Kategorie: Feature/Radio

Von 1989 bis 2004 habe ich ca. 100 Radiofeatures zur nachsowjetischen Entwicklung in Russland und deren lokelen und globalen Folgen erstellt. Sie basieren auf Gesprächen und Untersuchungen, enthalten daher eine Fülle authentischen Materials, das ich Ihnen hiermit zugänglich mache.

Sie finden die Features in der chronologischen Reihenfolge Ihrer Erstellung. Gezielte Informationen können Sie sich durch die Suchfunktion erschließen. Die Audiofassungen liegen mir als Kassetten vor. Wer Interesse an der Audiofassung hat, möge sich melden.

Babuschkas Töchter: Überlebensgemeinschaften – Frauensache

Russland ist in tiefem Wandel begriffen. Jahr für Jahr prognostizieren Statistiker den endgültigen Zusammenbruch des krisengeschüttelten Landes – Jahr für Jahr bleibt er aus. Wie ist das möglich? Eine Antwort bekommt man bei Russlands Frauen. Sie sind es, die den Alltag des Familienlebens in Gang halten. Die Männer, schlecht bezahlt, gar nicht bezahlt oder ganz auch arbeitslos, kommen mit der Situation, in der sie nicht mehr in der Lage sind, die Familie zu ernähren,  nicht zurecht, sie trinken, sie ziehen sich aus der Verantwortung zurück.
Frauen tragen aber nicht nur die Hauptlast der Krise, sie sehen sich auch generell als die Klügeren und die Stärkeren. Frauen, so argumentieren Frauen, hätten diese Fähigkeiten von Natur. Von Natur aus Mutter, seien sie in der heutigen Situation, in der die Männer schwach werden, genetisch prädestiniert, das Überleben des Volkes zu garantieren, indem sie das Überleben der Familien organisieren, Kultur und Bildung auf ihren Schultern tragen und sogar die patriotische Erziehung übernehmen. Vor diesem Hintergrund bekommen die Erkenntnisse jener Soziologen und Ökonomen Russlands ihre Bedeutung, welche die Frage, warum die russische Bevölkerung trotz langandauernder Krise bisher nicht hungert, neuerdings mit dem Hinweis auf den „informellen“ oder wie sie sagen „expolaren“ Charakter der russischen  Wirtschaft beantworten, den sie in der Symbiose zwischen Familienwirtschaft und wirtschaftlichen Großstrukturen sehen. Familienwirtschaft, das ist im Kern Frauenwirtschaft. Ob diese neuen Erkenntnisse der Soziologen die russische Regierung mehr überzeugen als die bisherigen Privatisierungsrezepte des Internationalen Währungsfonds, bleibt abzuwarten. Würden die Verantwortlichen in der Regierung auf sie hören, dann wären sie in der Lage, die mächtigste Kraft ihres Landes für eine Gesundung Russlands zu mobilisieren: Millionen Frauen, die am Wohl und der Entwicklung ihrer Kinder interessiert sind.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de/Bücher
In meinen Büchern finden Sie die Rolle der Frauen ausführlich dargestellt und analysiert
Russian Feminism
Bei Russian Feminism können Sie Organisationen, Konferenzen und Literatur abrufen.

Babuschkas Töchter
Überlebensgemeinschaften – Frauensache

Russland ist in tiefem Wandel begriffen. Jahr für Jahr prognostizieren Statistiker den endgültigen Zusammenbruch des krisengeschüttelten Landes – Jahr für Jahr bleibt er aus. Wie ist das möglich? Eine Antwort bekommt man bei Russlands Frauen. Sie sind es, die den Alltag des Familienlebens in Gang halten. Die Männer, schlecht bezahlt, gar nicht bezahlt oder ganz auch arbeitslos, kommen mit der Situation, in der sie nicht mehr in der Lage sind, die Familie zu ernähren,  nicht zurecht, sie trinken, sie ziehen sich aus der Verantwortung zurück.
Frauen tragen aber nicht nur die Hauptlast der Krise, sie sehen sich auch generell als die Klügeren und die Stärkeren. Frauen, so argumentieren Frauen, hätten diese Fähigkeiten von Natur. Von Natur aus Mutter, seien sie in der heutigen Situation, in der die Männer schwach werden, genetisch prädestiniert, das Überleben des Volkes zu garantieren, indem sie das Überleben der Familien organisieren, Kultur und Bildung auf ihren Schultern tragen und sogar die patriotische Erziehung übernehmen. Vor diesem Hintergrund bekommen die Erkenntnisse jener Soziologen und Ökonomen Russlands ihre Bedeutung, welche die Frage, warum die russische Bevölkerung trotz langandauernder Krise bisher nicht hungert, neuerdings mit dem Hinweis auf den „informellen“ oder wie sie sagen „expolaren“ Charakter der russischen  Wirtschaft beantworten, den sie in der Symbiose zwischen Familienwirtschaft und wirtschaftlichen Großstrukturen sehen. Familienwirtschaft, das ist im Kern Frauenwirtschaft. Ob diese neuen Erkenntnisse der Soziologen die russische Regierung mehr überzeugen als die bisherigen Privatisierungsrezepte des Internationalen Währungsfonds, bleibt abzuwarten. Würden die Verantwortlichen in der Regierung auf sie hören, dann wären sie in der Lage, die mächtigste Kraft ihres Landes für eine Gesundung Russlands zu mobilisieren: Millionen Frauen, die am Wohl und der Entwicklung ihrer Kinder interessiert sind.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de/Bücher
In meinen Büchern finden Sie die Rolle der Frauen ausführlich dargestellt und analysiert
Russian Feminism
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Babuschkas Töchter (Teil 1) Überlebensgemeinschaften – Frauensache

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Anfang und Ende der O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 1)
Überlebensgemeinschaften – Frauensache.

Vortext:
Russland ist in tiefem Wandel begriffen. Alte Strukturen lösen sich auf, neue sind noch nicht wieder entstanden. Eine Minderheit der Bevölkerung badet in neuem Reichtum, die Mehrheit kämpft um das tägliche Überleben. Jahr für Jahr prognostizieren Statistiker den endgültigen Zusammenbruch des krisengeschüttelten Landes – Jahr für Jahr bleibt er aus. Wie ist das möglich? Eine Antwort auf diese Frage bekommt man nicht aus den Statistiken, nicht von Ökonomen, auch nicht von der Regierung. Man bekommt sie bei Russlands Frauen.
Man bekommt sie von einer Frau wie Rita Gurjewa. Sie lebt in Tscheboksary an der Wolga. Eigentlich ist sie Puppenschauspielerin, vornehmlich für Kinder, an einer städtischen Bühne; zur Zeit ist sie beschäftigungslos, da die Stadt kein Geld hat. Ihr Mann ist ebenfalls arbeitslos. Die beiden Kinder, zehn und vierzehn Jahre alt, gehen zur Schule. Rita beschreibt ihren Alltag so:

O-Ton 1:         0,31
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Na srawnennije…
„Im Vergleich zum letzten Jahr ist es schlechter geworden; mit dem Geld war es besser, mit der Schule war besser. In diesem Jahr ist es sehr schlecht. Von meiner Arbeit bekomme ich so gut wie kein Geld. Das bisschen, das ich bekomme, reicht nicht einmal für die Miete. Wir leben nur von der Datscha.“
…na schot etawa.“

Erzähler:
Die Datscha – das sind fünfhundert Quadratmeter Land dreißig Kilometer außerhalb der Stadt, wo Rita im Frühjahr Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Gurken und anderes gepflanzt hat, um die Familie durch den Winter zu bringen. Aber selbst für die Fahrt zur Datscha reicht das Geld oft nicht; nicht für den Bus und schon gar nicht für ein Auto. Da muss der Bruder helfen, die Schwägerin, die Großmutter; da helfen auch mal die ausländischen Gäste, die ein bisschen Geld ins Haus bringen. Bei solchen Gelegenheiten schleppt Rita – schwer bepackt mit Rucksack, Eimern und Taschen –  Kartoffeln, Wurzeln oder Gemüse gleich für mehrere Wochen mit in die Stadt. Einen Teil davon, gesteht sie verlegen, hat sie dieses Mal gleich auf dem Markt verkauft, um wenigstens etwas Bargeld zu haben:

O-Ton 2: Rita, Forts.         0,40
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Lachen, tschesna gawarja…
„Nun, ehrlich gesagt, ich muss Schulden abtragen. Aber es war natürlich peinlich. Verkaufen! Die Leute kennen einen ja. Hallo, guten Tag! Wie geht´s? Ach, Mohrrüben verkaufst Du? Eigentlich muss es nicht peinlich sein, es ist ja aus eigener Arbeit. Aber man hat doch seinen Beruf! Das ist schwer. Mir kamen sogar die Tränen. Aber dann habe ich mich zusammengenommen. So oder so ist es deine Arbeit, sagte ich mir, beruhige dich.“
…setim, Flüstern..“

Erzähler:
Kolja, Ritas Mann, ist kaum zu Hause. Rita kümmert sich um die Wohnung, die Kinder, die Datscha. Auch die Einquartierung der Gäste besorgt  sie. Wenn Kolja zu Hause ist, zieht er sich ins Schlafzimmer zurück. Sie ist Organisatorin, Ernährerin und Seele der Familie.
Wie Rita geht es vielen Frauen, deren Männer arbeitslos sind oder die so wenig verdienen, dass die Familien davon nicht leben können. Die Datscha, oft auch nur ein kleines Stückchen Land am Stadtrand, in den Dörfern der Hausgarten werden von ihnen bewirtschaftet. Oft sind es die Großmütter, welche die Gärten bearbeiten oder auch bei Wind und Wetter mit den Kleinkindern draußen wohnen. „Datschniki“ bearbeiten dreiviertel aller russischen Kartoffelanbauflächen; darauf werden 80% aller Kartoffeln geerntet. In speziellen Krisengebieten, etwa dem Kohlerevier Kussbass, das innerhalb weniger Jahre von einem der wohlhabendsten zum sozial schwächsten Gebiet Russlands wurde, ist die Ausnahme bereits zur Regel geworden. Gefragt, wie sich die Situation für die Frauen verändert habe, antwortet Natalja Dadom, Ehefrau eines Bergarbeiters, seit kurzem selbst auch beruflich tätig als regionale Beraterin in dem für Russland neuen Beruf des Polit-Consulting :

O-Ton 3: Natalja Dadom                                         0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Ho! snajesch…
„Die Situation hier im Kemerowo Gebiet hat sich grundlegend verändert: Bergarbeiter – das war früher Vater und Ernährer. Heute bekommen die Ernährer noch nicht einmal den Lohn vom Vorjahr. Aber die Familie muss leben! Das Überleben lastet daher heute vollkommen auf den Frauen. Bei mir ist es, dank meines Mannes, ein bisschen anders gelaufen. Wir saßen auch ohne Geld, aber nie ohne Hoffnung. Dass wieder etwas kommt. Wolodja konnte Geld ranschaffen; er brachte Fleisch, brachte Lebensmittel, ich musste nie raus. Aber in meinem ganzen Bekanntenkreis tragen fast überall die Frauen die Last; sie sind alle verantwortlich für das Überleben der Familie, alle! Die Männer kommen mit der Situation nicht zurecht, sie trinken, sie laden die Verantwortung voll und ganz den Frauen auf.“
…na dschenschinu.“

Erzähler:
So stellt Natalja die Situation dar, als ihre zwölfjährige Tochter und ihr Mann zuhören; wenig später, ohne Tochter und ohne Mann, dafür in der Gesellschaft zweier Freundinnen aus dem nahen Nowosibirsk, die eine Ärztin, die andere Psychotherapeutin, auch sie verheiratet, auch sie Mütter, findet Natalja andere Worte. Nun könne sie freier sprechen, erklärt sie:

O-Ton 4: Natalja Dadom, Forts.                         1,32
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzung:
„Prosta ja…
„Ich sehe mich heute damit konfrontiert, dass die Frauen nicht nur für sich etwas tun, sondern auch noch die Männer stimulieren müssen. Zum Beispiel in meiner Familie musste ich ziemlich kämpfen, nun sagen wir nicht kämpfen, sondern geschickt manövrieren, meinen Mann irgendwie dahin zu bringen, endlich rauszugehen, um Geld zu verdienen. Es gab Augenblicke, wo es effektiv nichts zu essen gegeben hätte, wenn ich nicht losgezogen wäre, um etwas zu besorgen. Aber Geld ranzuschaffen, ist seine Sache, das habe ich ihm klar gemacht. Wenn er nicht ein Stück Fleisch in die Familie bringt, dann wird es kein Fleisch geben. Meine Freundinnen waren erst schockiert, als ich ihnen sagte, wie ich es mache, aber dann sahen sie auch, dass es so richtig ist, dass man den Mann erst auf den Weg bringen muss. Jungs werden heute nicht richtig für die Familie erzogen. Niemand zeigt ihnen, wie sich ein echter Mann in der Familie verhalten muss. Ich habe es in der Schule gesehen, wo ich gearbeitet habe, da gibt es viele Familien, in denen die Väter einfach nicht anwesend sind; für das Überleben der Familie ist allein die Mutter verantwortlich.“
…tolka matj.“

Erzähler
Befragt, was sie unter einem „echten Mann“ verstehe, antwortet sie:

O-Ton 5: Natalja Dadom, Forts.                           0,27
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, mnje kaschetsja…
„Nun, ich weiß ja nicht, wie die Familie  bei Ihnen aufgebaut ist, aber unser Leben wird sich noch lange darauf ausrichten, dass der Mann der Ernährer ist, obwohl es im Leben real genau umgekehrt ist.: Die Ernährerin ist die Frau.“
… skladewitsja padrugomom.“

Erzähler:
Herrschende patriarchale Ideologie und Realität klaffen auseinander. Daran lässt Natalja keinen Zweifel. Ihrer doppelten Redeweise, die für Mann und Tochter eine andere Realität beschreibt als im Kreis ihrer Freundinnen, ist sie sich voll bewusst. Sie begründet ihre Vorgehensweise mit den Verhältnissen, die ihr keine andere Wahl ließen:

O-Ton 6: Natalja Dadom, Fortsetzung                            0,37
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Vot eta situatia…
„Es ist so: Viele Männer stimmen im Prinzip zu, aber es gibt einige Spielregeln, gibt bestimmte soziale Rollen, die sind sehr scharf aufgeteilt. Wenn Du diese Regeln verletzt, dann wirst du bestraft und zwar sehr brutal. Wenn ich in der männlichen Welt, in der ich mich seit kurzem bewege, mein weibliches Wesen einbringen will, dann geht das nicht, dann wird man dafür sehr schmerzhaft geprügelt: Entweder du spielt nach deren Regeln oder du spielst überhaupt nicht!“
… wa-absche.“

Erzähler:
Die beiden Freundinnen Nataljas stimmen ihren Ausführungen vorbehaltlos zu. „Im Grunde schleppen wir die Männer mit durch“, meint die Ärztin, „wenn ich könnte, würde ich mich heute sofort scheiden lassen.“ „Wenn du dem eigenen Mann solche Dinge sagst“, ergänzt die Psychologin, „beginnt ein offener Krieg. Und Krieg“, setzt sie kühl hinzu, „endet üblicherweise mit Mord.“ Das könne doch niemand wollen.
Natalja schließt diesen Disput über die richtige Taktik mit den Worten:

O-Ton 7: Natalja Dadom, Fortsetzung                                0,47
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzerin:
„Ty snaesch…
„Mir scheint, dies ist nicht der Weg der Schwäche, es ist der Weg der Selbsterhaltung, der Versuch, die Familie zu bewahren. Man kann ja über alles mögliche reden, Freiheit, überhaupt demokratisches Leben, aber man muss auch die Situation von großen und kleinen Städten berücksichtigen. Und wenn es in Großstädten normal sein mag, geschieden, allein zu leben, so ist das in der Atmosphäre einer kleinen Stadt sehr unangenehm. Da ist es besser, die Familie zu erhalten. Das Kind kann man nicht allein lassen. Man muss eben für viele Dinge bezahlen. So ist das.“
…486 …nada platitj.“

Erzähler:
Frauen tragen nicht nur die Hauptlast der Krise, sie sind auch stärker und klüger als die Männer, das kann man von vielen russischen Frauen heute hören. Selbst in Perm, einer Gegend Russlands kurz vor dem Ural, wo sonst viele Uhren langsamer laufen als an der weltoffenen Wolga oder in im krisengeschüttelten Kussbass, sind solche Ansichten durchaus Standard. Und nicht nur das, in Perm, kann man auch Begründungen hören, warum das so ist: Galina Britwina, Leiterin eines städtischen Kulturhauses, die sich mit anderen Permer Frauen zur aktiven Bewahrung russischer Kultur zusammengeschlossen hat, eröffnet ihren Besuchern sanft, aber bestimmt:

O-Ton 8: Galina Britwina                  0,47
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„We dannije situatije…
„Nun in der gegebenen Situation haben sich die Grauen gewissermaßen ermannt, sind reifer geworden. Sie haben die Männer auf den zweiten Platz verwiesen: Sie zeigten sich in moralischer Hinsicht als die Stärkeren, sie haben den stärkeren Willen, sie sind überlebensfähiger als die Männer. Das sage ich nicht als Theoretikerin, sondern als Praktikerin. Aus der Beobachtung unter Nächsten, Verwandten und Bekannten ergibt sich für mich so ein Bild, dass das zukünftige Russland ein Land der Frauen sein wird.“
…Mnje kaschetsja.“

Erzähler:
Die russischen Männer seien ebenfalls stark und auch klug, versichert Frau Britwina in dem Bemühen, Russland nicht in schlechtem Lichte erscheinen zu lassen; Jedoch, schränkt sie dann vorsichtig ein, fehle ihnen die Weisheit der Frauen. Unter Weisheit versteht Frau Britwina:

O-Ton 9: Galina Britwina, Forts.                               0,33
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Eta, vidit nemnoschitschka…
„Ein kleines bisschen weiter zu sehen, in der Schachsprache ausgedrückt, um einige Züge weiter, in der Sprache des Lebens, um einige Jahre weiter: Nach vorne schauen in die Zukunft, Situationen vorhersehen und Auswege finden, wenn die Situation schwierig wird. Wenn es kritisch, wenn es schwierig wird, leichtere Wege finden.“
…bolje lochki.“

Erzähler:
Frauen, so die Kulturorganisatorin, hätten diese Fähigkeiten von Natur. Damit, findet sie, sei doch eigentlich alles gesagt. Eine ältere Mitarbeiterin des Kulturhauses, Maya, die in das Gespräch hineinplatzt, ist nicht so zurückhaltend. Heftig auf das Mikrofon eindrängend, führt sie Frau Britwinas Gedanken fort:

O-Ton 10: Maya                                    0,29
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Jenschina at priroda…
„Hören Sie! Die Frau ist von Natur aus Mutter. Schon in ihren Genen liegt der Zug zum Bewahren, Leben zu stiften, Kinder zu behüten, das Volk fortzupflanzen. Das ist ein genetischer Code. In der heutigen Situation, in der die Männer schwach werden, hütet die Frau diesen Code und strebt nach Verwirklichung ihrer Funktion. Das ist Natur.“
… eta priroda.“

Erzähler:
„Sehen Sie doch die politische Situatuion!“ fährt Maya fort. Die Männer hätten faktisch die führende Rolle verloren. Das kein offener Kampf,  aber:

O-Ton 11: Maya, Forts.                                0,26
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„No dschenschina…
„Die Frauen sind stärker: Unter den Intellektuellen, in der Medizin, in den Wissenschaften, Ökonominnen, Ingenieurinnen, fast in allen Berufen haben sie starke Positionen und als Politikerinnen sind sie weiser, weil sie menschlicheren Bezüge zum Leben haben, weil sie voraussehen. Das ist angelegt: schützen, bewahren.“
… uberetsch.“

Erzähler:
Nach dieser flammenden Parteinahme für die Überlegenheit der Frau, wie Maya sie versteht, lässt auch Frau Britwina ihre Zurückhaltung etwas fallen und schließt das Gespräch einem Scherz. Natürlich sei das nur ein Witz, lacht sie, aber im Prinzip stimme sie dem schon zu:

O-Ton 12: Galina Britwina, Forts.         0,17
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
Lachen, „Eta schutka…
„Unsere Männer stammen vom Affen ab. Die Frauen aber kommen aus dem Kosmos. Sie wurden von Gott erschaffen. Deshalb sind die Frauen bei uns so.“
…takije.“

Erzähler:
Bei Frau Subotta, Dichterin und Gründungsmitglied einer „Partei der russischen Ethik“ wird das, was Frau Britwina noch als Scherz relativiert, zum patriotischen Ernst. Nach Ansicht der Dichterin stellen sich im aktuellen Überlebenskampf der russischen Bevölkerung jene traditionellen Beziehungen von Männern und Frauen wieder her, die Russland als Imperium hätten groß werden lassen. In Russland sei immer der Mann verehrt worden, erklärt sie, aber nicht alles sei so, wie es scheine. Das Geheimnis der russischen Seele liege in dem Satz:

O-Ton 13: Dichterin Subotta                                       0,35
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach dem Spruch bei „povernjot“ vorübergehend hochziehen, danach abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Muschina galawa…
„Der Mann ist das Haupt, die Frau ist der Hals, wohin der Hals will, dahin beugt sich der Kopf.“
…povernjot.“

Erzähler:
„Es ist bei uns nicht möglich, dass der Mann nicht das Haupt ist“, fährt sie fort. „Wenn die Frau sich in der Familie zum Haupt macht, dann wird es dort kein Glück geben, niemals. Die Frau unterwirft sich dem Mann, sexuell, im Alltag, in der Erziehung der Kinder; sie sagt, `Papa hat Recht´, aber sie sagt es so fein und so weise, dass Papa genau das tut, was nötig ist.“
…kak nada.“

Erzähler:
Die Überzeugung von der weiblichen Fähigkeit das Überleben zu organisieren nimmt bei Frau Subotta, einen militanten Charakter an:

O-Ton 14: Dichterin Subotta, Forts.                            0,60
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„At towo schto…
„Weil es für die Frauen immer sehr schwer war in Russland, wurden sie stark. Sie hatten das Sagen in Haus und Hof. Aber auch die Erziehung der Jungs zu Männern hängt damit zusammen. Es war immer so, dass der Junge irgendwann aus dem Haus musste und Blut vergießen würde, um die Familien, das Land zu schützen. Die Frauen mussten die Jungs darauf vorbereiten und selbst Haus und Hof  halten, wenn die Männer fort waren oder ganz auch ganz fort blieben, weil sie fielen. Heut ist es wieder so: Ohne kriegerische Fähigkeiten, ohne Erziehung zum Patriotismus kann Russland nicht existieren. Dieses riesige Territorium zieht immer andere an, die nicht genug Land haben. Deshalb wird es immer Blutvergießen geben. Deshalb müssen unsere Jungens kriegerischen Geist haben.
…dolschen bit boizowski duch, tak.“

Erzähler:
Von der bloßen Organisation des Alltags,  über die Bewahrung der Kultur bis zur Stärkung des Patriotismus reicht die Skala der Aktivitäten, in denen sich die Frauen Russlands heute als die Kraft erweisen, welche das Überleben der Bevölkerung trägt. Man muss nicht die politischen Ansichten einer Frau Subotta teilen, die den Frauen die Erziehung zum Patriotismus zuweist, man muss nicht den Kulturorganisatorinnen Perms zustimmen, welche die Frauen zu alleinigen Trägern des Lebens erklären, man muss auch die Datschengärten nicht zum alleinigen Überlebensgrund hochstilisieren, man muss nur erkennen, dass in allen drei Elementen eines als gemeinsamer Kern steckt: die Familie und in ihr die Frau als die Kraft, welche die Familie zusammenhält.
Vor diesem Hintergrund bekommen die Erkenntnisse jener Soziologen und Ökonomen Russlands ihre Bedeutung, welche die Frage, warum die russische Bevölkerung trotz langandauernder Krise bisher nicht hungert, neuerdings mit dem Hinweis auf den „informellen“ oder wie sie sagen „expolaren“ Charakter der russischen  Wirtschaft beantworten und die Regierung auffordern, diese Elemente zu stärken:

O-Ton 15: Dr. Nikulin, Ökonom                    0,52
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nasche isledowannije…
„Unsere Untersuchungen zeigen, dass in der Realität Russlands im ländlichen Bereich eine Symbiose zwischen kleinen und Großen Betrieben besteht. Es gibt ein gewisses Konglomerat aus Familienwirtschaft und Großbetrieb. Und ich denke, dass der Hauptweg der Entwicklung im agrarischen  Bereich die innere Reorganisation der Symbiose zwischen Keinem und Großem ist. Erfolgreich arbeiten eben diese Betriebe, die sich bemühen, eine solche Symbiose zu entwickeln. Es ist die organische Symbiose zwischen Familie und Betrieb, auch wenn das sehr schwierig ist.“
…chtja otschen trudna.“

Erzähler:
Ob diese neuen Erkenntnisse der Soziologen die russische Regierung mehr überzeugen als die bisherigen Privatisierungsrezepte des Internationalen Währungsfonds, bleibt abzuwarten. Würden die Verantwortlichen in der Regierung auf sie hören, dann wären sie in der Lage, die mächtigste Kraft ihres Landes für eine Gesundung des Landes zu mobilisieren: Millionen Frauen, die am Wohl und der Entwicklung ihrer Kinder und der Erhaltung ihrer Familie interessiert sind.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2) Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Falls Kürzung notwendig, dann O-Ton 3 einschließlich Vortext ab: „Dass dies kein Einzelfall ist…“ fünf Zeilen über O-Ton 3. Weiter dann mit: „Die Tür sollen die Jungs…“)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2)
Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Russlands Krise ist nicht nur eine Krise der Wirtschaft. Perestroika hat auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Bewegung gebracht. Die traditionelle Pyramide patriarchaler Vorherrschaft ist erschüttert, zeigt Risse und bröckelt. Aus ihr geht eine neue Generation von Frauen hervor. Wie ist ihr Selbstverständnis? Wohin wenden sie sich?
Kai Ehlers berichtet über Gespräche mit russischen Frauen.

O-Ton 1: Junge Mädchen in Belowo                                    0,50
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, Lachen
Auf dem Paradeplatz von Belowo. Der Tag der Veteranen ist angekündigt. Auf offener Bühne übt die Band. Drei junge Mädchen warten auf einer Bank. Schülerinnen der Abschlussklasse. Gut gehe es ihnen, lachen sie. Sie freuen sich auf das Fest. Probleme? Ja, natürlich. Kein Geld für das Studium, Unsicherheit, ob sie die Arbeit finden, die sie sich wünschen. Psychologie wollen sie studieren. Aber irgendwie werden sie es schon schaffen. Die Menschen brauchen Hilfe finden sie.
… rasbiratsja schisn.“ Musik

Erzähler:
Was sie über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen denken?

O-Ton 2: Mädchen, Forts.                                0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, „Ismenilas…
„Haben sich geändert!“, sagt das Mädchen. “Sind schlechter geworden, Drogen, Alkohol, viele junge Leute sind daran schon gestorben.“ Das sage sie aus eigener Erfahrung, betont sie und als Beobachterin. Zum Umgang von Männern und Frauen miteinander meint sie: „Nun, die Beziehung zwischen Männern und Frauen hat immer von der Frau selbst abgehangen. Wie die Frau sich verhält, so ist die Beziehung des Mannes zu ihr. Darauf hat die Zeit keinen Einfluss, scheint mir.“
…mnje kaschetsja.“, Musik

Erzähler:
Die Freundinnen stimmen zu. Ein fragloses Selbstbewusstsein geht von den drei jungen Frauen aus. Männer sind so, wie sie es zulassen! Das ist der Geist, in dem sie aufgewachsen sind.
Dass dies kein Einzelfall ist, macht ein anderes junges Mädchen klar, das in der Kohle- und Krisenstadt Andschero-Sudschinsk zusammen mit ihrer Mutter den Vater zur Anti-Alkohol-Therapie begleitet. Auf die Frage, ob sie Probleme mit Jungen habe, antwortet sie, obwohl selbst eher unscheinbar und schüchtern, doch unmissverständlich:

O-Ton 3: Junges Mädchen in Andschero-Sudschinsk                 0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nje snaju, mnje…
„Ich weiß nicht. Für mich ist mit Jungs immer alles normal. Wir sind eigentlich immer gleichberechtigt. Aber es gibt natürlich so Jungs, die Mädchen nicht achten, weil sie sich selbst nicht achten, nicht wissen, wie man sich als echter Junge verhalten muss. Und es gibt Mädchen, welche die Jungs nicht achten. Ein Junge sollte ein Junge sein, er soll stark sein, sich nicht schwach zeigen. Mädchen müssen sich ihres Wertes bewusst sein, Stolz zeigen, sich nicht herumtreiben mit Jungs, sich ein bisschen höher stellen als sie.“
…sebja vesti.“

Erzähler:
Die Tür sollen die Jungs aufhalten, ihr in die Jacke helfen und sie einladen. Gleichberechtigt wollen die jungen Mädchen sein, zugleich aber als besonders wertvoll geachtet und sogar „höhergestellt“. Das ist durchgängige Haltung in kleinen und mittleren Städten der russischen Regionen und auf dem Lande, der in Russland etwas abfällig so genannten Provinz. In Moskau, in St. Petersburg und anderen größeren Städten stellen die jungen Frauen andere Ansprüche. Hören wir Marina, waschechte Moskauerin. Sie ist achtzehn, in der Ausbildung als Buchhalterin, wohnt noch bei ihren Eltern, ist nie im Süden oder im Osten Russlands gewesen. Gefragt, ob sie heiraten wolle, antwortet sie:

O-Ton 4: Marina, Moskau                                      0,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje chatschu…
„Nein, ich weiss nicht. Jetzt will ich nicht. Ich will erst einmal meine eigenen Ziele erreichen, kann sein danach.“
…moschit bit patom.“

Erzähler:
Einen Freund hat Marina selbstverständlich; es ist keineswegs platonische Liebe. Aber heiraten? Eine gute Ehefrau werden, wie das heute in den Regionen noch üblich ist? Nein, das entscheidet jeder Mensch für sich selbst, findet sie. Zu die Ansichten ihrer Altersgenossinnen in der Region meint sie:

O-To 5: Marina, Forts.             0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu snaetje, tam..
„Wissen Sie, dort herrschen bis heute sehr starke und alte Traditionen, wie es von Jahrhundert zu Jahrhundert bei diesen Völkern war: dass die Frau in einem bestimmten Alter unbedingt heiraten muss. Sie muss arbeiten, sie soll den Mann versorgen. Ich bin dagegen, ich unterstütze diese Ansicht nicht. Ich denke nicht, dass das so sein muss. Wenn ich irgendwann Familie haben sollte, und das sollte sein, dann wird es aber nicht so sein, dass ich alles für meinen Mann mache und er nichts tut.  Im Prinzip habe ich alles gelernt, ich kann das Haus machen, ich kann kochen, ich kann das alles, aber ich denke nicht, dass das reine weibliche Aufgaben sind. Schließlich hat der Mann auch Hände. Er kann auch etwas tun.“
…eta djelatj.“

Erzähler:
Alle ihre Freundinnen, erklärt Marina, dächten so wie sie. Es sei eine Frage der Generation. Nicht selten habe sie deswegen auch Differenzen mit ihrer Mutter:

O-Ton 6: Marina Forts.                   0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja nemnoga padrugomom…
„Ich betrachte das Leben ein bisschen anders, ein wenig einfacher in jeder Beziehung. Meine Mutter sieht das Leben auch so, dass die Frau alles machen muss und der Mann nichts – nun, vielleicht nicht ganz so, aber fast so. Mir geht so eine Ansicht ab. Ich sehe das anders. Unterschiedlich sehen wir auch den Umgang von Männern und Frauen miteinander, dass eine Frau erst dann mit einem Mann leben darf, wenn sie verheiratet sind. Ich sehe das nicht so. Und so gibt es viele unterschiedliche Sichtweisen in solchen Lebensdingen. Ich sehe es so, dass ich tue, was ich will. Es ist mein Leben und niemand hat das Recht mir irgendetwas zu verbieten. Ich bin  ja schließlich in dem Alter, dass ich selbst mit meinem Leben klarkomme.“
…raspreschatsja schisnju.“

Erzähler:
„Alle meine Freundinnen sehen das so“ schließt sie. Das Einzige, was Marina stört, ist ihre materielle Abhängigkeit von den Eltern, die besteht, weil sie noch keine eigene Arbeit gefunden hat. Sie bemühe sich aber, so Marina, dies noch während der Ausbildungszeit zu ändern. Nur wenige Monate nach diesem Gespräch hat Marina  tatsächlich eine eigene Arbeit gefunden, der sie neben ihrer Ausbildung im Institut für Wirtschaftswissenschaften nachgeht.
Ganz anders die Generation der Frauen, die bei Einsetzen der Perestroika bereits junge Frauen waren und nun bereits Mütter sind.  Sie fühlen sich zwischen Tradition und neue Zeit hin und her gerissen.
Katharina Selesnjowa etwa ist Telejournalsitin in Nowosibirsk. Gereizt weist sie die Frage nach einer „moralischen Wende“ zurück, die mit der Perestroika eingetreten sei:

O-Ton 7: Katharina Selesnjowa, Telejournalistin        0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wy imejete vidu…
„Sie meinen die amoralische Wende, den A-Moralismus. Die Menschen überprüfen ihre Wertvorstellungen, der patriarchale Aufbau der Familie, die Beziehung zwischen Männern und Frauen, gut und schlecht, die alten sowjetischen Muster, das ist alles nicht mehr aktuell. Aber neue Moral-Kodexe können erstens nicht zusammen mit den Nahrungsmitteln aus dem Westen werden, und auch hier lassen sie sich nicht allzu schnell herstellen.“
…slischkom bystra.“

Erzähler:
Es sind bittere Betrachtungen, die Frau Selesnjowa über die Veränderungen anstellt, die sie im Zuge der Perestroika erleben musste:

O-Ton 8: Frau Selesnjowa Forts.            1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, viditje li…
„Nun, sehen Sie, mir scheint, wie ich es nach meiner Familie beurteilen kann, dass es gewisse hergebrachten Strukturen gab, die sich vor allem auf die Frauen stützten. In den letzten siebzig Jahren trug die Frau die Verantwortung für ihre Kinder, für ihre Familie und sie glaubte, das sei das Wichtigste. Sie glaubte, dass man dafür alles opfern könne, das eigene Leben, das eigene materielle Versorgung, sogar sein Äußeres, buchstäblich alles, um nur die Kinder aufzubringen. Mir scheint, die höchste Vorstellung unseres Volkes in den letzten siebzig Jahren war, den Kindern Leben zu geben. Wenn wir auch leiden, so werden doch unsere Kinder besser leben! So dachte unsere Gesellschaft. Nun sind wir aber in einer Periode angekommen, in der klar wird, dass das nicht aktuell ist, dass die Kinder nicht besser leben werden. Auf jeden Fall wird durch unser Opfer nichts besser. Und ich habe deswegen zu nichts weniger Lust, als mich zum Opfer dieser jetzigen Gesellschaft zu machen.“
…schertwa saboi.“

Erzähler:
Sie sei ein `Paraschenits´, ein Nichtsnutz, ein Aussteiger, fasst Frau Selesnjowa die Konsequenzen zusammen, die sie für sich selbst aus der Entwicklung zieht. Sie sei nicht mehr bereit, mich für den Staat zu opfern.  Die Desillusionierung Frau Selesnjowas trägt epochale Züge. Frauen waren immer die Lastesel der Gesellschaft, zürnt sie, sie brauchen ein neues Bewusstsein. Frau Selesnjowas eigene Vision, was aus der Krise der patriarchalen Pyramide folgen solle, verhakt sich jedoch im Niemandsraum zwischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen und  Befangenheit in der  traditionellen Rolle weiblicher Opferbereitschaft:

O-Ton 9: Frau Selesnjowa, Forts.                    1,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Da paschalu…
“Bitte, heut steht ja praktisch die ganze Welt unter männlicher Herrschaft. Aber wissen Sie, was ich denke? Im Grunde würde ich nicht wollen, dass wir zu einer Welt der Frauenherrschaft übergingen. Ich denke oft daran dass es ein Matriarchat gegeben hat, hin und wieder stelle ich mir vor, dass ich die Männer beherrschen könnte wie seinerzeit Medäa. Im Grunde können Frauen die Männer sehr wohl beherrschen. Ich denke sogar, wenn zwei Armeen miteinander kämpfen würden, eine männliche und eine weibliche, dann würde selbstverständlich die weibliche siegen, weil die Frauen nicht saufen würden, weil sie gute Disziplin hätten. Für mich ist es keine Frage, welches Geschlecht stärker ist: Letztlich sind diejenigen stärker, die überleben; es überleben aber die Frauen. Das ist vermutlich so, weil wir psychologisch stärker sind. Deshalb hat Gott wohl der Frau das Kinderkriegen auferlegt, damit sie ihre Kraft noch an das Kind weitergibt, wahrscheinlich so. Aber sollen die Männer doch die Machtspielchen spielen, die noch übriggeblieben sind, nur muss das alles irgendwie geregelt werden, damit es mehr oder weniger zivilisiert abläuft. Mag meinetwegen der Planet der Männer bleiben, wenn nur ein gemütlicher Ort für die Frauen gibt.“
…glja dschjenschina.“

Erzähler:
Ganz anders Tanja. Auch sie gehört zur Generation der Frauen, welche Perestroika als junges Mädchen erlebten. Tanja lebt als Krankengymnastin in Borodino, einem der Kohlestädte Sibiriens. Sie ist unverheiratet; seit kurzem ist sie auch alleinerziehende Mutter eines Töchterchens.
Frauen wie Tanja sind gegenwärtig selten in Russland:

O-Ton 10: Tanja             0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Menja nasiwajet…
„Man nennt mich eine Heldin. Heute leisten sich sogar vollständige Familien keine Kinder. Aber eine alleinstehende Frau, das ist unglaublich, außergewöhnlich, das wird belächelt.“
…smeliwajetsja na eta.“

Erzähler:
Kinder sind heute in Russland eine Belastung. Die Sterberate übersteigt daher die der Geburten. Exakte Zahlen dazu gibt es nicht; zu groß sind Flucht- und Wanderungsbewegungen, die seit der Auflösung der Sowjetunion das Land überfluten. Schon lange aber macht das böse Wort vom „aussterbenden Volk“ die Runde. Besonders die patriotische Presse geht gern mit diesem Slogan hausieren. Tanja hat Geld für die Geburtshilfe in der Klinik bekommen, darüber hinaus bezieht sie ein minimales Kindergeld, das drei Jahre lang gezahlt wird; so lange wird ihr auch der Arbeitsplatz freigehalten. „Das klingt gut“, lacht Tanja, „aber von diesen Geldern kann ich nicht einmal die Windeln bezahlen. Ich muss also irgendwie arbeiten.“ Dass sie es dennoch schafft, hat sie allein ihren Eltern zu verdanken, die ihre Tochter mit Geld unterstützen und das Kind übernehmen, während sie außer Haus ist.
Aber die finanzielle Seite ist nur ein Grund dafür, dass Tanja arbeitet. Im Bus unterwegs zu einer ihrer ambulanten Einsätze erklärt sie den anderen:

O-Ton 11: Tanja, Forts.             0,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Schtobi nje…
„Um nicht zu versauern, nicht immer nur: Kochtopf denken zu müssen.
…kastrjule.“ Lachen

Erzähler:
Das sei wichtig für den Kopf, für das Herz und für das Kind, lacht sie. Sie möchte auf keinen Fall immer am Kochtopf stehen. Generell aber sieht sie es anders, generell hält Tanja es für eine gute Sache, dass Frauen sich heute wieder mehr um ihre Kinder und um ihre Familie kümmern können:

O-Ton 12: Tanja, Forts.            0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschitaju eta…
„Ich denke, das ist gut. Für die Frauen, die das wollen, ist es richtig; sie sollten das bekommen. Ich denke, das wäre nützlich. Es würde mehr nach den Kindern gesehen; es gäbe weniger verwahrloste Kinder. Ich beobachte oft Kinder in unserem Hof, die noch nach um zwölf vor den Türen sitzen. Sie spielen da im Dreck, niemand kümmert sich um sie, sogar sehr kleine. Mama muss kochen, waschen usw., dann morgen früh zur Arbeit.; sie hat einfach keine Zeit, selbst wenn sie möchte. Wenn diese Mama in die Küche will, dann ist das einfach phantastisch, denke ich.“
…sameltschatelno.“

Erzähler:
Alleinerziehende Mutter zu sein, die arbeitet und gleichzeitig für eine heile Familie zu plädieren, mit dieser widersprüchlichen Haltung, steht Tanja ihrer scheinbaren Selbstständigkeit zum Trotz in derselben Zerrissenheit wie ihre verheiratete Altersgenossin aus Nowosibirsk, die es ablehnt, sich als Mutter zu opfern, die aber im selben Atemzug allein den Frauen die Fähigkeit zuspricht, das Überleben der Kinder zu sichern.
Frei von solchen Zweifeln, erst recht von dem aufrührerischen Geist solcher junger Frauen wie der Moskauerin Marina sind jene Frauen, die als Großmütter, Babuschka, hinter dieser mittleren Generation junger Mütter stehen. Sie sind es oft, welche die Familien zusammenhalten. Sie kümmern sich um die Kinder, wenn die Eltern arbeiten. Wohl der jungen Mutter, ob verheiratet oder nicht, die eine solche Großmutter hat. Darüber gibt es in Russland keine zwei Meinungen.
Eine solche Babuschka ist Rosa Schewlewi, pensionierte Lehrerin, Schriftstellerin, Schriftführerin im tschuwaschischen Kulturzentrum, einer Organisation für ethnische Gleichberechtigung, in Tscheboksary an der Wolga. Gebeten sich selbst vorzustellen, beginnt sie:

O-Ton 13. Rosa Schewlewi                              1,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja Rosa…
„Ich bin Rosa. Als Erstes bin ich wohl, wie jede Frau, Mutter. Ich glaube, dass die Natur die Frau zuallererst dafür bestimmt hat, dass sie Mutter ist. Ich jedenfalls verstehe das so. Ich bin Mutter dreier Kinder, zweier Töchter und eines Sohnes, jetzt bin ich Babuschka für vier Enkel. Ich hoffe, dass es noch mehr werden. Das ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Das macht mir sehr große Freude. Weiter: Sehr wichtig ist es, dass der Mensch einen Beruf hat, der er liebt. Darüber hinaus, dass ich Frau, dass ich Mutter, dass ich Babuschka bin, will ich mein Wohlbefinden nicht nur aus dem Zusammensein mit der Familie ziehen, ich will auch in der Gesellschaft Mensch sein, vor allem durch meinen Beruf. Der Beruf, den ich gewählt habe, ist Lehrerin. Ich liebe ihn bis heute, obwohl ich inzwischen pensioniert bin. Jetzt beschäftige ich mich mehr mit Künstlerischem. Ich denke, dass Frauen von Natur aus sehr talentiert sind, aber das Elend ist, dass Männer mehr Möglichkeiten haben, sich mit Künstlerischem zu beschäftigen. Sie sind freier als Frauen. Dafür kann man die Männer wohl sogar beneiden.“
…nawerna muschini.“

Erzähler:
Hier schimmert auch bei Babuschka Schewlewi die Unzufriedenheit mit ihrer Rolle durch. Dass sie jetzt endlich dazu kommt, sich ihrer Schriftstellerei zu widmen, gibt ihr große Genugtuung. Endlich! Das ganze Leben lang habe sie sich immer nur kümmern müssen, um den Mann, um die Kinder. Aber weil sie aus eigenem Erleben wisse, wie schwer es für die jungen Mütter sei, helfe sie ihnen mit den Kindern.
Die generelle Rolle der Babuschka definiert sie so:

O-Ton 14: Rosa, Forts.             0,05
Regie: O-Ton ganz stehen lassen

Übersetzerin:
„Eta sami dobri tschelowjek na swetje“…lachen
„Das ist der allerbeste Mensch auf der Welt.“

Erzähler:
Babuschka ist wie der Fels in der Brandung der neuen Zeit. Babuschka verkörpert die Erinnerung an das, was früher war. Sie vermittelt die traditionellen Werte. Oft ist sie aber auch, fügt Rosa hinzu, der ärmste Mensch im heutigen Russland: .

O-Ton 15: Rosa, Forts.                                          0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Pensi miserni…
„Die Renten sind elend bei dem meisten; von diesen Renten können sie nicht leben. Darüber hinaus versuchen die meisten Alten von diesen Pensionen auch noch ihren Kindern zu helfen, die arbeitslos sind. Und so kommt es, dass viele auch auf den Strassen stehen, um irgendetwas zu verkaufen. Einen anderen Ausweg sehen sie nicht.“
…nje widjat.”

Erzähler:
„Schauen Sie mich an“, sagt Rosa, „ich bin eine arbeitende Babuschka“ und doch habe ich nicht das Geld, meinen Enkeln mal etwas zu schenken. Das einzige, was ich geben kann, ist meine Liebe.
So ist auch die Rolle der Babuschka nicht widerspruchsfrei. Einerseits brauchen die jungen Frauen mehr denn je die Unterstützung der Großmütter, andererseits brauchen viele der Großmütter selbst dringend Hilfe. Letztlich bedeutet dies alles, was Marina, Tanja und Rosa repräsentieren, dass Russlands Frauen durch die Krise der patriarchalen Ordnung in die komplizierte Situation gekommen sind, einerseits mehr Freiheiten zu haben, andererseits weniger materielle Möglichkeiten, diese Freiheiten zu nutzen. Für die einzelne Frau ist es  eine Frage der persönlichen Entscheidung, welcher Seite sie mehr Bedeutung beimisst; aufs Ganze gesehen ist die Entwicklung offen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2) Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Falls Kürzung notwendig, dann O-Ton 3 einschließlich Vortext ab: „Dass dies kein Einzelfall ist…“ fünf Zeilen über O-Ton 3. Weiter dann mit: „Die Tür sollen die Jungs…“)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2)
Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Russlands Krise ist nicht nur eine Krise der Wirtschaft. Perestroika hat auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Bewegung gebracht. Die traditionelle Pyramide patriarchaler Vorherrschaft ist erschüttert, zeigt Risse und bröckelt. Aus ihr geht eine neue Generation von Frauen hervor. Wie ist ihr Selbstverständnis? Wohin wenden sie sich?
Kai Ehlers berichtet über Gespräche mit russischen Frauen.

O-Ton 1: Junge Mädchen in Belowo                                    0,50
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, Lachen
Auf dem Paradeplatz von Belowo. Der Tag der Veteranen ist angekündigt. Auf offener Bühne übt die Band. Drei junge Mädchen warten auf einer Bank. Schülerinnen der Abschlussklasse. Gut gehe es ihnen, lachen sie. Sie freuen sich auf das Fest. Probleme? Ja, natürlich. Kein Geld für das Studium, Unsicherheit, ob sie die Arbeit finden, die sie sich wünschen. Psychologie wollen sie studieren. Aber irgendwie werden sie es schon schaffen. Die Menschen brauchen Hilfe finden sie.
… rasbiratsja schisn.“ Musik

Erzähler:
Was sie über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen denken?

O-Ton 2: Mädchen, Forts.                                0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, „Ismenilas…
„Haben sich geändert!“, sagt das Mädchen. “Sind schlechter geworden, Drogen, Alkohol, viele junge Leute sind daran schon gestorben.“ Das sage sie aus eigener Erfahrung, betont sie und als Beobachterin. Zum Umgang von Männern und Frauen miteinander meint sie: „Nun, die Beziehung zwischen Männern und Frauen hat immer von der Frau selbst abgehangen. Wie die Frau sich verhält, so ist die Beziehung des Mannes zu ihr. Darauf hat die Zeit keinen Einfluss, scheint mir.“
…mnje kaschetsja.“, Musik

Erzähler:
Die Freundinnen stimmen zu. Ein fragloses Selbstbewusstsein geht von den drei jungen Frauen aus. Männer sind so, wie sie es zulassen! Das ist der Geist, in dem sie aufgewachsen sind.
Dass dies kein Einzelfall ist, macht ein anderes junges Mädchen klar, das in der Kohle- und Krisenstadt Andschero-Sudschinsk zusammen mit ihrer Mutter den Vater zur Anti-Alkohol-Therapie begleitet. Auf die Frage, ob sie Probleme mit Jungen habe, antwortet sie, obwohl selbst eher unscheinbar und schüchtern, doch unmissverständlich:

O-Ton 3: Junges Mädchen in Andschero-Sudschinsk                 0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nje snaju, mnje…
„Ich weiß nicht. Für mich ist mit Jungs immer alles normal. Wir sind eigentlich immer gleichberechtigt. Aber es gibt natürlich so Jungs, die Mädchen nicht achten, weil sie sich selbst nicht achten, nicht wissen, wie man sich als echter Junge verhalten muss. Und es gibt Mädchen, welche die Jungs nicht achten. Ein Junge sollte ein Junge sein, er soll stark sein, sich nicht schwach zeigen. Mädchen müssen sich ihres Wertes bewusst sein, Stolz zeigen, sich nicht herumtreiben mit Jungs, sich ein bisschen höher stellen als sie.“
…sebja vesti.“

Erzähler:
Die Tür sollen die Jungs aufhalten, ihr in die Jacke helfen und sie einladen. Gleichberechtigt wollen die jungen Mädchen sein, zugleich aber als besonders wertvoll geachtet und sogar „höhergestellt“. Das ist durchgängige Haltung in kleinen und mittleren Städten der russischen Regionen und auf dem Lande, der in Russland etwas abfällig so genannten Provinz. In Moskau, in St. Petersburg und anderen größeren Städten stellen die jungen Frauen andere Ansprüche. Hören wir Marina, waschechte Moskauerin. Sie ist achtzehn, in der Ausbildung als Buchhalterin, wohnt noch bei ihren Eltern, ist nie im Süden oder im Osten Russlands gewesen. Gefragt, ob sie heiraten wolle, antwortet sie:

O-Ton 4: Marina, Moskau                                      0,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje chatschu…
„Nein, ich weiss nicht. Jetzt will ich nicht. Ich will erst einmal meine eigenen Ziele erreichen, kann sein danach.“
…moschit bit patom.“

Erzähler:
Einen Freund hat Marina selbstverständlich; es ist keineswegs platonische Liebe. Aber heiraten? Eine gute Ehefrau werden, wie das heute in den Regionen noch üblich ist? Nein, das entscheidet jeder Mensch für sich selbst, findet sie. Zu die Ansichten ihrer Altersgenossinnen in der Region meint sie:

O-To 5: Marina, Forts.             0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu snaetje, tam..
„Wissen Sie, dort herrschen bis heute sehr starke und alte Traditionen, wie es von Jahrhundert zu Jahrhundert bei diesen Völkern war: dass die Frau in einem bestimmten Alter unbedingt heiraten muss. Sie muss arbeiten, sie soll den Mann versorgen. Ich bin dagegen, ich unterstütze diese Ansicht nicht. Ich denke nicht, dass das so sein muss. Wenn ich irgendwann Familie haben sollte, und das sollte sein, dann wird es aber nicht so sein, dass ich alles für meinen Mann mache und er nichts tut.  Im Prinzip habe ich alles gelernt, ich kann das Haus machen, ich kann kochen, ich kann das alles, aber ich denke nicht, dass das reine weibliche Aufgaben sind. Schließlich hat der Mann auch Hände. Er kann auch etwas tun.“
…eta djelatj.“

Erzähler:
Alle ihre Freundinnen, erklärt Marina, dächten so wie sie. Es sei eine Frage der Generation. Nicht selten habe sie deswegen auch Differenzen mit ihrer Mutter:

O-Ton 6: Marina Forts.                   0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja nemnoga padrugomom…
„Ich betrachte das Leben ein bisschen anders, ein wenig einfacher in jeder Beziehung. Meine Mutter sieht das Leben auch so, dass die Frau alles machen muss und der Mann nichts – nun, vielleicht nicht ganz so, aber fast so. Mir geht so eine Ansicht ab. Ich sehe das anders. Unterschiedlich sehen wir auch den Umgang von Männern und Frauen miteinander, dass eine Frau erst dann mit einem Mann leben darf, wenn sie verheiratet sind. Ich sehe das nicht so. Und so gibt es viele unterschiedliche Sichtweisen in solchen Lebensdingen. Ich sehe es so, dass ich tue, was ich will. Es ist mein Leben und niemand hat das Recht mir irgendetwas zu verbieten. Ich bin  ja schließlich in dem Alter, dass ich selbst mit meinem Leben klarkomme.“
…raspreschatsja schisnju.“

Erzähler:
„Alle meine Freundinnen sehen das so“ schließt sie. Das Einzige, was Marina stört, ist ihre materielle Abhängigkeit von den Eltern, die besteht, weil sie noch keine eigene Arbeit gefunden hat. Sie bemühe sich aber, so Marina, dies noch während der Ausbildungszeit zu ändern. Nur wenige Monate nach diesem Gespräch hat Marina  tatsächlich eine eigene Arbeit gefunden, der sie neben ihrer Ausbildung im Institut für Wirtschaftswissenschaften nachgeht.
Ganz anders die Generation der Frauen, die bei Einsetzen der Perestroika bereits junge Frauen waren und nun bereits Mütter sind.  Sie fühlen sich zwischen Tradition und neue Zeit hin und her gerissen.
Katharina Selesnjowa etwa ist Telejournalsitin in Nowosibirsk. Gereizt weist sie die Frage nach einer „moralischen Wende“ zurück, die mit der Perestroika eingetreten sei:

O-Ton 7: Katharina Selesnjowa, Telejournalistin        0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wy imejete vidu…
„Sie meinen die amoralische Wende, den A-Moralismus. Die Menschen überprüfen ihre Wertvorstellungen, der patriarchale Aufbau der Familie, die Beziehung zwischen Männern und Frauen, gut und schlecht, die alten sowjetischen Muster, das ist alles nicht mehr aktuell. Aber neue Moral-Kodexe können erstens nicht zusammen mit den Nahrungsmitteln aus dem Westen werden, und auch hier lassen sie sich nicht allzu schnell herstellen.“
…slischkom bystra.“

Erzähler:
Es sind bittere Betrachtungen, die Frau Selesnjowa über die Veränderungen anstellt, die sie im Zuge der Perestroika erleben musste:

O-Ton 8: Frau Selesnjowa Forts.            1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, viditje li…
„Nun, sehen Sie, mir scheint, wie ich es nach meiner Familie beurteilen kann, dass es gewisse hergebrachten Strukturen gab, die sich vor allem auf die Frauen stützten. In den letzten siebzig Jahren trug die Frau die Verantwortung für ihre Kinder, für ihre Familie und sie glaubte, das sei das Wichtigste. Sie glaubte, dass man dafür alles opfern könne, das eigene Leben, das eigene materielle Versorgung, sogar sein Äußeres, buchstäblich alles, um nur die Kinder aufzubringen. Mir scheint, die höchste Vorstellung unseres Volkes in den letzten siebzig Jahren war, den Kindern Leben zu geben. Wenn wir auch leiden, so werden doch unsere Kinder besser leben! So dachte unsere Gesellschaft. Nun sind wir aber in einer Periode angekommen, in der klar wird, dass das nicht aktuell ist, dass die Kinder nicht besser leben werden. Auf jeden Fall wird durch unser Opfer nichts besser. Und ich habe deswegen zu nichts weniger Lust, als mich zum Opfer dieser jetzigen Gesellschaft zu machen.“
…schertwa saboi.“

Erzähler:
Sie sei ein `Paraschenits´, ein Nichtsnutz, ein Aussteiger, fasst Frau Selesnjowa die Konsequenzen zusammen, die sie für sich selbst aus der Entwicklung zieht. Sie sei nicht mehr bereit, mich für den Staat zu opfern.  Die Desillusionierung Frau Selesnjowas trägt epochale Züge. Frauen waren immer die Lastesel der Gesellschaft, zürnt sie, sie brauchen ein neues Bewusstsein. Frau Selesnjowas eigene Vision, was aus der Krise der patriarchalen Pyramide folgen solle, verhakt sich jedoch im Niemandsraum zwischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen und  Befangenheit in der  traditionellen Rolle weiblicher Opferbereitschaft:

O-Ton 9: Frau Selesnjowa, Forts.                    1,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Da paschalu…
“Bitte, heut steht ja praktisch die ganze Welt unter männlicher Herrschaft. Aber wissen Sie, was ich denke? Im Grunde würde ich nicht wollen, dass wir zu einer Welt der Frauenherrschaft übergingen. Ich denke oft daran dass es ein Matriarchat gegeben hat, hin und wieder stelle ich mir vor, dass ich die Männer beherrschen könnte wie seinerzeit Medäa. Im Grunde können Frauen die Männer sehr wohl beherrschen. Ich denke sogar, wenn zwei Armeen miteinander kämpfen würden, eine männliche und eine weibliche, dann würde selbstverständlich die weibliche siegen, weil die Frauen nicht saufen würden, weil sie gute Disziplin hätten. Für mich ist es keine Frage, welches Geschlecht stärker ist: Letztlich sind diejenigen stärker, die überleben; es überleben aber die Frauen. Das ist vermutlich so, weil wir psychologisch stärker sind. Deshalb hat Gott wohl der Frau das Kinderkriegen auferlegt, damit sie ihre Kraft noch an das Kind weitergibt, wahrscheinlich so. Aber sollen die Männer doch die Machtspielchen spielen, die noch übriggeblieben sind, nur muss das alles irgendwie geregelt werden, damit es mehr oder weniger zivilisiert abläuft. Mag meinetwegen der Planet der Männer bleiben, wenn nur ein gemütlicher Ort für die Frauen gibt.“
…glja dschjenschina.“

Erzähler:
Ganz anders Tanja. Auch sie gehört zur Generation der Frauen, welche Perestroika als junges Mädchen erlebten. Tanja lebt als Krankengymnastin in Borodino, einem der Kohlestädte Sibiriens. Sie ist unverheiratet; seit kurzem ist sie auch alleinerziehende Mutter eines Töchterchens.
Frauen wie Tanja sind gegenwärtig selten in Russland:

O-Ton 10: Tanja             0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Menja nasiwajet…
„Man nennt mich eine Heldin. Heute leisten sich sogar vollständige Familien keine Kinder. Aber eine alleinstehende Frau, das ist unglaublich, außergewöhnlich, das wird belächelt.“
…smeliwajetsja na eta.“

Erzähler:
Kinder sind heute in Russland eine Belastung. Die Sterberate übersteigt daher die der Geburten. Exakte Zahlen dazu gibt es nicht; zu groß sind Flucht- und Wanderungsbewegungen, die seit der Auflösung der Sowjetunion das Land überfluten. Schon lange aber macht das böse Wort vom „aussterbenden Volk“ die Runde. Besonders die patriotische Presse geht gern mit diesem Slogan hausieren. Tanja hat Geld für die Geburtshilfe in der Klinik bekommen, darüber hinaus bezieht sie ein minimales Kindergeld, das drei Jahre lang gezahlt wird; so lange wird ihr auch der Arbeitsplatz freigehalten. „Das klingt gut“, lacht Tanja, „aber von diesen Geldern kann ich nicht einmal die Windeln bezahlen. Ich muss also irgendwie arbeiten.“ Dass sie es dennoch schafft, hat sie allein ihren Eltern zu verdanken, die ihre Tochter mit Geld unterstützen und das Kind übernehmen, während sie außer Haus ist.
Aber die finanzielle Seite ist nur ein Grund dafür, dass Tanja arbeitet. Im Bus unterwegs zu einer ihrer ambulanten Einsätze erklärt sie den anderen:

O-Ton 11: Tanja, Forts.             0,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Schtobi nje…
„Um nicht zu versauern, nicht immer nur: Kochtopf denken zu müssen.
…kastrjule.“ Lachen

Erzähler:
Das sei wichtig für den Kopf, für das Herz und für das Kind, lacht sie. Sie möchte auf keinen Fall immer am Kochtopf stehen. Generell aber sieht sie es anders, generell hält Tanja es für eine gute Sache, dass Frauen sich heute wieder mehr um ihre Kinder und um ihre Familie kümmern können:

O-Ton 12: Tanja, Forts.            0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschitaju eta…
„Ich denke, das ist gut. Für die Frauen, die das wollen, ist es richtig; sie sollten das bekommen. Ich denke, das wäre nützlich. Es würde mehr nach den Kindern gesehen; es gäbe weniger verwahrloste Kinder. Ich beobachte oft Kinder in unserem Hof, die noch nach um zwölf vor den Türen sitzen. Sie spielen da im Dreck, niemand kümmert sich um sie, sogar sehr kleine. Mama muss kochen, waschen usw., dann morgen früh zur Arbeit.; sie hat einfach keine Zeit, selbst wenn sie möchte. Wenn diese Mama in die Küche will, dann ist das einfach phantastisch, denke ich.“
…sameltschatelno.“

Erzähler:
Alleinerziehende Mutter zu sein, die arbeitet und gleichzeitig für eine heile Familie zu plädieren, mit dieser widersprüchlichen Haltung, steht Tanja ihrer scheinbaren Selbstständigkeit zum Trotz in derselben Zerrissenheit wie ihre verheiratete Altersgenossin aus Nowosibirsk, die es ablehnt, sich als Mutter zu opfern, die aber im selben Atemzug allein den Frauen die Fähigkeit zuspricht, das Überleben der Kinder zu sichern.
Frei von solchen Zweifeln, erst recht von dem aufrührerischen Geist solcher junger Frauen wie der Moskauerin Marina sind jene Frauen, die als Großmütter, Babuschka, hinter dieser mittleren Generation junger Mütter stehen. Sie sind es oft, welche die Familien zusammenhalten. Sie kümmern sich um die Kinder, wenn die Eltern arbeiten. Wohl der jungen Mutter, ob verheiratet oder nicht, die eine solche Großmutter hat. Darüber gibt es in Russland keine zwei Meinungen.
Eine solche Babuschka ist Rosa Schewlewi, pensionierte Lehrerin, Schriftstellerin, Schriftführerin im tschuwaschischen Kulturzentrum, einer Organisation für ethnische Gleichberechtigung, in Tscheboksary an der Wolga. Gebeten sich selbst vorzustellen, beginnt sie:

O-Ton 13. Rosa Schewlewi                              1,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja Rosa…
„Ich bin Rosa. Als Erstes bin ich wohl, wie jede Frau, Mutter. Ich glaube, dass die Natur die Frau zuallererst dafür bestimmt hat, dass sie Mutter ist. Ich jedenfalls verstehe das so. Ich bin Mutter dreier Kinder, zweier Töchter und eines Sohnes, jetzt bin ich Babuschka für vier Enkel. Ich hoffe, dass es noch mehr werden. Das ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Das macht mir sehr große Freude. Weiter: Sehr wichtig ist es, dass der Mensch einen Beruf hat, der er liebt. Darüber hinaus, dass ich Frau, dass ich Mutter, dass ich Babuschka bin, will ich mein Wohlbefinden nicht nur aus dem Zusammensein mit der Familie ziehen, ich will auch in der Gesellschaft Mensch sein, vor allem durch meinen Beruf. Der Beruf, den ich gewählt habe, ist Lehrerin. Ich liebe ihn bis heute, obwohl ich inzwischen pensioniert bin. Jetzt beschäftige ich mich mehr mit Künstlerischem. Ich denke, dass Frauen von Natur aus sehr talentiert sind, aber das Elend ist, dass Männer mehr Möglichkeiten haben, sich mit Künstlerischem zu beschäftigen. Sie sind freier als Frauen. Dafür kann man die Männer wohl sogar beneiden.“
…nawerna muschini.“

Erzähler:
Hier schimmert auch bei Babuschka Schewlewi die Unzufriedenheit mit ihrer Rolle durch. Dass sie jetzt endlich dazu kommt, sich ihrer Schriftstellerei zu widmen, gibt ihr große Genugtuung. Endlich! Das ganze Leben lang habe sie sich immer nur kümmern müssen, um den Mann, um die Kinder. Aber weil sie aus eigenem Erleben wisse, wie schwer es für die jungen Mütter sei, helfe sie ihnen mit den Kindern.
Die generelle Rolle der Babuschka definiert sie so:

O-Ton 14: Rosa, Forts.             0,05
Regie: O-Ton ganz stehen lassen

Übersetzerin:
„Eta sami dobri tschelowjek na swetje“…lachen
„Das ist der allerbeste Mensch auf der Welt.“

Erzähler:
Babuschka ist wie der Fels in der Brandung der neuen Zeit. Babuschka verkörpert die Erinnerung an das, was früher war. Sie vermittelt die traditionellen Werte. Oft ist sie aber auch, fügt Rosa hinzu, der ärmste Mensch im heutigen Russland: .

O-Ton 15: Rosa, Forts.                                          0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Pensi miserni…
„Die Renten sind elend bei dem meisten; von diesen Renten können sie nicht leben. Darüber hinaus versuchen die meisten Alten von diesen Pensionen auch noch ihren Kindern zu helfen, die arbeitslos sind. Und so kommt es, dass viele auch auf den Strassen stehen, um irgendetwas zu verkaufen. Einen anderen Ausweg sehen sie nicht.“
…nje widjat.”

Erzähler:
„Schauen Sie mich an“, sagt Rosa, „ich bin eine arbeitende Babuschka“ und doch habe ich nicht das Geld, meinen Enkeln mal etwas zu schenken. Das einzige, was ich geben kann, ist meine Liebe.
So ist auch die Rolle der Babuschka nicht widerspruchsfrei. Einerseits brauchen die jungen Frauen mehr denn je die Unterstützung der Großmütter, andererseits brauchen viele der Großmütter selbst dringend Hilfe. Letztlich bedeutet dies alles, was Marina, Tanja und Rosa repräsentieren, dass Russlands Frauen durch die Krise der patriarchalen Ordnung in die komplizierte Situation gekommen sind, einerseits mehr Freiheiten zu haben, andererseits weniger materielle Möglichkeiten, diese Freiheiten zu nutzen. Für die einzelne Frau ist es  eine Frage der persönlichen Entscheidung, welcher Seite sie mehr Bedeutung beimisst; aufs Ganze gesehen ist die Entwicklung offen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

China – Russland: Stille Invasion oder strategische Partnerschaf

Vortext:

China neues Mitglied der Welthandelsorganisation, der russische Präsident Wladimir Putin in China, Millionen Chinesen im kleinen Grenzverkehr von China nach Russland, in die Mongolei und nach und Kasachstan: Was geht zwischen China und seinen Nachbarn im Nordwesten vor sich? Eine Hintergrundskizze von Kai Ehlers.

O-Ton 1: Gemurmel, Musik                  1,46
Regie: Musik schnell kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Chinesische Klänge bei einem Kongress der Mongolisten in Ulaanbaator, der Hauptstadt der Mongolei. Seit 1962 finden solche Kongresse im Rhythmus von fünf Jahren statt. Seit dem sechsten dieser Kongresse im Jahre 1992 trifft sich dabei nicht mehr nur die sowjetische Welt, sondern ein internationales Forum von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, denen diese spezielle Region im Schnittpunkt zwischen Asien, Europa und dem Orient besonders am Herzen liegt. Manche Länder, vor allem China und Russland, reisen mit ganzen Delegationen an. Dass dies kein Zufall ist, zeigt der Ablauf des letzten Kongresses im Jahr 1997, in dessen Verlauf sich Russen ebenso wie Chinesen nicht nur wiederholt zu geschlossenen Beratungen abseits setzten. Er war auch thematisch von der russisch-chinesischen Polarität, von Fragen der Neuaufteilung der Einfluss-Sphären in Asien nach dem Ende der Sowjetunion durchzogen, nahezu überschattet.
In der Sektion „Mongolei heute“ hielt Frau Doktor Okujanski, Mitglied der russischen Delegation aus Moskau, einen Vortrag über die schwierige Lage, in welche die Mongolei nach dem Ende der Sowjetunion zwischen China und Russland gekommen ist:

O-Ton 2: Frau Dr. B. Okujanski                                  0,48
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„We itogi…
„Im Ergebnis sieht sich die Mongolei vor die Notwendigkeit gestellt, neue äußere Faktoren zu schaffen, um aus der ökonomischen Krise herauszukommen: Herausgetreten aus dem Schutz des sowjetischen Schirms, muss sie einerseits die Beziehungen zum neuen Russland halten, andererseits neue Beziehungen zu China herstellen und dabei noch ihre Unabhängigkeit wahren. Diese Kooperation mit beiden, Russland und China, ist die einzige Chance, sich dem Westen nicht unterwerfen zu müssen und zugleich der einzige Weg für die Integration der Mongolei und anderer nord-ost-asiatischer Länder, die zur Zeit, wenn auch nur langsam – beginnt.“
…natschinajut skljadewitsja.“

Erzähler:
Russland sei leider nur mangelhaft in der Lage, diese Integration zu unterstützen, klagt Frau Dr. Okujanski. Die Ursachen dafür sieht sie im Niedergang ihres Landes, auch in den, wie sie sagt, immer noch nicht entfalteten Potentialen der russischen Reform, mehr aber noch in der wirtschaftlichen Expansion Chinas, das Russland in letzten Jahren überflügelt habe:

O-Ton 3: B. Okujanski, Forts.                     0,29
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„W´zelom wsjerossiski export…
„Der russische Export macht zur Zeit ungefähr ein Fünftel des mongolischen Imports aus; der chinesische Export in die Mongolei aber wächst. Bei den ausländischen Investitionen halten Russland und China zusammen sechzig Prozent, aber China führt dabei im Umfang der Investitionen vor Russland.“
…investizii Rossije.“

Erzähler:
Chinas Expansion und Russlands Schwäche ist auch Thema in den Foyers des Kongresses. Ein ungebetener Gast, Reporter von „Radio Liberty“ aus der inneren Mongolei, also dem heute zum chinesischen Staatsgebiet gehörenden Teil des von Mongolen bewohnten Landes, agitiert gegen Pekings Politik in der dortigen Region:

O-Ton 4: Awton Bator, Innere Mongolei                        1,04
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Menja sawut…
Er heiße Awton Bator, stellt er sich vor.  Er komme soeben aus New York,  wo eine „Volkspartei Innere Mongolei“ gegründet worden sei – in New York deshalb, weil das in der Inneren Mongolei nicht möglich sei. Die Partei werde den Kampf der Uiguren, einer den Mongolen verwandten Volksgruppe, gegen von Peking ihnen gegenüber betriebene zwangsweise Chinesisierung unterstützen. Erst kurz vor dem Kongress sei es wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf sogar nach offizieller chinesischer Darstellung hunderte Menschen getötet wurden. Man habe auch Kontakt zum Dalai Lama aufgenommen; Tibetaner, Uiguren und andere arbeiteten zusammen; schon bald werde es eine einheitliche Front geben.“
…jedini front.“

Erzähler:
Von einer Front will auf dem Kongress allerdings niemand etwas hören. Teilnehmer der chinesischen Delegation konzentrieren sich auf die Bedeutung Tschingis Chans für China, sie sind sogar bereit, darüber zu reden, dass große Teile der Bevölkerung  des chinesischen Westens Nomaden seien.

O-Ton 5: Prof. Sin Chian                                    0,29
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tja lisi sang…
Fragen nach der Politik Pekings jedoch lassen sie unbeantwortet. Europäische Kollegen, die für sie übersetzen, erklären „solche Fragen“ für unerwünscht. Leute, die Fragen dieser Art stellten, gehörten nicht auf einen wissenschaftlichen Kongress, befinden sie. Man habe das bereits kritisiert:
…critizized them.“

Erzähler:
Damit ist die „chinesische Frage“ für den Kongress vom Tisch. Außerhalb des Kongresses lässt sich die politische Wirklichkeit nicht so einfach verdrängen: Man freut sich über die neue Unabhängigkeit der 1991 ausgerufenen Mongolischen Volksrepublik, aber man ist beunruhigt über die Schwäche Russlands, in deren Folge die Expansion Chinas ungebremst auf die Mongolei drückt. Alarmiert zeigt sich Bayaert Saikhan, Abgeordneter der mongolischen Volkspartei. Er ist leitendes Mitglied einer Kommission zur Kontrolle der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung:

O-Ton 6: Bayaert Saikhan, Abgeordneter der mong. Volkspartei           0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U  nas otschen…
„Wir haben sehr viele Informationen über die Privatisierung: Da kommt zum Beispiel ein Mongole und kauft, aber hinter ihm stehen in der Regel Leute unserer chinesischen Nachbarn. Das ist ein sehr großes Problem. Äußerlich sieht so aus, als ob es ein Mongole  ist, der sich an der Privatisierung beteiligt, der kauft, der Eigentümer eines Ladens oder einer Gastwirtschaft wird; in Wirklichkeit werden Häuser, Läden, Fabriken jedoch das Eigentum ganz anderer Leute. Das ist bereits eine Frage der wirtschaftlichen Sicherheit. Dieses Problem beunruhigt mich sehr.“
…otschen bespakajet.“

Erzähler:
Tausende von Chinesen ziehe es Jahr für Jahr ins Land, berichtet der Abgeordnete. Angst habe er nicht, schränkt er ein, alles laufe ja ganz ruhig ab, aber der mongolische Staat müsse sich gegen solche Vorgänge schützen, sonst werde er bald von den Chinesen übernommen:

O-Ton 7: Bayaert Saikhan, Forts.                        0,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Gossudarstwa dolschen…
„Ein Staat muss selbstständig existieren können. Wenn der Einfluss von außerhalb so bedrohlich anwächst, wie jetzt bei uns, dann ist das schon gefährlich. Das ist eine stille Invasion. So sind die Daten. Der Einfluss Chinas (stöhnt) ist da eben schon sehr fühlbar.“
…tschuwtswoitsja.“

Erzähler:
Die Mongolen stehen mit ihren Ängsten nicht allein. Auch in der sibirischen Stadt Irkutsk, dem nächsten Nachbarn der Mongolischen Volksrepublik, gleich nördlich des Gebirgszuges, der die mongolische Volksrepublik von Russland trennt, rückt die „chinesische Frage“, wie man es auch hier nennt, mehr und mehr in den Vordergrund. Hier bestimmt sie bereits stark das Alltagsgeschehen.
Früher war es die Mongolei, über die man sprach, meint Sergej Ischatarow, ein PKW-Fahrer, der seine Freizeit als Hobby-Politiker verbringt. Positiv oder nicht, das war der Alltag:

O-Ton 8: Sergej Ischatarow, Fahrer                           0,25
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, Mongolie…
„Jetzt spielt die Mongolei in unseren Zeitungen, im Fernsehen kaum noch eine Rolle. Dafür China! China triffst Du auf Schritt und Tritt. Überall in Irkutsk findest Du China. Klar, denn es gibt hier Massen von chinesischen Waren, Massen von chinesischen Händlern.“
…Tschelniki…“

Erzähler:
„Tschelniki“, Weberschiffchen, nenne man sie, Kleinhändler, die Waren niedriger Qualität zu billigen Preisen über die Grenzen schafften. Zu Tausenden seien sie in den letzten Jahren gekommen. Daraus ergebe sich eine vollkommnen neue Situation:

O-Ton 9: Sergej Ischatarow, Forts.                               1,31
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Ah, Kitaizi odin narod…
“Die Chinesen sind so ein Volk: Sie verstehen zu arbeiten, packen ihre Dinge an, was sie anfassen, das machen sie richtig. Bei uns hat man daher, ich meine nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die arbeitende Bevölkerung insgesamt, eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber. Wenn etwas schief geht, eine Grippeepidemie oder der Markt bricht zusammen, egal was – immer sind es die Chinesen gewesen.  Nun es ist auch tatsächlich so. Hier gibt es am Baikal so ein Landwirtschaftsinstitut, in seiner Nähe ein paar Dörfer, wo Bauern wohnen. Da gab es so etwas wie eine Kolchose. Während der Perestroika fiel alles auseinander. Da hat man diesen Boden den Chinesen in Pacht gegeben. Als es hier nichts mehr gab, keine Gurken, kein Gemüse, nichts, da haben die schnell ein paar Gewächshäuser gebaut und noch im Winter das Gemüse gebracht. Danach haben sie sich Land angeeignet. Wie ging das vor sich? Sie schlossen fiktive Ehen, schon waren sie Bürger Russlands, konnten das Land privatisieren. Danach begannen sie dort zu siedeln, holten ihre Verwandten und schon gibt es da ein ganzes chinesisches Dorf.“
…passjolok abrasuitsja.“

Erzähler:
Es gebe keine scharfen Konflikte, fährt Sergej fort, aber im Unterbewusstsein der Menschen entwickele sich so etwas wie eine soziale Krankheit:

O-Ton 10: Sergej Ischatarow, Forts.                        0,42   Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden , unterlegen, bei „ras und klapp“ ( 0,37) hochziehen

Übersetzer:
„U nas w` irkutske…
„Wir haben im Irkutsker Verwaltungsbezirk mal gerade zwei Millionen Menschen. Das ist wenig. Das ist fast eine Leere. Und überhaupt leben ungefähr 80 Prozent der russischen Bevölkerung dort, jenseits des Urals, hier diesseits leben sehr wenige. Das ist ja ein riesiges Territorium vom Ural bis nach Kamtschatka am stillen Ozean – es ist praktisch leer, menschenleer. Aber gleich nebenan China! Wo es Milliarden gibt! Das ist den meisten noch nicht ganz klar, es steigt aber langsam in den Köpfen so eine Ahnung auf, dass da gleich nebenan ein Krokodil lauert, das kommen kann und, schnapp, sind wir verschluckt und in fünfzig Jahren ist das hier alles schon China. So ein Gefühl besteht.“
…wot suschustwujet.“

Erzähler:
Seit Einsetzen der Perestroika, also seit Mitte der 80er Jahre, ergänzt Sergei, kommen Chinesen auch als Saisonarbeiter für ein paar Monate über die Grenze. Sie arbeiten gut und für niedrigere Löhne als die russischen Arbeiter. Die verlieren ihre Arbeitsplätze. Dies alles, so Sergei, mache China zum Problem Nummer eins.
Nicht, dass er einen Krieg befürchte, schränkt er ein:

O-Ton 11: Sergej Ischatarow, Forts.                     0,55
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja dumaju…
„Man weiß ja heute, was ein Krieg bedeutet, nein, heut nimmt das den Charakter einer wirtschaftlichen Eroberung an. Diese Bedrohung besteht. So wie Russland früher nach Osten bis zum Pazifik gegangen ist, so wird China mächtiger und mächtiger und geht jetzt nach Westen. Aber es kommt natürlich nicht mit Panzern, nicht mit Kanonen, es kommt mit Handel, wirtschaftlich; es wird auch gemischte Betriebe geben, russich-chinesisch usw. Die Chinesen werden auf diese Weise eine große Rolle in der russischen Wirtschaft spielen und so werden sie es friedlich erobern. Das ist zu befürchten. Das fürchte auch ich.“
…Ja tosche bajus.“

Erzähler:
Das dritte Jahrtausend, so Sergeis Erwartungen, werde ein asiatisches sein:

O-Ton 12: Sergej Ischatarow, Forts.                      0,53
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Da polni…
„Historisch hat es sich so entwickelt, dass bisher die Weißen im Westen die erste Rolle in der Welt gespielt haben, aber nun beginnen die Asiaten sich auf den ersten Platz zu bewegen. Sie lagen lange Zeit zurück, jetzt holen sie auf, jetzt überholen sie und es wird nicht leicht sein, mit ihnen zu konkurrieren. Sie haben eine starke Disziplin, sie haben die Achtung vor den Ältesten, sie haben die Fähigkeit zu arbeiten. Das spielt alles eine große Rolle.  Unsere Werte dagegen sind stark zerstört. Natürlich lieben wir unser Vaterland, unsere Familie, unsere Kinder. Aber in Sachen moralischer Werte, die einen halten, ist es bei uns zur Zeit sehr schlecht.“
…otschen plocha, malawata…“

Erzähler:
An der historischen Fakultät der Universität von Irkutsk hat das Phänomen der „Tschelniki“, der chinesischen Grenzhändler und Wanderarbeiter, zur Gründung eines eigenen Lehrstuhls geführt. „Entstehung und Struktur der Diaspora ethnischer Handelsminderheiten“ nennt Viktor Djadlew, Professor für neuere Geschichte, das Spezialgebiet, in dem er forscht und lehrt.
Die Beziehungen zwischen den Völkern Innerasiens unterliegen einem tiefgreifenden Wandel, erklärt er:

O-Ton 13: Prof. Djadlew                                0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Was uns betrifft, hier im Osten, entwickelt sich eine neue chinesische Diaspora. Es gab eine vor der Revolution, die aber aus unterschiedlichen Gründen verschwand. Die neue Entwicklung beginnt 1980/1982, Perestroika: Die Grenzen zu China wurden geöffnet, katastrophale Wirtschaftslage in unserem Land, absolut leerer Markt, keine Gebrauchswaren, Inflation. In der Situation strömten die Tschelniki herbei, die in ihren Koffern Kleidung, alle möglichen Waren brachten. Das rettete uns damals, denke ich.“
…spassli, ja dumaju.“

Erzähler:
Damals begegnete man ihnen ziemlich freundlich und neugierig, erzählt Professor Djadlew. Es gab praktisch keine Beziehung mit China. Man sah sich von China bedroht. In den sechziger Jahren sah man sich am Rande eines Krieges. Man hatte Angst vor dem chinesischen Staat. Gegenüber dem einzelnen Chinesen aber waren die Beziehungen nicht feindlich. Man schätzte sie als bescheiden, arbeitsam, unaufdringlich.  Deshalb kam man ihnen damals ganz offen entgegen.

