessen! Es gibt keine Macht. Keiner kümmert sich. Jelzin hat ja auch anderes im Sinn. Naja, der Fisch stinkt eben vom Kopf!“ (lacht)

Athmo 5: Kirchenruine, , leichte Hammerschläge, Hall (0,30)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, dann abblenden.

Erzähler: Kirchenruine in Nyrob, noch eine Tagesfahrt tiefer im Land. Das Dach wird restauriert. Der junge Mann, der das Dach repariert ist Freigänger aus einer der nahegelegenen „Zonen“. Er stammt aus Tatarstan, dort verurteilt wegen Totschlags. Bis vor kurzem saß er dort im Gefängnis. Zur Verbüßung seiner Reststrafe wurde er jetzt hierher überführt. Seine Tätigkeit als Restaurateur beurteilt er sachlich:

O-Ton8:Freigänger (zögernd, aber klar) (0,24)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach  dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:    „Ich hätte ja direkt nach Haus gehen können. Aber direkt aus dem Knast in die Freiheit, das würde schwerer für mich werden. Es ist einfach besser, wenn ich ins Dorf gehe. Es hat sich viel geändert, seit ich reingekommen bin. Das war `93: Das Geld, die Preise! Damals betrug das Gehalt 1700, jetzt zählt man nach Tausendern und Millionen. Hier kann ich mich gewöhnen und in Ruhe orientieren. Wenn die Kirche fertig ist, soll ich noch das Badehaus machen. Es ist mir egal, was ich mache. Man lässt mich zufrieden. Das ist das Wichtigste. Sie haben ja niemand. Sonst verkommt ihnen alles. Also, wenn ich rauskomme, kenne ich mich schon mit den unterschiedlichen Preisen aus, da weiß ich, wo man was wie bekommt. Es ist einfach leichter für mich.“

Erzähler: Ein Ortsansässiger bringt einen Bottich Tee. Der Kontakt ist verboten. Aber wir sind wir doch alle Menschen, oder? lacht er. Er sei Klempner, arbeitslos, erzählt er freimütig, sozusagen pensioniert, die Leute hätten kein Geld für Reparaturen. Warum er hierher komme?

O-Ton 9: Ortsansässiger (klagend, aggressiv) (028)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Ich sehe die Kirche nicht als gläubiger Mensch, aber als Denkmal. Das muss man erhalten. Die Kirche war sehr schön. Eine riesige Glocke gab es hier früher. Man hat sie irgendwohin geschafft, keiner weiß, wohin. Jetzt verrottet alles, fällt zusammen. Früher hatten wir etwas, worauf wir stolz sein konnten. Das brauchen wir. Wir sind ja ein kriegerisches Volk. Aber heute bringt man nichts mehr zustande. Nicht einmal eine Brücke über den Fluss schaffen sie. Wie soll sich da etwas entwickeln? Man bräuchte eine Führung, die wirklich Macht ausübt. Jetzt ist die Macht dazu übergegangen, uns auszuhungern, unseren Volksreichtum beiseite zu schaffen, kurz gesagt. Sie kaufen sich Autos für ihre Verwandten und wir bleiben außen vor, wir haben nichts. Die Menschen kennen keine Werte mehr. Wie die Barbaren!“

Erzähler:  Ein paar Stunden später weiß ich, wovon der Alte gesprochen hat. Die ohnehin seltenen Busse, mit denen wir am Abend nach Tscherdin hätten zurückfahren müssen, fallen aus. Fähre defekt, heißt es. In dem kleineren Bus, der ersatzweise fährt, bekommen wir nur einen Platz, weil die „Kassirscha“ deutschstämmig ist und eine ebenfalls deutschstämmige Freundin hat.
Während wir im Kassenhäuschen warten, kommt die Freundin der „Kassirscha“ schnell noch zu einem kleinen Plausch vorbeigehuscht. Wer beschreibt mein Erstaunen, sie „russischer“ als die Russen zu finden? Der Parole von der Widergeburt russischer Kultur steht sie zwar skeptisch gegenüber:

O-Ton10: deutschstämmige in Nyrob (fröhliche Stimme) (0,40)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht ich sehe das nicht. Früher, als ich mein Institut beendet hatte und hierher zurückkam, gab es noch dieses Eigene. Man sang russische Lieder, tanzte, jetzt kennen die jungen Leute das alles nicht mehr. Ich kannte die Lieder, aber ich habe sie auch vergessen. Früher gab es hier auch ein örtliches Museum. Dort bin ich oft mit meiner Tochter hingegangen. Es ist vor zwei Jahren abgebrannt. Wohin die Exponate gekommen sind, weiß keiner. Wenn ich mich früher absolut für alles interessiert habe, so heute nicht mehr. Heut muss ich mich um unsere Wirtschaft kümmern, allein um zu überleben.“

Erzähler: Aber trotz allem, betont sie, bleibe der freundschaftsliebende Umgang der Menschen miteinander erhalten. Sicher nicht in der Stadt, aber hier im Ort. Das sei eben die russische Art: Einer helfe dem anderen. Das habe sie bei ihrer Reise nach Deutschland vermisst. Dort gebe es diese Beziehungen zwischen den Menschen nicht. Ja, ja, lacht sie, sie sei Deutsche mit russischer Seele. Was das bedeute? Das könne sie nicht erklären. Vielleicht gehe es einfach darum, sich mit anderen auszutauschen, mit jemand zu plaudern, und sei es nur, um fröhlich zu sein.

O-Ton11: Deutschstämmige in Nyrob (Lachen) (0,26)

Regie: Ton unter dem Erzählertext allmählich hervorziehen, stehenlassen, abblenden

Atmo6: Eintritt ins Kinderhaus Perm: Straßengeräusche, Pendeltüren, Hall im Foyer  (0,27)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Zurück in Perm. Nach all dem Widersprüchlichen, was ich ihr von Tscherdin berichtet habe, will Maya will mir etwas Aufbauendes vorführen: Das Kinderhaus der ehemaligen Leninwerke in der Arbeitervorstadt Materwelinski. 1500 Kinder werden hier auch heute noch in einer Art Vorschule versorgt. Die frühere Unterstützung durch die Werke musste allerdings der Eigenfinanzierung weichen. Der wirtschaftliche Existenzkampf ist hart und ungewohnt. Aber man schlägt sich durch. Härter ist der Kampf um das geistige Überleben: Alexander Wassiljew, der Leiter. erklärt seine Orientierung:

O-Ton12: Direktor des Kinderhauses (kräftige Stimme) (0,27)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Erzähler wieder hochziehen

Übersetzer: „Die wichtigste Aufgabe ist die seelisch-geistige Auferstehung Russlands. Unsere Kinder lernen die Bibel kennen, die Religionen. Wir haben sogar eine Sonntagsschule, mit Elementen von Etikette. Sie lernen auch unsere Gesetzessammlungen aus dem 19. Jahrhundert kennen. Sie hören, wer was geschrieben hat. Also, da ist alles: Etikette, Ästhetik, Ethik, aber – grob gesagt – in der Praxis, also, nicht nur erzählen wie in der Schule. Und alles geht durch das Spiel. Das heißt, wenn wir irgendein Fest durchführen, dann wird daraus schon ein Spiel, den Tisch dafür herzurichten, nicht einfach nur zu sitzen und Tee zu trinken. Nein, da kommt dazu die Aufgabe, wie das gemacht wird. Wie wird der Tisch gedeckt? Welche Bestecke legt man hin? Was zuerst und was dann? Wir haben da einen Witz: Wenn in der Sonntagsschule gefragt wird: Was ist unsere beliebteste Stunde? Teetrink-Stunde! (mit kindlicher Diktion – d.V.) Und: Was werden wir heute essen? (ebenfalls mit kindl. Diktion – d. Verf.)

Erzähler: Dabei, so der Direktor, verstehe er unter russisch alles, das, was einem Menschen teuer sei, der in Russland lebe. Das schließe alle Kulturen ein. Die Isolation eines Volkes von anderen könne es in einem Land, in dem hundert Völker miteinander leben müssten, gar nicht geben.
Etwas anderes mache ihm größere Sorgen:

O-Ton 13: Direktor, Forts. (0,17)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen. Achtung: Für das Hochziehen stehen nicht mehr als 5 sec. zur Verfügung.