O-Ton 14: Prof. Djadlew, Forts.                         1,03
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Potom stala otnaschennije…
„Dann änderte sich die Beziehung. Jetzt ist das Verhältnis zu den Chinesen schwierig. Auf der einen Seite ist ihr Handel von Nutzen,  das gilt auch heut noch: Der Verbrauchermarkt ist gesättigt, es gibt, für unser Verständnis, viele Waren, der Markt hat sich differenziert; es gibt reiche Schichten, gibt Arme in verschiedenen Abstufungen. Die Chinesen beliefern jedoch nach wie vor den Markt der Armen mit Billigprodukten und Arme, die sich westliche Produkte nicht leisten können, für die es aber auch immer noch keine billigen russischen gibt, sind bei uns nach wie vor die Mehrheit. Deshalb spielen die Tschelniki eine große soziale Rolle. Gäbe es sie nicht, wäre das eine soziale Katastrophe und würde zu sozialen Spannungen führen.“
…sozialni naproschonnost.“

Erzähler:
„Sie werden gebraucht, betont der Professor. Andererseits, fährt er fort, liebe man die Chinesen nicht, weil sie Fremde seien.
In einer Region, in der Russen mit vielen anderen Völkern zusammenleben, bedarf eine solche Feststellung natürlich einer Erklärung; de Erklärung, die der Professor gibt, lässt die „chinesische Frage“ in grellem Lichte erscheinen:

O-Ton 15: Prof. Djadlew, Forts.                            0,55
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Esli skaschem, nu…
„Nun, wie soll ich sagen? Mit den Burjaten leben wir hunderte von Jahren zusammen. Wir sind verschieden – nach nationalem Charakter, nach der Art zu leben usw. Aber wir leben schon lange mit ihnen. Wir kennen einander, verstehen einander; Konflikte gibt es, aber die kann man verstehen, das ist die eigene Welt trotz allem. Die zugereisten Chinesen sind eine andere Welt. Darüber hinaus sind sie in sich abgeschlossen. Sie öffnen sich nicht kulturell. Oder nehmen wir die Kaukasier, auch Händler: Sie sind hier in der russischen Provinz sehr unbeliebt, sie werden beneidet, manchmal sogar gehasst. Aber man kennt sie; es ist die eigene Welt. Die Chinesen kommen einfach aus einer fremden Welt wie Marsmenschen.“
…kak Marsian.“

Erzähler:
Aber auch der Professor hegt keine feindlichen Gefühle gegenüber den Chinesen. Er sieht seine Aufgabe darin, die Entstehung der chinesischen Diaspora in Sibirien wissenschaftlich zu beobachten, um daraus Perspektiven zu gewinnen, wie der Prozess der Chinesisierung Sibiriens, den er für unaufhaltsam hält, so konfliktfrei wie möglich und zum Nutzen aller ablaufen kann. Neutral, eher schon kritisch gegenüber seinem eigenen Land, stellt er daher ruhig fest:

O-Ton 16: Prof. Djadlew, Forts.                          0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Glja utschonnich…
„Für russische Wissenschaftler ist das alles ein Geschenk: Wir können die Entwicklung der Diaspora von Null an beobachten. So etwas gibt es in der ganzen Welt nicht. Als wissenschaftliches Problem ist das einzigartig: eine Sache im Prozess ihrer Entstehung zu untersuchen! Das ist natürlich interessant, wichtig und alles – eine andere Sache ist, dass wir es schlecht untersuchen.“
…plocha isutschajem.“

Erzähler:
Kein Geld, stöhnt er, kein Material, schlechte Archive, keine Unterstützung aus Moskau:

O-Ton 17: Prof. Djadlew, Forts.                        0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ponimajetje polutschajetsja tak…
„Es ist ja so: Für Moskau sind einige hunderttausend Chinesen in Sibirien und im fernen Osten ein geringeres Problem als die Möglichkeit zwei, drei Dutzend moderne Torpedoboote zu verkaufen. Das heißt, es gibt eine Hierarchie der Ziele. Die `strategische Partnerschaft´ mit China im 21. Jahrhundert ist um vieles wichtiger als die Rettung  der fernöstlichen Menschen vor dem Eindringen der Chinesen – und das ist richtig. Das ist die Position Moskaus, sie ist logisch, sie ist erklärlich. Aber die Position der Menschen im fernen Osten  hat auch ihre Logik, die ist auch richtig.“
…tosche prawilna.“

Erzähler:
Abwehr der stillen Invasion im Osten zum einen, eine „strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ mit Peking zum anderen – die Moskauer Politik befindet sich ganz offensichtlich in einem Dilemma. Das wird aber nicht nur im Osten so gesehen. Auch in Moskau wird die Problematik erkannt. Professor Maslow, Chinaspezialist an der „Moskauer Universität für Völkerfreundschaft“, der auch als Berater für die Regierung tätig ist, skizziert den aktuellen Stand der russisch-chinesischen Beziehungen so:

O-Ton 18: Prof. Maslow, Moskau                        1,34
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja skaschu tak…
„Sie werden schwieriger. Man kann nicht sagen, ob sie gut oder schlecht sind. Man kann nur sagen, sie sind äußerst, äußerst schwierig. Es gibt ein offizielles und ein nicht offizielles Gesicht. Das offizielle Gesicht sieht zur Zeit so aus, dass sich die Beziehungen zwischen China und Russland in einem gewissen Stillstand befinden: Im Moment beträgt der Handel zwischen China und Russland sechs Milliarden Dollar. Das kommt vor allem durch Waffenlieferungen Russlands an China zustande. Zum Vergleich: Der Handelsumfang zwischen China und den USA beträgt mehr als neunzig Milliarden Dollar, der zwischen Japan und China mehr als fünf Milliarden Dollar. Das heißt, Russland, das doch die längste Grenze mit China hat, hat nur einen  kleinen Anteil an diesen Umsätzen. Als Jelzin nach China ging, wurde mit Jiantsemin, dem Präsidenten der chinesischen Volksrepublik ein Handelsvolumen bis grade einmal 20 Milliarden projektiert, selbst das nur auf lange Sicht. Russland findet einfach keinen Platz auf dem chinesischen Markt. Bei seinem kürzlich erfolgten Besuch, versuchte Putin in China diesen Stillstand in Bewegung zu bringen. Aber bisher sind keine Ergebnisse zu erkennen.
…nje jasni.“

Erzähler:
Man wisse also nicht, ob sich die offiziellen Beziehungen zwischen Russland und China zum Guten oder zum Schwierigen wenden werden, so der Professor. Dies, fährt er fort, sei aber ohnehin nur die äußere Seite der Ereignisse:

O-Ton 19:  Prof. Maslow, Forts.                          1,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nutrije strana…
„Die innere Seite der Ereignisse ist, dass China sich zur Zeit scharf nach Westen wendet. Wenn die alte Generation der chinesischen Kommunisten abtritt, wird sich dieser Kurs noch verschärfen. Ich erwarte Ereignisse, ähnlich den Vorgängen in Russland 1991: Öffnung der Grenzen, scharfer Anstieg der Kriminalität, Anwachsen der Korruption. Es ist wie ein Drache, der sich wendet und dessen Schwanz dabei sehr viele Länder streifen kann. Vor allem wird sich das alles auf das Territorium Russlands auswirken; Russlands Grenzen sind schlecht geschützt, praktisch offen. Aus diesen Gründen ist es mit der `strategischen Partnerschaft´ äußerst schwierig. Sie wird rundum als antiamerikanische Partnerschaft verstanden. Aber hier hat der Balken, wie man bei uns sagt, zwei Seiten: Erstens ist China gewohnt, immer die erste Geige zu spielen; sie werden nie gemeinsam auf gleicher Ebene mit jemandem spielen. Wenn es ihnen nützt, dann werden sie mit Russland gehen, wenn es ihnen nicht nützt, werden sie Freundschaft mit Amerika halten. Chinesisches Denken ist pragmatisches Denken. Das Verständnis von ehrlich oder unehrlich, Vertrag unterschrieben oder nicht unterschrieben gibt es da nicht. Das chinesische Verständnis heißt: Nützlich oder nicht nützlich. Das ist das Erste, was man begreifen muss: Wenn nötig, wird China immer seine eigene Rolle spielen.“
…igratj swoi rol.“

Erzähler:
Das Zweite, was man beachten müsse, fährt der Professor noch im selben Atemzug fort:

O-Ton 20: Prof. Maslow, Forts.                         1,15
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Priblischajus Kitaju…
„Wenn wir uns China auf der antiamerikanischen Welle nähern, entfernen wir uns zugleich vom Westen und nähern uns dem Osten. Das ist für Russland vielleicht auch nicht immer richtig. Russland hat ja gerade eben begonnen aus der imperialen Logik heraus- in eine andere einzutreten. Es gibt ja zwei Logiken, wenn man es allgemein fassen will, die imperiale, das alte Russland, China, einige Länder Afrikas. Und es gibt die Logik der wirtschaftlichen Entwicklung wie die Europas. China und Russland folgen zur Zeit einer anderen als der europäischen Entwicklungslogik. Warum hat sich Russland plötzlich so stark China zugewandt, sogar Nord-Korea und nicht etwa Frankreich oder Deutschland? Weil es psychologisch näher an China liegt. Offiziell werden wirtschaftliche Interessen, Handelsaustausch, Kulturaustausch usw. für die Beziehungen deklariert, dahinter steht aber noch etwas anderes, die gemeinsame imperiale Denkweise.“
…raswitje mischlennije.“

Erzähler:
Trotz der imperialen Denkweise Chinas ist die chinesische Expansion aus der Sicht des Professors aber keine einfache Aggression, der man mit gleichen Mitteln entgegentreten könnte, die man vielleicht – und sei es mit Gewalt – sogar aufhalten könne. Es ist alles viel schwieriger, betont der Professor: Die Expansion Chinas ist für ihn ein objektiver Prozess, der nicht aufzuhalten sei:

O-Ton 20: Prof. Maslow, Forts.                         0,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Predstawftje. tscho jest…
„Stellen Sie sich eine Biomasse vor, einen biologischen Prozess. Die Masse vermehrt sich. In einer Biomasse gibt es kein gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch. Ihre Logik ist die des Überlebens, sie muss alles tun, um zu überleben. So entwickelt sich China. Deshalb sind Absprachen nicht möglich, kann man nichts kontrollieren.
…nelsja kontrollirowatj.“

Erzähler:
Nach unterschiedlichen Berechnungen, so der Professor nüchtern, halten sich auf dem Territorium Russlands zur Zeit sechs bis sieben Millionen Chinesen auf. Für China seien das wenig, für Russland werde daraus die größte nationale Minderheit, größer als die der Tataren mit fünf Millionen. Nicht nur in Irkutsk, nicht nur in der Mongolei, so der Professor,  im gesamten fernen Osten von Kasachstan bis nach Wladiwostok nehme diese Minderheit starken Einfluss auf die Wirtschaft. Wie in Irkutsk springen sie da ein, wo die russischen Kapazitäten nicht ausreichen: Sie sanieren ökologisch gefährliche Kohlegruben, um sie nachher zu bewirtschaften, sie bieten Investitionen an, wenn sie dafür Einsicht in die regionalen Planungsdaten erhalten; sie sind die besten Steuerzahler der Regionen:

O-Ton: Prof. Maslow, Forts.                                             1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wsjo eta na konjetschnam….
„Das alles bedeutet schließlich, dass die Chinesen Einfluss nehmen auf die örtlichen Machtorgane. Sie haben sich angesiedelt, das heißt, sie nehmen Einfluss auf die örtlichen Wahlen, auf die Finanzströme, auf die Steuern, auf die Sozialpolitik usw. Dazu kommt, dass die Chinesen, wenn sie sich im Ausland ansiedeln, im Unterschied zu anderen Völkern, ihre Kultur mitbringen. Wenn ein Chinese nach Chabarowsk kommt, beginnt er dort mit chinesischen Waren zu handeln, wenn er nach, sagen wir, Brighton Beach kommt, handelt er dort ebenfalls mit chinesischen Waren. Das bedeutet, jeder Chinese, der ins Ausland geht, stimuliert seine eigene Wirtschaft. In diesem Sinne geht es jetzt in den russischen Grenzbereichen nicht nur darum dass dort Chinesen einwandern, sondern es verändert sich die dortigen Bedingungen der Zivilisation, es verändert sich der Typ der Zivilisation.“
…Typ zivilisatii.“

Erzähler:
Den anderen Typ der Zivilisation, den er erwartet, charakterisiert der Professor mit den Worten:

O-Ton: Prof. Maslow, Forts.                                1,25
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A ja imeu vidu…
„Ich will sagen, es gibt eine chinesische Zivilisation. Sie wirkt nur nach ihren eigenen Gesetzen und beachtet die Gesetze anderer Zivilisationen nie. Die heutige politische Welt ist gegründet auf Verträge. China ist keine Kultur der Verträge, das ist eine Kultur der Entwicklung. Ich will damit nicht sagen, dass die Politik Chinas aggressiv sei. Nein, es ist die Zivilisation, es ist das, was sich in fünftausend Jahren entwickelt hat. Charakteristisch dafür ist, was die Chinesen unter China verstehen. China ist nicht ein Land, wo es Grenzen für das Land gibt, sondern dort, wo Chinesen wohnen, dort ist China. Für Chinesen in Kalifornien ist dort China. Für Chinesen in Irkutsk ist Irkutsk China. Jeder Chinese fühlt Loyalität einzig mit China. Und seine Präferenz in der Loyalität ist immer China. Der Europäer denkt ein bisschen anders. Ein Chinese baut um sich herum ein kleines China auf. Das ist die Besonderheit der chinesischen Zivilisation: Sie reproduziert sich beständig selbst. Das heißt, das sie gegebenenfalls nicht besiegbar ist, könnte man sagen. Das ist der andere Typ einer Zivilisation.“                                                                    …drugoi tip zvilisatii.“

Erzähler:
Die politische Perspektive, die sich aus all dem ergibt, ist klar und kompromisslos: „Wir müssen erkennen“, betont der Professor mit Blick auf  die Grenze zwischen China und Russland, „dass wir diese Regionen bereits verloren haben, dass wir diese Vorgänge nur noch regulieren können. Wir müssen uns arrangieren.“ Die politische Perspektive, die sich aus all dem ergibt, klingt bei ihm klar und kompromisslos:

O-Ton 21: Prof. Maslow, Forts.                                            1,16
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen (oder wahlweise auch schon O-Ton 22 – Musik – hochkommen lassen)

Übersetzer:
„Protiwostanne meschdu…
„Der Widerspruch zwischen Russland und den USA, der sich jetzt entwickelt, stärkt notwendigerweise China. Die USA hat heute sehr große soziale Probleme, das ist bekannt. Viele Analytiker sagen, dass die USA noch zehn, höchsten fünfzehn Jahre auf dem jetzigen Level existieren kann, dann beginnt eine Währungskrise, Produktionskrise, soziale Krise. In China dagegen ist das Potential der Reform noch nicht einmal erschöpft. Was folgt daraus? Bei einer absehbaren Schwächung von Russland und den USA wird solch ein Gigant wie China sich erheben. Die USA begreifen heute nicht, dass Russland der einzige Puffer zwischen China und der übrigen Welt ist. Russland befindet sich nicht nur in einer Übergangssituation, es ist auch selber ein Übergang, eine Brücke zwischen den Kulturen – und ein Puffer, ein Puffer, der in gewissem Maße das Überrollen der übrigen Welt durch China kompensiert. Je schwächer Russland, desto stärker China und umso größer seine Möglichkeiten, den ersten Platz unter den Zivilisation der Welt einzunehmen.
…wot eto zivilisatii.“

Erzähler:
Diesem Bild muss nichts hinzugefügt werden.

O-Ton 22: Musik
Regie: Ton langsam kommen lassen, nach dem Erzähler hochziehen und mit Beifall ausblenden.

Erzähler:
Eine multizentrale Welt, die nicht nur eine herrschende Macht kennt, sondern auf gleichberechtigten Beziehungen der Völker basiert, wie sie gegenwärtig als Inhalt der strategischen Partnerschaft zwischen China und Russland propagiert wird, hat selbstverständlich nur dann eine Chance, wenn Russland seine gegenwärtige Schwäche überwindet.

Das neue Russland – Glasnost adè?

Kai Ehlers,  Publizist, Email: info@kai-ehlers.de  Website: www.kai-ehlers.de   Datum:
Rummelsburger Str. 78, D – 22147 Hamburg,  Tel/Fax: 040 / 64 789 791  (64 821 60 priv.)
© Kai Ehlers, Abdruck gegen Honorar (einschl. MwSt) Kto: 1230/455980 BLZ: HaSpa  20050550
Mein Zeichen: 000620glasnost adee fertig

Das neue Russland – Glasnost adè?

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Töne bitte alle leicht an- und abblenden

Falls Kürzungen notwendig sein sollten, schlage ich vor:
1.    Kleine Variante: O-Ton II,16 und den davor stehenden Erzähler: „Die neue Präsenz…“
2.    Große Variante: O-Ton 16, II plus Erzähler, dazu noch O-Ton 17, II sowie den zwischen O-Ton 16. II und 17, II stehenden Erzähler.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Das neue Russland – Glasnost adè?

Russlands neuer Präsident Wladimir Putin macht internationale Schlagzeilen – allerdings nicht unbedingt zu seinen Gunsten. In letzter Zeit sind es vor allem, nicht gerechnet die Meldungen über die Fortdauer des Krieges in Tschetschenien, die Aktionen gegen die Medien, mit denen der neue Herr des Kreml von sich reden macht: Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes 1999 waren es die Jubelberichte für den neuen starken Mann, verbunden mit Diffamierungskampagnen gegenüber seinen politischen Gegnern, die ins Auge stachen. Im Februar 2000 war es die provokative Verschleppung des Kriegsberichterstatters Sergej Babizkis, die mit Wissen des neuen Präsidenten geschah. Im April 2000 überfiel eine Horde Maskierter die Büros des Medienkonzerns „Mediamost“, zu dem der regierungskritische Fernsehsender NTW, „Radio Moskau“ und die Zeitung „Sewodnja“ gehören. Lürzlich sorgte die Verhaftung des Eigentümers der Mediamost, Wladimir Gussinskis, für internationale Proteste. Sind die Zeiten von Glasnost für Russland endgültig vorbei? Dieser Frage geht unser Autor Kai Ehlers mit einer Skizze der letzten Monate nach.

I, O-Ton 1: Presseausstellung, Verkaufsstand    1,10
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen und verblenden mit Bobby zwei, O-Ton 1

Erzähler:
(Musik, Lied…
Moskau. Organisierte Fröhlichkeit am Ausstellungs-Stand der „Komsomolskaja Prawda“. Kein halbes Jahr ist es her, da fand sich alles, was im Medienbereich Rang und Namen hat, zur großen Medienmesse auf dem zentralen Moskauer Ausstellungsgelände ein. Es heißt immer noch „WDNCHA“, auf deutsch „Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR“. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die schmutzigen Kampagnen zur Duma-Wahl über das Land schwappten, demonstrierte die Stadt Moskau eine Woche lang Pressevielfalt.
Hier, am Stand der „Komsomolskaja Prawada“, dem auflagenstärksten Boulevardblatt Russlands, werden Luftballons und T-Shirts mit dem Namenszug der Zeitung verteilt. Per Video kann man sich selbst singen hören. Junge Frauen agitieren mit Lobliedern auf die Zeitung. Eine von ihnen nimmt sich eifrig des ausländischen Besuchers an:

II, O-Ton 1: Gespräch mit Redakteurin am Stand    0,46
Regie: O-Ton ganz stehen lassen, am Schluss allmählich ausblenden

Redakteurin, O-Ton deutsch: Hier haben wir eine Ausstellung. Das ist eine Ausstellung – natürlich wissen Sie das – „Presse 2000“. Unsere Zeitung ist die größte Zeitung in Russland. Wir haben Mehrheit in Moskau, und auch in Russland. Deshalb haben wir eine interessante Zeitung, die schon im nächsten Jahr fünfundsiebzig sein wird…“
Nach dem Stichwort „wird“ langsam ausblenden

Erzähler:
Von Problemen mit der Pressefreiheit will man an diesem Stand nichts hören. Auf Fragen zum schmutzigen Wahlkampf antwortet die junge Frau:

II, O-Ton 2: „Komsomolskaja Prawda“, Forts.    0,34
Regie: O-Ton ganz stehen lassen, am Schluss allmählich ausblenden

Redakteurin, O-Ton deutsch:
„Wir sind keine staatliche Zeitung, wir sind selbstständig. Wir erzählen in unserer Zeitung alle Nachrichten. Wir gehören zu keiner Partei und wir schreiben das, was für die Leute interessant ist. Was Politik betrifft: Wir haben verschiedene Meinungen, viele Leute kommen zu uns…“
Bei Stichwort „zu uns“ langsam ausblenden

Erzähler:
Und nicht nur das:

II, O-Ton 3: „Komsomolskaja Prawda“, Forts.    0,31
Regie: O-Ton ganz stehen lassen, am Schluss leicht abblenden

Redakteurin: O-Ton deutsch
„Es ist auch interessant, dass wir unseren Chefredakteur selbst wählen. Und das Kommando entscheidet, wem wir unsere Emotionen, unsere Möglichkeiten in der Zeitung geben oder nicht. Es ist nicht käuflich. Einer kann kommen und sagen, ich bezahle das und das. Aber wir werden das nicht schreiben, wenn wir nicht einverstanden sind.“
…einverstanden sind.“
Erzähler:
Die organisierte Munterkeit am Stand der „Komsomolskaja Prawda“ verweist alle Klagen über den Verlust der Pressevielfalt in den Bereich von Vorurteilen. An anderen Ständen ist es nicht anders: Ein paar Gänge weiter, einträchtig zwischen der „Iswestija“ auf der einen, der liberalen „Njesawissimaja Gazjeta“ auf der anderen und der vaterländischen „Sowjetskaja Rossija“ gegenüber kann man auf den Stand von „Kommerssant“ stoßen. „Kommerssant“, zu Zeiten der Perestroika und während der Jelzin-Ära, als unabhängiges Wirtschaftsblatt hoch angesehen, wurde im Zuge des Wahlkampfes von Wladimir Beresowski, dem finanziellen Sponsor der Jelzin-Familie und Förderer Wladimir Putins aufgekauft. Von vielen wurde dies als Signal für das Ende der Pressefreiheit in Russland verstanden, mit der Vorgänge wie die Eingliederung der „Sewodnja“ in die Most-Gruppe Gussinskis, die Übernahme der „Literaturnaja Gasjeta“ durch die Luschkow-Gruppe und andere vergleichbare Ereignisse mehr ihren Höhepunkt fänden. Aber auch am Stand des „Kommerssant“ gibt man sich nach wie vor frei:

II, O-Ton 4: Am Stand von „Kommersant“    0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wir sind hier, um weitere Leser für unser Blatt zu werben und dafür, dass unsere Leser sehen, dass wir uns an dieser Ausstellung beteiligen, dass wir lebendig sind. Dies um so mehr, als es Gerüchte gibt, dass unser Blatt an Herrn Beresowski verkauft wurde und unsere Sache sich dadurch verschlechtere. Tatsächlich hat der Verkauf an Beresowski keinerlei Veränderungen für das Blatt gebracht, insofern er am Status unseres Hauses nichts geändert hat. Wir sind nach wie vor eine unabhängige Zeitung. Auch wenn Beresowski die Mehrheit unserer Aktien besitzt, bleiben wir eine unabhängige Presse, im Kern unabhängig.“
…njesawissimi pressi.“

Erzähler:
Das klingt alles sehr munter. Wer noch die grauen Kioske der späten Sowjetunion erinnert, wähnt sich bei dieser Ausstellung „Presse2000“ mitten im Leben. Die weit über hundert Stände, welche die riesige Halle füllen, vermitteln den Eindruck eines blühenden Pluralismus.
Was tatsächlich innerhalb der Blätter geschieht, die 1999 in den Monaten vor und während der Wahl aufgekauft wurden, schildert Jefim Berschin, langjähriger Redakteur der „Literaturnaja Gasjeta“, die ein ähnliches Schicksal erlitt wie der „Kommerssant“. Seine Begründung, warum er soeben, schweren Herzens, seine langjährige Tätigkeit bei der Zeitung aufgegeben hat, klingt bitter:

II, O-Ton 5: Jefim Berschin    0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Potamu schto literaturnaju…
„Weil Leute die Zeitung gekauft haben, die deren Tradition nicht verstehen, nicht verstehen, wie sie früher war, wie sie heute und morgen sein sollte. Man hat die Besten rausgeworfen, weil sie störten, weil sie nicht wollten, wie sie sollten. Im Ergebnis hat man die Zeitung zerschlagen. Sie ist keine literarische Zeitung mehr. Eine eigene Konzeption für die Zeitung haben sie aber auch nicht, weder wirtschaftlich noch kulturell.
…twortschestwa soderschannije.“

Erzähler:
Sie – das ist im Fall der „Literaturnaja Gasjeta“ eine Moskauer Finanzierungskompanie, hinter der Bürgermeister Lyschkow steckt. Mit den neuen Eigentümern zu reden, so Jefim Berschin,  habe sich als zwecklos erwiesen. Ein Jahr lang habe er gekämpft. Schließlich habe er aufgegeben, nicht zuletzt weil er keine Mitkämpfer gefunden habe. Die Mehrheit seiner ehemaligen Kollegen habe sich ihren Widerstand durch hohe Lohnversprechungen abkaufen lassen. „Und so wie bei uns“, schließt Jefim Berschin,“ ist es auf der gesamten Linie“:

II, O-Ton 6: Jefim Berschin, Forts.     0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Typitschna, c`Iswestija…
„Mit der `Iswestija´ ist es genau dasselbe. Dort haben sie das Team innerhalb eines Jahres zweimal gewechselt. Gekauft wurden sie von der ONEXIM-Bank, irgenwelchen Ölfirmen, Lukoil, glaube ich. Dann wurden sie wieder verkauft. Überall derselbe Vorgang. Beim Fernsehen ist es ähnlich: Was haben wir da? RTR – russisches Staatsfernsehen, dann NTW, das Gussinski gehört und schließlich, ebenso privat ORT, Beresowski. Der einzige unabhängige Kanal ist der  `Kanal der Kultur´, aber der ist so arm, hat keine Reklame; da kriegen die Leute auch keinen Lohn.“
…nje polutschajut.“

Erzähler:
Redakteur Berschin spricht aus, was sich hinter der Fassade der Ausstellung „Presse 2000“ verbirgt. Die Medienlandschaft Moskaus zerfällt in privatwirtschaftlich gesteuerte Clans. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Sendern, Zeitungen, auch Zeitschriften oder Verlagen müssen sich dem entweder beugen oder selbst in die Privatwirtschaft gehen, das heißt sich eine  neuen Job suchen.
Noch deutlicher als in der persönlichen Beobachtung des Redakteurs Jefim Berschin wird das in der „Öffentlichen Expertise“ welche die „Stiftung Glasnost“ zusammen mit der „Russischen Journalistenunion“ und einigen kleineren Rechtshilfegruppen auf einer Veranstaltung während der Ausstellung vorstellte. In ihr sind die Ergebnisse einer langfristig angelegten  Studie niedergelegt, in welcher die Lage der regionalen Medien Russlands entlang von drei Kriterien untersucht wird: Freiheit im Zugang zu Informationen, Freiheit bei der Herstellung und Freiheit der bei Verbreitung von Informationen. Die wichtigste Erkenntnis, welche die Experten bei der Vorstellung der Expertise, zu ihrem Bedauern vor fast leerem Saal, allen anderen Ausführungen vorausstellten, lautete:

II, O-Ton 7: Vortrag zur „Öffentlichen Expertise“    0,21
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, in der Mitte O-Ton anhalten, danach weiter, am Ende hochziehen

Übersetzer:
„Wywod perwie…
„Schlussfolgerung eins: der Unterschied zwischen den Subjekten der Föderation in Bezug auf das Niveau der Pressefreiheit und der Menschenrechte erwies sich als so gewaltig, dass man im Grunde davon sprechen kann, dass in Russland – in einem Lande also (!) –  neunundachtzig verschiedene politische Regimes tätig sind.“
… regimow.“

Erzähler:
Die USA etwa, führt der Redner aus, unterscheide sich, was die Verwirklichung von Rechten zur Freiheit der Presse und der Person betreffe, von Polen weniger als St. Petersburg von Moskau, ganz zu schweigen von anderen Gegenden Russlands, etwa Baschkortastans an der Wolga oder Tscheljabinsk`s hinter dem Ural und anderen Verwaltungsbezirken. Deren Administrationen hätten es gar nicht erst für nötig befunden, auf die Anfragen zu reagieren. „Sie sind einfach ein schwarzes Loch auf der Landkarte der Information und der Freiheit der Medien“, schleßt der Redner.    Erst nach dieser Feststellung geht er zu einer Bewertung der eigentlichen Ergebnisse über. Die fällt allerdings nicht erfreulicher aus:

II, O-Ton 8: „Öffentliche Expertise“, Forts.    0,53
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„Jesli gaworit o…
“Was die staatliche Unterstützung anbetrifft, so hat die erdrückende Mehrheit der Subjekte der Föderation ihre eigene, ganz besondere Art entwickelt, die im Ergebnis der Idee der staatlichen Unterstützung, wie sie in den Gesetzen der Föderation niedergelegt ist, vollkommen widerspricht,.“

Erzähler:
Im Verwaltungsbezirk von Kirow beispielsweise, so der Redner, habe die Administration die Unterstützung der örtlichen Presse direkt von deren Eingliederung in die städtischen Unternehmen abhängig gemacht. In anderen Regionen laufe es ähnlich. „Im Kern“, schließt der Experte, „läuft es also genau umgekehrt wie es soll! Du hältst die Tasche auf, die wirst einer von uns  – dann unterstützen wir dich.“
…tebja paderschim.“

Erzähler:
Nicht nur in Moskau, heißt das, sondern in ganz Russland zerfällt die Medienlandschaft in regionale Fürstentümer, in  wirtschaftliche oder politische Clans. Alexej Simonow, Vorsitzender der Moskauer „Stiftung zum Schutz von Glasnost“, und Mit-Initiator der Expertise, antwortet auf die Frage, wie er angesichts dieser Entwicklung heute seine Aufgabe als Beschützer der Pressefreiheit verstehe, mit einem sarkastischen Bild:

II, O-Ton 9: Alexej Simonow     0,46
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, in der Mitte O-Ton kurz anhalten, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas wasnikla…
„Bei uns hat sich eine absolut paradoxe Situation ergeben. Im Prinzip gibt es in Moskau nichts mehr zu schützen. In Moskau kann man nur noch die Idee beschützen. Warum? Früher gab es klare Linien, da standen sich die Macht oben und die Presse unten gegenüber, da konnte man kleine Anmerkungen schreiben, dass die Macht die Presse nicht unterdrücken solle und ähnliches. Aber jetzt sind es vier Mächte – stellen Sie sich vor, da stehen vier Gruppen von Feuerwehrleuten, die mit ihren Wasserspritzen aufeinander einschlagen – und Sie stehen dazwischen und versuchen jemanden zu helfen trocken zu bleiben. Das ist die Situation.
…wot situazije.“

Erzähler:
Die vier Gruppen, von denen Alexej Simonow spricht, sind die vier großen Sender: er regierungskritische NTW Gussinskis, der regierungsnahe ORT Beresowskis, der Regierungs-Sender RTR sowie der Moskauer Kanal der Luschkow-Gruppe und die zum jeweiligen Clan gehörende Presse sowie Radiosender.  Die Schlachten, welche die vier Clans sich während der Dumawahl lieferten, bezeichnet Alexej Simonow als schmutzig, ineffektiv und absurd. Mit dem Verlust von Pressefreiheit habe das jedoch nicht viel zu tun. Schon der Begriff der Pressefreiheit sei auf Russland nicht anwendbar. Überhaupt führe jeder Vergleich mit dem Westen nur in die Irre.

II, O-Ton 10: Simonow, Forts.                                        0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela wklutschajetsja w´tom…
„Die Sache ist liegt so, dass alle diese Vergleiche Ihrer Situation mit der unseren absolut unzutreffend sind. Die Situation wird ja nicht nur durch Aufteilung der Macht charakterisiert, sondern auch durch die Zusammensetzung ihrer Inhaber, deren Erziehung, deren Bildung, deren Mentalität, deren Fähigkeit oder Unfähigkeit zum Dialog usw.
Ihr im Westen seid mit dem Dialog aufgewachsen, keinem leichten, wenn man die Beziehung BRD-DDR bedenkt, aber doch einem normalen, wir dagegen mit siebzig Jahren Totalitarismus und überhaupt unserer russischen Geschichte. Das ist eine vollkommen andere Erfahrung.
…drugoi oput.“

Erzähler:
Alexej Simonow ist kein Satiriker von Beruf,  auch kein Russophile, der auf die Unvergleichlichkeit des russischen Wesens pocht. Er ist ein   aufgeklärter Westler, der Russland auf den Weg der Demokratie bringen möchte. „Die Stiftung zum Schutze von Glasnost“,1991 mit europäischen und amerikanischen Geldern gegründet und seitdem vom Ausland finanziert, entwickelte sich zu einem wichtigen demokratischen Kontrollorgan des neuen Russland. Im ersten tschetschenischen Krieg war die „Stiftung Glasnost“ Drehscheibe des Medienwiderstandes gegen den Krieg. Sie dokumentierte nicht nur die Übergriffe der Staatsmacht gegen die freie Berichterstattung, sie unterstützte mit Broschüren wie „Journalisten an heißen Punkten“ und anderen Ratgebern die Arbeit der Reporter vor Ort. Selbst vor der Ausgabe von Gasmasken für den Einsatz der Reporter an der Frontlinie schreckte Simonows Büro nicht zurück. Simonows Urteil ist also das eines Insiders, der weiß, wovon er redet. Wie kommt ausgerechnet er zu der Aussage, der Begriff Pressefreiheit sei auf Russland nicht anzuwenden und es gäbe nichts mehr zu beschützen?
Die Antwort Simonows auf diese Frage verblüfft: Zunächst beklagt er den moralischen Niedergang der Medien seit dem Ende des tschetschenischen Krieges und der darauffolgenden Wiederwahl Boris Jelzins zum Präsidenten im Jahr 1996. Vieles habe sich seitdem verändert:

II, O-Ton 11: Simonow, Forts.    1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ismenilas otschen mnoga…
„Der erste Krieg fand statt, als die Presse im Aufwind war. Ohne die Presse wäre das Volk kopfüber auch in den Krieg gestürzt. Damals war die Presse von der Macht getrennt, sie widerstand der Macht, sie erlaubte ihr nicht, bis ans Ende und bis zum Absurden zu gehen. Heute haben wir eine andere Presse; ihr moralischer Zustand ist vollkommen anders. Das ist das Eine. Und dann: Die moralische Verfassung der Gesellschaft verschlechtert sich insgesamt. Ohne die Presse einen nationalen Konsens für den Krieg zu erzielen, war damals nicht möglich. Heute ist das möglich und es gibt kaum einen Politiker, der nicht die nationale Karte spielt. Und schließlich Drittens: 1994, 1995 war, bitte sehr, Tschetschenien noch ein anderes Tschetschenien. Damals konnte man wirklich glauben, dass Tschetschenien um seine Freiheit kämpft. Als aber Raub, Banditismus und Geiselnahme dort Alltag wurden, habe ich selbst den Journalisten abgeraten, dort noch zu arbeiten. Es war lebensgefährlich, es hatte keinen Sinn, das waren schon keine Informationen mehr, sondern Heldentaten, um die es dort ging. Kurz, Tschetschenien hat auch das Vertrauen der journalistischen Gemeinschaft verloren.“
…saobschestwa tosche.“

Erzähler:
Nach dieser Klage über den moralischen Verfall der letzten Jahre fährt Alexej Simonow dann jedoch fort, der Grund für die Entwicklung, die eigentliche Ursache für die heutigen Probleme mit der Presse lägen allerdings nicht in der Tagespolitik, sondern in den prinzipiellen Verhältnissen Russlands, die sich von denen des Westens diametral unterschieden:

II, O-Ton 12: Simonow, Forts.     1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, snatschit nasche situazije…
„An unserer Situation wäre im Grund nichts besonders erschreckend, wenn es so etwas wie eine annehmbare gesunde Wirtschaftlichkeit der Massenmedien gäbe. Ich will sagen, es könnte alles so sein, wie es ist, wenn nur die Teilnehmer dieser Informationsschlachten ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen würden und nicht durch Geschenke, die sie erhalten.“

Erzähler:
Nicht die Ausrichtung der Medien an Marktinteressen ist aus Simonows Sicht das Problem, sondern im Gegenteil, die Missachtung und Unterlaufung dieser Interessen durch die traditionellen russischen Strukturen. Erfolg oder Misserfolg von Redaktionen, so Simonow, müsse doch vom Leser, vom Hörer oder vom Zuschauer abhängen. Dann könnte es Oligarchen geben. Kein Problem, sie würden sich gegenseitig Konkurrenz machen. Das wäre normal, kein Grund sich zu fürchten:
…nje pugajet.“

Erzähler:
In Russland aber gelte das Gegenteil, dort hänge, betont Alexej Simonow, die absolute Mehrheit der Redaktionen von den jeweiligen Geldgebern ab. Anders als im Westen und anders als es in einer Demokratie sein sollte:

II, O-Ton 13: Simonow, Forts.                                           0,45 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wasche gasjeta..
„Ihre Zeitungen, also die im Westen, wenn sie nichts mehr einbringen, werden entweder verkauft oder der Redakteur und  das Kollektiv, die es nicht packen, werden ausgewechselt. Oder die Zeitung wird geschlossen. Äußerlich ist alles wie bei Ihnen, aber im Kern eben nicht, denn im Kern sind 90% westlicher Zeitungen rentabel. Bei uns dagegen bringen 90% der Zeitungen keinen Gewinn! Und mehr noch: wenn in der Provinz rentable Zeitungen erscheinen, werden sie von allen gehasst.“
…nenavidjet wsje.“

Erzähler:
„Werden von allen gehasst“, das bedeutet – werden von allen Obrigkeiten, lokalen wie regionalen, mit Lizenzverweigerung, mit der Steuerpolizei und Ähnlichem unter Druck gesetzt. Das Ergebnis, so Simonow, sind Redaktionen, die durchweg käuflichen Gefälligkeitsjournalismus betreiben. Das Schlimmste aber liege darin,, schließt Simonow, dass unter den Monopolisten, welche die Redaktionen auf diese Weise von sich abhängig machten, der Staat der allergrößte Monopolist sei. Er besitze 40% der Aktien aller Zeitungen. Was dabei herauskomme, sei nicht einmal totalitär. Es sei einfach absurd.

II, O-Ton 14: Meeting            1,53
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verschiedentlich zwischendurch hochziehen, am Ende ganz hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Musik, Prawdu a Babizka…
Nur wenige Monate später ist diese Einschätzung, so pessimistisch sie ist, bereits überholt: Die „Wahrheit über Babizki“ fordern die Demonstranten dieser Moskauer Kundgebung. Die inzwischen von Wladimir Putin geführte russische Regierung, nicht mehr zufrieden mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Medien, ist zu offener politischer Einschüchterung übergegangen: Am 15. Januar wurde der Kriegsberichterstatter des „Radio Liberty“, Sergej Babizki in Grosny wegen angeblich unzureichender Papiere festgenommen Babizki verschwand spurlos für mehrere Wochen. Die Militärische Führung warf ihm Kollaboration mit tschetschenischen Truppen vor. Mitte Februar wurde er in einer spektakulären Geheimdienstaktion, die dem Fernsehen per Video zur Veröffentlichung zugespielt wurde, gegen tschetschenische Gefangene ausgetauscht. Sein Aufenthaltsort blieb aber weiter unbekannt. Babizki war der einzige Reporter, der es zu der Zeit noch wagte, hinter den russischen Linien selbstständig zu recherchieren und mit seinen Berichten die Propaganda der Regierung über die angeblich saubere antiterroristische Aktion in Tschetschenien Lügen zu strafen.
Etwa zweihundert Menschen sind gekommen um Auskunft über den Verbleib von Babizki zu fordern:

I, O-Ton 2: Kundgebungsredner    0,18
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, während des ausklingenden Beifalls mit Erzähler einsetzen

Erzähler:
„Menschen sind frei, wenn sie innerlich frei sind“, erklärt der Redner. „Dafür sind wir hier. Ein freier Mensch, der für viele heute ein Symbol des Widerstandes geworden ist, ist Andre Babizki.“
…Babizki“, Beifall

Erzähler:
Der Beifall aus den Reihen der Kundgebung ist dem Redner sicher.
Im Büro der „Stiftung Glasnost“ ist die Stimmung gedrückt. Die Stiftung hat sich gespalten. Den Chef Alexej Simonow hat eine schwere Krankheit niedergeschlagen. Oleg Panfilow, als unermüdlicher Dokumentarist bis dahin tragender Bestandteil der Stiftung, hat sich im Streit von Simonow getrennt. Die Stiftung ist aktionsunfähig, Ein Ausdruck der Situation. Finster kommentiert Panfilows die Ereignisse um Babizki:

II, O-Ton 15: Oleg Panfilow    0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nowi russki…
„Die neue russische Tragödie heißt Putin, Ja, wenn ich sehe, wie Journalisten schon nach dieser kurzen Zeit der Regierung Putins arbeiten, dann muss ich sagen, dass die russische Presse eine Tragödie durchlebt. Eine Tragödie durchlebt sie nicht nur deshalb, weil ein neuer Mensch, sondern weil eine neue Ideologie an die Macht kam, die im wesentlichen auf die alte sowjetische Ideologie gegründet ist. An die Macht kommen Leute mit KGB-Erfahrung und mit einer Haltung den Journalisten gegenüber wie zu Zeiten des KGB.
…vremion KGB.“

Erzähler:
Die neue Präsenz der alten Strukturen, so Oleg Panfilow, sei bereits während der Wahlkampagne sichtbar geworden, besonders aber im Verlauf des zweiten tschetschenischen Krieges:

II, O-Ton 16: Oleg Panfilow    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Schurnalisti…
„Die Journalisten sind in diese Lage verfallen, weil die Generale am Ende begriffen haben, wer den ersten tschetschenischen Krieg gewonnen hat. Das waren nicht nur die Tschetschenen; eine große Rolle dafür, dass der Krieg eingestellt wurde, spielten vielmehr die Journalisten. Sie zeigten der ganzen Welt, wie dieser Krieg ablief, die Bombardierungen, die Repression, den Terror der Spezialtruppen. Die Generale haben begriffen, dass der zweite Hautfeind neben den Tschetschenen die Journalisten sind und sie tun alles, damit die Journalisten nicht selbstständig dort arbeiten können.“
…eta journalisti.“

Erzähler:
Dafür, so Oleg Panfilow, sei der Fall Babizki der Indikator; er sei aber auch Indikator dafür, dass die Mehrheit der Journalisten die neue Linie bereits akzeptiert habe. Was denn, bitte sehr, davon zu halten sei, wenn ganze 200 von 20.000 Moskauer Journalisten dem Aufruf zu einer Kundgebung folgten? Nur wenige Zeitungen erlaubten sich eine eigene Meinung, so etwa die „Nowaja Gasjeta“, die „Moskowski Nowosti“ oder „Sewodnja“; die meisten diffamieren Babizki als Verräter. Echten Widerstand gebe es nur aus den Menschenrechtsgruppen und von  Seiten einiger Liberaler. Noch könnten sie ihre Kritik vorbringen:

II, O-Ton 17: Oleg Panfilow    0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Paka u nich jest…
„Zur Zeit können sie das mit Hilfe der einzigen Fernsehgesellschaft Russlands, NTW, die ihnen diese Möglichkeit gibt und mit Hilfe einiger Rundfunksender wie „Echo Moskaus. Es gibt auch noch einige westliche Radiosender wie „Radio Liberty“ oder Deutschlandsender, die allerdings nur wenige Leute hören.“
…ludej.“

Erzähler:
Andrej Babizki selbst sieht sich als Held wider Willen. Am 1. März 2000 kann er sich dem Versuch entziehen, ihn mit falschem Pass über die Azerbeidschanische Grenze abzuschieben. Seitdem lebt er frei, aber ohne Papiere und unter unbestimmter Anklage in Moskau. Er muss sich verfügbar halten und darf die Stadt nicht verlassen.
Er fühle sich persönlich eingeengt, erklärt er Ende April bei einem Gespräch zu Haus in seiner Wohnung. In Bezug auf Wladimir Putin gibt er sich jedoch, allen Erfahrungen zum Trotz,  ganz gelassen. Wladimir Putin ist für ihn ein kulturloser Emporkömmling, der nicht wisse, was wer wolle; er werde die Presse nicht anrühren. Die werde von selber jeden Tag schlechter. Die Zeit des  Kommunismus, fasst Babizki seine Sicht der Lage zusammen, sei glücklicherweise vorbei:

II, O-Ton 18: Sergej Babizki      0,59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta wlast nje stawit
„Diese Macht zielt nicht auf unmittelbare Vernichtung von Menschen wie die Kommunisten oder Faschisten. Sie nutzt dieselben Methoden der Regierung, aber nicht logisch, nicht konsequent, nicht per Doktrin, der sie folgen würde. Sie bewegt sich noch, sucht noch, ist noch nicht als Doktrin formuliert. Sie ist auf der Suche nach einer passenden und ihr selbst verständlichen Ideologie., aber sie kann sie nicht finden und nicht danach handeln. Ich denke, dass ist eine rezessive Bewegung, die kann fünf Jahre dauern, zehn, fünfzehn. Aber dann wird das schon eine ganz andere Situation sein, eine ganz andere Art der Kontrolle, ein ganz anderes Leben. Das ist dann eine wesentlich freiere Situation, natürlich.“           …swabodna situazia, konjeschna.“

I, O-Ton 3: NTW-Programmusik      1,19
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Mitte Juni schlägt das Pendel erst einmal zur rezessiven Seite aus: Wladimir Gussinski, Besitzer der Media-Most wird  verhaftet, nachdem wenige Wochen zuvor bewaffnete Spezialkommandos bereits die Büroräume des Medien-Konzerns überfallen und durchwühlt hatten. Wladimir Gussinski wird vorgeworfen, sich im Zuge der Privatisierung Millionenvermögen durch Schiebung widerrechtlich angeeignet zu haben. Die Nachrichten verstehen es als Schlag gegen die Presse. Wladimir Putin, zu der Zeit zu einem Besuch in Deutschland, erklärt, er wisse von Nichts:

II, O-Ton 19: Wladimir Putin    0,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, in der Mitte Ton anhalten, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sakonnom totschna…
„Im Gesetz ist genau, klar und konkret die Sphäre der Kompetenzen des Präsidenten der russischen Föderation erklärt; die Leitung der Generalstaatsanswalt fällt nicht unter diese Kompetenz. Ich bin nicht unbedingt davon überzeugt, daß die Staatsanwaltschaft so eine Maßnahme wie Arrest ergreifen musste. Aber ich habe auch keine Veranlassung anzunehmen sagen, dass sie ungesetzlich gehandelt hätte.“izkis und danach des Polizei-Überfalles auf die Büros der Media-Most den Eindruck zu erwecken, alles vollziehe sich streng nach Gesetz. Jefgeni Kisseljow, Chef-Kommentator des NTW kommentiert in der von ihm geführten wöchentlichen Sendung „Itogi“, Ergebnisse diese Vorgänge mit den Worten:

II, O-Ton 20: Jefgeni Kisseljow     0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Ton in der Mitte anhalten, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wosrasschajus…
„Um noch einmal auf die Staatsanwaltschaft zu kommen, möchte ich folgendes ergänzen: In der Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts gab es ein epochales Ereignis: Die Nürnberger Prozesse. Dort wurde ein fundamentales Prinzip niedergelegt: Das Vorliegen eines kriminellen Befehls enthebt die Ausführenden nicht der Verantwortung. Daran möchte ich die Staatsanwälte erinnern, die jetzt bei uns ungesetzliche Durchsuchungs- und Haftebefehle ausstellen und absurde Anklagen erfinden. Sich hinter einem Auftrag des Vorgesetzten oder einem Anruf aus dem Kreml zu verschanzen wird nicht gelingen; man wird sich verantworten müssen, früher oder später.“
…posna.“

Erzähler:
Jewgeni Kisseljow schließt mit der Mahnung, sich der Lehren der deutschen Weimarer Republik zu erinnern:

II, O-Ton 21: Jefgeni Kisseljow     1,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

„Übersetzer:
„Njemzi tejelo…
„Die Deutschen durchlebten die Niederlage des ersten Weltkrieges, den Zusammenbruch des imperialen Kaiserreiches: Inflation, Hunger, soziale Spannungen, Krise, die dazu führte, dass die Eliten glaubten, nur noch die starke Hand könne Deutschland aus dem Zusammenbruch führen. – Und bei uns? Niederlage im kalten Krieg, Zusammenbruch des sowjetischen Systems, Zerfall der UdSSR, wirtschaftliche Krise Anfang der 90ger, Inflation, politische Konflikte, Schießereien im Zentrum Moskaus, Panzer gegen das Parlament, der erste Tschetschenische Krieg, die Krise des 17. August 1998 – und genau wie damals in Deutschland verlangt die Gesellschaft nach der starken Hand, auch um den Preis der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten. Die Masse der russischen Elite ist bereit, die Macht in die Hand der lange geschmähten 3. Macht zu legen, Das sind nicht die Kommunisten, das sind nicht die Liberalen, das sind die Pragmatiker mitsamt den früheren Geheimdiensten, die bereit sind, von den Liberalen die Freiheit des Eigentums und von den Kommunisten die blutige Unterdrückung der Bürgerrechte zu übernehmen. Nur könnte es sein, dass wir alle sehr viel dafür bezahlen müssen.“
…doroga saplatit“, Musik
Erzähler:
In dieser Mahnung trifft der Kommentator des NTW sich mit unterschiedlichsten Leuten, die von dem bisherigen Sponsor Wladimir Putins, Boris Beresowski, bis hin zu zum prinzipiellen Gegner Wladimir Gussinskis, dem Chef der Kommunisten Gennadij Szuganow reichen. Sie alle äußern die Befürchtung, dass von von Wladimir Putin heute propagierte „Diktatur des Gesetzes“ morgen mit einem Gesetz zur Ermächtigung eines neuen Diktators enden könnte.
Noch sind solche Befürchtungen nur Befürchtungen. Drei Tage nach seiner Verhaftung war Wladimir Gussinski wieder auf freiem Fuß. Aber schon brachte die Staatsanwaltschaft weitere Namen potentieller Opfer der von ihnen beabsichtigten Säuberungsaktionen ins Spiel. Schon liegt ein neues Gesetz zur Erweiterung der Kompetenzen der Staatsanwaltschaft vor, nachdem gerade eben erst das System der gewählten Gouverneure durch vom Kreml eingesetzte Verwalter ersetzt wurde. Die von Wladimir Putin angestrebte Rezentralisierung des Staates nimmt erkennbare Züge an. Die Zeichen in Russland stehen auf Sturm. Die Angriffe auf die Presse sind nur Vorläufer davon.

Islam in Russland17

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Anmerkung
zu den Verbindungen zwischen den O-Tönen:
Alle Töne haben eine Ende zum Hochziehen – bei den längeren Gesprächspassagen mit mehreren O-Ton-Fortsetzungen könnte es aber auch reichen, einfach auszublenden und zum nächsten Ton überzugehen.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Islam in Russland

Die Selbstmordkommandos in Tschetschenien schrecken die Welt auf. Wie reagieren die russischen Völker? Ist der militante Islam die Antwort auf die gescheiterten westorientierten Reformen? Entwickelt sich eine Kulturfront mitten in Russland?     Wer an die mittlere Wolga fährt, nach Kasan, in die Hauptstadt der tatarischen Republik und von dort weiter nach Osten ins Innere bis in die Industriestadt Nabereschnye Tschelni an der Kama, einem Nebenfluss der Wolga, könnte dort, im Herzen Russlands, einen solchen Eindruck bekommen.
In einer mehr als 500.000 Menschen umfassenden Industrie-Agglomeration von beklemmender Plattenbautristesse, die einst von der Produktion der berühmten sowjetischen Lastwagen Marke „KAMA“ lebte,  heute aber an katastrophaler Arbeitslosigkeit leidet, verbindet ein „tatarisches Zentrum“ den Kampf um kulturelle Eigenständigkeit und Souveränität der Republik Tatarstans mit dem, auch militanten, Einsatz für die Wiedergeburt und Ausbreitung des Islam in Russland.

O-Ton 1: Frauen in der Koranschule     26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
Freimütig wird dem Gast die Koranschule vorgestellt, in der gerade eine Gruppe Frauen unterrichtet wird. „Wir lernen den Islam“, sagt die Lehrerin. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“

O-Ton 2: Koranschule, Forts.                                     559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden

Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, erklärt die Lehrerin weiter. Männer blieben für sich, Kinder ebenso. „Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“  Eine andere Frau zeigt ein Heft. „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“, „Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.

Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, sagen die Frauen. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, meint eine, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo

Erzähler:
Rafis Kaschapow, der Vorsitzende des Zentrums, ein agiler Mittdreißiger, bemüht sich anschließend, uns die Aufgaben des Zentrums zu erklären, nachdem er zuvor eine halbe Stunde lang sein Notizbuch durchtelefoniert hat, um Gesprächspartner für die ausländischen Gäste ins Zentrum zu bitten:

O-Ton 3: Rafis Kaschapow, tatarisches Zentrum    34,4
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen

Übersetzer:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre.  Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“

Erzähler:
In dieser Republik, setzt er gleich noch hinzu – der nächsten Frage zuvorkommend – sollen orthodoxe Christen, Katholiken, ebenso wie verschiedene Ethnien gleichberechtigt miteinander leben wie in anderen entwickelten Ländern.
Der Zusatz war wichtig, denn die Plakate, die im Zentrum aufgehängt sind, ebenso wie die Fotos, die er seinen Gästen zeigt, haben vor allem zwei Themen: die Unterstützung des tschetschenischen Volkes und den Kampf um die eigene Identität in einem freien Tatarstan. Der Kampf gegen die russische Kolonisation, die Rafis Kaschapow von der Eroberung Kasans durch Igor den IV., den sog. Schrecklichen im Jahre 1552 an datiert, und die Stärkung des Islam scheinen darin eine untrennbare Einheit zu sein, jedenfalls überwiegen Moscheen als Motive auf den Plakaten und Berichte vo Treffen mit „Islamischen Brüdern“ in den Erzählungen Rafis Kaschapows. Einmal im Jahr organisiert das Zentrum zudem landesweite Aktivitäten zum Gedenken an den Tag der Eroberung Kasans durch Moskau, ebenso wie mindestens einmal im Jahr einen Hilfskonvoi für Tschetschenien, humanitär, wie Rafis betont. Dabei zeigt er allerdings nicht nur Bilder von den Konvois, sondern voller Stolz auch solche, auf denen er mit den tschetschenischen Warlords zu sehen ist. Sogar Fotos der umstrittenen weiblichen Scharfschützen zeigt er vor.
Ist tatarische Identität für ihn also doch identisch mit muslimischer? Auf diese Frage antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 4: Rafis Kaschapow, Forts.     1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – das sind zur Zeit mehr als rund 20 Millionen, vielleicht nicht sehr gläubig, aber doch immerhin, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während die orthodoxen Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen klagen. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“

Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende allerdings nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatar-turkischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands  gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural  habe man geträumt, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Zaren oder später der Partei. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.

O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts.     0,22
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer:
„Idjot dawlennije…
„Es wird Druck ausgeübt von Seiten der russischen Föderation, denn je mehr Selbstbewusstsein die Völker entwickeln, je stärker die Tendenzen zur Wiedergeburt – angefangen im Kaukasus, aber auch an der Wolga bei den Tataren, Utmurten, Mari, Tschuwaschen, Baschkiren – umso eher fällt das russische Imperium auseinander.“
…russiski imperii.“

Erzähler:
Das Spektrum der Menschen, die Rafis Kaschapows Telefonaten Folge leisten und für ein Gespräch mit den Ausländern ins Zentrum kommen, ist überwältigend – es reicht vom bekannten Kulturfilmer der Region über den Gewerkschaftssekretär bis hin zu Historikern, die mit der Aufarbeitung der in den russischen Geschichtsbüchern vergessenen Geschichte des Wolgaraumes befasst sind. Das ist die Geschichte der Hunnen, deren Nachkommen hier über sieben Jahrhunderte das Reich der Wolgabolgaren beherrschten; das sind die Mongolen-Tataren, die dieses Reich der Bolgaren zerschlugen, als sie nach Westen vordrangen, und daraus das Khanat Kasan machten, bis Iwan IV. es 1552 eroberte. Es ist eine Zeit der wechselnden nicht-christlichen religiösen Orientierungen. Die Mongolen brachten den Islam, Ivan IV. eroberte Kasan im Namen des Christentums. Heute existieren an der mittleren Wolga Christentum, Islam und naturreligiöse Bekenntnisse nebeneinander.
Als letzten in der langen Reihe kündigt Rafis Kaschapow schließlich lachend einen „Wahabiten“ an. Es erscheint ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart nach Art der tschetschenischen Warlords. Er selbst stellt sich als Scheich Adin vor, Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabereschnye Tschelni. Gefragt, was er von der Charakterisierung als „Wahabit“ halte, antwortet er:

O-Ton 6: „Wahabit“ Scheich Adin     1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden

Übersetzer:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“

Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden

Übersetzer: Forts.
Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…Fundamentalistom i protsche.“

Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben. Was er darunter verstehe?

O-Ton 7: Scheich Adin, Forts.     1,16
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jesdestwenna tschelowjek…
F: Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus ist im Prinzip ein Gesandter Allahs; wir erkennen ihn als Gesandten Allahs an, der seine Gesetze gebracht hat. Vor ihm gab es sehr viele andere, zum Beispiel auch Moses. Aber der letzte Gesandte Allahs ist Mohammed. Mit Mohammed beschloss Allah seine Offenbarung. Der Koran ist das abschließende heilige Buch und bis zum heutigen Tag gibt es kein weiteres Buch von Allah. Alles was heute an Büchern erscheint wie die vom Typ Himalaja, Brahmanismus, Hinduismus usw., alles das ist schon auf dieser letzten Offenbarung begründet; das ist alles schon nicht mehr direkt von Allah. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“

Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Ob er das selbst als Fundamentalismus verstehe?

O-Ton 8: Scheich Adin, Forts.     0,53
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja nje snaju…
„Ich weiß nicht, was man unter dem Wort Fundamentalismus verstehen soll. Ich verstehe darunter, dass ein jedes Gebäude, das man bauen möchte, mit dem Fundament beginnt. Unser Fundament ist der Koran und die Sunna, das heißt, die uns überlieferten Aussprüche und Lebensgewohnheiten des Propheten  Mohammed, die als Richtschnur des islamischen Lebens gelten. Selbstverständlich sagen wir, dass es nötig ist, zum  Echten zurückzukehren, frei von den späteren Zusätzen, die jedes islamische Volk, jeder islamische Staat mit seinen Gewohnheiten hinzufügte. Das muss man alles aus dem Islam hinaussäubern und wenn die Menschheit diesen Weg geht, die ideale Gesellschaft aufbauen.“
…postroit idealno obschestwo.“

Erzähler:
Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland:

O-Ton 9: Scheich Adin     0,33
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun, my staraimsja….
„Wir bemühen uns natürlich irgendwie; man muss darüber nachdenken. Aber verstehen Sie, schon der Prophet hat vorausgesagt, dass Juda sich in 71 Sekten spalten wird, die Christen in 72 und die Muslime in noch mehr, nämlich 73. Das ist also schon Bestimmung und deshalb wird es nie geschehen, dass die Muslime sich in einer Gemeinde vereinigen.“
…adnu Ummu kakuju.“

Erzähler:
Auch in Russland nicht, setzt er hinzu. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?

O-Ton 10: Scheich Adin; Forts.     0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims –  uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumitarnom pomotschom.“

Erzähler:
Viele junge  Männer, die hinunterfuhren, kam aus dem Umkreis des Komitees, erklärt Scheich Adin, von ihnen fuhr keiner für humanitäre Hilfe:

O-Ton 11: Scheich Adin, Forts.    0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen wir Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“

Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
… olje Allacha.“

Erzähler:
All dies aber scheint Scheich Adin noch nicht ausreichend. Gut ausgehen könne der Krieg nur, meint er, wenn er insgesamt im Namen Allahs geführt werde. Bisher sei er aber ein rein kolonialer gewesen, der um Unabhängigkeit von Moskau geführt wurde:

O-Ton 12: Scheich Adin, Ende    0,18
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No, tam vot imena…
„Die eigene Mission hat das tschetschenische Volk noch gar nicht erkannt, sonst hätten schon nach dem ersten Krieg, der ihnen doch den Sieg brachte, die Gesetze Allahs eingeführt. Aber das ist leider nicht gelungen.“
310 …nje polutschilos.“

Erzähler:
In Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan will man von solchen radikalen Tönen nichts hören.

O-Ton 13: Innenstadt von Kasan    0,40
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Eine Dummheit sei dieser Krieg“ meint dieser junge Passant in der Innenstadt. „Ausdruck mangelnder Bildung.“ Man müsse sich um seine eigenen Dinge kümmern. „In Tatarstan gibt es keine Basis für Nationalismus und religiösen Extremismus“, erklären ein paar Studenten. „Wir leben hier in gemischter Ehe“, lacht dieses Paar. „Da weiß man gar nicht mehr, was woher kommt.“ Im Übrigen haben sie ihre privaten Sorgen.
…spassiba, Auto, Musik

Erzähler:
Auch im tatarischen Zentrum, das es hier in Kasan ebenfalls gibt, schlägt man leisere Töne an als in Nabereschnye Tschelni. Ja, Freiwillige für Tschetschenien gebe es, bestätigt Ildus Sadikow,  Präsident des Zentrums:

O-Ton 14: I. Sadikow, Tatarisches Zentrum, Kasan    0,41,5
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No, eta nje na…
„Aber das ist nicht auf staatlicher Ebene, das ist der Wunsch von Einzelnen, die – sei es aus religiösen, sei es aus moralischen Gründen – ihren muslimischen Brüdern helfen wollen. Unsere Organisation ist dagegen! Wir sind gegen jede Gewalt! Wir setzen unsere Kraft dafür ein, entsprechend der internationalen Rechte und denen der Verfassung zu handeln. Man darf uns allerdings auch nicht zwingen Gewalt einzusetzen – sagen wir so.
…tak gawarim.“

Erzähler:
Schon im ersten Krieg 1994 – 96 habe das Zentrum die Regierung Tatarstans aufgefordert, keine Rekruten für den Krieg zu stellen, erklärt Ildus Sadikow. Schließlich habe das tatarische Parlament ein entsprechendes Gesetz beschlossen. Jetzt im zweiten Krieg habe Moskau den Präsidenten Tatarstans, Schamijew aber gezwungen, die Verordnung zurückzunehmen, sodass jetzt muslimische Rekruten auf muslimische Tschetschenen schießen müssten. Das könne nicht ohne Folgen für die innere Situation Tatarstans bleiben, denn selbstverständlich spiele der, wie Ildus Sadikow sich ausdrückt, islamische Faktor eine bedeutende Rolle für Tatarstan:

O-Ton 15: Ildus Sadikow, Forts.      1,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W Islamje, kak wy snaetje..„
„Im Islam, wie Sie wissen, betrachten sich die Muslime als Brüder. Der Islam ist eine friedliche Religion. Zumindest der hanafizische Islam unserer Region fördert die friedliche Beziehung zwischen den Völkern. Wir haben kein Feindbild von anderen Nationen, obwohl die Russen uns bekriegt haben. Aber wir sind duldsamer als unsere Eroberer.  Was die Beziehung zwischen Tatarstan und anderen muslimischen Staaten betrifft wie Kasachstan, Usbekistan, Azerbeidschan, sogar Tschetschenien, so sind wir natürlich durch den Islam miteinander verbunden. Wir sind Anhänger des Islam! Aber ich betone noch einmal, wir sind Anhänger des friedlichen Zusammenlebens mit anderen Völkern.
Leider gibt es Leute, die sehr wenig vom Islam verstehen und ihn für ihre Ziele benutzen; ich meine den Wahabismus. Durch die Aktionen der Wahabiten in Dagestan wurden die Beziehungen zum Islam insgesamt belastet. Allerdings muss man sagen: In Saudi-Arabien gibt es auch Wahabiten, der ganze Staat ist wahabitisch, aber niemand in Russland kommt – bisher – auf die Idee, sie zu bombardieren. So gesehen hat sich das russische Zentrum also ein neues Feindbild geschaffen; es findet eine bewusste Verzerrung des Islam durch die Regierungspropaganda statt. “
… propaganda i agitatii.“

Erzähler:
Die Gründe dafür, so Ildus Sadikow, seien nicht religiöser, sondern wirtschaftlicher Natur. Das Feindbild Islam eigne sich ausgezeichnet, um den Zugriff auf die Gebiete mit großen Öl- und sonstigen Naturstoffreserven zu rechtfertigen. Interesse daran hätten nicht nur Russland, sondern auch die USA und andere imperiale und koloniale Mächte.
Noch klarer wird die Zurückhaltung im „Geistlichen Zentrum des Islam“. Das ist das höchste religiöse Organ und zugleich die Verwaltungsspitze des Islam Tatarstans. Über 1000 Moscheen, Kulturstätten und Schulen sind in diesem Zentrum durch den von ihnen gewählten obersten Mufti vertreten. Waljulla Yaghub, des Muftis Assistent, ein beleibter junger Geistlicher in schwarzer Robe, distanziert sich namens des Zentrums mit sanfter, fast unhörbarer Stimme, aber definitiv von dem, was in Russland Wahabismus genannt wird. Dies sei nicht mehr als ein Ausdruck der Unkenntnis des Islam nach den langen Jahren seines Verbotes, erklärt er:

O-Ton 16: Waljulla Yaghub,
Geistliches Zentrum des Islam in Kasan.    1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, schto kassajetsja…
„Der Wahabismus ist eine Strömung des Islam, in der Sprache von heute gesprochen, eine Sekte, die ihre theologisches Besonderheiten hat. Im Prinzip stellt sie selbst keine besondere Bedrohung dar. Jetzt breitet sie sich besonders auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion aus, wo Religion überhaupt siebzig Jahre lang verboten war und wo die dort lebenden Muslime von ihrer Religion sehr wenig wissen. So stoßen  die Rezepturen des Wahabismus auf das Unwissen vom Islam, so führt seine Ideologie zu einer Primitivisierung, das heißt zu einer Disziplinierung des Islam, was Extreme und Gewalttätigkeiten hervorbringt. Im Prinzip gibt es überall wahabitische Tendenzen, aber dort, wo der Islam nicht so heruntergekommen ist, gibt es keinerlei Exzesse. Im Kaukasus gibt es aber besondere Bedingungen, die dem Wahabismus Aufmerksamkeit verschaffen. In unserer Republik hat er praktisch kaum Einfluss. Seine Ideen verbreiten sich natürlich, aber außer in engen Gruppen junger Leute, vielleicht einige Dutzend, gibt es keine Anhänger.“
…adeptow njet.“
518… adeptow njet.“

Erzähler:
Auf Nabereschnyre Tschelni hingewiesen, von wo aus doch sogar Freiwillige für den heiligen Krieg angeworben würden, antwortet Waljulla Yaghub:

O-Ton 17: Waljulla Yaghub, Forts.    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jest, no ich otschen mala…
„Gibt es, aber sehr wenige und vor allem in der Stadt Nabereschnije Tschelni. Das ist eine künstliche, eine riesige Stadt. Sie wurde für die Produktion der KAMA-Laster praktisch aus dem Wald geschlagen. Dort versammelten sich Menschen, vor allem junge Menschen, die der KOMSOMOL, der kommunistische Jugendverband dorthin organisiert hatte. Da gibt es keine ältere Generation. Es kamen nur die Komsomolzen. Sie bekamen Kinder, so leben dort heute nur junge Leute. In Kasan, wo die Strukturen nicht zerstört sind, gibt es unter den jungen Leuten praktisch keine Wahabiten. In Nabereschneje Tschellni gibt es sie. Aber die Gründe sind nicht vornehmlich religiös, sie liegen in den sozialen Strukturen, in dem Verfall der Generationsbeziehungen, der sozialen Harmonie. Es steht alles sehr scharf: AIDS, Prostitution, dort ist natürlich auch der Wahabismus.“
… tosche tam jest.“

Erzähler:
Noch mehr als zuvor schon der Vorsitzende des Kasaner tatarischen Zentrums bemüht sich auch Waljulla Yaghub darum, die Bereitschaft des Islam zu Koexistenz hervorzuheben und dem Eindruck einer entstehenden Front zwischen Islam und der christlichen Welt entgegenzutreten. Auf die Frage, worin sich das „Geistliche Zentrum des Islam“ vom Patriarchat der russischen Kirche unterscheide, antwortet er:

O-Ton 18: Waljulla Yaghub, Forts.    0,40
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, demokratitschni patriarchat…
„Nun, es ist ein demokratisches Patriarchat. Bei uns ist die ganze Hierarchie gewählt: die Imams in den Moschen werden von den Gläubigen gewählt, in den Regionen die Mufti, die allgemeine republikweite Versammlung der regionalen Muftis wählt den obersten Mufti. 1998 wart bei uns die letzte Versammlung. Es gab sechs Kandidaten, aus deren Reihe der jetzige oberste Mufti in geheimer Wahl bestimmt wurde – also alles analog, aber alles in demokratischer Weise.“
…demokratitschnom putjom.“

Erzähler:
Kooperation mit dem Staat, Kooperation mit der christlich orthodoxen Geistlichkeit, Koexistenz des tatarisch-islamischen Teils der Bevölkerung mit dem christlichen, das sind die Maximen, von denen das „Geistliche Zentrum des Islam in Kasan“ sich leiten lasse, erklärt Waljulla Yaghub. Zur Begründung greift auch er tief in die nationale Geschichte: Seit dem vierzehnten Jahrhundert lebten Russen und Tataren miteinander, das heiße im Kern, Christen und Muslime; mit der russischen Kirche habe man zudem die gleiche Leidensgeschichte während der Sowjetzeit; der Zusammenbruch des sowjetischen Regimes hinterlasse ein geistiges und moralisches Vakuum, bei dessen Auffüllung der Staat auf die Hilfe der Geistlichkeit, muslimischer wie christlicher angewiesen sei; die Bevölkerung habe es gelernt, sich gegenseitig zu akzeptieren, ja, christliche und islamische Kultur hätten sich zu einer eigenen tatarischen Kultur miteinander verbunden. Deshalb, so der Mufti, gebe es für die Tataren keinen anderen Weg als russische Moslems zu sein.
Auf die Frage, ob er diese Art des Zusammenlebens als Modell verstehe, antwortet Waljulla Yaghub:

O-Ton 19: Waljulla Yaghub, Forts.    1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My otschen chatim, schtoby…
„Wir hätten es sehr gern, dass unser Beispiel ein Modell wäre oder irgendwie ein Vorbild, weil – wie Sie richtig bemerken – eine solche Erfahrung einzigartig ist. Wir kennen die spanische Erfahrung, wo die Mohammedaner nicht mit den Christen leben konnten und vernichtet wurde. In Russland versuchte man ebenfalls uns zu vernichten, das ist zweifellos klar, im Laufe von zwei, drei Jahrhunderten. Aber am Ende des 18. Jahrhunderts unter Katharina II., sie war ja übrigens Deutsche, wurde der Islam legalisiert. Vor Katherina II. war es verboten, Moscheen zu bauen, sie wurden immer wieder zerstört. Sie wurden aus Holz gebaut, dann kamen russische Soldaten und brannten sie ab. Über dreihundert Jahre war der Islam verboten. Aber seit Katharina II., der wir sehr dankbar sind und die in unserer Folklore sogar Großmütterchen genannt wird, den Islam, legalisierte, ihm eine geistliche Verwaltung hab, den Mufti zum Kopf der islamischen Hierarchie in Russland ernannte, haben wir sehr interessante Erfahrungen im Zusammenleben gesammelt. Das kann man vielleicht als Muster für alle anderen Länder nutzen, wo  Mohammedaner und Christen aneinandergrenzen, wo diese beiden Zivilisationen sich treffen.“
…wot eta dwe Zivilisazii.“

Erzähler:
Schön wäre es, in der Tat! In der Theorie stimmen damit auch die Hitzköpfe aus Nabereschnye Tschelni überein. Aber selbst dieser auf Kooperation und Koexistenz bedachte Mufti kann nicht verschweigen, dass das Modell Tatarstan keineswegs gänzlich verwirklicht und erst recht nicht verbindlich für ganz Russland ist. Auf gesamtrussischer Ebene hat die russisch-orthodoxe Kirche faktisch die Stelle einer Staatskirche eingenommen, für den Islam gilt das nicht. Von einer Gleichberechtigung zwischen russischem Islam und russisch-orthodoxer Kirche kann keine Rede sein:
Diese Tatsache bewegt Waljullla Yaghub zu dem Zugeständnis:

O-Ton 20: Walyulla Yaghub, Forts.    1,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I wot eta nas otschen…
„Das ist etwas, was uns sehr beunruhigt und wir setzen uns dafür ein, dass nicht zu imperialen Methoden zurückgekehrt wird, dass die orthodoxe Kirche sich nicht zur Staatskirche entwickelt, sich nicht, sagen wir, in russischen Verwaltungsbezirken in extremer Ablehung zu den Moscheen entwickelt. Wir kennen solche Vorfälle in Murmansk, wo der Bau von Moscheen mit Bulldozern verhindert wurde. Das ist unakzeptabel! In Wolgograd wurde der Bau einer Moschee verboten. In der Nähe Moskaus gibt es Städte, wo nach von zwanzig Jahren noch keine Erlaubnis für den Bau von Moscheen erteilt wurde. Das gibt es alles. Aber in unserer Republik gehen wir ganz klar diesen Weg nicht. Und in unserer Republik wird das Vermögen nicht ungerecht aufgeteilt, sondern gleichermaßen beiden Seiten zugeteilt. Wir setzen uns selbstverständlich dafür ein, dass die Russische Föderation in nächster Zeit nicht den Weg des Isolationismus gehen wird, sondern sich an die Vorbilder der allgemeinen europäischen Werte hält.“             …obsche ewropeski zenosti.“

Erzähler:
Diese Kritik gilt dem neuen russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen tschetschenischer Krieg im „Geistlichen Zentrum des Islam von Kasan“ ungeachtet seiner Verurteilung der Exzesse der tschetschenischen Warlords auch als Krieg gegen eine muslimische Bevölkerung verstanden wird:

O-Ton 21: Waljulla Yaghub, Forts.    0,53
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzen:
„Nu, my konjeschna protif…
„Wir sind natürlich gegen solche Methoden. Und wir haben im Namen des `Geistlichen Zentrums´ protestiert. Wir halten diese gewaltsame Vorgehensweise nicht für richtig, nicht diese doppelten Maßstäbe: Was die Banditen betrifft, die gibt es nicht nur in Tschetschenien. Banditen gibt es auch in St. Petersburg; wir nennen sie die kriminelle Hauptstadt Russlands. Dort agiert eine organisierte kriminelle Gesellschaft. Warum wird dann St. Petersburg von niemanden bombardiert und nicht in Dresden verwandelt? Dieser doppelte Maßstab der Politiker ist eine Tragödie für das tschetschenische Volk und es wäre Heuchelei zu sagen, dass man die Tschetschenen nicht auch deswegen bombardiert, weil sie Mohammedaner sind.“        ..potamuschto ani Muselmani….(nuschelt)…eta tosche jest.“

Erzähler:
Die Sprache des Terrors hat, wie man hört, auch in die Rede der Gemäßigten Einzug gehalten. Eine einheitliche Islamische Front gegen Wladimir Putin oder gar gegen den Westen werde es aber nicht geben, schließt Waljulla Yaghub. Zu groß seien die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen des Islam:

O-Ton 22: Waljulla Yaghub, Forts.
2000/4 , Band 6, S. B, 014
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„Wy snaetje…
„Die islamische Konfession ist ihrer Natur nach demokratisch, wie ich gesagt habe, ihre ganze Hierarchie ist eine wählbare. Einer der Gründe dafür ist vermutlich die unbezweifelbare Zersplitterung des Islam. Sogar im Rahmen Russlands sind wir zur Zeit nicht in der Lage uns zu vereinigen. Bei uns existieren mehrere höhere Muftis und unter ihnen solche, die sich gegenseitig als Feinde hassen. Gott sei Dank können wir uns im Rahmen der Republik vereinigen! In der sowjetischen Zeit gab es zwei Lehranstalten, in denen Lehrpersonal ausgebildet wurde, das mittlere Institut in Buchara und das taschkentische Islamische Institut, beide in Usbekistan. Deshalb kommt also die ganze höhere Geistlichkeit des Islam aus der früheren UdSSR; sie sind Klassenkameraden, kann man sagen, sie kommen alle aus einer Alma Mater. Auf persönlicher Ebene gibt es daher Beziehungen, aber nur da. Arbeitskontakte gibt trotzdem es leider überhaupt nicht.“
… sawsjem njet.“

Erzähler:
Für den Kaukasus gilt das Gleiche. Der südliche kaukasische Islam zerfällt in vier sunnitische Richtungen. Tataren und Baschkiren gehören zur Hannafizischen Richtung, die nördlichen Kaukasier sind Sufisten. Die theologischen Unterschiede zwischen ihnen sind so groß, dass sich enge Kontakte zwischen ihnen verbieten. Verbindungen und Treffen finden auch hier auf persönlicher Ebene statt.
Eine Ausweitung des „heiligen Krieges“ aus den tschetschenischen Bergen auf ganz Russland, auf Europa oder gar auf den gesamten Westen, heißt das, ist schon deswegen eine blanke Fiktion. Dazu kommt, dass auch in Tschetschenien nicht nur Muslime leben; andererseits ist Russland ist in seinem Kernbestand an der Wolga zur Hälfte muslimisch, Russlands Südflanke von wird von muslimischen Nachbarn gebildet. Eine Entmischung nach konfessionellen Zugehörigkeiten ist nicht möglich. Deshalb gibt es, um die Worte Waljulla Yaghubs aus Kasan zu variieren, für Russland keinen anderen Weg als das tatarische Modell zu akzeptieren und damit ein Zeichen für die mögliche Koexistenz zwischen Christen und Muslimen zu setzen.

Russlands Wahl: Gibt es eine Opposition zu Putin?

Am 26.3. wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Das Wahlergebnis scheint bereits festzustehen: Nicht um Programme unterschiedlicher Kandidaten wird diskutiert, sondern für oder wider Wladimir Putin: Was bringt der Mann, der durch den Krieg in Tschetschenien populär wurde, für die Zukunft? Fortsetzung der Reformen, Abwendung vom Westen oder beides zugleich? Die Erwartungen sind so geteilt wie sein Programm offen nach allen Seiten ist. Gibt es eine Opposition gegen den neuen starken Mann? Parlamentarisch? Außerparlamentarisch? Wie setzt sie sich zusammen? Über diese Fragen berichtet Kai Ehlers direkt aus Moskau.

*
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies; das Überspielband beginnt mit B

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann am besten eine von den Einführungsszenen der Kundgebung.

Russlands Wahl:
Gibt es eine Opposition gegen Wladimir Putin?

O-Ton 1 A: Kundgebung der  Kriegsgegner     1,35
Regie: Musik langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Moskau. Vorwahlzeit. Ein „Antimilitaristisches Komitee“ hat zu einem „Meeting“ gegen den Krieg in Tschetschenien aufgerufen. Rund zweihundert Menschen versammeln sich unter einem Denkmal von Karl Marx in der Innenstadt. Spruchbänder und Tragschilder fordern den Schutz der Menschenrechte, warnen vor einer KGB-Diktatur; vereinzelt sind auch rote Fahnen zu sehen. Hauptadressat des Protestes ist Wladimir Putin. Er wird verantwortlich gemacht für den Krieg. An ihn, obwohl bisher nur vorübergehend amtierender Präsident, richten sich die Forderungen für eine sofortige Beendigung des Krieges und den Aufbau einer zukünftigen Zivilgesellschaft in Russland, als wäre die Wahl für den neuen Präsidenten schon entschieden. Gibt es keine Alternativen zu Putin? Oder entsteht doch eine neue Opposition? Ein Teilnehmer der Kundgebung, der sich als Mitglied einer „Vereinigung für revolutionäre Kontakte“ vorstellt, antwortet auf die Frage, was er zu diesem Problem denke:

O-Ton 1 B: Junger Mann     0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Musik, Snaetje, ja nje dumaju…
„Wissen Sie, ich denke nicht nur, dass es eine Opposition geben wird, ich weiß, dass es sie bereits gibt: Wir sind es! Ich zum Beispiel stehe in
Opposition zu Putin; die Leute da drüben ebenfalls. Wir können Ihnen gleich einen Flugzettel geben, den wir gegen Putin geschrieben haben.  Im Moment ist die Opposition gegen ihn klein, das ist ein Fakt. Bedauerlich. Aber Putin selbst wird dafür sorgen, dass sie wächst, Je stärker er seine Politik gegen das Volk richten wird, umso stärker wird die Position der Bevölkerung gegen ihn werden.
…0pposizia narodow.“, Musik

O-Ton 2 A: Weiterer Teilnehmer des „Meetings“    0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Budit, li…
„Ob es eine Opposition gegen Putin gibt? Ja, wird es wohl, wenn Putin den anderen Kräften weiterhin so wenig Raum lässt“, meint dieser Mann. Er ist gekommen, um gegen die Einschränkung der Pressefreiheit zu  protestieren, die sich an der Festsetzung des Kriegsberichterstatters Babizki durch die Armeeführung zeige. „Ich bin ebenfalls Journalist“, meint er, „wenn auch kein politischer. Morgen kann es mich treffen wie schon früher, als man nicht die Wahrheit über die Genforschung sagen durfte.“ Aber ob Putin wirklich den Kurs fortsetzen werde, den er jetzt eingeschlagen habe? „Er hat bisher kein Programm“, meint der Mann, “es ist alles nicht so ganz klar.“
…nje otschen.“ Trommeln

O-Ton 2 B: Trommeln    0,22
Regie : O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Die Trommeln  führen zu einer Gruppe gelbgekleideter buddhistischer Mönche, junge Russen mit einem japanischen Lehrer. Man sieht sie auch ohne Anlass mit ihrer Trommel durch Moskau ziehen. Heute verstehen sie sich als Bestandteil des „Meetings“. Bereitwillig erklärt der japanische Meister ihre Motive:

O-Ton 3 A: Buddhistischer Mönch     0,30
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We as buddhistic…
„Wir als buddhistische Mönche können nicht akzeptieren, was in Tschetschenien geschieht. Das ist ein wirkliches Verbrechen, ein sehr beschämendes Verbrechen gleich zu Anfang des 21. Jahrhundert. Und wir schließen uns diesem Meeting mit der Forderung an: Stoppt den Krieg in Tschetschenien! Hört auf die Menschen dort zu töten!“
… Tschetnja“, Musik

O-Ton 3 B: Plakatträger    1,00
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Eta moi litschni..
Dieser Mann hat sich ein Zitat von Montesquieu auf sein Tragschild geschrieben. „Die schlimmste Tyrannei“, übersetzt er, „ist diejenige, welche unter dem Zeichen des Gesetzes und der Flagge der Gerechtigkeit daherkommt.“ Was man denn wohl unter Diktatur des Gesetzes verstehen solle, die Putin ankündige? fragt er. Nur bei den Faschisten habe es so etwas gegeben. Selbstverständlich werde es eine Opposition gegen Putin geben! Es müsse sogar mehrere Oppositionen geben. Seine Partei, die „Pazifistische Assoziation“ gehöre dazu. Ja, und auch die Buddhistische Bewegung, natürlich.
…dweschennije”, Trommeln

Erzähler:
In einer Gruppe älterer Frauen ist man nicht so zuversichtlich. Die Frauen wettern gegen Wladimir Putins Kriegspolitik, gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Zusammenarbeit Putins mit den Kommunisten in der Duma. Sie fürchten eine neue KGB-Herrschaft. Schließlich komme Putin doch von dort. Doch an die Möglichkeit, dass eine Opposition gegen den neuen starken Mann entstünde, glauben sie nicht:

O-Ton 4 A: Frauengruppe    0,30
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, der Übersetzerin unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje budit…
„Nein, die wird es nicht geben“, meint eine der Frauen. „Bei der Uneinigkeit der Kräfte!“ ergänzt eine andere. „Leute, die wirklich verstehen, was in unserem Land heute geschieht, gibt s nur sehr wenige“, setz die erste fort.“ Da gibt es keinen wirklichen Weg. Aus meiner Sicht ist das einzig Richtige: Gegen alle zu stimmen. Ich kann keinen von denen unterstützen.“
… paderschewaju“, Musik

Erzähler:
In den Beiträgen vom Podium wird Klartext gesprochen. Das Wort zur Eröffnung hat die Rangälteste unter den sogenannten Menschenrechtsgruppen, Memorial. Bei Einsetzen der Perestroika Anfang der 1980er entstand die Gruppe direkt aus dem dissidentischen Untergrund heraus. In den Jahren unter Gorbatschow und Jelzin wuchs Memorial zu einer moralischen Instanz des neuen Russland heran, insbesondere durch ihre Aufarbeitung des Stalinismus. Jetzt sieht sich die Organisation wieder an den Rand gedrängt. Ihr Sprecher, Oleg Orlow, findet scharfe Worte gegen den aktuellen Kurs der Regierung, speziell gegen Wladimir Putin:

O-Ton 5 A: Oleg Orlow, Memorial    1,00
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nassilije, krow, losch…
„Gewalt, Blut, Lüge – ein Weg von der Unfreiheit zur Unfreiheit, von Imperium zu Imperium, vom zaristischen Imperium zum kommunistischen, vom kommunistischen zum heutigen, dem putinschen. Die letzten Ereignisse könnten uns dahin bringen zu glauben, dass Russland nicht fähig sei, aus diesem entsetzlichen Hexenkreis herauszutreten. Stattdessen sind wir aber hierher gekommen, um Nein zu sagen zu diesem Wahnsinn! Das `Antimilitaristische Komitee´, das dieses Meeting heute organisiert, vereint zwanzig politische Organisationen. Wir mögen in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, aber in einem sind wir einig: in der Forderung, diesen verbrecherischen Angriffskrieg sofort zu beenden.
… etu prestubnu woinu.“

Erzähler:
Von einem Angriffskrieg spreche er deswegen, erklärt der Redner, weil ein ganzes Volk mit Krieg überzogen und aus seiner Heimat vertrieben werde,  statt dass mit den Verbrechern tatsächlich aufgeräumt werde.
Von einem Angriffskrieg und von bewusster Irreführung der Bevölkerung durch die Regierung Putins, insbesondere durch die in Tschetschenien kriegführende Generalität, spricht auch der nächste Redner. Es ist eine offizielle Stimme, Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten:

O-Ton 6 A: Waleri Barschiow, Menschenrechtler    2,00
Regie:  O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,
bei 117 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dorogie drusja…
“Liebe Freunde, man hat uns anfangs gesagt, dass eine anti-terrorististische Operation durchgeführt werde. Natürlich haben wir alle diese Operation unterstützt, denn alle waren daran interessiert, dass dem Banditismus in unserem Lande endlich ein Ende bereitet wird. Man hat auch noch zugestimmt, als es hieß, dass ein sanitärer Kordon dafür nötig sei, dass das Militär den Terek überschreiten müsse. Aber das waren alles Lügen! Die Terroristen machten in aller Ruhe, was sie wollten; Bassajew zelebrierte in aller Seelenruhe eine Hochzeit mitten in Grosny, während rund herum unsere Truppen standen. Er lebte und war gesund und um ihn herum starben friedliche Einwohner. Nicht Banditen wurden in Tschetschenien verfolgt, sondern die  zivile Bevölkerung terrorisiert. Mitglieder der Sondertruppe ALPHA wurden kürzlich gefragt, ob sie in der Lage wären, den Auftrag zur Liquidierung der Terroristen zu erfüllen. `Ja, das könnten sie´, antworteten sie, `wenn ihnen eine solche Aufgabe gestellt würde; aber niemand habe ihnen eine solche Aufgabe gestellt.´“

Erzähler:
Nicht gegen den Terrorismus, sondern gegen den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft werde dieser Krieg geführt, fährt er fort und schließt mit den Worten: „Unser Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat das Land dem Militär eine Weiße Karte ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
…Faschism“, Beifall

Erzähler:
Starke Worte findet Ludmilla Wrassowi vom Komitee der Soldatenmütter Russlands. Das Komitee erfreut sich starker moralischer Autorität, die noch aus ihrem erfolgreichen Widerstand gegen den ersten tschetschenischen Krieg von 1994 – 96 herrührt. Damals holten vom Komitee unterstützte Mütter ihre Söhne direkt aus dem Kampfgebiet nach Hause. Solche Aktionen sind heute nicht möglich. Heute sieht sich das Komitee darauf beschränkt, die künstlich niedrig gehaltenen offiziellen Opferstatistiken durch Angaben nach eigenen Recherchen zu korrigieren und durch Veröffentlichung der wirklichen Opferzahlen der Kriegsbereitschaft entgegenzuwirken:

O-Ton 7 A: Komitee der Soldatenmütter
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 113 vorrübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Nas wosmuschajet…
“Uns empört, dass dieser Krieg gegen unsere eigenen Bürger durch die Hände unserer Söhne geführt wird, achtzehn- und zwanzigjähriger Jungs. Uns empört, dass es unsere Kinder sind, die zehntausenden friedlichen Menschen den Tod bringen. Und das Erschreckendste: Sie lernen zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben im eigenen Land! Nach Kriegsrecht darf so etwas nirgends geschehen, aber besonders schlimm ist es, wenn es mit unseren eigenen Einwohnern geschieht. Wir sind kategorisch gegen eine Fortsetzung dieses Krieges! Wir sehen doch, wie diese Jungs zurückkommen. Der Staat lässt sie allein: keine Prothesen, keine medizinische Hilfe, keine Rehabilitierung, Pensionen zum Verhungern. Wenn solche Menschen, unfähig, ein eigenes Leben zu führen, dennoch eine Familie gründen – was bringen sie ihren Kindern bei?! Unterdrückung Anderer! Mißachtung der Menschenwürde! Was wird das für eine Gesellschaft!? Deswegen fordern wir von der Regierung, diesen Krieg einzustellen: Hört auf die jungen Männer Russlands zu vernichten.“

Erzähler:
„Und noch etwas“, fährt sie fort, „wenn wir eine professionelle Armee fordern, dann wird uns seit Jahren geantwortet, es gebe kein Geld, Russland sei wirtschaftlich nicht bereit, zu einer Berufsarmee überzugehen. Da möchte man fragen: Aber für diesen Krieg waren die Milliarden da?! Und für den vorherigen auch?! „Veranlassen wir also unsere Regierung, das zu tun, was wir wollen!“ schließt die Rednerin, „damit wir gesunde, junge Leute haben, glückliche Familien und gesunde Jugendliche. Anders wird Russland keine Zukunft haben.“
… buduschewa.“, Beifall

Erzähler:
Ganz aus der Deckung wagt sich Nicolai Kramow, der sich als Sekretär einer „Antimilitaristischen radikalen Assoziation“ vorstellt. Die Assoziation ist eine kleine Organisation, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Ungeachtet möglicher drastischer Folgen, die er zuvor beschreibt, ruft Kramow öffentlich zur Verweigerung des Kriegsdienstes auf:

O-Ton 8 A:Nikolai Kramow, Kriegsdienstverweigerer     0,40
Regie: (Achtung O-Ton sehr knapp!) Kurz stehen lassen, abblenden,  unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Beifall, “Nas otschen mala…
“Wir sind sehr wenige, umso wichtiger ist die Mission, die wir haben: Deshalb appelliere ich an alle Einberufenen, an alle jungen Bürger im einberufungsfähigen Alter: Verweigert den Kriegsdienst aus Überzeugung! Ich appelliere an alle Offiziere, Reservisten, Wehrpflichtige, die jetzt eingezogen werden sollen, um die Lücke in der Armee aufzufüllen, welche durch die Politik im Kaukasus geschlagen wurde: Verweigert Euch aus Überzeugung! Krieg in Tschetschenien – ohne uns, bitte!
… bes nas paschalsta!“

Erzähler:
Nikolai Kramow hat recht: Zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einer Kundgebung gegen den Krieg, zu der mehr als zwanzig Organisationen aufgerufen haben und die bekannt gemacht wurde durch den vielgehörten Stadtsender „Echo Moskaus“ – das ist ein mageres Ergebnis. Da ist man nahezu unter sich. Zu Zeiten des ersten Krieges in Tschetschenien waren es mehr Menschen, die protestierten, ganz zu schweigen von den Massendemonstrationen für Perestroika in den Zeiten Gorbatschows, der Volksbewegung für die Verteidigung des „Weißen Hauses“ gegen den versuchten Staatsstreich der alten Parteinomenklatuta 1991, der Boris Jelzin an die Macht brachte.
Nicht ein Vertreter aus den Reihen der Parlamentsparteien, nicht einer derer, die mit Wladimir Putin um den Präsidentensessel konkurrieren, ist dem Aufruf gefolgt. Allerdings hält sich auch die Polizei vollkommen zurück. Nur die Lauscher des Inlandgemeindienstes demonstrieren offen ihren Einsatz; ihre sichtbare Präsenz genügt der Regierung offenbar zur Einschüchterung. Die herrschende Politik, Duma ebenso wie die Regierung Putin, einschließlich der Verwaltung der Stadt Moskau, straft die Versammlung mit Nichtbeachtung.
Nur einer aus der Reihe der etablierten Politiker, Grigori Jawlinksi, Chef der westlich orientierten Partei „Jabloko“, einer aus der Reihe der elf Konkurrenten Wladimir Putins um den Sessel des Präsidenten, lässt noch eben vor Schluss der Veranstaltung ein Telegramm aus der nur 200 Meter entfernten Duma an die Versammelten übermitteln. Die Leiterin der Veranstaltung liest vor:

O-Ton 9 A: Telegramm von Grigori Jawlinski     1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,45 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Drusja…
„Freunde, ich verstehe diejenigen gut, die zu diesem Meeting gekommen sind.  Ich tue alles, um diesen Krieg anzuhalten, den sinnlosen und grausamen. Verbrechern und Banditen muss das Handwerk gelegt, aber das Volk muss geschützt werden. Die Soldaten sollen lebendig nach Hause zurückkehren und mit reinem Gewissen. Unterschrift: Grigori Jawlinksi.

Erzähler:
Die Kundgebung endet mit der Aufforderung an die Versammelten, sich an der Organisation einer Unterschriftenliste zu beteiligen, die ein Ende des Krieges fordert und zur Kriegsdienstverweigerung aufruft. Danach werden hundert blaue Lufballons als Boten des Friedens in den kalten Moskauer Spätwinter-Himmel entlassen:
…tri, tschetirije!“, Beifalll

Erzähler:
Wenige Tage nach der Kundgebung veröffentlicht die Partei Jawlinskis, „Jabloko“, selbst einen Aufruf gegen den Krieg. Die Staatsmacht, allen voran der ungeliebte, aber unbestrittene Champion der bevorstehenden Präsidentenwahl, Wladimir Putin, zeigt sich indessen von solchen Protesten ganz unberührt. Die kritischen Töne, vor allem aber die in der Bevölkerung aufkommenden Ängste vor einer Rückkehr zum KGB-Staat oder auch vor dem Übergang zu einer zur Diktatur der Reichen kontert Wladimir Putin mit populistischen Auftritten an den verschiedensten Orten des Landes, bei denen er allen alles verspricht. Zu besten Sendezeiten füllen seine Auftritte die Programme aller, selbst der kritischeren Fernsehanstalten.
Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Besuch Wladimir Putins im fernen sibirischen Irkutsk. Dort habe der „Amtierende“, wie er im Sprachgebrauch der russischen Medien genannt wird, nach Ansicht politischer Kommentatoren erstmals programmatische Perspektiven erkennen lassen, die über seine bei Amtsantritt Anfang 2000 im Internet veröffentlichten Absichtserklärungen, kollektive Traditionen des Landes mit Marktwirtschaft irgendwie verbinden zu wollen, hinausgehe. Vor Studentinnen und Studenten der Irkutsker Universität beantwortete Wladimir Putin Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 10 A : Wladimir Putin    0,15
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß., hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes beliebige Programm muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa.“

Erzähler:
Zur Frage von Diktatur oder Demokratie beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 11 A: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana..
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, den Kommunismus, jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Entwickeln soll diese Perspektiven eine Strategiekommission, in die Wladimir Putin vornehmlich liberale Intellektuelle aus seinem St. Petersburger „Kommando“, wie man in Russland sagt, berufen hat. Anlässlich des Besuches einer Ausstellung von Bildern in Irkutsk, welche Kinder zum Thema Zukunft gemalt hatten, empfahl der „Amtierende“ dem Leiter dieser Kommission, German Gref, vor laufender Kamera schließlich noch, sich in seiner Arbeit an den Fantasien der Kinder zu orientieren. Nicht wenige von ihnen, so wurde dem Fernsehpublikum gleich darauf mitgeteilt, haben sich als Helden gemalt, die, bewaffnet mit MG, die Gesellschaft von Räubern und Banditen befreien.

O-Ton 12 A: Gemurmel, Klavier    0,30
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen, mit Klavier hochziehen, (noch vor ersten Worten) abblenden

Erzähler:
Ansage, Klavier….
Mit einer Referenz an die Intellektuellen, die immer die ersten bei Reformen, aber oft auch, wie die nach seinerzeit nach Sibirien verbannnten Dekabristen, deren Leidtragende seien, endete dieser Aufftritt Wladimir Putins in Irkutsk.
…Klavier

Erzähler:
Angesichts solcher Auftritte überrascht es kaum, wenn Juri Lewada, altgedienter Chef des zentralen Meinungsfroschungsinstituts (WZIOM) in Moskau, der schon die Regierung Gorbatschows, dann Jelzins mit Daten zur Volksmeinung versorgte, die Situation so beschreibt:

O-Ton 13 A: Juri Lewada
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    1,20
“Opposizia jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Das heißt, die Frage stellt sich anders, nämlich, ob es eine organisierte Opposition gibt. Wird sie so stark sein, dass sie bemerkbar wird? Nach den gegenwärtigen Daten der letzten Zeit ist eine solche Opposition nicht erkennbar. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
546 ..sawjedoma.“

Erzähler:
Gründe für diese Situation liegen nach Lewadas Erkenntnissen darin, dass trotz nicht mehr zu verheimlichender steigender Opferzahlen nach wie vor 60% der Bevölkerung den Kriegskurs Wladimir Putins bis zu einem „siegreichen Ende“ unterstützen. Dagegen habe keiner der übrigen Kandidaten eine Chance. Anwärter wie Luschkow, Primakow, Tschernomyrdin hätten sich daher zurückgezogen. Wer trotzdem gegen Putin antrete wie Szuganow, der Kandidat der Kommunisten, wie Jawlinski tue das aus anderen Gründen, vielleicht aus langfristigen Erwägungen, jedenfalls nicht um jetzt Präsident zu werden. Das gelte umso mehr noch für Kadidaten wie Schirinowski. Noch wesentlicher aber sei möglicherweise, dass die Bevölkerung – die Politiker eingeschlossen – Putin als Blackbox erlebe, als Mr. Nobody, dessen einziges Geheimnis vielleicht darin bestehe, dass er keins habe. Aber wer wisse das schon?
Und so stellten sich eben offensichtlich alle darauf ein, abzuwarten und zu sehen, was für sie in dieser Box liegen könnte.
Viel Gutes sei von einem Mann, der durch den Krieg an die Macht gekommen sei, allerdings nicht zu erwarten; andererseits auch nicht viel Neues:

O-Ton 14 A: Lewada, Forts.    1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei  0,35 vorübergehend hochziehen (sodaß man das Stöhnen hört) weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
“Ponimaetje, nitschewo…
„Verstehen Sie, nichts kommt von Nichts. Natürlich ist Putin ein anderer Typ Mensch als Jelzin und auch als Gorbatschow. Aber er fällt ja nicht vom Himmel. Er wurde von der Situation hervorgebracht, die sich bei uns entwickelt hat. Deshalb wird er sie also fortsetzen – oder irgendetwas zerstören. Im Moment zerstört er das Bild Russlands in der internationalen Meinung, das ist offensichtlich, und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Viel aber kann er auch wieder nicht zerstören, denn er kein unabhängiger Mensch. Er wurde letztlich doch von denselben Händen aufgezogen und geformt, in denen Jelzin sich befand, Kräfte, die aus dem Hintergrund kommandieren, Bankiers, die regieren oder sonst noch Leute, die Einfluß nehmen. Aber es sind auf jeden Fall dieselben Leute.“
…tesche samije ludie.“

Erzähler:
Die Ankündigungen Wladimir Putins, eine neue Staatsmoral aufbauen zu wollen, beantwortet Juri Lewada mit müder Gelassenheit:

O-Ton 15 A: Lewada, Forts.    0,30
Regie: O.Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnogim nrawitza…
„Vielen gefällt es, dass bei uns alles stromlinenförmig werden könnte. Aber ich glaube nicht, dass etwas daraus wird. Doch schauen wir; Teile werden vielleicht verwirklicht. Und was die Zukunft betrifft: Wer versuchen zu überleben! Wir haben schon viel überlebt; versuchen wir es wieder! Das wird harte Kost sein für das Land, für die Menschen, aber irgendwie werden wir es lernen.“
319…  utschitsja“

Erzähler:
Im Hauptquartier der Gegner Putins, in der Fraktion der Kommunistischen Partei, will man von solchen Tönen nichts hören. Auf die Frage, warum Gennadij Szuganow, der Sekretär der Kommunistischen Partei, gegen Wladimir Putin antrete, obwohl man überall höre, dass er sich keine Chancen auf einen Sieg ausrechnen könne, antwortet Andrej Filippow, Beauftragter der Fraktion für internationale Beziehungen:

O-Ton 16 A: In der Fraktion der KPRF    0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Jestdestwena…
“Natürlich haben wir unseren Kandidaten für diese Wahlkampagne ausdrücklich deswegen aufgestellt, weil wir in der Opposition sind. Wir wollen zeigen, dass ein beachtenswerter Teil unserer Bevölkerung mit dem gegenwärtigen Kurs der Regierung nicht einerstanden ist. Und wir hoffen natürlich, dass wir keine schlechte Resultate erzielen, andernfalls bräuchten wir nicht anzutreten: Wir nehmen an den Wahlen Teil, um zu siegen.
…schtobi pobeschdat.“

Erzähler:
Anrdej Filippow erinnert daran, dass 1996 auch Jelzin erst nach dem zweiten Wahlgang gesiegt habe, nachdem Alexander Lebed, der seinerzeit als dritter durch Ziel ging, Jelzin seine Stimmen zuführte. Etwas ähnliches werde es diesesmal aber nicht geben, denn einen vergleichbaren Kandidaten, der bei einer eventuell. notwendigen Stichwahl mit Wladimir Putin in ähnlicher Weise koalieren könne, werde es diesesmal nicht geben. Lebed selbst habe verzichtet; für den dieses mal möglichen Anwärter eines dritten Platzes, Grigorij Jawlinski sei  eine Koalition mit Putin undenkbar. Also, müsse man sich durchaus auf ein Kopf an Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Konkurrenten, Putin und Szuganow einstellen. Hinter dem einen stehe die gegenwärtige Partei der Macht, die vor der Duma-Wahl im Dezember aus dem Nichts geschaffene Partei „Einheit“; auf der anderen stünden solide 30% kommunistischer Stammwähler. Dazu kämen noch die Verbündeten der „patriotischen Front“. Das, versichert Filippow, seien doch die allerbesten Voraussetungen für einen Sieg, oder nicht?
In einem allerdings sieht Filippow ernsthafte Schwierigkeiten, die große Herausforderungen an seine Partei stellten:

O-Ton  17 A: Filippow, Forts.     1,35
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun dela w`tom…
“Nun, das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muß es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. Man hat unsere Losungen übernommen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Eine andere Sache ist, dass der Inhalt ein anderer ist. Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn man ihn reden hört, kann man sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Aber es gibt einige prinzipielle Positionen, wo man nichts von ihm hört: Etwa der Kampf mit der Korruption. Nichts! Die Frage der Überprüfung krimineller Auswüchse der Privatisierung – Nichts! Entscheidend ist schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden. Er ist dafür und weiß doch zugleich, dass das nicht akzeptiert werden wird. Gemeinschaftliche Nutzung des Bodens hat bei uns tiefe Wurzeln in der Geschichte. Auch die von einigen geforderte Privatisierung der natürlichen Monopole, Gasprom, R-A-O-U-ES, also des landesweiten Energiemonopols, der Eisenbahn und anderer wird für ihn sehr problematisch. All diese wirtschaftlichen, diese prinzipiellen Fragen werden für ihn das Examen sein.“
.. budit Examen.“

Erzähler:
Die schärfste Differenz zu Putin kommt bemerkenswerter Weise nicht von der kommunistischen, auch nicht von neulinker Seite, sondern von der nationalbolschwisten Rechten, den sogenannten „patriotischen Kräften“. Die Kommunistische Partei begnügt sich mit dem Platz einer etablierten Opposition. Das entspricht der Rolle, die sie bereits unter dem Präsidentschaft Boris Jelzins angenommen hat. Ein Präsident Szuganow ist, allen Selbstermutigungen aus diesem Lager zum Trotz, nicht zu erwarten. Die neulinken Kräfte nähren, soweit sie nicht in den radikaldemokratischen Protesten gegen den Krieg aufgehen, Hoffnungen auf kommende Kämpfe einer unzufriedenen Arbeiterschaft.
Im Vergleich zu solchen Hoffnungen erscheint die Position der Nationalbolschewisten ernüchternd realistisch. Von kommenden Kämpfen könne keine Rede sein, meint beispielsweise Alexander Prochanow, Herausgeber der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen). Mit ihm in ein Horn stoßen die „Sowjetskaja Rossija“ und ein paar andere Blätter, deren Linie irgendwie zwischen Neo-Stalinismus, Marktwirtschaft und Nationalismus schlingert. Ein Teil unterstützt die KP, ein anderer nicht. Eine richtige Bewegung bekommen sie zur Zeit auch nicht zustande.
Mehr als lokale Proteste seien zur Zeit nicht zu erwarten, meint Prochanow; zudem habe die Regierung begonnen, die Lohn- und Pensionsrückstande der letzten Jahre auszugleichen. Diese Aussagen Prochanows stimmen mit den Erwartungen des Präsidenten der Moskauer Gewerkschaft, Michail Nagaitzew und Prognosen aus Geschäftskreisen überein, die eine allmähliche Entwicklung eines innerrussischen Marktes erwarten. Auf Dauer aber, so Alexander Prochanow weiter und besteht dabei auf klassischer marxistischer Terminologie, werde Wladimir Putin den Widerspruch zwischen Basis und Überbau nicht aushalten:

O-Ton 18 A: Alexander Prochanow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Erzähler:
Alexander Prochanows Urteil, wenn auch aus extremer Position, in dogmatischer Sprache, kommt den Tatsachen wohl am nächsten: Wladimir Putin, wenn er zum Präsidenten gewählt wird, wird einen Kurs zwischen Liberalismus und imperialem Dirigismus suchen. Dafür sprechen auch seine neuesten Äußerungen über einen möglichen Beitritt Russlands zur NATO. Faktisch ist ein solcher Schritt unter heutigen Bedingungen unmöglich. Wladimir Putins Auslassungen zu dem Thema zeigen aber, auf welcher Schlangenlinie er zwischen imperialer Orientierung Russlands und Abhängigkeit vom Westen steuert. Sollte Wladimir Putin nicht gewählt werden, was unwahrscheinlich ist, wird aber doch jeder andere Präsident demselben Kurs folgen müssen. Einen anderen Weg gibt es für Russland zur Zeit nicht. Opposition wird, wie am Protest gegen den tschetschenischen Krieg erkennbar, darin bestehen, die Zahl der Opfer auf diesem Kurs so weit zu begrenzen, wie möglich.

Putins Wahl: Russland auf dem Weg zu sich selbst?

Besetzung:

Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben. (Manche Töne könnten trotzdem auf Grund der Tatsache, dass ich erst schneiden musste, bevor ich schreiben konnte, etwas zu lang sein; da bitte ich Sie um Regulierung.)

Freundliche Grüsse

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Putins Wahl:
Russland auf dem Weg zu sich selbst?

Wladimir Putin, ist, wie vorauszusehen, neuer Präsident Russlands. Mit 52,52 Prozent aller abgegebenen Stimmen hat er die Erwartungen all derer auf sich vereinigt, die Russland retten, die ihr Land wieder als bestimmendes Mitglied der Völkergemeinschaft sehen wollen. Der neue Präsident hat kein Programm veröffentlicht, wenn es aber nach den verstreuten Äußerungen geht, die er auf dem Weg vom stellvertretenden zum rechtmäßig gewählten Präsidenten hinterlassen hat, soll Schluß sein mit dem Kopieren westlicher Reform-Vorstellungen, soll Russland seinen eigenen, russischen Weg zwischen Marktwirtschaft und traditionellem kollektiven Lebens- und Wirtschaftsformen finden. Gibt die Wahl Wladimir Putins den Startschuß für Russlands Rückkehr zu sich selbst? Was wäre darunter zu verstehen?
Unser Autor Kai Ehlers geht dieser Frage in Gesprächen mit russischen Ideologen, Politikern und Analytikern nach.

Regie: Aufbruchstimmung,
Musikalische Einführung aus Studiomaterial (Bethovens 5.)
Ton ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Zitator: (getragen)
„Die Erfahrung der 90 Jahre bezeugt eindrucksvoll, dass eine erfolgreiche Erneuerung unseres Heimatlandes  nicht erreichbar ist, wenn abstrakte Modelle und Schemata aus ausländischen Lehrbüchern auf den russischen Boden übertragen werden. Es bringt auch wenig, wenn die Erfahrungen anderer Staaten mechanisch nachgeahmt werden. Jedes Land – und Russland ist keine Ausnahme – muss seinen eigenen Erneuerungsweg finden. Wir haben dabei noch keine großen Erfolge erzielt. Erst in den letzten ein, zwei Jahren sind wir auf unseren eigenen Weg der Umgestaltung, auf unser eigenes Modell gestoßen“

Erzähler:
Das verkündet ein Text, den der soeben gewählte Präsident Wladimir Putin per Internet verbreiten ließ, nachdem er durch den durch den überraschenden Rücktritt Boris Jelzins in der Neujahrsnacht des Jahres 2000 zum provisorischen Staatspräsidenten aufgerückt war.
Und weiter hieß es zur Begründung:

Zitator:
„Es ist eine Tatsache, dass in Russland immer eine Neigung zu kollektiven Formen der Lebensgestaltung über den Individualismus dominiert hat, dass paternalistische Stimmungen in Russland tief verwurzelt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet die Verbesserung ihrer Lage nicht mit eigenen Anstrengungen, mit Initiative und Unternehmungslust, sondern vielmehr mit der Hilfe und der Unterstützung des Staates und der Gesellschaft.“

Erzähler:
Aus der Verschmelzung dieser Traditionen mit den „universellen, allgemein menschlichen Werten“, so die Erklärung weiter, entstehe eine neue russische Idee. Ihr Kern: Die Verbindung von Privateigentum und Patriotismus.
Wie der jetzt als Präsident bestätigte Wladimir Putin den Patriotismus stärken will, hat er in Tschetschenien vorgeführt. Wie er Patriotismus und Privateigentum versöhnen möchte, ließ er bis heute offen. Seine Äußerungen dazu  blieben auf Kommentare zur Tagespolitik beschränkt. Am deutlichsten wurde er bisher bei seinem besuch in der sibirischen Hauptstadt Irkutsk. Vor Studentinnen und Studenten antwortete er dort auf Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 1: Wladimir Putin    0,17
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes Programm, gleich welches, muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa, Gemurmel.“

Erzähler:
Zur Frage der Beziehungen von Zentrum und Regionen beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 2: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana…
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, danach den Kommunismus und jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form der Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Zum gefflügelten Wort avancierte Putins mahnung, die er vor der Strategiekommission aussprach, welche sein Programm ausarbeiten soll:

O-Ton 3: Wladimir Putin, Forts.    0,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Pomnitje…
„Erinnern Sie sich daran, die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns unterwerfen müssen. Der Verlust der Rechtsordnung führt zu Chaos und Grenzenlosigkeit.“
…bespredelju.“

Erzähler:
Den starken Staat und die Demokratie – beides will Wladimir Putin fördern. Russland will er stärken – und zugleich mit der NATO versöhnen. Ja, er scheute sich nicht, vor laufenden Kameras der BBC einen russischen NATO-Beitritt für möglich zu erklären.
Größten Beifall im Lande selbst bekommt Wladimir Putin nichtsdestoweniger von patriotischer Seite – so etwa von Alexander Dugin. Dugin ist einer der aktivsten Ideologen dieses Lagers, seinem Selbstverständnis nach Geopolitiker des Euroasiatismus, der die Welt in einem Grundkonflikt zwischen Russland und Amerika begreift. Zu Zeiten der Perestroika galt Alexander Dugin als nationalistischer Extremist, inzwischen ist er als Berater des kommunistischen Dumapräsidenten Selesnjow ins Zentrum der Macht aufgerückt. Alexander Dugin ist von Wladimir Putins Machtantritt geradezu begeistert:

O-Ton 4: Alexander Dugin     0.53
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Putin eta…
„Putin – das ist ein gigantischer Erfolg meines Projektes. Was heißt: meines Projektes? Das heißt nur, ich gewissermaßen eine historische Konstante verdeutliche: Zu einem gewissen Zeitpunkt bestanden in der Gesellschaft zwei Ideologien, die alte ausgehende kommunistische, und die genau entgegengesetzte feindliche liberale, westliche. Notwendig war, eine dritte Variante zu erdenken, einen dritten Weg. Um diesen dritten Weg zu ersinnen, musste man frei sein vom sowjetischen, aber auch vom westlichen Dach. Solche Leute hatten Seltenheitswert. Man hatte entweder eine sowjetische Bildung oder gleich das Gegenteil. Aber ich war einer von diesen Leuten und jahrelang habe ich um die Verwirklichung dieses Projektes gekämpft. Jetzt sehe ich die Resultate.“        …resultatow.“

Erzähler:
Mit Selesnjow, mit verschiedenen Ministern, mit Militärs habe er über lange Jahre gearbeitet, erzählt Dugin. Der Krieg in Tschetschenien habe jetzt Erklärungen gefordert. Doch kein Modell, weder das altsowjetische, noch das liberal-westliche sei imstande, Begründungen zu liefern, warum dieser Krieg geführt werden müsse. Die Sichtweise des Euro-Asiatismus dagegen könne das leisten. Der Euro-Asiatismus liefere die Begründung, warum separatistische Prozesse unbedingt beendet werden müssten.

O-Ton 5: Dugin, Forts.     0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ssetschas w mirje…
„Zur Teit entwickelt sich eine beängstigende geopolitische Situation: Es entsteht eine unipolare Welt unter vollkommener Herrschaft der USA. Die einzige Struktur, die dem nach geopolitischen Gesetzen widerstehen kann, ist die Erde Russlands. Wenn wir unsere russische Erde an der Peripherie verlieren, verlieren wir unsere Möglichkeit, eine planetare Alternative zu bilden. Wir verraten auf diese Weise nicht nur unsere historische Mission, sondern hindern auch noch andere Völker, Europa, Asien, eine freie Wahl zwischen dem atlantischeschem Modell und anderen zu treffen.“
…kakoito inoi.“

Erzähler:
Der Wahabitismus, wie er sich gegenwärtig in Tschetschenien zeige, so Dugin weiter, sei eine kriegerische Einflussnahme des Atlantismus, so wie alle anderen separatistischen Prozesse, die mit der Auflösung der Sowjetunion begonnen hätten. Die Bildung eines einheitlichen euro-asiatischen Zusammenhangs sei deshalb nicht nur Aufgabe Russlands, sondern aller Länder des euroasiatischen Kontinents. Sie müssten Russland bei dem Bemühen um einen einheitlichen Raum unterstützen, wenn sie es begriffen. Europa allerdings sei dazu momentan nicht in der Lage, denn es stehe selbst zu sehr unter amerikanischem Einfluss.

O-Ton- 6: Dugin, Forts.     0,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Liberatia…
„Die Befreiung Europas, die Entwicklung eines europäischen Bewußtseins, ist ebenfalls eine euro-asiatische Aufgabe: Wir müssen Europa nach Europa zurückbringen! Dafür müssen wir zweifellos stark und mächtig werden, unser strategisches Potential entwickeln und dann aus einer Position der Stärke mit den USA reden.“
…Amerika.“

Erzähler:
Der tschetschenische Krieg ist in Dugins Augen nur ein Teil des großen Konfliktes zwischen Amerika und Russland:

O-Ton 7: Dugin. Forts.    0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer
„Ta woina…
„Dieser Krieg ist ein Krieg zwischen Amerika und Russland, so wie es der in Afghanistan war; so wie die Sprengung des Warschauer Vertrages eine diplomatische Provokation von innen war; so wie die Abspaltung einzelner Staaten der GUS eine Fortsetzung des Krieges zwischen Amerika und Russland oder auch zwischen maritimer und territorialer Zivilisation ist. Es ist wie ein ewiger punischer Krieg, sagen die Geopolitiker. Jeder Konflikt auf der Welt von einigem Umfang, selbst der auf den Phillippinen, der um das Kosovo sowieso, ist – auch nach der Auflösung des sowjetischen Blocks – eine Fortsetzung dieses Krieges  der Kontinente, der Zivilisationen oder, wenn man so will, zwischen Amerika und Russland.“
…i rossije.“

Erzähler:
Aber nicht nur Patrioten vom Zuschnitt Alexander Dugins, auch die Kommunisten zeigen sich angezogen von dem Kurs, den Putin zwischen Patriotismus und Privateigentum steuern will. Der Kurs entspricht der Linie, die sie ihrer zehnjährigen Opposition der Privatisierungspolitik Boris Jelzins entgegengehalten haben: Patriotismus, starker Staat, Rettungs Russlands vor dem Ausverkauf an das Ausland. Putins Einschwenken auf diese Linie stürzt die Kommunistische Partei allerdings in Abgrenzungsprobleme. Andrej Filippow. Beauftragter für Internationale Beziehungen in der DUMA-Fraktion der Kommunistischen Partei, fasst das in die Worte:

O-Ton 8: Andrej Filippow    1,15
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Übersetzer:
“Nu dela w`tom…
“Das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muss es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn er redet, braucht man nur einfach zu sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Klar, Putin versteht die gegenwärtige Situation, die gegenwärtige Stimmung und hat sehr viele Losungen von uns übernommen.
… Losungi.“

Erzähler:
Eine andere Sache sei, fährt Filippow fort, dass der Inhalt ein anderer sei, dass den Worten keine Taten entsprächen: Nichts höre man bei Putin vom Kampf mit der Korruption, nichts von der Überprüfung der kriminellen Auswüchse der Privatisierung. Entscheidend werde schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden sein. Putin spreche sich dafür aus, obwohl er doch wisse, dass das nicht akzeptiert werden könne. Zu tief seien die historischen Wurzeln der gemeinschaftlichen Nutzung des Bodens. „Alle diese Fragen“, so Filippow, „werden für Putin das Examen werden.
Ähnlich sehen es auch die Anhänger Alexander Lebeds. Auch sie sehen ihre Losungen, mit denen Alexander Lebed bei der letzten Präsidentenwahl Dritter wurde, von Wladimir Putin vereinnahmt. Der Bedeutungsverlust Alexander Lebeds ging soweit, dass sie weder als Partei an den Duma-, noch in der Person Lebeds an den Präsidentenwahlen teilnahmen. Wladimir Kuschnirenko, Vorstandsmitdlied der lebedschen Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“ wie auch der „Republikanischen Volkspartei“ tröstet sich allerdings mit dem Gedanken:

O-Ton 9: Wladimir Kuschnirenko    1,19
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Übersetzer:
„Moschno bila…
„Man kann reichlich Beispiele bringen, wie Lebeds Losungen von anderen Parteien übernommen wurden. Das zeigt ja eigentlich nur die Progressivität unseres Führers, der solche Linien vorlegt. Und er hat ja auch nicht nur Worte gemacht. Er kann heute konkrete Beispiele vorweisen, dass er die richtigen Grundlagen gelegt hat. Aber es scheint eine Besonderheit unseres Führers zu sein, andere Politiker dadurch zu überragen, dass er die Dinge vorhersieht, dass er die Möglichkeit besitzt, dass er die Fakten kennt, um die Entwicklung zu prognostizieren.“

Erzähler:
Die Zeit werde kommen, da Putin an seine Grenzen stoßen werde. In diesem Punkt stimmt Wladimir Kuschnirenko mit den Erwartungen der Kommunisten vollkommen überein. Dann werde man auch Alexander Lebed wieder rufen, der über entsprechendes Auftreten verfüge, so Kuschnirenko „für Taten in diese oder jene Richtung.“
…naprawlennije.“

Erzähler:
So viel ist sicher: Kernfragen der weiteren russischen Entwicklung stehen an, die nicht durch nationalistische Propaganda, auch nicht durch Fortsetzung des Krieges gegen die Tschetschenen gelöst werden können: Das ist die Frage der Überprüfung der Privatisierung und, wenn nötig, der Korrektur ihrer kriminellen Ergebnisse. Das ist die Privatisierung von Grund und Boden, die seit 1991 immer wieder am Einspruch der Duma und der regionalen Parlamente gescheitert ist. Das ist die Frage, was mit den sogenannten natürlichen Monopolen geschehen soll. Gemeint sind damit vor allem GASPROM, der Gigant der Gasverwertung, RAOUES, der allrussische Energiekonzern und die Eisenbahn. An dem Versuch, auch diese Monopole zu privatisieren, sind Regierungen Boris Jelzins in den letzten Jahren mehrfach gescheitert. Gegenwärtig gibt es Anzeichen dafür, dass die Clans, die Boris Jelzin gestützt haben, einen erneuten Anlauf zur Aufteilung dieser Monopole und zur Freigabe des Kaufs und Verkaufs von grund und Boden unternehmen wollen. Statt einer Versöhnung von Privatkapital und Patriotismus, heißt das, steht eine Verschärfung des Konfliktes zwischen Staats- und Gemeinschaftsinteresse und dem Interesse der Oligarchen bevor. Wie Wladimir Putin diesen Konflikt mit friedlichen, demokratischen Mitteln entwickeln will, ist vollkommen offen.
Entsprechend skeptisch bis verschreckt sind die Erwartungen der demokratischen und liberalen Teile der Gesellschaft. Auf die Frage, was er unter Wladimir Putins Ankündigung eines „eigenen russischen Entwicklungsweges“ verstehe, antwortet Valentin Otskotski, Präsident des „Moskauer Schriftstellerverbandes“, Gallionsfigur der West-orientierten schriftstellerischen Intelligenz Moskaus:

O-Ton 10: Valantin Otskotski    1,19
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Übersetzer:
„Ja litschna…
„Ich glaube nicht an einen besonderen russischen Weg. Meiner Ansicht nach kennt die Welt bei aller Vielfalt doch nur zwei hautsächliche Wege: den Weg in Richtung Demokratie, von geringer entwickelter zu höher entwickelter Demokratie und den Weg der totalitären Gesellschaft. Der ganze sogenannte besondere Weg Russlands, der vor dem liegt, reduziert sich darauf, dass Russland ein totalitärer, ein imperialer Staat war – die Besonderheit Russlands war die der Selbstherrschaft! Darüberhinaus gab es nichts Besonderes. Wenn jetzt nach einem besonderen Weg Russlands geschrien wird, dann wird das bloß eine Wiederholung dessen, was war.
Ich bin weit davon entfernt zu glauben, dass die westliche Demokratie schon das Beste sei. Aber wie Churchill sagte: Etwas Besseres hat die Menschheit bisher nicht erdacht. Gehen wir also den demokratischen Weg. Das ist kein besonderer, das ist der allgemein menschliche Weg.“
…obsche put.“

Erähler:
Einen neuen Totalitarismus, eine faschistische Diktatur befürchten Valentin Otskotski und mit ihm die Mehrheit der westorientierten Intelligenz, zu der auch Jegor Gaidar, Boris Nemzow, Sergej Kirijenko und andere der früher so genannten „Jungen Radikalreformer“ gehören.  Während alterfahrene Dissidenten, junge antifaschistische Aktivisten oder einfach unorganisierte Radikaldemokraten sich auf einen außerparlamentarischen Kampf gegen die von ihnen befürchtete Diktatur einstellen, gehen die Führer der liberalen Bewegung jedoch auf Schmusekurs mit dem neuen Mann im Kreml. Sie hoffen immer auf neue Impulse für die von ihnen nach wie vor geforderten radikalen Reformen. Eine klare Alternative zu Wladimir Putin bildet allein „Jabloko“, die Partei des Mannes, der den dritten Platz bei der Präsidentschaftswahl vom 24. März einnahm. Grigorij Jawlinski forderte schon während der Dumawahl im Dezember die Einstellung des Krieges in Tschetschenien, genauer die Reduzierung des Krieges auf die auch von „Jabloko“ für unumgänglich erachtete „antiterroristische Aktion“. Noch kurz vor dem Termin zur Präsidentenwahl solidarisierte er sich öffentlich mit einem Meeting der Kriegsgegner.
Auf die Frage, ob er eine antiwestliche Politik von Wladimir Putin erwarte, antwortet Alexejew Melnikow, Abgeordneter der Partei „Jabloko“ und Assistent Grigorij Jawlinskis:

O-Ton 11: Alexejew Melnikow    1,22
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Übersetzer:
„Ja dumaju…
„Ich glaube, dass die Politik Russlands gegenüber dem Westen schärfer werden wird unter Herrn Putin, aber ich denke nicht, dass Schärfe ein Synonym für Vernünftigkeit ist. Ich halte Herrn Putin nicht für einen erfahrenen Politiker. Es ist sehr gut möglich, dass Putin einige sehr ernsthafte Fehler gegenüber dem Westen machen wird. Anzeichen einer isolationistischen Politik gibt es bereits.“

Erzähler:
Allerdings, fügt der Abgeordnete hinzu, werde dieser Isolationismus nicht allein durch subjektive Ursachen diktiert, sondern auch durch die Fehler, die der Westen in seiner Beziehung zu Russland mache. Einer seiner schwereren Fehler sei der Krieg im Kosovo.
…Kosovo.“

Erzähler:
Gelassen reagiert die konservative Mitte auf den neuen Mann im Kreml.     Im Hauptquartier von „Vaterland“, der Parteizentrale des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, der im Dumawahlkampf auf  Platz drei verwiesen wurde, wartet man ab. Hier versammeln sich die politischen Kräfte, die in Russland „zentristisch“ genannt werden – Personen und Organisationen, die ohne besonderes eigenes Programm an einer stabilen bürokratischen Macht interessiert sind, gleich, wer sie repräsentiert.
Das ist der Moskauer Bürgermeister und seine Verwaltung samt den Resten der regionalen Nomenklatura, die nach der Wahlniederlage Juri Luschkows im Dezember nicht aus dem Bündnis „Vaterland – das ganze Russland“ abgesprungen sind. Das sind Übertreter aus der ehemaligen „Partei der Macht“, „Unser Haus Russland“. Das sind die neuen gewerkschaftliche Kräfte wie die „Moskauer freien Gewerkschaften“ oder die allrussische „Union der Arbeit.  Das sind kleine Gruppen wie die „Sozialistische Volkspartei“, die Juri Luschkows „Vaterland“ als Kollektivmitglieder beigetreten sind.
Nur ein müdes Lächeln für den neuen Kurs Wladimir Putins hat Wassili Lipitzki, Chef der „Sozialistischen Volkspartei“. Er bekleidet jetzt den Rang eines „Assistenten des Politsowjets“ in der Organisation „Vaterland“:

O-Ton 12: Wassili Lipitzki    0,48
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Übersetzer:
„My snajem…
„Ja, wir sind mit dem Text bekannt, auf den Sie sich beziehen. Er trägt einen sehr allgemeinen Charakter. Es fällt mir schwer, darin irgendwelche konkreten Bedingungen zu finden, die man diskutieren könnte. Das sind, sagen wir, alles sehr schöne Wünsche, kaum etwas, über das man streiten könnte. `Wir gehen unseren Weg´ – nun gut, alle Länder gehen ihren Weg; das ist ziemlich klar. Gleichzeitig findet man Ausführungen zur Globalisierung, auch zur nachindustriellen Gesellschaft. Das sind auch wieder so allgemeine Dinge, die man nicht diskutieren kann. Das Wichtigste ist: Was ist mit diesem eigenen Weg gemeint? Das ist mir nicht klar.“
…ne jasna.“

Erzähler:
Russland sei ein Land mit sehr unterschiedlichen Bedingungen, fährt Wassili Lipitzki fort, für das man kein allgemeines Programm aufstellen könne. Da müsse alles nach Ort, Zeit und Bedingungen konkret entschieden werden. Zudem, wenn man schon von eigenem Weg reden wolle, die „besonderen russischen Methoden“ berücksichtigen, die in diesem Lande üblich seien.
Gefragt, was er denn darunter verstehe, wenn er doch einen eigenen russischen Weg nicht sehe, antwortet Wassili Lipitzi:

O-Ton 13: Forts. Lipitzki    0,32
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Übersetzer:
Lacht “U nas…
„Bei uns ist die Trennung von Politik und Geschäft nicht so sehr erkennbar wie in Europa. Und so eine Situation wie sich zur Zeit in Deutschland rund um die CDU entwickelt, ist einem Russen, nicht nur Beobachtern der politischen Elite, absolut unverständlich. Wenn man Politik macht, muss man Geld nehmen. Das ist die Lebensnorm.“
…norma schisni.“

Erzähler:
Und unvermittelt sehr ernst, setzt er hinzu:

O-Ton 14:    0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,24 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Predstawtje sebje…
„Stellen Sie sich vor  Putin würde beginnen, wenn er als Präsident freie Hand hat, den Kampf gegen die Korruption zu führen. Bei unseren Bedingungen wäre das ein neues `36, denn wenn für alle gleiche Kriterien gelten würden, dann müssten alle dran glauben. Dann würde in Russland einfach keine politische Elite mehr übrigbleiben.“

Erzähler:
D a s  sind die Besonderheiten, lacht er, diese Art des Kampfes wird Russlands noch in die Zukunft  begleiten wird.
… budusche“, lachen

Erzähler:
Geradezu aufreizend wirk die Ruhe, die der Analytiker Wjatscheslaw Nikonnow, in der Beurteilung des „putinschen Fiebers“, wie er es nennt, an den Tag legt. Nikonnow ist Chef eines „Fonds für Politik, versteht sich selbst als konservativ. Der Krieg in Tschetschenien werde vorbeiziehen, meint er. Dessen Ausgang sei für die zukünftige Entwicklung ohnehin nur von peripherer Bedeutung. Solche Kriege hätten Russland durch seine ganze Geschichte hindurch begleitet. Ja, Russlands Geschichte bestehe aus solchen Kriegen. Worüber rege man sich also auf; die Führung dieses Krieges bedeute nur die Rückkehr zur Norm. Aus Wjatscheslaw Nikonnows Sicht ist Wladimir Putin eine auswechselbare Figur in einem objektiv unvermeidbaren Prozess:

O-Ton 15: Wjatscheslaw Nikonnow    0,45
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Übersetzer:
„U Putina njet…
„Putin hat kein Konzept. Er hat nichts von russischem Weg oder dergleichen gesagt. Für mich ist allerdings klar, dass es das westliche Entwicklungsmodell für Russland nicht geben wird. Russland hat ein paar spezieller Besonderheiten, sowohl im nationalen Charakter, als auch im wirtschaftlichen System und in der Geografie, durch die es sich vom Westen sehr unterscheidet. Das ist hinreichend bekannt. Klar ist, dass es hier bei uns immer ein großes Ausmaß staatlicher Einmischung, dass es Staatswirtschaft geben wird. Russisch – das heißt: Bürokraten mischen sich ins Geschäft! Das ist es. In dieser Hinsicht hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts bei uns nicht viel geändert.“
…rasniza“, lacht
Erzähler:
Was in den Erklärungen Wladimir Putins über Kollektivismus gesagt werde, sei ebenfalls Unsinn. „Es geht um korporative Strukturen“, so Nikonnow, „nicht um Kollektivismus“:

O-Ton 16: Nikonnow, Forts.    0,58
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Übersetzer:
„Korporativism, konjeschna..
„Korporativismus ist natürlich kein Kollektivismus, von dem immer die Rede ist, also dieses angebliche kollektive Bewusstsein. Umgekehrt: Russland ist ja gerade ein sehr individualistisches Land. Bei uns sagt man oft, wir hätten den Kollektivismus aus dem Osten und die Arbeitsliebe aus dem Westen. Ich denke aber eher, aus dem Westen haben wir den Individualismus, das Einzelgängertum, aus dem Osten den Despotismus. Despotismus auf individueller Grundlage – das ergibt eine einzigartige Mischung. Sie ist dem westlichen Menschen wenig verständlich. Mit Sicherheit aber gibt es keine puritanische protestantische Arbeitsethik in Russland und wird auch keine geben. Es ist ganz offensichtlich, dass es hier andere Spielregeln geben wird.“
…prawili igri.“

Erzähler:
Russland ist nicht Europa, konstatiert Wjatscheslaw Nikonnow, allerdings auch nicht Asien:

O-Ton 17: Nikonnow, Forts.     0,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossije eta…
„Russland ist nicht Osten und nicht Westen – Russland ist Russland. Es liegt auch nicht irgendwie zwischen etwas – es ist eine eigene Zivilisation, die sich von östlicher und westlicher unterscheidet und so wird es auch in Zukunft sein.“
..i tak budit.“

Erzähler:
Russlands Eigenes, das kann man nach diesen Ausführungen des konservativen Analytikers ergänzen, ist seine besondere Lebens- und Arbeitsorganisation, die östliche und westliche Einflüsse, die Individualismus und Despotismus miteinander verbindet. Darin sind sich alle einig., Kommunisten, Anhänger Lebeds bis hin zu den Liberalen. In der Sowjetunion war es das Arbeitskollektiv, das als Sowchose oder Kolchose, als Fabrik- Lern- oder Forschungskollektiv das gesellschaftliche Leben bestimmte. In ihm waren Arbeitswelt und außerbetriebliche Realität untrennbar miteinander verwoben. Unterschiedlich sind allein die Bewertungen dieser Tatsache: Im Privatisierungsprogramm Boris Jelzins von 1991 wurde diese korporative Grundorganisation des Alltags als „schädlicher Kollektivismus“ zur Ursache der Krise und zum Hauptgegner Fortschritts erklärt und seine Auflösung verordnet. Die Mehrheit der Gemeinschaftsbetriebe und der damit verbundenen Lebenszusammenhänge erwies sich jedoch als resistent, versank unter dem Druck der forcierten Privatisierung allerdings zunehmend in arbeitsunfähiger Lähmung.
Kritiker der beschleunigten Privatisierung wiesen daher in den letzten Jahren immer wieder daraufhin, dass dieser Grundstruktur Beachtung geschenkt werden müsse, wenn die Reformen sozialen Bestand haben sollten. So etwa  Boris Kagarlitzki, einer der jüngeren Reformsozialisten.
Es gebe einen Aspekt der früheren sowjetischen Strukturen,  erklärte er schon bald nach Beginn der Schockprivatisierung, der immer wieder vergessen werde: Die Gemeinschaft der sowjetischen Arbeitskollektive:

O-Ton 18: Boris Kagarlitzki    1,22
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Übersetzer:
„Schto takoje..
„Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Obschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali.“

Erzähler:
Heute, so Boris Kagarlizkii, zeichne sich von der Basis und von den Regionen der russischen Föderation her eine Reorganisation der Obschtschina-Strukturen ab. Blanker Überlebensdruck bringe diese Entwicklung hervor. Bloße Existenznot zwinge die Menschen, sich für die Erhaltung ihrer Betriebe und der darauf basierenden außerbetrieblichen Gemeinschaftsstrukturen einzusetzen, deren weiterer Zerfall sie sonst in absehbarer Zeit dem Hunger preisgeben werde. Die Politik Wladimir Putins, meint Kagarlitzki, treibe diese Entwicklung voran:

O-Ton 19: Kagarlitzki, Forts.            1,27
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Übersetzer:
„Na samom delje…
„Im Kern“, kommentiert Kagarlitzki die neueste Entwicklung, „hilft Putin den Linken.“ Einerseits grabe Putin der Kommunistischen Partei Russlands das Wasser ab, indem er sie als überflüssiges Anhängsel seiner eigenen Politik erscheinen lasse, andererseits stärke die von ihm weiter favorisierte Privatisierung und seine weitere Orientierung am marktwirtschaftlichen Modell die sozialen Spannungen unter Jugendlichen, in den Regionen und nicht zuletzt in der Arbeiterschaft, die um den Erhalt ihrer Betriebe kämpfe. Mehr noch, die Ablösung des liberalen Jelzin durch den Zentralisten Putin sei sogar ein Zeichen dafür, dass die herrschenden Kreise, eine schärfere politische Gangart gegen die Bevölkerung einzuschlagen beabsichtigtene.
…bolje schoski.“

Erzähler:
Man muss nicht Boris Kagarlitzkis Hoffnungen auf  die Entstehung einer linken Alternative teilen, um zu erkennen, dass seine Kennzeichnung der „Obschtschina“ als die Zelle, in Wladimir Putins Politik ihre soziale Wirkung zeigen wird, die gegenwärtige Situation am rationalsten beschreibt. Man muss andererseits auch nicht die düsteren Prognosen Alexander Dugins auf zukünftige Konfrontationen zwischen Russland und dem Westen oder die Befürchtungen des liberalen Lagers vor einem Diktator Putin teilen. Gerade in Russland, noch mehr im Russland der gegenwärtigen Transformationsphase, wird vieles heißer gekocht, als es gegessen wird. Das wird nicht zuletzt deutlich, wenn gerade die schärfsten Gegner der putinschen Kriegspolitik ausdrücklich davor warnen, Putin zu dämonisieren. So etwa Ludmilla Alexejewa. Als Präsidentin der russischen Helsinkigruppen, die sich die Verteidigung der Menschenrechte gegen russische Soldateska in Tschetschenien zur Aufgabe setzt, weiß sie, mit wem sie es zu tun hat. Sie antwortet auf die Frage, ob Putin sich vom Westen abwenden werde:

O-Ton 20: Ludmilla Alexejewa                0,59
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Übersetzerin:
„Wy snaetje…
„Wissen Sie, das ist nicht möglich. In der alten Welt war das möglich, in der heutigen schon nicht mehr. Die Welt hat sich sehr globalisiert, die Grenzen sind heute sehr durchlässig. Ich denke, in der heutigen Welt würde selbst Stalin das nicht mehr schaffen. Und Putin – ich dämonisiere ihn nicht. Ich glaube nicht, dass er es kann und deshalb denke ich, dass er es auch nicht will. Es ist zu dumm, einfach zu dumm. Russland kann ohne die Welt nicht existieren, weder wirtschaftlich noch psychologisch.“
…psychologitschskom.“
Erzähler:
Nach kurzem Zögern fügt Frau Alexejewa noch hinzu:

O-Ton 21: Ludmilla Alexejewa, Forts.    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzung:
„Na swoi abrasnom…
„Und was den eigenen Weg betrifft: Wir gehen doch alle unseren eigenen Weg! Natürlich werden wir nie so sein wie Deutschland oder Frankreich. Wir sind ja nicht Deutschland oder Frankreich, wir sind Russland. Ist Holland so wie Frankreich? Ist Spanien so wie Schweden? Nein! Also werden wir auch nicht gleich sein. Jedem den seinen Weg! Aber wir sind alle auf dem Weg der Menscheit. Dazu kommt: Russland ist ein europäisches Land. Ja stimmt, wir sind um siebzig Jahre verspätet. Aber wir kommen wieder. Und sehen Sie doch diesen kleinen, zarten Putin. Kann der uns denn diesen Weg verstellen? Nein, selbstverständlich.“

Erzähler:
Vermutlich, wäre noch zu ergänzen, will Wladimir Putin es auch tatsächlich nicht, denn eine Eigenheit Russlands gilt heute vor allen anderen: Ohne die Hilfe reicherer Staaten, ohne die Einbindung in die globale Völkergemeinschaft kann Russland seine Probleme des Übergangs aus der sowjetischen in eine zeitgemässe gesellschaft nicht lösen. Darin liegt die Hoffnung, dass auch der von Wladimir Putin jetzt propagierte eigene Weg Russlands nicht zum Dauerkrieg, sondern  zur Herausbildung demokratischer Regeln einer offenen Gesellschaft auf Grundlage der traditionell gewachsenen korporativen Verhältnisse führt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russlands Wahl: Gibt es eine Opposition zu Putin?

Am 26.3. wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Das Wahlergebnis scheint bereits festzustehen: Nicht um Programme unterschiedlicher Kandidaten wird diskutiert, sondern für oder wider Wladimir Putin: Was bringt der Mann, der durch den Krieg in Tschetschenien populär wurde, für die Zukunft? Fortsetzung der Reformen, Abwendung vom Westen oder beides zugleich? Die Erwartungen sind so geteilt wie sein Programm offen nach allen Seiten ist. Gibt es eine Opposition gegen den neuen starken Mann? Parlamentarisch? Außerparlamentarisch? Wie setzt sie sich zusammen? Über diese Fragen berichtet Kai Ehlers direkt aus Moskau.

*
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies; das Überspielband beginnt mit B

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann am besten eine von den Einführungsszenen der Kundgebung.

Russlands Wahl:
Gibt es eine Opposition gegen Wladimir Putin?

O-Ton 1 A: Kundgebung der  Kriegsgegner     1,35
Regie: Musik langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Moskau. Vorwahlzeit. Ein „Antimilitaristisches Komitee“ hat zu einem „Meeting“ gegen den Krieg in Tschetschenien aufgerufen. Rund zweihundert Menschen versammeln sich unter einem Denkmal von Karl Marx in der Innenstadt. Spruchbänder und Tragschilder fordern den Schutz der Menschenrechte, warnen vor einer KGB-Diktatur; vereinzelt sind auch rote Fahnen zu sehen. Hauptadressat des Protestes ist Wladimir Putin. Er wird verantwortlich gemacht für den Krieg. An ihn, obwohl bisher nur vorübergehend amtierender Präsident, richten sich die Forderungen für eine sofortige Beendigung des Krieges und den Aufbau einer zukünftigen Zivilgesellschaft in Russland, als wäre die Wahl für den neuen Präsidenten schon entschieden. Gibt es keine Alternativen zu Putin? Oder entsteht doch eine neue Opposition? Ein Teilnehmer der Kundgebung, der sich als Mitglied einer „Vereinigung für revolutionäre Kontakte“ vorstellt, antwortet auf die Frage, was er zu diesem Problem denke:

O-Ton 1 B: Junger Mann     0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Musik, Snaetje, ja nje dumaju…
„Wissen Sie, ich denke nicht nur, dass es eine Opposition geben wird, ich weiß, dass es sie bereits gibt: Wir sind es! Ich zum Beispiel stehe in
Opposition zu Putin; die Leute da drüben ebenfalls. Wir können Ihnen gleich einen Flugzettel geben, den wir gegen Putin geschrieben haben.  Im Moment ist die Opposition gegen ihn klein, das ist ein Fakt. Bedauerlich. Aber Putin selbst wird dafür sorgen, dass sie wächst, Je stärker er seine Politik gegen das Volk richten wird, umso stärker wird die Position der Bevölkerung gegen ihn werden.
…0pposizia narodow.“, Musik

O-Ton 2 A: Weiterer Teilnehmer des „Meetings“    0m50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Budit, li…
„Ob es eine Opposition gegen Putin gibt? Ja, wird es wohl, wenn Putin den anderen Kräften weiterhin so wenig Raum lässt“, meint dieser Mann. Er ist gekommen, um gegen die Einschränkung der Pressefreiheit zu  protestieren, die sich an der Festsetzung der Kriegsberichterstatters Babizki durch die Armeeführung zeige. „Ich bin ebenfalls Journalist“, meint er, „wenn auch kein politischer. Morgen kann es mich treffen wie schon früher, als man nicht die Wahrheit über die Genforschung sagen durfte.“ Aber ob Putin wirklich den Kurs fortsetzen werde, den er jetzt eingeschlagen habe? „Er hat bisher kein Programm“, meint der Mann,“es ist alles nicht so ganz klar.“
…nje otschen.“ Trommeln

O-Ton 2 B: Trommeln    0,22
Regie : O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Die Trommeln  führen zu einer Gruppe gelbgekleideter buddhistischer Mönche, junge Russen mit einem japanischen Lehrer. Man sieht sie auch ohne Anlass mit ihrer Trommel durch Moskau ziehen. Heute verstehen sie sich als Bestandteil des „Meetings“. Bereitwillig erklärt der japanische Meister ihre Motive:

O-Ton 3 A: Buddhistischer Mönch     0,30
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We as buddhistic…
„Wir als buddhistische Mönche können nicht akzeptieren, was in Tschetschenien geschieht. Das ist ein wirkliches Verbrechen, ein sehr beschämendes Verbrechen gleich zu Anfang des 21. Jahrhundert. Und wir schließen uns diesem Meeting mit der Forderung an: Stoppt den Krieg in Tschetschenien! Hört auf die Menschen dort zu töten!“
… Tschetnja“, Musik

O-Ton 3 B: Plakatträger    1,00
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Eta moi litschni..
Dieser Mann hat sich ein Zitat von Montesquieu auf sein Tragschild geschrieben. „Die schlimmste Tyrannei“, übersetzt er, „ist diejenige, welche unter dem Zeichen des Gesetzes und der Flagge der Gerechtigkeit daherkommt.“ Was man denn wohl unter Diktatur des Gesetzes verstehen solle, die Putin ankündige? fragt er. Nur bei den Faschisten habe es so etwas gegeben. Selbstverständlich werde es eine Opposition gegen Putin geben! Es müsse sogar mehrere Oppositionen geben. Seine Partei, die „Pazifistische Assoziation“ gehöre dazu. Ja, und auch die Bhuddistische Bewegung, natürlich.
…dweschennije”, Trommeln

Erzähler:
In einer Gruppe älterer Frauen ist man nicht so zuversichtlich. Die Frauen wettern gegen Wladimir Putins Kriegspolitik, gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Zusammenarbeit Putins mit den Kommunisten in der Duma. Sie fürchten eine neue KGB-Herrschaft. Schließlich komme Putin doch von dort. Doch an die Möglichkeit, dass eine Opposition gegen den neuen starken Mann entstünde, glauben sie nicht:

O-Ton 4 A: Frauengruppe    0,30
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, der Übersetzerin unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje budit…
„Nein, die wird es nicht geben“, meint eine der Frauen. „Bei der Uneinigkeit der Kräfte!“ ergänzt eine andere. „Leute, die wirklich verstehen, was in unserem Land heute geschieht, gibt s nur sehr wenige“, setz die erste fort.“Da gibt es keinen wirklichen Weg. Aus meiner Sicht ist das einzig Richtige: Gegen alle zu stimmen. Ich kann keinen von denen unterstützen.“
… paderschewaju“, Musik

Erzähler:
In den Beiträgen vom Podium wird Klartext gesprochen. Das Wort zur Eröffnung hat die Rangälteste unter den sogenannten Menschenrechtsgruppen, Memorial. Bei Einsetzen der Perestroika Anfang der 1980er entstand die Gruppe direkt aus dem dissidentischen Untergrund heraus. In den Jahren unter Gorbatschow und Jelzin wuchs Memorial zu einer moralischen Instanz des neuen Russland heran, insbesondere durch ihre Aufarbeitung des Stalinismus. Jetzt sieht sich die Organisation wieder an den Rand gedrängt. Ihr Sprecher, Oleg Orlow, findet scharfe Worte gegen den aktuellen Kurs der Regierung, speziell gegen Wladimir Putin:

O-Ton 5 A: Oleg Orlow, Memorial    1,00
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nassilije, krow, losch…
„Gewalt, Blut, Lüge – ein Weg von der Unfreiheit zur Unfreiheit, von Imperium zu Imperium, vom zaristischen Imperium zum kommunistischen, vom kommunistischen zum heutigen, dem putinschen. Die letzten Ereignisse könnten uns dahin bringen zu glauben, dass Russland nicht fähig sei, aus diesem entsetzlichen Hexenkreis herauszutreten. Stattdessen sind wir aber hierher gekommen, um Nein zu sagen zu diesem Wahnsinn! Das `Antimilitaristische Komitee´, das dieses Meeting heute organisiert, vereint zwanzig politische Organisationen. Wir mögen in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, aber in einem sind wir einig: in der Forderung, diesen verbrecherischen Angriffskrieg sofort zu beenden.
… etu prestubnu woinu.“

Erzähler:
Von einem Angriffskrieg spreche er deswegen, erklärt der Redner, weil ein ganzes Volk mit Krieg überzogen und aus seiner Heimat vertrieben werde,  statt dass mit den Verbrechern tatsächlich aufgeräumt werde.
Von einem Angriffskrieg und von bewusster Irreführung der Bevölkerung durch die Regierung Putins, insbesondere durch die in Tschetschenien kriegführende Generalität, spricht auch der nächste Redner. Es ist eine offizielle Stimme, Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten:

O-Ton 6 A: Waleri Barschiow, Menschenrechtler    2,00
Regie:  O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,
bei 117 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dorogie drusja…
“Liebe Freunde, man hat uns anfangs gesagt, dass eine anti-terrorististische Operation durchgeführt werde. Natürlich haben wir alle diese Operation unterstützt, denn alle waren daran interessiert, dass dem Banditismus in unserem Lande endlich ein Ende bereitet wird. Man hat auch noch zugestimmt, als es hieß, dass ein sanitärer Kordon dafür nötig sei, dass das Militär den Terek überschreiten müsse. Aber das waren alles Lügen! Die Terroristen machten in aller Ruhe, was sie wollten; Bassajew zelebrierte in aller Seelenruhe eine Hochzeit mitten in Grosny, während rund herum unsere Truppen standen. Er lebte und war gesund und um ihn herum starben friedliche Einwohner. Nicht Banditen wurden in Tschetschenien verfolgt, sondern die  zivile Bevölkerung terrorisiert. Mitglieder der Sondertruppe ALPHA wurden kürzlich gefragt, ob sie in der Lage wären, den Auftrag zur Liquidierung der Terroristen zu erfüllen. `Ja, das könnten sie´, antworteten sie, `wenn ihnen eine solche Aufgabe gestellt würde; aber niemand habe ihnen eine solche Aufgabe gestellt.´“

Erzähler:
Nicht gegen den Terrorismus, sondern gegen den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft werde dieser Krieg geführt, fährt er fort und schließt mit den Worten: „Unser Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat das Land dem Militär eine Weiße Karte ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
…Faschism“, Beifall

Erzähler:
Starke Worte findet Ludmilla Wrassowi vom Komitee der Soldatenmütter Russlands. Das Komitee erfreut sich starker moralischer Autorität, die noch aus ihrem erfolgreichen Widerstand gegen den ersten tschetschenischen Krieg von 1994 – 96 herrührt. Damals holten vom Komitee unterstützte Mütter ihre Söhne direkt aus dem Kampfgebiet nach Hause. Solche Aktionen sind heute nicht möglich. Heute sieht sich das Komitee darauf beschränkt, die künstlich niedrig gehaltenen offiziellen Opferstatistiken durch Angaben nach eigenen Recherchen zu korrigieren und durch Veröffentlichung der wirklichen Opferzahlen der Kriegsbereitschaft entgegenzuwirken:

O-Ton 7 A: Komitee der Soldatenmütter
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 113 vorrübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Nas wosmuschajet…
“Uns empört, dass dieser Krieg gegen unsere eigenen Bürger durch die Hände unserer Söhne geführt wird, achtzehn- und zwanzigjähriger Jungs. Uns empört, dass es unsere Kinder sind, die zehntausenden friedlichen Menschen den Tod bringen. Und das Erschreckendste: Sie lernen zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben im eigenen Land! Nach Kriegsrecht darf so etwas nirgends geschehen, aber besonders schlimm ist es, wenn es mit unseren eigenen Einwohnern geschieht. Wir sind kategorisch gegen eine Fortsetzung dieses Krieges! Wir sehen doch, wie diese Jungs zurückkommen. Der Staat lässt sie allein: keine Prothesen, keine medizinische Hilfe, keine Rehabilitierung, Pensionen zum Verhungern. Wenn solche Menschen, unfähig, ein eigenes Leben zu führen, dennoch eine Familie gründen – was bringen sie ihren Kindern bei?! Unterdrückung Anderer! Mißachtung der Menschenwürde! Was wird das für eine Gesellschaft!? Deswegen fordern wir von der Regierung, diesen Krieg einzustellen: Hört auf die jungen Männer Russlands zu vernichten.“

Erzähler:
„Und noch etwas“, fährt sie fort, „wenn wir eine professionelle Armee fordern, dann wird uns seit Jahren geantwortet, es gebe kein Geld, Russland sei wirtschaftlich nicht bereit, zu einer Berufsarmee überzugehen. Da möchte man fragen: Aber für diesen Krieg waren die Milliarden da?! Und für den vorherigen auch?! „Veranlassen wir also unsere Regierung, das zu tun, was wir wollen!“ schließt die Rednerin, „damit wir gesunde, junge Leute haben, glückliche Familien und gesunde Jugendliche. Anders wird Russland keine Zukunft haben.“
… buduschewa.“, Beifall

Erzähler:
Ganz aus der Deckung wagt sich Nicolai Kramow, der sich als Sekretär einer „Antimilitaristischen radikalen Assoziation“ vorstellt. Die Assoziation ist eine kleine Organisation, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Ungeachtet möglicher drastischer Folgen, die er zuvor beschreibt, ruft Kramow öffentlich zur Verweigerung des Kriegsdienstes auf:

O-Ton 8 A:Nikolai Kramow, Kriegsdienstverweigerer     0,40
Regie: (Achtung O-Ton sehr knapp!) Kurz stehen lassen, abblenden,  unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Beifall, “Nas otschen mala…
“Wir sind sehr wenige, umso wichtiger ist die Mission, die wir haben: Deshalb appelliere ich an alle Einberufenen, an alle jungen Bürger im einberufungsfähigen Alter: Verweigert den Kriegsdienst aus Überzeugung! Ich appelliere an alle Offiziere, Reservisten, Wehrpflichtige, die jetzt eingezogen werden sollen, um die Lücke in der Armee aufzufüllen, welche durch die Politik im Kaukasus geschlagen wurde: Verweigert Euch aus Überzeugung! Krieg in Tschetschenien – ohne uns, bitte!
… bes nas paschalsta!“

Erzähler:
Nikolai Kramow hat recht: Zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einer Kundgebung gegen den Krieg, zu der mehr als zwanzig Organisationen aufgerufen haben und die bekannt gemacht wurde durch den vielgehörten Stadtsender „Echo Moskaus“ – das ist ein mageres Ergebnis. Da ist man nahezu unter sich. Zu Zeiten des ersten Krieges in Tschetschenien waren es mehr Menschen, die protestierten, ganz zu schweigen von den Massendemonstrationen für Perestroika in den Zeiten Gorbatschows, der Volksbewegung für die Verteidigung des „Weißen Hauses“ gegen den versuchten Staatsstreich der alten Parteinomenklatuta 1991, der Boris Jelzin an die Macht brachte.
Nicht ein Vertreter aus den Reihen der Parlamentsparteien, nicht einer derer, die mit Wladimir Putin um den Präsidentensessel konkurrieren, ist dem Aufruf gefolgt. Allerdings hält sich auch die Polizei vollkommen zurück. Nur die Lauscher des Inlandgemeindienstes demonstrieren offen ihren Einsatz; ihre sichtbare Präsenz genügt der Regierung offenbar zur Einschüchterung. Die herrschende Politik, Duma ebenso wie die Regierung Putin, einschließlich der Verwaltung der Stadt Moskau, straft die Versammlung mit Nichtbeachtung.
Nur einer aus der Reihe der etablierten Politiker, Grigori Jawlinksi, Chef der westlich orientierten Partei „Jabloko“, einer aus der Reihe der elf Konkurrenten Wladimir Putins um den Sessel des Präsidenten, lässt noch eben vor Schluss der Veranstaltung ein Telegramm aus der nur 200 Meter entfernten Duma an die Versammelten übermitteln. Die Leiterin der Veranstaltung liest vor:

O-Ton 9 A: Telegramm von Grigori Jawlinski     1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,45 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Drusja…
„Freunde, ich verstehe diejenigen gut, die zu diesem Meeting gekommen sind.  Ich tue alles, um diesen Krieg anzuhalten, den sinnlosen und grausamen. Verbrechern und Banditen muss das Handwerk gelegt, aber das Volk muss geschützt werden. Die Soldaten sollen lebendig nach Hause zurückkehren und mit reinem Gewissen. Unterschrift: Grigori Jawlinksi.

Erzähler:
Die Kundgebung endet mit der Aufforderung an die Versammelten, sich an der Organisation einer Unterschriftenliste zu beteiligen, die ein Ende des Krieges fordert und zur Kriegsdienstverweigerung aufruft. Danach werden hundert blaue Lufballons als Boten des Friedens in den kalten Moskauer Spätwinter-Himmel entlassen:
…tri, tschetirije!“, Beifalll

Erzähler:
Wenige Tage nach der Kundgebung veröffentlicht die Partei Jawlinskis, „Jabloko“, selbst einen Aufruf gegen den Krieg. Die Staatsmacht, allen voran der ungeliebte, aber unbestrittene Champion der bevorstehenden Präsidentenwahl, Wladimir Putin, zeigt sich indessen von solchen Protesten ganz unberührt. Die kritischen Töne, vor allem aber die in der Bevölkerung aufkommenden Ängste vor einer Rückkehr zum KGB-Staat oder auch vor dem Übergang zu einer zur Diktatur der Reichen kontert Wladimir Putin mit populistischen Auftritten an den verschiedensten Orten des Landes, bei denen er allen alles verspricht. Zu besten Sendezeiten füllen seine Auftritte die Programme aller, selbst der kritischeren Fernsehanstalten.
Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Besuch Wladimir Putins im fernen sibirischen Irkutsk. Dort habe der „Amtierende“, wie er im Sprachgebrauch der russischen Medien genannt wird, nach Ansicht politischer Kommentatoren erstmals programmatische Perspektiven erkennen lassen, die über seine bei Amtsantritt Anfang 2000 im Internet veröffentlichten Absichtserklärungen, kollektive Traditionen des Landes mit Marktwirtschaft irgendwie verbinden zu wollen, hinausgehe. Vor Studentinnen und Studenten der Irkutsker Universität beantwortete Wladimir Putin Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 10 A : Wladimir Putin    0,15
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß., hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes beliebige Programm muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa.“

Erzähler:
Zur Frage von Diktatur oder Demokratie beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 11 A: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana..
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, den Kommunismus, jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Entwickeln soll diese Perspektiven eine Strategiekommission, in die Wladimir Putin vornehmlich liberale Intellektuelle aus seinem St. Petersburger „Kommando“, wie man in Russland sagt, berufen hat. Anlässlich des Besuches einer Ausstellung von Bildern in Irkutsk, welche Kinder zum Thema Zukunft gemalt hatten, empfahl der „Amtierende“ dem Leiter dieser Kommission, German Gref, vor laufender Kamera schließlich noch, sich in seiner Arbeit an den Fantasien der Kinder zu orientieren. Nicht wenige von ihnen, so wurde dem Fernsehpublikum gleich darauf mitgeteilt, haben sich als Helden gemalt, die, bewaffnet mit MG, die Gesellschaft von Räubern und Banditen befreien.

O-Ton 12 A: Gemurmel, Klavier    0,30
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen, mit Klavier hochziehen, (noch vor ersten Worten) abblenden

Erzähler:
Ansage, Klavier….
Mit einer Referenz an die Intellektuellen, die immer die ersten bei Reformen, aber oft auch, wie die nach seinerzeit nach Sibirien verbannnten Dekabristen, deren Leidtragende seien, endete dieser Aufftritt Wladimir Putins in Irkutsk.
…Klavier

Erzähler:
Angesichts solcher Auftritte überrascht es kaum, wenn Juri Lewada, altgedienter Chef des zentralen Meinungsfroschungsinstituts (WZIOM) in Moskau, der schon die Regierung Gorbatschows, dann Jelzins mit Daten zur Volksmeinung versorgte, die Situation so beschreibt:

O-Ton 13 A: Juri Lewada
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    1,20
“Opposizia jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Das heißt, die Frage stellt sich anders, nämlich, ob es eine organisierte Opposition gibt. Wird sie so stark sein, dass sie bemerkbar wird? Nach den gegenwärtigen Daten der letzten Zeit ist eine solche Opposition nicht erkennbar. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
546 ..sawjedoma.“

Erzähler:
Gründe für diese Situation liegen nach Lewadas Erkenntnissen darin, dass trotz nicht mehr zu verheimlichender steigender Opferzahlen nach wie vor 60% der Bevölkerung den Kriegskurs Wladimir Putins bis zu einem „siegreichen Ende“ unterstützen. Dagegen habe keiner der übrigen Kandidaten eine Chance. Anwärter wie Luschkow, Primakow, Tschernomyrdin hätten sich daher zurückgezogen. Wer trotzdem gegen Putin antrete wie Szuganow, der Kandidat der Kommunisten, wie Jawlinski tue das aus anderen Gründen, vielleicht aus langfristigen Erwägungen, jedenfalls nicht um jetzt Präsident zu werden. Das gelte umso mehr noch für Kadidaten wie Schirinowski. Noch wesentlicher aber sei möglicherweise, dass die Bevölkerung – die Politiker eingeschlossen – Putin als Blackbox erlebe, als Mr. Nobody, dessen einziges Geheimnis vielleicht darin bestehe, dass er keins habe. Aber wer wisse das schon?
Und so stellten sich eben offensichtlich alle darauf ein, abzuwarten und zu sehen, was für sie in dieser Box liegen könnte.
Viel Gutes sei von einem Mann, der durch den Krieg an die Macht gekommen sei, allerdings nicht zu erwarten; andererseits auch nicht viel Neues:

O-Ton 14 A: Lewada, Forts.    1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei  0,35 vorübergehend hochziehen (sodaß man das Stöhnen hört) weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
“Ponimaetje, nitschewo…
„Verstehen Sie, nichts kommt von Nichts. Natürlich ist Putin ein anderer Typ Mensch als Jelzin und auch als Gorbatschow. Aber er fällt ja nicht vom Himmel. Er wurde von der Situation hervorgebracht, die sich bei uns entwickelt hat. Deshalb wird er sie also fortsetzen – oder irgendetwas zerstören. Im Moment zerstört er das Bild Russlands in der internationalen Meinung, das ist offensichtlich, und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Viel aber kann er auch wieder nicht zerstören, denn er kein unabhängiger Mensch. Er wurde letztlich doch von denselben Händen aufgezogen und geformt, in denen Jelzin sich befand, Kräfte, die aus dem Hintergrund kommandieren, Bankiers, die regieren oder sonst noch Leute, die Einfluß nehmen. Aber es sind auf jeden Fall dieselben Leute.“
…tesche samije ludie.“

Erzähler:
Die Ankündigungen Wladimir Putins, eine neue Staatsmoral aufbauen zu wollen, beantwortet Juri Lewada mit müder Gelassenheit:

O-Ton 15 A: Lewada, Forts.    0,30
Regie: O.Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnogim nrawitza…
„Vielen gefällt es, dass bei uns alles stromlinenförmig werden könnte. Aber ich glaube nicht, dass etwas daraus wird. Doch schauen wir; Teile werden vielleicht verwirklicht. Und was die Zukunft betrifft: Wer versuchen zu überleben! Wir haben schon viel überlebt; versuchen wir es wieder! Das wird harte Kost sein für das Land, für die Menschen, aber irgendwie werden wir es lernen.“
319…  utschitsja“

Erzähler:
Im Hauptquartier der Gegner Putins, in der Fraktion der Kommunistischen Partei, will man von solchen Tönen nichts hören. Auf die Frage, warum Gennadij Szuganow, der Sekretär der Kommunistischen Partei, gegen Wladimir Putin antrete, obwohl man überall höre, dass er sich keine Chancen auf einen Sieg ausrechnen könne, antwortet Andrej Filippow, Beauftragter der Fraktion für internationale Beziehungen:

O-Ton 16 A: In der Fraktion der KPRF    0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Jestdestwena…
“Natürlich haben wir unseren Kandidaten für diese Wahlkampagne ausdrücklich deswegen aufgestellt, weil wir in der Opposition sind. Wir wollen zeigen, dass ein beachtenswerter Teil unserer Bevölkerung mit dem gegenwärtigen Kurs der Regierung nicht einerstanden ist. Und wir hoffen natürlich, dass wir keine schlechte Resultate erzielen, andernfalls bräuchten wir nicht anzutreten: Wir nehmen an den Wahlen Teil, um zu siegen.
…schtobi pobeschdat.“

Erzähler:
Anrdej Filippow erinnert daran, dass 1996 auch Jelzin erst nach dem zweiten Wahlgang gesiegt habe, nachdem Alexander Lebed, der seinerzeit als dritter durch Ziel ging, Jelzin seine Stimmen zuführte. Etwas ähnliches werde es diesesmal aber nicht geben, denn einen vergleichbaren Kandidaten, der bei einer eventuell. notwendigen Stichwahl mit Wladimir Putin in ähnlicher Weise koalieren könne, werde es diesesmal nicht geben. Lebed selbst habe verzichtet; für den dieses mal möglichen Anwärter eines dritten Platzes, Grigorij Jawlinski sei  eine Koalition mit Putin undenkbar. Also, müsse man sich durchaus auf ein Kopf an Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Konkurrenten, Putin und Szuganow einstellen. Hinter dem einen stehe die gegenwärtige Partei der Macht, die vor der Duma-Wahl im Dezember aus dem Nichts geschaffene Partei „Einheit“; auf der anderen stünden solide 30% kommunistischer Stammwähler. Dazu kämen noch die Verbündeten der „patriotischen Front“. Das, versichert Filippow, seien doch die allerbesten Voraussetungen für einen Sieg, oder nicht?
In einem allerdings sieht Filippow ernsthafte Schwierigkeiten, die große Herausforderungen an seine Partei stellten:

O-Ton  17 A: Filippow, Forts.     1,35
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun dela w`tom…
“Nun, das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muß es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. Man hat unsere Losungen übernommen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Eine andere Sache ist, dass der Inhalt ein anderer ist. Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn man ihn reden hört, kann man sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Aber es gibt einige prinzipielle Positionen, wo man nichts von ihm hört: Etwa der Kampf mit der Korruption. Nichts! Die Frage der Überprüfung krimineller Auswüchse der Privatisierung – Nichts! Entscheidend ist schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden. Er ist dafür und weiß doch zugleich, dass das nicht akzeptiert werden wird. Gemeinschaftliche Nutzung des Bodens hat bei uns tiefe Wurzeln in der Geschichte. Auch die von einigen geforderte Privatisierung der natürlichen Monopole, Gasprom, R-A-O-U-ES, also des landesweiten Energiemonopols, der Eisenbahn und anderer wird für ihn sehr problematisch. All diese wirtschaftlichen, diese prinzipiellen Fragen werden für ihn das Examen sein.“
.. budit Examen.“

Erzähler:
Die schärfste Differenz zu Putin kommt bemerkenswerter Weise nicht von der kommunistischen, auch nicht von neulinker Seite, sondern von der nationalbolschwisten Rechten, den sogenannten „patriotischen Kräften“. Die Kommunistische Partei begnügt sich mit dem Platz einer etablierten Opposition. Das entspricht der Rolle, die sie bereits unter dem Präsidentschaft Boris Jelzins angenommen hat. Ein Präsident Szuganow ist, allen Selbstermutigungen aus diesem Lager zum Trotz, nicht zu erwarten. Die neulinken Kräfte nähren, soweit sie nicht in den radikaldemokratischen Protesten gegen den Krieg aufgehen, Hoffnungen auf kommende Kämpfe einer unzufriedenen Arbeiterschaft.
Im Vergleich zu solchen Hoffnungen erscheint die Position der Nationalbolschewisten ernüchternd realistisch. Von kommenden Kämpfen könne keine Rede sein, meint beispielsweise Alexander Prochanow, Herausgeber der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen). Mit ihm in ein Horn stoßen die „Sowjetskaja Rossija“ und ein paar andere Blätter, deren Linie irgendwie zwischen Neo-Stalinismus, Marktwirtschaft und Nationalismus schlingert. Ein Teil unterstützt die KP, ein anderer nicht. Eine richtige Bewegung bekommen sie zur Zeit auch nicht zustande.
Mehr als lokale Proteste seien zur Zeit nicht zu erwarten, meint Prochanow; zudem habe die Regierung begonnen, die Lohn- und Pensionsrückstande der letzten Jahre auszugleichen. Diese Aussagen Prochanows stimmen mit den Erwartungen des Präsidenten der Moskauer Gewerkschaft, Michail Nagaitzew und Prognosen aus Geschäftskreisen überein, die eine allmähliche Entwicklung eines innerrussischen Marktes erwarten. Auf Dauer aber, so Alexander Prochanow weiter und besteht dabei auf klassischer marxistischer Terminologie, werde Wladimir Putin den Widerspruch zwischen Basis und Überbau nicht aushalten:

O-Ton 18 A: Alexander Prochanow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Erzähler:
Alexander Prochanows Urteil, wenn auch aus extremer Position, in dogmatischer Sprache, kommt den Tatsachen wohl am nächsten: Wladimir Putin, wenn er zum Präsidenten gewählt wird, wird einen Kurs zwischen Liberalismus und imperialem Dirigismus suchen. Dafür sprechen auch seine neuesten Äußerungen über einen möglichen Beitritt Russlands zur NATO. Faktisch ist ein solcher Schritt unter heutigen Bedingungen unmöglich. Wladimir Putins Auslassungen zu dem Thema zeigen aber, auf welcher Schlangenlinie er zwischen imperialer Orientierung Russlands und Abhängigkeit vom Westen steuert. Sollte Wladimir Putin nicht gewählt werden, was unwahrscheinlich ist, wird aber doch jeder andere Präsident demselben Kurs folgen müssen. Einen anderen Weg gibt es für Russland zur Zeit nicht. Opposition wird, wie am Protest gegen den tschetschenischen Krieg erkennbar, darin bestehen, die Zahl der Opfer auf diesem Kurs so weit zu begrenzen, wie möglich.