Übersetzer: „Ich sehe auch die Gefahr, dass die Kinder von unserer heutigen Propaganda sehr erfasst werden, wonach jeder für sich allein sein Geld verdienen muss, sogar Kinder. Das sieht so aus, dass schon die Erstklässler Zeitungen verkaufen. Damit bin ich nicht einverstanden: Wenn wir ausländische Delegationen haben, dann sind die immer besonders erstaunt über die Aufmerksamkeit, die man sich bei uns gegenseitig schenkt, über die Kollektivität, das Hand-In-Hand-Gehen. Solche Ausführungen haben mich immer erwärmt. Und so war es: Kein Mensch lebte allein, sondern war immer einbezogen, also: wenn ich Tee trinke, und ich weiß da ist noch jemand, dann tue ich das nicht allein, dann sage ich: Komm, las uns zusammen Tee trinken. Jetzt ist es so: Ich habe ein Kaugummi gekauft – das kaue ich allein, ein Eis – das teile ich nicht. Diese Tendenz macht sich jetzt bei uns breit, bedauerlicherweise. Als Erzieher bin ich dagegen. Wir streben weltweit nach Frieden, gegenseitiger Achtung, Hilfe, Liebe und so weiter – und wir selbst gehen davon ab!“

Erzähler  Maya ist begeistert. Das sei Arbeit an der Wiedergeburt russsicher Kultur, meint sie. Auch unter den anderen Frauen, die mich hier herumführen, genießt Wassiljew hohes Ansehen. Im entscheidenden Punkt, der Frage Nationalismus kommt es allerdings doch zum Zwist:

O-Ton 14: Frauenrunde, Olenewna Michailowna (zarte, klare Stimme) (0,39)

Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Stop! Ich habe in der Schule gearbeitet! Ich habe das alles von innen gesehen. Kinder, russische Kinder! hassten tatarische und sonderten sich von den Tataren ab. Russische Kinder gaben jüdischen keinen Zutritt, ein Jude war für sie nichts. Als ich das erste Mal davon sprach, wurde ich vorgeladen, zum KGB. Sie glaubten mir natürlich nicht. Ich hab es ihnen zeigen müssen. Man brauchte ja nur hinzusehen, dann sah man, wie es wirklich um uns steht: Die Russen sind leider Chauvinisten geworden. Und bedauerlicherweise haben sie, weil sie die Mehrheit sind, irgendwie angefangen, die anderen zu unterdrücken. Das kam ganz von oben und hat sich allmählich bis unten durchgesetzt: Feindseligkeit gegenüber anderen Nationen, ihre Unterdrückung, Erniedrigung nach dem Motto: Wir sind die Besten. Wir haben doch die beste Metro der Welt, wussten Sie das? (lacht) Wir haben das schmackhafteste Eis, das Beste Ballet. Wir haben die schönsten Frauen. So sind wir erzogen. Und leider ist das wirklich so!“

Erzähler:  Es ist eine frühere Lehrerin, die so spricht, Olenewna Michailowna. Jetzt betreibt sie eine, im Westen würde man sagen, Boutique, wo sie das anbietet, was sie Volkskunst nennt. Ein bescheidener Ansatz, findet sie, das Eigene zu retten. Aber mehr sei zurzeit nicht drin.

Übersetzerin: „Heut geht es nicht um Vereinigung, sondern um eigenständige Wege. Ich war solange Mitglied in der Gewerkschaft, in der Partei usw. usw., also, konnte nicht machen, was ich wirklich wollte, dass ich heute erst mal keine neue Gruppe suche, erst recht keine patriotische Vereinigung, sondern die Möglichkeit, mich selbst entwickeln zu können, um mich selbst zu verstehen und erst einmal zu beweisen, ob ich überhaupt selbst etwas zustande bringe oder nicht.“

Erzähler: Das sage sie übrigens nicht, setzt sie leise hinzu, weil sie so ein guter Mensch, sondern weil ihr Mann Jude sei.