Unruhe in Eurasiens Steppengürtel Krieg der Kulturen oder Entstehung einer Alternative?

Kosovo, Tschetschenien, Tadschiskistan, Afghanistan – die Namen dieser Länder stehen für Kriege, die heute um ethnische Fragen geführt werden. Alle diese Konflikte liegen auf der Linie des großen euroasiatischen Steppengürtels, auf dem die Völker seit Jahrtausenden zwischen den Kulturen wandern. Auf dem selben Gürtel liegen auch Tatarstan, Tschuwaschien, Baschkortastan und andere nicht-slawische Republiken Rußlands an der Wolga, dazu kommen Burjätien, Chakasien, die Völker des Altai bis hinein in die Mongolei. Auch hier gibt es ethnische Konflikte, die bisher jedoch im Großen und Ganzen friedlich verliefen. Welche Linie wird sich durchsetzen?

(Wahlweise:
Wo einst die Hunnen zogen…
Skizzen aus dem Krisengürtel zwischen Asien, Rußland und Europa)

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne so geschnitten, daß Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5. Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies

B 1, O-Ton 1: Nachrichten, Kampfhubschrauber                                 2,01
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen, auslaufen lassen

Erzähler:
Kaukasus: Kampfhubschrauber im Anflug. Zerbombte Dörfer. Flüchtende Menschen. Eine immer perfektere Maschinerie der Zerstörung trägt den Krieg in die Bergdörfer. Wie sich die Bilder wiederholen! Tschetschenien, Kosovo, Afghanistan, Kaukasus, Balkan, Zentral- und Innerasien. Worum geht es?
Aus der Sicht der betroffenen Völker geht es um eine Befreiung vom Kolonialismus. Das Ende der Sowjetunion war für sie das Signal, ihre eigenen Geschicke bestimmen zu wollen. Der Us-amerikanische Ideologe Samuel P. Huntington spricht vom „Krieg der Kulturen“, der zwischen Asien und dem Westen ausgetragen werde. Moskau deklariert den tschetschenischen Krieg als Verteidigung gegen den Terrorismus islamischer Fundamentalisten.
Gegen diese Position machen selbst patriotische Kritiker der Regierung Front, denen an einer Widerherstellung des russischen Vielvölkerimperiums gelegen ist. So der Moskauer Publizist Alexander Dugin..Vor der Wahl der neuen russischen Duma war er Berater des Dumapräsidenten Selesnjow. Befragt, was er von der Deklaration des Gottesstaates durch die tschetschenischen Muslims halte, antwortet er:

B 1, O-Ton 2: Alexander Dugin, Geopolitiker                    1,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wa perwich…
„Ich würde das zuallererst in die geopolitischen Koordinaten einordnen. Der Hauptgedanke der Geopolitik ist der Widerspruch zwischen maritimen und und territorialen Reichen,Thalassokratie und Tellurokratie. Dieser Gegensatz drückt sich nicht in Ideologien, religiösen oder ethnischen Faktoren aus, sondern in einer Grundkonstellation, in der sich atlantische und euroasiatische Interessen heute gegenüberstehen. Die Verbreitungszone des Islam liegt in der sogenannten Übergangszone, die sich vom Süden Spaniens bis zu den Phlippinen erstreckt. Das ist die typische Zwischenzone. Das heißt, es gibt überhaupt keine einheitliche Geopolitik des Islam und es gibt keine einheitliche Vorstellung von einem einheitlichen islamischen Staat, nicht einmal unter den Radikalen. Die Rede ist vielmehr von zwei Tendenzen des Islam, einer atlantischen und einer euroasiatischen.
„…drugaja jewrojasiskaja.“

Erzähler:
Atlantisch – das heißt für Dugin: Amerika, euro-asiatisch im Kern: Rußland. In diesem Dualismus, so Dugin, werde sich die nächste Zukunft entwickeln.
Auch wenn man dieser einfachen Polarisierung nicht zustimmen mag, ist doch eines offensichtlich: Der Zerfall der sowjetischen Pyramide, in welche die Völker Euroasiens im Laufe eingebaut wurden, hat eine Vielfalt von Staaten hervorgebracht, die sich heute in der Übergangszone zwischen westlichem, also US-dominiertem, und russischem Einfluß befinden. Das beginnt in der Mongolei, umfaßt alle südlichen Staaten der GUS und endet auf dem Balkan. Aber nicht nur das. Unter dem Stichwort der „nationalen Widergeburt“ setzte sich dieser Prozess schon 1991 mit ständig zunehmender Intensität auch im im russischen Kernland fort:

B 1, O-Ton 3: Tatarisches Kulturzentrum                        1,04
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zentrum dieser Bewegungen ist Kasan, die Hauptstadt des islamisch geprägten Tatarstan, einer der sechs ethnisch bestimmten Republiken an der mittleren Wolga, also im Herzen Rußlands. Im Büro des „Tatarischen Kulturzentrums“ (TOZ) liefen alle Fäden zusammen. Von sieben Millionen Tataren der russischen Föderation leben etwa zwei Millionen in diesem Gebiet. Mit 48% Anteil an der Gesamtbevölkerung sind sie in Tatarstan fast gleichstark mit den Russen, die ihrerseits 47 Prozent der Bevölkerung stellen. Die übrigen fünf Prozent werden von den Völkern der umliegenden Republiken gestellt: Tschuwaschen, Baschkiren, Urmurten, Mordawier und Marie. Bis auf die Marie, die finnisch-ugrischen Ursprungs sind, sind alle anderen turk-tatarische Völkerschaften.
…ruski imperii.“

Erzähler:
Vizepräsident Raschit Jageferow erläutert die Ziele des Zentrums. Er überreicht seinem Besucher Statut und Programm des „TOZ“. Er legt Wert auf die Feststellung, daß das Zentrum eine staatliche Einrichtung der Republik sei. Dann erzählt er:

B 1, O-Ton 4: Forts. TOZ                                    0,41
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sam u nas…
„Alles begann bei uns als Volksbewegung vor zwei Jahren, 1989. Zu Anfang waren es vielleicht elf Leute, Wissenschaftler, Historiker, eben tatarische Intellektuelle. Es gab einfach das Verlagen, eine solche Volksbewegung zu schaffen, um für die Souveränität der Republik zu kämpfen. Erste Aufgabe war die Gründung einer Republik, ähnlich wie früher Usbekistan, Kasachstan. Das war das erste Ziel.“
… sadatscha nascha bila.“
Erzähler:
Am 13.8.91 erklärte Tatarstan seine staatliche Souveränität. Das Referendum zu dieser Frage im März `92 brachte eine Mehrheit von 61 Prozent dafür. Anfang Juni 92 trafen sich Tataren aus aller Welt zum All-tatarischen Kongreß in Kasan. Er bekräftigte Forderungen nach staatlicher Souveränität, nach Gleichstellung von russischer und tatarischer Sprache und nach Schaffung eines übergreifenden tatarischen Kultturraumes. Im August `92 wurde ein Gesetz über die Gleichberechtigung der Sprachen verabschiedet.

B 1, O-Ton 5: Tschuwaschischer Kongreß, Applaus, Musik         2,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, O-Ton 6 darauf einblenden, weiter unterlegen, danach mit O-Ton 6 gemeinsam ausblenden

Erzähler:
Aber keineswegs nur die islamischen, auch die nicht-islamischen Republiken an der Wolga kamen in Bewegung. Dem all-tatarischen Kongreß vom Mai 1992 folgte ein all-tschuwaschischer im Juli desselben Jahres in Tscheboksary, ebenfalls an der Wolga. Tscheboksary ist die Haupstadt der tschuwaschischen Republik. Die Tschuwaschen sind nach den Tataren mit 4 Millionen die zweitggrößte Minderheit in der heutigen russischen Föderation. In der Republik selbst bilden sie mit sechzig Prozent die Mehrheit. Das Wort auf dem Kongreß führte Atner Chusangai, Sohn eines Literaten, der die Auseinandersetzung um die politische Macht in den Vordergrund rückte:

B 2, O-Ton 6: Atner Chusangai                            1,01
Regie: O-Ton 6 in Ton 5 einblenden,  beides kurz stehen lassen, unterlegen, hochziehen, mit O-Ton 5 (Musik) zusammen ausblenden

Übersetzer:
„Systema dolschna…
„Das System muß anders werden, das Budgetsystem, das Steuersystem, nicht so wie jetzt, nicht so zentralisiert. – Nun, bestimmte Vollmachten sind wir ja bereit der russischen Föderation zu überlassen, bitte sehr – aber wir sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das, das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist eueres, das ist unseres usw. Aber sie kennen unsere Situation hier nicht. Es muß umgekehrt sein: Das ist eueres, das fassen wir nicht an. Das müssen sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der Militärindustrie: Das ist Eueres – aber das ist unseres, unseres, unseres. Diese Politik gibt es zur Zeit bedauerlicherweise nicht. Das heißt, es muß eine härtere, unbeugsamere Position für die realisierung des Schutzes unserer Souveränität der Republik her. Diese Position gibt es zur Zeit leider nicht.“
…tam tagdali.“

Regie: Erst Sprache, dann Musik ausblenden

Erzähler:
Besonnene Stimmen relativierten. Professor Alfred Hwalikow, selbst Tatare, Ethnologe und Archäologe in Kasan von internationalem Ruf, inzwischen verstorben, sah eine kompliziertere Zukunft voraus:

B 1, O-Ton 7: Prof. Hwalikow                                1,23 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta snatschitelnaja…
„Das ist alles entschieden schwieriger! Es könnte sich alles so entwickeln, wenn sich die Sowjetunion auflösen würde. Aber die Union wird sich nicht auflösen, denn das, was wir die Sowjetunion nannten, ist ja nicht erst in den letzten siebzig Jahren entstanden. Es ist vor vierhundert und mehr Jahren entstanden als die Kasan erobert wurde, als die Eroberung Sibieriens begann. Dann der Kaukasus, danach Mittelasien. Das waren doch nicht die Bolschewiki.! Das ist imperiale Geschichte wie die Englands in Indien, wie die der Holländer. Die Oktoberrevolution brachte nur neue Schwierigkeiten, denn die Dinge entwickelten entgegen der Ideologie. Als Ergebnis erhielten wir dieses Mosnter vom Typ der Sowjetunion. Das mühte sich, alles mit schönen Worten zusammenzukleistern, Es blieben aber letztlich nur leere Phrasen. Der eigentliche Kitt war die alte russische Vorstellung vom Imperium. Diese imperialen Vorstellungen haben sich bis heute erhalten. Wie das rauszukommen ist – das weiß zur Zeit keiner und das kann niemand. .                                                    …i nje moschet.“
Erzähler
Noch tiefer in die Verwicklungen der Geschichte führen die Forschungen des tschuwaschischen Kulturzentrums. Da ist zunächst der greise Dichter Alexander Terentjew. Er ist von Haus aus Ingenieur, hat aber ein Buch über die Geschichte Tschuwaschiens und, was noch interessanter ist – eine Balldade über Etel, also Attila, den Hunnenkönig, als Zar der Tschuwaschen verfaßt. Den Zusammenhang, den er zwischen tschuwaschen und den Hunnen sieht, beschreibt er so:

B 1, O-Ton 8: Alexander Terentjew                            0,23 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje o pomminanije tolka…
„Nach meiner Erinnerung begann die Geschichte Tschuwaschiens mit der großen chinesischen Mauer: Stiller Ozean, China, Altai, danach die kaspische Steppe, das asowsche Meer; dann kommen schon die Bolgaren, noch nicht die Tschuwaschen, die kommen später. Alles das ist hunnische Geschichte: Attila! Die Bolgaren teilten sich dann, die einen wandten sich zur Donau, die anderen an die Wolga.“
…na Wolgu.“

Erzähler:
Die Tschwuaschen, zeigt sich, verstehen sich als Nachfolger Attilas, und zwar der Teile der Bolgaren, die sich beim Rückzug der Hunnen an der Wolga festsetzten. Zusammen mit den Donaubolgaren gründeten das Bolgarische Reich, das erst vom nächsten großen Völkersturm, dem der Mongolen unter Tschingis Chan im 13. Jahrhundert zertrümmert wurde. Im Chanat Kasan, einem Teilfürstentum des mongolischen Weltreiches, verbanden sich tschuwaschische und tatarische Geschichte sowie die Geschichte weiterer mit Hunnen, Türken und Mongolen nach Westen gezogener Völker unentwirrbar miteinander. Mit der Eroberung Kasans, die 1552 das russische Rolback des Mongolischen Weltreiches einleitete, wurden die einen wie die anderen Objekt russischer Ostkolonisation, von der sie sich immer wieder durch erfolglose Aufstände zu befreien suchten. Hinzu traten unterschiedliche Einflüsse von Islam und Christentum. Vor der Revolution von 1917 stand die Mehrheit der nicht-russischen Völker an der Wolga in islamischer, die Tschuwaschen dagegen,  abgesehen von starken Resten naturreligiöser Anschauungen, in christlicher Tradition. Für heute, das heißt, in einer Phase der weltanschalulichen und religiösen Neuorientierung, ergibt sich daraus eine Situation, die der tschuwaschische Schriftsteller und Mythenforscher Michail Juchma mit den Worten beschreibt:

B 1, O-Ton 9: Michail Juchma                                  1.08 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wsjo sawissit…
„Alles hängt jetzt von der Position des Islam ab, davon, wie sich der Islam entwickelt. Wenn der Islam sich als taktisch geschickt erweist, das heißt, mit Schmeichelei vorgeht, dann kommt er hier durch. Das wiederum hängt aber ganz von den Tschuwaschen ab. Was die Tschuwaschen machen, das machen auch die Marie, Utmurten und die Mordawier. Warum das so ist? Alle übrigen turkstämmigen Völker an der Wolga sind Mohammedaner. Nur die Tschuwaschen, ebenfalls turkstämmig, sind christlich; aber auch bei ihnen wächst das Interesse am Pantürkismus und sie wenden sich ihm mehr und mehr zu. Russen, Türken, Iraner, alle anderen sehen das: Das schwächste Glied der russisch-orthodoxen Kirche an der Wolga sind die Tschuwaschen. Deshalb wird die islamische Welt jetzt die Tschuwschen attakieren.“
…slabaja fronta.“

Erzähler:
Michail Juchma weiß, wovon er spricht. Er ist nicht nur Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“ , sondern auch zweiter Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“, die auch mit türkischen Kräften außerhalb der russischen Föderation eng zusammenarbeitet. Auch von islamischen Fundamentalisten werden Juchma und seine Freunde gedrängt, sich für den Islam zu entscheiden. Ganz undenkbar wäre das nicht, da es in der tschuwaschisch-tatarischen Geschichte Perioden gab, in denen die Tschuwaschen mehrheitlich dem Islam anhingen. Kehrten sie heute dorthin zurück, würde ein zusammenhängendes islamische Gebiet wie ein Keil von Süden ins christliche Herz Rußlands hineinragen.
Aus Moskau reiste deshalb im Sommer 1992 Boris Jelzin persönlich mitsamt seinem „Kommando“ an, wie seine Regierung in Rußland genannt wurde. Man bot den Tschuwaschen an, sie könnten bei der Umwandlung der zentralen Staatsbetriebe 35 Prozent der Aktienanteile übernehmen. Dabei blieben die Betriebe zwar immer noch in Moskauer Hand. In der Hierarchie der Angebote, das die „Moskauer“ den übrigen Gebieten machten, war dies einmalig. Außerdem versprach Boris Jelzin hohe Subventionen für die vor dem Bankrott stehenden Großbetriebe der Republik. Das macht deutlich: Moskau wollte die Tschuwaschen als Gegengewicht gegen Tatarstan und seine islamischen Freunde stabilisieren.

B 1, O-Ton 10: Musik                                                1,45    (bricht ab)
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden mit O-Ton 11, danach gemeinsam ausblenden

Erzähler:
Zwei Jahre später, im Sommer 1994, und zweitausend Kilometer weiter im Osten. Abakan in Chakasien, eine der südsibirischen ethnischen Provinzen am Fuße des Altai. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen die Provinzen Altai und Tuwa, in denen, wie in Chakasien noch, ja mehr als das, jetzt wieder vermehrt nomadische Wirtschaftsweise praktiziert wird. Auch hier haben, mit etwas Verspätung, die Impulse der „nationalen Widergeburt“ inzwischen Früchte getragen. Im Kulturbüro der Provinzverwaltung ist man allerdings eher zurückhaltend. Eine der dort arbeitenden Frauen erklärt:

B 2, O-Ton 11: Kulturverwaltung in Abakan                        1,50
Regie: O-Ton verblenden, mit Musik im Hintergrund kurz stehen lassen , beides abblenden, unterlegen, bei 0,44 (Stichwort: weschej )  vorübergehend hochziehen, unterlegen , hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Da konjeschna …
„Ja, selbstverständlich, Widergeburt der chakasischen Nation sollte sein.  Allerdings machen wir uns mehr Sorgen um die Kultur. Früher hatten wir Folklore, früher hatten wir eigene, sehr schöne Kopfbedeckungen, Lieder usw. Das ist alles verloren. Für diese Wiederburt  sind wir. Für kulturelle Wiedergeburt, nicht so sehr nicht für politische. Natürlich ist es gut, daß wir eine Republik wurden. Aber daß da irgendwas mit den Russen so quer läuft – nein, ich bin ganz und gar gegen solche Sachen.“
… etich weschej.“

Erzähler:
Kulturelle Wiedergeburt, fahren die Frauen fort, sei  dagegen sei eine große Sache, die man mit zwei Worten gar nicht beschreiben könne: Verehrung der Alten, Achtung der alten Sitten, der Überlieferung, Bewahrung der Sprache. Vor allem die Welt der alten Epen müsse gepflegt werden, das Brauchtum der Volkserzähler. Viele junge Leute gebe es inzwischen, die mit professionellen Mitteln die alten Geschichten neu erzählten. Nach wenigen Augenblicken sprechen alle Versammelten begeistert von der Eigenart und der Vielfalt des nomadischen Lebens und seiner uralten Kultur. „Kommen Sie zu unserem nächsten Fest“,  schließen sie, “ da können Sie alles sehen.“
…  lachen, Genmurmel

Regie: Ton 11 Sprache zusammen mit Ton 10 abblenden

Erzähler:
Im regionalen Heimatmuseum gibt es politischere Töne zu hören. Dort arbeitet der Archäologe Uwan Dostangonow, sechsundzwanzig Jahre alt. Er ist Mitglied in der „Chakasischen Gesellschaft für Wiedergeburt“. Nachdem er die Geschichte der Chakasen als Teil einer großen Völkerbewegung der Hunnen, Turk-Tataren und Mongolen zwischen Asien und Europa skizziert hat, erklärt er:

B 1, O-Ton 12: Uwan Dostangonow                                 1.05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My jawlajem Tschast…
„Wir sind Teil der Wiedergeburt der turkstämmigen Völker. Das hat sich so entwickelt: Zuerst haben sich die kleineren Völker Sibiriens, neunundzwanzig sind es, zu einer Assoziation  zusammengeschlossen; das war 1988, 1989 und 1990. Die turkstämmigen Völker des Altairaumes haben einen eigenen südsibirischen Zusammenschluß gebildet. Da der nicht sehr aktiv war, haben wir eigene, aktivere Formen der Zusammenarbeit mit vergleichbaren Organisationen im nördlichen Kaukasus gesucht, so mit der „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Das führte zur Gründung einer Jugendorganisation unter den türkischen Völkern. Schließlich wurde 1991 in Kasan der erste Kurultai der TurkJugend durchgeführt.
… kurultai turkskich maladjosch.“

Erzähler:
Kurultai hieß die Versammlung, auf der im Jahre 1206 Tschingis Chan zum Herrscher ausgerufen wurde, und von der aus die turk-mongolischen Stämme sich unter seiner Führung zur Eroberung der Welt aufmachten. Fünfzig Jahre später war nahezu die gesamte damals bekannte Welt von China bis nach Europa unterworfen. Es begann die Zeit, die Marco Polo als „Pax Mongolica“ beschreibt, während der eine Karawane, wenn sie unter dem Schutz des Mongolenchans stand, die monatelange Reise von Europa bis nach China zurücklegen konnte, ohne ausgeraubt zu werden.
Kurultai heißen heut die Versammlungen turk-tatarischer Völker. Mehrere Kurultais, an denen russische wie nicht-russische Turkvölker Inner- und Zentralasiens, des Kaukasus, des vorderen Orients und des Balkan teilnahmen, haben seit 1991 stattgefunden: 1992 in UFA, 1993 in Baku, danach in Ankara. Bei diesen Versammlungen gerieten pantürkische, auch islamisch fundamentalistisch motivierte  Expansionsvorstellungen und gemäßigte Forderungen nach der Entwicklung eines einheitlichen turkstämmigen Kulturrraums immer öfter aneinander. Härtere Konflikte mit der russischen zentralmacht, wie sie dann im ersten tschetschenischen Krieg zum Ausbruch kamen, deuteten sich an.
Im Sommer 1994 lag dies alles noch in Zukunft. Gefragt, welche Linie sich durchsetzen werde, antwortete der junge chahasische Aktivist:

B 1, O-Ton 13: Forts. Uwan Dostangonow                    0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No, mnje kaschetsja…
„Ich glaube, daß der Pantürkismus keine Gefahr ist, weil jedes Gebiet, in dem Turkvölker leben, ihre Spizifika besitzt: Chakasien, Tatarstan, nördlicher Kaukasus, andere. Eine große Rolle spielt auch die Tatsache, daß nicht alle turkstämmigen Völker Anhänger des Islam sind.“
… Islama“.

Erzähler:
Er hoffe jedenfalls, daß Pantürkismus ebensowie Panslawismus oder andere Fundamentalismen der Vergangenheit angehörten. Andernfalls, schließt er,  werde es große, langandauernde Konflikte geben.

B 1, O-Ton 14:  Beifall, Musik                                  2,01
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit O-Ton 15 verblenden, zusammen mit O-Ton 15 hochziehen und ausblenden

Erzähler:
Von der gleichen Hoffnung war der siebte Kongreß der Mongolisten getragen, der 1997 rund 400 Wissenschaftler aus aller Welt für eine Woche in Ulaanbaator, der Hauptstadt der Mongolei, zusammenführte, die sich ein Bild über die Entwicklung der Mongolei, Inner- und Zentralasiens nach dem Ende der Sowjetunion machen wollten.

B 2, O-Ton 15: Foyer, Prof. Lhagwa                            0,46
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen und zusammen mit O-Ton 14 ausblenden

Erzähler:
„Ah, inowa mongol.. (Mongolisch)…
„Die Mongolisten“, erklärt ein Teilnehmer des Kongresses, Prof. Lhagwa, Physiker vor Beginn der Eröffnung voller Erwartung, erst mongolisch, dann russisch, „betreten heute neues Gelände.“ Die Mongolei habe sich für die Welt geöffnet. Jeder Mongole, jeder mongolische Wissenschaftler könne jetzt seine Meinung über die Geschichte äußern und über die weitere Entwicklung. Das habe eine sehr große Bedeutung.“
…snatschennije

Regie: Erst Sprache, dann Musik ausblenden

Erzähler:
Auf internationalem wisssenschaftlichen Niveau wurde auf diesem Kongreß von internationalen Wissenschaftleren und Wissenschaftlerinnen bestätigt und vertieft, was tatarische, tschuwaschische, chakasische, mongolische und turk-tatarische Heimatforscher, Ethnologen und Kulturpolitiker seit Öffnung des eisernen Vorhangs zur Frage des einheitlichen turk-tatarischen Kulturrraumes ausgegraben haben. Dr. Eva Tschaki von der Universität Budapescht zum Beispiel ist Altaistin. Als Sprachforscherin hielt sie sich jahrelang in Kasan auf, um die Verwandtschaft zwischen den in ihrer Heimat Ungarn, den turk-tatarischen Völkern Rußlands, denen des Kaukasus sowie Mittel- und Zentralsiens zu studieren. Ihre gemeinsame Wurzel, so Frau Tschaki, haben diese Völker alle im Gebiet des Altai. Von dort verbreiteten sie sich in alle Richtungen:

B 1, O-Ton 16: Eva Tschaki, Budapescht                        0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Really, the Mandschu Tungus….
„Die Mandschu-Tungisen gingen sehr weit nach Norden. Schon bei ihnen gibt es viele Völker und Sprachen wie das Mandschurische, das Tungisische; das Turkische ist dem sehr ähnlich. Wenn Sie an die Karaims in Polen denken, an die Tschuwaschen oder an die Tatar-Baschkiren. Auch das Jakutische in Westsibirien ist solch eine Sprache. Selbst in der Mongolei gibt es solche turksprachigen Gruppe. Die Mongolen und auch die Ungarn haben dieselbe Sprachstruktur: das Agglomerative, die Bildung der Sprache durch Anhängen von Suffixen und sie denken sehr ähnlich, wenn man die Unterschiede von Religion und Politik mal beiseite läßt, wenn man an den Grund kommt.“
…to the buttom.“

Erzähler:
Der Grund, erläutert Frau Tschaki dann , ist die nomadische Lebensweise:

B 1, O-Ton 17: Forts. Dr. Tschaki                            0,19
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„I´m speaking about…
„Ich spreche über die Steppenzone von Euro-Asien. Es ist äußerst wahrscheinlich, daß Völker dort in dieser Weise in Netz gelebt haben und sich ständig gegenseitig beeinflußten.“
… each other.“

Erzähler:
In dieser ethnischen Skizze sind sich die Forscher und Forscherinnen, die sich mit der Geschichte der Altaivölker, der Hunnen, Türken, Mongolen und anderer befassen, weitgehend einig – gleich ob sie aus China, Japan, Rußland, Europa Amerika oder auch mit den Augen der erforschten Völker seber auf die Geschichte schauen. Der Sprach- und Kulturraum, der so entstand, reicht vom Landinneren Chinas bis auf den Balkan. In ihm überlagern sich die Folgen der Westzüge asiatischer Reitervölker, insbesondere die Nachwirkungen der hunnischen und der mongolischen Reiche, später das osmanische Reich mit der Ostkolonisation der Russen und der Kolonialpolitik des imperialen Westens. Nomadische und seßhafte Lebensweise, Schamanismus und Hochreligionen – Bhuddismus, Islam, Christentum – östliche und westliche Kulturen trafen immer wieder aufeinander, bekämpften, überlagerten, durchdrangen einander, bildeten eine eigene Zone von ständig sich im Übergang befindenden Kulturen heraus. Seit dem Ende der Sowjetunion ist sie wieder erneut in Bewegung geraten.
Professor Bira, als Leiter der „Assoziation der Mongolisten“ von Ulaanbaator Gastgeber des Kongresses, brachte es auf den Punkt:

B 1, O-Ton 18: Prof. Bira                                     1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„There is a…
„Es gibt eine mehr oder weniger allgemein akzeptierte Konzeption der Geschichte unter Wissenschaftlern, es ist die     Konzeption des großen britischen Geschichtswissenschaftslers Raynold Toynbee. Er hat ein vielbändiges Buch über die     Weltzivilisation geschrieben. In seinem Buch schließt er das Nomadentum als eine Art der Zivilisation mit ein, und er war sehr besorgt über das verschwinden des Nomadentums in der Welt. Er benutzte sogar so eine Wendung wie: „Die letzte Stunde des Nomadentums hat geschlagen.“ Er meinte das deshalb, weil das Nomadentum als Ergebnis der westlichen Industrieentwicklung in den arabischen und anderen Ländern fast verschwunden ist. Was das mongolische Nomadentum betrifft, sagte er, daß es als Ergebnis von russischem und chinesischem Kommunismus verschwinden werde. So ungefähr drückte er sich aus. Er war ja ein sehr großer Wissenschaftler, aber es scheint, daß diese Schlußfolgerung zu früh kam, wenn man die Mongolei und andere Länder betrachtet.“
…mongolia and some other contries.“

Erzähler:
Faktisch strebe die Mongolei zu ihren nomadischen Wurzeln zurück, so wie viele andere Länder des Steppengürtels, natürlich in einer modernisierten Form. Viele Konflikte in den heutigen eurrasischen Krisenzonen seien aus dieser grundlegenen Problematik zu erklären. Wie der neue Weg ausssehen könne, sei aber offen. Viel wissenschaftliche und politische Anstrengung der internationalen Gemeinschaft sei nötig, um diesen Weg friedlich gehen zu können. Die UNESCO habe sich des Themas deshalb bereits angenommen; auch der Kongreß stehe unter diesem Zeichen.
So sehr sich Professor Bira, ebenso wie seine wissenschaftlichen Gäste aber auch mühten, politische Streitfragen aus dem Kongress fernzuhalten, dauerte es doch keinen halben Tag, da hatten die aktuellen Konflikte die wissenschaftliche Ruhe bereits durchbrochen. Ein Mitglied einer soeben gegründeten “ „Volkspartei für die innere Mongolei“, Mitarbeiter bei „Radio Liberty“ agitierte in den Gängen der Krongreßhalle für die Freiheit der Inneren Mongolei:

B, 1, O-Ton 19: Awton Bator, Innere Mongolei                        1,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja Awton Bator
„Ich bin Awton Bator“, stellt er sich vor, gebürtig in den inneren Mongolei, die heute zu China gehöre. Er komme soeben aus New York,  wo eine „Volkspartei Innere Mongolei“ gegründet worden sei – in New York deshalb, weil das in der Inneren Mongolei nicht möglich sei. Sie werde aber vor Ort tätig werden. Schon seit fünfzig Jahren, so Awton Bator, leben die Uiguren der Inneren Mongolei, eine den Mongolen verwandte Bevölkerungsgruppe, unter der Repression Chinas. Schon lange strebten sie nach Unabhängigkeit.  Neuerdings hätten sich die Aktivitäten unter den Intellektuellen, aber auch unter einfachen Nomaden verstärkt. Sie kämpften für eine echte Autonomie, dafür daß sich die Kultur der „mongolischen Nation“ erhalte. Erst kurz vor dem Kongreß sei es wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf sogar nach offizieller chinesischer Darstellung hunderte Menschen getötet wurden. Das Zentralkomitee der Partei habe auch Kontakt zum Dalai Lama aufgenommen. Tibetaner, Uiguren und andere arbeiteten zusammen; schon bald werde es eine einheitliche Front geben..
…jedini front.“

Erzähler:
Von einer Front wollte auf dem Kongreß ebenso wie zuvor in Tatarstan, bei den Tschuwaschen, Chakasen oder anderen Völkern, die seit dem Ende der Sowjetunuion von der großen historischen Unruhe erfaßt wurden, niemand etwas hören. Teilnehmer der chinesischen Delegation äußerten sich zwar bereitwillig über Tschingis Chans Bedeutung für China, klärten ihre Zuhörer sogar darüber auf, daß große Teile der Bevölkerung  des chinesischen Westens Nomaden seien:

B 1, O-Ton 20: Prof. Sin Chian                                0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tja lisi sang…
Die Frage nach den Verhältnissen in der inneren Mongolei jedoch lassen sie unbeantwortet. Ihre eurpäischen Kollegen, die für sie übersetzen, erklären „solche Fragen“ für unerwünscht. Leute, die solche Fragen stellten, gehörten nicht auf den Kongreß. Man habe das bereits kritisiert:
… critizized them.“

Erzähler:
Die politische Wirklichkeit aber läßt sich nicht ausgrenzen. Schon der erste tschetschenische Krieg von 1994 bis 1996 zeigte die Grenze, von der ab das Streben nach Autonomie und Selbsbestimmung außerhalb der bisher geltenden imperialen Grenzen zu Zusammenstößen mit der in Frage gestellten russischen  Zentralmacht führte. Er hinterließ ein verwüstetes Tschetschenien und wurde mit einem faulen Frieden beendet. Den Krieg um das Kosovo führte nicht Rußland, sondern die NATO, das heißt, die Europäische Union unter Führung der USA. Das Ergenis ist jedoch nicht weniger faul. Seit September 1999 tobt der zweite tschetschenische Krieg. Er hat sich von einem lokalen Konflikt zu einem Vernichtungsfeldzug Moskaus gegen jeden „Separatismus“ gesteigert.
Die Ratlosigkeit ist groß. Pessimistische Stimmen, sei es, daß sie den Thesen Samuel Huntingtons oder solchen wie Alexander Dugins von Dualismus amerikanischer und russischer Interessen folgen, malen schwarze Szenarios.
So etwa Gaidar Aschemal, Vorsitzender des „Islamischen Komitees“ Rußlands. Er sieht sich, obwohl seinem Selbstverständnis nach russsicher Patriot wie sein Gesinnungsfreund Alexander Dugin, als Opponent des gegenwärtigen Kriegskurses der russischen Regierung. Eine friedliche Lösung wäre besser, betont er:

O-Ton 21: Gaidar Aschemal                                0,55
Regie: O-Ton ein bißchen höher ziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„No, is moja…
„Jedoch! Aus meiner Sicht ist heute ein dritter Weltkrieg unausweichlich. Er ist aus einer ganzen Reihe von Gründen ausausweichlich. Er kann unterschiedliche; aber für Euroasien und dabei auch Europa sehr schwere Formen annehmen: Schema der Vierziger Jahre, aber ausgeweitet bis nach China! Das heißt, die Front geht durch den Balkan, den Kaukasus, weiter durch Mittelasien nach China hinein. Danach wird sich Euroasien so entwickeln wie Europa nach dem zweiten Weltkrieg:Eeine Ruine, Stagnation der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung! Sagen wir, ganz Eurasien wird sein wie ein großes Afghanistan, Afghanistan hundertmal vergrößert.“
…sto ras.“

Erzähler:
Die Perspektive ist düster. Aber wenn es auch so scheinen mag, so ist sie doch nicht die Einzige. Aus Transnistrien, zwar gute tausend Kilometer von den Kämpfen in Tschetschenien entfern, aber ebenfalls mitten in der Konfliktzone des euroasiatischen Steppengürtels gelegen, ebenfalls ein Vielvölkerteppich, ebenfalls Krisengebiet, kommen zur Zeit ganz andere Meldungen. Transnistrien löste sich nach vorangegangenen militärischen Auseinandersetzungen 1993 als autonomes Gebiet von der Republik Moldawien. Seitdem besteht ein ungeklärter Schwebezustand, der jederzeit wieder zu neuen Konflikten führen kann. Dort versammelten sich im Oktober, parallel zur Eskalation der Kämpfe in um Tschetschenien Russen, Ukrainer, Rumänen, Moldawier, Transnistrier – und Vertreter der „Organisation für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit“ (OSZE), um einen Vorschlag zur  Lösung des Problems zu erörtern, den Transnistriens Vertreter vorgelegt hatten. In  Orientierung an den Prinzipien der europäischen Integration sieht er vor, eine Gemeinschaft aus zwei selbstständigen Staaten zu bilden. Jefim Berschin, Moskauer Journalist, selbst in Transnistrien gebürtig, ist von der Idee begeistert:

B 1, O-Ton 22: Jefim Berschin                                   0,39 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tscho eta sa problem…
„Also worum geht es? Wichtig ist: Was soll, bei weiterer Existenz zwei voneinender getrennter Staaten, das Verbindende sein? Sie fanden fünf Punkte: Erstens die gemeinsame Grenze, zweitens einen gemeinsamen Wirtschaftsraum drittens einen gemeinsamen Rechtsraum, viertens einen gemeinsamen sozialen Raum. Fünftens gemeinsame Verteigungsausgaben.“
… oborodinne prastranstwa.“

Erzähler:
Die ersten vier Punkte, gemeinsame Grenze, gemeinsamer Wirtschafts-, Rechts-, und Sozialraum, so Jefim Berschin, seien ohnehin faktisch gegeben. Der fünfte Punkt, gemeinsame Verteidigungsausgaben machte schon allein deswegen einen Sinn, weil es in der geografischen Lage der beiden Länder, eingefaßt von Rußland, Rumanänien und der Ukraine, keinerlei Sinn ergebe, gegen irgendjemanden Krieg zu führen. Neutralität, so Jefim, sei der einzig sinnvolle Status für diese Übergangsgebiete zwischen Europa und Rußland, zu denen auch Moldau und Prednestrowien zählten:

B1, O-Ton 23: Jefim Berschin, Forts.                      0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Stichwort „Tschtschnju“ hochziehen, dann langsam ausblenden

Übersetzer:
„Poetamu jest idea…
„Deswegen besteht die Vorstellung, soweit ich es verstanden habe, dieses Modell zwischen Moldau und Transnistrien auszuprobieren, um es dann für Kosovo zu übernehmen – und dann nicht nur für das Kosovo, sondern auch für andere Konfliktherde wie das Südlliche Ossetien, Abchasien, Berg Karabach usw. und – mag sein – am Ende sogar für Tschetschenien – wenn dort kein Krieg mehr geführt wird und sich die Situation normalisiert hat.“
…Tschschnju….bis …normalisuetsja.“

Erzähler:
Rußland, Rumanänien, Ukraine, ebenso wie die OSZE haben den Vorschlag Prednestrowiens für gut befunden. Nur Moldawien muß noch zustimmen. Wenn politische Vernunft  die Entwicklung bestimmt, dann wird diese Zustimmung Moldawiens nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das könnte ein Signal für eine Entwicklung werden, die für eine Neuordnung des Übergangsraums zwischen Asien und Europa nicht auf Unterdrückung von Autonomiewünschen, nicht auf ethnische Säuberungen und nicht auf Zwangsintegrationen sondern auf  Förderung der neuen Entwicklungsimpulse in  kooperativer Vielfalt setzt.
Wenn nicht politische Vernunft bestimmt, wird die Vielfalt sich trotzdem durchsetzen. Aber dann wird sie blutige Umwege nehmen. Hoffen wir also! „Die Hoffnung stirbt immer zuletzt“, lautet ein russisches Sprichwort.

Tschtschenien- Rußlands Krieg gegen sich selbst.

Pressevortext:

Rußland führt wieder Krieg in Tschetschenien. In der Sprachregelung der russischen Regierung handelt es sich bei den Bomben, die auf tschetschenische Dörfer und Städte niedergehen, ja, selbst bei der angedrohten vollkommenen  Zerstörung der Hauptstadt Grosny nicht um einen Krieg, sondern um eine Aktion zur Vernichtung tschetschenischen Terrorismus. Je länger der Krieg dauert, um so deutlicher, daß dieser Krieg nur weiteren Terrorismus hervorbringen kann.

Kai Ehlers über Hintergründe des Krieges in Rußland.

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

***

Erzähler:

Rußland führt wieder Krieg in Tschetschenien. In der Sprachregelung der russischen Regierung handelt es sich bei den Bomben, die auf tschetschenische Dörfer und Städte niedergehen, ja, selbst bei der vollkommenen Zerstörung der Hauptstadt Grosny nicht um einen Krieg, sondern um eine Aktion zur Vernichtung tschetschenischen Terrorismus. Ihn macht die Regierung für die Serie von Bombenanschlägen auf russische Wohnhäuser verantwortlich, die im Spätsommer 1999 hunderte von Toten forderten. Die ca. 250.000 Frauen, Kinder und Greise, die Tschetschenien seitdem verlassen haben, sind nach Moskauer Sprachregelung keine Flüchtlinge, sondern „zeitweilig Umgesiedelte.“

Medien und sonstige Öffentlichkeit halten sich an diese Sprachregelung. Man will den Krieg nicht als Krieg zur Kenntnis nehmen, sondern möchte ihn als Wiederherstellung von Normalität begreifen. Die Insignien dieser Normalität sind das Erste, was einem auffällt, wenn man dieser Tage nach Moskau kommt:

O-Ton 1: flotte Musik                                                                              1,11

Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, gegen Ende des Erzählers allmählich hochziehen, verblenden mit O-Ton 2

Erzähler:

Musik….

„Wir heben ab, mein Sonnenfreund“, jubelt diese Sängerin. Sie ist eine von vielen Stars, die beim großen Konzert „Jugend für Vaterland“ auftreten, das zu bester Sendezeit im Fernsehen für die Politik des Moskauer Bürgermeisters Luschkoff wirbt. „Steh auf, fang an, alles wird gut!“ versprechen weitere Stars. Rockkonzerte sind auch live Alltag in dieser Stadt. Ein Titel Gruppe provoziert mit dem Titel: „Eijeijei eij, töten wir einen Neger!“. Der Song ist verboten, wurde aber der Hit des Sommers. „Doch sind wir natürlich keine Rassisten!“, witzeln die Veranstalter, „das ist doch alles nur Spaß“.

O-Ton 2: Musik auf dem Pressefest

Regie: verblenden, hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:

Musik…                                                                                                     ,125

Ein Urbild alltäglichster Normalität vermittelt auch das große Pressefest auf dem immer noch so genannten „WDNCHA„; dechiffriert und übersetzt heißt das: „Ausstellung für volkswirtschaftliche Errungenschaften der UdSSR“. Was Rang oder auch nur einen eigenen Namen in der Medienbranche hat, ist dort mit einem eigenen Stand vertreten. Pluralistische Geschäftigkeit wird hier demonstriert. Kein Wort vom Krieg, selbst im Beiprogramm nicht, das den Stand der Pressefreiheit in Rußland kritisch beleuchtet. Am Stand der „Komsomolskaja Prawda“, gewissermaßen Moskaus Bildzeitung, wird mit Aktualität geworben, mit T-Shirts, mit einer Anti-Aidskampagne, mit einer Videobox, in der man sich selbst singen hören kann. Nur vom Krieg ist auch hier nicht die Rede sowenig wie in der Zeitung selbst. Gleich nebenan, beim „Kommerssant“, der als kritisches Blatt gilt, kommentiert dessen junger Vertreter das „Paßregime“, das Bürgermeister Luschkoff nach den Bombenanschlägen im Sommer in Moskau einführte und in dessen Folge ca. 80.000 Menschen, vor allem Kaukasier und andere „Schwarze“, wie die Kaukasier und Zentralsiaten in Rußland heißen, die Stadt verlassen mußten:

O-Ton 3: Junger Mann am Stand von „Kommerssant“                      0,46

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Wy snajetje, wobsche…

„Wissen Sie, das ist einfach nicht angenehm: Wenn ich mit dem Hund auf die Straße gehe oder mein Mädchen nach Hause bringe, dann kommen Polizisten, umstellen mich, verlangen Papiere. Oft sind sie nicht nüchtern und das Ganze geht in so einem brutalen Ton vor sich – das ist natürlich nicht angenehm. Aber wie auch immer – ich habe mich daran gewöhnt, meinen Paß bei mir zu tragen. Ich halte mich für jemand, der die Gesetze beachtet und dann gibt es keine Schwierigkeiten. Also fühle ich mich ganz ruhig.“

… spakoina wschuwstwuju.“

Erzähler:

Moskauer Analytiker betrachten den Krieg gar als politischen Nebenschauplatz. So etwa Andrej  Kolganoff, Ökonom, der das „Modell Moskau“, also die verblüffende wirtschaftliche Blüte Moskaus studiert, die Juri Luschkoff zur Zeit als Wahlschlager auf die russische Provinzz exportieren möchte. Auf die Frage, wie der Krieg das Modell beeinflusse, antwortet der Wirtschaftswissenschaftler ohne zu zögern:

O-Ton 4: Andrej Kolganoff                                                                     0,45

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Dumaju, ni kak…

„Ich denke: Überhaupt nicht. Im Kern hängen diese Dinge nicht zusammen. Das Einzige ist: Der Krieg in Tschetschenien gibt dem Staat die Möglichkeit, seine Einflußnahme auf die Wirtschaft zu verstärken. Der Krieg schafft Gelegenheiten für Modelle, die mit der Stärkung staatlicher Regulierung und ebenso des staatlichen Paternalismus zusammenhängen. Aber ich glaube nicht, daß das ohne den Krieg anders wäre.“

… nje bila by.“

Erzähler:

Mit spöttischem Unterton seziert Josseff Diskin die Lage. Er ist Generaldirektor der Finanzkorporation „Wostok“, Osten, außerdem politischer Experte des Föderationssowjets:

O-Ton 5: Josseff Diskin                                                                           1,22

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Na moi sljad …

„Meiner Ansicht nach hat sich die Situation nur für Journalisten geändert; für politische Analytiker dagegen ist seit dem Bankenkrach `98 nichts Entscheidendes anders:  Nach wie vor fällt der Rubel leicht, ist aber einigermaßen stabil. Im Ergebnis finden Auslandsimporte nur schwer Absatz und der heimische Markt kann sich weiter entwickeln. Auch in der Politik hat sich nichts Dramatisches verändert: Nach wie vor wirken die gleichen Mechanismen der Macht wie zu Zeiten Primakoffs, nach wie vor ist die Politik von der Auseinandersetzung zwischen nationalen Monopolen und regionalen Eliten bestimmt; dahinter stehen die Oligarchen; Das einzig Neue ist der Krieg – aber der kommt nicht unerwartet und kann auch nicht ewig dauern. Er ist für Jelzin der einzige Weg, seine Macht, bzw. das Regime Jelzins ohne Jelzin zu erhalten.“

…Jelzina bes Jelzin.“

Erzähler:

In vollkommenem Kontrast zu dieser Art der Normalität steht die Medienpolitik der Regierung, stehen die Auftritte der führenden Politiker, die sich fast darin überschlagen, den Krieg populär zu machen. Die Medien, vor allem die Fernsehanstalten spreachen fast nur noch mit einer Stimme, obwohl doch die zu verschiedenen Clans gehörenden Sender sich in Fragen, welche die Wahlen betreffen, gleichzeitig erbitterte Schlammschlachten liefern. Die Stimme, in der sie sprechen, ist die des Armeehauptquartiers. Es gibt, ganz nach dem Muster des NATO-Hauptquartier im Kosovokrieg, tägliche Lageberichte heraus. Darin werden die eigenen Verluste und Opfer systematisch verschwiegen:

O-Ton 6: TV, Erkennungsmelodie, Trompete, Kommentatorin           1,32

Regie: O-Ton bis zur Kommentatorin frei stehen lassen, danach abblenden, unterlegen, zwischendurch mehrere Mal (jeweils zum Einsatz der männlichen Stimme) hochziehen, abblenden, am Schluß (zur männlichen Stimme) hochziehen und frei stehen lassen.

Erzähler:

Star aller Nachrichtensendungen  ist Wladimir Putin, gestern in Wladiwostok, morgen im Krjeml, heute im Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten. In knappen Sätzen, energischen Sätzen wirbt er um Zustimmung für den von der Regierung erklärten antiterroristischen Feldzug:

Regie: bei 0,35 zur männl. Stimme) zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Außenminsier Sergej Iwanoff weist vor allem die Kritik des Westens zurück. Er warnt vor Rückfällen in die Muster des kalten Krieges.

Regie: bei 1,00 (zur männl. Stimme) zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Die „Aktion“ versichert Ministerpräsident Wladimir Putin immer wieder, sei nicht gegen die Bevölkerung gerichtet, sondern gegen Banditen. Sie trage keinerlei ethnischen oder religiösen Charakter.

… meschdunarodnowo konflikta

Erzähler

Die Medien halten sich an Wladimir Putins Vorgaben. Das unterscheidet die Situation vom ersten tschetschenischen Krieg in den Jahren 1994, 1995 und 1996. Anders als vor drei Jahren ergreifen diesesmal auch Militärs das Wort in der Öffentlichkeit. Eine Legende vom Dolchstoß der Regierung, die der Generalität mit einem faulen Frieden in den Rücken gefallen sei, hat sich entwickelt. Prominentestes Opfer dieser Stimmung ist Ex-General Alexander Ljebed, der 1996 den Waffenstillstand erwirkte. Nicht ein Tag vergeht, daß nicht einer der kommandierenden Generale im Fernsehen versicherte, diesesmal werde man das Land nicht wieder räumen, sondern für immer bleiben. Wenn „die Politik“ anders entscheide, werde man demissionieren. Auch bei politischen Veranstaltungen ergreifen Militärs das Wort, so etwa General Rodionow beim traditionellen Festumzug der Kommunisten zum Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917:

O-Ton 7: General Rodionow                                                                   1,42

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Uwaschajemi tawarischtschi…

„Werte Genossen und Freunde. Heute sind die Verhältnisse im Lande härter und gefährlicher als 1941 vor Moskau und 1942 vor Stalingrad. Damals war klar: Es gab die faschistische Aggression. Eine Abwehrfront wurde aufgebaut; da stand das Hinterland;  da stand die Armee; man mußte nur die Lage richtig erkennen und das Volk um die Partei zusammenschließen. Heute ist auch Krieg; aber es ist ein Krieg anderen Typs: Wir fühlen ihn nicht und wir sehen ihn nicht. Er soll uns alle zerstören. Doch der Widerstand gegen die Aggression wächst und der Aggressor fühlt es und sieht es. Schauen Sie nur, wie der Westen sich aufregt, seit er sieht, daß wir in der Lage sind, dem Chaos im südlichen Kaukasus ein Ende zu setzen! Sehen Sie, was man für einen Druck auf uns ausübt! Es würde dem Westen passen, wenn diese blutige Spur sich über den Kaukasus und von da über ganz Rußland ausbreiten würde und man es dann nach dem Beispiel Jugoslawiens ´befreien´ könnte.“

Erzähler:

„Es gibt nur einen Ausweg“, schließt der General. „Alle Patrioten müssen sich um die KPRF versammeln, um die Aggression gemeinsam abzuwenden. Unsere Sache ist richtig! Der Sieg wird unser sein!“

…Hurra! Beifall!“

Erzähler:

Aber nicht nur die Kommunisten stehen in der Kriegsfrage zum Kurs der Regierung. Fest zu den erklärten Kriegszielen stehen auch die ehemaligen liberalen Reformer, die gegen den ersten tschetschenischen Krieg 1995/96 noch entschieden Front gemacht hatten. Auf einer Pressekonferenz erklärte Jegor Gaidar, als Initiator der Schocktherapie, an der er bis heute nichts Falsches erkennen kann, nach wie vor Leitfigur der Liberalen:

O-Ton 8: Jegor Gaidar                                                                            1,40

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja abratilby wnimannije…

„Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf den grundlegenden Unterschied lenken zwischen der Situation, die sich in Jugoslawien ergeben hatte, und der, die sich heute in Tschetschenien ergibt. In Jugoslawien wurden Menschenrechte verletzt. Das hat die Weltgemeinschaft zu Recht veranlaßt, Druck auf Jugoslawien auszuüben – aber Jugolsawien ist nicht über einen souveränen Staat hergefallen. Der NATO-Angriff war deshalb die ernsthafteste Verletzung des Völkerrechtes.

In Tschetschenien , 1999, unternahmen große Verbände von Truppen einen direkten Überfall auf russisches Territorium, auf eine Bevölkerung, die absolut kein Verlangen hatte, für sich einen extremistischen, wahabitischen islamischen Staat aufzubauen. In dieser Situation war es Aufgabe jeder verantwortungsbewußten russischen Macht, von der niemand sich hätte drücken können, dem Überfall entgegenzutreten, die territoriale Unversehrheit wieder herzustellen und eine Wiederholung der Überfälle nicht zuzulassen. “

Erzähler:

Opfer unter der friedlichen Bevölkerung ebenso wie bei den russischen Truppen, setzt Gaidar auf Nachfrage hinzu, müßten natürlich so weit wie möglich vermieden werden. Daran gebe es keine Zweifel. … sojusniki.“ Saal

Erzähler:

Die Wirklichkeit sieht auch bei den Liberalen anders aus. Ausgerechnet Jegor Gaidars stärkster Verbündeter war es, Anatoly Tschubajs, ehemals Vollstrecker der Jelzinschen Privatisierungspolitik, heute Direktor des allrussischen Energieverbundes „RAOUS„, welcher der tschetschenischen Republik in seiner Eigenschaft als Direktor dieses Konzerns gleich zu Beginn des russischen Feldzuges die Strom- und Gaslieferungen sperren ließ. Davon betroffen waren selbstverständlich nicht in erster Linie die tschetschenischen Kämpfer, sondern die zivile Bevölkerung. Diese Aktion liegt vollkommen auf der Linie der russischen Generalität, welche die Bevölkerung veranlassen will, sich von den Kämpfern zu distanzieren, um diese dann vernichten zu können. Als Grigorij Jawlinski, im Westen beliebter Chef der gemäßigten Reformergruppe „Jabloko“ nach anfänglicher Zustimmung zu dem Krieg dann Ende November aus der Front der Vaterlandsverteidiger ausscherte, indem er erklärte, nun seien die Bedingungen erreicht, unter denen man zu Verhandlungen übergehen könne, wurde er von den „ROAUS„-Chef Tschubajs öffentlich als Verräter bezichtigt. Der Positionswechsel der Liberalen zeigt am krassessten, welcher Wandel sich in Rußland gegenüber Tschetschenien seit 1996 vollzogen hat.

Jefim Berschin, bei Abschluß des Waffenstillstands 1996 als Berichterstatter in der unmittelbaren Umgebung Alexander Ljebeds tätig, danach Initiator einer Selbsthilfegruppe „Journalisten an heißen Punkten“, erklärt diese Veränderung so:

O-Ton 9: Jefim Berschin                                                                         1,30

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:

„Wa perwich eta…

„Erstens ist da, von der Qualität her, im Vergleich zu 1995/96 etwas ganz anders. Zweitens gibt es unheimlich viele Faktoren, die der Westen vermutlich nicht versteht. Ich bin 1995/96 auch gegen den Krieg gewesen. Damals wirkte noch der Impuls von 1991, mit dem Jelzin selbst an die Macht kam. Man sah die Tschetschenen stellvertretend für alle, die Jelzin beim Wort nahmen, sich so viel Freiheit zu nehmen, wie nötig. Darüberhinaus war der Krieg kein Krieg. Er war eine banditische Zerstückelung, ein mafiotischer Excess, ein verantwortungsloser Mord an der zivilen Bevölkerung ebenso wie an den russischen Wehrpflichtigen, die man zu Tausenden krepieren ließ, ein Verbrechen, was Du willst, nur kein Krieg, Der Waffenstillstand, den Ljebed aushandelte, war damals, das kann ich bezeugen, der einzig mögliche Schritt, diesen Wahnsinn zu stoppen. Aber dann, nach Abschluß des Waffenstillstands hat Tschetschenien sich in eine Enklave verwandelt, in der es keine Macht gab.“

…gossudarstvenni wlast                                                       .“

Erzähler:

Schuld daran, so Jefim Berschin, sei nicht zuletzt die russische Regierung, die Tschetschenien im Niemandsland zwischen Zugehörigkeit zur russischen Föderation und Selbstständigkeit allein gelassen habe. So sei das Land wirtschaftlichem, rechtlichem und moralischem Chaos versunken.

Gleich 1996 hätte man die Frage der Selbstständigkeit entscheiden müssen, meint Jefim, fügt allerdings gleich hinzu, er bezweifle auch, ob das wirklich etwas geändert hätte. Zuviele objektive Probleme gebe es, über die verfehlte Politik des Zentrums hinaus, die auf diesem Stückchen Land in den letzten Jahren zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengekommen wären:

Von den 1,5 Millionen Tschetschenen, die vor dem ersten Krieg in der kleinen Republik lebten, war die Hälfte nach dem Ende der Kämpfe tot oder abgewandert. Noch einmal die Hälfte verließ das Land bis zum Beginn des jetzigen Krieges. Zurück blieb eine Bevölkerung, die sich um eine Handvoll Warlords herum organisieren mußte, um zu überleben. Die finanzierten ihren Lebensunterhalt, sofern sie nicht von ausländischen Geldgebern ausgehalten wurden, aus Menschenhandel, illegalen Geschäften und einfachem Raub: Über 1000 Menschen wurden seit Ende 1966 entführt; für ihre Freilassung wurden Lösegelder in Millionenhöhe erpreßt. Einige der Entführten mußten auch mit dem Leben, viele mit ihrer Gesundheit bezahlen, gut 500 werden noch unter zum Teil bestialischen Umständen gefangengehalten. Die aus Azerbeidschan herüberführenden Öl-Pipelines wurden systematisch illegal angezapft, das Öl in ungezählten Minidestillen zu Benzin verarbeitet und schwarz verschoben. Das Land entwickelte sich zum schwarzen Loch des Rauschgifthandels und der Geldwäsche. Zunehmend gingen Banden von tschtschenischem Terrain aus dazu über, das Vieh der Nachbarn zu stehlen. Die heranwachsende Generation blieb unter diesen Umständen ohne Schul- und Berufsausbildung, ihr männlicher Teil wurde stattdessen sie in den Verbänden der Warlords zu Kämpfern herangebildet. Ergänzt durch Freiwillige aus anderen Krisengebieten  – Vorderer Orient, Balkan, Zentralasien – wuchs so in den letzten drei Jahren eine schlagkräftige Guerillatruppe heran. Angaben zur Zahl der so herangebildeten Kämpfer schwanken zwischen 20- 25.000 Mann. Sie werden durch Gelder aus den Raubkassen – also durch Menschenhandel, illegale Ölverarbeitung, Drogenhandel usw. – aber auch durch private Gönner aus dem Ausland finanziert. Der Einfall von Teilen dieser Truppen in die Nachbarrepublik Dagestan, die sich anders als Tschetschenien als fester Bestandteil der russischen Föderation versteht, kam einer Aufkündigung des Waffenstillstand zwischen russsicher Föderation und Tschetschenien gleich. Die Erklärung Bassajews, Chattabs und anderer Führer dieser Truppen, in Tschtschenien und Dagestan einen islamischen Staat im Kaukasus aufbauen zu wollen, verstand die Regierung in Moskau als Angriff auf das Territorium der russischen Föderation.

Diese Situation, so Jefim, habe die russische Regierung, nachdem sie die Entwicklung seit Jahren habe schleifen lassen, schließlich zum Handeln gezwungen. Jefims Begründung dafür kommt heftig:

O-Ton 10: Jefim Berschin, Fortsetzung                                                 1,00

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Rossije bolsche nje…

„Rußland hat kein Recht mehr, Niederlagen hinzunehmen! Es kann sich nicht erlauben, weitere Kriege zu verlieren. Wenn es noch einmal  verliert, wird es Rußland nicht mehr geben. Es wird in Stücke zerfallen, denn eine weitere Niederlage würde eine gewaltige negative Dynamik in der Bevölkerung haben. Das Volk hat in den letzten Jahren zu viel verloren: Es verlor den kalten Krieg, es verlor den einheitlichen Staat, es verlor seine Wirtschaft – es hat fast alles verloren. In diesem Zustand der Erniedrigung können Menschen nicht leben.“

..schitj nje mogut.“

Erzähler:

Viktor Makarow, Leiter der psychotherapeutischen Fakultät der russischen medizinischen Akademie, auch Präsident der Berufsliga der Psychotherapeuten und Vizepräsident der europäischen Assoziation der Psychotherapie, 1995/6 noch ein scharfer Gegner des ersten tschetschenischen Krieges, stimmt dieser Diagnose zu. Unter beruflichen Gesichtspunkten fügt er jedoch  hinzu:

O-Ton 11: Viktor Makarow                                                                    1,15

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„My nje dolschni

„Wir dürfen nicht vergessen, daß es in unserem Land – im Unterschied zu Europa – bis zum kommunistischen Regime und auch währenddessen noch Sklaverei gab. Eine große Anzahl von Menschen bauten diese großen Gebäude, die man hierzulande sieht. Sie waren ja letztlich Sklaven, Menschen ohne jegliche Rechte. Noch in meiner eigenen Generation hatten wir diese Tradition. Und was in Tschetschenien jetzt vorgeht – und nicht nur dort, nein, direkt in Moskau werden Menschen entführt! Es mehrere Fälle. Dann schafft man sie nach Tschetschenien und fordert Lösegeld. Glatter Menschenhandel! Das wuchert alles auch über die Grenzen der tschetschenischen Republik hinaus. Sie können ja in ihrem eigenen Innern nicht existieren, weil sie nichts produzieren, außer dem Benzin, das sie gestohlenem Öl gewinnen. Deshalb müssen sie sich von außen Ressourcen beschaffen.“

… potreblat ressours

Erzähler:

Die Motive für die Zustimmung zum Krieg charakterisiert Makaroff mit den Worten:

O-Ton 12: Viktor Makarow, Forts.

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ludi potjerali pokoi…

„Die Menschen haben ihr Vertrauen verloren. Sie fürchten für ihr Leben, für das Leben ihrer Angehörigen, für den Verlust ihres privaten Vermögens. Das letzte, was in unserem Land geblieben war, ist das Haus, das Haus eines Menschen, wohin er gehen, die Tür hinter sich schließen kann, wo er ganz zu hause ist und wo ihn niemand anfaßt. Jetzt kommt diese Angst auf, die auch die Ängste von früher, aus der sowjetischen Zeit wieder mobilisiert, daß Terroristen kommen können, das Haus in die Lust sprengen und wenn der Mensch schon nicht stirbt, dann verliert er mindestens sein Vermögen. Für die Mehrheit der Menschen ist es heute nicht möglich, das Vermögen wieder zu ersetzen. Also solche Spannungen und Ängste haben die Menschen heute.“

…strach u ludej.“

Erzähler:

Das unwiderlegbarste Zeugnis darüber, wie sich nicht nur Rußland, sondern auch Tschetschenien seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1996 gewandelt hat, legt Alexej Simonow ab. Als Chef der „Stiftung zum Schutze von Glasnost, also der Stiftung zur Verteidigung der Presse- und Medienfreiheit, war er 1995/6 einer der schärfsten Kritiker des Krieges in Tschetschenien. Der Fond veröffentlichte laufende Informationen über die Behinderung der Berichterstattung durch russische Behörden, er gab eine Dokumentation dazu heraus, die er auch im Ausland vorstellte, er  vermittelte konkrete Tips und Hilfe für die journalistische Arbeit vor Ort, er  vermittelte konkrete Tips und Hilfe für die journalistische Arbeit vor Ort. Jetzt erklärt Alexej Simonow nach ausführlicher eigener Schilderung dessen, was auch er das „schwarze Loch“ Tschetschenien, nennt:

O-Ton 13: Alexej Simonow                                                                      0,55

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„I na konjez treti…

„Und schließlich das Dritte: 1994/1995 gab es noch ein anderes Tschetschenien. Anders in dem Sinne, daß man wirklich noch glauben konnte, daß Tschetschenien für seine Freiheit kämpft. Nachdem Tschetschenien begann, hauptsächlich von Geiseln und von Raub zu leben und das zum Dauerzustand wurde, wurde ich einer von denen, die dafür eintraten, daß Journalisten nicht nach Tschetschenien reisen. Das kann man sich nicht antun, das ist schon keine Information mehr, daß ist ja schon eine Kasteieung. Man muß sich keinen Kasteieungen mehr unterziehen, wo alles schon mehr oder weniger klar ist. Kurz gesagt, sie haben auch das Vertrauen der journalistischen Öffenntlichkeit verloren.“

obschestwa tosche.“

Erzähler:

Rußland verteidigt seine Existenz gegen die drohende wirtschaftliche, politische und moralische Zersetzung des Landes – das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem Ministerpräsident Putin die Zustimmung der großen Mehrheit der politischen Klasse und der übrigen Bevölkerung für sich verbuchen kann.

Widerspruchslos ist die Zustimmung trotz allem nicht. Die Kritiken fallen allerdings sehr unterschiedlich aus. Manche werden nur im privaten Kreise geäußert. Eine dieser Kritiken kommt von Nina Wuss. Frau Wuss, früher Kulturorganisatorin im Haus der Schriftsteller, Ende der achtziger Jahre begeisterte Parteigängerin Michail Gorbatschoffs, dann Boris Jelzins, ist heute Rentnerin. Frau Wuss möchte den Politikern, besonders dem Vorsitzenden der als demokratisch geltenden Bewegung „Jabloko“, Grigorij Jawlinski, aber auch dem von ihr verehrten Moskauer Bürgermeister Juri Luschkoff nur allzugern glauben, daß in Tschetschenien nur das stattfinde, was sie, wie die Regierung, eine „antiterroristische Säuberung“ nennen. Aber Frau Wuss ist verwirrt:

O-Ton 14: Nina Wuss                                                                              1,32

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Ja dumaju schto…

„Ich glaube nicht, daß sie für den Krieg sind. Wie fing denn alles an!? Das Ziel war doch, die Terroristen zu vernichten! Von denen haben sich dort auf dem Territorium von Tschetschenien allzu viele versammelt. Und doch kann ich unsere Regierung nicht mehr so richtig verstehen: Einerseits sprechen sie von Tschetschenien als eigenem Staat, andererseits soll es ein Teil von Rußland sein. Wenn das Terroristen sind, die von außerhalb kommen, dann muß man sie vernichten. In dem Punkt bin ich einverstanden. Aber so global, mit diesen Mitteln!? Luftwaffe, Panzer, mit dieser modernen Technik!? Punktgenau soll die sein, aber es werden doch trotzdem Häuser getroffen, es sterben doch Menschen! Und wo sind die Terroristen? Will man die so treffen? Zum erstenmal kann ich einfach nichts mehr verstehen. Unsere Politiker sagen, daß es kein Krieg ist, aber wie soll man das denn nennen? Für mich ist das Krieg! Terroristen erledigt man doch mit Spezialeinsätzen! Überall und immer. Aber dies hier ist Krieg.“

…a sdjes waina.“

Erzähler:

Einen anderen, vor allem einen öffentlich hörbaren Ton schlagen die sogenannten „Menschenrechts-Gruppen“ an. Das ist die Gruppe „Memorial“, die unmittelbar Hilfe für die Flüchtlinge leistet; das sind die unter dem Dach der „Helsinki-Gruppen“ vereinigten Initiativen, die auch mit Presse-Konferenzen an die Öffentlichkeit treten. Ihre Präsidentin, Frau Ludmilla Aleksejewa, freiberuflich bei „radio liberty“ tätig, bewundert zwar Ministerpräsident Putins Energie, sie wäre sogar einverstanden, wenn es ihm gelänge, dem in Rußland aufkommenden Terrorismus das Handwerk zu legen, die Ergebnisse seiner Politik aber sind für sie keine antiteroristische Aktion, sondern Staatsterrorismus, Krieg und schlimmer noch:

O-Ton 15: Ludmilla Aleksejewa                                                              1,20 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

Eta nje prosta…

„Das ist nicht nur Krieg, das ist eine humanitäre Katastrophe von demselben Ausmaß wie im Kosowo: dieselben unglücklichen Flüchtlinge, dieselben Zerstörungen. Nur da sagte man, es gehe um die Menschenrechte, hier geht es gegen den Terrorismus. Die Ziele sind immer sehr hohe. Ich habe aber den Eindruck, daß die Macht den Schock, den die schrecklichen Bombenanschläge hinterließen, für ihre Zwecke nutzte. Es ist wohl so, daß  Tschetschenien so ein Verbrechernest geworden ist, das ausgeräuchert werden muß; möglich, daß alles als antiterroristische Aktion begann, aber das Entscheidende, was ich rundherum sehe, ist die Wiederauferstehung des imperialen Syndroms.“

…imperskowo syndroma.“

Erzähler:

Wenn man schon den Terror bekämpfen wolle, dann müsse das nicht nur in Tschetschenien geschehen, setzt Frau Aleksejewa fort:

O-Ton 16: Ludmilla Aleksejewa, Fortsetzung                                       0,45

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Wy snaetje u nas…

„Wissen Sie, hier vor Moskau gibt es die Stadt Solnzow. Dort gibt es die berüchtigte Solnzower Gruppe. Die Stadt ist bekannt als Verbrechernest. Jeder Moskauer weiß um dies Gruppe, um die Morde und was immer. Wenn man nach diesen Prinzipien vorgehen wollte, die Putin für Tschtschenien angibt, dann müßte man Solnzowo mit Tanks umstellen, müßte es bombardieren. Das ist ja eine kriminelle Stadt!! Und von diesen Orten gibt es bei uns reichlich. Warum ausgerechnet Tschetschenien?“                                                                                                                                                                     …potschemu Tschtschnja?“

Erzähler:

Eine ganze Handvoll Namen banditischer Gruppen zählt Frau Aleksejewa auf, darunter große finanzwirtschaftliche Kooperationen wie die „Uralmasch“, einen der zu Sowjetzeiten führenden Maschinenbau-Komplexe, heute ein verrufenes mafiotisches Konglomerat, und andere Konzerne der sog. Oligarchen und der offenen Mafia. Die Erklärung der Regierung, daß an Tschetschenien ein Exempel statuiert werden müsse, um damit die Ordnung für ganz Rußland wiederherzustellen, veranlaßt Frau Aleksejewa zu der Feststellung:

O-Ton 17: Ludmilla Aleksejewa, Fortsetzung                                        0,20

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Ja nje mago skasatj…

„Ich kann nicht sagen, daß alles nur Lüge ist, was da vorgebracht wird. Aber ich wiederhole noch einmal und immer wieder, daß selbst Leute, die so sprechen, bewußt oder unbewußt deutlich machen¸ daß für sie das Gefühl der Revanche sehr wichtig ist.“

…wschuwstwa rewanchsch.“

Erzähler:

Prinzipielle Kritik kommt vom Rand der Gesellschaft, aus intellektuellen Kreisen, die zur Zeit nicht an der Macht beteiligt sind. Einer dieser freischwebenden Intellektuellen ist Wadim Damjee, Soziologe an der Akademie der Wissenschaften. Sein Arbeitsgebiet ist die Totalitarismusforschung, sein politischer Standort ist der organisierte Anarchismus. In Rußland meint das heute einen eher am Westen orientieren linken Radikaldemokratismus:

Wadim Damjee sieht Rußland am Rande einer Diktatur, deren Natur er, in deutscher Sprache, als „Faust in einem ganz weichen Handschuh“ beschreibt:

O-Ton 18: Wadim Damjee 1,22

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„De fakto, strana…

„Formal bleiben alle demokratischen Rechte erhalten, aber praktisch werden diese Rechte immer weiter eingeschränkt und das Land verwandelt sich in einen Polizeistaat. In den äußersten Regionen läuft ein echter inperialistischer Krieg. Die Presse ist formal frei, aber alle politischen Strömungen, nahezu alle politischen Veröffentlichungen, vor allem das Fernsehen unterstützen den Krieg. Im Kaukasus herrscht faktisch eine Militärdiktatur. Die Armee tut, was sie will. Sie ist die Macht. Die zivile Macht in Inguschetien, erst recht in Tschetschenien existiert für sie nicht. Sie konfisziert, was sie will. In Moskau selbst herrscht ein echtes Polizeiregime. Zugereiste müssen sich registrieren lassen, nur Bestechungsgelder retten sie vor der Ausweisung. Faktisch ist das Polizeiregime  auf wüster Korruption aufgebaut. Diese Verbindung zwischen beidem, das ist tödlich, das muß man sagen.“                                                                                                              … ubistwa, nada skasatj.“

Erzähler:

Noch schlimmer, so Damjee, seien womöglich die moralischen Folgen der Tatsache, daß bis heute nicht klar sei, wer die Bomben in den Moskauer Wohnhäusern gelegt habe, und daß vor allem darüberhinaus nicht ausgeschlossen werden könne, daß es die Regierung selbst gewesen sein könne:

O-Ton 19: Damjee, Forts.                                                                       1,31

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Snatschit, offizialni…

„Also, die offizielle Version von der tschetschenischen Spur ist bis heute nicht belegt. Angeblich war der Anschlag eine Antwort auf die Ereignisse in Dagestan, also die Bombardierung von Dörfern durch russisches Militär. Nach Daten derselben Innenbehörde, die das behauptet, verlangt die ganze Organisation – Planung, Absprachen, Materialbeschaffung, Lagerung usw. – jedoch wenigstens ein paar Monate.  Das heißt, die ganze Geschichte wurde mit Sicherheit lange vor Dagestan eingeleitet. Zweitens: Die genannten Verdächtigen wurden trotz allen Aufwandes nicht gefunden, mehr noch, ihre Identität ist unklar; außerdem ist unter ihnen nicht ein Tschetschene. Schließlich kommt noch der Rasaner Vorfall hinzu: Dort legten Mitarbeiter des Inlandgeheimdienstes eine Bombe, angeblich, um zu sehen, wie die Bewohner reagieren würden. Die Bewohner entdecken die Bombe rechtzeitig und informierten die Polizei, welche den Sprengsatz entschärfte. Es erhebt sich die Frage: Und wenn sie die Bombe nicht rechtzeitig entdeckt hätten – wäre es dann zur Explosion gekommen oder nicht?“

ili njet.“

Erzähler:

Beweisen läßt sich nichts. Die Indizienkette jedoch, die Kritiker wie Vadim Damjee zu der Frage vorlegen, wem dies alles nütze, sind erdrückend. Nutznießer ist allein Präsident Boris Jelzin und seine Umgebung, denen der Krieg die Möglichkeit verschaffte, die Diskussion um das korrupte Regime für eine Weile in den Hintergrund zu drängen und ihre Macht vorübergehend zu festigen. Lange kann das nicht dauern, darüber sind sich alle einig. Spätestens wenn die Zahl der Opfer ansteigt und nicht mehr zu verheimlichen sein wird, kann die Stimmung im Lande umschlagen. Was dann geschieht, ist offen. Wadim Damjee fürchtet das Schlimmste. Einen russischen Pinochet hält er für möglich. Diese Befürchtung teilt er mit vielen anderen Intellektuellen der reformlinken,  radikaldemokratischen und anarchistischen politischen Szene.

O-Ton 20: Megaphon                                                                              1,20

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:

Unerwartete Kritik, die tiefe Risse im Lager derer zeigt, die sich heute als patriotischen Front gebärden, war auch auf der Kundgebung der KPRF am 7. November zu hören. Ausgerechnet ein Agitator der „Kommunistischen Arbeiterpartei Rußlands“, einer stalinistischen Splittergruppe, erweist sich als Gegner des Krieges in Tschetschenien. Auf die Frage, was er von der Politik Putins in dieser Frage halte, antwortet er:

Regie: O-Ton bei Antwort des Mannes: „Ana obnaschajet…“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:

„Nu ka wiona…

„Er bringt den Idiotismus des herrschenden Regimes zu Tage und die Menschen verstehen besser: Demokraten wählen, das heißt: Raub, internationaler Banditismus, Terrorismus, Attentate und so weiter. Je länger die Demokraten an der Macht bleiben, um so schlimmer. In den zehn Jahren, die sie an der Macht sind, ist der Terrorismus unglaublich angewachsen. Deshalb zeigt dieser Krieg, was für ein Regime wir heute haben.  Die Soldaten, die dort gegen das Volk eingesetzt werden, sollten die Gewehre umdrehen gegen das Regime. Sie bringen Menschen um, die ihnen nichts getan haben. Die Tschetschenen haben ihren Austritt aus der Föderation erklärt, als ihnen Jelzin sagte, sie sollten sich so viel Souveränität nehmen, wie sie brauchten. Aber dann hat man Grosny und alles andere bombardiert. Das ist reiner Bürgerkrieg. Den muß man stoppen. Er begann 1989 und setzt sich bis heute fort.“  …sewodnischowo dnja.“ Megaphon

Erzähler:

Ausgerechnet bei Alexander Prachanoff wird ein anderer Riß deutlich, der sich durch die Front der Kriegsbefürworter zieht. Prachow ist bekennender Imperialist und ebenfalls Befürworter des antiterroristischen Feldzuges gegen den Terrorismus. Darüberhinaus ist er die Leitfigur des sich selbst so nennenden patriotischen Lagers, um dessen Stimmen gegenwärtig nicht nur die KPRF, mit der zusammen Alexander Prachanow auf einer Liste zur Wahl kandidiert, sondern auch die anderen großen Parteien in einem mehr als halbjährigen Wahlkampf buhlen, der zwischen der Dumawahl vom 19.12.1999 und der Wahl eines neues Präsidenten am 4.6. 2000 geführt wird. Nach seiner Haltung gegenüber der antiislamischen Front befragt, welche die russische Regierung allen anderslautenden Versicherungen Wladimir Putins zum Trotz im tschetschenischen Krieg aufbaut, antwortet Prochanoff:

O-Ton 21: Alexander Prachanoff                                                   1,15

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja otsenewaus setim…

„Ich stehe dem extrem ablehnend gegenüber. Das ist so ein Aspekt des tschetschenischen Krieges: Man will Orthodoxe russische Christen und Moslems, Russen und Türken gegeneinanderhetzen und Rußland als Ressource in eine antiislamische Front mit Amerika einschließen.  Das ist eines dieser globalen Projekte Amerikas, Rußland seinen Interessen zu unterwerfen, Rußland zu einem Feind des Islam zu machen und die Grenze eines Dauerkrieges mitten durch Rußland zu ziehen. Unsere islamische Welt reicht ja bis zur Wolga. Deshalb sind wir Patrioten für ein Bündnis mit dem Islam. Wenn wir in Rußland Hausherr wären, würden wir alles tun, um den Islam unter Einschluß der antiamerikanischen Kämpfe gegen Amerika zu führen – mit dem Islam an unserer Seite.“

…saboi Islam.“

Erzähler:

Prochanoffs scharfe Ablehnung einer antiislamischen Front, ebenso wie die Kritik der „Kommunistischen Arbeiterpartei Rußlands“ entspringt der ethnischen und politischen Wirklichkeit Rußlands, das auch nach dem Ausscheiden der heutigen GUS-Staaaten immer noch mehr als hundert Völker und unterschiedliche Kulturen in seinen Grenzen vereint. Solange solche Widersprüche selbst das patriotische Lager durchziehen, besteht Hoffnung, daß die von der russischen Regierung zur Zeit betriebene Politik der „Säuberungen“ ihre Grenze nicht nur an der Zahl möglicher russischer Kriegsopfer, sondern auch an multi-ethnischen Wirklichkeit finden. Das gibt den Mut zu hoffen, daß selbst dieser Krieg die sich abzeichnende kooperative, letztlich demokratische Neuordnung des ehemaligen sowjetischen Raumes nicht  aufhalten kann.

Vor den Duma-Wahlen in Rußland: Welche Kandidaten sind die besseren Patrioten? – Generalprobe für die Jelzin-Nachfolge

O-Ton 1: Demonstration, Lied                    1, 44
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach ca. 10 sec. bei „Woina naraodnaja“ frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, nach Erzähler bei Beginn der Sprache hochziehen, bei 1,25 (Stichwort „pabjedim“) frei stehen lassen, danach allmählich aus¬blenden.
Achtung: Extra Bobby

Erzähler:
Moskau, Vorwahlkampf. Ein neues Parlament, die Staaatsduma, soll am 19. Dezember 1999 gewählt werden, zugleich auch Bürgermeister und Stadträte. Wahlen für einen  neuen Präsi¬denten sind für den Sommer 2000 angesetzt. 29 Parteien werben um Stimmen für ihre Politik. Der jährliche Feiertag zum Gedenken der Revolution von 1917 wurde unter diesen Umständen mehr als ein Traditonstreffen. Er wurde zur Wahlkampfveranstaltung der Kommunistischen Partei Rußlands. Rund 50.000 Menschen brachte sie auf die Beine. Das waren mehr als im letzten Jahr. Unter der Parole „Für das Vaterland! Für den Sieg! Erhebe Dich, du großes Land!“ ruft die Partei zum politischen Wachwechsel auf. Aus dem Zug im Zentrum Moskaus schallt die Parole vielfach zurück. Eine Gruppe besingt den Sieg im Volkskrieg:
<Regie: Zwischendurch hochziehen>

<Erzähler>
„Es ist ein antifaschistisches Kampflied aus der Zeit des Partisanenwiderstandes gegen die Na¬zis“, erklärt der Mann. Es geht darin um den Sieg über den Faschismus. „Auch diesesmal wer¬den wir die die bourgeoise Agression zurückweisen. Wir werden siegen!“ versichert er.
… pabedim…“

O-Ton 2: Demonstration, Platz, Rede Sjuganow                    1,39
Regie: Verblenden mit O-Ton 1 (Beifall, Ankündigung), sodaß er nach dem Erzähler bei 0,30 (Beginn der Rede) frei steht: Kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwi¬schendurch (bei Beifallsbekundungen)  leicht aufblenden.

Erzähler:
Auf dem Podium präsentiert sich das gesamte, von den Gegnern der Kommunistischen Partei so genannte, „rot-braune Spektrum“. Nur kleinere neostalinistische Gruppen marschieren heute und kandidieren auch in eigenen Blöcken. Die Hauptrede hält, wie immer, Gennadij Sjuganoff, der erste Sekretär der KPRF, der kommunistischen Partei der russischen Föderation:

Regie: Mit Beifall ganz aufblenden, Beginn der Rede kurz stehen lassen, abblenden un¬terlegen.

Erzähler:
„Uwaschai-imi Tawarischtschi…
„Sieg ist die Losung unseres heutigen Feststages,“ erklärt er. „Die Oktoberrevolution – das ist der Sieg der Gerechtigkeit, der Sieg des starken sowjetischen Staates, des Volkes, des gesun¬den Menschenverstandes, das ist der Aufbau eines gewaltigen Industriepotentials, das uns den Sieg über den Faschismus ermöglicht hat, das ist der Aufbruch in den Kosmos, das ist die Ver¬einigung der Völker gegen den kolonialen Imperialismus.“
„Heute sind nicht einmal mehr unsere Häuser sicher“, schließt Sjuganoff, „nachdem Gor¬batschow und Jelzin die Sowjetische Macht verraten haben. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, diesen Kurs zu korrigieren, friedlich und mit demokratischen Mitteln. Wenn das Programm, das die Partei dafür ausgearbeitet hat, verwirklicht wird, dann können wir schon Anfang des nächsten Jahres jedem russischen Menschen ein Minimalgehalt von 5000 Rubel, den Staatsbe¬amten wenigstens 3000 garantieren. Unsere Sache ist gerecht! Für den Sieg! Für das Volk! Für das Vaterland! Der Sieg wird unser sein!“
„…Urra!

Erzähler:
Daß damit keineswegs nur der Wahlsieg gemeint ist, macht Alexander Prachanoff klar, Reprä¬sentant der, wie sie sich selbst nennen, „patriotischen Kräfte“ des Landes. Er beschreibt, wie die gemeinsame Wahlliste mit den Kommunisten Sjuganoffs zustandekam:

O-Ton 3: Alexander Prochanow                        1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tetschenije ljeta my…
„Im Laufe des Jahres haben wir ein Programm des Sieges entwickelt. Das war eine ziemliche Plackerei, aber jetzt steht es. Es ist eine Philosophie, ja, eine Religion, die den Sieg als Qualität der russischen Geschichte versteht, wie Rußland in jedem Jahrhundert mit ungeheuren Opfern seine Souveränität wiederherstellt und einen strategischen Sieg erringt, vornehmlich über den Westen, aber nicht nur. Im 20. Jahrhundert siegten wir über den Faschismus – es wurde das Jahrhundert des russischen Sieges, des russischen Kommunismus, der sich über die ganze Welt ausbreitete. Wir siegten auch im 19. Jahrhundert – Napolen, Wien, russischer Imperator, russi¬sche Truppen in Paris – Tolstoi, Dostojewski, russische Musik. In das 21. Jahrhundert gehen wir erniedrigt und müssen nun alle Kräfte mobilisieren, um diese historische Ungerechtigkeit zu korrigieren. Diese Sicht ist jetzt Doktrin der KPRF; sie wird zur nationalen Idee werden – eine Synthese aus allen politischen Kräften des Landes. So umgewandelt, wird die kommunisti¬sche Partei zur Partei des Sieges.“
… parti sa pobjeda.“
Erzähler:
Noch deutlicher wird Alexander Dugin. – Von einer Außenseiterposition, die er bei Beginn der Perstroika einnahm, ist Alexander Dugin heute zum Berater im Stab des Dumavorsitzenden Gennadij Selesnjow aufgerückt, der auch jetzt wieder an vorderster Stelle für die Kommunisti¬sche Partei kandidiert. Nicht er habe sich verändert, kommentiert Dugin diese Entwicklung, sondern die Gesellschaft. In der Tat: Die Stimmung im Lande ist heute anders als zu Zeiten der Perestroika: Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich vor allem endlich einmal einen Sieg. Der Wunsch nach Revanche für die Niederlagen und Misserfolge der letzten Jahre ist unüber¬hörbar: für Afghanistan, für den verlorenen Kalten Krieg, für die Verwandlung der, wie sie sich nannte, sozialistischen in eine zu großen Teilen kriminelle Gesellschaft, für das Desaster des er¬sten Krieges in Tschetschenien, für die NATO-Osterweiterung ohne Rücksicht auf russische Vorbehalte, für den als Demütigung empfundene Vorgegen der NATO im Kosovokrieg – und für die als Anmaßung kritisierte Haltung des Westens, der Rußland verwehren wolle, in Tschetschenien das zu tun, was er selbst soeben in Serbien demonstriert habe. Vor diesem Hintergrund wird der Wahlkampf zum „Wettkampf der Patrioten“. Der Patriot des Tages heißt für viele Wladimir Putin, der auf seine Weise in den Wahlkampf eingreift. Der Krieg, den er führen läßt, stellt die patriotischen Beteuerungen aller anderen Politiker in den Schat¬ten.Tagtäglich wird auf allen Kanälen direkt von der Front berichtet.
Widerwillig zollen selbst die schärfsten Kritiker dem Neuen ihr Lob wie etwa Ludmilla Alek¬sejewa. Sie ist die Präsidentin der russischen Helsinki-Gruppen, die sich um die Rechte der tschetschenischen Flüchtlinge kümmern:

O-Ton 4: Ludmilla Aleksejewa                        0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Putin otschen umni…
„Putin ist ein sehr kluger Mann, ein vorzüglicher Organisator, ein gebildeter Mensch, ein Mensch der neuen Generation. Aber er ist natürlich Akteur des Staates; er hat sich eine be¬grenzte Aufgabe gestellt: das Rating der Macht zu heben. Wenn man wissen will, worin er sich von den Bürokraten unterscheidet, die wir kennen, dann muß man nur darauf schauen, wie sei¬nerzeit der erste tschtschenische Krieg organisiert war und wie es jetzt ist. Ich bin natürlich ge¬gen diesen Krieg, aber wenn Putin unser ziviles Leben mit dem selben Talent organisiert wie jetzt den Krieg, dann wäre er mein Mann. – Aber vielleicht täusche ich mich ja auch und er ist auch bloß so ein Revanchist.“
…ponimaetje.“

Erzähler:
Putins Licht, gegbenenfalls auch sein Schatten fällt auf eine weitere Figur, die der Kreml kurz vor der Wahl auf die politische Bühne geschickt hat. Sergej Schoigu, bisher unauffälliger Mini¬ster für das Katastrophenwesen ist, offenbar auf Weisung des Kreml, mit einem Wahlblock „Überregionale Bewegung für die Einheit“ angetreten. Sie wird von einigen Gouverneuren unterstützt, die auf Jelzins Wohlwollen angewiesen sind. Im übrigen hat sie ihre Basis in der Präsidialbürokratie.
Wie Wladimir Putin ist Schoigu ein Mann der jüngeren Generation, wie dieser kommt er aus militärischen Kreisen. Seit 1991 führt er das Ministerium für Katastrophenschutz. Sein Pro¬gramm, Anfang November in der „Iswestija“ eilig auf einer halben Seite veröffentlicht, ist so einfach wie durchsichtig: Wenn Wladimir Putin der Macher ist, so wird mit Schoigu der „gute Mensch“ angeboten, dem man vertrauen kann – der professionelle Retter, der den Katastro¬phenschutz zum politischen Programm erhebt.
Viktor Belzoff, der Assistent des Ministers ist darüber gar nicht besonders erfreut. Journali¬sten, die neuerdings das Ministerium für Katastrophenschutz im Zentrum Moskaus aufsuchen, wehrt er ab. Mit Politik will er nichts zu tun haben. Schließlich läßt er sich aber doch ein paar Worte zu der neuen Arbeit seines Ministers entlocken:

O-Ton 5: Viktor Belzoff, Assistent des Ministers Schoigu                0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer
Lachen, „Nu…
„Nun, für das Volk ist das natürlich irgendwie ein Schutz, das kann man schon so sagen. Die Leute sehen in dem Ministerium so eine Art Symbol der Hoffnung. In den neun Jahren seines Bestehens ist es zu einer echten Autorität geworden. Gegenüber dem Minister gibt es keine Vorwürfe. Er hat sich bisher aus der Politik herausgehalten. Für ihn ist das wichtigste die Ar¬beit. Für ihn gibt es keine Parteien, keine religiösen, keine ethnischen Unterschiede. Vor der Hilfe sind alle gleich. Für uns ist der Mensch zuallererst Mensch.“.“
…tschelowjek

Erzähler:
Siegen, helfen und retten wollen natürlich nicht nur die Kommunistische Partei, nicht nur das Gespann Putin und Schoigu, sondern auch der stärkste Konkurrent der Kommunisten – das Wahlbündnis „Vaterland – das ganze Rußland“. Das ist das Bündnis, welches der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkoff mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakoff und einigen Gouverneuren geschlossen hat. Primakoff steht nach Putin und Sjuganoff zur Zeit ganz oben in der wöchentlichen Beliebtheitsskala . „Vaterland – das ganze Rußland“, versichern die Kandidaten im ersten Satz ihres Manifestes, „das ist die Union der patriotischen und demokra¬tischen Kräfte dieses Landes.“ Erklärtes Ziel des Bündnisses ist es, die Entwicklung der „Boomtowm Moskau“ ungeachtet der zentralen Sonderstellung der Stadt als Modell auf ganz Rußland zu überragen. Wirtschaftliche Versprechungen stehen bei der öffentlichen Vorstellung des „Manifestes“ folgerichtig an erster Stelle:

O-Ton 6: Pressekonferenz „Vaterland – das ganze Rußland“            0,40
Rgie: O-Ton kurz steteh lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Beifall. „Uwaschajemi…
Drei Initiativen, stellt ein Vertreter des Bündnisses vom Podium her vor:
Erstens eine Senkung der Steuern.
Zweitens einen allgemeinen Mietstop.
Drittens eine Senkung der Benzin- und Heizölpreise.
Alle Intitiaven sollen sofort nach der Wahl ins Werk gesetz werden.
…spassiba“

Erzähler:
Aber selbst diese vollkommen auf pragmatische Fragen ausgerichtete Pressekonferenz kommt nicht ohne Verbeugung vor der vaterländischen Stimmung im Lande aus. Zu den Ereignissen in Tschetschenien befragt, antwortert Spitzenkandidat Jefgeni Primakoff:

O-Ton 7: Jewgeni Primakoff                        0,40
Regie: O-Ton kurz kommen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen
Übersetzer:
„Ja chatil by skasatj…
„Ich möchte sagen, daß die Position unserer Bewegung in der tschetschenischen Frage von Anfang an ausgewogen, zugleich aber radikal gegen die Terroristen gerichtet war. Wir sind für aktive Maßnahmen, unter anderem für die Einrichtung einer Sicherheitszone, und zwar an allen Punkten, die durch Terroristen gefährdet sind. Wir unterstützen die Regierung, die in diesem Sinn handelt. Gleichzeitig fordern wir sie aber auf, die Opfer gering zu halten.“
…situaziju w Tschetschnju.“
Erzähler:
Verhandlungen, so Primakow mit Blick auf anwesende westliche Pressevertreter,  könne es erst geben, wenn Partner dafür vorhanden seien. Im Moment gebe es aber niemanden. So sei nun einmal die Situation in Tschetschenien. – Die Kommunistische Partei, das Tandem Putin/Schoigu sowie „Vaterland“ fallen imWahlkampf am meisten auf. Von weiteren Gruppen hört die Bevölkerung allenfalls im Fernsehen, das sich seinerseits weniger auf Inhalte als auf „Unregelmäßigkeiten“ bei der Zulassung, das heißt, bei der Vergabe von Wahlkampfgeldern, auf Enthüllungen über Kandidaten und ähnliches kon¬zentriert. In aller Kürze werden Zensuren verteilt:

O-Ton 8: Fernrsehreportage                        2,00
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch gelegentlich aufblen¬den, am Schluß hochziehen

Erzähler:
Musik, Kommentator
Die Liberalen um den ehemaligen „Schock“-Reformer Jegor Gaidar, so der Kommentator, sind zwar registriert. Aber obwohl sie sich als Partei der Jugend zu stilisieren versuchten, hätten sie wohl kaum Chancen, die 5%-Hürde zu nehmen. Spott muß sich die Partei „Jabloko“ um Gri¬gorij Jawlinski gefallen lassen. Ausgerechnet die Partei der Intellektuellen, witzelt der Kom¬mentator, habe einen Werbespot mit traditionellen russischen Liedern und einem LKW-Fahrer gemacht, der seinen Wunsch nach richtiger Arbeit erkläre. Mehr als 7 – 10% dürfe `Jabloko´ aber wohl nicht erwarten. Wladimir Schirinoffski  provoziert mit einem Block von Bettlern, nachdem seine Partei wegen mangelnder Offenlegung von Vermögensverhältnissen ihrer Kan¬didaten nicht zugelassen wurde. Zugelassen wurde dagegen die offen faschistisch auftretende Gruppe „Spas“ des Alexandr Barkaschoff, die er anstelle seiner verbotenen „Partei der russi¬schen Nationalen Einheit“ (RNE) zur Wahl angemeldet hatte. Nach Protesten wurde die Zulas¬sung durch Gerichtsbeschluß aufgehoben. „Spas“ kann nicht teilnehmen. Ex-General Lebed zieht sich aus der Dumawahl zurück. Er spart sich für Besseres auf, stichelt der Kommentator. Gemeint ist das Amt des Präsidenten. „Unser Haus Rußland“, 1996  d i e  Partei der Macht, wird nur eben noch erwähnt. Breiten Raum widmet der Bericht dagegen der Schmutzkampa¬gne, mit der sich die Kandidaten überziehen, wenn sie sich gegenseitig der Korruption bezich¬tigen, wenn die einen Baris Jelzins, die anderen Jefgeni Primakoffs Alter zum Anlaß nehmen, um deren Politik als unzumutbar zu diffamieren. Kritisch merkt der Kommentator schließlich an, daß Minister Schoigu mit seinem Amt, unter anderem mit seinem Einsatz für die Flücht¬linge in Tschetschenien, Politik und Wahlkampf zu machen versuche.
…tak pakasalis.“
Erzähler:
Die Bevölkerung ist irritiert. – Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen nicht die Pro¬gramme. Wenn überhaupt über die Wahlen gesprochen wird, dann darüber, ob es ehrliche Wahlen geben wird. Dazu sagt der Direktor eines kleinen Meinungsforschungsinstituts, Kyrill Kurlanski, der als Experte zu einer öffentlichen Anhörung über dieses Problem geladen worden ist:

O-Ton 9: Direkter einer Meinungsforschungsgruppe                0,40
Regie: O–Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W otlitsche…
„Im Unterschied zu westlichen Korrespondenten und einem Teil der fortgeschrittenen Bevölke¬rung Moskaus berührt die Frage der Wahlen die russische Bevölkerung sehr wenig. Das Leben stellt andere Probleme. Für viele steht das Problem des Überlebens an erster Stelle. Bisher nicht Hunger oder Kälte, einfach nur die Frage, wie es weitergeht. Ich bin sicher, daß neunzig Prozent unserer Bevölkerung sich in den neuen Regeln von heute nicht orientieren können. Gut, die Wahl ist vielleicht ein kleiner Schritt, viel wird sich nicht ändern – vielleicht wird´s ein bißchen besser.“
…wobsche kak tendenz.“

Erzähler:
Was hat die Wahl unter solchen Umständen für einen Sinn? Unterschiedliche Einschätzungen machen unter Moskaus Analytikern die Runde: Als „Umfrage“ bezeichnet Baris Kagarlitzki, westlich orientierter Reformlinker, die Wahl, nur wichtig in bezug auf das, was danach komme. Vor Fälschungen hat man Angst im ZIOM, dem zentralen Institut für Meinungsforschung. Die eigentlichen Entscheidungen würden durch den Kauf von Abgeordneten nach der Wahl herge¬stellt, meint Dima Pinsker, politischer Kolummnist der Zeitschrift „Itogi“, dem russischen Part¬nerblatt der amerikanischen „Newsweek“. Wichtig seien allein soziale Fragen, meint Baris Sla¬win, Mitarbeiter an der Gorbatschow-Stiftung. Jossif Diskin, Chef der Korporation „Wostok“ und Soziologe sieht die entscheidenden Auseinandersetzung nicht in der Wahl, sondern im Kampf  der sogenannten „Wirtschafts-Oligarchen“ um einen ihnen genehmen Präsidenten. An¬dere fürchten sogar, daß es gar keine Wahl geben werde. Der Wahrheit am nächsten kommt vermutlich Pjotr Fedossow, der als politischer Berater des Vorsitzenden im Föderationsrat tä¬tig ist:

O-Ton 10: Pjotr Fedossow                        1,00
Regie: O-Ton im Original ganz stehen lassen

„Nun, das ist eine sehr wichtige Wahl, erstens, weil wir mit dieser Wahl zum ersten Mal die normale turnusmäßige Abwechslung des Parlaments und des Präsidenten haben wollen nach einer vollwertigen vierjährigen Legislatur. Die vorherige Wahl war nach einer zweijährigen Le¬gislatur. Das war im Grunde das Ende der Übergangszeit im Sinn der Verfassung  ´93. Diesmal soll die erste normale, verfassungsmäßige Ablösung sein. Deshalb kommt es erstens darauf an, daß beide Wahlen zur verfassungsmäßigen Zeit stattfinden. Man kann heute, meines Erachtens mit ziemlicher Sicherheit davon sprechen, daß das der Fall sein wird. Es kommt zweitens dar¬auf an, daß gleichzeitig eine doppelte und in sich widersprüchliche Aufgabe geleistet wird, daß a) die Kontinuität der Macht gewähleistet wird, aber b) eine radikale Erneuerung dieser Macht.“

Erzähler:
Dafür, so Fedossow weiter, müsse in die neue Duma eine, wie er betont, „stabile patriotische Mehrheit“ einziehen, die in der Lage sei, eine Änderung der Verfassung zu beschließen, welche der Regierung im Gegensatz zur jetztigen, die alle Macht beim Präsidenten konzentriere, mehr Kompetenzen einräume. In diesem Ziel, meint Fedossow, seien sich heute übrigens alle oppo¬sitionellen Gruppierungen heute einig:

O-Ton 11: Weiter Fjodossow                        0,37
Regie: O-Ton im Original ganz stehen lassen

„Der zweite nicht minder wichtige Punkt, wäre, neue Menschen an die Macht kommen zu las¬sen, die sich real auf nationale Interessen orientieren könnten, die nicht persönlich abhängig wären von der ein oder anderen Stiftung oder Institution, wie einflußreich und respektvoll die auch sein mögen.“

Erzähler:
Was aber geschieht, wenn keine „vernünftige politische Mehrheit“, wie Pjotr Fedossow es nennt, zustandekommt? Was geschieht, wenn der Krieg eskaliert? Darüber will zur Zeit nie¬mand nachdenken – die einen nicht, weil sie den Zerfall Rußlands, die anderen nicht, weil sie seine autoritäre Rezentralisierung fürchten. Alle aber erwarten vom Ausgang  der Duma-Wahl am 19. Dezember Signale, was auf die in Rußland inzwischen so genannte „Präsidialmonarchie“ Jelzins folgen wird. Das gibt der Wahl, allen Unkenrufen zum Trotz, dennoch eine große Bedeutung.

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Das neue Rußland – jenseits von Moskau (Text)

Zum Stichwort „neues Rußland“ läßt sich allerhand assoziieren. Viel Positives natürlich: Gorbatschow, Perestroika, Neues Denken, Entspannung, deutsche Vereinigung, neue Weltordnung. Nach Gorbatschow dann: Gescheiterter Putsch, Aufbruch der Reformer, Wiedergeburt der Person, des Glaubens, der Geschichte, Emanzipation der kleinen Völker gegen das überalterte sowjetisch-russische Imperium.
Aber da ist auch die andere Seite: Die permanente Krise, die Inflation, die Mafia, die nie endenden Putschdrohungen, die drohende Jugoslawisierung, die Gefahr eines Weltbürgerkrieges von noch nie gekannten Ausmaßen.
Welcher Seite soll man sich zuwenden?
Wir am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind es gewohnt, in Zerfallszeiten zu denken – erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg; für viele geht nun es mit dem Zerfall der Ordnungsmacht UdSSR, der sich in dem Rußlands fortsetzt, unaufhaltsam dem dritten großen Krieg entgegen. Die lange im Bann der russisch-sowjetischen Herrschaft gehaltenen Konflikte zwischen den Völkern des großen euro-asiatischen Raumes sieht man nun unkontrolliert hervorbrechen: In Kaukasien, in Moldawien, in Tadschikistan und anderen ehemaligen zentalasiatischen Republiken, im Baltikum. Auch an der mittleren Wolga, wo sich im Durchzugsgebiet der großen Wanderungen viele Völker im Lauf der Geschichte miteinander vermischt haben, bevor die Russen das Gebiet kolonisierten, kündigen sich große Veränderungen an. Jugoslawien erscheint vielen nur als schwacher Vorbote der kommenden Entwicklung. So lautet, nachdem die erste Freude über den Zerfall des Angstgegners Sowjetunion vergangen ist, die allgemeine westliche Linie denn auch: Stärkt Moskau. Nur ein starkes Moskau, so scheint es vielen, könne das das drohende Chaos abwenden. Nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen, so war es auf einem der letzten Seminare deutscher Wirtschaftsvertreter zur russischen Frage zu hören, lasse sich die Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft vollziehen. Der chilenische Weg läßt grüßen.
Schwierig ist es dagegen, die andere Seite zu sehen, die Keime des Neuen in der zusammenbrechenden alten Ordnung zu erkennen. Schwierig ist es, weil ein festgelegter Blick nur das als positiv erkennt, was bekannt ist. Gut, so meinen viele, sei es, wenn die ehemalige Sowjetunion nun nach dem Modell der westlichen Demokratien funktioniere. Offensichtlich aber funktioniert sie nicht so. Nicht nur die in siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft gewachsenen Strukturen widersetzen sich ihrer einfachen Umkehrung. Auch die Hinterlassenschaften des in tausend Jahren gewachsenen russischen Imperiums fordern ihre Rechte in der jetzigen Umwandlungsphase. Das Wichtigste: Der Vielvölkerstaat und der tief in den Völkern des russischem Imperiums verwurzelte Kollektivismus, zwei Elemente, die nirgend sonst in der Welt in dieser Form, in dieser Intensität und in dieser Kombination zu finden sind.
Das für den Raum Neue, die Privatisierung des Besitzes und die Dezentralisierung der Herrschaft, tritt im Kampf mit dieser Geschichte an, nachdem jetzt auch für dieses Imperium die Stunde gekommen ist, die für die westlichen Imperien klassischen Zuschnitts schon mit dem ersten und dem zweiten Weltrieg geschlagen hatte. Nicht eins seiner inneren Probleme ist mehr durch weitere Ausdehung lösbar. Der Staatskollektivismus drohte durch Gängelung jeglicher persönlicher Initiative zudem eine Erneuerung der Gesellschaft von unten endgültig zu ersticken.
Aber auch wenn das alte System in den Augen ausnahmslos aller Bewohner und Bewohnerin des Landes reformbedürftig war, auch wenn nicht einmal ein Mensch von denen, die lauthals über die jetzige Krise schimpfen, tatsächlich zurück will vor die Zeit Gorbatschows, so ist doch auch klar, daß sich das Neue nicht gegen, sondern nur auf Grundlage der gewachsenen Gegebenheiten dieses Landes entwickeln kann. Schritt für Schritt müssen alte kollektive und neue selbstbestimmte Strukturen, alter Zentralismus mit neuen föderalen Prinzipien ineinandergreifen, wenn nicht das Alte einfach zerstört werden soll, ohne funktionsfähiges Neues an dessen Stelle zu setzen. So wie die Japaner einen japanischen Weg der Entwicklung, so müssen die Russen einen russischen finden, auf dem die materiellen und die geistigen Bedürfnisse einer zweihundertfünfundzig Millionen umfassenden Bevölkerung mit den Lebenserwartungen von Weltbürgern des 20. Jahrhunderts  befriedigt werden können.
Dies ist zur Zeit die eine große Herausforderung, und zwar nicht nur für die russische Bevölkerung wie die anderen Völker des euro-asiatischen Raumes, sondern auch für ihre westlichen Berater: Die Strategie der Total-Privatisierung führt zur Zerstörung der alten Strukturen, bevor etwas Neues entstehen konnte. Wer sich ein einziges Mal in Fabriken, in Instituten, in Sowchosen und Dörfern auf dem Lande umsieht, der oder die kann die Folgen nicht übersehen: Geschlossene Betriebe, bankrottierende Sowchosen, eine zerfallende soziale und materielle Infrastruktur. Früher waren die Kollektive für Wegebau, für die Sozialversorgung, für die Kultur usw. verantwortlich. Jetzt liegt das in der Kompetenz der „neuen Macht“. Die aber hat kein Geld, er mangeln die Erfahrung und die alten Verbindungen. In der Folge all dessen besteht die Gefahr des vollkommenen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zusammenbruchs mit unabsehbaren Folgen. Es müssen andere Wege gefunden werden als die der bloßen Liquidierung des Alten, Wege, auf denen kollektive und privaten Formen des Wirtschaftens auf lange Sicht miteinander koexistieren, ja im Ineinandergreifen neue Formen des sozialen Lebens sich entwickeln können. Der gegenwärtige Konflikt zwischen Boris Jelzin und dem obersten Kongreß hat wesentlich die Auseinandersetzung um diese Frage zum Inhalt. Dort stehen sich wesentlich Jelzins Administratoren und die gewählten Direktoren der Kollektive gegenüber. Für die Fortsetzung der Reform sind beide Seiten – aber wie, ohne die sozialen Strukturen soweit zu zerreißen, daß die alte Motivationslosigkeit nur durch eine neue ausgetauscht wird? In der Suche nach einem Kompromiß zwischen Staatskollektivismus und Totalprivatisierung liegt die Kraft des Neuen.
Die andere Herausforderung liegt in der Befreiung der neuen Völkervielfalt, deren Grundlage die Besinnung auf den Wert des Einzelnen, der Minderheit, des kleinen Volkes gegenüber Jahrzehnten der sozialistischen Gleichmacherei und davor liegenden Jahrhunderten der Russifizierung ist. Auch in der Entwicklung gleichberechtigter Beziehungen verschiedener Völker liegt die Kraft des Neuen – wenn die alten zentralistischen Mächte, wenn das alte zentralistische Bewußtsein es zuläßt.

Kai Ehlers, 29.4.93

Ursprung der Völker und Land der Zukunft?

Programmtext, erzählt von Kai Ehlers

Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus. Die einen fühlen sich an endlose Weite, an unberührte Natur erinnert. Sie denken an schamanische Rituale, die heute wieder in Sibirien auferstehen. Das gilt besonders für den Süden Sibiriens, wo auch heute mongolische, tatarische und turkstämmige Völkerschaften in Republiken oder Regionen wohnen, die nach ihnen benannt sind wie etwa die Burjäten am Baikal, die Chakasen am Fuße des Altai, die Altaizi und die Tuwa an der Grenze zu Kasachstan. Viele der genannten Völker leben heute teils in Rußland, teil in der Mongolei, in Kasachstan oder auch in China.
Sibirien – dieses Wort löst aber auch Schauder aus. Bilder von Straflagern, von Verbannung, von Schrecksszenarien des GULAG, des Systems der stalinistischen Arbeits- und Umerziehungslager kommen hoch. Darauf legen sich die seit der Öffnung der früher verschlossenen Städte bekanntgewordenen und immer noch weiter bekannt werdenden Szenarien ökologischer Katastrophen, die aus der schnellen Industrialisierung und der rücksichtslosen Vernutzung der Natur durch eine ausufernde Militarisierung resultieren. Wer heute durch Sibirien fährt, trifft überall auf die Zeugen dieses industriellen Kriegszuges gegen die Natur, gegen den Wald, gegen die Steppe und gegen die Menschen.
Aber Sibirien – das sind auch die schier unerschöpflichen natürlichen Ressourcen, die ökologischen Potentiale eines noch nicht erschlossenen Raumes bis hin zu einer unerforschten Vorgeschichte. Vor allem aber sind es die Menschen, die hier leben, Kinder von Kolonisatoren aus dem Westen, aus Rußland die einen, Nachkommen einheimischer, zumeist nomadischer Völker aus dem zentralsibirischen Raum die anderen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Altai. Aus Hunnen, Mongolen, Tataren, Turkvölkern und anderen Nomaden auf der einen, aus kolonisierenden Siedlern auf der anderen Seite entstand eine Verbindung von aus nomadischer und seßhafter Gesellschaft, die ihre eigenen Verhaltensweisen, ihre eigenen Ideale von menschlichen Beziehungen hervorgebracht hat. Es ist der Pionier, der unterwegs ist im Kampf mit den widrigen Umständen einer rauhen Natur, gegebenfalls aber auch einer ihm feindlichen Gesellschaft, die ihn als politischen Verbannten, als Kriminellen oder auch als Andersgläubigen ausgestoßen hat. Eine sehr eigensinnige Ethik entwickelte sich hier, die einerseits der Freiheit, ja, Ungebundenheit des Einzelnen, zugleich aber auch der Einordnung in die natürlichen Gegebenheiten und ins soziale Kollektiv, der Hilfe auf Gegenseitigkeit einen hohen Wert beimißt. Wenn heute von politischer Renaissance in Sibirien die Rede ist, dann sind diese Traditionen gemeint.
Sibirien ist aber auch, angestoßen durch die forcierte Industrialisierung nach der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch nach der Verlagerung der russischen Industrie in den sibirischen Raum vor und während des zweiten Weltkrieges zu einem eigenen, hochentwickelten Wirtschaftsraum herangewachsen, der heute an der Schwelle seiner wirtschaftlichen Selbstständigkeit steht. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten noch einmal weitere Schübe in diese Richtung. Perestroika hatte ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß innerhalb des einheitlichen Monolithen der Sowjetunion neue Kräfte herangewachsen waren, deren Wachstum die Hülle der Union sprengen mußte. Nicht von ungefähr kamen die ersten wissenschaftlichen Forderungen zur notwendigen Intensivierung der Produktion durch eine demokratischen Öffnung Ende der Siebziger aus Nowosibirsk. Sie kamen aus der Neuen soziologischen Schule der Tatjana Saslawskaja an der Akadem Gorod, der Akademikerstadt von Nowosibirsk, die dort erstmalig mit empirischen soziologischen Untersuchungen den jahrzehntelang geschönten Ziffern von Plansoll- und Planhaben zu Leibe rückte.
Heute befindet sich Sibirien ebenso in der Krise wie alle Länder und Gebiete der ehemaligen Union. Aber mit seinen natürlichen Ressourcen, mit seiner das Zupacken gewohnten und qualifizierten Bevölkerung und mit seiner entwickelten Industrie verfügt es über Kräfte, die ihm helfen werden, den notwendigen Schritt der Abnabelung zu vollziehen. Es steht zwischen Asien und Europa wie ein Kind zwischen Vater und Mutter, bereit seine eigenen Wege zu gehen, wenn die Eltern es ihm gestatten – und auch wenn sie es ihm nicht gestatten; in dem Fall wird es sich allerdings mit Gewalt losreißen müssen.

Sibirien –
Ursprung der Völker und Land der Zukunft?
Erzählt von Kai Ehlers

O-Ton 1: Trommel, schamanischer Gesang                         1,35
Regie: Ton drei, vier Sekunden frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen, abblenden, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus:
Weite; Natur, Schamanen –

Regie: hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
aber auch Verbannung, Lager. Fabriken, die sich in Wälder, Steppen und Eiswüsten des größten Landmassivs fressen, das es auf unserem Planeten gibt.

Regie: hochziehen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Vor allem aber sind es die Menschen, die aus der langjährigen Kolonisation dieses scheinbar leeren Raumes hervorgegangen sind. Es sind zupackende, rauhe, oft eigensinnige Charaktere. Die letzten siebzig Jahre waren sie mit dem Gleichheitsfirniß des neuen sowjetischen Menschen überzogen. Neuerdings betonen sie wieder ihre Eigenheiten. Bei Nikolai Saikow, dem Chefredakteur der Nowisibirsker Tageszeitung „Abendliches Sibirien“ klingt das so:

O-Ton 2: Nikolai Saikow                        1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My, wot schiwiom Sibirje….
„Wir leben in Sibirien nicht erst siebzig, sondern vierhundert Jahre. Im sechzehnten Jahrhundert gründete der Kosak Jermak unsere Stadt. Die Tataren waren damals Nomaden, sehr arm, sehr wenige; der Raum war praktisch unbesiedelt, leere Taiga. Die Kosaken, die damals aus Rußland kamen, sind den amerikanischen Siedlern vergleichbar: Aktive Leute, Pioniere. Sie waren Russen, versteht sich, aber doch anders als die im europäischen Teil. Sie waren Leute aus den Grenzbereichen, Verbannte, Strafgefangene, Militärs und einfach kolonisierende Bauern; viele kamen auch als Jäger. Sie entwickelten eine Kultur der gegenseitigen Hilfe. Ihre Hütten standen jedem offen, der in der Kälte Unterkunft brauchte. (…339) Mit der sowjetischen Zeit ging das verloren. Wenn heute von Widergeburt Sibiriens die Rede ist, dann heißt das für mich, daß sich diese Eigenschaften bei uns wieder entwickeln wie damals zur Pionierzeit, wo man sich gegenseitig half.“
….jewo delit“

Erzähler:
Für Frau Olga Nowika, Historikerin in Krasnojarsk, Vertreterin einer Organisation, die sich um die Probleme der sogenannten kleinen Völker müht, ist russischer Pioniergeist noch nicht alles. Die Ureinwohner Sibiriens haben sich mit Tataren, Mongolen, Türken, später auch mit Russen, Ukrainern, Polen, Balten, Rußlanddeutschen und anderen Volksgruppen, im russischen Sprachgebrauch Nationalitäten genannt, so vermischt, erzählt sie, daß die Kinder oft gar nicht mehr mehr wissen, woher ihre Eltern stammen. Wichtiger als die ethnische Zugehörigkeit ist für sie die gemeinsame Geschichte:

O-Ton 3: Olga Nowika                        1,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja schitajus sebja…
„Ich halte mich für russisch, ja. Aber es fällt mir sehr schwer, meine Nationalität, zu bestimmen. Ich bin selbst so nultinational; in unseren Wurzeln ist so viel miteinander verflochten. Man hat mich immer gefragt, wer unsere Eltern sind. Aber darüber wurde nicht geredet. Sibirien ist ja das Land der brutalen Straflager. Unheimlich viel Leute wurden hierher gebracht, die ihre Nationalität, ihre Sprache vergessen mußten. Bei uns zuhause wurde russisch gesprochen, meine Mutter hatte aber einen französischen Namen und mein Vater stammt von tatarischen Kosaken ab. Als Verfolgte lebten die zeitweilig sogar in China. Andere Verwandte meiner Mutter kamen aus Moldawien und Rumänien. Ich kann also auch nicht sagen, daß meine Vorfahren Franzosen waren; ich weiß nur, ein Teil kommt aus dem Osten ein, Teil aus dem Westen. Wir sind schon die vierte Generation, ich und meine Brüder. Es gefällt gefällt uns hier; wir sind schon lange Sibiriaken. Deshalb interressiert uns schon lange nicht mehr, wer unsere Vorfahren waren, verstehen Sie?
… kto nasche pradedje, ponimaetje?

Erzähler:
Neunundzwanzig kleinere Völker leben in Rußland, die meisten davon in Sibirien. Allein im Gebiet Krasnojarsk sind es acht, – Ewenki, Nenzi, Enzi, Dolgani, Ganassani, Keti. Bis auf die Keti, eine Gruppe von etwa tausend, eher europäiden Menschen, sind alle Nomaden. Ihr Lebensraum ist heute bedroht. Er ist auf den Norden Sibiriens zusammengeschrumpft. Ein solcher Ort ist Dudinka, wo der Jenesseej ins Eismeer mündet. Dort geht die Sonne im Sommer nicht unter, im Winter fegt der „Tschorna Purga“, der Eiswind, bei Minis 50% durch die Dunkelheit, die auch Mittags kaum aufgehellt ist. In Dudinka verwalten vier Frauen ein Museum für die Geschichte der einheimischen Völker. Sie erzählen:

O-Ton 4: Museum in Dudinka                        1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Nu wot na territorie…
„Nun, auf dem Teritorium unseres Kreises leben Vertreter einheimischer Nationalitäten – Dolganen, Nenzen und Enzen, insgesamt ungefähr 9000 Menschen. Die größe Gruppe sind die Dolganen mit 5000, die kleinste die Enzen mit ca. 100 Menschen.“

Erzähler:
Schwer haben es die Eingeborenen, erzählen die Frauen. Sie leben in der Tundra mit den Rentieren. Davon können sie heute kaum noch existieren. „Am Schwersten trifft es die Kinder, die in Internaten aufgezogen werden“, meint eine der Frauen: „Sie vergessen ihre Sprache, sie verlernen die Sitten ihrer Eltern. Sie sind keine Russen, aber auch keine Eingeborenen mehr.“
…Kornee torwanneje.“

Erzähler:
Ein Nationales Problem gebe es aber nicht, meinen die Frauen. Vertreter von über hundert Nationen habe es seit dem sechzehnten Jahrhundert nach Dudinka verschlagen, zuerst Russen, dann Menschen aus allen Teilen des wachsenden russischen Reiches. Dudinka, obwohl unwirtlich, wurde ihnen zur Heimat:

O-Ton 5: Dudinka, Forts.                        1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tota sdes rodilis…
„Die Gründe dafür waren bei jedem von uns verschieden“, erklärt diese Frau. „Der eine kam mit den Eltern hier her. Der andere kam selbst. Ich bin zum Beispiel zusammen mit meinem Mann im Zuge einer Kampagne des Komsomol hier angereist.“ „Man weiß ja auch nicht wohin“, ergänzt eine andere. „Andererseits gibt es hier auch viel Schönes: Die wunderbaren weißen Sommernächte, die vielen nationalen Feste! Wir feiern hier ja die Feste aller Nationalitäten, die Polarnacht, Fischereitage, Wassertage. Zum neuen Jahr kommen auch hin und wieder Schamanen zum Fest der Tschums. Das sind die kegelförmigen Zelte unserer Nomaden.“
…Kamlal, schamnje.“

Erzähler:
Schamanische Tradition der kleinen Völker und industrielle Gegenwart treffen in Dudinka unmittelbar aufeinander. Keine dreißig Kilometer von Dudinka entfern liegen die Nickelgruben von Norilsk, zu Sowjetzeiten ein Zentrum der Rüstungsindusrie. Bis Anfang der Neunziger galt Norilsk als verbotene Stadt. Inzwischen mußte auch Norilsk sich öffnen:

O-Ton 6: Dudinka, Ende                        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tschas stait wapros o tom…
„Jetzt geht es darum“, versichert eine der Frauen, „daß das Kombinat und die Stadt selbst mit ihren 150 000 Einwohnern die Verpflichtungen unterschreiben, aus ihren Mitteln die Wiedergeburt der Kultur der kleinen Völker zu unterstützen“.
„Zur Zeit wird darum gekämpft“, schränkt eine andere der Frauen ein.
„Bisher noch mit Worten“, ergänzt die dritte.
…paka eschtscho slawa.“

Erzähler:
Norilsk ist heute eine der Geldquellen Sibiriens.. Im Zuge der Privatisierung wurde es von Sergei Bykow, einem der neuen Geldmagnaten erworben. Er gilt vielen Sibiraken als Verbrecher. Politisch hat er sich der Partei Wladimir Schirinowskis verschrieben. Jetzt geht es darum, daß dieses Geld auch dem Land, nicht nur seinem neuen Besitzer zugute kommt Der Gouverneur von Krasnojarsk möchte Bykow deshalb am liebsten enteignen und Norilsker Nickel wieder der staatlichen Verwaltung unterstellen. Die Auseinandersetzung ist exemplarisch: Wenn Norilsk gesundet, gesundet Krasnojarsk, wenn Krasnojarsk gesundet, wird es ein starkes Sibirien geben, so lautet die von der Verwaltung verfolgte Linie. Die Wiedergeburt Sibiriens, lassen ihre Vertreter wissen, gehe von Krasnojarsk aus. Wladimir Kusnezow, früher Dokumentarfilmer, der sich vor allem dem sibirischen Dorfleben widmete, ist ganz erfüllt von dieser Vorstellung. Mit dem Antritt des ehemaligen Generals Alexander Lebed als Gouverneur von Krasnojarsk übernahm er daher bereitwillig das regionale Ministerium für Kultur:

O-Ton 7: Wladimir Kuszezow                            1,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jest takoi wiraschennije…
„Es gibt so eine Redensart, daß die Krasnojarsker Region das russische New Hampshire ist, das heißt, so wie New Hampshire wählt, so wählt ganz Amerika. Und ganz sicher ist Krasnojarsk wie ein Spiegel für Rußland. In Krasnojarsk sammeln sich zur Zeit die Menschen, von denen eine Veränderung für ganz Rußland ausgehen kann. Ich will mich nicht als Prophet betätigen, aber Änderungen stehen bevor: Was in Rußland aufgebaut wurde ist ja keine demokratische Ordnung, sondern die Herrschaft der Mafia.Wir brauchen aber Menschen, die sich selbst beherrschen können. Unter uns gesagt, bei den russischen Altgläubigen, den Leuten, die einerzeit die Kirchen verließen und in die Taiga gingen, gibt es so eine Vorhersage, die fast Wort für Wort das trifft, was heute bei uns geschieht. Das Interessanteste, was sie immer sagten, war: Die Wiedergeburt beginnt in Sibirien; aus Sibirien kommt ein Muschik, ein starker Mann, der Rußlands Wiedergeburt bewirkt.“
… katorie wosrodit Russiju.“

O-Ton 8: Tscharypowa, Kohlegrube                        1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziegen, wieder abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Ketten, Maschinen geräusche…
So vielfältig wie die Menschen, so vielfältig ist das Land selbst: Im Süden, zweitausend Kilometer von Norilsk entfernt, liegt Tscharypowa, eine der Städte des sibirischen Kohlenrevieres zwischen Krasnojarsk und Nowosibirsk. Hier ist alles ganz anders und doch ähnlich. Die Sommer sind heiß, die Eingeborenen sind keine Eskimos, sondern Ckakasen, Mongolen, auch einige Chinesen. Wie Norilsk wurde auch Tscharypowa aus dem Boden gestampft. Tausende junger Ehepaare folgten noch in den späten siebziger Jahren dem Ruf des Komsomol, hier ein Industriezentrum der Zukunft aufzubauen, ein Jahrhundertprojekt, das den gesamten zentralsiatischen Raums mit Energie versorgen sollte.

Regie: hochziehen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Der Lärm der Schürfbagger allerdings täuscht: Im Moment werden sie nur bewegt, damit sie nicht einrosten, erklärt Ingenieur Gubin, der uns zwischen den gigantischen Türmen, Isolatoren und Förderbändern mit dem Auto herumfährt. Tawarisch Gubin, wie er sich selbst scherzhaft nennt, ist als Vermessungsingenieur einer der Planer der neuen Industrieanlagen. Zur Zeit ist er arbeitslos. Auf das Jahrhundertprojekt angesprochen, rettet er sich in Sarkasmus:

O-Ton 9: Ingeniezr Gubin                            1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach (erstem) Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„Stroika Wjeka…
„Bau des Jahrhunderts – das hat bei uns zur Zeit nur die Bedeutung: Jahrhunderte, lange, lange werden wir bauen! Der Plan war grandios! Der Plan war, hier eine Kaskade von Elektrokrtaftwerken zu bauen, genannt: „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK. Es sollten die größten und stärksten Kraftwerke werden, die bisher überhaupt errichtet wurden. Zehn bis vierzehn Werke sollten es werden. Sie sollten ganz Sibirien und auch die angrenzenden Nachbarn mit Strom versorgen.  – Aber dann fror plötzlich alles ein.“

Erzähler:
Er persönlich sei sowieso kategorisch gegen solche Giganten, meint Ingenieur Gubin, schon ökologisch seien sie eine Katastrophe. „Und die Stadt“, fügt er hinzu, als wir an den leeren Fensterhöhlen zahlloser Bauruinien vorbeifahren, „wurde ebenso gigantisch aus dem Boden gestampft. Es ist alles gewaltig angelegt, aber nichts  ist beendet, alles nur angefangen.“
…tolka natschala.“

Erzähler:
Die ca. 30.000 Einwohner der Stadt ducken sich weg. Man hält sich mit Gelegenheitsjobs und mit den Erträgnissen aus der Datscha über Wasser und wartet auf bessere Zeiten. Konstantin Smol, ehemals Direktor der Arbeitsverwaltung von KATEK, jetzt Frührentner, früher einer der aktiven Mitgestalter des KATEK-Projektes, schaut mit Trauer auf das eingefrorene Programm:

O-Ton 10: Konstantin Smol                        0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja dumaju…
„Ich denke man kann nicht, nur man muß das Programm wieder aufgreifen. Natürlich war es zu groß angelegt. Vierzehn Werke brauchen wir nicht, aber man kann die Möglichkeiten nicht einfach verkommen lassen. Nun hat man die Menschen hierhergeholt, die kann man ja nicht einfach vergessen. Kann sein, daß jetzt kein Geld da ist, dann muß man eben Investoren finden. Sibirien ist reich und Rußland hat schon ganz andere Schwierigkeiten überwunden. Alles, was man dazu braucht, ist ein gutes Kommando.“
…nuschna kommando, katorije projodsja.“

Erzähler:
Mit dieser Ansicht steht Konstantin Smol nicht allein. Vertreter der wichtigsten, das heißt der wirtschaftlch am weitesten entwickelten Regionen trafen sich schon bald nach der Einleitung der forcierten Reformpolitik zur „Sibirischen Übereinkunft“. Ihr Ziel ist eine von Moskau unabhängige eigene wirtschaftliche Entwicklung Sibiriens. In der Nowosibirsker Hochschule für Verwaltung, zu Sowjetzeiten, gelegentlich auch noch heute kurz Kaderzentrum genannt, erläutert Tatjana Sidnikowa, was darunter zu verstehen ist. Frau Sidnikowa, schon vor Perestroika an der Hochschule tätig, unterichtet dort heute das Fach Medienpolitik:

O-Ton 11: Tatjana Sidnikowa                        1.10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Assotiatie eta preschde swjewo…
„Die Assoziation – das ist vor allem erst einmal das Bedürfnis, das Streben nach dem eigenen Überleben. Die Menschen Sibiriens haben schon lange begriffen: Wenn sie einander nicht helfen, dann hilft ihnen keiner. Moskau ist weit weg von den Problemen des wirklichen Lebens und noch weiter entfernt von Sibieren. Dabei sprechen wir bisher nur vom westlichen Sibirien; dazu kommt noch das nördliche und das östliche. Dort ist die Situation vielleicht noch etwas anders. Dort ist der Pazifische Ozean. Dort hat man noch engere Kontakte mit China, mit Japan, mit Amerika. Aber Nowosibirsk, als industrielles Zentrum Sibiriens, steht mit der Anzahl der Einwohner an dritter Stelle in Rußland. Die Assoziation ist von daher, ohne zu übertreiben, ein Versuch, die heutigen Probleme zu lösen.“
…i papitka rischits sewodnischi problemi.“

Erzähler:
Das ist, zählt Frau Sidnikowa sachlich auf, der Versuch, der räuberischen Ausbeutung der Bodenschätze entgegenzuwirken, der Versuch, die heimische Industrie wieder in Gang zu bringen, den Exodus der technischen Elite zu stoppen, eine vernünftige, regionale Steuerpolitik zu entwickeln, eine effektive Infrastruktur und menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, alles ganz und gar pargmatische Aufgaben. Zu dem kommt noch, Sibirien als einzigartiges Klimaregulatorium einer ökologischen Gesundung des Planeten zu nutzen. Die Liste will gar nicht enden. Sie endet dann aber doch, und zwar mit einem heißen Bekenntnis zu den Eigenheiten Sibiriens:

O-Ton 12: Tatjana, Forts.                              0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer“
„Nu, ja schiwu…
„Ich lebe nun einmal hier. Hier fliegt die Seele hoch! Wir sind ja Menschen der Weite. Es ist vielleicht ein bißchen einfach gesagt, aber nehmen Sie die Kolonisation Sibiriens. Das ist die unblutigste, die es gab. (…) Wir sind ein philosophischer Menschenschlag. Das Leben bringt es so mit sich. Ich besuche meine Schwester in Woronisch, da habe ich eine lange Reise. Ich stehe am Fenster. Da fliegt die Landschaft vorbei, und fliegt und fliegt. – Das ist wie Psychotherapie, verstehen sie.
…kak psychotherapie.“

Erzähler:
Offiziell darf man nichts von solchen Gefühlen wissen. Der stellvertretende Bürgermeister von Nowosibirsk wiegelt erst einmal ab. Er habe nichts mit hochfliegenden politischen Ideen am Hut, erklärt er barsch, für ihn gehe es nur um die nächstliegenden Aufgaben:

O-Ton 13: Alexei Bespalikow, Vize von Nowosibirsk                 0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, ausblenden

Übersetzer:
„Perwie glawnie problem..
„Das Erste wichtige Problem ist die Auszahlung der Löhne, die Abtragung der Schulden seitens des Budsgets gegenüber den Staatsangestellten. Das Zweite ist der Anfang des neuen Schuljahres, das heißt, wir müssen alle Schulen einsatzbereit haben und das nächste Problem ist dann die Vorbereitung der Ernte.“

Erzähler:
Dann aber beendet auch er das Gespräch aber mit den Worten:

O-Ton 14: Vize, Fort.                         0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da sowerschennije vera…
„Aber selbstverständlich sind die Menschen Sibiriens ruhiger. Sie brechen nichts übers Knie. Sie denken erst einmal nach. Sie sind überhaupt sehr bewußte Leute. Sie sind, vielleicht wegen des rauen Klimas, wegen der harten Bedingungen, eher in sich gekehrt, lassen sich nicht so leicht von außen beinflussen wie etwa die Menschen in Moskau. Ja, deshalb ist hier alles in bißchen ruhiger. Wir haben schon unsere Besonderheiten.“
… swoi abrasije jest.

O-Ton 15: Am Brunnen                          1,05
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Geräusche von Wassereimer…
Die Seeele, von der Tatjana Sidnikowa schwärmt und die selbst durch die pragmatische Maske des Bürgermeisters schimmert, treffen wir wieder, wenn wir mit einem Mann wie Gennadij Schadrin, Rundfunkjournalist, Ökologe, Jäger aus Leidenschaft im Sommer auf die Dörfer weit draußen in der Taiga fahren. Nachdem wir die Elektritschka hinter uns gelassen haben, die die kleineren Städte miteinander verbindet, geht es zu Fuß durch  die Hitze des sibrischen Sommers. Da kommt ein Dorfbrunnen  gerade recht:
Wasser, Waschgeräusche

O-Ton 16: Schadrin                          0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Schritte, übergehend in Gespräch: „U nas..
Den schweren Rucksack auf dem Puckel, kämpfen wir uns endlose Wege entlang,  in der Hoffnung, daß uns ein vorbeifahrender LKW für ein Stückchen mitnimmt. Die Mühen des Fußmarsches, die weiten Felder, die flirrenden Birkenhaine lenken das Gespräch auf den Umgang des Menschen mit der Natur:
„Wir haben hier das System Iwan Iwanows“, erklärt Gennadij Schadrin. Ob er daran glube? Das sei keine Sache des Glaubens, auch nicht der Theorie, antwortet er. „Das ist Erfahrung! Das ist das einzige“, versichert er, „was ich wirklich glaube: Die Natur ist vernünftig!“
… obladajet rasum.“

Erzähler:
Das System Porfirjew Iwanows, Ernergie aus der Abhärtung gegen die Kälte zu gewinnen, wird heute von vielen Menschen in Siririen angewandt: Morgens, gleich nach dem Aufstehen kann man aus den Haustüren sibirischer Wohnhäuser Menschen kommen sehen, die sich kurzentschlossen kaltes Wasser über den Kopf gießen – sommers wie winters.

O-Ton 17: Schadrin, Forts.                         1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Schritte: „Mnogi tschitajut jewo…
„Viele halten Iwanow für den Entdecker eines neuen Weges für die Menscheit“ erzählt Schadrin weiter. „Die Gesundheit von dort nehmen!“ Schadrin beschreibt einen weiten Kreis mit dem Arm über dem Kopf: „Aus dem Kosmos! Und leben in Übereinstimmung mit der Natur!  Nun, das sind praktisch die Gesetze der Urgesellschaft, aber das ist nicht schlecht. Iwanow selbst lebte so, nackt draußen im Schnee, bei vierzig Grad Frost. Er hat sein eigenes energetisches Potential gehabt. Andere hätten das so gar nicht ausgehalten.“
Dann erzählt Schadrin von seinem Leben in der Taiga, wo er schon mit zehn Jahren begonnen habe zu jagen, und von seiner Frau, die ebenfalls die Methoden Iwanows anwende, von Wissenschaftlern, die Iwanows Methode an den Universitäten erforschten. „Es ist nicht nur der Weg der Kälte, sondern auch der der Sonne, sagt Schadrin. Alles gehört zusammen.“

O-Ton 18: Schadrin singt                        1,00
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, bis 0,10 frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,30 zum gesprochenen Wortes hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Gesang…
Am Abend, in einer leerstehenden Schule, beim sortieren der Beeren, die er tagsüber unter lebensverachtender Gleichgültgkeit gegenüber den Mücken gesammelt hat, singt Schadrin sibirische Lieder:

Regie: Bei 0,30 zum Text hochziehen

Erzähler:
„Bargusin“, erklärt er, „das ist der starke Sturm. Es geht um die Beziehung der Menschen zum Wind. Gut lebten die Sibiriaken. Schöne Feste hatten sie, hatten Vertrauen zueinander. Aber jetzt ist alles vorbei;. Alles ist vergeudet durch die Partokraten.“ Damit erstirbt das Gespräch.
…partokrati

Erzähler:
Die Meisten der sibirischen Jäger leben heut in der Vergangenheit. Bei Sanschasch, einem pensionierten Flußfischer ist es nicht anders. Nur mit dem Boot ist seine Hütte am Ufer des OB erreichbar, dahinter beginnt gleich die undurchdringliche Taiga des Tomsker Verwaltungsbezirks. Die Hütte sei sein Refugium, erzählt Sansasch stolz, aber als er keine Becher findet, um seinen Gästen Samogonka, den Selbstgebrauten, anbieten zu können, klagt auch er:

O-Ton 19: Sanschasch, Jäger                        0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tschas wremja takaja…
„Jetzt ist so eine Zeit gekommen! Ich hatte hier ein paar Emaillebecher, aber sie sind alle geklaut, acht Stück. Ein Tuch war hier, geklaut, ein Eimer, in dem ich immer die Fischsuppe gemacht habe, geklaut. Sowas hat es früher nie gegeben. Jahrelang hatte ich ein Radio hier, auch einen kleinen Fernseher mit Akumulator. Das geht jetzt nicht mehr. Sogar Zucker lassen sie mitgehen. Heut bringst du Zucker mit, denkst, daß du morgen einen guten Tee trinken kannst, aber schon ist kein Zucker mehr da. So ein Mist ist das heute, glatter Raub. Das ist unsere neue Zeit!
…nowaja wremja.“

Erzähler:
Allerdings gibt es auch andere Töne. In Gorno-Altai,  Berg-Altai, lebt Wassili Wassiljew. Als leitender Zootechnikerder Republik Altai im Süden Sibiriens, als deren oberster Tierhüter also, war er langjähriges Mitglied des regionalen Parteikomitees. Als Pensionär ist Fischen und Jagen heut seine Lieblingsbeschäftigung. Wassili Wassiljewitsch ist überzeugt davon, daß die Neuerungen der letzten Jahre sich den natürlichen Gegebenheiten ebenso anpassen müssen wie die früherer Jahre:

O-Ton 20: Zootechniker Wassiljewitsch                            1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A u nas jest juschneje…
„Bei uns gibt es südliche Bezirke, Kosch Agatsch, an der Grenze zur Mongolei zum Beispiel. Dort gibt es keinen Wald, leer alles, halbe Wüste. Es ist der Anfang der Wüste Gobi, die sich von uns aus in die Mongolei hinein erstreckt. Wie können Menschen dort in individuellen Einzelwirtschaften existieren, wenn sie sechzig Kilometer pro Tag nomadisieren!? Können sie nicht! Sie müssen zusammenhalten; sie haben keine andere Wahl. Im Sommer tief unten im Tal, im Winter oben auf den Bergen und das mit allem Vieh, die ganze Kolchose. Allein bist du verloren. Sie ziehen um, weil im Winter im Tal kein Vieh gehalten werden kann: Harte Winde, starke Kälte, bis zu sechzig Grad Minus. In anderen Regionen ist es ähnlich.
…priblisitelno tak.“

Erzähler:
Wassiljew erzählt, wie er in die Jurten geholt wurde. Er erzählt von der Gastfreundschaft der Altai-Nomaden, die niemanden ohne ein Geschenk ziehen lassen, das er sich vorher aussuchen muß. Er berichtet von ihren Zeltgöttern, die sie wechseln, wenn sich als unfähig erweisen haben. Allmählich trägt ihn die Erinnerung fort und ununterscheidbar vermischen sich Züge der Altainomaden mit denen der benachbarten Tuwa, der Chakasen, der Usbeken und seinen eigenen Touren als Tierwart in den Bergen, ebenso wie in den den endlosen Steppen des Voraltai. Obwohl doch nur russischer Tierarzt, dazu leitender Funktionär der Partei, wurde er zu Hochzeiten, Geburten und Sterberitualen gerufen, feierlich und mit der gleichen Hochachtung wie die eingeborene Schamanen verehrt. Er taufte Kinder, er wurde als Arzt um Rat gefragt. Einigemale half er sogar bei Geburten. Kommunismus und Schamanismus haben sich in seiner Person miteinander verbunden.

O-Ton 21: Schamaniseren                        1,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 35 zur Tröte zwischendurch hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Schnalzen, Stimme, Schläger…
Daß solche Verbindungen keine Ausnahme sind, demonstriert der Enkel des Alten, Pawel Staroschuk. Er hat beides vom Großvater übernommen: die Liebe zur Schulmedizin ebenso wie die tiefe Verbundenheit mit den naturreligiösen Traditionen des Altai. Heut arbeitet er als Arzt und Psychologe in Nowosibirsk und ist als Therapeut gegen Alkoholismus, Nikotinsucht und Fettleibigkeit mit einer ambulanten Praxis zusammen mit weiteren Kolleginnen und Kollegen in sibirischen Regionen unterwegs.

Regie: bei Schalzen und Tröte hochziehen, wieder abblenden

Erzähler:
Dabei geschieht es, daß die Übernachtung in einem leerstehenden Pionierlager unsversehens zu einem improvisierten Versuch wird, sich der verdrängten schamanischen Wurzeln zu erinnern.

Regie: Hochziehen, nach Tröte abblenden

Erzähler:
Was an solchen Abenden spontan aus dem Unterbewußtsein einer reisenden Psychologentruppe aufsteigt, das erfährt in Sibirienes Universitäten seine wissenschaftliche Bearbeitung. In Nowosibirsk ist es Prof. Derewianko, Archäologe und Ehthnologe, der die gegenseitige Durchdringung nomadischer und seßhafter Kulturen im sibirischen Raum erforscht. Zudem ist er Leiter der sibirischen Assoziation für Klimaforschung. Für ihn ist Sibirien ein geostrategischer Raum, in dem sich Klima und Völkergeschichte in besonderer Weise verbinden, vor allem aber der Raum, in dem sich  nomadische und seßhafte Lebensweise miteinander mischen:

O-Ton 22: Prof. Derewianko                        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamu, jesli wzelom…
„Wenn man also die Entwicklung im Ganzen bewerten will, so hat man es  mit Nomaden einerseits, mit Seßhaften andererseits zu tun. Überall auf dem Territorium Mittelasiens, des Kaukasus, Rußlands uws. geht diese Begegnung vor sich, über tausende von Jahren, mal friedlich, mal in der kriegerischen Konfrontation. (…) Aber man muß von nomadischer und der seßhaftenr Lebensweise sprechen, nicht nur von Völkern. Es sind zwei Welten, nicht zwei Ethnien.“
… dwa mira“

Erzähler:
In Irkutsk, der alten sibrischen Universitätsstadt an der Grenze zur Mongolei, gleich weit entfernt vom Pazific im Osten wie Eurpoa im Westen, mit engen Beziehungen zur Volksrepublik Chiina, fließen die verschiedenen Traditionslinien mit den Erfodernissen, die sich für die Neuordnung des euroastischen Raumes nach dem Ende der Sowhetunion ergeben, zu einem neuen Weltbild zusammen. Oleg Woronin, Aktivist der Perstroika, Historiker, Leiter eines von Japan gesponserten „Fonds für regionale soziale Entwicklung“ und auch noch Direktor einer Investmendfirma „Asia Invest“, skizziert diese Strömung mit den Worten:

O-Ton 23: Woronin                        1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, konjeschna, swja historia…
„Klar, die Geschichte der wechselseitigen Einwirkung Rußlands und des Steppenkorridors, wozu die Mongolein, die Kasachstan, der Nordkaukasus gehören, ist für uns enorm wichtig. In unserer Sprache gibt es hunderte von Worten nomadischen Ursprungs. Eine geistige Ströumg, die wir Euroasiaten nennen, hat das im achtzehnten Jahrhundert, aber auch am Anfang dieses Jahrhunderts alles aufgearbeitet. Heute gibt es junge Historiker, etwa der in Amerika lebende Georgi Wernadski, die diese Arbeiten wieder aufnehmen. Der kasachische DichterAlsja Sulemenow hat ein Buch geschrieben: As-I-Ja, übersetzt, Asien und ich. Er spricht darin faktisch von einer Symbiose.“
…o symbiose.“

Erzähler:
Die Vertreter der euroasiatischen Idee definierten Rußland, insbesondere Sibirien als Brücke zwischen Asien und Europa. Die Neuauflage des Euroasiatismus ist  heute nicht ohne Probleme. Flache Plagiate dieser Vorstellungen haben sich in den letzten Jahren mit antiwestlichen Ressentiments in nationalistische Phantasien von einer neuen imperialen Mission Rußlands gesteigert. Russische Politiker nutzen die chinesische Karte hin und wieder, um den Westen zu erpressen. Ungeachtet solcher Irritationen hat die Auflösung der Sowjetunion den Weg für ein Sibirien freigemacht, das sich als neue Kraft zwischen Asien und Europa entwickelt.

Sibirien – Ursprung der Völker und Land der Zukunft? (Text)

Programmtext für  gleichnamiges Fature

Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus. Die einen fühlen sich an endlose Weite, an unberührte Natur erinnert. Sie denken an schamanische Rituale, die heute wieder in Sibirien auferstehen. Das gilt besonders für den Süden Sibiriens, wo auch heute mongolische, tatarische und turkstämmige Völkerschaften in Republiken oder Regionen wohnen, die nach ihnen benannt sind wie etwa die Burjäten am Baikal, die Chakasen am Fuße des Altai, die Altaizi und die Tuwa an der Grenze zu Kasachstan. Viele der genannten Völker leben heute teils in Rußland, teil in der Mongolei, in Kasachstan oder auch in China.
Sibirien – dieses Wort löst aber auch Schauder aus. Bilder von Straflagern, von Verbannung, von Schrecksszenarien des GULAG, des Systems der stalinistischen Arbeits- und Umerziehungslager kommen hoch. Darauf legen sich die seit der Öffnung der früher verschlossenen Städte bekanntgewordenen und immer noch weiter bekannt werdenden Szenarien ökologischer Katastrophen, die aus der schnellen Industrialisierung und der rücksichtslosen Vernutzung der Natur durch eine ausufernde Militarisierung resultieren. Wer heute durch Sibirien fährt, trifft überall auf die Zeugen dieses industriellen Kriegszuges gegen die Natur, gegen den Wald, gegen die Steppe und gegen die Menschen.
Aber Sibirien – das sind auch die schier unerschöpflichen natürlichen Ressourcen, die ökologischen Potentiale eines noch nicht erschlossenen Raumes bis hin zu einer unerforschten Vorgeschichte. Vor allem aber sind es die Menschen, die hier leben, Kinder von Kolonisatoren aus dem Westen, aus Rußland die einen, Nachkommen einheimischer, zumeist nomadischer Völker aus dem zentralsibirischen Raum die anderen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Altai. Aus Hunnen, Mongolen, Tataren, Turkvölkern und anderen Nomaden auf der einen, aus kolonisierenden Siedlern auf der anderen Seite entstand eine Verbindung von aus nomadischer und seßhafter Gesellschaft, die ihre eigenen Verhaltensweisen, ihre eigenen Ideale von menschlichen Beziehungen hervorgebracht hat. Es ist der Pionier, der unterwegs ist im Kampf mit den widrigen Umständen einer rauhen Natur, gegebenfalls aber auch einer ihm feindlichen Gesellschaft, die ihn als politischen Verbannten, als Kriminellen oder auch als Andersgläubigen ausgestoßen hat. Eine sehr eigensinnige Ethik entwickelte sich hier, die einerseits der Freiheit, ja, Ungebundenheit des Einzelnen, zugleich aber auch der Einordnung in die natürlichen Gegebenheiten und ins soziale Kollektiv, der Hilfe auf Gegenseitigkeit einen hohen Wert beimißt. Wenn heute von politischer Renaissance in Sibirien die Rede ist, dann sind diese Traditionen gemeint.
Sibirien ist aber auch, angestoßen durch die forcierte Industrialisierung nach der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch nach der Verlagerung der russischen Industrie in den sibirischen Raum vor und während des zweiten Weltkrieges zu einem eigenen, hochentwickelten Wirtschaftsraum herangewachsen, der heute an der Schwelle seiner wirtschaftlichen Selbstständigkeit steht. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten noch einmal weitere Schübe in diese Richtung. Perestroika hatte ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß innerhalb des einheitlichen Monolithen der Sowjetunion neue Kräfte herangewachsen waren, deren Wachstum die Hülle der Union sprengen mußte. Nicht von ungefähr kamen die ersten wissenschaftlichen Forderungen zur notwendigen Intensivierung der Produktion durch eine demokratischen Öffnung Ende der Siebziger aus Nowosibirsk. Sie kamen aus der Neuen soziologischen Schule der Tatjana Saslawskaja an der Akadem Gorod, der Akademikerstadt von Nowosibirsk, die dort erstmalig mit empirischen soziologischen Untersuchungen den jahrzehntelang geschönten Ziffern von Plansoll- und Planhaben zu Leibe rückte.
Heute befindet sich Sibirien ebenso in der Krise wie alle Länder und Gebiete der ehemaligen Union. Aber mit seinen natürlichen Ressourcen, mit seiner das Zupacken gewohnten und qualifizierten Bevölkerung und mit seiner entwickelten Industrie verfügt es über Kräfte, die ihm helfen werden, den notwendigen Schritt der Abnabelung zu vollziehen. Es steht zwischen Asien und Europa wie ein Kind zwischen Vater und Mutter, bereit seine eigenen Wege zu gehen, wenn die Eltern es ihm gestatten – und auch wenn sie es ihm nicht gestatten; in dem Fall wird es sich allerdings mit Gewalt losreißen müssen.

Anschero-Sudschinsk Stadt im Zentrum der russischen Krise

1.    Text für das Begleitheft

Unterwegs in Sibirien: Die Fahrt geht nach Anschero-Sudschinsk. Andschero Sudschinsk ist ein besonderer Ort. Es ist jenes Industriekonglomerat im sibirischen Kusbass, an dem sich die russische Streikbewegung seit dem Ende der achtziger Jahre immer wieder entzündet: Mit fünf Kohle-Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, ist die Stadt der Kern des sibrischen Krisengebietes. Die ersten Proteste, welche die langen Jahre des Streikverbots Ende der Achtziger ablösten, gingen von hier aus. Hier entzündeten sich die ersten Proteste gegen gegen Michail Gorbatschow, in deren Verlauf Boris Jelzin an die Macht kam. Von hier ging die Bewegung aus, in deren Verlauf die Berrgarbeiter im Sommer und Herbst 1998, unterstützt von der örtlichen Bevölkerung, die transsibirische Eisenbahn blockierten und schließlich einen Hungerstreik vor dem moskauer Kreml durchführten. Diese Aktionen waren der Auslöser des Bankenkrachs vom August desselben Jahres, der das Ende der Ära Jelzin, das heißt das Ende der einfachen Raubprivvatisierung einleitete. In Zukunft muß russische Politik sich wieder sozialen Fragen zuwenden, wenn sie Revolten vermeiden will.
Zu sowjetischen Zeiten gehörte Andschero-Sudschinsk, ebenso wie andere Städte des Kusbass zu den privilegierten Orten des Landes. Bergarbeiter in den fünf Zechen der Stadt zählten zu den Spitzenverdienern; die soziale Infrastruktur – Kantinen, Kindergärten, betriebliche Sozialversorgung – die logistische Struktur der Städte und der Region – Strom, Gas, Wasser, Straßennetz usw. galten als vorbildlich. Noch heute sind die Straßen des Gebietes ohne Schlagloch-Slalom befahrbar. Neue Städte wie etwa Tscharipowa in der Region Krasnojarsk wurden noch Ende der Siebziger aus dem Boden gestampft. Für Lenonid Breschnjew hatte der Ausbau des Kusbass zum sibirischen und darüberhinaus zum euroasiatischen Energiezentrum, das nicht nur Sibirien, sondern auch die damals an die UdSSR angrenzenden  Staaten in Ost und West mit Strom versorgen sollte, den Charakter eines Jahrhundertprojektes. Zu tausenden strömten noch Anfang der Achtziger junge Familien, organisiert vom Kommunistischen Jugendverband, den Komsomolzen, zum sozialistischen Aufbau aus allen Teilen der Union hier zusammen. Mit der Ölkrise Ende der Siebziger, einer der Ursachen der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika, erstarrte die Entwicklung abrupt und in bizarren Formen wie Wasser in plötzlich ausbrechendem Frost. Heute sind drei der fünf Zechen von Andschero-Sudschinsk geschlossen; im Jahrhundertprojekt Tscharypowa schaut die Tristesse aus den leeren Fensterhöhlen halbfertig stehengelassener Wohnmaschinen.
Andschero Sudschinsk ist heut die Stadt der russischen Föderation mit der höchsten Selbstmordrate. Mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist arbeitslos, die meisten von ihnen sind dem Alkohol verfallen. Die Frauen, die als Sekretärinnen, Bibliothekarinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Schaffnerinnen usw. meist in Berufen tätig sind, die aus dem kommunalen Budget bezahlt werden, müssen mit Löhnen auskommen, die kaum für die Teekasse reichen. Oft bleiben auch diese Löhne noch aus. Die Bevölkerung lebt, wenn sie nicht zu den wenigen Vermögenden zählt, die aus der Krise ihren Profit zieht, von den Erzeugnissen ihrer Datschen, auf deutsch ihrer Schrebergärten.
Unser Autor ist mit einem Ärzteteam in die Stadt gekommen, das medizinische Hilfe gegen den Alkoholismus leistet. Im Gespräch mit Klienten der Ärzte, mit Passanten, mit dem Direktor der Schule, in dem die Alkoholiker therapiert werden,  mit dem Bürgermeister der Stadt und Fabrikdirektoren aus dem benachbarten Nowosibirsk entsteht das Bild von Andschero Sudschinsk als exemplarischem Krisenherd des heutigen Rußland. Was haben die Streiks gebracht? Wird es bei Streiks beliben? Wird es zu Revolten kommen? Das sind die Fragen, denen der Autor bei seinem Gang durch die Stadt nachspürt. Die Antwort ist so einfach wie bemerkenswert: Die Menschen, obwohl hoffnungslos, suchen nach einer Alternative zur Gewalt. Wie diese Alternative aussehen kann, ist eine offene Frage.

Zusatztext
Modernisierungswellen:
Rückblick auf das sowjetische Erbe

Den Westen einholen – das ist immer wieder ein Motiv russischer Politik gewesen. Danach schloß man sich erneut ab. Bereits das zaristische Moskau bewegte sich in diesem Rhythmus. Der bekannteste Westler unter den Zaren war Peter I. (1682-1725). Er beschloß, Rußland gewaltsam zu modernisieren. Die Gründung des Stadthafens St. Petersburg ist sein Werk. Mit den Rüstungswerkstätten im Ural legte er den Gundstein für Rußlands Industrialisierung. Danach erholte sich das Land von den Anstrengungen der petrinischen Modernisierungen in einer langen Periode der Reaktion.
Die nächste Welle der Modernisierung löste Alexander II. (1855-1881) aus. Mit der von ihm 1861 verordneten Bauernbefreiung schuf er die Voraussetzungen, auf die eine moderne Industrie damals angewiesen war: Eine Schicht frei verfügbarer Lohnarbeiter entstand aus dem befreiten Landproletariat. Ein gewaltiges Anschwellen der Industrialisierung war die Folge. Ende des 19., Angang des 20. Jahrhunderts verzeichnete Rußland die höchsten industriellen Wachstumsraten der sog. zivilisierten Welt. Die daraus entstehenden sozialen Spannungen entluden sich in den Revolutionen von 1905 und 191. Sie schleuderten Rußland in das Zeitalter der Massenindustrialisierung. Noch aber konzentrierte sich die Entwicklung vornehmlich auf das europäische Rußland bis zum Ural. Erst unter Stalin wurde auch Sibirien in die Industrialisierung einbezogen. In mehreren Wellen ließ Stalin ab 1930 Industrieanlagen aus Taiga und Tundra, aus Urwald und Steppe Sibiriens, stampfen. Energiegrundlage wurden die Kohlefunde in der nordsibirischen Ebene, heute bekannt als Kusbass.
Mit Blick auf den drohenden Weltkrieg wurden Ende der Dreißiger und noch während des Krieges ganze bestehende  Industrien nach Sibirien verlagert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow (1953- 64) setzte die industrielle Erschließung Sibiriens und Zentralasiens mit großem Ehrgeiz fort. Von ihm ist das Versprechen überliefert, daß die Bevölkerung der Sowjetunion noch in diesem Jahrhundert, also noch vor Erreichung des Jahres 2000, den Kommunismus erreichen wird – was immer das bedeuten sollte. Auch Nikita Chruschtschows (1964-1982) Nachfolger, Leonid Breschnjew, hielt sich an diese Linie. Er ließ nicht nur die schon bestehende Kohleindustrie weiter ausbauen. Noch Mitte der siebziger Jahre ließ er im Kusbass ein neues, ebenfalls auf Kohle basierendes Jahrhundertprojekt, den „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK als Parteiprojekt ausrufen. Dieser riesige Verbund von Kohlekraftwerken sollte nicht nur Sibirien, sondern angrenzende Länder und Staaten aller Himelsrichtungen bis nach Europa und China mit Strom versorgen. Der rapide Verfall der Ölpreise Mitte der siebziger Jahre, gegen den die Kohleproduktion nicht konkurrieren konnte, ließ diese Pläne in nichts zusammenstürzen.
Die Krise, in die das sowjetische System Mitte der Siebziger kam, hatte natürlich nicht nur diese Ursachen; viele andere, vor allem auch politische Aspekte der Überdehnung des sowjetichen Imperiums kamen hinzu: Wirtschaftlich gesehen lag die Ursache der Krise aber vor allem in der Überalterung der Anlagen, die im Zuge der nachholenden Industrialisierung im Hau-Ruck-Verfahren hochgezogen und deren Produkte auf Masse, nicht auf Qualität gerichtet waren. Das galt für die Industrie ebenso wie für die industrialisierte Landwirtschaft. Das Schlagwort, unter dem sich der bevorstehende Umbruch Ende der Siebziger Jahre ankündigte, lautete daher: Intensivierung statt Tonnenideologie, Eigenverantwortung statt Kommandowirtschaft, größere Beachtung des „Faktors Mensch“.
Michail Gorbartschow (1984-1991) war es dann, der den neuen Erkenntnissen zum Durchbruch verhalf, nachdem die Parteiältesten Juri Andropow und Viktor Tschernijenkow drei Jahre über Leonid Breschnjews Tod hinaus den Status quo zu halten versucht hatten. Als „Perestroika“ und „Glasnost“ verwandelten die von Gorbatschow zugelasenen Impulse die sowjetische Gesellschaft innerhalb von wenigen Jahren in ein Experimentierfeld neuerlicher Modernisierungen. Boris Jelzin beschleunigte diesen Prozess 1991 mit einem radikalen Privatisierungsprogramm, das sie Sowjetstrukturen auflöste. Am Ende steht nun eine Gesellschaft, in der die bisherigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht mehr, neue noch nicht funktionsfähig sind. Andschero Sudschinsk ist ein Beispiel dafür.

II. Manuskript

Anschero-Sudschinsk
Stadt im Zentrum der russischen Krise

O-Ton 1 Platzmusik                                0,55
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden , unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden

Erzähler:
Musik…
Feiern, um die Weltuntergangsstimmung zu vertreiben. Das gilt nicht nur für Andschero Sudschinsk. Das gilt für ganz Rußland. Aber Andschero Sudschinsk ist ein besonderer Ort. Es ist jenes Industriekonglomerat im sibirischen Kusbass, an dem sich die russische Streikbewegung seit dem Ende der achtziger Jahre immer wieder entzündet. Die Stadt ist mit fünf Kohle-Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, Kern des sibrischen Krisengebietes. Die Streiks von 1998 gingen von dort aus, als die Bergarbeiter, unterstützt von der örtlichen Bevölkerung, die transsibirische Eisenbahn blockierten und schließlich einen Hungerstreik vor dem moskauer Kreml durchführten. Diese  Aktionen waren der Auslöser des Bankenkrachs vom August desselben Jahres. Am „Tag der Bergarbeiter“ wird dieser Ereignisse alljährlich gedacht

Regie: hier ausblenden

Erzähler:
Alljährlich aber wiederholt sich auch dieses Bild:
Nur wenige Ecken weiter, gerade weit genug, um das laute Treiben nicht mehr zu hören, stehen die Menschen Schlange vor einem kleinen Kiosk, an dem Brot verkauft wird. Hier drehen sich die kargen Gespräche um steigende Preise, um zurückgehaltene Löhne, um nicht gezahlte Pensionen. Der Brotpreis ist nach wie vor subventioniert. Für viele, die keinen Garten haben, ist das die letzte Existenzgrundlage. Aber wie lange wird das so bleiben? Die Forderungen der Bergleute sind bis heute nicht erfüllt; die Verelendung der Region schreitet voran. Den Statistikern gilt Andschero Sudschinsk als sterbende Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der russischen Föderation. Wie geht es weiter? Hatten die Streiks einen Sinn? Wird es neue Streiks geben?

O-Ton 2: Frau in der Schlange                                 0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Nu, (unverständl.) daroga…
“Daß die Gleise blockiert wurden, das war natürlich schon nicht mehr gut.”, meint diese Frau, die selbst an den Besetzungen nicht beteiligt war. „Aber andere Mittel hat man ja nicht mehr“, fährt sie fort. „Kein Geld! Die Menschen hungern doch schon. Selbst Brot für die Kinder können manche sich nicht mehr kaufen.” So etwas, empört sie sich, habe es selbst im Krieg nicht gegeben.
… takowa nje bila”

Erzähler:
Den Versprechungen der Regierung glaubt niemand mehr.

O-Ton 3: Mehrere Menschen, Schlange                                0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Nje veru ja…
„Ich glaube nicht ein Wort“, sagt der Mann. Die Frau stimmt ihm zu: „Immer wieder Versprechungen, immer wieder dasselbe.“ So könne es nicht weitergehen, meint ein anderer. Das Wort Revolution klingt auf.

O-Ton 4: Schlange in Andschero-Sudschinsk                             0,16
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Ne snaju, normalno…“
„Ja, das wäre normal”, sagt der Mann. “Man muß möglichst bald eine Revolution machen. Dann gibt es vielleicht wieder Ordnung.”
Und er fügt an, was er unter Revolution versteht: “Oben muß aufgeräumt werden; ein Umsturz muß her!”
…djelat nada“, Straße

O-Ton 5:  Forts. Schlange                                0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 1. Absatz des Erzählers hochziehen

Erzähler:
“Nam mnoga krowje…
“Viel Blut würde fließen“, wendet ein anderer ein. Die Umstehenden nicken. “Man muß alles auf friedlichem Wege machen,” fährt der Mann fort. Doch wie das geschehen könnte, weiß er nicht. “Wir sind die Arbeiterklasse, “sagt er, “darüber sollen die da oben nachdenken.”
…tam verhach”, Stimmen

Erzähler:
Die Geduld der Menschen ist am Ende. Seit Mitte der 80er stemmen sie sich mit allen Mitteln des friedlichen Protestes gegen den Niedergang der Region, die noch in den Siebzigern als Rußlands Energiezentrum galt und zu den reichsten Region des Landes zählte, deren Arbeiter priveligierte Löhne und soziale Leistungen erhielten. Mit der Krise Mitte der Achtziger, ausgelöst vom Ölpreisverfall auf dem Weltmarkt, kam der Kohleabbau an die Rentabilitätsgrenze, die Gruben verfielen, „Jahrhundertprojekte“ des sibirischen Energiezentrums wurden von heute auf morgen eingefroren, die Bergarbeiter rutschten von der Spitze der sozialen Pyramide an deren Boden. Sie forderten Hilfe und Selbstbestimmungsrechte von Michail Gorbatschow, als er noch Parteisekretär war. In vorderster Reihe trugen sie zu dessen Rücktritt bei, als nichts geschah. Mit Boris Jelzin schlossen sie einen Vertrag, der die Erfüllung ihrer Forderungen vorsah. Als wieder nichts geschah, die Privatisierung der Zechen statt dessen dazu führte, daß die Kohle zu Dumpingpreisen verschleudert wird, der Erlös in schamloser Offenheit von moskauer, aber auch örtlichen Finanzbürokraten privat beiseitegeschafft wird, während die Belegschaften um ihre Löhne betrogen, entlassen oder einfach vergessen werden, da schritten sie zur Blockade der Schienen.
Geschehen ist wieder nichts, aber zur Revolution ruft niemand auf. Warum nicht? Ein jüngerer Mann, leicht angetrunken, wie es scheint, Facharbeiter in der ebenfalls stillgelegten größten Maschinen-Fabrik des Ortes, erklärt das so:

O-Ton 6: Facharbeiter, Forts.                                 0,41
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Da,  potschti revolutionni…
„Ja, es ist eine nahezu revolutionäre Situation. Ich weiß nicht, wie sie zustandekam, aber erwächst jedenfalls nichts Gutes aus ihr. Deshalb haben die Herrschenden begriffen, daß Gewaltanwendung hier nicht möglich ist. Es gab keine Polizeieinsätze. Selbst die Sondertruppen der OMON hielten sich zurück. Sie sind ja selbst in der gleichen Lage. Sie kriegen ebenfalls ihren Lohn nicht. Sie wissen, daß die Menschen gegen das Elend aufstehen. Deshalb sind sie mindestens neutral. Einige haben sich sogar offen solidarisch erklärt. Aber es wird nicht lange gut gehen. Es müssen Maßnahmen her, welche die Menschen beruhigen. Jelzin hat die Bergarbeiter betrogen, er muß weg. Das ist klar. Aber ob das etwas nützt? Ich weiß nicht, das ist schwer zu sagen. Es ist eine nicht vorhersagbare Situation.“
…nje pedskasuimaja situatia“

Erzähler:
In der Schule Nr. 8, einer der besseren aus einem Dutzend Schulen des Ortes, versammelt sich eine andere Gruppe von Menschen. Es sind Trinker, begleitet von ihren Frauen, Müttern und Töchtern. Die Männer wollen sich bei einer Ärztegruppe, die aus Nowosibirsk, der sibirischen Metropole, über eine Entfernung von dreihundert Kilometern angereist ist, von ihrer Alkoholsucht heilen lassen:

Ton aus: Was ist das russische.. Ton: B: O-Ton 16: Klinik 2000
O-Ton 10: Laser-Akupunktur-Behandlung                            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Gut dreißig jüngere und ältere Männer unterziehen sich der Prozedur einer Laser-Akupunktur-Behandlung, mit der sie ihr Verlangen nach Alkohol blockieren lassen wollen. Mehr als zwei Monatsgehälter müssen sie dafür hinlegen. Der Alkoholismus ist eine der schlimmsten Plagen der Stadt. Mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung neigt heute zum Alkoholismus, zunehmend auch Frauen. Zudem wird immer öfter gepanschter Fusel, anstelle des früher staatlich geprüften Wodkas verkauft. Auf den Dörfern der Region ist es noch schlimmer. Dort hängen oft sämtliche halbwegs erwachsenen Bewohner an der Flasche:

O-Ton 11: Bergarbeiter und Frau                            1,01
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei männlicher Stimme wieder hochziehen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzählerin:
„Mnoga, konjeschna…
„Viele haben das Problem, bestätigt einer der Wartenden, ein ehemaliger Kumpel. Er hat sich entschlossen trocken zu werden, weil sein Alkoholkonsum das Familienbudget endgültig zu ruinieren droht. Die graue Dumpfheit der Stadt sei Schuld, erklärt seine Frau, die Perspektivlosigkeit und ihr Mann ergänzt:

Übersetzer:
„Es gibt so viele Probleme, Probleme sozialen Charakters, Wohnprobleme. Die Pension wird nicht rechtzeitig gezahlt, kein Lohn, die Menschen verkommen.  – Noch viel mehr Leute würden sich hier gern behandeln lassen, wenn sie könnten. Aber ihnen fehlt schon das Geld dafür.“
… nje swje imeet wasmoschnost.“

Erzähler:
Die ersten Streiks nach dem Einsetzen der Perestroika sind dem Alten noch frisch im Gedächtnis:

O-Ton 12: Bergarbeiter und Frau, Forts.                         1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Posle raswala sowjetskaja…
„Klar, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, da war der erste Streik in Rußland hier, neunundachtig war´s,  im August. Das war auch hier in Andschero. Von hier aus ergriff der Streik den ganzen Kusbass. Damals dachten wir schon, wir seien am Ende. Aber richtig am Ende sind wir erst jetzt. Was wir erreichen wollten, haben wir nicht erreicht. Wir haben auf Jelzin gesetzt, aber es wurde nur noch schlimmer. Heute ist es doch so, daß der Präsident im Grunde auf das Volk pfeift. Bei der Regierung geht es nur um die Macht, um die eigene persönliche Macht. Mehr nicht! Das tut einem in der Seele weh.“
…kak my gaworim.“

Erzähler:
Tiefschwarz, schwärzer als der Schnee, der in dieser Gegend im Winter dunkel vom Himmel fällt, ist die Resignation, die von den in der Schule Versammelten ausgeht. Wortkarg, aber bitter sind ihre Urteile. Privatisierung – das ist für sie Raub; Politiker sind für sie Verbrecher. Demokratie heißt bei ihnen Darmokratie. Sie selbst sehen sich aufg ihre Ersparnisse, auf  Zuwendungen Verwandter oder ihre Datschen, Schrebergärten, reduziert. Wer das auch nicht mehr hat, verkauft seine Wohnung, verfällt der Obdachlosigkeit und Asozialität. Versicherungen, caritative Organisationen, Armenhäuser gibt es nicht:

O-Ton 13: Klientenrunde in der Schule                        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, kurz aufblenden, abblenden, unterlegen, kurz hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Abidna. tolka…
„Eine Schande ist das“, meint diese Frau. „Das Geld geht dahin, an westliche Wiederverkäufer, an unsere Zwischenhändler. Bei denen, die produzieren, bleibt nichts. Raub ist das, ein Verbrechen. Es ist diese Ausweglosigkeit, die das Volk aufbringt.“ Nicht daß sie Stalin wiederhaben wolle, fährt die Frau fort. Aber unter Stalin seien die Preise jedes Jahr gesunken.