O-Ton: 15: Olenewna, Forts.  ((0,46)

Regie: Schluss des O-Tons hochziehen, stehenlassen

Erzähler: Widerstrebend stimmen die anderen Frauen zu. Nationalistin will hier niemand sein. Aber Galina ist trotzdem nicht einverstanden mit dieser Wendung:

O-Ton 16: Galina Britwina ((0,32)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun, ich bin auch ein russischer Mensch, aber ich weiß, was zu tun ist. Es stimmt einfach nicht, dass Russen nicht wissen wo es lang geht. Russen wissen alles. Die Sache ist nur so: Bei uns hat sich die Sphäre der Beschäftigungen verändert. Jetzt sammeln sich die Menschen, wie ich es bei uns im Haus sehe, mehr in Kollektiven, die philosophische Richtung haben, wo man spricht, nachdenkt, bei allen möglichen religiösen Richtungen, Yoga. Man beschäftigt sich mit der Kunst Rehrichs, mit der ‚lebendigen Ethik` von Helena Rehrich, seiner Frau, mit den Untersuchungen von Blawatskaja, mit dem russischen Kosmismus. Bei uns gibt es mehrere solcher Gruppen. Früher war uns das alles verschlossen, das war ja nur im Ausland bekannt. Jetzt erobern wir uns das alles zurück. Das ist ja alles echte russische Kultur!“

Erzähler:  In einem Punkt aber sind sich die Frauen einig:

O-Ton 16: Galina, Forts. (0,55)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „In der gegebenen Situation sind die Frauen (lacht), gewissermaßen gereift. Sie haben die Männer auf den zweiten Platz verdrängt. Sie erwiesen sich als stärker, auf moralischem Gebiet. Die Frauen sind tatkräftiger, sie sind überlebensfähiger als die Männer. Aus der einfachen Beobachtung meiner Bekannten, aus meiner Arbeit, aus dem Alltag rundherum scheint es mir klar, dass das zukünftige Russland ein Land für die Frauen sein wird.“

Erzähler: Von Galina führte der Weg direkt zu Nina Subbotina, „Poetessa“, ebenfalls ehemalige Mitarbeiterin am städtischen Kulturhaus. Sie gehöre zu den Erneuerungskräften Russlands, hatte mir Galina angekündigt.
Frau Subbottima belehrte mich zunächst heftig über den Unterschied von Faschismus und Nationalismus. Russischer Nationalismus könne nicht faschistisch sein, weil russischer Nationalismus die Idee des Vielvölkerstaates einschließe. Dann erklärte sich, mich mit einer soeben gegründeten „Partei der russischen Ethik“ bekannt machen zu wollen, die soeben aus der Bewegung der Rehrich-Gemeinden des Landes hervorgehe. In deren Programm würde ich alle meine Fragen beantwortet finden. Ohne sich lange mit eigenen Erklärungen abzumühen, begann sie aus dem Programmentwurf dieser Partei zu rezitieren. Da ich bereits wusste, dass praktisch in jeder größeren russischen Stadt heute eine Rehrich-Gemeinde existiert, hörte ich ihr aufmerksam zu:

O-Ton 17: Poetessa Subottima (starke Stimme) (0,30)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzertext (vor dem Erzähler) wieder hochziehen

Übersetzerin: „Menschen des russischen Landes! Die freche Ausplünderung des russischen Staates setzt sich fort. Glück, Gewissen, Ehre – alles wurde in Geld aufmessbar. Politisches Programm, die Unterordnung unter das goldene Kalb, liefern die vielen Völker Russlands neuem Leiden aus. Mit diesem Programm gibt es für Russland keine Zukunft. Politik und Wirtschaft sind ohne Ethik heut nicht mehr denkbar.“

Erzähler: Nach harten Worten über die Amoralität der herrschenden Macht, die auf die Nöte der einfachen Leute spucke und stattdessen volkfsfremden, aus dem Ausland importierten Rezepten folge, schließt die Anrede:

Übersetzerin: „Wir appellieren daher an alle Menschen auf russischem Boden, zu ihrer nationalen Moral zurückzukehren, die die Hoffnung und den Glauben des russischen Menschen getragen hat! Wir bitten darum, sich nicht weiter von unserer Philosophie des Volkes zu entfernen, mit der Russland tausend Jahre lebte! Unsere nationale Moral und die Philosophie des Volkes bringen das Interesse aller Schichten der Bevölkerung zum Ausdruck: der Arbeiter, der Intelligenz, der Krieger, der Geschäftsleute, der Pensionäre, der Jugend. Sie bedingen ein Programm der Stabilisierung der Wirtschaft, das ein Ende macht mit der Erniedrigung des Volkes und der Ausplünderung des russischen Staates.“