Übersetzerin:
„Danals as die Menschen noch Vertrauen in den Staat hatten, da haben sie selbst den Krieg überlebt. Aber heute? Wir ackern mehr, aber wir haben weniger! Vergleichen Sie ihre Gesellschaft mit der unsrigen. Um die Familie er erhalten, müssen die Frauen  bei uns arbeiten wie im Lager. Jawohl, wir leben im Lager!  Was hier geschieht, ist ein glatter Völkermord.“
…genozid naroda…“

Erzähler:
Selbst Stalin und der zweite Weltkrieg erscheinen der Bevölkerung, die sich aus einer privilegierten Lage zum sozialen Schlußlich des Landes erniedrigt sieht, erträglicher als die allmähliche, unabsehbare Verelendung heute. Einer der aus Nowosibirsk angereisten Ärzte, durchaus kein reformfeindlicher Scharfmacher, sondern als Mitglied dieser selbstständig praktizierenden Kooperative von Medizinern und Psychotherapeuten selbst Nutznießer der Perestroika, bemüht sich, die Gefühle seiner Klienten statistisch zu erläutern:

O-Ton 14: Arzt                                1,58
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, kak gawerjat…
„Nun, der Begriff Genozid hängt vielleicht ein bißchen in der Luft. Aber Tatsache ist: Die Regierung vernichtet das Volk, weil sie es nicht benötigt, genauer gesagt, schon nicht mehr benötigt. Je weniger es von uns gibt, um so besser für die Regierung. Die mittlere Lebenserwartung in Rußland beträgt für Männer heute 57 Jahre! Das ist offiziell. Das heißt, wir erreichen das gesetzliche Pensionsalter nicht. Nimm als Zweites die staatlichen Förderungs- und Unterstützungsprogramme: Da siehst du,  daß die ungeschützteste Schicht unserer Gesellschaft heute die Kinder sind. Im Sozialismus waren sie die am besten versorgte Kategorie. Im totalitären Staat galten sie ja als die Garanten der Zukunft. Unsere Regierung heute hat die Kinder vollkommen vergessen. Die Schulen befinden sich in einem Zustand, in dem sie nur noch von den Eltern unterhalten werden. Ein normaler Mensch mit normaler Arbeit kann sein Kind heute praktisch nicht zu einer besseren Schule schicken. Dafür reicht sein Verdienst nicht. Mit der Ausbildung ist es das Gleiche. Und für solche Kinder kommt dann gleich die Armee. Man weiß ja, was das bei uns bedeutet: Die ist schlimmer als das Gefängnis, ganz zu schweigen von Tschetschenien und all diesen vernichtenden Einsätzen. Kurz, eine Chancengleichheit, wie sie propagiert wird, gibt es bei uns ganz und gar nicht. Alles hängt vom Einkommen der Eltern ab.“
… Dochodom roditeli.“

Erzähler:
Schriftsteller wie Alexander Solschenyzin waren schon seit Jahren vor einem Aussterben des russischen Volkes. Rechte politische Kräfte versuchen mit diesen Tatsachen nationalistische Stimmungen zu schüren. Die Menschen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß ausgerechnet der Direktor einer Schule, nämlich Alexander Malawanow, der bereits die Räume der Schule Nr. 8 für die Nowosibirsker Ärzte zur Verfügung stellte, sich als besonders aktiver Unterstützer der Streiks erweist. Zusammen mit dem Lehrpersonal anderer Schulen, mit Eltern, Schülerinnen und Schülern, mit der Leiterin der örtlichen Bibliothek und anderen sogenannten Budgschetnikis, also aus dem kommunalen oder staatlich Budget finanzierten Angestellten, deren Wohlergehen davon abhängt, daß die Bergleute ihren Lohn erhalten, hat er sich dafür eingesetzt, die Streikenden zu versorgen und deren Ziele in der Öffentlichkeit zu erläutern. Auszahlung ausstehender Löhne, Auszahlung der Pensionen seien anfangs die Hauptforderungen gewesen, so Malawanow; die Forderungen nach Rückgabe unrechtmäßig angeeigneten Volksvermögens und nach Rücktritt des Präsidenten, erst recht aber der Plan der Besetzung  sei erst aufgekommen, als nichts geschah. Als Abgeordneter der städtischen Duma hat der Direktor außerdem dafür gestimmt, daß der Bürgermeister, der sich mit den Streiks nicht solidarisieren mochte, zurücktreten mußte. Warum er sich so engagiere? Für ihn, so der Direktor, sei Andschero Suchinsk nur ein Beispiel für die Schieflage, in die Rußland geraten sei:

O-Ton 16: Direktor der Schule Nr. 8                            1,30
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Krise sdes po moemu obsche…
„Die Krise hier ist meiner Meinung nach eine allgemeine russische, nicht nur eine Strukturkrise. Denn wenn man Betriebe schließt, dann muß der Staat sich Gedanken machen, wohin mit den Kindern der Menschen, deren Betriebe geschlossen werden. Aber nichts dergleichen geschah. Hier ist nur einfach geschlossen worden: Anschersker-Schacht – geschlossen, Sudschinsker Schacht – geschlossen, weiterverarbeitende Fabriken – geschlossen! Aber wohin die Kinder, wohin die Arbeiter gehen, darüber hat niemand nachgedacht. Die Arbeiter haben keinerlei Chance sich irgendwo etwas Neues aufzubauen. Da werden in Moskau die tollsten Stützprogramme für die Entwicklung mittleren Unternehmertums, für Umschulung usw. versprochen. Aber nicht ein Mensch macht die nötigen Gelder dafür frei. Das bleibt alles auf dem Papier.“
…Nikto nje dajot.“

Erzähler:
Hauptadressat der Proteste, da ist der Direktor der Schule Nr. 8 ganz einer Meinung mit der übrigen Bevölkerung des Ortes, muß daher Moskau sein, nicht die örtlichen Direktoren. Nicht wenige örtliche Direktoren seien selbst Opfer der Moskauer Mafia, die sich Kohle kommen lasse, aber nicht bezahle. Wenn Moskau nicht einlenke, werde es unvermeidlich zu neuen Aktionen, vielleicht sogar zu Revolten kommen. Von Revolution aber will auch der Direktor nichts hören. Eine andere Politik sei gefragt, findet er. Auch Streiks, obwohl unvermeidlich, sind für ihn auf Dauer keine Lösung. „Die Streiks haben faktisch nichts gebracht“, erklärt er. Ein Monatslohn sei nachgezahlt worden, der Rest stehe immer noch offen. Wenn Moskau den Kurs nicht ändere, werde am Ende eine Eskalation stehen, über die er gar nicht nachdenken möchte.
Für den Direktor ist daher klar:

O-Ton 16: Direktor, Forts.                            0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Nu ja sam schiwu…
„Nun ich lebe ja nun mal selbst in einer Bergarbeiterstadt. Die Stadt ist in einen Abgrund geschliddert. Es gibt so viele Arbeitslose, so viele Menschen ohne Aufgaben, so viele Frauen, die nicht wissen, wie sie die Kinder groß kriegen sollen – tiefer können wir nicht mehr sinken! Das haben inzwischen nicht nur die Einwohner von Anschero-Sudschinsk begriffen, das hat inzwischen ganz Rußland verstanden. Deshalb ist die Forderung immer wieder: Wechsel, Wechsel, Wechsel! Wechsel des Kurses unserer Reformen!“
…naschich reform.“

Erzähler:
In der Stadtverwaltung, wo man kritischere Töne gegenüber den Aktionen der Bergarbeiter erwartet, klingt es verblüffenderweise nicht sehr viel anders. Viktor Ifschan, der neue Bürgermeister, war während der Unruhen noch Direktor der größten Maschinenfabrik des Ortes. Jetzt hat er als neuer Chef der Administration die  Hinterlassenschaft der Streiks zu bewältigen. Sein Urteil, obwohl unmißverständlich aus der Sicht des örtlichen Ordnungshüters, ist so zweideutig wie die ganze Situation:

O-Ton 17:  Administrator von Anschero-Sudschinsk                    0,34
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„No, objektivna…
„Außer negativen Folgen haben die Streiks für die Stadt nichts gebracht. Das muß man sagen. Man muß aber auch sagen, daß die Bevölkerung sich in einer ziemlich schwierigen Lage befindet, insbesondere mit dem nicht gezahlten Löhnen, offener und versteckter Arbeitslosigkeit. Jeder Mensch hat das Recht dagegen zu protestieren, wenn er sich an die Gesetze hält. Warum dagegen einschreiten? Ich habe, noch als Direktor der Maschinenfabrik, meinen Leuten erlaubt, sich für drei Stunden am Tag an den Aktionen zu beteiligen.“

Erzähler:
Überdies, erklärt der Bürgermeister freimütig, hätten die Ereignisse ja auch Nützliches gebracht: Moskau habe sich endlich um die Region kümmern müssen:

O-Ton 18: Administrator, Forts.                                 0,35
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Obsche korne problemi…
„Die allgemeine Ursache der Probleme liegt ja darin, daß wir gegenwärtig nicht wissen, was wir aufbauen, wohin wir gehen. Der Staat hat sich aus der Verantwortung gezogen. Verschuldung beim IWF,  innere Verschuldung, also Einbehaltung der Löhne, Sparpolitik. Das alles wird der Bevölkerung aufgelastet. Würde jemand  sagen, wohin der Zug geht, dann würde die Bevölkerung noch lange aushalten, nicht ewig, aber lange. Objektiv sind die Menschen bei uns ja bereit, auszuhalten, wenn sie nur wissen, wofür.“
… kudasche mi idjom“
Erzähler:
„Wir sind ja ein Volk von Kleingärtnern“, antwortet er auf die Frage, wie die Menschen die Situation weiter aushalten sollen, wenn sie ihren Lohn nicht erhalten. Aus den Gärten könne die Mehrheit der Bevölkerung sich immer noch und vermutlich noch lange mit dem Allernötigsten versorgen – und wenn die Familie nur von den eigenen Kartoffeln lebe. Der Administrator sucht deshalb den Dialog, nicht die Konfrontation. Im Dialog zwischen örtlichen Direktoren und Belegschaften möchte er einen Weg finden – gemeinsamer Gegner ist Moskau.
Wie der örtliche Administrator, so denkt auch der Gouverneur der Republik Kemerowo, Tulejew. Er sprach sich klar gegen jede gewaltsame Lösung des Konfliktes aus. Stattdessen wagte er den Konflikt mit Moskau, indem er Einsätze gegen die Streikenden verweigerte. Seit den Streiks hält er auch Steuerzahlungen an das zentrale Budget in Moskau zurück.
Je weiter man sich vom Streikgebiet entfernt, umso geringer wird jedoch das Verständnis für die Aktionen. So etwa schon in Nowosibirsk. Hier war man nicht mehr an den Aktionen beteiligt, von deren Auswirkungen aber betroffen. In Nowosibirsk wettert Nicolai Matschalin, der Direktor der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“  gegen die Streiks der Bergleute. Aus seiner Sicht sind solche Aktivitäten Provokationen gegen das russische Volk:

O-Ton 19: Fabrikdirektor Matschalin                                0,31
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oni tam sedeli…
„Sie haben da gesessen und blockiert – wir haben keinen Zement bekommen, keine Bauteile usw.  Wir konnten die Steuern nicht zahlen, weil wir nicht produzieren konnten; unsere Pensionäre kriegten ihre Rente nicht, meine Arbeiter keinen Lohn, weil sie ihn nur bekommen, wenn sie arbeiten. Wie kann da die Beziehung zu den Streikenden sein? Nun, natürlich nur extrem negativ! Das geht fast bis zum Haß. Der Staat, der Polizei und Spezialtruppen hat, OMON und andere, der wäre verpflichtet gewesen, die Bergarbeiter da wegzuräumen.“
…ubratj schachtörow srelzow“

Erzähler:
Moskau habe seine Schwäche gezeigt, fährt der Direktor fort, um sich gleich darauf zu korrigieren – vielleicht ja auch seine Stärke, indem es die Aktionen einfach ignoriert habe. Für diejenige, die arbeiten wollten, wende sich die Lage durch die Untätigkeit Moskaus aber noch weiter zum Schlechteren. Ein russischer Pinochet müsse her, ein Diktator, der entschlossen für Ordnung sorge, meint der Direktor. Und er verhehlt auch nicht, wie er sich das vorstellt:

Aus: O-Ton 13 Aus: Kann man Rußland noch…
O-Ton 20:  Direktor, Forts.                                0,31
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Kak nowodil parajadok…
„Wie hat Pinochet die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß er dem Giutarrenspieler Viktor Jara die Hände  zerschlug; ja, stimmt, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land! Und es war General Pinochet, der es zum Blühen brachte; danach ist er von selbst gegangen. Eisenhower, de Gaulle! Sie alle waren starke Generale, welche die Autorität des Volkes nutzten. Wenn bei uns jetzt ein paar hundert Leute im Stadion ohne Essen und Wodka zusammengetrieben würden, das gäbe ein bißchen Aufruhr, aber sonst gar nichts.“
… i nitschewo nje bila“

Erzähler:
Das sind harte Töne, die Arges befürchten lassen. Im nächsten Atemzug aber bedauert der Direktor, daß es im heutigen Rußland keine Führungspersönlichkeit gebe, die dazu bereit wäre, diese Rolle zu übernehmen. Dies gelte auch für den von ihm verehrten General Alexander Lebed, der zwar einen starken Staat anstrebe, aber leider nicht bereit sei, den Weg der Diktatur zu gehen. Derselbe Direktor Matschalin macht seine Entscheidungen zur Betriebspolitik von Beschlüssen der Aktionärsversammlung abhängig, die im Fall der Betonfabrik Nr. 4 zudem identisch mit der Belegschaft ist. Kriege wie den in Tschetschenien lehnt er ab wie sein Vorbild General Lebed selbst. Die Ärzte des Nowosibirsker Therapeutenteams,  nach Abschluß ihres Einsatzes in Andschero Sudschinsk schon wieder unterwegs in die nächste Station des Krisen-Reviers, kommentieren solche Ausbrüche ihrer Landsleute in verständiger Gelassenheit:

O-Ton 21: Ärzte in der Bahn                        0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
…Bahngeräusche. „Wremena revoluti…
„Die Zeit der Revolution von 1917 ist lange vorbei. Die Menschen stehen heute natürlich unter Spannung und sie sind bereit zu extremen Schritten. Aber es gibt keine Führer, welche die Menschen begeistern könnten, keine Vorstellungen, wie man das Budget so in Ordnung bringen kann, daß die Bergleute ihr Geld zurück bekommen könnten. Es gibt keine Ziele; es gibt bisher keine gut ausgearbeiteten Losungen, keine Ideen, keine Theorien. Nichts.
… idee, theoria, njetto.“

Erzähler:
Revolution ohne Revolutionäre, das ist der Eindruck, den man aus dieser Stadt mitnimmt. Die oben können nicht mehr, die unten noch nicht wieder. Die Zeiten des Versorgungsstaats sind vorbei. Das Vertrauen in den Staat ist erschüttert; jeder muß sich um sich selbst kümmern. Neue soziale Formen müssen erst wieder entstehen. Es ist die Not, die zu gegenseitiger Hilfe zwingt. Darin liegt Hoffnung, daß neue Wege gefunden werden. Kein Mensch will gewaltsame Lösungen, alle fürchten die mögliche Eskalation.

O-Ton 22: Musik    Steht auf:     1998, B, 160 – 174
Regie: Musik langsam kommen lassen, zum Schluß hin hochziehen, ab 0,46 frei stehen lassen

Erzähler:
Wohin morgen das Pendel ausschlägt, wenn die Verhältnisse sich weiter zuspitzen,  ist offen. Vorerst werden noch Feste gefeiert, um wenigstens für ein paar Tage die Probleme zu vergessen. Auch darin liegt eine Kraft.

Anschero-Sudschinsk
Stadt im Zentrum der russischen Krise
Zusatztext

Modernisierungswellen:
Rückblick auf das sowjetische Erbe

Den Westen einholen – das ist immer wieder ein Motiv russischer Politik gewesen. Danach schloß man sich erneut ab. Bereits das zaristische Moskau bewegte sich in diesem Rhythmus. Der bekannteste Westler unter den Zaren war Peter I. (1682-1725). Er beschloß, Rußland gewaltsam zu modernisieren. Die Gründung des Stadthafens St. Petersburg ist sein Werk. Mit den Rüstungswerkstätten im Ural legte er den Gundstein für Rußlands Industrialisierung. Danach erholte sich das Land von den Anstrengungen der petrinischen Modernisierungen in einer langen Periode der Reaktion.
Die nächste Welle der Modernisierung löste Alexander II. (1855-1881) aus. Mit der von ihm 1861 verordneten Bauernbefreiung schuf er die Voraussetzungen, auf die eine moderne Industrie damals angewiesen war: Eine Schicht frei verfügbarer Lohnarbeiter entstand aus dem befreiten Landproletariat. Ein gewaltiges Anschwellen der Industrialisierung war die Folge. Ende des 19., Angang des 20. Jahrhunderts verzeichnete Rußland die höchsten industriellen Wachstumsraten der sog. zivilisierten Welt. Die daraus entstehenden sozialen Spannungen entluden sich in den Revolutionen von 1905 und 191. Sie schleuderten Rußland in das Zeitalter der Massenindustrialisierung. Noch aber konzentrierte sich die Entwicklung vornehmlich auf das europäische Rußland bis zum Ural. Erst unter Stalin wurde auch Sibirien in die Industrialisierung einbezogen. In mehreren Wellen ließ Stalin ab 1930 Industrieanlagen aus Taiga und Tundra, aus Urwald und Steppe Sibiriens, stampfen. Energiegrundlage wurden die Kohlefunde in der nordsibirischen Ebene, heute bekannt als Kusbass.
Mit Blick auf den drohenden Weltkrieg wurden Ende der Dreißiger und noch während des Krieges ganze bestehende  Industrien nach Sibirien verlagert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow (1953- 64) setzte die industrielle Erschließung Sibiriens und Zentralasiens mit großem Ehrgeiz fort. Von ihm ist das Versprechen überliefert, daß die Bevölkerung der Sowjetunion noch in diesem Jahrhundert, also noch vor Erreichung des Jahres 2000, den Kommunismus erreichen wird – was immer das bedeuten sollte. Auch Nikita Chruschtschows (1964-1982) Nachfolger, Leonid Breschnjew, hielt sich an diese Linie. Er ließ nicht nur die schon bestehende Kohleindustrie weiter ausbauen. Noch Mitte der siebziger Jahre ließ er im Kusbass ein neues, ebenfalls auf Kohle basierendes Jahrhundertprojekt, den „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK als Parteiprojekt ausrufen. Dieser riesige Verbund von Kohlekraftwerken sollte nicht nur Sibirien, sondern angrenzende Länder und Staaten aller Himelsrichtungen bis nach Europa und China mit Strom versorgen. Der rapide Verfall der Ölpreise Mitte der siebziger Jahre, gegen den die Kohleproduktion nicht konkurrieren konnte, ließ diese Pläne in nichts zusammenstürzen.
Die Krise, in die das sowjetische System Mitte der Siebziger kam, hatte natürlich nicht nur diese Ursachen; viele andere, vor allem auch politische Aspekte der Überdehnung des sowjetichen Imperiums kamen hinzu: Wirtschaftlich gesehen lag die Ursache der Krise aber vor allem in der Überalterung der Anlagen, die im Zuge der nachholenden Industrialisierung im Hau-Ruck-Verfahren hochgezogen und deren Produkte auf Masse, nicht auf Qualität gerichtet waren. Das galt für die Industrie ebenso wie für die industrialisierte Landwirtschaft. Das Schlagwort, unter dem sich der bevorstehende Umbruch Ende der Siebziger Jahre ankündigte, lautete daher: Intensivierung statt Tonnenideologie, Eigenverantwortung statt Kommandowirtschaft, größere Beachtung des „Faktors Mensch“.
Michail Gorbartschow (1984-1991) war es dann, der den neuen Erkenntnissen zum Durchbruch verhalf, nachdem die Parteiältesten Juri Andropow und Viktor Tschernijenkow drei Jahre über Leonid Breschnjews Tod hinaus den Status quo zu halten versucht hatten. Als „Perestroika“ und „Glasnost“ verwandelten die von Gorbatschow zugelasenen Impulse die sowjetische Gesellschaft innerhalb von wenigen Jahren in ein Experimentierfeld neuerlicher Modernisierungen. Boris Jelzin beschleunigte diesen Prozess 1991 mit einem radikalen Privatisierungsprogramm, das sie Sowjetstrukturen auflöste. Am Ende steht nun eine Gesellschaft, in der die bisherigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht mehr, neue noch nicht funktionsfähig sind. Andschero Sudschinsk ist ein Beispiel dafür.

Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen

Rußlands Krise fordert Lösungen. Seit dem Bankenkrach vom August 1998 reden alle davon, daß Reformen in Rußland an den gewachsenen Strukturen ansetzen müssen. Auch auf westlicher Seite ist man zu neuen Einsichten gelangt. So erklärte Horst Köhler, Präsident der Ost-Europa-Bank, der Westen könne Marktwirtschaft und Demokratie nur dann auf Dauer in Rußland verwirklichen, wenn er sie in der Kultur, der Geschichte und in  den Traditionen des Landes verankere. Was sind diese traditionellen Strukturen? Wie wäre anzusetzen? Von den Auseinandersetzungen um diese Fragen soll in den folgenden dreißig Minuten die Rede sein.

A: O-Ton 1: Tusch, Straßenmusik            1,00
Regie: O-Ton bis zum Beginn des Wortbeitrags frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Sprecher:
Stadtfest im sibirischen Irkutsk. Die Stadt erinnert sich ihrer Geschichte, die mit der Erschließung des Landes durch unabhängige Kaufleute im 16. Jahrhundert begann. Mit der Kolonisierung durch kosakische Abenteurer, durch besonders wagemutige Bauern, durch Verbannte, Jäger, kurz, durch besonders aktive, oft eigenwillige Menschen setzte sie sich fort. Man ist stolz auf diese Tradition. Sogar im Unterhaltungsrogramm der Freilichtbühne weist der Moderator auf diese Pionierrolle des Landes hin. Sibirien bleibe ein Zentrum des wirtschaftlichen Aufbaus für Rußland, verkündet er. Begeistert fällt sein Auditorium ein.

Regie: hochziehen, abblenden

Sprecher:
Am Rande des Volksfestes treffen sich Soziologen, Politologen und mittlere Geschäftsleute mit Vertretern der regionalen Bürokratie zu einer Beratung über die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des nach ihr benannten Verwaltungsbezirks:

B: O-Ton 2: Versammlung in Irkutsk            0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Na uriwinje antimoskowskowo…
„Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die hier verhandelt wird. Oleg Woronin, ehemals für die Perestroika engagiert, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und erfolgreicher Geschäftsmann, spricht zum Thema: „Kompromiß als Weg“.  Ohne Mikrofon, heftig und mit einer sich oft überschlagenden Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Konkurrenz, in der die Moskauer Finanzclans zueinander stehen, für eigene Interessen, konkret, für die Sanierung der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab will man zusammenstellen, welcher der regionalen Bürokratie bei der Entwicklung der örtlichen Wirtschaft zur Hand gehen soll.
Wie in Irkutsk gibt es heute überall im Lande Diskussionen und Projekte, wie die überstürzte, totale Privatisierung wieder in soziale Bahnen gelenkt werden kann. Dabei spielt die Bildung von Räten, russisch: Sowjets, die sich aus örtlichen Vertretern der Konzerne, aus mittelgroßen Unternehmen, aus Wissenschaftlern und aus Vertretern der örtlichen Bürokratie zusammensetzen, eine wichtige Rolle. Was in Irkutsk zutage tritt, hat sich schon länger im Lande vorbereitet. In der Landwirtschaft geriet die Privatisierung bereits nach einem Jahr ins Stocken. Für Ende 1992 hatte die Regierung die Gründung von 400.000 privaten Höfen in Aussicht gestellt; es wurden 180.000; bereits 1993 stagnierte ihre Zahl dann bei 270.000. Die angekündigte Umwandlung der Kolchosen in Aktiengesellschaften war zwar Ende 1993 nahezu vollzogen; die landwirtschaftliche Produktion aber sank Jahr für Jahr. 1994 arbeitete bereits die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe mit Verlust; die Zahl der privaten Höfe war rückläufig. Selbst früher gesunde Betriebe gerieten in die roten Zahlen. So etwa die ehemalige Mustersowchose Tulinskaja im sibirischen Gebiet Nowosibirsk, die schon 1991 privatisiert wurde. Wassili Horn, ihr Direktor, beschreibt die Gründe für den Verfall:

B: O-Ton 6: Direktor Horn            1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, bil sowchos, stal…
„Nun, wir waren eine Sowchose, jetzt sind wir eine Aktiengesellschaft. Kern der Aktiengesellschaft ist das gemeinschaftliche Wirtschaften wie vorher auch, nur daß das Eigentum formal in die Hände der Aktionäre übergegangen ist. Das heißt, die Sowchose ist kein staatliches Unternehmen mehr, sondern ein privates, jeder hat seinen Anteil vom Vermögen bekommen, vom Land. Es ist alles normal: Gewählt wurde eine Verwaltung, gewählt wurde ein Sowjet, also ein Rat. Das Problem ist nur, daß die Leute sich nicht als Eigentümer fühlen. Und was ist das Ergebnis? Unzuverlässigkeit, Veruntreuung, Diebstahl! Und dann gibt es die, die man überhaupt vergessen kann, die einfach nur auf Kosten der anderen leben wollen, saufen, klauen, sich vergnügen. Wohin mit ihnen? Früher hatten wir Regeln, wir hatten unsere Arbeitsmoral. Heut gilt: Jeder für sich! Wir haben keine gesetzliche Befugnis mehr. Ich bin Chef, dann gibt es noch den Administrator. Wir sollen entscheiden, sollen alles am Laufen halten, aber wie, wenn es keine Basis, keine Gemeinschaft mehr gibt?“

Sprecher:
Früher war der Arbeitseinsatz durch die unaufkündbare Zugehörigkeit der Sowchosmitglieder zur Gemeinschaft geregelt; heute können sie die Sowchose über den Verkauf ihres Anteils verlassen, wenn ihnen die Anordnungen des Direktors nicht passen – nach dem Gesetz; in Wirklichkeit ist ihr Anteil außerhalb der Sowchose nichts wert. Statt Selbstbestimmung und Verantwortung des einzelnen Sowchosmitgliedes zu stärken, wie von den Ideologen der Privatisierung vorhergesagt, zerstörte die Privatisierung den gewachsenen Lebenszusammenhang. Im Lauf weniger Jahre nahm die soziale  Destabilisierung kriminelle Ausmaße an; aus der Mustersowchose wurde ein Pleitebetrieb.

A: O-Ton 9: Ankunft in der Molkerei                 0,48
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…
In der Molkerei. Früher war sie eine wichtige Einnahmequelle der Sowchose; jetzt reicht es gerade noch für den Eigenbedarf. Der Unmut ist unüberhörbar:

O-Ton 10: Molkerei, Forts.                           1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler hochziehen

Erzähler::
„Nelsja bila, swjo…
„Es war nicht richtig“, meint diese Frau, „das Alte so mit Gewalt umzustürzen.“

Übersetzerin:
„Man hätte das Neue auf der Grundlage des Bestehenden einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch private Bauern bei uns geben oder andere private Arbeiten, aber das müßte parallel laufen. Hier dagegen haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler:
Auch von Demokratie, die mit der Privatisierung Einzug halten sollte, keine Spur. Von einer neuen Selbstverwaltung, mit der die Regierung die aufgelösten Rätestrukturen ersetzen möchte, will man nichts wissen: Wie das denn aussehen solle, fragt eine Frau. Früher habe es die Familie gegeben, wirft eine andere ein; früher habe man sich dem Ältesten untergeordnet; früher habe man einander geholfen. Aber jetzt? Freiheit selbst zu entscheiden sei gut, aber ein Betrieb brauche nun einmal ein gutes Kollektiv und eine starke Hand. Darin sind sich alle einig. Sonst versinke alles im Chaos und Rußland zerfalle.

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Auf dem Lande war damit bereits 1994 klar, daß die Überführung der kollektiven landwirtschaftichen Strukturen in privatwirtschaftliche Unternehmen nicht ohne Weiteres möglich sein würde. Im industriellen Bereich ist es nicht viel anders. Auch hier scheiterte die Privatisierung an den bestehenden betrieblichen Verhältnissen. Das Programm, mit dem Boris Jelzin 1991 antrat, zielte zwar auf die Auflösung der Betriebskollektive, das heißt, auf die Auflösung der Einheit von Betriebsleitung und Belegschaft. In der Vetternwirtschaft der Kollektive sahen Jelzin und seine Reformer die Hauptursache für die wirtschaftliche Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft. Die Kollektive, also Leitung und Belegschaft gemeinsam, sollten bei der Umwandlung der Betriebe in Aktiengesellschaften deshalb unter keinen Umständen in den Besitz von Mehrheitspaketen kommen. Nur durch das Hereinholen von betriebsfremdem Kapital glaubte man den sowjetischen, den kollektivistischen Schlendrian brechen zu können. Aber nur für Spitzenbetriebe war dies durchsetzbar, wo sich genügend außerbetriebliche und auch ausländische Interessenten fanden; die Masse der nicht so profitablen, erst recht der bankrotten Betriebe aber blieb auch als Aktiengesellschaft in der Hand der Betriebskollektive, die versuchten, irgendwie durchzukommen. Die meisten dümpeln bis heute so vor sich hin; einige sind aber ganz erfolgreich. Zu ihnen gehört die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk, die wegen des seit Jahren anhaltenden Baubooms außerordentlich günstige Vorausssetzungen hat. Sie wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wie alle Betriebe; dennoch tritt die Belegschaft heute als stolzes Kollektiv auf:

A: O-Ton 11: Kollektiv der Eisenbetonfabrik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden         0,17

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin des Mannes erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 12: Eisenbetonfabrik, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden          1,39

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitätserzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur etwas versprechen und es dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Unser Produkt muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deshalb ist die Stimmung bei uns im Allgemeinen sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über zwölf Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
A: O-Ton 13: Kollektiv, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden        1,38

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb in unserer Region, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Hier wird rechtzeitig der Lohn gezahlt, hier wird Krankengeld gezahlt, Essen usw. Bei uns gibt es kostenlos Milch, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus in unserem Land gab – und die gab es –  die haben wir jetzt noch besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. Ist also im Grunde alles beim Alten geblieben? Aber nein, keineswegs, antwortet die Arbeiterin. Da gebe es einen entscheidenden Unterschied:

B: O-Ton 14: Kollektiv, Forts.         2,11
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Rat der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.“

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten jeweils  Anteile zwischen ein bis drei Prozent.  Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt den Rat der Aktionäre, den Sowjet: Er hat neun Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Rates und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt an den Sitzungen des Rates teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Er hat nur eine Stimme wie alle anderen. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet, aber niemand macht zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des durchschnittlichen Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
Die Eisenbetonfabrik Nr. 4 ist als Musterbetrieb, der die Öffnung für die Marktwirtschaft, effektive Modernisierung und rigides Arbeitsklima mit dem Bemühen um soziale Betriebspolitik verbindet, seit 1991 mehrfach ausgezeichnet worden. Sie soll ein Vorbild für andere Betriebe sein.
Umfragen zeigen allerdings: Die akzeptieren zwar das Modell, sehen sich aber außerstande, es aus eigenen Kräften zu verwirklichen. So etwa erklärt Viktor Schmid, Direktor der Krasnojarsker Waldmaschinenfabrik, nachdem er die Arbeit Eisenfabrik in höchsten Tönen gelobt hat:

A: O-Ton 15: Direktor Schmidt             0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“ My etawa nje djelajem…
„Wir machen es hier nicht so, weil die allgemeine Lage es nicht zuläßt. Die können es dort so machen, aber das ist nur eine Fabrik, die gut lebt. So geht es natürlich nicht überall! Wir müßten entlassen, um solch ein Niveau zu halten.  Es ist klar, daß es nur geht, wenn dieses Modell allgemeine Linie wäre, wenn es durch ein staatliches Programm gestützt würde. Wir Direktoren sind ja keine Dummköpfe, wir wissen natürlich, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie profitabel arbeiten. Aber wohin mit den anderen? Wenn wir sie entlassen, werden sie vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben; sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…widemo gossudarstwo

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Für die Mehrheit der russischen Betriebe weist die Produktivitätskurve immer noch abwärts. Die Zahl der Arbeitslosen hat die Zehn-Prozent-Marke längst überschritten. Genaue Angaben verlieren sich im Dunkel der arbeitslos Beschäftigten, das heißt, jener Millionen von Belegschaftsmitgliedern, die von Betrieben wie der Waldmaschinenfabrik in Krasnojarsk auch ohne Arbeit, in vielen Fällen auch ohne Lohn gehalten werden, allein um soziale Unruhen zu vermeiden, die entstehen würden, wenn die Menschen mit der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem des Betriebs auch das letzte Minimum an sozialer Sicherheit verlieren würden. Aller Augen richten sich daher heute auf den Staat, von dem erwartet wird, daß er durch Regulierung des Marktes Impulse für die Entwicklung der Volkswirtschaft setzt, welche die Entwicklung der privaten Unternehmensstruktur fördern, zugleich aber eine soziale Explosion vermeiden.
Selbst im Bereich der sogenannten kleinen Privatisierung, nämlich in dem der Kooperativen und Kleinunternehmen sind vergleichbare Phänomene der Orientierung auf den Staat zu beobachten, nachdem es dort ganz anders begonnen hatte. Schon Ende der Achtziger, vermehrt nach dem Einsetzen der Schockprivatisierung 1991 machten sich Kooperativen auf, um den zusammenbrechenden staatlichen Dienstleistungsbereich durch private Initiative zu ersetzen. Ein Beispiel unter Tausenden ist die „Klinik 2000“ in Nowosibirsk. Drei Frauen waren die Initiatorinnen; sehr bald schon hatte sich eine Kooperative von über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefunden, die ein privates psychotherapeutisches Ambulatorium gründeten:

B: O-Ton 16: Klinik 2000            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Methoden der Laser-Akupunktur sind Mitarbeiter der Klinik unterwegs, um Trinker, Fettleibige und Raucher in öffentlichen Zusammenkünften mit anschließender Einzelbehandlung von ihrer Sucht zu heilen. Heut arbeitet man im Kulturhaus von Borodino in der Region Krasnojarsk; morgen ist es Tomsk, Omsk, Wladiwostok oder Perm. Was früher von staatlicher Gesundheitspolitik abgedeckt wurde ist für ein paar Jahre Domäne privaten Engagements. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber schon seit Mitte der 90er werden die Grenzen sichtbar. Steigende Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne führen zu sinkenden Teilnehmerzahlen bei den Sitzungen. Die Steuern steigen; jede Region, jeder Ort verlangt darüberhinaus eigene Lizenzen, kassiert eigene Gebühren, eigene Steuern. Die Preise für Bahn, Bus und Flugzeug, ohne welche die Einsätze über Land nicht möglich sind, steigen unaufhörlich. Im Sommer 1996, zurück aus Belowo, einer der Kohlestädte des Kusbass, in der die Kooperative seit 1991 kontinuierlich tätig war, muß Irina, eine der Ärztinnen, ihre Kolleginnen und Kollegen mit schlechten Nachrichten konfrontieren:

O-Ton 17: Klinik 2000, Forts.        0,38
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Übersetzerin:
„Dwa iswestije…
„Zwei Neuigkeiten gibt es. Erstens: Von den fünf Schächten der Stadt sollen drei demnächst geschlossen werden. Das bedeutet: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, viele Leute wollen zu uns, weil wohl zuerst die Trinker entlassen werden. Die andere Nachricht ist: Seit mehr als drei Monaten haben die Bergleute keinen Lohn mehr bekommen und man hat ihnen gesagt, daß auch für die kommenden Monate keiner in Aussicht steht. Das heißt, sie haben kein Geld und werden darum nicht zu uns kommen können.“

Erzähler:
Das ist das Aus für die ambulante Überlandpraxis. Es bleibt zunächst die städtische Klientel, die sogannte Mittelschicht, die sich im Privatisierungsboom seit 1991 gebildet hat. Mit dem Bankenkrach vom August 1998 bricht auch diese Schicht weg. Die Kooperative ist nun auf die Nachsicht der Bürokratie. Zum Beispiel in Steuerangelegenheiten, und auf Zusammenarbeit mit dem staatlichen Gesundheitsbereich angewiesen, um zu überleben.
Ähnlich geht es dem ganzen Bereich: Dienstleistungsbetriebe wie die „Klinik 2000“, private Initiativen jeglicher Art, selbst junge Geschäftsleute sehen sich gezwungen, wieder unter ein staatliches oder quasistaatliches Dach zu flüchten. In Nowosibirsk zum Beispiel firmiert es inzwischen unter der Bezeichnung „Verwaltungsabteilung zur Herstellung von Verbindungen zu Organisationen des Dritten Sektors.“ Dritter Sektor heißt in Rußland heute jener Bereich, der sich zwischen Staat und „Bisness“ organisiert hat und den staatliche Stellen im Interesse sozialer Stabilisierung unter Kontrolle zu nehmen versuchen. Der Leiter dieser Abteilung, Georgi Tschulinin, ist weit entfernt davon, in der aktuellen Entwicklung etwas Negatives zu sehen:

B: O-Ton 18:  Abteilung für 3. Sektor in Nowosibirsk         0,25
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Übersetzer:
„Ja dumaju, schto..
„Ich glaube, daß der Dritte Sektor, von dem einige meinen, er habe mit Politik nichts zu tun, ganz im Gegenteil höchste Politik ist. Da geht es nämlich um den schrittweisen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft; da geht es nicht nur um die Ergreifung der Macht, nicht nur um privates `Bisness´, da geht es um Interessen der ganzen Gemeinschaft. “

Erzähler:
Über eintausend Organisationen – politische, kulturelle und wirtschaftliche – seien schon erfaßt, schwärmt Herr Tschulinin. Frau Natalja Dimitriewa, die sich als Verbindungsglied zwischen Verwaltung und aktiven Frauen des dritten Sektors begreift – dabei sehr auf ihre Basisbezogenheit pocht – spricht sogar von einer Wiedergeburt traditioneller kollektiver Strukturen im neuen Gewande:

A: O-Ton  19: Frau Dimitriewa             1,20
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„Ja, tolka magu schto skasats…
„Ich möchte es einmal so sagen: die Formen des Gemeinschaftslebens, die wir in der sowjetischen Zeit hatten, haben uns natürlich das kollektive Arbeiten gelehrt, positiv wie negativ, aber vor allem das Gefühl vermittelt, daß es noch einen Nachbarn gibt. Das ist natürlich etwas sehr Gutes. Als dann das Fenster zum Westen aufgemacht wurde, zerfiel das alles. Aber es verschwand natürlich nicht einfach. Was gut daran war, das Gefühl eben, ein Zuhause zu haben, zusammenzugehören, das wollen wir natürlich bewahren; das wollen wir natürlich an unsere Kinder weitergeben. Dieser Wunsch nach etwas Verbindendem zwischen Politik und Geschäft, der spiegelt sich jetzt in diesem Dritten Sektor wieder.“

Erzähler:
All diese Vorgänge zeigen: Nach gut zehn Jahren anarchischer Privatisierung deutet sich ein Wiedererstarken staatlicher Strukturen an, aber nicht in der Form, wie es in der Sowjetunion üblich war. Etwas Neues entsteht, das sich mit vorsowjetischen Traditionen zu einer ungewöhnlichen Mischung verbindet – die man eine kollektive Privatisierung nennen könnte: Die Bauern öffnen sich für den Markt, aber produzieren und leben weiter in ihren dörflichen Gemeinschaften, ja, schließen sich nach vorübergehenden Experimenten als Privatbauern den Gemeinschaften wieder an. Industriebetriebe wurden privatisiert, die Einheit von Arbeit und außerbetrieblichem Leben aufgelöst. Die Mehrheit der Betriebskollektive, also Direktoren und Belegschaft gemeinsam, versteht sich heute aber als Notgemeinschaft, die zusammen mit örtlichen und regionalen Bürokratien nicht nur für die Produktion, sondern für das Überleben der von ihr abhängigen Bevölkerung zu sorgen hat. Ein Boom privater Organisationen entwickelte sich in der Versorgungs- und Freizeitlücke, die der Zusammenbruch der staatlichen Pyramide hinterließ, aber nicht Unabhängigkeit, sondern Kooperation mit den Behörden bestimmt ihre Entwicklung. Einen „nicht standardisierten Weg zum Kapitalismus“ nennt der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitski, ein Freund des Irkutsker Soziologen Oleg Woronin aus alten Perestroikatagen, diese Entwicklung und beschreibt sie mit den Worten:

B: O-Ton 22: Kagarlitzki             2.08
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Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geschieht? Alles wurde inzwischen privatisiert, nicht wahr? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe als Gemeinschaftsbesitz erneut zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Òbschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, entsteht aufs Neue, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in veränderter Form, in spontaner Weise, von der Not der Verhältnisse hervorgebracht. Die Betriebe befinden sich nun einmal in einer desolaten Situation – also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie erneut zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer und noch diese Initiative und jene Organisation und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen neuen, aber von unten legitimierten Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Das ist Selbstorganisation, allerdings nicht etwa der Massen, sondern der mittleren Bürokratie zusammen mit der örtlichen Intelligentia. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt von regionalen Bedingungen und von der politischen Entwicklung ab.“

Erzähler:
Entgegen den Erwartungen ihrer Befürworter führte die Privatisierung keineswegs zum sofortigen Zusammenbruch des sowjetischen Kollektivismus. Die Schwierigkeiten der Privatisierung ließen vielmehr ein Element der russischen Sozialverfassung wieder hervortreten, das weit hinter die Sowjetunion in die russische Geschichte zurückreicht, die Òbschtschina. Kagarlitzki erklärt, was darunter zu verstehen ist:

O-Ton 23: Kagarlitzki, Forts.
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Übersetzer:
„I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was war ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das war im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst war so organisiert. Für den Staat war das bequem. Was da entstand, war kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie – das gibt es sowieso nicht. Das war die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion, dies um so mehr als man darum herum auch wohnte: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. So war es und so ähnlich geht es heute bei uns weiter. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerlichen Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: Die Administration schaut auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“

Erzähler:
Rußland ist also dort wieder angekommen, von wo es bei Beginn der schnellen Privatisierung 1991, also beim Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin ausgegangen war – bei dem Versuch der schrittweisen Transformation seiner traditionellen Gemeinschaftsstrukturen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse Die Zerrüttung der Wirtschaft nach zehn Jahren anarchischer Beschleunigung der Umverteilung läßt heute keine andere Wahl mehr als diesen vorsichtigen Kurs. Kritiker der Schockprivatisierung forderten eine solche Rücksicht auf die gewachsenen Verhältnisse schon vor Jahren. So etwa der sibirische Ökologe Gennadij Schadrin, der bereits nach dem Scheitern der Landreform formulierte:

B- O-Ton 24: Schadrin            1,26
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Übersetzer:
„We nasche….
„In unserer neuen Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Das sollte auch nicht geändert werden. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:
Inzwischen sind solche Töne auch von denen zu hören, die bisher taub für die Rücksicht auf traditionelle Strukturen Rußlands waren. Nur ist in den neueren soziologischen Studien Rußlands, etwa solchen, die im Auftrag der russischen Zentralbank durchgeführt werden, nicht von „traditionellen Strukturen“ die Rede. Solche Formulierungen erfreuen sich unter Rußlands Modernisierern keiner besonderen Beliebtheit. Sie sprechen, ganz im Tenor westlicher Soziologie, von der notwendigen Berücksichtigung des „Humankapitals“. Wenn es aber darum geht zu erklären, worin dieses Kapital besteht, dann lautet das Stichwort dafür: Korporative Ethik. Korporative Ethik, erklärt Jussiv Diskin, der solche Studien für die Zentralbank durchführt, sei gegenwärtig das Schlüsselproblem für den Aufbau einer Marktwirtschaft in Rußland; ohne Beachtung der korporativen Ethik werde sich in Rußland nichts entwickeln. Gemeint ist auch bei ihm wieder die Verbindung von Staat und gewachsenen Gemeinschaftstrukturen, die in der Tradition der Òbschtschina stehen. In den bevorstehenden Wahlen wird darüber entschieden, ob und wie diese Verbindung zustandekommt. Es ist auch eine Entscheidung darüber, ob die weitere Kapitalisierung Rußlands schrittweise oder in der Form südamerikanischer Entwicklungsdiktaturen stattfinden wird.

Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen

Rußlands Krise fordert Lösungen. Seit dem Bankenkrach vom August letzten Jahres reden alle davon, daß Reformen in Rußland an den gewachsenen Strukturen ansetzen müssen. Auch auf westlicher Seite ist man zu neuen Einsichten gelangt. So erklärte Horst Köhler, Präsident der Ost-Europa-Bank, der Westen könne Marktwirtschaft und Demokratie nur dann auf Dauer in Rußland verwirklichen, wenn er sie in der Kultur, der Geschichte und in  den Traditionen des Landes verankere. Was sind diese traditionellen Strukturen? Wie wäre anzusetzen? Von den Auseinandersetzungen um diese Fragen soll in den folgenden dreißig Minuten die Rede sein.

A: O-Ton 1: Tusch, Straßenmusik                1,00
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Sprecher:
Stadtfest im sibirischen Irkutsk. Die Stadt erinnert sich ihrer Geschichte, die mit der Erschließung des Landes durch unabhängige Kaufleute im 16. Jahrhundert begann. Man ist stolz auf diese freie Tradition. Selbst im Freilichtprogramm fehlt der Hinweis auf Sibiriens besondere Rolle nicht. Sibirien bleibe ein Zentrum des wirtschaftlichen Aufbaus für Rußland, verkündet der Animateur. Begeistert fällt sein Auditorium ein.

Regie: hochziehen, abblenden

Sprecher:
Am Rande des Volksfestes treffen sich Soziologen, Politologen und unabhängige Geschäftsleute mit Vertretern der regionalen Bürokratie zu einer Beratung über die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des nach ihr benannten Verwaltungsbezirks:

B: O-Ton 2: Versammlung in Irkutsk                0,56
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Erzähler:
„Na uriwinje antimoskowskowo…
„Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die verhandelt wird. Einer der Anwesenden, Oleg Woronin, ehemaliger Aktivist der Perestroika, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und zugleich erfolgreicher Geschäftsmann, spricht unter dem Thema: „Kompromiß als Weg“.  Ohne Mikrofon, heftig und mit oft überkippender Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Konkurrenz der Moskauer Finanzclans für den Aufbau der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab zur Unterstützung der örtlichen und regionalen Bürokratie will man bilden, der den regionalen Beamten zur Hand gehen soll.
Nach der Veranstaltung erläutert der akademische Neuunternehmer, was er unter „Kompromiß als Weg“ versteht:

A: O-Ton  3: Oleg Woronin            0,54
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Übersetzung:
„Nu, ä, smisle dakladow…
„Nun, was ist der Gedanke des Vortrags? Ich denke schon lange und sehe es immer mehr so, daß die marxistischen Termini auf Rußland nicht zutreffen. Die Aufteilung in Klassen korrespondierte nicht mit der Realität, wie wir Soziologen sagen. Als Ergebnis der Stalinzeit hatten wir vielmehr, abgesehen von der Nomenklatura, eine destrukturierte, eine amorphe Gesellschaft. Reale, klar abgegrenzte soziale Strukturen gab es nicht; sie veränderten sich zu Quasi-Strukturen, die den von der Partei gezogenen Privilegiengrenzen folgten. Jetzt geht es darum, wie eine Wiedergeburt sozialer Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft erfolgen kann. Die grundlegenden Strukturierungen gehen natürlich in der Elite vor sich; das ist die finanzindustrielle Elite, die Unternehmerlite usw. In der Bildung der großen, korporativen Monopole von der Art Gasproms, von der Art des russischen oder des Irkutsker Energieverbunds und anderer bilden sich die Strukturierungen mittelfristiger wirtschaftlicher Interessen.“

Erzähler:
Gut zwei Dutzend solcher Industrie-Finanzgruppen sieht Oleg Woronin im heutigen Rußland miteinander darum kämpfen, wie die russische Torte endgültig aufgeteilt wird. Aber nicht große Privateigentümer sieht er an deren Spitze, sondern Top-Manager, die ihren Unternehmen als kollektivem sozialem Körper verpflichtet sind. Von der Gemeinschaft losgelöste Privatinteressen, so Oleg Woronin, hätten dort keinen Platz; vielmehr gehe es um die Schaffung arbeitsfähiger Großstrukturen. Dauerhaft könne das nur entlang grundlegender sozialer Interessen geschehen:

B: O-Ton 4: Forts. Woronin                 1,15
Regie: Ton stehen lassen, abblenden

Übersetzung:
„Wosnawnoi takoi obsche smisl…
„Kern ist dabei heute der Kampf um die reicheren, mehr Perspektive aufweisenden Unternehmen der Region. Aber das ist nur der erste Schritt. Die Kontrolle konnte man sich leicht aneignen. Die Frage ist jetzt, wie können diese Betriebe arbeiten, insofern die Mehrheit von ihnen moralisch und physisch überaltert ist und, was die Hauptsache ist, über keinerlei Investitionsmittel verfügt? Die Banken fordern Rationalisierungen: Das bedeutet Einsparung des Personals, Abbau sozialer Strukturen wie Kindergärten, Kinderclubs, Lager für Kinder, Krankenhäuser usw. Alles, was früher die Unternehmen aus ihrem Gewinn unterhielten, wird jetzt den Gemeindebudgets zugeschoben. Die haben aber kein Geld; Das heißt, der frühere Dienstleistungssektor wird praktisch der Vernichtung anheimgegeben, er bricht vollkommen zusammen. Einen Ersatz gibt es nicht. Ohne ein Minimum an sozialer Versorgung sind die Belegschaften aber nicht zu effektiver Arbeit zu motivieren. Infolgedessen beginnen die Betriebe selbst mit dem Wiederaufbau sozialer Strukturen bis hin zu betrieblichen Rentenversorgungen. Selbst neue Gewerkschaften werden von Seiten der neuen Unternehmer organisiert und finanziert.“

Erzähler:
Hier will Woronin seinen Weg beginnen. Es gelte, die Konkurrenz der Moskauer Oligarchen für den Aufbau örtlicher und regionaler Strukturen zu nutzen.

A: O-Ton 5: Oleg Woronin, Forts.            1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Wapros w tom, kakije….
„Die Frage ist allein, wie? Wie werden die Interessen organisiert? Da sehe ich folgende Möglichkeiten, die man auch schon an vielen Orten beobachten kann: alle Betriebe zweigen eine begrenzte Summe Geldes aus ihren Mitteln ab zur Gründung eines oder auch mehrerer öffentlicher Fonds des Regierungsbezirkes. Aus diesem Fond teilt die Verwaltung aus; das mag zwar nicht besonders demokratisch scheinen, es geschieht aber in Absprache mit den Betrieben, die das Geld geben. Das Geld geht als Subvention in die Landwirtschaft, und zwar nicht in die Unterstützung einzelner Betriebe, sondern in den Aufbau von Infrastrukturen, also in den Wegebau, in höhere technologische Bedingungen, in Ausrüstungen etc. Das ist ja ein fürchterliches Problem im heutigen Rußland, daß die technischen Ausrüstungen vor Ort ausfallen. Im Gegenzug bieten die landwirtschaftlichen Betriebe, die kein Geld haben, ihre Produkte in den Städten der Region billiger an als in anderen Regionen. So entwickelt sich der Aufbau nach den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe im gegenseitigen Interesse.“

Erzähler:
Was in Irkutsk heute zutage tritt, hat sich schon länger im Lande vorbereitet. In der Landwirtschaft war die Privatisierung bereits ein Jahr nach ihrem Einsetzen ins Stocken gekommen. Die Gründung von 400.000 privaten Höfen hatte die Regierung Jelzin für Ende 1992 in Aussicht gestellt; es wurden 180.000; bereits 1993 stagnierte ihre Zahl bei 270.000. Die angekündigte Umwandlung der Kolchosen in Aktiengesellschaften war zwar Ende 1993 nahezu vollzogen; die landwirtschaftliche Produktion aber sank Jahr für Jahr zunehmend. 1994 arbeitete mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe bereits mit Verlust; die Zahl der privaten Höfe war rückläufig. Selbst früher gesunde Betriebe gerieten in die roten Zahlen. So etwa die ehemalige Mustersowchose Tulinskaja im sibirischen Gebiet Nowosibirsk. Wassili Horn, ihr Direktor, erklärt seinem anreisenden westlichen Gast, was geschah:

B: O-Ton 6: Direktor Horn            1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, bil sowchos, stal…
„Nun, sie war eine Sowchose, nun ist sie eine Aktengesellschaft. Kern der AG ist die kollektive Wirtschaft wie vorher auch, aber das Eigentum ist in die Hände der Aktionäre übergegangen. Sie ist kein staatliches Unternehmen mehr, sondern ein privates, jeder hat seinen Anteil vom Vermögen bekommen, vom Land. Es ist alles normal: Gewählt wurde eine Verwaltung, gewählt wurde ein Sowjet; das Problem ist nur, daß die Leute sich nicht als Eigentümer fühlen. Und was ist das Ergebnis? Unzuverlässigkeit, Veruntreuung, Diebstahl! Und dann gibt es die, die man überhaupt vergessen kann, die einfach nur auf Kosten der anderen leben wollen, saufen, klauen, sich vergnügen. Wohin heute mit denen? Früher hatten wir Regeln, wir hatten unsere Arbeitsmoral. Heut gilt: Jeder für sich, wir haben keine gesetzliche Befugnis mehr. Ich bin Chef, dann gibt es noch den Administrator. Wir sollen entscheiden, sollen alles am Laufen halten, aber wie, wenn es keine Basis, keine Gemeinschaft mehr gibt?“

Sprecher:
Die Umverteilung blieb formal, aber die soziale Destabilisierung nahm kriminelle Ausmaße an; aus der Mustersowchose wurde ein Pleitebetrieb. Auch von Demokratie keine Spur. Die Stimmung des Administrators, dem Vertreter der staatlichen Macht im Bereich der sieben Dörfer von Tulinskaja steht auf dem Tiefpunkt:

A: O-Ton 7: Administrator, Tulinskaja        0,30
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Demokratia, o kotorim mi goworim…
„Die Demokratie, von der so viele Jahre gesprochen wird – in meinen Augen ist das Anarchie: Keine Gesetze! Als gebildeter Mensch bin ich für Kultur, Bildung, Glück, Gewissen. Nur dann funktioniert Demokratie. Bei uns sehe ich soetwas nicht.“

Erzähler:
Für seine Alternative braucht der Administrator nur ein Wort:

B: O-Ton 8: Administrator, Forts.
Regie: O-Ton ohne Übersetzung stehen lassen                              0,01

„Diktatura… (nicht übersetzt)

A: O-Ton 9: Ankunft in der Molkerei                 0,48
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…
Molkerei.  Früher eine der wichtigen Einnahmequellen der Sowchose; jetzt produziert man gerade eben noch für den Eigenbedarf. Der Unmut ist unüberhörbar:

O-Ton 10: Molkerei, Forts.                           1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler hochziehen

Erzähler::
„Nelsja bila, swjo…
„Es war nicht richtig“, meint diese Frau, „das Alte so mit Gewalt umzustürzen.“

Übersetzerin:
„Man hätte das Neue auf der Grundlage des Alten einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch Bauern bei uns geben oder sonst irgendwelche privaten Arbeiten, das müßte einfach parallel laufen. Aber hier haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler:
Von der Reform der Selbstverwaltung, mit der die Regierung die aufgelösten Sowjetstrukturen ersetzen möchte, will man im Alltag nichts wissen: Wie das denn aussehen solle, fragt eine Frau. Früher habe es die Familie gegeben, wirft eine andere ein. Früher habe man sich dem Ältesten untergeordnet. Früher habe man einander geholfen. Aber jetzt? Freiheit sei gut, aber ein Betrieb brauche ein gutes Kollektiv und starke Hand, darin sind alle einig. Sonst versinke alles im Chaos und Rußland zerfalle.

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Auf dem Lande war damit bereits 1994 klar, daß die Überführung der kollektiven landwirtschaftichen Strukturen in privatwirtschaftliche nicht ohne Weiteres möglich sein würde. Im produktiven Bereich ist es nicht viel anders. Auch hier wurde die Privatisierung von den bestehenden betrieblichen Strukturen relativiert. Im Programm Jegor Gaidars von 1991 war vorgesehen, daß die Betriebskollektive, das hieß, eine mögliche Einheit von Leitung und Belegschaft, unter keinen Umständen in den Besitz von Mehrheitspaketen der in Aktiengesellschaften umgewandelten Betriebe kommen sollten. Für Spitzenbetriebe war dies durchsetzbar, weil sich genügend außerbetriebliche und auch ausländische Interessenten fanden; die Masse der nicht so profitablen, erst recht der bankrotten Betriebe aber blieb auch als Aktiengesellschaft in der Hand der Betriebskollektive, die versuchten, irgendwie durchzukommen. Die meisten dümpelten so vor sich hin; einige sind dabei ganz erfolgreich. So ein Fall ist die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk. Sie wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wie alle Betriebe; dennoch tritt die Belegschaft heute als stolzes Kollektiv auf:

A: O-Ton 11: Kollektiv der Eisenbetonfabrik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden         0,17

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 12: Eisenbetonfabrik, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden          1,39

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur etwas versprechen und dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deswegen ist die Stimmung bei uns im Allgemeinen sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über zwölf Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
A: O-Ton 13: Kollektiv, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden        1,38

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb in unserer Region, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Hier wird rechtzeitig gezahlt, hier wird Krankengeld gezahlt, Essen usw. Bei uns gibt es kostenlos Milch, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus in unserem Land gab, und die gab es, die haben wir jetzt um so besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. Ist also alles beim Alten geblieben? Aber nein, keineswegs, antwortet die Kollegin. Da gebe es einen entscheidenden Unterschied:

B: O-Ton 14: Kollektiv, Forts.         2,11
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.“

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten Anteile zwischen ein bis drei Prozent pro Person. Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet der Aktionäre: Er hat neun Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht zur Zeit individuell davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
Die Eisenbetonfarbrik Nr. 4 ist als Musterbetrieb, der die Öffnung für die Marktwirtschaft mit dem Bemühen um soziale Betriebspolitik verbindet, seit 1991 mehrfach ausgezeichnet worden. Für andere Betriebe ist sie ein Vorbild, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkungen: Viktor Schmid, Direktor der Krasnojarsker Waldmaschinienfabrik, erklärt, nachdem die Eisenfabrik als Modell in höchsten Tönen gelobt hat:

A: O-Ton 15: Direktor Schmidt             0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“ My etawa nje djelajem…
„Wir machen es nicht so, weil das allgemeine Niveau unseres Alltags das nicht zuläßt. Man könnte es tun, aber dann gäbe es da eine Fabrik, die gut lebt. So nicht! Es ist offensichtlich, daß es nur geht, wenn dieses Modell allgemeine Linie wäre; es muß ein staatliches Programm geben. Wir Direktoren sind ja keine Dummköpfe, wir wissen doch, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie profitabel arbeiten. Aber wohin mit den anderen? Sie werden vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben; sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…widemo gossudarstwo

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Erzähler:
Solche Programme, die Privatisierung und soziale Garantien miteinander verbinden, werden die Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen zur Duma und in denen für einen neuen Präsidenten vorlegen müssen. Selbst im privatesten Bereich der Privatisierung, nämlich in dem der Kooperativen und Kleinunternehmen sind vergleichbare Phänomene zu beobachten, nach es dort ganz anders begonnen hatte. Schon Ende der Achtziger, vermehrt nach dem Umsturz 1991 machten sich Kooperativen auf, um den zusammenbrechenden staatlichen Dienstleistungsbereich durch private Initiative zu ersetzen. Ein Beipiel unter Tausenden ist die „Klinik 2000“ in Nowosibirsk. Drei Frauen waren die Initiatorinnen; sehr bald schon hatte sich eine Kooperative von über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefunden, die ein privates psychotherapeutisches Ambulatorium gründeten:

B: O-Ton 16: Klinik 2000            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Methoden der Laserakupunktur sind Mitarbeiter der Klinik unterwegs, um Trinker, Fettleibige und Raucher in öffentlichen Sceancen mit anschließender Einzelbehandlung von ihrer Sucht zu heilen. Heut arbeitet man im Kulturhaus von Borodino in der Region Krasnojarsk; morgen ist es Tomsk, Omsk, der Wladiwostok oder Perm. Was früher von staatlicher Gesundheitspolitik abgedeckt wurde ist für ein paar Jahre Domäne privaten Engagements. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber schon Mitte der 90er werden die Grenzen sichtbar. Steigende Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne führen zu sinkenden Teilnehmerzahlen bei den Sceancen. Die Steuern steigen, vervielfacht durch die Föderalisierung, ins Unübersehbare. Parallel dazu schreitet die Regionalisierung vor Ort voran; jede Region, jeder Ort verlangt eigene Lizenzen, kassiert eigene Gebühren, eigene Steuern. Die Preise für Bahn, Bus und Flugzeug, ohne welche die Einsätze über Land nicht möglich sind, explodieren. Im Sommer 96 schlägt die Krise erstmals voll durch. Zurück aus Belowo, einer der Kohlestädte des Kusbass, in der die Kooperative seit 1991 kontinuierlich tätig war, muß Irina, eine der Ärztinnen, ihre Kolleginnen und Kollegen mit der Mitteilung konfrontieren:

O-Ton 17: Klinik 2000, Forts.        0,38
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Dwa iswestije…
„Zwei Neuigkeiten gibt es. Erstens: Von den fünf Schächten der Stadt sollen drei demnächst geschlossen werden. Das bedeutet: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, viele Leute wollen zu uns, weil wohl zuerst die Trinker entlassen werden. Die andere Nachricht ist: Seit mehr als drei Monaten haben die Bergleute keinen Lohn mehr bekommen und man hat ihnen gesagt, daß auch für die kommenden Monate keiner in Aussicht steht. Das heißt, sie haben kein Geld und es wird niemand kommen.“

Erzähler:
Das war das Aus für die ambulante Überlandpraxis. Es blieb das städtische Klientel, die sogannte Mittelschicht, die sich im Privatisierungsboom seit 1991 gebildet hat. Mit dem Bankenkrach vom August  brach auch diese Schicht weg. Die Kooperative muß auf Beratungstätigkeiten ausweichen, um zu überleben. Ähnlich geht es dem ganzen Bereich: Dienstleistungsbetriebe wie die „Klinik 2000“, private Initiativen jeglicher Art, NGOs, selbst junge Geschäftsleute sehen sich gezwungen, wieder unter ein staatliches oder quasistaatliches Dach zu flüchten. In Nowosbirsk firmiert das inzwischen unter der Bezeichnung „Verwaltungsabteilung zur Herstellung von Verbindungen zu Organisationen des Dritten Sektors.“
Der Leiter dieser Abteilung, Georgi Tschulinin, ist allerdings weit entfernt davon, in dieser Entwicklung etwas Negatives zu sehen:

B: O-Ton 18:  Abteilung für 3. Sektor in Nowosibirsk         0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Ja dumaju, schto..
„Ich glaube, daß der dritte Sektor, von dem einige meinen, er habe mit Politik nichts zu tun, ganz im Gegenteil höchste Politik ist. Da geht es nämlich um den schrittweisen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft; da geht es nicht nur um die Ergreifung der Macht, nicht nur um privates busyness, da geht es um Interessen der ganzen Gemeinschaft. “

Erzähler:
Über eintausend NGOs, Initiativen, Kooperativen, Bewegungen seien schon erfaßt, schwärmt Herr Tschulinin, politische, kulturelle und auch wirtschaftliche. Frau Natalja Dimitriewa, die sich als Verbindungsglied zwischen Verwaltung und aktiven Frauen begreift, dabei sehr auf ihre Basisbezogenheit pocht, spricht sogar von einer Wiedergeburt traditioneller kollektiver Strukturen im neuen Gewande:

A: O-Ton  19: Frau Dimitriewa             1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

„Ja, tolka magu schto skasats…
„Ich möchte es einmal so sagen: die Formen des Gemeinschaftslebens, die wir in der sowjetischen Zeit hatten, haben uns natürlich das kollektive Arbeiten gelehrt, positiv wie negativ, aber vor allem das Gefühl vermittelz       , das es noch einen Nachbarn gibt. Das ist natürlich etwas sehr Gutes. Als dann das Fenster zum Westen aufgemacht wurde, zerfiel das alles. Aber es verschwand natürlich nicht einfach. Was gut daran war, das Gefühl eben, ein Zuhause zu haben, zusammenzugehören, das wollen wir natürlich bewahren; das wollen wir natürlich an unsere Kinder weitergeben. Dieser Wunsch nach etwas Verbindendem zwischen Politik und Geschäft, der spiegelt sich jetzt in diesem dritten Sektor wieder.“

Erzähler:
Nikolai Jakimow, Student der Informatik, versteht sich als Koodinator des Jugendbereichs in diesen neuen Sektor. Er läßt sich, nach vehementer Abgrenzung von jeglichem Dirigsmus, bei der Frage, wie er zu den Komsomolzen, also der ehemaligen kommunistischen Jugendorganisation, stehe, schließlich sogar zu dem Zugeständnis verleiten:

B: O-Ton 20 Jugendkoordinator            0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„To, schto bila w komsomole…
„Ich selbst hab mit den Komsomolzen nicht mehr viel zu tun gehabt, aber unsere Organisation tritt heute faktisch in die Fußstapfen des Komsomol. Wir organisieren ja nahezu denselben Bereich, wir arbeiten nach denselben Methoden, wir haben einige Übertritte, vor allem in den kleineren Städten; wir haben die Anlagen, vor allem auch die Computer von ihnen übernommen – der Unterschied ist eigentlich nur, daß wir keine staatliche Organisation sind und die wichtigsten Entscheidungen zweitens in der Regel von den Jugendlichen selbst getroffen werden.“

Erzähler:
Nägel mit ganz harten Köpfen versucht man in Krasnojarsk zu machen. Dort haben vermögende Jungunternehmer, denen ihre Herkunft aus dem halblegalen Busyness noch anzusehen ist, eine Lebed-Jugend gegründet. Ihre Ziele erläutert Nikolai Werner, Gründer und Chef der Organisation, fünfunddreißig Jahre alt, so:

A: O-Ton 21: Lebed-Jugend            0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mi natschinajem…
„Wir beginnen aus eigenen Mitteln. Unser Ziel ist es, die Jugend aus den Fängen der Sucht und des Verbrechens zu befreien, ihr Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu zeigen und sie wieder an geistige Werte, vor allem russische Kultur heranzuführen. Wir fragen heut nicht, wir machen Vorschläge, was man tun kann. Wir schlagen vor, der Schmied des eigenen Glückes zu werden“
..mechka gaworja.“

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
All diese Vorgänge zeigen: Etwas Neues ist entstanden, das sich mit Altem zu einer ungewöhnlichen Mischung verbindet – Initiaven von unten, die von oben verwaltet werden. Das ist die Wiedererstarkung staatlicher Strukturen, aber nicht in der alten Form. Einen „nicht standartisierten Weg“ nennt der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitski, ein Freund Oleg Woronins aus alten Perstroikatagen, diese Entwicklung und beschreibt sie mit den Worten:

B: O-Ton 22: Kagarlitzki             2.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geht ungefähr vor? Alles wurde inzwischen privatisiert, nicht? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe vor Ort neu als Gemeinschaftsbesitz zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Obschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in neuer Form, in spontaner Weise, von der Not der Verhältnisse hervorgebracht. Die Betriebe befinden sich nun einmal in dieser desolaten Situation – also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie in dieser Weise erneut zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer und noch diese Initiative und jene Organisation und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen ganzen kleinen neuen, aber von unten legitimierten Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Das ist Selbstorganisation des Korporativismus, allerdings nicht etwa der Massen, sondern der mittleren Bürokratie zusammen mit der örtlichen Intelligentia. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt vom Herankommen und von der politischen Entwicklung ab.“

Erzähler:
Für Westler, die sich unter einer „rekonstruierten Obschtschina“ nicht recht etwas vorzu stellen vermögen, ergänzt Kagarlitzki:

O-Ton 23: Kagarlitzki, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden         1,30

Übersetzer:
„I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“

Erzähler:
Damit ist Rußland bei dem wieder angekommen, von dem es bei Beginn der schnellen Privatisierung, also beim Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin 1991 ausgegangen war – bei der schrittweisen Transformation seiner traditionellen Gemeinschaftsstrukturen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse. Kritiker der Schockprivatisierung forderten diese Vorsicht bereits vor Jahren. So etwa der sibirische Ökologe Gennadij Schadrin, der bereits nach dem Scheitern der Landreform formulierte:

B- O-Ton 24: Schadrin            1,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„We nasche….
„In unserer neuen Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:
Aber auch westliche Analytiker hatten durchaus schon früh erkannt, woran anzuknüpfen sei. So schlug eine innerhalb der Treuhand erstellte so benannte Gegenstudie schon 1992 unter dem Leitgedanken einer „Reform aus eigener Kraft“ eine, wie es dort hieß, „Mobilisierung des Humankapitals “ vor. Die Mobilisierung sollte sich auf der Linie einer „Unternehmensselbststeuerung“ bewegen. Damit war eben das gemeint, von dem auch die russischen Kritiker sprechen, nämlich:

Zitator:
„Kernzelle der neuen Unternehmensselbststeuerung als neuer Organisationstyp bleiben Betriebskollektiv und Brigaden in Fortführung der Tradition der „obschtschina“ und der ehemals sozialistischen Brigaden, allerdings eingebettet in einer verändertern produktbezogenen Arbeitsorganisation mit Gruppenarbeit, Gruppenverantwortung, möglichst ganzheitliche produktbezogene Arbeitsabschnitte, weitgehend selbststeuernde Teilsysteme, optimale Kooperationen.“

Erzähler:
Dieses Konzept wurde wie alle anderen möglichen Alternativen von der realen Schocktherapie beiseitegefegt. Neuerdings aber sind auch bei denen, die bisher taub für die Rücksicht auf traditionelle Strukturen Rußlands waren, andere Töne zu hören. So bei Jussif Diskisn, einem Soziologen, der im Auftrag der russischen Zentralbank die sozialen Bewegungen in Rußland erforscht. Bei ihm avanciert die Berücksichtigung des Humankapitals, von ihm soziales Kapital genannt, nicht nur zum Eckpunkt aller weiteren Reformen In Rußland, er erklärt zudem noch, welche Besonderheiten in dieser Hinsicht zukünftig zu beachten seien:

A: O-Ton 25: Diskin        1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nazionalni sozialni Kapital…
„Nationales soziales Kapital setzt sich woraus zusammen? Erstens daraus, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Regulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, sich es auch nicht die hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem für den Aufbau einer Marktwirtschaft in Rußland; ohne Beachtung der krporativen Ethik läuft bei uns nichts.“

Erzähler:
Da ist er, jetzt auch auf analytischem Niveau, der von Oleg Woronin in der Irkutsker Versammlung geforderte „Kompromiß als Weg“. Wenn solche Einsichten auch Eingang in westliches Denken finden, besteht die Chance, daß Rußland, und dies mit Unterstützung des Westens, endlich seine eigenen Kräfte entfalten kann, statt westlichen Vorgaben hoffnungslos hinterherzulaufen. Das wäre der Beginn einer Reformpolitik, die diesen Namen verdient hat.

Nach dem Bankenkrach: Das andere Rußlandbild – Rußland wieder kreditwürdig?

Mit dem Bankenkrach vom Herbst letzten Jahres schien Rußland am Ende. Kredite wurden gesperrt, westliche Investoren zogen sich zurück. Vor ein paar Wochen wurde Rußland als die Nummer Acht in die G-7, die Gemeinschaft der sieben größten Industrienationen aufgenommen. Die Sieben verpflichteten sich, Rußland bei der anstehenden Zahlung von 100 Milliarden Dollar Altschulden aus sowjetischer Zeit zu entlasten; der Internationale Währungsfonds erklärte sich darüberhinaus bereit, lange zurückgehaltene Kredite in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar auszuzahlen. Was ist geschehen? Ist dies ein Zuckerbrot für Rußlands Wohlverhalten im Krieg um das Kosovo? Oder ist Rußland entgegen allen Erwartungen wieder kreditwürdig?