Erzähler:   Nationale Moral? Philosophie des Volkes? Ich ließ meiner Skepsis freien Lauf. Aber Frau Subbottima ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: Die moralischen Prinzipien, die es ermöglicht hätten, dass Russland über 1000 Jahre als Einheit habe existieren können, referierte sie weiter, seien aus der Tradition der russischen Obschtschina, der Bauerngemeinde geflossen, die weitaus älter sei als der Staat. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, wie Mitleid, Güte, Gastlichkeit, Herzlichkeit, Lauterkeit, Gerechttigskeitsliebe. Sie alle seien aus dem Leben in der „Obschtschina“ entsprungen. Sieben moralische Prinzipien träten darüber hinaus deutlich aus der alten russischen Morallehre hervor: Geduld, Achtung, Traditionsliebe, Verantwortung, Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Vergleichbarkeit und Offenheit.
Heute gehe es darum, sich für die Wiedergeburt der alten Moral der „Obschtschina“ einzusetzen, sie in Gesetze zu gießen und den Staat dadurch zu einem moralischen und lebendigen Organismus zu verwandeln.
Einen ganz besonderen Klang bekamen Frau Subottinas Äußerungen über die Rolle der Frauen in der von ihr gewünschten neuen Gesellschaft:

O-Ton 18: Poetessa, Forts. (0,24)

Regie: Ton kommen lassen, nach der Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Nicht alles ist so, wie es scheint. Die Achtung für den Mann gab es in Russland immer. Aber das hieß so: `Der Mann ist das Haupt, die Frau ist der Hals, wohin sie will, dahin wendet er sich!‘ Bei uns ist es unmöglich, dass der Mann nicht das Haupt ist. Wenn die Frau das Haupt ist, werden sie nicht glücklich, nie. Die Frau unterwirft sich dem Mann, sexuell, im Alltag und bei der Erziehung der Kinder, in der Art: Papa hat recht. Aber sie macht es so fein und so klug, dass er alles tut, was notwendig ist.“

Erzähler: Immer wieder in der Geschichte Russlands hätten die Frauen die Männer vertreten müssen, die als Krieger hinaus mussten. Deshalb seien die Frauen so stark geworden. Und was die Männer betreffe, so Frau Subottina, falle ihre kriegerische Erziehung, angefangen bei der Erziehung der Knaben durch die Mütter mit unter die Gebote der nationalen Moral:

O-Ton 19:Poetessa, Forts. (0,25)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen. Achtung: Für das Hochziehen stehen nur fünf sec. zur Verfügung!

Übersetzerin: „Wir können nicht auf die allgemeine Wehrpflicht verzichten und uns allein auf eine professionelle Armee stützen. Das würde bedeuten, unserem Land heute die Kräfte zu rauben, ohne die wir morgen Russland verlieren könnten. Selbst wenn auf dem Planeten der Pazifismus siegte, müsste die Armee als Schule der Männlichkeit für immer weiterbestehen…

Erzähler: Mit einem Ausblick auf die „Mystik der russischen Wiedergeburt“ entließ sie mich schließlich in die Zukunft:

Übersetzerin:  „Wenn sich alle um die Verwirklichung der ethischen Prinzipien bemühen, dann wird Russland zu einer Zivilisation neuen Typs und durch Russland werden auch die übrigen Völker gerettet. Dann kann Russland in ganzer Größe wiederauferstehen, um hinter sich die Völker zu versammeln, die berufen sind zur Herausbildung einer neuen Rasse von Mensch – dem ‚homo moralis`, dem moralischen Menschen.“

Athmo 7: Moskauer Metro, kommt an(0,45)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, kurz stehen lassen, langsam abblenden

Erzähler:  Moskau. Die Welt von Perm ist wieder am Ural versunken und mit ihr die der Frau Subbottina. Eine Skurrilität, könnte glauben, von der aus man zu den wichtigen Fragen der Tagesordnung übergehen muss. Dass dem nicht so ist, begriff ich spätestens im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ Gennadij Schuganow. Er will alle Kräfte der „unversöhnlichen Opposition“ gegen die bestehende Regierung führen, gleich ob links, rechts, vaterländisch oder religiös motiviert, wenn sie nur ein einem einer Meinung sind: dem Wunsch nach der Widerherstellung der russischen Größe mit der einzigen Einschränkung, das dies auf friedlichem und staatsbejahendem Wege zu erfolgen habe. Seine eigene Begründung dafür klingt bei allen sonstigen Differenzen, als sei sie von Frau Subottina und anderen Verteidigern einer russischen Ethik persönlich diktiert:

O-Ton 20: Gennadij Schuganow, Führer der KPRF (0,17)

Regie: stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen

Übersetzer: „Wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie der „Obschtschina“, kollektivistisch, ökumenisch, korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.“

Erzähler:  Schließlich erklärte, Boris Kagarlitzki, ein überzeugter Radikaldemokrat, die Reform-Linke werde sich um ein national ausgerichtetes populistisches Programm sammeln müssen, wenn sie verlorenes Terrain wiedergewinnen wolle. Als er mir auch noch ein frisch fertig gestelltes Manuskript über die „russische Restauration“ in die Hand drückte, wurde mir klar, dass die Suche nach dem eigenen russischen Weg in ein neues Stadium tritt.

Athmo 8: Metro, fährt ab (1,07)

Auf der Suche nach dem Russischen

Atmo 1: Straßenszene in St. Petersburg (0,30)

Regie: O-Ton langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.

Erzähler: Russland, Herbst 1994, St. Petersburg. Vertreter der sogenannten unversöhnlichen Opposition agitieren auf der Straße. Die Frau erregt sich über „Okkupanten aus dem Westen“. Sie fordert: „Russland für das eigene Volk!“. Es geht um die Nation, um die Wiedergeburt des Russischen, um die „Rus“. Was das ist, kann mir niemand hier auf der Straße beantworten.

Atmo 2: Kirche in Perm, Litanei und Chor (0,32)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler: Die Stadt Perm im Ural. Hier könne ich das                 „wahre“ im Original Russland erleben, hatten mir Freunde empfohlen. Die wiedereröffnete Kirche ist der erste Ort, den Galina Britwina, Direktorin des städtischen Kulturhauses, mir zeigt. Anschließend geht es in die Staatsgalerie: Meisterwerke der Ikonenmalerei, eine Sammlung monumentaler geistlicher Holzplastiken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert sind hier aus der Permer Region zusammengetragen, die immerhin fast die Größe Deutschlands hat. Einem prachtvollen Bildband über die Permer Holzskulpturen, den Galina mir schenkt, sind ein paar Angaben zu entnehmen, die das Besondere dieses Raums ahnen lassen:

Übersetzer:  „Perm: eine Region im Abseits der Geschichte.                 Erst im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wurde die Gegend christianisiert. Aber schon Mitte des 16. Jahrhunderts war sie ein Zentrum der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Ikonenmalerei. Von hier gingen Impulse zur Reichserneuerung aus, die die „Smuta“, die Zeit der Wirren nach dem Ende der ersten Dynastie, beendeten und die neue Dynastie der Romanows begründeten.“

Erzähler:  Also, beinah russischer als die „Rus“, lächelt     Galina, das Russland der ersten Periode, bevor es von den Mongolen überrannt wurde. Galina hofft auf Impulse der Erneuerung wie zu Zeiten der historischen „Smuta“:

O-Ton1: Galina Britwina, Direktorin des Kulturhauses Perm (0,48)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Jetzt sind alle verwirrt. Jetzt wissen die Leute                 nicht, womit sie sich befassen sollen, was vorgeht im Lande, was in der Wirtschaft geschieht. Jetzt geht der Kampf ums Überleben: wie durchkommen und nicht verhungern. Aber ich denke, dass der Mensch nach einer gewissen Zeit für sich einen Platz in der Gesellschaft findet, und sich dann mit dem befassen wird, was ihm entspricht. Und in der Politik werden Leute kommen, die für unser Russland leiden und nicht solche, wie wir sie jetzt sehen.“

Atmo 3: Ankunft in Tscherdin (0,38)

Regie: Langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.