O-Ton 1 (gesonderter Bobby): Musik, tak, tak, tak…
12 A 634 bis 645 …Schnitt .. bis B 204

Regie: Ton bis zu Sprecherin frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, danach zwischendurch hochziehen, zum Schluß langsam hochkommen lassen, verblenden

Erzähler:
Eine erste Antwort auf diese Frage geben die traditionellen Aktivitäten am 1. Mai dieses Jahres. Rund 500.000 Menschen haben die Korrespondenten landesweit auf den Straßen gezählt. Für russische Verhältnisse sind das wenige. Alles blieb ruhig – keine Zusammenstöße, keine Besetzungen, keine Hungerstreiks wie in den Vorjahren. Viele Menschen zogen es vor, auf die Datschen zu fahren, um ihre Gärten zu bestellen.
Einig ist man sich nur im Protest gegen den Krieg in Jugoslawien; im Übrigen gab es getrennte Märsche und Veranstaltungen. Durch Moskau zogen zwei Demonstrationen. Ca. 20.000, vor allem ältere Menschen folgten den Fahnen der Kommunisten. Sie forderten, wie schon seit Jahren, den Rücktritt Jelzins, der mit der Zerstörung der Sowjetunion den Balkankrieg erst ermöglicht habe.
Wesentlich mehr, vor allem aber jüngere Menschen haben sich an dem Zug beteiligt, zu dem die Moskauer freien Gewerkschaften im Bündnis mit Bürgermeister Juri Luschkow aufgerufen haben. Dort ging es unpolitischer, dafür aber handfester zu: Forderung nach Lohnerhöhungen, nach Senkung der Steuern, nach Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für geregelte Arbeit stehen im Mittelpunkt. Bürgermeister Luschkow, der sich bereits auf den Wahlkampf um die Nachfolge des jetzigen Präsidenten vorbereitet, hat sich an mit einer Rede höchstpersönlich an die Spitze der Kundgebung gesetzt:

O-Ton 2: Bobby 2: Bürgermeister Luschkow
Regie: Verblenden, TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladewitzja.“

Erzähler:
Juri Luschkows Ermahnungen erinnern an Michail Gorbatschows Aufrufe aus den frühen Tagen der Perestroika. „Schaffen! Schaffen! Schaffen!“ lautete eine der zentralen Parolen, mit denen Gorbatschow seinerzeit die Bevölkerung zum Einsatz für die gewünschte sozial-ökonomische Beschleunigung anfeuern wollte.
Luschkows Bündnispartner, Michail Nagaitzew, der Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaften greift diese Töne auf. Nagaitzev war radikaldemokratischer Aktivist der Perestroika. Nach Jelzins sogenannter demokratischer Revolution war er Mitglied der oppositionellen „Partei der Arbeit“ und bis zum Bankenkrach scharfer Kritiker der forcierten Privatisierung, deren Ergebnisse er als kriminell verurteilte. Heute ist Nagaitzev Mitglied in der von Juri Luschkow gegründeten Wahlbewegung „Otetschestwo“, Vaterland, und hat mit dem Bürgermeister einen Stabilitätspakt, ein Bündnis für Arbeit geschlossen. Den Bankenkrach vom August letzten Jahres versteht der Gewerkschafter weniger als das Ende denn als den Anfang einer Entwicklung. Zwar habe der Krach die allgemeine Armut in Rußland erhöht, erklärt er:

O-Ton 3: Michael Nagaitzev
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Die Preise für Importware stiegen. Als Ergebnis wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Deren Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann noch Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Vor dem Krach lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Bemerkenswert findet Präsident Nagaitzew vor allem, daß dies alles habe geschehen können, obwohl die Zentral-Regierung nach dem Krach praktisch nichts zur Stärkung der Wirtschaft unternommen habe:

O-Ton 4: Nagaitzew, Forts.     7,A,628 – 638
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Die Leute fingen einfach an selbst zu suchen: Produzenten, Nischen, Märkte. Sie zogen die Wirtschaft wieder hoch, obwohl das Banksystem noch immer daniederliegt; es gingen ja ungefähr siebenhundert Banken zugrunde und es folgen immer noch welche.  … 635 Aber es scheint, als hätten die Menschen in den letzten zehn Jahren doch etwas gelernt: Sie lernten vom Staat unabhängig, wenigstens unabhängiger als früher zu sein. Das ist ein Fakt.“
…gossudarstwo, eta sowerschenneje realnost.“

Erzähler:
Besonders in Moskau sei diese Entwicklung zu beobachten, erklärt Nagaitzev. Dazu habe das Bündnis für Arbeit nicht wenig beigetragen. Stolz verweist Nagaitzev auf das, was in Moskau in Zusammenarbeit zwischen ihm und Bürgermeister Luschkow in den letzten Jahren geschafft worden sei:

O-Ton  5: Nagaitzew Forts.     7; B, 29
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Moskwa raswiwalas po…
„Moskau entwickelte sich wirtschaftlich anders; Moskau entwickelte sich nach einem anderen Modell; im Unterschied zu den Modellen, die von Tschubajs, Gajdar und anderen vorgeschlagen wurden. Luschkow erhielt die Erlaubnis des Präsidenten, einen eigenen Moskauer Weg bei der Privatisierung zu gehen. Hier in Moskau wurde Eigentum nur für reales Geld verkauft. Und nicht alles wurde verkauft, verkauft wurde nur da, wo es Sinn machte, nur da, wo es einen realen Eigentümer gab, der besser zu arbeiten verstand als die vorherigen. Deshalb ist die Wirtschaft  Moskaus trotz des tiefen Einbruchs nach dem 17.8.1998 im Halbjahr danach um 8% gewachsen.“
…apjat wychaditj.“

Erzähler:
Durch das Bündnis für Arbeit, so Nagaitzev, wurden Rahmenbedingungen geschaffen. Die Stadt habe Mittel für die Entwicklung des kleinen und mittleren Busyness bereitgestellt; es wurde ein Unterstützungsfond für Existenzgündungen und Umschulungen gegründet. Die drohende Arbeitslosigkeit wurde durch eine von der Stadt betriebene immense Bautätigkeit aufgefangen. Eine vernünftige Handhabung der Steuern habe diese Politik unterstützt:

O-Ton 6: Forts. Nagaitzew    7, B, 57 – 091
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, ja tebja adin…
„Dafür ein Beispiel: Die Automobilfabrik SIL. Sie stand anderthalb Jahre. Wo gibt es so etwas in der Welt, daß so ein Gigant so lange stehen kann? Trotzdem haben wir es nicht zugelassen, daß sie unter den Hammer kommt. Die Moskauer Regierung kaufte Aktien; sie bekam das Kontrollpaket der Fabrik, sie gab Aufschub für die Steuern, die an die Stadt hätten gezahlt werden müssen. Es war eine einfache Rechnung, die wir aufgemacht haben: Entweder 18.000 Menschen auf die Straße werfen! Dann bringen sie schon morgen nichts mehr ins Budget ein, aber das Budget muß sie unterhalten, ihre Familien, dann noch umschulen, neue Arbeitsplätze schaffen – da war es billiger, die Steuern zu stornieren und die Fabrik nicht aufzugeben, sondern zu stützen. Inzwischen ist die Produktion neu angelaufen. Im September wird SIL, trotz Einbußen im August letzten Jahres, erste Profite haben und Steuern ans Budget abführen.“
…nalogi büdget.“

Erzähler:
Natürlich könne man die Moskauer Verhältnisse nicht einfach auf das Land übertragen, räumt Nagaitzew ein. Trotzdem gebe es inzwischen schon eine ganze Reihe von Regionen, die sich nach diesem Schema entwickelten. Letztlich brauche man dafür nur eine entschlossene Mannschaft, die etwas von Ökonomie verstehe, die Verbindungen schaffe und Verantwortung übernehme, um Investitionen zu ermutigen. Angestoßen durch die Ereignisse vom 17.8. 98, so bilanziert Nagaitzev, habe Rußland auf diese Weise im letzten halben Jahr einen ersten Schritt zur Abkoppelung vom Tropf westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 7: Nagaitzew, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem wieder Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Das sind überraschende Töne, besonders aus gewerkschaftlichem Munde. Man könnte geneigt sein, sie als Zweckoptimismus abzutun, wenn nicht ähnliche Darstellungen aus ganz anderen Blickwinkeln gegeben würden. So beschreibt Alexander S., Busynessmen, seit 1990 Chef einer mittelgroßen ;oskauer Handelsgesellschaft, die Lage, in der er sich nach dem Krach wiederfand, so:

O-Ton 8: Alxander S.                 8, B, 494 – 523 (moschit bit n jet, schneiden)
Regie: Kurz stehen lassen , abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Esli litschno…
„Persönlich gesehen wurden die Menschen einfach ärmer, man lebt schlechter –  weniger Geld, die Preise stiegen. Aber ich bin doch zutiefst davon überzeugt, daß das Resultat nützlich für alle ist, auch für Rußland insgesamt: Der Import ist rasant gefallen –  schlechter oder nicht: die Menschen wurden selbst aktiv. Früher gab´s nur Importware; es war profitabel dort zu kaufen, hier zu verkaufen; jetzt kommen unsere eigenen Produkte auf den Markt, also, heimische Unternehmen begannen zu arbeiten. Das ist das eine.. … 510 … Das Zweite ist, daß diese spekulative Politik zusammenbrach, die wir hatten, also diese Situation, daß Leute, die nichts taten, dafür unheimlich viel Geld kassierten. Das waren nicht etwa die, die Handel trieben wie wir, die arbeiteten ja wirklich; das war die sogenannte mittlere Klasse – Banker und ihre Umgebung. Daß diese Klasse zugrunde ging, das finde ich persönlich sehr nützlich. Banken sollten arbeiten und sich nicht mit Spekulation beschäftigen. Sie sollen Geld beschaffen, billige Kredite für  Investionen ermöglichen, die reale Wirtschaft in Gang bringen. Dafür sind die Banken ja da.  … 525 .. Jetzt kann es so werden.“
…moschit bit budit, lacht (moschit bit n jet, schneiden, verwirrt hier)

Erzähler: Irgendwie, meint Alexander S., und seine Kompagnons nicken dazu, könne man sogar von einer neuen Chancengleichheit sprechen. Ein bißchen fühlen sie sich an die frühen Tage der Perestroika erinnert:

O-Ton 9: Alaxander S., Forts.     8, B, 533 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Bbila reska disproportije…
„Es war ja ein scharfes Mißverhältnis entstanden; die einen hatten nichts, die anderen hatten viel. Ich rede nicht von den sogenannten Oligarchen. Das sind  hundert, vielleicht tausend Leute im ganzen Land. Das sind im Maßstab des Landes ja nicht so viele. Ich meine diese mittlere Klasse – sie verloren ihre Posten, ihr Telefon, ihr Auto, ihre irren Gehälter;  sie mußten sich umstellen, wenn sie ihr Niveau halten wollten. Sie mußten echte Arbeit suchen, etwas aufbauen. Wenn sie klug waren, haben sie sich umgestellt. Dadurch entsteht etwas, neue Strukturen, eine neue Haltung zur Arbeit. (…) Heute zahlt keiner mehr dafür, nur damit du herumsitzt wie früher war und auch in den letzten Jahren wieder. Jetzt mußt du dich bewegen, wirklich arbeiten. Das ist neu. Das ist gut. So erneuert sich diese Klasse, aber jetzt nicht mehr auf parasitäre Art, wie vorher, sondern schon irgendwie anders.“

Erzähler:
Von Stabilität möchte der Geschäftsmann im Gegensatz zu dem, was aus den Gewerkschaftsetagen zu hören war, allerdings doch noch nicht sprechen:

O-Ton 10: Alexander S. , Forts.     8, B, 633 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer;
„Ich sage nicht, daß es besser ist; ich spreche von einem Impuls, den Rußland bekommen hat: War durch den Import vorher immer alles vorhanden, so ist nun nichts mehr da, auch keine Valuta, um etwas zu kaufen. So sind die Menschen gezwungen sich zu erinnern, daß es auch in Rußland gute Erzeugnisse gibt, Fleisch, Wurst, Butter und Milch und auch Kleidung. Vorher hat man diese Produkte einfach nicht gekauft, jetzt nimmt man sie, die heimische Industrie wächst. …. Wenn der Krach auf diese Weise dazu führt, daß gearbeitet wird, daß man nicht mehr auf Kredite wartet, um dann weiterzumachen wie vorher, sondern selbst etwas entwickelt, dann war er zu etwas gut. Letztlich glaube ich schon, daß er
Krise etwas bewirkt. Ohne ihn wäre jedenfalls alles so weiter gelaufen wie bisher.“

Erzähler:
Der Krieg könne diese Entwicklung nur beschleunigen, findet auch der Geschäftsmann, vorausgesetzt allerdings, Rußland werde nicht in tatsächliche Kriegshandlungen verwickelt. Dazu sei es zu schwach und würde nur weiter geschwächt:

O-Ton 11 Alxander S., Forts.    9,A,53 – 105
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„… (Poetamu)…  „Ja dumaju…
„Ich denke, Rußland gewinnt durch diesen Krieg. Auch der Rüstungskomplex hat lange gestanden – keine Aufträge; keine Entwicklungsmöglichkeiten. Aber angesichts des Krieges gibt es sofort Manöver, gibt es Schulungen, hat man Geld gefunden für dies, für das. Mehr noch, aus NATO-Ländern selbst, aus Griechenland, aus Zypern werden Waffen bestellt, nicht bei den Amerikanern, sondern in Rußland. Also, wenn Rußland vorher mit leeren Händen dastand: Gebt Geld! Gebt Geld! Bettelte, so ist die Krise jetzt sehr nützlich. Es ist wie bei einem Süchtigen. ( … o86) … Nach dem Entzug wird es erst einmal schlechter. Aber jetzt stellen alle fest: Hey, wir leben ja noch! Wir sind ja gesund! Die Wirtschaft kommt langsam in Gang. Die Amerikaner glaubten Rußland schaden zu können, aber mir scheint,  für Rußland wird es dadurch sogar besser.“
..budit lutsche

Erzähler:
Ein bißchen schärfer klingt es aus den Rüstungsetagen selbst. So bei Anatoli Baranow. Baranow war wie Nagaitzew Aktivist der Perestroika und Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt:

O-Ton 12: Anatoly Baranow
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt der PR-Chef das Gespräch. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren innovativem Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“

Erzähler:
Auch Baranow sieht jedoch im 17.8. 98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 13: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber die Interessen bilden sich. Es geschieht vor allem unter jungen Leuten. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden; sie wollen eine gute Ausbildung und sie wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht sich Baranow gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur schroffer:

O-Ton 14: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Dasselbe Fazit, nur in schärferer Tonart, ist aus dem Munde Alexander Prochanows zu hören. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Zusammen mit Szuganow, dem Sekreträ der Kommunistischen Partei Rußlands, gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Lage im Lande mit den Worten:

O-Ton 15: Alexander Prochanow
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Boris Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.
Im Alltag, wo der Krach wie etwa bei Nina Wuss und ihrem Mann Küchenthema ist, klingt ohnehin alles noch einmal ganz anders. Nina Wuss, eine liebenswürdige Matrone, war zu Sowjetzeiten Kulturorganisatorin im etablierten Haus der Schriftsteller; 1991 agitierte sie eifrig für Boris Jelzin, heute lebt sie, abgesehen von ihrer kleinen Rente, vom Einkommen ihres Mannes, der im Baugeschäft einigermaßen verdient. Als müsse sie die Richtigkeit der Ansichten Baranow, Prochanow und anderer Nationalisten bestätigen, klagt sie:

O-Ton 16: Nina und Mann    15, A, 139 – 177
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, ja dumajau… nje rauskürzen, irritiert …
„Nun, ich denke, alles wurde noch schlimmer. Vor dem 17. August, hatte man noch Hoffnung auf ein angenehmes Leben, auf Arbeit, man plante etwas. Aber nach dem 17. hat die Intelligentia, sagen wir, diese mittlere soziale Schicht alles verloren. Die Leute hatten Geld gespart auf den Banken, das hat ihnen der Staat einfach geraubt. Sie blieben ohne etwas! Es gab viele Tragödien. Jetzt ist das Leben viel teurer. Von Stabilität keine Rede. Die Preise für Nahrungsmnittel sind unheimlich hoch. Meine Pension, die ich von der Stadt Moskau erhalte, beträgt 500 Rubel, das sind ungefähr 20 Dollar, dreimal weniger als vorher. Schon vor dem 17.8. konnte man kaum etwas davon kaufen. Aber jetzt? Wie soll man davon leben, wenn man keine Gartenwirtschaft hat, auch keinen Mann oder Kinder, die arbeiten!? Das ist sehr schwer.“
..eta otschen tejelo.“

Erzähler:
Ihre Schwester, erzählt Nina, sei auch Pensionärin. Ihr Sohn sei arbeitslos, er habe zwei Kinder zu versorgen. Die Pension reiche gerade für Brot, etwas Milch und die billigsten Nahrungsmittel. Es komme ja noch die Miete dazu, die Kosten für Haushaltsutensilien, Kleidung, Telefon. Man müsse doch leben! Und was erst, wenn nicht einmal die Pension pünktlich ausgezahlt werde , wie es in der Vergangenheit oft der Fall war!  Im Moment werde gezahlt, aber darauf könne man nicht vertrauen. Ninas Hoffnungen sind zerstoben:

O-Ton 17: Nina Wuss und Mann    15,A, 325 -425
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschetsna gawerja…
„Ich glaube überhaupt nichts mehr. Ich glaube nicht mehr an irgendeine lichte Zukunft. Nur was ich mit eigenen Kräften kann, das tue ich. Man kann nirgendwo mehr hingehen und Hilfe erbitten. Du wirst überall abgewiesen. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder versucht für sich, mit eigenen Kräften aus dieser Situation herauszukommen. Einige schaffen es; viele schaffen es aber auch nicht – viele Arbeitslose, viele Selbstmorde. Perestroika ging schon nicht so glatt; viele waren dafür nicht bereit, fanden sich nicht zurecht. Als sdie sich fan den, wurden sie gleich wieder umgeworfen. Es geht hin und her. Man kann sich auf nichts einstellen. Man stolpert von einem Elend ins nächste. Die Menschen sind kaputt.“
..ludi slomlini.“

Erzähler:
Und ohne daß vorher vom Krieg die rede gewesen wäre, fährt sie fort:

O-Ton 18:    15, A, 231 – 270
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„A Krache prosta strana…
„Der Krach hat das Land von Geld leergefegt. Jetzt erniedrigt man sich vor den internationalen Banken, um Kredite zu erbetteln. Wir werden lange in Erniedrigung leben müssen, davon bin ich überzeugt. Wir haben alles verloren. Wir sind geteilt, unsere Armee ist nicht selbstständig, das Elend ist ungeheuer hoch, Kinder sind  obdachlos. Was haben wir noch? Deshalb verhält man sich uns gegenüber heute so, vor allem Amerika. Man sieht ja, was heute vorgeht. Wir haben nichts, um damit zu drohen, nichts, was zu fürchten wäre. Und so kommen sie wie die Räuber, nachts bombardieren sie Belgrad. Und alles mit Einverständnis unserer Regierung. Jelzin hätte schon lange gehen müssen. Das ist ein tiefkranker Mensch. Wenn es heißt, es gäbe zu ihm keine Alternative, dann sage ich, Alternativen gibt es immer.“
..swegda jest

Erzähler:
Mit nationalistischem Pathos aber wollen Nina Wuss und ihr Mann nichts zu tun haben. Dafür sei es zu spät, meinen sie. Da hätte man früher aufpassen müssen. Jetzt gehe es nur noch darum, die Wirtschaft wieder in Gang zu kriegen. Und schon kommt die Rede wieder auf Juri Luschkow. Auch Nina, und noch mehr ihr Mann, der von Moskaus städtisch gefördertem Baubooom lebt, setzen auf die Kraft ihres Bürgermeisters. „Choroschi Choseìn“, guter Hausherr, lautet das Zauberwort, von dem sie aller Desillusionierung zum Trotz, und dies nicht nur für sich, sondern für ganz Rußland, eine Erlösung aus dem Jammertal der ewigen Krise erhoffen.
Was soll man glauben? Ninas Küchenbeobachtungen oder die Aussichten auf Wachstum der heimischen Industrie? Ausländische Beobachter mögen verwirrt sein; Rußlands Analytiker dagegen bleiben gelassen:

O-Ton 19 Juri Lewada    8, A, 320
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Man dürfe nicht von Zusammenbruch reden, meint Prof. Juri
Lewada, Direktor des zentralen Instituts für Meinungsforschung in Moskau:

Regie: kurz zwischendurch hochziehen

Übersetzer:
„stroga gawerja stracha nje…
„Streng gesprochen hat es keinen Zusammenbruch gegeben. Es gab einen großen Knall, es gab Elemente von Panik, nicht nur unten, sondern wohl auch oben. Wenn die Bevölkerung gewußt hätte, was sich wirklich abgespielt hat, wäre die Panik wohl größer gewesen. (…)…330 … Inzwischen hat sich die Situation beruhigt: … 338 Erstens hat es keine durchgehende Katastrophe gegeben. Und ungeachtet aller Veränderungen zwischen Rubel und Dollar in Sachen Import zeigte sich, daß die Krise nicht tödlich war. (…) Aber der Knall war nützlich für die  Exportbranche; man konnte Rubel bekommen, die auf dem Weltmarkt schwach wurden, aber im Inland sehr stark. So konnte ein Teil der Löhne gezahlt werden und überhaupt ein bißchen die Wirtschaft sich beleben. Als Resultat der letzten drei Monate haben wir so ein gewisses industrielles Wachstum, wir haben Lohnanhebungen und überhaupt einige Erleichterungen.
..nekatorie usbokajennije.“

Erzähler:
Ein wenig seltsam sei das schon, findet der Professor, zumal der jugoslawische Krieg noch als neuer Faktor hinzugetreten sei, aber im Großen und ganzen sei die Situation stabil.

O-Ton 20: Lewada, Forts.     8, A, B,065

Bolöje ili menuije…
„Am ruhigsten fühlen sich die Leute ganz unten, die mit Politik nichts zu tun haben und nur einige Verbesserungen sehen: Bezahlung der Löhne und Gehälter. So gesehen ist nichts Neues passiert. Keine Stabilität gibt es dagegen an der Spitze unserer Pyramide, im Bereich des Präsidenten und der politischen Elite. (…) Das gilt übrigens auch für Moskau. Das ganze Gerede von Moskaus Sonderrolle ist ja nur Propaganda. Hier in Moskau ist die Privatisierung nicht besser gelaufen. In Moskau konzentriert sich einfach mehr Geld.“
… Tschista propagandiski priom.“ B(065)

Erzähler:
Zur Lewadas allgemeinem Befund gibt es unter es seinen Kollegen keine Differenzen. Sehr wohl aber schärfere Analysen zu den Vorgängen in der Spitze der Pyramide. So bei Jussif  Diskin, Assistent des Direktors am Institut für sozialökonomische Probleme der Bevölkerung in Moskau. Er leitete Untersuchungen, die das Institut nach dem 17.8. in der Bevölkerung und danach auch unter Rußlands Reichen im Auftrag der russischen Zentralbank durchführte.
Von einem Krach möchte auch Diskin nicht reden. Einen Krach habe es nur für zwei Dutzend Großbanken, Investitionsgesellschaften und Finanzkorporationen gegeben. Dort und zwar ausschließlich dort, wo – wie Diskin sich ausdrückt -zusammengraubte Spekulationsgelder verfielen, dort sei effektiv Geld verloren worden. Aber auch dort müsse man sehr genau hinsehen, was wirklich geschen sei:

O-Ton 21, Diskin    16,B, 244 –
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz aufblenden, wieder abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„No, tut nado otschen..
„Erfolgte der Zusammenbruch für die Leute, die die Strukturen beherrschen? Nein! Sie überlebten! Warum? Weil sie während der Privatisierung Betriebe des realen Sektors für Spottgelder kauften. Also: Oneximbank – Potanin! Onexibank ist zusammengebrochen, aber das Eigentum Potanins am Norilsker Nickel in Krasnojarsk mit einem Umsatz von 6 Milliarden Dollar ist nicht berührt. Weiter: Bank Minotep brach zusammen, nicht aber Jukes, der riesige Öl-Chemie-Konzern, der zweitgrößte Rußlands. Die Mosbank! Sie brach zusammen, aber keineswegs die dahinter stehende Mediaholding, unsere größte Konzentration von Massenmedien. Mit den oligarchischen Strukturen, die in die reale Sphäre hatten vordringen können, ist nichts Katastrophisches passiert. Sie verloren Geld, ja, aber sie sind weiterhin die starken Figuren im russischen Wirtschaftsleben. So ist der frühere Ministerpräsident Tschubajs jetzt Manager der weltweit größten Industriekorporation; er ist Generaldierektor von RAOES, Russische Energiesysteme. Gerade jetzt im Moment ist RAOES dabei, der größte Exporteur Rußlands überhaupt zu werden.“ (299)
..exportörom, Rossije.“

Erzähler:
Paradox aber wahr, so Diskin, könne das durch den Zusammenbruch der Spekulation gereinigte Kapital sich in Rußland heute auf die Entwicklung des neu entstehenden heimischen Marktes konzentrieren. Was aber fehle sei nicht etwa Geld, das sei vorhanden, sondern vor allem soziales Kapital:

„O-Ton 22: Diskin, Forts.                16,B, 594 – 647
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Cewodnja usche… (neuer Anfang!!! Zweit Sätze weiter)
„Woraus setzt sich soziale Kapital zusammen? Erstens, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Rugulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, auch keine hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem. Es gibt eine innere korporative Ethik, die Frage der Motivation. (610) Hauptproblem des russischen Wirtschaftslebens ist aber zur Zeit die äußere: Unser Management ist heute praktisch ohne Verantwortung! Es ist an persönliche Interessen gebunden, die mit denen der Korporation nicht zusammenfallen. Grundursache dafür ist, daß das Eigentum bei uns nominal ist: Das Eigentum ist verteilt, aber das Management ist niemanden untergeordnet. Die Gesetzeslage erlaubt es dem Manager sogar, seine eigene kleine Firma auf Kosten der Gesamtkorporation zu betreiben. … (639) Erst wenn das Management sich mit dem Gewinn der Koporationen identifiziert, kann in Rußland der Aufstieg beginnen. In einigen Fällen gibt es das schon, wie gesagt. …. Aber hier findet der Hauptkampf gegenwärtig statt. Management gegen Eigentümer: Aktenkauf, Schiebung, Mord und Totschlag.“
…Sdes clutschwoi barbar idjot.“

Erzähler:
Boris Kagarlitzky, früherer Aktivist der Perestroika, heute freischwebender Reformsozialist, will bei solchen Beobachtungen nicht stehen bleiben. Mit Verweis auf die allgemeine Stimmungslage erklärt er:

O-Ton 23: Kagarlitzki                     5/A,615 – ohne
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Nu, wa pervich…
„Nun, erstens hat der Krach die Unmöglichkeit gezeigt, mit der bisherigen neoliberalen Politik fortzufahren. Und das Wichtigste ist: Das begreifen nicht nur die Gegner dieser Politik wie Szuganow oder Prochanow, sondern in starkem Maße auch ihre Befürworter, vor allem die, die mit dem inneren Markt und irgendwie mit der Industrien zu tun haben. Zweitens hat die soziale Basis des Staates gewechselt.
Bis 1998 war das in Moskau und anderen größeren Städten die nachsowjetische Mittelklasse. (…639…) Die hat zwar selbst nichts produziert, sondern spekuliert, aber um sich herum doch Arbeitsplätze geschaffen. Das waren schon nicht mehr nur die neuen Russen, das war schon gut 10% der Bevölkerung. …  Das alles brach nach dem 17.8. zusammen. (…703…) Das heißt, der Krach hat vor allem die sozialen Ressourcen Systems geschwächt. Es muß sich neu orientieren.“

Erzähler:
Kagarlitzki spricht von einer neuen Phase der Perestroika. Ewig könne man nicht weiter vom Speck leben, nachdem alles privatisiert worden sei, was habe privatisiert werden können, meint er:

O-Ton 24:                            5, B, 175 – ohne
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden,

Übersetzer:
„Prosta grabit ressurssi
„Einfach nur die Ressourcen auszubeuten, die aus der Sowjetzeit überkommen sind, ist nicht möglich. Die Straßen verfallen, die Schienen, die Betriebe, das Telefonnetz, alles zerfällt; man muß investieren, muß wieder produzieren. Das geschah bisher nicht. Im bisherigen System gab es keine Mechanismen, Mittel dafür aufzubringen. Deshalb war das Ende absolut folgerichtig und unvermeidlich. Die Frage ist eher, warum er erst jetzt kam.“

Erzähler:
Aber was die neue Phase bringen wird, ist vollkommen offen:

O-Ton 25: Kagarlitzki, Ende                        6,A,168 – 213
Regie: Ton stehen lassen, unterlegenabblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer;
„Nelsja prognosirowatj…
„Es ist nicht möglich zu das Resultat dieser Perestroika zu so einem frühen Zeitpunkt zu progostizieren. Alle Entscheidungen, die gegenwärtig getroffen werden, sind nur vorübergehender Natur: Etwa die gegenwärtige Niedrigzinspolitik zur Stärkung von Investitionen; die andere Verteilung des Budgets, also keine neuen Staatsschulden, stattdessen Zahlung der Löhne, um soziale Spannungen zu vermeiden; die Lösung der Zentralbank von Vorgaben des IWF, indem sie in kleinen Mengen Geld druckt, um den inneren Markt in Gang zu halten. Der Krieg auf dem Balkan wird die Elemente stärken, die auf Loslösung vom Westen drängen. Im Prinzip ist das nützlich für Rußland. (…ich…) Aber klar ist: So oder so bekommen wir eine Gesellschaft, in welcher der Staat eine wesentlich größere Rolle spielt, in dem es ein Minimum an sozialen Garantien geben wird. Die Frage ist nur, ob es ein demokratischer Staat sein wird oder ein oligarchisch korrumpierter. Es wird auf jeden Fall nicht das liberale Modell sein, sondern entweder oligarchisch, vielleicht auch oligarchisch-bürokratisch oder demokratisch sozialistisch. Im Moment baut sich alles in Richtung der ersten Variante auf.“
..paka tosche rana.“

Erzähler:
Soziale Restauration oder Entwicklungsdiktatur, lautet die Formel, auf die Boris Kagarlitzki die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen Rußlands schließlich bringt, nicht ohne daraufhinzuweisen, es sei noch zu früh zu sagen, daß die demokratische Variante gar keine Chance hätte, denn jede Phase habe doch ihre eigene Dynamik und bringe ihre eigenen Hoffnungen hervor. Dem ist, außer der eigenen Hoffnung, daß er damit recht haben möge, nichts weiter hinzuzufügen.

Russland im Schock: Das andere Rußlandbild: Rußland wieder kreditwürdig?

Mit dem Bankenkrach vom Herbst letzten Jahres schien Rußland am Ende. Kredite wurden gesperrt, westliche Investoren zogen sich zurück. Vor ein paar Wochen wurde Rußland als die Nummer Acht in die G-7, die Gemeinschaft der sieben größten Industrienationen aufgenommen. Die Sieben verpflichteten sich, Rußland bei der anstehenden Zahlung von 100 Milliarden Dollar Altschulden aus sowjetischer Zeit zu entlasten; der Internationale Währungsfonds erklärte sich darüberhinaus bereit, lange zurückgehaltene Kredite in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar auszuzahlen. Was ist geschehen? Ist dies ein Zuckerbrot für Rußlands Wohlverhalten im Krieg um das Kosovo? Oder ist Rußland entgegen allen Erwartungen wieder kreditwürdig?

O-Ton 1 (gesonderter Bobby): Musik, tak, tak, tak…
12 A 634 bis 645 …Schnitt .. bis B 204

Regie: Ton bis zu Sprecherin frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, danach zwischendurch hochziehen, zum Schluß langsam hochkommen lassen, verblenden

Erzähler:
Eine erste Antwort auf diese Frage geben die traditionellen Aktivitäten am 1. Mai dieses Jahres. Rund 500.000 Menschen haben die Korrespondenten landesweit auf den Straßen gezählt. Für russische Verhältnisse sind das wenige. Alles blieb ruhig – keine Zusammenstöße, keine Besetzungen, keine Hungerstreiks wie in den Vorjahren. Viele Menschen zogen es vor, auf die Datschen zu fahren, um ihre Gärten zu bestellen.
Einig ist man sich nur im Protest gegen den Krieg in Jugoslawien; im Übrigen gab es getrennte Märsche und Veranstaltungen. Durch Moskau zogen zwei Demonstrationen. Ca. 20.000, vor allem ältere Menschen folgten den Fahnen der Kommunisten. Sie forderten, wie schon seit Jahren, den Rücktritt Jelzins, der mit der Zerstörung der Sowjetunion den Balkankrieg erst ermöglicht habe.
Wesentlich mehr, vor allem aber jüngere Menschen haben sich an dem Zug beteiligt, zu dem die Moskauer freien Gewerkschaften im Bündnis mit Bürgermeister Juri Luschkow aufgerufen haben. Dort ging es unpolitischer, dafür aber handfester zu: Forderung nach Lohnerhöhungen, nach Senkung der Steuern, nach Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für geregelte Arbeit stehen im Mittelpunkt. Bürgermeister Luschkow, der sich bereits auf den Wahlkampf um die Nachfolge des jetzigen Präsidenten vorbereitet, hat sich an mit einer Rede höchstpersönlich an die Spitze der Kundgebung gesetzt:

O-Ton 2: Bobby 2: Bürgermeister Luschkow
Regie: Verblenden, TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladewitzja.“

Erzähler:
Juri Luschkows Ermahnungen erinnern an Michail Gorbatschows Aufrufe aus den frühen Tagen der Perestroika. „Schaffen! Schaffen! Schaffen!“ lautete eine der zentralen Parolen, mit denen Gorbatschow seinerzeit die Bevölkerung zum Einsatz für die gewünschte sozial-ökonomische Beschleunigung anfeuern wollte.
Luschkows Bündnispartner, Michail Nagaitzew, der Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaften greift diese Töne auf. Nagaitzev war radikaldemokratischer Aktivist der Perestroika. Nach Jelzins sogenannter demokratischer Revolution war er Mitglied der oppositionellen „Partei der Arbeit“ und bis zum Bankenkrach scharfer Kritiker der forcierten Privatisierung, deren Ergebnisse er als kriminell verurteilte. Heute ist Nagaitzev Mitglied in der von Juri Luschkow gegründeten Wahlbewegung „Otetschestwo“, Vaterland, und hat mit dem Bürgermeister einen Stabilitätspakt, ein Bündnis für Arbeit geschlossen. Den Bankenkrach vom August letzten Jahres versteht der Gewerkschafter weniger als das Ende denn als den Anfang einer Entwicklung. Zwar habe der Krach die allgemeine Armut in Rußland erhöht, erklärt er:

O-Ton 3: Michael Nagaitzev
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Die Preise für Importware stiegen. Als Ergebnis wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Deren Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann noch Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Vor dem Krach lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Bemerkenswert findet Präsident Nagaitzew vor allem, daß dies alles habe geschehen können, obwohl die Zentral-Regierung nach dem Krach praktisch nichts zur Stärkung der Wirtschaft unternommen habe:

O-Ton 4: Nagaitzew, Forts.     7,A,628 – 638
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Die Leute fingen einfach an selbst zu suchen: Produzenten, Nischen, Märkte. Sie zogen die Wirtschaft wieder hoch, obwohl das Banksystem noch immer daniederliegt; es gingen ja ungefähr siebenhundert Banken zugrunde und es folgen immer noch welche.  … 635 Aber es scheint, als hätten die Menschen in den letzten zehn Jahren doch etwas gelernt: Sie lernten vom Staat unabhängig, wenigstens unabhängiger als früher zu sein. Das ist ein Fakt.“
…gossudarstwo, eta sowerschenneje realnost.“

Erzähler:
Besonders in Moskau sei diese Entwicklung zu beobachten, erklärt Nagaitzev. Dazu habe das Bündnis für Arbeit nicht wenig beigetragen. Stolz verweist Nagaitzev auf das, was in Moskau in Zusammenarbeit zwischen ihm und Bürgermeister Luschkow in den letzten Jahren geschafft worden sei:

O-Ton  5: Nagaitzew Forts.     7; B, 29
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Moskwa raswiwalas po…
„Moskau entwickelte sich wirtschaftlich anders; Moskau entwickelte sich nach einem anderen Modell; im Unterschied zu den Modellen, die von Tschubajs, Gajdar und anderen vorgeschlagen wurden. Luschkow erhielt die Erlaubnis des Präsidenten, einen eigenen Moskauer Weg bei der Privatisierung zu gehen. Hier in Moskau wurde Eigentum nur für reales Geld verkauft. Und nicht alles wurde verkauft, verkauft wurde nur da, wo es Sinn machte, nur da, wo es einen realen Eigentümer gab, der besser zu arbeiten verstand als die vorherigen. Deshalb ist die Wirtschaft  Moskaus trotz des tiefen Einbruchs nach dem 17.8.1998 im Halbjahr danach um 8% gewachsen.“
…apjat wychaditj.“

Erzähler:
Durch das Bündnis für Arbeit, so Nagaitzev, wurden Rahmenbedingungen geschaffen. Die Stadt habe Mittel für die Entwicklung des kleinen und mittleren Busyness bereitgestellt; es wurde ein Unterstützungsfond für Existenzgündungen und Umschulungen gegründet. Die drohende Arbeitslosigkeit wurde durch eine von der Stadt betriebene immense Bautätigkeit aufgefangen. Eine vernünftige Handhabung der Steuern habe diese Politik unterstützt:

O-Ton 6: Forts. Nagaitzew    7, B, 57 – 091
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, ja tebja adin…
„Dafür ein Beispiel: Die Automobilfabrik SIL. Sie stand anderthalb Jahre. Wo gibt es so etwas in der Welt, daß so ein Gigant so lange stehen kann? Trotzdem haben wir es nicht zugelassen, daß sie unter den Hammer kommt. Die Moskauer Regierung kaufte Aktien; sie bekam das Kontrollpaket der Fabrik, sie gab Aufschub für die Steuern, die an die Stadt hätten gezahlt werden müssen. Es war eine einfache Rechnung, die wir aufgemacht haben: Entweder 18.000 Menschen auf die Straße werfen! Dann bringen sie schon morgen nichts mehr ins Budget ein, aber das Budget muß sie unterhalten, ihre Familien, dann noch umschulen, neue Arbeitsplätze schaffen – da war es billiger, die Steuern zu stornieren und die Fabrik nicht aufzugeben, sondern zu stützen. Inzwischen ist die Produktion neu angelaufen. Im September wird SIL, trotz Einbußen im August letzten Jahres, erste Profite haben und Steuern ans Budget abführen.“
…nalogi büdget.“

Erzähler:
Natürlich könne man die Moskauer Verhältnisse nicht einfach auf das Land übertragen, räumt Nagaitzew ein. Trotzdem gebe es inzwischen schon eine ganze Reihe von Regionen, die sich nach diesem Schema entwickelten. Letztlich brauche man dafür nur eine entschlossene Mannschaft, die etwas von Ökonomie verstehe, die Verbindungen schaffe und Verantwortung übernehme, um Investitionen zu ermutigen. Angestoßen durch die Ereignisse vom 17.8. 98, so bilanziert Nagaitzev, habe Rußland auf diese Weise im letzten halben Jahr einen ersten Schritt zur Abkoppelung vom Tropf westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 7: Nagaitzew, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem wieder Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Das sind überraschende Töne, besonders aus gewerkschaftlichem Munde. Man könnte geneigt sein, sie als Zweckoptimismus abzutun, wenn nicht ähnliche Darstellungen aus ganz anderen Blickwinkeln gegeben würden. So beschreibt Alexander S., Busynessmen, seit 1990 Chef einer mittelgroßen ;oskauer Handelsgesellschaft, die Lage, in der er sich nach dem Krach wiederfand, so:

O-Ton 8: Alxander S.                 8, B, 494 – 523 (moschit bit n jet, schneiden)
Regie: Kurz stehen lassen , abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Esli litschno…
„Persönlich gesehen wurden die Menschen einfach ärmer, man lebt schlechter –  weniger Geld, die Preise stiegen. Aber ich bin doch zutiefst davon überzeugt, daß das Resultat nützlich für alle ist, auch für Rußland insgesamt: Der Import ist rasant gefallen –  schlechter oder nicht: die Menschen wurden selbst aktiv. Früher gab´s nur Importware; es war profitabel dort zu kaufen, hier zu verkaufen; jetzt kommen unsere eigenen Produkte auf den Markt, also, heimische Unternehmen begannen zu arbeiten. Das ist das eine.. … 510 … Das Zweite ist, daß diese spekulative Politik zusammenbrach, die wir hatten, also diese Situation, daß Leute, die nichts taten, dafür unheimlich viel Geld kassierten. Das waren nicht etwa die, die Handel trieben wie wir, die arbeiteten ja wirklich; das war die sogenannte mittlere Klasse – Banker und ihre Umgebung. Daß diese Klasse zugrunde ging, das finde ich persönlich sehr nützlich. Banken sollten arbeiten und sich nicht mit Spekulation beschäftigen. Sie sollen Geld beschaffen, billige Kredite für  Investionen ermöglichen, die reale Wirtschaft in Gang bringen. Dafür sind die Banken ja da.  … 525 .. Jetzt kann es so werden.“
…moschit bit budit, lacht (moschit bit n jet, schneiden, verwirrt hier)

Erzähler: Irgendwie, meint Alexander S., und seine Kompagnons nicken dazu, könne man sogar von einer neuen Chancengleichheit sprechen. Ein bißchen fühlen sie sich an die frühen Tage der Perestroika erinnert:

O-Ton 9: Alaxander S., Forts.     8, B, 533 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Bbila reska disproportije…
„Es war ja ein scharfes Mißverhältnis entstanden; die einen hatten nichts, die anderen hatten viel. Ich rede nicht von den sogenannten Oligarchen. Das sind  hundert, vielleicht tausend Leute im ganzen Land. Das sind im Maßstab des Landes ja nicht so viele. Ich meine diese mittlere Klasse – sie verloren ihre Posten, ihr Telefon, ihr Auto, ihre irren Gehälter;  sie mußten sich umstellen, wenn sie ihr Niveau halten wollten. Sie mußten echte Arbeit suchen, etwas aufbauen. Wenn sie klug waren, haben sie sich umgestellt. Dadurch entsteht etwas, neue Strukturen, eine neue Haltung zur Arbeit. (…) Heute zahlt keiner mehr dafür, nur damit du herumsitzt wie früher war und auch in den letzten Jahren wieder. Jetzt mußt du dich bewegen, wirklich arbeiten. Das ist neu. Das ist gut. So erneuert sich diese Klasse, aber jetzt nicht mehr auf parasitäre Art, wie vorher, sondern schon irgendwie anders.“

Erzähler:
Von Stabilität möchte der Geschäftsmann im Gegensatz zu dem, was aus den Gewerkschaftsetagen zu hören war, allerdings doch noch nicht sprechen:

O-Ton 10: Alexander S. , Forts.     8, B, 633 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer;
„Ich sage nicht, daß es besser ist; ich spreche von einem Impuls, den Rußland bekommen hat: War durch den Import vorher immer alles vorhanden, so ist nun nichts mehr da, auch keine Valuta, um etwas zu kaufen. So sind die Menschen gezwungen sich zu erinnern, daß es auch in Rußland gute Erzeugnisse gibt, Fleisch, Wurst, Butter und Milch und auch Kleidung. Vorher hat man diese Produkte einfach nicht gekauft, jetzt nimmt man sie, die heimische Industrie wächst. …. Wenn der Krach auf diese Weise dazu führt, daß gearbeitet wird, daß man nicht mehr auf Kredite wartet, um dann weiterzumachen wie vorher, sondern selbst etwas entwickelt, dann war er zu etwas gut. Letztlich glaube ich schon, daß er
Krise etwas bewirkt. Ohne ihn wäre jedenfalls alles so weiter gelaufen wie bisher.“

Erzähler:
Der Krieg könne diese Entwicklung nur beschleunigen, findet auch der Geschäftsmann, vorausgesetzt allerdings, Rußland werde nicht in tatsächliche Kriegshandlungen verwickelt. Dazu sei es zu schwach und würde nur weiter geschwächt:

O-Ton 11 Alxander S., Forts.    9,A,53 – 105
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„… (Poetamu)…  „Ja dumaju…
„Ich denke, Rußland gewinnt durch diesen Krieg. Auch der Rüstungskomplex hat lange gestanden – keine Aufträge; keine Entwicklungsmöglichkeiten. Aber angesichts des Krieges gibt es sofort Manöver, gibt es Schulungen, hat man Geld gefunden für dies, für das. Mehr noch, aus NATO-Ländern selbst, aus Griechenland, aus Zypern werden Waffen bestellt, nicht bei den Amerikanern, sondern in Rußland. Also, wenn Rußland vorher mit leeren Händen dastand: Gebt Geld! Gebt Geld! Bettelte, so ist die Krise jetzt sehr nützlich. Es ist wie bei einem Süchtigen. ( … o86) … Nach dem Entzug wird es erst einmal schlechter. Aber jetzt stellen alle fest: Hey, wir leben ja noch! Wir sind ja gesund! Die Wirtschaft kommt langsam in Gang. Die Amerikaner glaubten Rußland schaden zu können, aber mir scheint,  für Rußland wird es dadurch sogar besser.“
..budit lutsche

Erzähler:
Ein bißchen schärfer klingt es aus den Rüstungsetagen selbst. So bei Anatoli Baranow. Baranow war wie Nagaitzew Aktivist der Perestroika und Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt:

O-Ton 12: Anatoly Baranow
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt der PR-Chef das Gespräch. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren innovativem Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“

Erzähler:
Auch Baranow sieht jedoch im 17.8. 98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 13: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber die Interessen bilden sich. Es geschieht vor allem unter jungen Leuten. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden; sie wollen eine gute Ausbildung und sie wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht sich Baranow gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur schroffer:

O-Ton 14: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Dasselbe Fazit, nur in schärferer Tonart, ist aus dem Munde Alexander Prochanows zu hören. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Zusammen mit Szuganow, dem Sekreträ der Kommunistischen Partei Rußlands, gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Lage im Lande mit den Worten:

O-Ton 15: Alexander Prochanow
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Boris Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.
Im Alltag, wo der Krach wie etwa bei Nina Wuss und ihrem Mann Küchenthema ist, klingt ohnehin alles noch einmal ganz anders. Nina Wuss, eine liebenswürdige Matrone, war zu Sowjetzeiten Kulturorganisatorin im etablierten Haus der Schriftsteller; 1991 agitierte sie eifrig für Boris Jelzin, heute lebt sie, abgesehen von ihrer kleinen Rente, vom Einkommen ihres Mannes, der im Baugeschäft einigermaßen verdient. Als müsse sie die Richtigkeit der Ansichten Baranow, Prochanow und anderer Nationalisten bestätigen, klagt sie:

O-Ton 16: Nina und Mann    15, A, 139 – 177
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, ja dumajau… nje rauskürzen, irritiert …
„Nun, ich denke, alles wurde noch schlimmer. Vor dem 17. August, hatte man noch Hoffnung auf ein angenehmes Leben, auf Arbeit, man plante etwas. Aber nach dem 17. hat die Intelligentia, sagen wir, diese mittlere soziale Schicht alles verloren. Die Leute hatten Geld gespart auf den Banken, das hat ihnen der Staat einfach geraubt. Sie blieben ohne etwas! Es gab viele Tragödien. Jetzt ist das Leben viel teurer. Von Stabilität keine Rede. Die Preise für Nahrungsmnittel sind unheimlich hoch. Meine Pension, die ich von der Stadt Moskau erhalte, beträgt 500 Rubel, das sind ungefähr 20 Dollar, dreimal weniger als vorher. Schon vor dem 17.8. konnte man kaum etwas davon kaufen. Aber jetzt? Wie soll man davon leben, wenn man keine Gartenwirtschaft hat, auch keinen Mann oder Kinder, die arbeiten!? Das ist sehr schwer.“
..eta otschen tejelo.“

Erzähler:
Ihre Schwester, erzählt Nina, sei auch Pensionärin. Ihr Sohn sei arbeitslos, er habe zwei Kinder zu versorgen. Die Pension reiche gerade für Brot, etwas Milch und die billigsten Nahrungsmittel. Es komme ja noch die Miete dazu, die Kosten für Haushaltsutensilien, Kleidung, Telefon. Man müsse doch leben! Und was erst, wenn nicht einmal die Pension pünktlich ausgezahlt werde , wie es in der Vergangenheit oft der Fall war!  Im Moment werde gezahlt, aber darauf könne man nicht vertrauen. Ninas Hoffnungen sind zerstoben:

O-Ton 17: Nina Wuss und Mann    15,A, 325 -425
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschetsna gawerja…
„Ich glaube überhaupt nichts mehr. Ich glaube nicht mehr an irgendeine lichte Zukunft. Nur was ich mit eigenen Kräften kann, das tue ich. Man kann nirgendwo mehr hingehen und Hilfe erbitten. Du wirst überall abgewiesen. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder versucht für sich, mit eigenen Kräften aus dieser Situation herauszukommen. Einige schaffen es; viele schaffen es aber auch nicht – viele Arbeitslose, viele Selbstmorde. Perestroika ging schon nicht so glatt; viele waren dafür nicht bereit, fanden sich nicht zurecht. Als sdie sich fan den, wurden sie gleich wieder umgeworfen. Es geht hin und her. Man kann sich auf nichts einstellen. Man stolpert von einem Elend ins nächste. Die Menschen sind kaputt.“
..ludi slomlini.“

Erzähler:
Und ohne daß vorher vom Krieg die rede gewesen wäre, fährt sie fort:

O-Ton 18:    15, A, 231 – 270
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„A Krache prosta strana…
„Der Krach hat das Land von Geld leergefegt. Jetzt erniedrigt man sich vor den internationalen Banken, um Kredite zu erbetteln. Wir werden lange in Erniedrigung leben müssen, davon bin ich überzeugt. Wir haben alles verloren. Wir sind geteilt, unsere Armee ist nicht selbstständig, das Elend ist ungeheuer hoch, Kinder sind  obdachlos. Was haben wir noch? Deshalb verhält man sich uns gegenüber heute so, vor allem Amerika. Man sieht ja, was heute vorgeht. Wir haben nichts, um damit zu drohen, nichts, was zu fürchten wäre. Und so kommen sie wie die Räuber, nachts bombardieren sie Belgrad. Und alles mit Einverständnis unserer Regierung. Jelzin hätte schon lange gehen müssen. Das ist ein tiefkranker Mensch. Wenn es heißt, es gäbe zu ihm keine Alternative, dann sage ich, Alternativen gibt es immer.“
..swegda jest

Erzähler:
Mit nationalistischem Pathos aber wollen Nina Wuss und ihr Mann nichts zu tun haben. Dafür sei es zu spät, meinen sie. Da hätte man früher aufpassen müssen. Jetzt gehe es nur noch darum, die Wirtschaft wieder in Gang zu kriegen. Und schon kommt die Rede wieder auf Juri Luschkow. Auch Nina, und noch mehr ihr Mann, der von Moskaus städtisch gefördertem Baubooom lebt, setzen auf die Kraft ihres Bürgermeisters. „Choroschi Choseìn“, guter Hausherr, lautet das Zauberwort, von dem sie aller Desillusionierung zum Trotz, und dies nicht nur für sich, sondern für ganz Rußland, eine Erlösung aus dem Jammertal der ewigen Krise erhoffen.
Was soll man glauben? Ninas Küchenbeobachtungen oder die Aussichten auf Wachstum der heimischen Industrie? Ausländische Beobachter mögen verwirrt sein; Rußlands Analytiker dagegen bleiben gelassen:

O-Ton 19 Juri Lewada    8, A, 320
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Man dürfe nicht von Zusammenbruch reden, meint Prof. Juri
Lewada, Direktor des zentralen Instituts für Meinungsforschung in Moskau:

Regie: kurz zwischendurch hochziehen

Übersetzer:
„stroga gawerja stracha nje…
„Streng gesprochen hat es keinen Zusammenbruch gegeben. Es gab einen großen Knall, es gab Elemente von Panik, nicht nur unten, sondern wohl auch oben. Wenn die Bevölkerung gewußt hätte, was sich wirklich abgespielt hat, wäre die Panik wohl größer gewesen. (…)…330 … Inzwischen hat sich die Situation beruhigt: … 338 Erstens hat es keine durchgehende Katastrophe gegeben. Und ungeachtet aller Veränderungen zwischen Rubel und Dollar in Sachen Import zeigte sich, daß die Krise nicht tödlich war. (…) Aber der Knall war nützlich für die  Exportbranche; man konnte Rubel bekommen, die auf dem Weltmarkt schwach wurden, aber im Inland sehr stark. So konnte ein Teil der Löhne gezahlt werden und überhaupt ein bißchen die Wirtschaft sich beleben. Als Resultat der letzten drei Monate haben wir so ein gewisses industrielles Wachstum, wir haben Lohnanhebungen und überhaupt einige Erleichterungen.
..nekatorie usbokajennije.“

Erzähler:
Ein wenig seltsam sei das schon, findet der Professor, zumal der jugoslawische Krieg noch als neuer Faktor hinzugetreten sei, aber im Großen und ganzen sei die Situation stabil.

O-Ton 20: Lewada, Forts.     8, A, B,065

Bolöje ili menuije…
„Am ruhigsten fühlen sich die Leute ganz unten, die mit Politik nichts zu tun haben und nur einige Verbesserungen sehen: Bezahlung der Löhne und Gehälter. So gesehen ist nichts Neues passiert. Keine Stabilität gibt es dagegen an der Spitze unserer Pyramide, im Bereich des Präsidenten und der politischen Elite. (…) Das gilt übrigens auch für Moskau. Das ganze Gerede von Moskaus Sonderrolle ist ja nur Propaganda. Hier in Moskau ist die Privatisierung nicht besser gelaufen. In Moskau konzentriert sich einfach mehr Geld.“
… Tschista propagandiski priom.“ B(065)

Erzähler:
Zur Lewadas allgemeinem Befund gibt es unter es seinen Kollegen keine Differenzen. Sehr wohl aber schärfere Analysen zu den Vorgängen in der Spitze der Pyramide. So bei Jussif  Diskin, Assistent des Direktors am Institut für sozialökonomische Probleme der Bevölkerung in Moskau. Er leitete Untersuchungen, die das Institut nach dem 17.8. in der Bevölkerung und danach auch unter Rußlands Reichen im Auftrag der russischen Zentralbank durchführte.
Von einem Krach möchte auch Diskin nicht reden. Einen Krach habe es nur für zwei Dutzend Großbanken, Investitionsgesellschaften und Finanzkorporationen gegeben. Dort und zwar ausschließlich dort, wo – wie Diskin sich ausdrückt -zusammengraubte Spekulationsgelder verfielen, dort sei effektiv Geld verloren worden. Aber auch dort müsse man sehr genau hinsehen, was wirklich geschen sei:

O-Ton 21, Diskin    16,B, 244 –
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz aufblenden, wieder abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„No, tut nado otschen..
„Erfolgte der Zusammenbruch für die Leute, die die Strukturen beherrschen? Nein! Sie überlebten! Warum? Weil sie während der Privatisierung Betriebe des realen Sektors für Spottgelder kauften. Also: Oneximbank – Potanin! Onexibank ist zusammengebrochen, aber das Eigentum Potanins am Norilsker Nickel in Krasnojarsk mit einem Umsatz von 6 Milliarden Dollar ist nicht berührt. Weiter: Bank Minotep brach zusammen, nicht aber Jukes, der riesige Öl-Chemie-Konzern, der zweitgrößte Rußlands. Die Mosbank! Sie brach zusammen, aber keineswegs die dahinter stehende Mediaholding, unsere größte Konzentration von Massenmedien. Mit den oligarchischen Strukturen, die in die reale Sphäre hatten vordringen können, ist nichts Katastrophisches passiert. Sie verloren Geld, ja, aber sie sind weiterhin die starken Figuren im russischen Wirtschaftsleben. So ist der frühere Ministerpräsident Tschubajs jetzt Manager der weltweit größten Industriekorporation; er ist Generaldierektor von RAOES, Russische Energiesysteme. Gerade jetzt im Moment ist RAOES dabei, der größte Exporteur Rußlands überhaupt zu werden.“ (299)
..exportörom, Rossije.“

Erzähler:
Paradox aber wahr, so Diskin, könne das durch den Zusammenbruch der Spekulation gereinigte Kapital sich in Rußland heute auf die Entwicklung des neu entstehenden heimischen Marktes konzentrieren. Was aber fehle sei nicht etwa Geld, das sei vorhanden, sondern vor allem soziales Kapital:

„O-Ton 22: Diskin, Forts.                16,B, 594 – 647
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Cewodnja usche… (neuer Anfang!!! Zweit Sätze weiter)
„Woraus setzt sich soziale Kapital zusammen? Erstens, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Rugulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, auch keine hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem. Es gibt eine innere korporative Ethik, die Frage der Motivation. (610) Hauptproblem des russischen Wirtschaftslebens ist aber zur Zeit die äußere: Unser Management ist heute praktisch ohne Verantwortung! Es ist an persönliche Interessen gebunden, die mit denen der Korporation nicht zusammenfallen. Grundursache dafür ist, daß das Eigentum bei uns nominal ist: Das Eigentum ist verteilt, aber das Management ist niemanden untergeordnet. Die Gesetzeslage erlaubt es dem Manager sogar, seine eigene kleine Firma auf Kosten der Gesamtkorporation zu betreiben. … (639) Erst wenn das Management sich mit dem Gewinn der Koporationen identifiziert, kann in Rußland der Aufstieg beginnen. In einigen Fällen gibt es das schon, wie gesagt. …. Aber hier findet der Hauptkampf gegenwärtig statt. Management gegen Eigentümer: Aktenkauf, Schiebung, Mord und Totschlag.“
…Sdes clutschwoi barbar idjot.“

Erzähler:
Boris Kagarlitzky, früherer Aktivist der Perestroika, heute freischwebender Reformsozialist, will bei solchen Beobachtungen nicht stehen bleiben. Mit Verweis auf die allgemeine Stimmungslage erklärt er:

O-Ton 23: Kagarlitzki                     5/A,615 – ohne
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Nu, wa pervich…
„Nun, erstens hat der Krach die Unmöglichkeit gezeigt, mit der bisherigen neoliberalen Politik fortzufahren. Und das Wichtigste ist: Das begreifen nicht nur die Gegner dieser Politik wie Szuganow oder Prochanow, sondern in starkem Maße auch ihre Befürworter, vor allem die, die mit dem inneren Markt und irgendwie mit der Industrien zu tun haben. Zweitens hat die soziale Basis des Staates gewechselt.
Bis 1998 war das in Moskau und anderen größeren Städten die nachsowjetische Mittelklasse. (…639…) Die hat zwar selbst nichts produziert, sondern spekuliert, aber um sich herum doch Arbeitsplätze geschaffen. Das waren schon nicht mehr nur die neuen Russen, das war schon gut 10% der Bevölkerung. …  Das alles brach nach dem 17.8. zusammen. (…703…) Das heißt, der Krach hat vor allem die sozialen Ressourcen Systems geschwächt. Es muß sich neu orientieren.“

Erzähler:
Kagarlitzki spricht von einer neuen Phase der Perestroika. Ewig könne man nicht weiter vom Speck leben, nachdem alles privatisiert worden sei, was habe privatisiert werden können, meint er:

O-Ton 24:                            5, B, 175 – ohne
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden,

Übersetzer:
„Prosta grabit ressurssi
„Einfach nur die Ressourcen auszubeuten, die aus der Sowjetzeit überkommen sind, ist nicht möglich. Die Straßen verfallen, die Schienen, die Betriebe, das Telefonnetz, alles zerfällt; man muß investieren, muß wieder produzieren. Das geschah bisher nicht. Im bisherigen System gab es keine Mechanismen, Mittel dafür aufzubringen. Deshalb war das Ende absolut folgerichtig und unvermeidlich. Die Frage ist eher, warum er erst jetzt kam.“

Erzähler:
Aber was die neue Phase bringen wird, ist vollkommen offen:

O-Ton 25: Kagarlitzki, Ende                        6,A,168 – 213
Regie: Ton stehen lassen, unterlegenabblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer;
„Nelsja prognosirowatj…
„Es ist nicht möglich zu das Resultat dieser Perestroika zu so einem frühen Zeitpunkt zu progostizieren. Alle Entscheidungen, die gegenwärtig getroffen werden, sind nur vorübergehender Natur: Etwa die gegenwärtige Niedrigzinspolitik zur Stärkung von Investitionen; die andere Verteilung des Budgets, also keine neuen Staatsschulden, stattdessen Zahlung der Löhne, um soziale Spannungen zu vermeiden; die Lösung der Zentralbank von Vorgaben des IWF, indem sie in kleinen Mengen Geld druckt, um den inneren Markt in Gang zu halten. Der Krieg auf dem Balkan wird die Elemente stärken, die auf Loslösung vom Westen drängen. Im Prinzip ist das nützlich für Rußland. (…ich…) Aber klar ist: So oder so bekommen wir eine Gesellschaft, in welcher der Staat eine wesentlich größere Rolle spielt, in dem es ein Minimum an sozialen Garantien geben wird. Die Frage ist nur, ob es ein demokratischer Staat sein wird oder ein oligarchisch korrumpierter. Es wird auf jeden Fall nicht das liberale Modell sein, sondern entweder oligarchisch, vielleicht auch oligarchisch-bürokratisch oder demokratisch sozialistisch. Im Moment baut sich alles in Richtung der ersten Variante auf.“
..paka tosche rana.“

Erzähler:
Soziale Restauration oder Entwicklungsdiktatur, lautet die Formel, auf die Boris Kagarlitzki die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen Rußlands schließlich bringt, nicht ohne daraufhinzuweisen, es sei noch zu früh zu sagen, daß die demokratische Variante gar keine Chance hätte, denn jede Phase habe doch ihre eigene Dynamik und bringe ihre eigenen Hoffnungen hervor. Dem ist, außer der eigenen Hoffnung, daß er damit recht haben möge, nichts weiter hinzuzufügen.

Rußland im Schock Folgen des Kosovokrieges für Rußland

O-Ton 1, Bobby 1/1: Musik vom Lautsprecherwagen    3,23
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, ggflls. zwischendurch hochziehen, nach Erzähler hochziehen, verblenden

…Gemurmel, Takt, Musik…

Erzähler:
Moskau. 1. Mai 1999. Antifaschistische Lieder. Patriotische Parolen. Zum traditionellen „Prasdnik“, dem revolutionären Festtag, hat die Kommunistische Partei ihr patriotisches Umfeld aufgerufen. Zur alternativen Maifeier rief die vom Moskauer Bürgermeister  Juri Luschkow gegründete Organisation „Vaterland“, zusammen mit den Moskauer freien Gewerkschaften auf. Patriotisches busyness as usual mit Blick auf die bevorstehenden Dumawahlen wäre das noch vor zwei Monaten gewesen, denn beide Blöcke bereiten sich zur Wahl der neuen Duma vor. Juri Luschkow gilt wie der Vorsitzende der KP, Gennadi Szuganow, darüberhinaus als Anwärter für die Nachfolge des Präsidenten.
Aber diesesmal ist alles anders als in den Vorjahren, in denen man gegen kriminelle Privatisierung, gegen nicht gezahlte Löhne und andere negative Begleiterscheinungen der Jelzinschen Innenpolitik protestierte. Diesesmal stehen beide Züge unter der alles überragenden Hauptforderung: „Stoppt den NATO-Krieg in Jugoslawien jetzt!“ Eine patriotische Front gegen das, was in der russischen Presse der Wahnsinn des Westens genannt wird, scheint über die
Lager hinweg zu entstehen.

O-Ton 2, Bobby 2/1: Teilnehmer des Zuges    1,00
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „Vietnam“ vorübergehend hochziehen

Erzähler::
„Ja dumaju…
„Man muß den Krieg sofort beenden“, meint dieser Mann, Pensionär, Teilnehmer im kommunistischen Block, auf die Frage, was das Wichtigste an diesem Tag sei, „denn wenn erst ein Landkrieg beginnt, werden die Jugoslawen kämpfen wie einst unsere Partisanen im zweiten Weltkrieg. Das wird ein Volkskrieg, ein neues Vietnam.“
…i nowi Vietnam.“

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Er verstehe diesen Krieg nicht, sagt der Alte. Daß zwölf große Staaten in dieser Weise über einen kleinen herfallen könnten! So würden doch nur neue  Probleme geschaffen: Hunger, Epidemien, Katastrophen! Im Übrigen würden ja nicht nur die Serben, auch die Albaner betroffen und so werde es weitergehen. Wer Schuld daran sei? Die USA, Clinton! Europa müsse sich von Amerika befreien, Schluß machen mit der Zerstörung, Deutschland müsse entsprechende Zeichen setzen.

Erzähler:
Von der Seite her mischt sich diese Frau ein:

O-Ton 3, Bobby 1/2: Gruppe im Demonstrationszug    1,41
Regie: Verblenden, stehen lassen, unterlegen, zwischendurch hochziehen, am Ende hochziehen und verblenden

Erzähler:
„…samie glownie prekratit voinu…
„Ja,  das Allerwichtigste ist, den Krieg zu beenden“, sagt die Frau, „aber das Zweite ist, Jelzin zu stürzen, der eine Schande für unser Volk ist. Jugoslawien stirbt! – und er kann keine Waffen liefern, weil er alles verkauft hat!.“
„Sie sind alle Verräter“, wirft eine andere Frau ein.
„Sie machen den Krieg, um die Adria in die Hand zu kriegen,“ fährt die erste Frau fort, „danach nach Rußland vorzudringen und dann die ganze Welt zu beherrschen. Verstehen Sie, daß ist ja ein weltweites Banditentum.
„Ruhe! Ruhe!“, mahnen einige Umstehende. „Was heißt Ruhe“, erwidert die Frau, „wir sind ein patriotisches, sind ein ehrliches Volk hier in Rußland, wir haben große Erfahrung. Jetzt können wir nicht ruhig schlafen, es ist uns peinlich vor dem jugoslawischen Volk, daß wir ihm nicht helfen können, weil alles in den Händen Jelzins liegt. Jelzin ist ein Verräter, ein gewissenloser Schurke, einfach ein Feigling, ein Sklave Clintons.“
… Clintona.“

O-Ton 4, Bobby 2/2: Mann    0,30
Regie: Verblenden, kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, kurz hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Satschem vam eta nuschna…
. „Wofür habt ihr Deutschen das nötig“, fällt ein Mann ein, der den ausländischen Korrespondenten erkannt hat. „Sie waren doch schon einmal in Jugoslawien. Da hat es Massenhinrichtungen gegeben; man hat Köpfe abgeschlagen; es gibt Fotografien. Noch heute gibt es Orte, wo kein Deutscher hingehen darf. Wofür müssen Sie das haben? Die Umstehenden nicken..
…wy Nemez…“

Erzähler:
Ein junger Mann im Block der Jungkommunisten antwortet auf die Frage, was Rußland in dieser Situation tun könne:

O-Ton 5, Bobby 1/3: Jungkommunist im Zug    0,29
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„Eta wapros, katorie…
„Die Frage betrifft natürlich die herrschende Elite, die keine eigenständige Politik zustandekriegt. Ich selbst schlage vor, daß eine militärische Hilfe geleistet wird und eine klare Doktrin für die Zukunft aufgestellt wird. Stellen Sie sich doch eine Erklärung vor, daß bei Fortsetzung der Bombardierung Belgrads durch die NATO, Rußland die Hauptstädte der NATO-Länder bombardieren wird. Das würde den Krieg sofort stoppen.“
.. astanavila voinu.“

Erzähler:
Eine junge Frau kommt von sich aus, um eine Erklärung abzugeben. Dieser Krieg sei eine Entlarvung des Westens, findet sie. Für Rußland aber habe er höchst unerwartete Auswirkungen:

O-Ton 6, Bobby 2/3: Junge Frau im Zug    1,50
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzerin:
„Wy snaetje…
„Niemand von uns hat wohl erwartet, daß schon in der ersten Nacht nach Beginn der NATO-Agression zig Dutzende von jungen Leuten sich vor der amerikanischen Botschaft sammeln würden, von denen es ja immer heißt, daß sie bereits in diesen neuen Werten aufgewachsen seien. Auf einmal zeigt es sich, daß das alles nicht so einfach ist. Ich war selbst da. Da tauchten Plakate auf mit der Aufschrift: `Keine Angst Russen, die Serben sind mit Euch!´ Das ist natürlich bittere Ironie, aber darin zeigt sich, daß die Situation selbst unter jungen Leuten Patriotismus entstehen läßt. Sogar unsere Hacker haben sich eingeklinkt. Diese Tragödie wird nicht nur das russische Volk, sondern auch alle anderen Völker Rußlands zusammenführen; ich hoffe daß wir unsere Probleme ohne IWF und ohne Nadelstiche der NATO lösen können. Wir haben ja, Gott sei Dank, noch die Atomwaffen.“
…jaderne arusche“

Erzähler:
Solche Töne bleiben nicht unwidersprochen. Ein älterer Mann, fleckig im Gesicht, kommt heran:

O-Ton 7, Bobby 1/4: Tschernobyl „Liquidator“    0,58
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
10/B/670: „Ja chatil bi skasats…
„Ich würde gern einige Worte sagen. Ich bin erstens Physiker und zweitens
Liquidator von Tschernobyl, also einer von denen, die die Katastrophe unmittelbar bekämpften. Ich bin extrem beunruhigt durch die Situation, die sich gegenwärtig in Rußland, in Europa und in der Welt aufbaut. Die barbarische Bombardierung Jugoslawiens provoziert eine gewaltige ökologische Katastrophe in Europa. Explosion  chemischer Fabriken, Ölproduktion; die Raketen fliegen zudem über die Atomkraftwerke in Bulgarien, Unfälle sind zu befürchten.

O-Ton 8, Bobby 2/4: Platz, Sprüche vom Lautsprecherwagen    0,40
Regie: Verblenden, ganz allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen, verblenden

Übersetzer: (O-Ton 7: Forts.)
Aus meiner Sicht kann  es nur eines geben: Sofort die Bombenflüge einzustellen und alle Probleme auf dem Weg der Verhandlungen zu lösen, statt Mittel einzusetzen, die am Ende des 20. Jahrhunderts eine irrsinnige Barbarei sind.“
…nje moschet.“

Regie: O-Ton 8 hier hochziehen, kursz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Auf dem Kundgebungsplatz allerdings wird mächtig angeheizt: „Tod dem NATO-Faschismus! Nieder mit dem amerikanischen Terrorismus! Nie wieder deutscher Faschismus!“ brüllt der Sprecher. „Nieder mit der NATO! Keine Bombardierung Serbiens!. Es leben die jugioslawischen Brüder!“
…Hurra!“

O-Ton 9, Bobby 1/5: Gennadi Szuganow    1, 40 (?)
Regie: Verblenden,  kurz stehen lassen, unterlegen, zwischendurch beliebig aufblenden, am Schluß hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Hurra! Uwaschaemi Dusija…
Auch der Parteisekretär Gennadij Szuganow, heute wie immer bei solchen Anlässen der Hauptredner,  ist mehr um Agitation als um Erklärungen bemüht:

Übersetzer:
„Liebe Freunde, ich gratuliere zum 1. Mai: Arbeit, Frieden und Solidarität bezeichnen den Kern unseres Festes. Frieden haben wir  heute nicht. Die Faschisten der USA haben sich das Recht genommen, Ziele auf dem Planeten auszusuchen. Sie wählten das brüderliche Jugoslawien. Zwanzig Jahre davor haben sie vietnamesische Dörfer zerbombt, vor wenigen Monaten bombardierten sie den Irak. Ihnen gefallen heute die Völker nicht, die eine Politik der Gerechtigkeit führen, die ihr eigenes Gesicht haben, ihren eigenen Willen und das Verlangen, nach eigenen Gesetzen zu leben.
Clinton und Solana sprechen von Gesetzen, aber selbst umgingen sie die UNO und den Sicherheitsrat. Sie sprechen von Menschenrechten, aber werfen Bomben auf alle, die in Jugoslawien leben. Sie sprechen von Ökologie, aber selbst setzen sie Ölraffinerien und chemische Fabriken in Brand. Sie sprechen von einem einigen Europa, aber selbst bombardieren sie das einige Europa,  weil ein einiges Europa Hauptkonkurrent für Amerika geworden ist. Wir müssen unsere Stimme für unsere Brüder in Jugoslawien erheben: Wir sind mit Dir, jugoslawisches Volk, wir tun alles, um den Brand auf dem Balkan zu beenden. Sei Gegrüßt, kühnes und brüderliches Jugoslawien!“
…Hurra!

Erzähler:
Gleich nach dem Beifall fährt Szuganow fort:

O-Ton 10, Bobby 2/5 Szuganow, Forts.    1,40 (?)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Samaja glawnaja…
„Der Hauptgrund für den Krieg auf dem Balkan sitzt gleich hier nebenan im Kreml: Boris Jelzin, der außer vom Trinken und vom Desorganisieren der Wirtschaft des Landes nichts versteht. Er und Gorbatschow haben das große sowjetische Vaterland zerstört. Sie haben Millionen unseres Volkes heimatlos gemacht. Wenn heute von Balkanflüchtlingen geredet wird, dann  muß man sagen: damals hat es keine Flüchtlinge gegeben und jeder Mensch lebte ruhig und sicher. Warum hat man nicht Gorbatschow oder Jelzin bombardiert, als sie Millionen von Flüchtlingen zu verantworten hatten? Allein aus Tschetschenien sind Dreißigtausend geflüchte; in unserem Vaterland gibt es fast 15 Millionen Hungernde, 20 Millionen Arbeitslose, 130 Millionen unzureichend gekleidete und alle durchweg im Elend. Heute werden von der NATO die als Ziele ausgewählt, an denen man zeigen kann, was man mit den anderen macht, die nicht nach den Regeln der NATO leben wollen. Aber nein, meine Herren Amerikaner, wir werden nicht nach ihren Gesetzen leben. Sie wollen, daß wir ihre Filme sehen, daß wir ihre Waren kaufen, sie wollen, daß wie denken, wie es ihnen gefällt. Aber das wird nicht geschehen. Das Volk wird sich dem nicht beugen. Deshalb sage ich: Nein zum Faschismus! Das Volk wendet sich gegen solche Agression! Der erste Schritt dazu ist der Rücktritt Boris Jelzins.“
…Jelzina.“

O-Ton 11, Bobby 1/6:Musik    1,46
Regie: Nach Stichwort „Jelzina“ einblenden, Musik kurz frei stehen lassen, dann allmählich abblenden

Erzähler:
Die seit Jahren vorgetragene Kritik aus dem Lager der Reformgegner an dem von ihnen beklagten Ausverkauf Rußlands an den Westen findet in diesen Positionen Szuganows ihren Höhepunkt. Die Bomben der NATO drohen die Gefühle der nationalen Erniedrigung gegenüber einem aus dem kalten Krieg siegreich hervorgegangenen Westen in ein Verlangen nach Revanche zu steigern, das an die deutschen Stimmungen nach dem Friedensschluß von Versailles gemahnt.
Was in Parteireden noch verhalten erscheint, tritt im Umkreis  Szuganows offen hervor, so etwa bei Alexander Prochanow. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Mit Szuganow zusammen gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Wirkung der jugoslawischen Ereignisse auf Rußland mit den Worten:

O-Ton 12, Bobby 1/7Alexander Prochanow    1,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Auf Pressekonferenzen verurteilt Szuganow die nationalistische Politik Miloševiç` und fordert Verhandlungen. Von militärischer Unterstützung keine Rede. Den in den ersten Tagen des Krieges erhobenen Ruf nach Entsendung russischer Freiwilliger ins Kosovo widerholt er öffentlich nicht. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.

O-Ton-13, Bobby 2/6: Bürgermeister Luschkow    0,50 (?)
Regie: TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Die patriotische Welle ist damit aber keineswegs ausgelaufen. Mit Kritik an der Regierung endete auch die Demonstration, an deren Spitze sich Juri Luschkow mit der von ihm gegründeten Organisation „Otstschetswo“, Vaterland gestellt hatte. Im abendlichen Fernsehen, das am 1. Mai über beide Demonstrationen gleichermaßen berichtete, vor allem über deren Protest gegen den Krieg in Jugoslawien, wurde der Bürgermeister mit dem Satz zitiert:

Regie: Kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladawitzja.“

Erzähler:
Das klingt wenig provokativ, fast unpolitisch. Bei einem Besuch im Stabsquartier von „Otetschestwo“ klingen jedoch andere Töne auf, wenn PR-Chef Wladimir Martynow erläutert, wie Juri Luschkow als zukünftiger Präsident Rußlands sein „Modell Moskau“ auf das ganze Land übertragen will.
Schon bei der Erläuterung der Konsequenzen, die aus dem Bankenkrach vom 17. August 1998 folgen, sind die vaterländischen Töne nicht mehr zu überhören:

O-Ton 14, Bobby 2/7: Wladimir Martynow    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja zelekom und polnesto uveren…
„Ich bin voll und ganz überzeugt davon, daß das Ziel Rußlands, ein unteres, ein kleines Ziel darin besteht, eigene Hühnerbeine hervorzubringen, statt Hühnerbeine aus Amerika einzuführen. Wir müssen eigene Chips haben und nicht französische oder italienische. Wir sollten  unsere eigenen Makaroni herstellen und nicht italienische Spaghetti. Mögen auch die russischen Makaroni Spaghetti heißen. Wenn wir in New York hergestellte Pelmenije, unsere nationalen Teigtäschchen, nach Moskau oder in andere russische Städte bringen, dann geht das schon ins Absurde. Ich habe nichts gegen Makaroni, die nach italienischen Rezepten gemacht werden, wenn sie nur in Moskau, wenn sie nur von russischen Arbeitern hergestellt werden, die dafür Lohn  bekommen.“
…sarplatu.“

Erzähler:
Soweit, so alltäglich in einem Land, für dessen Regierung die wichtigste Aufgabe inzwischen darin besteht, den volkommenen Zusammenbruch der eigenen Produktion zu verhindern. Die Begründung, die Martinow für seine Forderung nach verstärkter Entwicklung heimischer Produktion gibt, führt jedoch unvermutet mitten in den jugoslawischen Krieg:

O-Ton 15, Bobby 2/8: Forts., Martinow    1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Sravnitelni nje dawna…
„Vor relativ kurzer Zeit erschien ein Gesetz über Produktionssicherheit. Die Sache ist so: Heute hängen einige Regionen zu mehr als zwanzig oder gar dreißig Prozent von ausländischen Produkten ab. Die Sicherheit eines Landes ist aber, so stellt das Gesetz fest, nur noch bis zu siebzehn Prozent gewährleistet. Was bedeutet das heute, wo USA oder ihre NATO-Verbündeten ein Embargo gegen Jugoslawien verhängen? Das  bedeutet, daß wir gezwungen sind, das Embargo der NATO-Länder zu unterstützen – wenn wir nicht selbst von Embargos getroffen werden wollen. Für die Regionen, die von westlichen Embargos betroffen würden, hieße das nämlich zu verhungern. Mir scheint daher, das Ziel Rußlands muß sein –  wie jedes beliebige Land des Westens – sich selbst mit Produkten so zu versorgen, daß es wirklich reicht.“
…jewo dewat.“

Erzähler:
Das ist, wie zurückhaltend auch formuliert, nichts anderes als die Forderung nach russischer Autarkie. Heute, so Martinow weiter, sei Rußland abhängig vom Westen, aber das könne sich durch den Krieg selber ändern.

O-Ton 16, Bobby 2/9: Martinow, Forts.    0,40
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„K ssoschellennije…
„Bedauerlicherweise könnte der Westen hier wie dort, in Jugoslawien, ebenso wie in Rußland ganz und gar nicht das erhalten, was er sich als Resultat der Bombardierung erwartet. Das Bombardement ist ja nicht nur ein Bombardement Jugoslawiens; es ist ja ein Bombardement Rußlands und der Beziehungen zu Rußland und dem Westen. Eine Fortsetzung solcher Aktionen seitens der NATO wird den Rückzug Rußland von den Ländern der NATO nach sich ziehen.“
…sapadem sotrotschestwo.“

Erzähler:
Bei Michail Nagaitzew, dem Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaft, bekommt dieses Bild noch weitere Farbe: Nagaitzew, 1991 Radikaldemokrat im Gefolge Jelzins, ist seit deren Gründung Mitglied in Juri Luschkows „Otetschestwo“. Bürgermeister und Gewerkschaftspräsident haben einen Pakt für Arbeit geschlossen, der sich in gewerkschaftlich unterstützten städtischen Programmen der Arbeitsbeschaffung niederschlägt. Bei Michail Nagaitzev ist Erstaunliches zu erfahren: Zunächst geht es um den Bankenkrach vom 17. Augst des Jahres 98. Er habe zwar die allgemeine Armut in Rußland erhöht:

O-Ton 17, Bobby 2/10: Michail Nagaitzev    1,10
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Als Ergebnis aber wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Die Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann auch andere Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Davor lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Rußland, so Michail Nagaitzew, habe auf diese Weise einen Schritt zur Abkoppelung vom Tropf der westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 18, Bobby 2/11: Nagaitzev, Forts.    0,25
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Auf zweifelnde Nachfrage hin konkretisiert er, nachdem er sich zuvor persönlich vom serbischen Nationalismus ebenso wie von der NATO distanziert hat:

O-Ton 19, Bobby 2/12: Nagaitzew Forts.    1,15
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A potsche mu njet…
„Und warum denn nicht? Clinton hat anderthalbtausend Raketen abgeschossen. Die müssen ergänzt werden. Morgen werden General Motors und all die anderen ihre Aufträge erhalten. Genauso kann Rußland auftreten, oder?
Ein Land wie Rußland muß ebenfalls eine Rüstungsindustrie auf hohem Nievau haben, sie ausbauen und sie entwickeln. Für die eigene Sicherheit. Damit nicht, Gott bewahre, morgen auf den Fernsehturm am Ostankino irgendeine Rakete niedergeht. Soll Rußland Waffen verkaufen? Es soll. Soll es Leitsysteme verkaufen? Ja, es soll. Das Problem ist nur, gegenwärtig ist es nicht so: Die USA, Frankreich  – nun wir wissen, daß der Markt nach dem Ende der Sowjetunion aufgeteilt ist.“

Erzähler:
Aus realen Konflikten aber solle Rußland sich heraushalten, findet Michail Nagaitzev. Dafür sei es heute nicht reich genug.
…obrasim utschatstewats.“

Erzähler:
Der dritte und letzte Zeuge auf  der Linie der Pragmatiker ist Anatoli Baranow. Auch er war Anfang der 90er Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt.

O-Ton 20, Bobby 2/13: Anatoli Baranow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt Anatoli Baranow. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und  andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“ Auch Baranow sieht jedoch im Bankenkrach vom  August `98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 21, Bobby 2/14: Baranow, Forts.    1,24
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber sie bilden sich. Es geschieht vor allem im Namen der jungen Leute. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden. Sie wollen eine gute Ausbildung, wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht Baranow sich gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur deutlicher:

O-Ton 22, Bobby 2/15: Forts. Anatoli Baranow    0,30
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Mit solchen Ausführungen ist der Kreis zum Lager Gennadij Szuganows und seiner Freunde idelogisch geschlossen, auch wenn man sich politisch in getrennten Marschsäulen bewegt und vermutlich auch weiter bewegen wird. Zu groß ist immer noch die atomisierende Dynamik aus der Explosion des früheren sowjetischen Monolithen, als daß eine patriotische Front Rußland morgen auf einen geschlossenen nationalistischen Kurs bringen könnte. Mit  jeder NATO-Bombe aber, die auf Jugoslawien niederging, sind die Vorraussetzungen
dafür gewachsen. Kein Wunder also, daß Rußlands Demokraten zu den schärfsten Kritikern des NATO-Bombardements gehören:

O-Ton 23, Bobby 2/16: Alexander Simonow    1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Samije chutsche…
„Das Schlimmste, was die Bombardierung. Jugoslawiens für Rußland gebracht hat, ist die moralische Rechtfertigung des krassesten Nationalismus, des Panslawinismus und der kommunistischen Revanche. Selbst die dürftigsten nationalistischen Politiker verwandeln sich plötzlich in bissige Feuervögel. Der Krieg hat ihnen eine Perspektive eröffnet. Nach der ersten Woche hat sich die allgemeine Euphorie des Mitleids ein bißchen gelegt. Aber man kann sagen: In Rußland liebte man schon immer die Notleidenden, in Rußland stand man immer auf der Seite der Gekränkten und in diesem Sinne diese fielen diese äußerst unangenehmen Samen auf einen sehr fruchtbaren Boden. Deshalb wurde es für die Leute, die ein normales, demokratisches Rußland haben möchten, um sehr vieles schwieriger hier zu leben und zu arbeiten. Innerhalb eines Monats!“
…tetschenije mezez

Erzähler:
Der Mann, der so spricht, ist Alexander Simonow, Leiter der „Stiftung zum Schutze von Glasnost“, der entscheidenden Institution Rußlands zur Förderung und Verteidigung der Presse- und Medienfreiheit. Die Stiftung wurde 1991 mit amerikanischen Hilfsgeldern gegründet und lebt bis heute von europäischen und amerikanischen Spendengeldern. Sie gehörte mit zu den schärfsten Kritikern des Krieges in Tschetschenien. „Was gibt uns die Garantie“, fragt Simonow, „daß ein neues Tschetschenien  morgen nicht genauso beantwortet wird?“
Simonow versteht die Welt nicht mehr. Miloševiç ist für ihn ein Verbrecher. Da kennt er keine Diskussion. Aber die Bombardierung des TV-Zentrums in Belgrad lag für ihn jenseits dessen, was er von seinen amerikanischen Freunden hinzunehmen bereit ist:

O-Ton 24, Bobby 2/17: Forts. Simonow    0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„No, jesli ani destwujut..
„Wenn sie mit genau denselben Mitteln agieren, dann hört für mich die Logik auf , dann wird eine andere Logik dahinter erkennbar. Dann heißt das, da gibt es Gründe, die man uns nicht nennt. Jemand ist interessiert daran, daß Jugoslawien, ganz Jugoslawien eine black box wird. Miloševiç  unterdrückt die Presse im Lande, aber die NATO unterbindet überhaupt jegliche Informationsgewinnung auch ihrer eigenen Leute.“
…swoiimi  kampagnami.“

Erzähler:
Andere überzeugte Westler flüchten sich in den Sarkasmus. So Dima Pinsker politischer Kommentator an der Zeitschrift „Itogi“, die als Coproduktion des US-Magazins „Newsweek“ und in Verbindung zu der gleichnamigen Sendung des russischen Fernsehens NTW in Rußland erscheint. Gegner bezeichnen Sender und Zeitung als Agenturen des CIA. Nach der Feststellung, die Bomben der NATO trügen nur dazu bei, die Solidarität der Serben mit Miloševiç zu erhöhen, wie die russischen seinerzeit die Solidarität mit Tschetscheniens Präsident Dudajew erhöht hätten, zitiert er einen Kollegen zustimmend mit dessen Fazit:

O-Ton 25,  Bobby 2/18: Dima Pinsker    0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblen den, unterlegen, hochziehen, abblenden
.
Übersetzer:
„Ransche mi..
„Früher haben wir geglaubt, daß nur in Rußland Idioten an der Macht seien, jetzt wissen wir, daß bedauerlicherweise genau solche Idioten in Washington sitzen. Das ist ziemlich unangenehm, denn die liberal ausgerichtete Schicht Rußlands hat sich die ganze Zeit nach Amerika, nach Europa orientiert.
…na ewropu.“

Erzähler:
Dies ist auch der Tenor, den Viktor Makarow anschlägt, Professor der Psychologie in Moskau, der sich seit der Öffnung der Sowjetunion um die Verbindung russischer und westlicher Traditionen der Psychologie und Psychotherapie bemüht:

O-Ton 26, Bobby 2/19: Viktor Makarow    1,10
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblen den, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nascha strana…
„Unser Land hat die Auswirkungen dieses Krieges bisher noch gar nicht erfaßt.. Die Intelligenz befindet sich im Schockzustand. Sie hat sich in den letzten Jahren sehr nach Amerika orientiert. Jetzt führt der Westen Krieg gegen Jugoslawien. Das ist für uns unerwartet und unerklärlich. Das Schlimmste daran ist, daß das Bild der westlichen Welt in den Augen unserer Bevölkerung zerstört wird und die westliche Welt für uns agressiv wird, hoffnungslos. Das ist für mich als Mensch, der sich an einer Gesellschaft nach westlichen Vorstellungen orientiert, das Unangenehmste. Das Ganze bedeutet., daß die Entwicklungen sich mehr eigenen, russischen, nachsowjetischen Vorstellungen, Methoden usw. zuwenden wird und weniger Möglichkeiten des Austausches mit dem Westen bestehen.“
…kontaktow sapadem.“

Erzähler:
Die Angst vor einer solchen Entwicklung ist umso größer, je weiter die Entfernung vom Zentrum Moskau ist. Professor Gennadi Kolotirin aus dem fernen Charbarowsk, zu einem von Viktor Makarow organisierten allrussischen Psychologenkongreß  unter der Frage: „Psychologie im Übergang zum nächsten Jahrtausend.“ eigens nach Moskau angereist, formuliert das so:

O-Tron 27,  Bobby 2/20: Prof. aus Charabarowsk    1,26
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwei 0,50 nach Übersetzer zwischendurch hochziehen,  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Konjeschna, nje smotrja na to…
„Selbstverständlich hat der Krieg Auswirkungen auf uns. Ungeachtet dessen, daß wir im fernen Osten leben, daß uns Japan, China, Korea und die USA näher sind, berührt uns die Frage sehr, weil wir besonders empfindlich sind für separatistische Entwicklungen. Aus der Geschichte ist ja bekannt, daß der Ferne Osten stolz darauf war, eine unabhängige Republik zu sein. Er hatte seine spezielle Pufferrolle  gegenüber Japan. Einige unserer Alten erinnern sich noch selbst daran. Deshalb waren wir sehr beunruhigt, als die Sowjetunion zerfiel, daß in Rußland separatistische Tendenzen entstanden. Die jugoslawischen Ereignisse berühren uns daher äußersten Maße.“
…sadevajut.“

Erzähler:
„Worin unterscheidet sich Serbien von Tschetschenien?“, fragt auch der Professor aus Chabarowsk, „worin der Kaukasus vom Balkan oder von Zentralasien? All diese Gebiete sind Übergänge zum nahen Osten mit alten Verwandschafts- und Völkerbeziehungen. Überall glimmen dieselben Konflikte. Heute bombardiert die NATO Jugoslawien. Wozu ist sie morgen bereit? Deshalb sind bei uns alle katagorisch gegen das Vorgehen  der NATO und für Regelungen durch die UNO.“
…gatownost.“

Erzähler:
Die Vorstellung, der Krieg in Jugoslawien könne sich in einer Balkanisierung des Vielvölkerstaates Rußland fortsetzen, ist die größte Sorge in der russischen Bevölkerung. Weit entfernt von solchen Ängsten ebenso wie vom Hurra-Geschrei der Nationalisten machen Rußlands Analytiker eine verblüffend ruhige Bestandsaufnahme der Situation: Nehmen wir Jussef Diskin, Soziologe, der jüngeren Generation, der unter anderem  demografische und soziale Studien für die Russische Zentralbank durchführt: Die Bombardierung Serbiens nennt er geradeheraus eine Dummheit des Westens. Clinton, witzelt er, habe vielleicht zuviele Sexpostillen und Western gelesen. Das Resultat dieses Krieges werde jedenfalls, da stimme er der Erwartung von „Otetschestwo“ zu,  dem entgegengesetzt sein, das der Westen, speziell Amerika, davon erwarte:

O-Ton 28, Bobby 2/21: Jussef Diskin     1,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Na moi wsglad…
„Aus meiner Sicht, wenn´s auch zynisch klingt, sind die Ereignisse auf dem Balkan für Rußland äußerst nützlich. Und zwar aus verschiedenen Gründen.  Erstens haben sie die ideologische Verfaßtheit unseres Landes verändert. Gab es davor nur Sozialisten oder Demokraten, also Westler, das heißt, Gegner oder Befürworter der Reform, so haben wir jetzt drei politische Plattformen: Erstens Westler, zweitens Ultranationalisten und drittens gemäßigte Nationalisten. Neue Energien für die Entwicklung einer gesunden Mitte von der Art Luschkows entstehen, die den Staat auf Kurs zwischen Abkoppelung und Anbindung an den Westen entwickeln können. Das Zweite ist: Der Westen ist gezwungen die Bedeutung Rußlands neu wahrzunehmen. Nach dem 17. August  war Rußland für den Westen ja schon fast am Horizont verschwunden. Jetzt hat es, zusammen mit China, seine Rolle als Vertreter einer anderen als der von der NATO favorisierten One-World-Ordnung angetreten. Es steht für eine entstehende multipolare Welt.“

O-Ton 29, Bobby 1/8: Rock am roten Platz    1,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Beifall, Musik
Was Diskin formuliert, ist in Rußland zur Zeit analytischer Konsens und als wollte er eben dieses praktisch beweisen, läßt Bürgermeister  Juri Luschkow am Abend des 1. Mai ein Rockkonzert „Stop NATO“ an den Mauern des Kreml  organisieren. Der Zuspruch ist überwältigend: Zu Tausenden strömt Moskaus Jugend auf den Platz. Niemand fordert hier eine militärische Lösung, aber auch niemand ist hier bereit, eine Unterordnung Rußlands unter die NATO zu akzeptieren. Unter dem Einfluß dieses Krieges wächst hier, da ist den Analytikern zuzustimmen, ein Rußland heran, das Kraft aus seiner Rolle als Vermitller des Weltfriedens und für die friedliche Herausbildung einer neuen Weltordnung zieht.

Babuschka und ihre Töchter – Neue Kraft der Frauen oder alte Klischees? (Text)

Babuschka und ihre Töchter –
Neue Kraft der Frauen oder alte Klischees?