Erzähler: Die zweite Station ist Tscherdin, ein Ort weit im  Norden, das alte Zentrum der Permer Region, ein Wallfahrtsort für viele, die auf der Suche nach der russischen Kultur sind. Von hier und aus den umliegenden Dörfern stammen auch viele der Ikonen und Holzplastiken der Staatsgalerie Perms.
Malerisch klettern Holzhäuser in alter russischer Bauweise die Hügel vom Fluss, der Kama, herauf. Oben auf dem Kammweg, der alten Hauptstraße, verbreiten steinerne Bürgerhäuser den spröden Glanz vergangenen Reichtums. Zahllose Zwiebeltürme werden sichtbar, sechzehn oder siebzehn Kirchen seien es, hatte Galina mir vorher angekündigt. Eine Babuschka, die ich frage, warum es so viele Kirchen in einem so kleinen Ort gebe, erklärt:

O-Ton 2: Babuschka  (0,19)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Es ist eine alte Stadt. War ein Handelszentrum.                 Früher gab es hier Kaufleute. Die haben die Kirchen gebaut, für ihren eigenen Gottesdienst. Die hatten eigene Schiffe und Häuser. Sie haben alles selbst herangeschafft, zusammengekauft, gehandelt. Die gaben dem Volk damals etwas, die haben für das Volk gesorgt. Jetzt gibt keiner mehr eine Kopeke.“

Erzähler: Ein paar Straßen weiter begegnen uns zwei junge                 Mädchen:

O-Ton3: Junge Mädchen in Tscherdin (0,25)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der zweiten Übersetzerin wieder hochziehen. (Hier ist das Ende des O-Tons ist identisch mit dem Ende des Zitats: „… alles vertraut.“)

Übersetzerin: „Nun, die Stadt steht auf sieben Hügeln. Das                 wissen doch alle. Wie Moskau zum Beispiel oder wie Rom. Deshalb hat sie einen besonderen Wert, eine lange Geschichte. Interessant.“

Erzähler: Woher sie das wüssten? Aus der Schule, natürlich!                 Und ob sie hier leben wollten?

Übersetzerin:  „Aber ja, hier sind doch unsere Freunde, unsere                 Bekannten. Ich hoffe, dass wir hier leben können und nicht auswandern müssen. Hier ist uns alles vertraut.“
Erzähler Die weiteren Erkundungen in Tscherdin ergeben ein  eher nüchternes Bild: das Touristenhaus für Jugendliche ist geschlossen. Es kommt niemand mehr. Die historischen Reichtümer der Gegend, die früher im Museum versammelt waren, sind fortgeschafft. Niemand weiß, wohin. In einem der benachbarten Dörfer, Nyrob, noch weiter abseits von befahrbaren Straßen, ebenfalls für seine Kirchen bekannt, entdecke ich die andere Seite der Region: die „Zonen“. So werden Stalins Gulags heute genannt. Mindestens neun seien es rund um das Dorf, rechnen mir die Befragten an ihren Fingern vor. In der Region seien es noch mehr. Aber das wisse man am besten gar nicht so genau!
Die Permer Region, erfahre ich, war nicht nur ein Zentrum der Altgläubigkeit, sondern schon zu Zeiten der Zaren Verbannungsort und Strafkolonie. Peter der I. machte das Uralgebiet außerdem zur Erzgrube des Imperiums, die Sowjets machten es zum atomaren Übungsgelände. Die meisten der von mir Befragten kümmert weder das eine, noch das andere: Sie sind, wie Galina schon richtig sagte, mit dem Überleben beschäftigt. Die Wiedergeburt russischer Kultur erweist sich als Traum, für den vor Ort Zeit und auch Geld fehlt. Die Wiederherstellung der Würde des russischen Menschen aber fordern ausnahmslos alle.

Atmo4: Straßengeräusche, Pendeltüren, Hall im Foyer  (0,27)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Zurück in Perm. Nach all dem Widersprüchlichen, was ich ihr von Tscherdin berichtet habe, will Galina mir etwas Aufbauendes vorführen: Das Kinderhaus der ehemaligen Leninwerke in der Arbeitervorstadt Materwelinski. 1500 Kinder werden hier auch heute noch in einer Art Vorschule versorgt. Die frühere Unterstützung durch die Werke musste allerdings der Eigenfinanzierung weichen. Der wirtschaftliche Existenzkampf ist hart und ungewohnt. Aber man schlägt sich durch. Härter ist der Kampf um das geistige Überleben: Alexander Wassiljew, der Leiter, erklärt seine Orientierung:

O-Ton4: Direktor des Kinderhauses (0,27)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Die wichtigste Aufgabe ist die seelisch-geistige Auferstehung Russlands. Unsere Kinder lernen die Bibel kennen, die Religionen. Wir haben sogar eine Sonntagsschule. Da gibt es alles: Ästhetik, Ethik – und das wirklich in der Praxis, also, nicht nur durch Erzählen wie in der Schule. Alles geschieht im Spiel.“

Erzähler: Weniger spielerisch geht es bei Nina Subotina zu, „Poetessa“, ehemalige Mitarbeiterin am städtischen Kulturhaus, die mich mit einer soeben gegründeten „Partei der russischen Ethik“ bekannt macht:

O-Ton 5: Poetessa Subottima (0,28)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Menschen des russischen Landes! Die freche                 Ausplünderung des russischen Staates setzt sich fort. Wir appellieren daher an alle Menschen auf russischem Boden, zu ihrer nationalen Moral zurückzukehren, sich nicht weiter von der Philosophie unseres Volkes zu entfernen, mit der Russland tausend Jahre lebte! Unsere nationale Moral und die Philosophie des Volkes bringen das Interesse aller Schichten der Bevölkerung zum Ausdruck: der Arbeiter, der Intelligenz, der Militärs, der Geschäftsleute, der Pensionäre, der Jugend. Sie bedingen ein Programm der Stabilisierung der Wirtschaft, das ein Ende macht mit der Erniedrigung des Volkes und der Ausplünderung des russischen Staates.“

Erzähler:   Kern der „nationalen Moral“, so Frau Subottina, sei das „Prinzip Obschtschina“, also der alten russischen Bauerngemeinde. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes. Heute gehe es darum, sich für die Wiedergeburt der alten Moral der „Obschtschina“ einzusetzen, sie in Gesetze zu gießen und den Staat dadurch in einen moralischen und lebendigen Organismus zu verwandeln.

Atmo 5: Moskauer Metro, kommt an(0,45)

Regie: Kurz stehen lassen, langsam abblenden

Erzähler: Moskau. Die Welt von Perm liegt hinter uns und mit ihr die der Frau Subottina. Eine Skurrilität, könnte man glauben, von der aus man zu den wichtigen Fragen der Tagesordnung übergehen muss. Dass dem nicht so ist, begreife ich spätestens im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ Gennadij Schuganow. Er will alle Kräfte der „unversöhnlichen Opposition“ gegen die bestehende Regierung führen und hat Aussichten, dies zu schaffen, gleich ob links, rechts, vaterländisch oder religiös motiviert, wenn sie nur in einem einer Meinung sind: dem Wunsch nach der Widerherstellung der russischen Größe. Es gilt nur eine einzige Einschränkung: dass dies auf friedlichem und staatsbejahendem Wege zu erfolgen habe. Schuganows eigene Begründung klingt wie von Frau Subottina diktiert:

O-Ton 6: Gennadij Schuganow, Führer der KPRF (0,17)

Regie: stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen. (Hier stimmt letzter O-Ton mit letztem  Wort des Zitats überein)

Übersetzer: „Wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte                 Psychologie der „Obschtschina“, kollektivistisch, ökumenisch, korporativ. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.“

Erzähler:  Als mir dann auch noch ein überzeugter Radikaldemokrat, Boris Kagarlitzki, erklärt, die Reform-Linke werde sich um ein populistisches Programm zur Rettung Russlands sammeln müssen, wenn sie verlorenes Terrain wiedergewinnen wolle und mir ein frisch fertig gestelltes Manuskript über die „russische Restauration“ in die Hand drückt, wird mir klar, dass die Suche nach dem eigenen russischen Weg in ein neues Stadium tritt.