„Bei uns gibt es keinen Sex!“ Wer schmunzelt nicht in Erinnerung an diesen Ausbruch einer sowjetischen Teilnehmerin bei einer der ersten Telebrücken zwischen Rußland, damals noch Sowjetunion, und dem neu erschlossenen Westen? In der Empörung dieses Ausbruches spiegelte sich die ganze beschränkte sozialistische Moral, die sich zwar realistisch gab, der aber jeder Realismus in der Beziehung der Geschlechter verloren gegangen war.
Wer heute auf Rußlands Plätzen, bei Veranstaltungen oder bei Konzerten Jugendliche beobachtet, kann den Eindruck bekommen, eine Generation mit gänzlich neuen Verhaltensweisen wachse heran. Locker, offen, dem Vergnügen und dem Sex zugewandt geben sich die jungen Leute heute: Jungen scheuen sich nicht, auf offener Bühne zu tanzen, Mädchen treten selbstbewußt auf, schon im Teeny-Alter betont weiblich, ja kokett. Das Fernsehen prägt eine Jugendkultur, in der Frei-Sein, Schrill-Sein, Brechen mit der verstaubten Welt des Sowjetischen angesagt ist. Westlich zu sein, das scheint „in“. Ist das die Wirklichkeit?
Beginnen wir in den Schulen. Koedukation war sowjetischer Standard. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dennoch beginnt sich ein Rollenbild in den Schulen zu etablieren,  von dem nicht sicher ist, was es bedeutet – die Wiederauflage vorsowjetischer Klischees oder eine Emanzipation ganz anderer Art, anders jedenfalls, als sie uns aus dem Westen vertraut ist.
In der Sowjetzeit herrschte das Gleichheitsgebot. Für die Beziehung von Männern und Frauen bedeutete das: Die Maskulinisierung der Frauen führte zur Übernahme schwerster Arbeiten durch sie. Die Verschiedenheit von Mann und Frau wurde geleugnet – zum Nachteil der Frauen, die bei gleichen Anforderungen die Folgen der tatsächlichen Unterschiede zu tragen hatten, nämlich Geburt, Erziehung, Pflege und Ausbildung der Kinder.
Befreit von diesem Gleichheitspostulat suchen Frauen und Mädchen Rußlands heute nach einer neuen Rolle. Wie sieht sie aus? Nehmen wir ein Beispiel, die Schule Nr. 10 in Nowosibirsk: Die Schule, obwohl keine der neuen privaten, gilt als besonders gut und modern, das heißt, westorientiert. Ohne ohne Scheu  geben Schülerinnen und Schüler mehrerer neunter Klassen Auskunft über ihre Beziehung zum anderen Geschlecht; es sind aber vor allem die Mädchen, die sprechen. An den Spruch vom Sex erinnert, der bei ihnen angeblich nicht vorkomme, brechen sie in Lachen aus. „Dafür gibt es nur e i n  passendes Wort“, erklären sie gelangweilt, ganz im neu-russischen Slang.: „Stupid!“ Natürlich gebe es „das“, versichern sie dann, allerdings ohne das Wort Sex auszusprechen. Man rede nur nicht darüber. Aber „das“ sei doch normal, bei ihnen nicht anders als in anderen zivilisierten Ländern auch.
Im übrigen betonen die Mädchen jedoch, daß ihre Beziehung zu den Jungen eine völlig andere als in Amerika sei:  In Rußland könne ein Junge ein halbes oder auch ein ganzes Jahr mit einem Mädchen gehen, ohne daß mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein müsse und ohne daß der Junge deswegen als „Versager oder so“ angemacht werde.
Sie habe kein Interesse an einem Jungen, der nur ihren Körper wolle, ist von einem der Mädchen zu hören. Die anderen pflichten ihr bei. Ein Mädchen sollte weiblich sein, finden sie, der Junge aber sollte sie nicht benutzen, sondern beschützen. Das sei seine Aufgabe als Mann. Die Jungen nicken dazu. Gefragt, ob sich in solchen Ansichten nicht die Klischees wiederholten, über die sie doch eben gerade noch gelacht hätten, antworten die Mädchen selbstbewußt: Natürlich nicht, denn heute seien Frauen wirtschaftlich nicht mehr von den Männern abhängig – als Mutter brauche die Frau aber nun einmal jemanden, der sie unterstütze.
Früh heiraten also, so wie es zu Sowjetzeiten üblich war? Gott bewahre! Nicht vor fünfundzwanzig! Erst das eigene Leben aufbauen! Früher habe man viel zu früh geheiratet, finden die Mädchen; früher habe man sich aber auch keine Sorgen um die Zukunft machen müssen. Man habe ja in einem sowjetischen Land gelebt, in dem noch von keinen Reformen die Rede gewesen sei. Heute dagegen müsse man sich erst wirtschaftlich absichern; danach komme alles andere. Emanzipation heißt für die Mädchen vor allem erst einmal: Abgrenzung vom sowjetischen Gleichheitsgebot. Heute gehe es den Frauen darum, ihren „echten weiblichen Platz“ wieder einzunehmen, dabei aber gleichberechtigt zu sein.
Der „echte weibliche Platz“, erklären die Mädchen, ist die Familie; und die Stellung in der Familie ist es, die das Recht der Frauen auf besondere Verehrung durch den Mann begründet. „Die Frau“, faßt ein Mädchen zusammen, wie  man eine wissenschaftliche Tatsache konstatiert, „ist ja effektiv die Herrin des Hauses, die Herrin der Familie; es geht nicht an, sie so stark zu belasten.“ Die Jungen schweigen dazu; sie haben dem offenbar nichts hinzuzufügen.

Im Direktorenzimmer der Schule wird bei einer Tasse Tee schnell klar, daß die Ansichten der neunten Klassen über Frauen und Männer nicht zufällig sind. Sie entspringen vielmehr den tiefsten Überzeugungen Natalja Raslawzewas, ihrer Direktorin, die mit Beginn der Reformen die Leitung der Schule Nr. 10 in Nowosibirsk übernommen hat.
Frau Raslawzewa gilt als reformfreudig und vorurteilsfrei. Seit sie Direktorin wurde, hat die Schule Nr. 10 den Ruf, ihre Zöglinge als freie, selbstbewußte Staatsbürger und -bürgerinnen zu entlassen, die auch im Ausland als Muster guter Erziehung gelten.
Das Verhältnis von Jungen und Mädchen hat für die Direktorin oberste Priorität. „Wir wollen die Frauen fraulich machen und die Männer männlich“ lautet die pädagogische Leitlinie, der sie folgt. Dafür hat die Schule, wie auch andere Schulen, die etwas auf sich halten, ein spezielles Programm, in dem den Mädchen Unterricht in Kosmetik, Kinderpflege und Kochen, den Jungen handwerkliche und technische Unterweisung, sowie Anleitung in Fragen des guten Benehmens gegeben wird. Sexualkunde ist selbstverständlich. Trotzdem werden die entsprechenden Stunden für Jungen und Mädchen getrennt gegeben. Man müsse die natürliche Scham achten, welche die Kinder mitbrächten, findet die Direktorin, man müsse sie allmählich vorbereiten. Später könne man ihnen dann sagen, daß Sexualität etwas Normales sei.
Letztlich, so die Direktorin, könne natürlich nur die Familie Männer und Frauen erziehen. Wenn ein Junge die Erniedrigung von Frauen in seiner Familie erlebe, dann werde in der Regel kein wohlerzogener Mann aus ihm. Aber die Schule habe eine große Bedeutung für die Korrektur; dafür gebe es viele Beispiele. Das Beispiel, das die Direktorin dann anführt, klingt für westliche Ohren höchst befremdlich, in Rußland kann man es heute überall hören, wo es um grundsätzliche Werte geht: „Wenn die Knaben hier in die Schule kommen“, sagt Frau Raslawzewa, „dann erzieht die Lehrerin sie so, daß sie beim Hineingehen in die Klasse den Mädchen die Tür aufhalten. Mit solchen sanften Schritten versuchen wir den Grund für die Verehrung der Frauen zu legen.“
Noch befremdlicher erscheinen die Argumente, mit denen Frau Raslawzewa die Notwendigkeit der Verehrung begründet: „Wir Frauen“, lächelt die Direktorin, „schaffen die Schönheit, schaffen die Harmonie zwischen den Menschen.“ Und weiter: „Die Frauen denken ja oft, ihre Aufgabe bestünde darin, den Mann umzukrempeln. Ich sage meinen Mädchen dagegen immer: Umkrempeln geht nicht – doch korrigieren kann man sie, allerdings korrigieren mit Milde, mit Liebe, mit Mitleid. Die Frau muß dem Mann die Augen öffnen für die Seiten des Lebens, die ihn veredeln, sie muß ihn erkennen lassen, wo er sich gut verhalten hat, damit er sich auch in Zukunft so verhält. Es kann auch sein, daß sie Probleme lösen muß, dem Mann das Gefühl geben muß, daß er stark und energisch ist.“
In Andschero-Sudschinsk, einem der schwärzesten Kohleorte im schwarzen, krisengeschüttelten Kusbass, antwortete ein fünzehnjähriges, wenig auffallendes, aber wohl recht intelligentes Mädchen auf die Frage, wie sie die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen heute sehe, mit den Worten: „Er muß akzeptieren, daß ich höher stehe als er. Er muß mir zeigen, daß er mich verehrt und für mich zu sorgen imstande ist. Dann gehe ich mit ihm, anders nicht.“
Die Mutter stand dabei und nickte. Genau! Etwas anderes könne ein Mädchen niemals zulassen bei dem Elend heutzutage, da viele Männer sich einfach durchschleppen ließen.
Kehren wir zurück zu der Direktorin der Schule Nr. 10. Zwei Hauptprobleme für die heutigen Beziehungen der Geschlechter zueinander sieht sie: Das eine klingt ähnlich wie in Andschero-Sudschinsk: Oft könne man heute hören, erklärt Frau Raslawzewa, daß die Männer keine Männer mehr seien, sondern Waschlappen. Die Statistik stütze eine solche Sichtweise leider. Viele Männer seien heute nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu ernähren. Wie könne sich der Mann da noch als Herr der Familie fühlen? Für den Staat gelte dasselbe. Wer solle Politikern vertrauen, die nicht in der Lage seien, die Ernährung des Volkes sicherzustellen? Für die Frau aber öffne sich heute der Käfig, in dem sie vorher gelebt habe. Zwar würden die Frauen eher entlassen und die Männer seien in der Regel die Chefs, schränkt Frau Raslawzewa ein; die eigentlichen Träger der schöpferischen Energie sind ihrer Ansicht nach trotzdem die Frauen, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, außer in der Politik, beim Militär und in der Wirtschaft.
Aber selbst in der Wirtschaft findet die Direktorin die Frauen doch eigentlich besser: Da, wo sie es schafften sich durchzusetzen, seien sie die verständigeren Chefs,  solche, die die Dinge zu Ende brächten, die sehr genau seien, die aufmerksamer mit den Menschen umgingen als die Männer. „Und heute“, so Frau Raslawzewa,  „in diesem krisenhaften Zustand der Gesellschaft, bei dieser Geldnot, bei diesen sozialen Problemen, hat die Beziehung zum Chef eben eine gewaltiges Gewicht.“
Aber gerade weil die Rollen von Frauen und Männern sich heute derart verschieben, will die Direktorin, daß ihre Mädchen anders denken. Sie will, daß ihre Mädchen die, wie sie sagt,  prinzipiell unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft nicht einfach hinnehmen, sondern als Gesetz begreifen. „Sie sollen verstehen“, so Frau Raslawzewa, „daß Männer die schwere Arbeit nicht einfach auf sich nehmen, weil das eben so ist, sondern daß sie es aus Achtung für die Frauen tun, daß sie es tun, damit ihre Frau ruhig und angenehm leben kann.“
Ein zweites großes Problem sieht Frau Raslawzewa in dem, was sie, ganz in Übereinstimmung mit dem offiziellen Sprachgebrauch der Schulbehörden, die Feminisierung der Gesellschaft nennt: Diese Feminisierung resultiert daraus, daß das gesamte Pflege- und Bildungswesen in Rußland in weiblichen Händen liegt – angefangen bei der Geburt über die Versorgung in der Familie, den Kindergarten, die Schule, die Jugendkulturhäuser bis zur Hochschule. Hier erst nehmen Männer, dann aber schon als Spezialisten, die Kinder in Empfang, deren Charakter bis dahin vollkommen von Frauen gebildet wird – zumal die Männer aus ihrem traditionellen, im Sowjetstil noch verstärkten Verständnis heraus häusliche Pflege, Erziehung und Bildung für Frauensache halten. Wenn dann noch hinzukomme, so Frau Raslawzewa, daß der Junge in einer Familie ohne Vater aufwachse, dann verliere er seine Männlichkeit, dann beginne er, Probleme nach Frauenart zu entscheiden. Deshalb sehe sie ihre Aufgabe auch darin, dafür zu sorgen, daß die Jungen ebenfalls ihr Ich entdecken, daß sie das Bewußtsein erlangen könnten: „Ich kann etwas schaffen!“
Wie vorher schon ihre Schülerinnen, kann auch die Direktorin in den Rollen, die sie Männern und Frauen zuweist, keine Wiederholung alter Stereotypen erkennen. Natürlich müsse man heute nicht mehr so scharf zwischen männlichen und weiblichen Arbeiten unterscheiden wie früher, eher gehe es um menschliche oder unmenschliche Arbeiten, meint sie. Letztlich aber gebe es doch immer noch eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die nicht wegzudiskutieren sei, nämlich, so die Direktorin sachlich, „daß die Frauen die Kinder nicht nur bekommen, sondern in der Regel auch aufziehen. Behaglichkeit und Ruhe der Familie stellt die Frau her. In diesem Sinne unterscheiden wir eben doch. Das“, konstatiert Frau Raslawzewa, „ist eben der natürliche Faktor.“
Die Schule, faßt die Direktorin die offizielle pädagogische Linie von heute zusammen, solle die jungen Leute natürlich nicht nur zu Männern oder Frauen, sondern zu Persönlichkeiten erziehen, zu Menschen, die in der Lage seien, in der Gemeinschaft zu leben. So ist es auch in den Grundsätzen der russischen Schulreform von 1992 zu lesen. Aber in der russischen Geschichte, fügt  Frau Rsalawzewa hinzu, habe sich doch immer wieder die grundlegende Bedeutung des weiblichen Prinzips erwiesen. In dessen Betonung liege so etwas wie ein Geheimnis der russischen Nation verborgen. Diese Weiblichkeit, diese Mütterlichkeit werde das russische Volk wohl immer mehr als andere Völker betonen und es sei wichtig, die Männer dazu zu erziehen. Andernfalls drohe eine Brutalisierung der Gesellschaft wie sie sich in der Männerkultur der Mafia oder auch in Kriegen wie dem tschetschenischen bereits ausdrücke.
Obwohl sie doch selbst eine Frau sei, die es liebe, frei und selbstbestimmt zu arbeiten, fügt die Direktorin zuguterletzt noch hinzu, verzichte sie lieber auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wenn dadurch der Mann seine Rolle als Ernährer der Familie wieder wahrnehmen könne. Nur so sei eine stabile Familie und damit eine Stabilität der Gesellschaft erreichbar.

So extrem diese Positionen erscheinen mögen, sowohl die der Jugendlichen als auch die der Direktorin, sind sie doch typisch für die Situation an den heutigen Schulen und Ausbildungsinstituten, gleichgültig  ob staatlich oder privat. Nur ein paar Straßenzüge weiter sind dieselben Töne beispielsweise in der freien Theaterschule „Smile“ (Aussprache: englisch) zu hören, einer der vielen sogenannten Ergänzungsschulen, in denen Kinder heute zusätzlich zum Hauptunterricht an staatlichen Schulen in musikalischen, choreographischen, sportlichen oder sonstigen weiterführenden Fächern ausgebildet werden können. Auch die karrierebewußten jungen Frauen, die aus solchen Schulen hervorgehen, fühlen sich düpiert, wenn ihnen die Türen nicht aufgehalten werden.
Nichts anders in den Dorfschulen Sibiriens, ebenso an der Wolga oder auch in Moskau: Eine gesunde Familie als Basis eines gesunden Staates; der Mann als Ernährer, die Frau als Pflegerin und Bewahrerin, die gemeinsam an den Wiederaufbau des Landes gehen – das ist das schulische Erziehungsideal im heutigen Rußland. Die Krise des Mannes in seiner Rolle als Oberhaupt der Familie wird dabei ebenso als Problem beschrieben, das es zu lösen gilt, wenn die nachkommende Generation nicht verderben soll,  wie die Feminisierung der Bildung.
Aber nicht nur in den Schulen, sondern überall, wo Frauen sich versammeln, ist dieser Grundton zu hören. Auf großen Kongressen, wie denen aus Anlaß des Weltfrauentages, bei kleineren Versammlungen in örtlichen Kulturhäusern quer durchs ganze Land, die meist von Frauen geleitet werden, in informellen Organisationen, die als dritter Sektor inzwischen die Lücke füllen, welche durch den Zusammenbruch der staatlichen sozialen Netze entstanden ist, versammeln sich Frauen, um die Bewältigung der Krise in die eigenen Hände zu nehmen.
Sie tun es, weil die Männer von sich aus dazu nicht in der Lage seien, oder – von manchen Frauen auch schärfer formuliert, weil die Männer mit ihrer Art und mit ihren Mitteln die Krise nur noch vertieften.
Nach Angaben aus dem „Zentrum für Geschlechterforschung der russischen Akademie der Wissenschaft“ ging das Angebot von Dienstleistungen für die Bevölkerung im Umbruchjahr 1991 auf ca. ein Drittel des Standes vor Perestroika zurück; 1992 halbierte sich dieses Drittel noch einmal und von diesem Rest gingen seither noch einmal zwei Drittel verloren. Da bleiben nach Adam Riese rund 5% des Standes von der Zeit vor Perestroika. Das mag übetrieben erscheinen, die rundum im ganzen Lande erfolgte und sich immer noch fortsetzende Schließung von Kindertagesstätten, von Pionier-, Kultur-, Ferien- und Kinder- und Seniorenhäusern und nicht zuletzt der Mehrheit der „stolowajas“, der öffentlichen Kantinen in Sowchosen, Kolchosen, Betrieben und Stadtteilen gibt der Zahl ihre reale Dimension. Dazu kommt der Zusammenbruch des kommunalen Fürsorgenetzes, der medizinischen und der Altersversorgung. Verbunden mit Inflation, mehrfacher Abwertung und explodierenden Preisen entstand eine Situation, die vor allem zur Lasten der Frauen geht, die sich als Mütter in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten Maße wieder an Haus oder Wohnung gebunden sehen.
Dennoch: Nicht gegen die Männer, sondern mit ihnen will die Mehrheit der Frauen ihren Weg gehen. Nach ihrer Strategie befragt, zitiert die Mehrzahl der Frauen irgendwann  im Verlaufe der Gespräche mit geradezu vorhersagbarer Sicherheit und hintergründigem Lächeln die alte russische Redewendung: „Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau ist der Hals, wohin der Hals sich wendet, dahin muß der Kopf folgen.“
Das gilt auch für die Organisatorinnen und Aktivistinnen von Frauenversammlungen. Nehmen wir Marina Tjasto. Sie ist zuständig für Auslandskontakte der staatlichen Verwaltungsfachhochschule in Nowosibirsk, einer der hochangesehenen Kaderschmieden der neuen Bürokratie. Frau Tjasto ist eine kämpferische Frauenrechtlerin. Sie ist häufig im Westen, sie pflegt beste Kontakte zu den dortigen Frauengruppen. Aber klar setzt sie sich vom Feminismus westlicher Prägung ab. Nicht nur als gleichberechtigter Kumpel, sagt sie, als Frau möchte sie geachtet und verehrt werden. „Das andere“ befindet sie leicht ironisch, „hatten wir schon. Wir kämpfen nicht gegen die Männer“, erklärt sie, „wir wollen nichts zerstören. Es reicht bereits, es ist ja schon alles zerstört! Wir wollen unsere weibliche Energie konzentrieren, um die Krise zu überwinden. Wir wollen jetzt bewahren, was noch ist, es stärken und Neues aufbauen. Dann wird es gehen.“ Darin sind andere Aktivistinnen bis auf wenige Ausnahmen mit ihr einig.

Wie dieser Einsatz konkret ausssieht, ist exemplarisch bei Frauen, Müttern, Töchtern, Schwestern und Großmüttern von Trinkern zu beobachten, die ihre Männer, Söhne, Brüder und Väter heute massenhaft zu Entziehungskuren bringen, welche Ärzte aus den nahen Städten nach neuesten, aus Amerika eingeführten Methoden anbieten. Neunzig Prozent der Trinker in Rußland sind Männer. Alkoholismus ist in Rußland mehr als anderswo eine Männerkrankheit. Die neue Zeit treibt viele Männer noch tiefer in den Suff als früher, andererseits verlangt sie Nüchternheit für den hart gewordenen Kampf um die wenigen guten Arbeitsplätze. Achtzig Prozent der Dorfbevölkerung hängen an der Flasche. Ein hoher Prozentsatz geistig gestörter Kinder ist die Folge. Die Last liegt bei den Frauen. „Kartoffeln, Garten, Kinder, Mann – mein Gott, eben alles – das machen wir“, sagen sie.
In den Familien haben die Frauen heute das Kommando. Sie organisieren den Alltag. Von ihrer Improvisationsgabe hängt oft das Überleben der Familie ab, während die Männer durch die Tatsache, daß sie ihre Rolle als Ernährer nicht mehr ausfüllen können, in ihrem Selbstwertgefühl so verletzt sind, daß sie in Lethargie und Suff verfallen.
Wohl den Familien, ob mit männlichem Familienoberhaupt oder nicht, die noch eine Babuschka, eine Großmutter haben oder gar zwei. Babuschka versorgt die Kinder, während die Mütter arbeiten. Babuschka lebt auf der Datscha, solange es die Witterung erlaubt, wo sie die Grundversorgung der Familie durch den Anbau von Kartoffeln, Kohl und anderem sichert. Manch eine der Alten ist mit ihrer Pension, obwohl deren Höhe kaum nennenswert ist, sogar noch der Finanzier der Familie. Frauen, muß man dazu sagen, werden auch in Rußland im Schnitt älter als Männer. Die Familie wurde zur Not- und Überlebensgemeinschaft, die von Frauen geführt wird. Sie ist der letzte Halt in einer auseinanderfallenden Gesellschaft.
Je tiefer man ins Land hineinkommt, um so öfter hört man die Redewendung vom Mann, der das Haupt und der Frau, die der Hals sei. Das klingt verdächtig konservativ; russische Ohren hören darin jedoch zunächst nicht mehr als eine gültige Lebensweisheit, die durchaus nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke der Frauen spricht, die in ihrer Schwäche liege. Je mehr sich der Sachverhalt, der in dem Sprichwort beschworen wird, in der neuen Zeit allerdings von der Realität zu entfernen droht, um so mehr tritt die Gefahr hervor, daß die einfache Volksweisheit sich in ein konservatives Dogma verwandelt, welches einem vom Westen her drohenden Sittenverfall entgegengestellt wird wie seinerzeit die Behauptung, in der Sowjetunion gäbe es keinen Sex. Beispiele für solche Haltungen gibt es genug. So etwa die Dichterin Subota aus Perm, eine Matrone alten sowjetischen Stils, heute Mitglied einer Partei der Ethik, in der die sogenannten alten Werte beschworen werden; Frau Subota scheut sich nicht, einem westlichen Journalisten ins Mikrofon zu diktieren, die Geschichte habe die Russen zu einem kriegerischen Volk werden lassen; das bedeute: starke Frauen, die oft den Platz ihrer Männer einnehmen müßten, Mütter, die ihre Söhne zu wehrhaften Männern erzögen, um sich gegen die beständige Bedrohung von außen zu verteidigen.
Solche Reden passen zu jenen Denkmälern aus der Sowjetzeit, die noch heute an manchen Orten zu sehen sind: Mütter, die ihre Söhne herrisch hinaus an die Front weisen. Die Mutter als Über-Ich der Gesellschaft, die deren moralische Werte bewacht.
Gegen eine solche Fixierung ihrer Rolle wehren sich die jungen Mütter von heute jedoch entschieden. Da ist Natalja, Politologin aus Kemerowo im Kusbass, die sich, fünfundzwanzigjährig, als Mutter von zwei Kindern nach fünf Ehejahren von ihrem Mann trennt, weil er ihr keine eigene berufliche Entwicklung zugestehen will. Da ist Tanja, Massageärztin aus der Kohlestadt Borodino im Gebiet Krasnojarsk, die lieber alleinerziehende Mutter sein möchte, als einen Mann zu heiraten, den sie mit ernähren müßte. Da ist Lena, Dozentin der Wirtschaftswissenschaften aus Tscheboksary an der Wolga, Mutter eines Kindes,  verheiratet, die es vorzieht, bei ihrer Mutter zu leben und dort hin und wieder ihren Mann zu Besuch zu empfangen. Da sind Olga, Tatjana, Mila aus Moskau und St. Petersburg und viele andere, die nach früher Hochzeit als siebzehn- oder achtzehnjährige zwar weiter mit ihren Männern und Kindern in einer engen Wohnung zusammenleben; deren Ehe aber keine Liebes-, sondern nur noch eine Versorgungsgemeinschaft ist.
Das betrifft zunächst  einmal die gemeinsame Wohnung. Ohne Ehe war in der Vergangenheit keine eigene Wohnung zu bekommen und selbst manches frisch verheiratete Paar mußte nach lange warten. Immerhin überließ man ihnen in der elterlichen Wohnung dann wenigstens ein Zimmer, oft auch nur einen abgeteilten Verschlag. Für Dollars ist heute vieles möglich. Aber Singles, Frauen oder Männer, die allein in freigewählten Wohngemeinschaften zusammenleben, sind nach wie vor Exotik. Was es gab und nach wie vor gibt, sind die „Kommunalkas“, staatlich bewirtschaftete Großwohnungen, Zwangswohngemeinschaften, aus denen herauszukommen aber allein schon ein Grund für das Zusammenrücken in einer Ehe ist.
Die russische Gesellschaft, soweit sie die Gemeinschaft vieler Völker ist, hat recht unterschiedliche Formen des Zusammenlebens entwickelt, die von den europäischen Formen der Kleinfamilie bis zur nomadischen Sippe reichen;  insofern verbieten sich Pauschalisierungen. Eines aber ist allen Völkern Rußlands gemeinsam: Der Raummangel! Vom Dorfhaus einer tschuwaschischen, baschkirischen oder tatarischen, ebenso aber auch einer russisch-sibirischen Familie, wo in einem durch Tuchwände unterteilten Blockhaus drei Generationen zusammenleben, bis zur engen Zweizimmerzelle im Fertigbau-Hochhaus, in der mindestens zwei, manchmal aber auch drei Generationen einander aushalten müssen, besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied. Das ist erstaunlich in einem Land, das in die Vorstellungswelt der Völker als Synonym für Weite eingegangen ist
Viele Erklärungen sind dafür möglich: Die nomadische Tradition vieler heute zu Rußland gehörender Völkerschaften, bei der man zwar umherzieht, aber im Zelt oder in der Blockhütte eng zusammenrückt; die dauernde Bedrohung durch das Klima, durch fremde Stämme, durch den übermächtigen Staat; die schlichte Not der hörigen, später schlimmer noch, der befreiten und in die Stadtwüsten verschlagenen Bauern; schließlich auch einfach die Angst vor der Weite, welche die Familien am Feuer und im einzigen geheizten Raum zusammenkriechen läßt.
Unter den heutigen Bedingungen, die den Versorgungsdruck existenziell verschärfen, wandelt sich die Zweckfamilie zur Keimzelle für eine Art des sozialen Zusammenlebens, in der die archaische Gruppenehe zu neuer Bedeutung heraufwächst: Das Kollektiv aller wirtschaftlich und verwandtschaftlich aneinander Gebundenen bildet einen Lebenszusammenhang, in dem alle versorgt sind. Liebesbeziehungen können damit identisch sein, müssen es aber nicht. Statistische Angaben über Eheschließungen und Scheidungsraten haben vor diesem Hintergrund wenig Aussagekraft. Sicher ist nur, daß der Wunsch vieler, vor allem junger Frauen nach stärkerer persönlicher Verwirklichung der Stärkung der familiären Zweckgemeinschaft, wie sie gerade durch die Frauen getragen und gefordert wird, hart gegenübersteht. Was daraus erwächst, ist offen.
Diese Unsicherheit bringt schließlich noch Irina, die Analytikerin, auf den Plan. Irina ist eine von den Frauen, die der Frage, wie sich die Beziehung der Geschlechter zueinander heute verändert, auch theoretisch zu Leibe rückt. Irina, selbst Mutter von zwei Kindern, verheiratet, ist leitende Ärztin einer neuen psychoanalytischen Klinik in Nowosibirsk. Ihrer Ansicht nach ist es nötig, die Rolle genauer anzusehen., welche die Mutter, die große Mama, die Versorgerin der Familie heute in Rußland spielt. Die Überzeugung von der Notwendigkeit dieser Fragestellung hat sie in ihrem Berufsalltag gewonnen, in dem sie seit Eröffnung ihrer Praxis Anfang der Neunziger mehr und mehr auf Psychosen trifft, die daraus resultieren, daß Menschen sich nicht von ihrem Elternhaus lösen können. Auf der Suche nach Erklärungen dafür stieß sie zunächst auf die Theorien Freuds. Je mehr sie sich aber mit Freud beschäftigte, um so weniger konnte dessen patriarchaler Ansatz ihr erklären. Entscheidender als die Abhängigkeit vom Vater, erschien ihr die vonm der Mutter: „Es fängt bei der Geburt an“, so Irina, „über die ganzen Stationen unserer von Frauen getragenen Erziehung und geht bis zu dem jungen neuen Geschäftsmann, der sich nicht von der Mama lösen kann, die ihm beigebracht hat, daß Geschäfte zu machen unmoralisch sei. Ja, es gibt bei uns dies Verständnis von `Matj´, der großen Mutter.“ Vieles in Rußland erkläre sich von daher, so Irina, und so habe sie schließlich begriffen, daß sie zwar in einer patriarchalen Welt lebe, daß diese in Wahrheit aber matriarchal sei. „Ja, im Grunde“, spitzt Irina ihre Erkenntnis zu, „haben wir ein Matriarchat bei uns, nur formal ist ein Patriarchat darauf aufgebaut.“
Doch auch die Analytikerin setzt nicht auf Konfrontation. Ihr geht es nicht darum, ein Patriarchat durch ein Matriarchat zu ersetzen. Auch sie will den Geschlechterkrieg durch gegenseitiges Verständnis überwinden, ohne dabei die Unterschiede zu leugnen. Eine gesunde Entwicklung, so Irina, könne es nur geben, wenn die Gewalt der Urbeziehung zwischen männlichen und weiblichen Prinzipien erkannt und berücksichtigt werde. Ob in solchen Erkenntnissen die Möglichkeit liegt, den Pendelschlag von der sowjetischen Gleichmacherei zur nachsowjetischen Differenzierung, von einer Leugnung der Weiblichkeit zum Weiblichkeitskult unbeschadet zu überstehen und daraus auch noch neue Perspektiven zu gewinnen, ist ebenso wie die gesamte gesellschaftliche Entwicklung Rußlands eine offene Frage. Von ihrer Beantwortung, das ist gewiß, wird die Zukunft Rußlands aber mindestens so sehr abhängen wie von der Wahl des nächsten Präsidenten.

Babuschka und ihre Töchter – neue Kraft oder alte Rolle der Frauen?

Rußland befindet sich in einem tiefen Umbruch. Er macht auch vor der Beziehung zwischen Männern und Frauen nicht halt. Die Frauen bewältigen die Hauptlast des Alltags. Damit liegt die Krise vor allem auf ihren Schultern. Werden sie damit tiefer in alte Rollen gedrückt oder wachsen ihnen neue Kräfte und neue Möglichkeiten zu?

Kai Ehlers berichtet aus dem Lande.

O-Ton 1: Platzmusik, schneller Tanz        1,20
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, nach Erzähler hochziehen, danach allmählich abblenden

Erzähler:
Platzkonzert im zentralen Kulturpark in Nowosibirsk, Tag des Wissens. Es wird gefeiert. Jungen und Mädchen aller Altersstufen haben sich vor der Bühne versammelt, viele der Jungen im Anzug, die kleineren Mädchen mit Schleifen, die älteren in hellen Blusen und Rock, manche auch in Hosen, alle aber sonntäglich und modisch herausgeputzt. Bereitwillig folgen sie den Aufforderungen des Animateurs zum Gruppentanz vor der Bühne. Einige Jungen sind zur Bühne hinaufgeklettert und tanzen vor aller Augen um die Wette. Die Mädchen agieren aktiv, selbstbewußt, schon die jüngsten Teenies geben sich betont weiblich, nicht selten geradezu kokett. Selbst neugierige Fragen eines Ausländers bringen sie nicht aus der Fassung. Der Tag des Wissens ist für sie ein tolles Fest! Einfach Klasse! Früher habe es das nicht gegeben!

Regie: kurz hochziehen, allmählich abblenden

Mein Begleiter, Pawel, praktizierender Psychologe, hat seine siebenjährige Tochter zu dem Konzert geführt. Er kann seine Überraschung nicht verbergen:

O-Ton 2: Psychologe        0,22
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, am Ende hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Ja udiwlon…
„Ich bin verblüfft, so etwas war nicht möglich, als wir jung waren. Daß da Jungs und Mädchen gemeinsam in einem Kreis gehen, Hand in Hand und daß sie dann so offen da tanzen. Das ist eine vollkommen andere Generation. Ich bin sehr verblüfft. Oij, schau! Wie das losgeht.“
… chaditje na galowje…

Erzähler:
Pawel hat recht. Wer Festtage dieser Art aus Sowjetzeiten kennt, muß erstaunt sein über die Ungezwungenheit, mit der Jungen und Mädchen sich heute öffentlich begegnen. Wächst eine Generation mit neuen Vorstellungen heran?

O-Ton 3: Kinder, Klasse, Stimmengewirr         0,32
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler abblenden,

Erzähler:
In der Schule Nr. 10, ebenfalls in Nowosibirsk suchen wir nach einer ersten Antwort auf diese Frage. Die Schule, obwohl keine der neuen privaten Anstalten, hat den Ruf, besonders gut und modern zu sein.
Ohne Scheu  geben die Mädchen der Klasse 9 Auskunft über ihre Beziehung zu den Jungs. Der inzwischen oft zitierte Ausspruch „Bei uns gibt es keinen Sex“, den eine empörte sowjetische Teilnehmerin bei einer der ersten einer TV-Brücken Ende der 80ger zwischen Rußland und dem Westen seinerzeit prägte, entlockt ihnen nur ein fröhliches Lachen:

O-Ton 4: Mädchen, Lachen        0,58
Regie: O-Ton kommen lassen, bis „Studpid“ stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler (bei 0,28) vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Lachen…
„Im Englischen gibt es dafür ein Wort: Stupid!“, faßt eins der Mädchen die Meinung aller zusammen: „Natürlich gibt´es das.“ Sie meint Sexualität. „Man spricht nur nicht darüber.“

Regie: bei „…nje gaverjat“ vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Im übrigen, beeilen sich die Mädchen zu betonen, sei ihre Beziehung zu den Jungs aber eine völlig andere als in Amerika. Bei ihnen könne ein Junge ein halbes Jahr oder auch ganzes mit einem Mädchen gehen, ohne daß mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein müsse und ohne daß der Junge deswegen angemacht werde, „als Versager oder so.“ Ja, führt eins der Mädchen aus, sie habe kein Interesse an einem Jungen, der nur ihren Körper wolle. Die anderen stimmen ihr zu. Ein Mädchen sollte weiblich sein, finden sie, der Junge sollte sie beschützen. Das sei seine Aufgabe als Mann.
… peregat djewuschku.“

Erzähler:
Gefragt, ob sich in solchen Ansichten nicht die Klischeés widerholten, über die sie gerade so gelacht hätten, antwortet eines der Mädchen:

O-Ton 5 Mädchen, Forts.         0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler
kurz hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Setschas ja saglasna…
„Heute, darin stimme ich zu, sind Frauen nicht unbedingt von Männern abhängig. Auch für Rußland gilt: Jede Frau kann heut leicht dreimal soviel verdienen wie irgendein Mann. Das ist kein Geheimnis, vorausgesetzt, es gibt überhaupt Arbeit. Das ist aber nur die wirtschaftliche Seite. Trotz allem braucht die Frau als Mutter doch jemanden um sich, der sie stützt, vor allem in den ersten sechs, sieben Jahren.“

Erzähler:
Früh heiraten also? Gott bewahre, wehren die Mädchen ab, nicht vor fünfundzwanzig. Erst das eigene Leben aufbauen! Früher habe man viel zu früh geheiratet. Ihre Eltern zum Beispiel. Die hätten sich damals einfach keine Sorgen über die Zukunft gemacht. Sie hätten ja in einem sowjetischen Land gelebt, in dem noch von keinen Reformen die Rede gewesen sei. Heute dagegen müsse man sich erst einmal wirtschaftlich absichern. Dann komme alles andere.
…materialna i..“

Erzähler:
Weibliche Aufgaben, männliche Aufgaben? Platz der Frau? Was verstehen die Heranwachsenden darunter? Bei einer weiteren Gesprächsrunde in einer der Parallelklassen, an der auch zwei Jungen teilnehmen, meint ein Mädchen:

O-Ton 6: zweite Mädchenrunde        0,23
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Mnje kaschetsja, we naschem stranje…
„Mir scheint, in unserem Land ist die Emanzipation geringer entwickelt als in anderen Ländern, wie etwa in Europa oder noch mehr in Amerika. Zur gleichen Zeit gelten die Frauen bei uns aber mehr. Nicht, daß sie mehr Wert wären, aber man begegnet ihnen mit Verehrung, milder, nicht so schroff wie den Männern. Aber natürlich hat da auch jeder Erwachsene seine eigene Art.“
…prostupki sami.“

Erzähler:
Eine anderes Mädchen aus der Runde ergänzt:

O-Ton 7: Mädchen, Forts.         0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, prosta ransche…
„Nun, früher, in den letzten siebzig Jahren war die Frau einfach sehr beladen. Sie wurde in eine Reihe mit den Männern gestellt. Sie mußte Leistungen vorweisen – ja, wie ein Mann, dieselbe Arbeit, manchmal sogar schwerer. Jetzt müht sie sich einfach darum, wieder auf ihren echten weiblichen Platz zu kommen, gleichzeitig aber gleichberechtigt zu sein. Doch eben nicht auf allen Gebieten: Sie will keine Schienen mehr verlegen, sie will etwas Interessantes tun. Sie braucht ja wohl genauso viel Freiheit.“
… stolka sche.“

Erzähler::
Auf nochmaliges Nachfragen, was denn der echte weibliche Platz sei, antwortet eines der Mädchen schließlich:

O-Ton 8: Mädchen, Forts.         0,59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin (bei 0,22) kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, wot, napremjer tschas…
„Nun, heute suchen viele Frauen Arbeit: Einige versuchen, ihre Ziele ohne Hilfe von Männern zu erreichen, andere, wenn die Familie etwas wohlhabender ist, können, aufhören zu arbeiten und sich zu Hause mit den Kindern beschäftigen, wenn es die familiären Verhältnisse erfordern. Das ist heute möglich.“

Regie: bei …vasmoschnost“ zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Möglich ist das, seit die Arbeitspflicht aufgehoben ist, welche die Frauen, ob sie wollten oder nicht, nach anderthalbjähriger Schonfrist wieder an den Artbeitsplatz brachte. „Frauen nehmen sich heute das Recht selbst am Steuer zu sitzen, Ingenieure, Direktoren zu sein und doch als Frauen verehrt zu werden“, ergänzen die anderen Mädchen noch. Die Jungen schweigen. Sie haben den Ausführungen ihrer Mitschülerinnen offenbar nichts hinzuzufügen. „Die Frau“, stellt eines der Mädchen schließlich fest, „ist ja effektiv die Herrin des Hauses, die Herrin der Familie; es geht nicht an, sie so stark zu belasten.“
… silna nagruschatj.“

Erzähler:
Im Direktorenzimmer, bei einer Tasse Tee, wird schnell klar, daß die Ansichten der Neunklässlerinnen über Frauen und Männer keine zufälligen sind. Sie entspringen vielmehr den tiefsten Überzeugungen Natalja Raslawzewas, ihrer Direktorin, die mit Beginn der Reformen die Leitung der Schule übernommen hat. Das Verhältnis von Jungen und Mädchen hat für sie im Schulunterricht oberste Priorität::

O-Ton 9: Direktorin der Schule Nr. 10        1.03
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Besoslowna, swoij  rabote my…
„Selbstverständlich widmen wir dieser Frage große Aufmerksamkeit. Ohne das geht es überhaupt nicht. Wir wollen die Frauen fraulich machen und die Männer männlich. Die Sache ist doch,  die Welt wurde so interessant: Frauen gehen in Männerkleidung, haben sich die harten Manieren von Männern angewöhnt. Das muß man nicht bekämpfen, das muß nicht sein. Jeder muß schließlich seine persönliche Entwicklung machen. Aber wir führen doch ein spezielles Programm durch; darin gibt es die Fächer Kosmetik, Pflege des Kindes, Frisierfragen, Kulinarien. Das heißt, wir begreifen natürlich sehr gut, daß letztlich nur die Familie Männer und Frauen erziehen kann. Wenn ein Mann typische, erniedrigende Haltungen gegenüber Frauen in seiner Familie erlebt, dann gehen daraus in der Regel keine gut erzogenen Männer hervor. Die Schule hat deshalb eine riesige Bedeutung für die Korrektur der Werte. Ich habe viele Beispiele dafür. Nur eins: Wenn die Knaben hier in die Schule kommen, dann erzieht die Lehrerin sie so, daß sie beim Hineingehen in die Klasse den Mädchen die Tür aufhalten. Also, mit solchen sanften Schritten versuchen wir die Verehrung für die Frauen anzulegen.“
… odnaschennije genschin.“

Erzähler:
Sexualkunde ist für Frau Raslawzewa selbstverständlich, ebenso wie Koedukation. Die Direktorin ist eine Verfechterin der Koedukation. Trotzdem sind die entsprechenden Fächer für Jungen und Mädchen zum Teil getrennt. Natürlich, findet Frau Raslawzewa. Natürlich? Warum?

O-Ton 10: Forts. Direktorin        0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Potamuschto we schkolje…
„Weil in der Schule Kinder verschiedenen Alters sind. Und um ein Gespräch mit ihnen über Sexualität zu entwickeln, müssen sie erst vorbereitet werden. Man muß die natürliche Scham achten, welche die Kinder erst einmal
mitbringen. Danach kann man ihnen sagen: Das ist normal, daß ihr euch mit sexuellen Fragen beschäftigt, darüber nachdenkt, den Mädchen den Hof macht; das ist das Leben. Wir sprechen sehr oft hier bei uns – in den höheren Klassen auch im Fach Philosophie, das ich selbst gebe – über den Menschen, über die Seele, über die Lage der Gesellschaft. Natürlich sprechen wir zuallererst darüber, damit fange ich sogar an, daß der Mensch ein biologisches Wesen ist, und zweitens, daß es Männer und Frauen gibt. Denn das ist doch so ein Unterschied, physiologisch, geistig, moralisch, ein so gigantischer Unterschied.“
… gigantskaja rasniza.“

Erzähler:
Im Rußland, so skizziert Frau Raslawzewa die Lage, sind die Männer die Chefs. Die eigentlichen Träger der schöpferischen Energie aber sind die Frauen, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, außer in der Politik, im Militär und in der Wirtschaft. Letzteres ist nach Ansicht der Direktorin aber nur noch ein Tribut an die Tradition. In Wirklichkeit seien die Frauen auch auf dem Gebiet der Wirtschaft heute besser:

„O-Ton 11: Direktorin, Forts.        0,22
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzerin:
„Potamuschto ja snaju…
„Ich weiß doch, daß Frauen die verständigeren Chefs sind. Sie bringen die Dinge in der Regel zu Ende, sie sind sehr genau. Sie gehen aufmerksamer mit den Menschen um als die Männer. Und heute, in diesem krisenhaften Zustand der Gesellschaft, bei dieser Geldnot, bei diesen sozialen Problemen, spielt die Beziehung zum Chef eine gewaltige Rolle.
… imejet agromni snatschennije“

Erzähler:
Frau Raslawzewas Begründung für ihre Sicht der Dinge kommt sanft aber bestimmt:

O-Ton 12: Direktorin, Forts.         0,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„My swje jenschnini…
„Wir Frauen schaffen die Schönheit, die Harmonie zwischen den Menschen. Die Frauen denken oft, ihre Aufgabe bestünde darin, den Mann umkrempeln, wenn sie sich begegnen. Ich sage meinen Mädchen immer: Umkrempeln geht nicht – aber korrigieren kann man sie Doch korrigieren mit Milde, mit Liebe, mit Mitleid. Die Frau muß ihm die Augen öffnen für die Seiten des Lebens, die den Mann veredeln, sie muß ihm zeigen, wo er sich gut verhalten hat, damit er sich in Zukunft weiter so verhält. Kann auch sein, daß sie Probleme lösen muß, dem Mann zeigen muß, daß er stark und energisch ist.“
… tscho on silni o napori.“

Erzähler:
Zwei Hauptprobleme sieht die Direktorin: Zum einen könne man heute oft hören, daß die Männer unfähig seien, kein Geld mehr nach Hause brächten, überhaupt, keine Männer mehr seien, sondern Waschlappen. Objektiv stimme das natürlich, bedauerlicherweise, zu Hause, wie auch im Staat.
Die Statistiken, die Frau Raslawzewa dazu zitiert, stützen solche Sichtweise. Obwohl Frauen die ersten sind, die bei Rationalisierungen vor die Tür gesetzt werden, ist es doch so, daß viele Männer heute nicht mehr in der Lage sind, die Familien zu ernähren. Diese Familien leben vom Einkommen der Frauen, die noch Arbeit haben oder einfach nur von deren Improvisationsgeschick. Wie könne sich der Mann da noch als Herr der Familie fühlen? fragt die Direktorin. Für den Staat gelte dasselbe. Für die Frau aber öffne sich der Käfig, in dem sie vorher gelebt habe. Dennoch, so Frau Raslawzewa, möchte sie, daß ihre Mädchen anders denken:

O-Ton 13: Fortsetzung Direktorin        0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

„Übersetzerin:
„Ja by chatila…
„Ich möchte daß sie, die unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft wirklich verstehen. Sie müssen begreifen, daß Männer die schwere Arbeit nicht einfach so auf sich nehmen, weil es eben so ist, sondern daß sie es aus Achtung für die Frauen tun, daß sie es tun, damit die Frau in einer behaglichen, ruhigen Welt leben kann. Das ist sehr wichtig. „
… eta otschen waschna.“

Erzähler:
Ein zweites großes Problem sieht Frau Raslawzewa in dem, was sie die Feminisierung der Gesellschaft nennt:

O-Ton 14: Fortsetzung Direktorin        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu. I wtaroje…
„Wir haben ein gigantisches Problem der Feminisierung in unserer heutigen Gesellschaft, weil die Jungs von der ersten bis zur letzten Klasse von Frauen erzogen und ausgebildet werden. Stellen Sie sich eine Familie ohne Vater vor: Die Mutter ist zu hause, der Junge lebt beständig im Rahmen weiblicher Stimmungen; wenn dann noch Hysterie dazukommt, dann ist das Leben nur noch schwer. Was wird aus Ihm? Er versteht das Leben nur gefühlsmäßig, wie Frauen. Er verliert seine Männlichkeit. Er beginnt, Probleme wie Frauen zu entscheiden. Ich sehe meine Aufgabe darin, dafür zu sorgen, daß auch die Jungs ihr Ich entdecken, daß sie wissen: Ich kann etwas schaffen! Nicht nur Geld, überhaupt! Das ist auch sehr wichtig.
…tosche otschen waschna.“

Erzähler:
Wie vorher schon ihre Schülerinnen, kann auch Frau Raslawzewa in den Rollen, die sie Männern und Frauen zuweist, keine Wiederholung alter Stereotypen erkennen. Man könne lange darum herum reden, meint sie. Natürlich müsse man heute nicht mehr so scharf zwischen männlichen und weiblichen Arbeiten unterscheiden wie früher, eher gehe es um menschliche oder unmenschliche Arbeiten. Letztlich aber gebe es doch eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die nicht wegzudiskutieren sei:

O-Ton 15: Forts. Direktorin        0,22
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nje, kak prawilna…
„In der Regel ist es doch so, daß die Frauen nicht nur die Kinder bekommen, sondern sie auch aufziehen; Behaglichkeit und Ruhe der Familie stellt die Frau her. In diesem Sinne unterscheiden wir eben doch. Das ist vor allem ein natürlicher Faktor, versteht sich.“
…prirodni Faktor, konjeschna.“

Erzähler:
Die Schule, faßt Frau Raslawzewa ihre pädagogische Mission am Schluß dieses langen Gespräches zusammen, solle selbstverständlich die Menschen nicht nur zu Männern oder Frauen, sondern zu Persönlichkeiten erziehen, das heißt, konkretisiert sie, zu Menschen, die in der Lage seien, in der Gemeinschaft zu leben. Und leise, fast wie für sich selbst fügt sie hinzu:,

O-Ton 16: Direktorin, Schluß        1,09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin zwischendurch hochziehen, abblenden, unterlegen, am Schluß hochziehen, ausblenden

Übersetzerin:
„No, wmestje tjem…
„Aber damit verbunden unterstreicht die russische Geschichte immer wieder vor allem die ursprüngliche Bedeutung des Weiblichen und des Männlichen.
Dem können wir nirgendwohin ausweichen und wir werden das auch in Zukunft betonen, denn darin ist vermutlich so etwas wie ein Geheimnis der russischen Nation verborgen. Diese Weiblichkeit, diese Mutterschaft werden wir wahrscheinlich immer mehr als andere Völker betonen.
Ich weiß nicht, ob das gerecht ist oder nicht, aber ich fühle sogar, daß es sehr wichtig ist, die Männer darin zu erziehen. Und es geht nicht an, die Erziehung zum Menschen von der Erziehung zu Männern und zu Frauen zu trennen. Noch leben wir nicht in einer Gesellschaft, wo man nur Knöpfe drücken muß. Wir müssen sogar neu anfangen. Aber alles was wir jetzt versuchen, können wir nur auf dem weiblichen Ursprung aufbauen.“

Regie: Vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Andernfalls, so Frau Raslawzewa, drohe die Tatsache, daß der Mann nicht mehr in der Lage sei, die Familie zu ernähren, dahin zu führen, daß die Familie zerfalle und die Gesellschaft sich brutalisiere – Egoismus, Mafia, Krieg.
Sie sei ja selbst eine Frau, die frei und selbstbestimmt arbeiten wolle, schließt Frau Raslawzewa, aber lieber verzichte sie auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wenn dadurch der Mann seine Rolle als Ernährer der Familie wieder wahrnehmen könne, denn nur so sei eine stabile Familie und damit eine Stabilität der Gesellschaft erreichbar.
…s pomoschi arusche.“

Erzähler:
Als spiegelverkehrt mag dieses Verständnis von Emanzipation Menschen des Westens erscheinen: Was westliche Frauen als das Ärgste empfinden,  Verdrängung vom Arbeitsplatz, Rückzug  auf Kinder und Küche, das betrachten russische Schulen heute, und das sind vor allem Frauen, als Chance für die Wiedergewinnung der echten weiblichen Bestimmung. Das gilt nicht nur für staatliche Schulen. Das gilt ebenso, wenn nicht noch in mehr, für die Vielzahl privater Ausbildungsstätten. Das neue Bildungsideal ist der junge Mann, der in den Frauen seiner Umgebung die eigene Mutter oder die zukünftige Mutter seiner Kinder verehrt. Die junge Frau wird dazu erzogen, diese Verehrung entgegenzunehmen.

O-Ton 17: Frauenkongress        67
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, Gesang kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, mit Applaus abblenden

Erzähler:
„Musik…
Aber nicht nur in den Schulen, sondern überall, wo Frauen sich versammeln, erklingt derselbe Grundton. Hier singt, auf einem Frauenkongress, ebenfalls in Nowosibirsk, der Frauenchor „Slavian“. In diesem Lied geht es um die Kraft der Liebe, welche das Leiden überwindet. Auf solchen Kongressen versammeln sich Frauen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Die Teilnehmerinnen kommen aus Resten ehemaliger oder auch aus neuen staatlichen Frauenorganisationen, vor allem aber kommen sie aus neuen Selbsthilfeinitiativen. Eine ganze Welle von Kongressen gebe es in den letzten Jahren, meint eine Frau enthusiastisch. Sie greifen Themen auf, die früher marginalisiert oder vollkommen tabu waren. So gibt es Gruppen für geschlagene Frauen oder für sexuell mißbrauchte behinderte Mädchen. Religiöse Gruppen setzen sich für eine moralische Erneuerung ein. Auch junge Unternehmerinnen beteiligen sich an dem Kongreß, unter ihnen Kosmetikerinnen, die den anwesenden Frauen Mut machen wollen, ihre weiblichen Vorzüge im Beruf und Alltag bewußter einzusetzen.
… Applaus, Foyer

O-Ton 17: Frauenkongreß        1,23
Regie: O-Ton (mit Applaus) langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden kurz vor Beginn der gesungenen Teils hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„Beifall, Daragije drusija…
Die Initiatorin, Leiterin des größten örtlichen Kulturhauses, begrüßt die Frauen. Sie dankt der UNESCO für deren Unterstützung. In ihrem Lied besingt sie die Kraft der Frauen aller Länder, sich zusammenzuschließen.

Regie: beim Stichwort „…Ja otschen blagodarju“ hochziehen, Singen kurz stehenlassen, abblenden

Erzähler:
„Was kann uns verbinden?“ fragt sie dann und erklärt:

Übersetzerin:
„Es ist die Liebe zu allen, die Kraft zum Mitleiden; es sind unsere Kinder. Und es ist wohl so, daß nur wir, wir Frauen, unsere Männer retten können. Aber nicht mit Gewalt. Es geht nach dem alten russischen Sprichwort: `Der Mann ist der Kopf, die Frau ist der Hals, wohin der Hals sich wendet, dahin muß der Kopf folgen.´ Wir sind hier in allen Altersstufen, ältere, mittlere, junge. Wir wollen in diesen Tagen viel an Erfahrungen zwischen Töchtern, Müttern und Großmüttern austauschen.“

Regie: Rede zwiscchendurch hochziehen

Erzähler:
Mit langem Beifall zeigen die rund dreihundert anwesenden Frauen, wie sehr ihnen diese Worte aus dem Herzen gesprochen sind.

Regie: Mit Beifall abblenden

Erzähler:
Eine der Mitorganisatorinnen ist Marina Tjasto. Sie ist Leiterin der Auslandskontakte in der staatlichen Verwaltungsfachhochschule in Nowosibirsk, einer der hochangesehen Kaderschmieden der neuen Bürokratie. Frau Tjasto ist eine kämpferische Frauenrechtlerin. Sie ist häufig im Westen. Aber klar setzt sie sich vom Feminismus westlicher Prägung ab. Nicht nur als gleichberechtigter Kumpel, als Frau möchte sie geachtet und verehrt werden. Nach den zwei Tagen, die gefüllt waren mit Vorträgen, Arbeitsgruppen und Liedern, zieht sie folgende Bilanz:

O-Ton 18: Marina Tjasto        0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, ausblenden.

Übersetzerin:
„My polutschili, to schto my chatili…
„Wir haben bekommen, was wir wollten. Ohne Hysterie, ohne Geschrei. Frauen haben sich versammelt, die bereit waren, miteinander zu sprechen. Alle hatten ihre Freude, konnten sich austauschen, gegenseitige Hilfe vereinbaren. Und das reicht uns. Wir haben diesen Prozess angestoßen, aber wir wollen, daß er konstruktiv läuft, schrittweise, evolutionär, ohne Krisen und Kämpfe. Wir kämpfen nicht gegen die Männer. Wir wollen nichts zerstören. Es reicht bereits, es ist ja schon alles zerstört! Wir wollen unsere weibliche Energie konzentrieren, um die Krise zu überwinden. Wir wollen jetzt bewahren, was noch ist, es stärken und Neues aufbauen. Dann wird es gehen.“

Regie: zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Wir wollen die Männer nicht beherrschen. Wir wollen nicht ihre Chefs, sondern gleichberechtigte Partner sein“ setzt Frau Tjasto noch hinzu. Viele Männer verstünden das nicht. Einige gäbe es jedoch. „Wenn wir solche Männer finden“,  lacht sie, „dann arbeiten wir mit ihnen zusammen.“ Dafür müßten die Frauen aber natürlich mit allen reden, um herauszufinden, mit wem das möglich sei oder mit wem nicht.
… gadjatsja ile nam ili njet.“

Erzähler:
Auf dem flachen Lande wird sichtbar, wie die von Frau Tjasto und vielen anderen geleistete Aufbauarbeit der Frauen im Alltag aussieht.

O-Ton 19: Kulturhaus in Borodino        0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis zum “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Laserakupunktur wird Trinkern ein Block gesetzt, der sie für ein, zwei oder drei Jahre am Trinken hindert. Neunzig Prozent der Trinker sind Männer. Alkoholismus ist hier in Rußland eine Männerkrankheit. Die neue Zeit treibt viele Männer noch tiefer in den Suff als früher, andererseits verlangt sie Nüchternheit für den hart gewordenen Kampf um die wenigen guten Arbeitsplätze. Die Frauen sind es, die ihre Männer, Brüder, Väter massenhaft zu Entziehungskuren bringen, welche Ärzte aus den nahen Städten nach neuesten, aus Amerika eingeführten Methoden anbieten.
… Nächste Atem- und Laserfolge

Erzähler:
Während die Männer der Reihe nach die Behandlung über sich ergehen lassen, sind von den Frauen draußen verhaltene, aber doch unmißverständliche Kommentare zu hören:

O-Ton 20: Frauen von Alkoholikern        0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„Nu jestestwenna…
„Nun, wahrhaftig!“, sagt diese Frau stockend: „Auf den Frauen bleibt alles hängen. Der Mann weicht in den Alkohol aus. Die Frau hat die Arbeit.“
Nach einigem Zögern kann man von ihr erfahren: Sie selbst arbeitet tagsüber in der Fabrik, abends hat sie die Kinder. Sie macht das Haus, die private Wirtschaft, den Garten, die Datscha. Jetzt hat sie ihren Mann überredet, sich behandeln zu lassen. Sie wirkt müde. Trotz allem hofft sie, daß eine Änderung möglich ist. „Man möchte es einfach glauben“, sagt sie.
284 …chotschitsja verit

Erzähler:
Andere Frauen, die es sich draußen vor der Tür auf dem Boden bequem gemacht haben, sind nicht so zurückhaltend:

O-Ton 21: Frauen von Trinkern        0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Pjut, mnoga pjut …
„Fünfundneunzig Prozent unseres Dorfes hängen an der Flasche“,  meint eine der Frauen. Von denen,  fährt sie fort, hätten laut Statistik siebzig Prozent geisteskranke Kinder. „So ein Dorf ist das bei uns“, fährt sie fort. „Da brauchen wir eine Psychologin an der Schule, weil eine normale Lehrerin da nicht mehr arbeiten kann“.
Fünfundneunzig Prozent, schränken die anderen Frauen ein, sei sicher extrem, aber achtzig Prozent sei auf den Dörfern sicher normal.
… eta totschna.“

Erzähler:
Kein Wunder finden sie: Bei den Zeiten! Schon früher habe es das Problem gegeben, aber jetzt habe sich die Situation doch noch sehr verschlechtert:

O-Ton 21: Frauen von Trinkern, Forts.        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Da uchutschela…
„Früher gab es eine gewisse Angst. Wenn du da einen, zwei Monate nicht auf der Arbeit erschienen bist, hat es Strafen gegeben. Wenn du heute nicht kommst, fliegst du raus. Man vergißt dich. Du bist für niemanden nutze. Wenn dann Familie da ist, dann wird es schwierig. Da sind die Kinder.

Erzähler:
„Wir waren es ja gewohnt, gesagt zu bekommen, was wir tun sollen“, ergänzt eine andere Frau. „Nun stehen wir da, wissen nicht wohin. Und im Dorf da gibt es keine Kultur, keine Abwechslung. Da ist die Flasche das einzige Vergnügen. Einige kommen damit zurecht, andere nicht.“
… schto to nje moschet.“

Erzähler:
Über die Frage, wer die Hauptlasten dieser Situation trage, brechen die drei Dörflerinnen in herzliches Lachen aus.

O-Ton 22: Frauen von Trinkern, Forts.         0.35
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, bei Lachen hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Lachen, …
„Na was denn!? Kartoffeln, den Garten, die Kinder, den Mann, mein Gott, eben alles, das machen wir“, sagt eine,  „Frauen, Mütter und  Großmütter“, ergänzen die anderen, „Männliche und weibliche Arbeit“, setzten sie hinzu.  Und es ist nicht klar, ob sie das als Kritik oder als Feststellung unabänderlicher Tatsachen meinen. „O je, wir wissen natürlich, daß man besser leben kann, zum Beispiel bei euch in Deutschland. Aber hier. Wohin sollen wir gehen? Wir werden so leben, wie wir immer gelebt haben.“
… Lachen

Erzähler:
In der Familie haben die Frauen das Kommando. Wohl den Familien, ob vollständig oder nicht, die darüberhinaus noch eine Babuschka, die Großmutter haben. Babuschka versorgt die Kinder, während die Mütter arbeiten. Babuschka lebt, solange es die Witterung erlaubt, auf der Datscha, wo sie die Grundversorgung der Familie durch Anbau von Kartoffeln, Kohl und anderem sichert. Manch eine der Alten ist mit ihrer Pension, obwohl deren Höhe selbst kaum nennenswert ist, sogar noch der Finanzier der Familie. Frauen, muß man dazu sagen, werden auch in Rußland im Schnitt älter als Männer. Die Familie wird so zur Notgemeinschaft, die von Frauen geführt wird. Sie ist der letzte Halt in einer auseinanderfallenden Gesellschaft.
Wie ist diese Rolle der Frau zu bewerten? Irina Golgowskaja ist eine von den Frauen, die dieser Frage auch theoretisch zu Leibe rücken. Frau Golgowskaja,  selbst Mutter von zwei Kindern, ist leitende Ärztin einer neuen psychoanalytischen Klinik in Nowosibirsk. Sie möchte die Mutter, die große Mama, das Matriarchat in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen rücken. Die Notwendigkeit dafür begründet sie mit ihren Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag. Im Hintergrund läuft der Kühlschrank der Klinikküche:

O-Ton 23: Psychoanalytikerin                        0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Ja smotrila…
„Ich schaute in die umgebende Welt, ich schaute mich selbst an; ich untersuchte die äußere Welt und die innere, das heißt, ich schaute meine Patienten an, meine Freunde, die Gesellschaft um mich. Dabei stieß ich auf unbeantwortete Fragen, undurchlässige Wände. Zäune! Dahinter fand ich das Wort: Mutter, überall Mutter, Mama, Matj! Es gibt dieses Verständnis bei uns: `Matj´, große Mutter. Mir fiel auf, daß es um uns herum sehr vieles gibt, das sich von dort herleitet. Die Menschen lassen die Gedanken daran nicht zu, es ängstigt sie, aber es ist so. Es ist wie die Luft, die uns umgibt. Und so kam mir Wort Matriarchat in den Sinn. Ich habe es nicht theoretisch abgeleitet, ich habe nur auf einmal begriffen, daß wir in einer patriarchalen Welt leben, die in Wahrheit aber matriarchal ist. Ja, im Grunde haben wir ein Matriarchat bei uns, aber formal ist ein Patriarchat darauf aufgebaut.“
… a formalna patriarchat

Erzähler:
Doch auch die Analytikerin setzt nicht auf Konfrontation. Unter «Matj“ Mutter, versteht sie nicht nur die Frau, die Mutter oder die Babuschka. Unter Matj versteht sie weibliche Bildung, Gestaltung, weibliches Verständnis der Welt überhaupt. Und im übrigen gehe es nicht etwa darum, das Patriarchat durch das Matriarchat zu ersetzen:

O-Ton 24: Fortsetzung Psychoanalytikerin                0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, bei „eta schenskaja wsjo“ ausblenden

Übersetzerin:
„Ja wdrug ponila…
«Mir ist klargeworden, daß das Unterbewußtsein weiblich ist, ganz und gar weiblich. Darüber liegt das Schema unseres Staates, der Welt, der von Menschen gebauten Strukturen, das männliche Element. Das ist Ausrichtung, bewußte Erziehung. Wir leben in jenem unterbewußten Weiblichen, in welchem wir uns vor der patriarchalen Welt verstecken. Das ist so, um überhaupt überleben zu können, denn das Unterbewußte ist Leben und Tod in einem Punkt. Wenn es überwiegt, gibt es Chaos, gibt es Schrecken. Mit der bewußten Erziehung kann man überleben. So lebt die Menschheit an der Grenze zwischen diesen beiden Zuständen. Von unseren ersten Vorfahren zu den heutigen Menschen führt so ein Weg mit Hilfe des Geistes; der Geist ist rein männlich, auch Gott ist eine männliche Bildung, Natur, Kreatur, Träume, Fantasie, Kinder, das alles ist weiblich».
… eta schenskaja bsjo

Eine gesunde Entwicklung, so Frau Golgowskaja, könne es nur geben, wenn die Gewalt dieser Urbeziehung erkannt und aus der Konfrontation eines Entweder Oder zu einem neuen, freieren Verständnis vom Menschen herausgebracht werde.

O-Ton 25: Ausklang                                1,15
Regie: O-Ton langsam  kommen lassen, unter dem Erzähler allmählich ganz hochziehen, kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Ob in solchen Erkenntnissen die Möglichkeit liegt, den Pendelschlag von der sowjetischen Gleichmacherei zur nachsowjetischen Differenzierung, von einer Leugnung der Weiblichkeit also zum Weiblichkeitskult, unbeschadet zu überstehen und daraus auch noch neue Perspektiven zu gewinnen, ist eine offene Frage. Von ihrer Beantwortung, das ist gewiß, wird die Zukunft Rußlands abhängen und vielleicht sogar mehr als nur diejenige Rußlands.

Nowosibirsk: Die Eisenbetonfabrik Nr. 4 Musterbetrieb einer möglichen Alternative?

Rußlands Reform ist in die Kritik gekommen. Die Privatisierung hat zu einer kriminellen Aneignung früheren Gemeinschaftsvermögens durch eine kleine Minderheit geführt. An der Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist die Privatisierung abgeprallt oder von ihr nur formal vollzogen worden. Inzwischen breitet sich die Erkenntnis aus, daß Reformen an den vorhandenen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen ansetzen müssen, statt sie nur zu zerstören. Was könnte mit diesen Strukturen gemeint sein? Unser Autor Kai Ehlers geht dieser Frage an einem Beispiel im Lande selbst nach.

O-Ton 1: Stabsquartier der Lebedbewegung                 0,26
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich ausblenden

Erzähler:
„Da, malinka nje tak, Lachen..
Im Stabsquartier der Lebedbewegung in Nowosibirsk. Hier wird
Bilanz gezogen wie zur Zeit überall im Lande. Aber das Lachen hat man noch nicht verlernt. Mit Banken habe er zu tun, hat dieser Mann soeben erklärt; aber nicht als Bankier, sondern als Konkursverwalter. 80% der Betriebe seien bankrott, fährt er fort, nachdem das Lachen abgeklungen ist. Wenn sie dennoch gehalten würden, komme der Impuls dazu in der Regel von unten, aus den Belegschaften, aus den örtlichen Strukturen. Als Musterbeispiel dafür nennt er die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk.
Wenig später sitze ich dem Direktor der Eisenbetonfabrik Nr. 4 in seinem Büro gegenüber.

O-Ton 2: Direktor Matschalin                0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei „jesli po tschesnomu..“ kurz hochziehen, allmählich ausblenden

Erzähler:
Handy piepst. „Matschalin…
Nikolai Matschalin ist Abgeordneter der Partei Alexander Lebeds im Parlament der Stadt Nowosibirsk. Knorrig ist er, wie sein politisches Vorbild selbst, aber gesprächsbereit. Weiß er, daß sein Werk als Musterbetrieb gilt?

O-Ton 3: Direktor Matschalin, Forts.                1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden

Übersetzer:
„Nu, jesli po tschesnomy…
„Ehrlich gesagt, ja. In den letzten Jahren, insbesondere in den letzten vier Jahren, haben wir den Umfang unserer Produktion erweitert. Jetzt arbeiten bei uns ungefähr 500 Leute. Es gibt zwei Etappen, die wir vergleichen können; das ist die Etappe vor Perestroika und die danach: Wir sind wieder auf das Niveau angestiegen, das wir vor dem Niedergang hatten, also auf das Niveau vor Perestroika. Es gibt keine andere Fabrik hier in der Gegend, die in diesem Maße tätig ist wie wir, mehr noch, viele Fabriken, die vom Umfang ihrer Produktion her früher Giganten waren, liegen weit unter der Produktivität der Eisenbetonfabrik Nr. 4. Unsere Fabrik stand ja 1997 und 1996 nach allen Parametern an erster Stelle in Sibirien. Von  der Hauptadministration des Gebietes haben wir einen Preis erhalten – für „Erfolgreiche Entwicklung von Geschäftstätigkeit in Sibirien“.
…bisnes we sibirje“

Erzähler:
In einer Mischung aus Sarkasmus und Stolz zeigt der Direktor bei diesen Worten auf eine Vitrine, in der einige handtellergroße Medaillons hinter Glas ausgestellt sind. Das seien allerdings nur die äußeren Daten, schränkt er gleich darauf ein. Von innen sehe alles natürlich noch etwas anders aus:

O-Ton 4: Direktor, Forts.                0,51
Regie: Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

„U nas wsjo teleschelo…
„Bei uns in Rußland ist alles sehr schwierig und alles nicht so ganz richtig. Alles ist irgendwie durcheinander. Bei uns wird jedes Unternehmen in die Enge getrieben, vor dem Staat, vor den Budgetfonds, in  gegenseitige Verrechnungen und Verschuldungen. Lebendiges Geld gibt es nur sehr wenig. Das lebendige Geld reicht gerade eben für den Fond zur Bezahlung der Arbeit. Alles andere chinchen wir irgendwie aus, mit dem Staat, mit der Stadt, mit dem Verwaltungsgebiet, mit unseren Kunden, tauschen irgendwie…“
…schila na mila, tak.“

Erzähler:
Was der Direktor beschreibt, ist eine Wirtschaft im Zustand des Naturaltausches. Nicht freier Geldverkehr auf offenem Markt, sondern der direkte Tausch von Produkten, Dienstleistungen und Arbeitskraft hält die  russische Gesellschaft heute am Leben. Partner des Austausches sind nicht nur Fabriken, landwirtschaftliche oder gewerbliche Betriebe untereinander, sondern auch Betriebe auf der einen und Behörden, im großen Maßstabe der Staat auf der anderen Seite. Man ist in einem stillschweigenden Konsens miteinander verbunden, den der Volksmund zehn Jahre nach Beginn der Reformen auf die Formel gebracht hat: Ihr zahlt keinen Lohn und wir keine Steuern. Ein Geldkreislauf ist praktisch nicht existent. Auf die Frage, wie es möglich ist, unter solchen Umständen erfolgreich einen Betrieb zu führen, antwortet der Direktor:

O-Ton 5: Direktor, Forts.                 1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Uspexi schto li…
„Die Erfolge kommen nur aus sehr großer Anstrengung. Seinerzeit wurde die Aufgabe gestellt: Rettung des Unternehmens, Rettung der Arbeitsplätze, nicht zulassen, daß die Leute arbeitslos werden – Wir haben nicht nur den Produktionsumfang erhöht, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze. Dabei resultiert die Steigerung des Produktionsumfangs aber nicht nur aus einer Erhöhung der Zahl der Arbeitsplätze, sondern auch aus einer Produktivitätssteigerung. Das bedeutet: Die Arbeit wurde intensiver; die Arbeiter müssen sich mehr rühren, mehr arbeiten. Ich fordere von ihnen den vollen Einsatz.“
…trebuju polnu otdatschu.“

Erzähler:
Im Sommer, wenn die Bautätigkeit boomt, wird 10 oder 12 Stunden gearbeitet, ebenso am Samstag und am Sonntag. In gesonderten Produktionen zieht sich die Arbeit manchmal sogar über mehrere Monate ohne einen einzigen Tag Pause hin.

O-Ton 6:                    1,39  Regie: Kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
„Nu snatschala ja im jesdestwenna…
Dafür, fährt der Direktor fort, gebe er seiner Belegschaft aber praktisch auch alles, was sie brauche, um zu leben:  kostenlose Wohnungen, kostenlose Ernährung, kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Kindergartenplätze, kostenlose Kuraufenthalte, Ausbildung im Betrieb, allgemeine Weiterbildung. Alle diese sozialen Vergünstigungen gebe es umsonst. Mehr noch, die Fabrik gewähre eine Betriebspension für rund hundert Leute, die früher dort gearbeitet hätten. Jeden Monat erhielten sie eine ganze Palette von Produkten, von denen sie lebten. Und das sei nicht wenig. Es klingt ehrlich besorgt, wenn der Direktor diese Aufzählung mit den Worten beschließt:

Übersetzer:
„Diese Menschen gaben der Fabrik ihre ganze Jugend. Einige haben hier vierzig oder mehr Jahre gearbeitet. Nach der Privatisierung blieben sie auf der Abfallseite des Lebens. Außer uns hilft ihnen niemand. So mache ich, was ich kann, versuche es.“
..nikto nje pamoschit, putajus.“

Erzähler:
Der Rubel sei wichtig, findet der Direktor, der materielle Anreiz, die materielle Hilfe. Auch wichtig, vielleicht sogar wichtiger findet er den moralischen Stimulus: „Daß die Menschen“, so formuliert er es, „an einer gemeinschaftlichen Sache beteiligt sind.“ Soeben hat er deswegen ein schwarzes Brett eingerichtet, das Auskunft über Einkünfte und Ausgaben des Betriebes gibt.

O-Ton 7:                      0,59
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Ponimaetje, snatschit tje ludi…
„Verstehen sie, die Menschen sind sehr verschieden. Viele von ihnen sind noch Zeitgenossen des Sozialismus, als alles unser war – nicht meins, sondern alles unseres. Sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen, ist sehr schwierig. Ich sage meinen Leuten immer wieder, daß wir jetzt alle Eigentümer sind, daß wir für uns selbst arbeiten. Das verstehen sie. Aber nicht jeder will Eigentümer sein. Manche wollen nur einfach ihren Lohn; das ist normal. In moralischer Hinsicht aber fühlen die meisten ihre Mitbeteiligung. Ich sage ihnen: `Dank eures Einsatzes geschieht das hier alles.´ Auch Feste führen wir durch, bei allen Anlässen, alten wie neuen.“
…starije, nowije, lächeln

Erzähler:
Sich selbst versteht der Direktor als Teil dieser Gemeinschaft. Auch von sich verlangt er den härtesten Einsatz:

O-Ton 8: Matschalin, Forts.                    2,25
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nu, odno djela…
„Die eine Sache ist, auf den Staat oder auf Gott zu hoffen, nun , das kommt auf das Gleiche raus: Weder von dem einen noch von dem anderen kannst du etwas erwarten. Hier auf dem Direktorensessel hilft dir keiner. Da kannst du nicht klagen, da mußt du Entscheidungen treffen. Die Aufgabe hieß, ein Kommando zur Lösung der Probleme zu bilden – das Kommando gibt es; wir ziehen Aufträge an uns, wir tauschen unsere Produkte über lange, lange Ketten. Irgendwie kommen wir mit den Steuern zurecht, mit den Nahrungsmitteln, mit Bargeld für die Löhne usw. usw.
Ich will sagen: Hier sitzen und auf irgendwelche Aufträge vom Staat zu warten, das ist nicht seriös. Die Direktoren, die vor drei, vier Jahren saßen und auf Aufträge aus der Budgetfinanzierung gewartet haben, die haben verloren. Sie haben sich verspätet. Der Zug ist abgefahren: Rekonstruktion, Modernisierung, Reorganisation der Produktion kostet jetzt ein irrsinniges Geld. Darüber hinaus ist der Markt besetzt und da Eingang zu finden, ist sehr schwierig. Worum geht es also? Um die Qualität der Produkte bei gleichzeitigen Niedrigpreisen. Der Gewinn, den wir dabei herausholen, ist minimal. Wir bekommen ihn nur durch den Umfang der Produktion herein. Da kann man nicht mehr lange reden. Die Dinge ändern sich schnell, da muß schnell gehandelt werden. Der Direktor muß sein Wort halten. Das Wort des Direktors garantiert die Zukunft der Fabrik. Wenn heute ein Direktor ein einziges Mal jemanden auflaufen läßt, dann kommt der nicht wieder. Darüber hinaus erzählt dieser Klient das allen anderen und aus ist es. Das heißt, für denjenigen ist es mit dem Markt zuende. Heute gilt: Wort halten und seine Pflichten erfüllen! Alles übrige – daß die Fabrik nur unter schweren Bedingungen arbeiten kann: Ja, wir haben es schwer! Ja, wir haben hier diese formlose Wirtschaft! Aber was weiter? Wir leben doch hier in Rußland und werden nirgendwohin auswandern.“
…nje sabirajem nikuda uischats.“

Erzähler:
Marktwirtschaft, aber unter russischen Vorzeichen, das ist Nikolai Matschalins Credo; Rußland muß stark sein:

O-Ton 9:                     1,09
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Übersetzer:
„Rossija dolschna bit silnaja…
„Man darf nicht zulassen, daß wir auf  Kosten anderer existieren müssen. Es geht nicht an, daß wir nach Aufträgen des Internationalen Währungsfonds leben. Heute schwatzen unsere Leute beim Gouverneur davon, Mähdrescher aus Deutschland zu kaufen. Ich meine, daß man Mähdrescher hier bauen muß. Auch wenn sie schlechter sind, wird Iwan Iwanowitsch durch sie doch seine Arbeit haben, durch sie wird die Schlage auf dem Arbeitsmarkt kleiner. Es ist vielleicht ein bißchen grob, aber ich denke so: Wenn wir heute russische Schuhe machen können, die vielleicht etwas fest sind, sollen wir sie machen und darin gehen, aber so können dann alle unsere Leute, die Arbeit suchen, arbeiten, unsere Pensionäre erhalten Pension, unsere Lehrer ihren Lohn, Steuern werden gezahlt usw. usw.“
… tagdali, tagdali

Erzähler:
Für eine Verwirklichung seiner Vorstellungen im großen Rahmen setzt Direktor Matschalin auf einen russischen Pinochèt. Nur ein Diktator könne die nötige Kontinuität aufbringen, meint er, nur ein Diktator, dem ohnehin alles zur Verfügung stehe, sei nicht darauf angewiesen, sich bestechen zu lassen:

O-Ton 10:                     1,05
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„Kak prawadil parjadok…
„Wie hat Pinochèt die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß es da den Guitarrenspieler Viktor Jara gab, dem sie die Hände zerschlagen haben usw. Ja, er zerschlug möglicherweise die Hände von Viktor Jara, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land und es war General Pinochèt, der das Land zur Blüte brachte. Er ist dann ja von selbst gegangen: Schluß, ich habe meine Sache gemacht. Und wer machte es in Deutschland? Eisenhower! Und de Gaulle in Frankreich! Das waren Generäle, starke Generäle, welche die Autorität des Volkes benutzten.“

Erzähler:                                                                    Leider, setzt der Direktor bedauernd hinzu, sei Alexander Lebed nicht bereit, eine solche Rolle für Rußland zu übernehmen.
… etu tjemu gawaroril.“

Erzähler:
Die Belegschaft der Fabrik teilt die politischen Ansichten ihres Direktors nicht:

O-Ton 11: Betriebskollektiv, divers                                0,49
Regie: Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen und ausblenden

Übersetzer:
„Ponimaetje, my nawerna…
„Wir sind alle müde von der Politik“, sagt dieser Mann. Er ist der jüngste aus einer Runde von vier Männern unterschiedlichen Alters und einer älteren Frau, die ich gleich im Anschluß an das Gespräch mit dem Direktor über ihre Meinung zu den Ansichten ihres Chefs befragen kann. Wenn der Direktor Lebed unterstütze, meint der junge Mann, sei das seine persönliche Angelegenheit. Andere im Betrieb seien für die Kommunisten, wieder andere für den Liberalen Jawlinski, selbst für Lyschkow, den Moskauer Bürgermeister. Verschieden eben, stimmt die Runde zu. „Bloß nicht für Jelzin“, ergänzt die Frau. Und wieder nicken alle.
…sa Jelzina, Stimmen“

Erzähler:
Im übrigen aber bestätigt die Runde stolz das Bild, das der Direktor von der Lage des Betriebes hat entstehen lassen. Vor allem in der Frage der Gemeinschaft stimmt man voll mit ihm überein:

O-Ton 12                    0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Die ältere Kollegin erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 13                         1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur versprechen und dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deswegen ist die Stimmung bei uns häufig sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über 12 Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“                                …i mi djelajem“

O-Ton 15:                    1,38
Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Woanders kann man vielleicht mehr bekommen, aber man bekommt es nicht rechtzeitig. Und dann muß man ins Krankenhaus, das Essen  bezahlen usw. Bei uns gibt es Milch kostenlos, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus bei uns gab, und die gab es, die haben wir jetzt um so besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“
… prinisli sewodnischi.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. An der Spitze wurde alles von einer Troika aus Partei, Betriebsführung und Gewerkschaft zusammengehalten. In diesen Verhältnissen lebte die alte russische Bauerngemeinschaft in ihrer industriellen Form fort. Mit Einsetzen von Perestroika zerfiel diese Pyramide in ihre Bestandteile. Ist in der Eisenbetonfabrik Nr. 4 also alles nur einfach beim Alten geblieben? Nein, keineswegs, antwortet die Kollegin für alle:

O-Ton 16:                     1,38
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen.

Übersetzerin:
„Stimmen, my prosta tech ludej…
„Heute halten wir die Leute, die nicht arbeiten wollen, nicht mehr. Wenn es früher während des Sozialismus so viele freie Arbeitsplätze gab, daß ein Mensch von einer Fabrik zur anderen gehen konnte, in drei, vier Fabriken eine Arbeit finden konnte, so ist es heute sehr schwierig, eine Arbeit zu finden, wissen Sie. Und so hält man sich an die Arbeit und gibt sich Mühe. Mußte man früher erst lange besprechen, ob am Samstag gearbeitet werden soll, dann ist jetzt einfach klar: Nur wenn ich arbeite, kriege ich Geld, wenn man überhaupt etwas kriegt. Bei uns kriegt man etwas.“

Erzähler:
Entlassungen also als neue Errungenschaft? Wer nicht funktioniert, kann gehen? „Nein, nein“, schränkt einer der älteren Männer ein, „wir werfen hier niemanden einfach hinaus“:

Übersetzer:
„Wir sagen ihm nur: `Gut, wenn Du nicht so arbeiten willst – ruh dich aus. Aber die Arbeit an deinem Platz muß von jemanden gemacht werden. Also müssen wir einen anderen finden. Pardon, mein lieber, geh Dich erholen, wir suchen einen anderen Arbeiter für den Platz.“
…Drugim rabotschim

Erzähler:
Eine Gewerkschaft, die gegen Entlassungen protestieren könnte, gibt es nicht. Sie sei auch nicht nötig, meinen die Kollegen. Heute entscheide das alles der Betriebsrat selbst, meint der junge Kollege, schneller, schlanker, besser:

O-Ton 17: Kollegen, Forts.                 0,56
Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Sdjes, widitje kak…
„Wie ist es bei uns? Früher entschied die Gewerkschaft. Früher gab es auch einen Plan. Entschieden wurde in Nowosibirsk, in Moskau. Jedenfalls alles von oben. Wenn heute in der Eisenbetonfabrik Nr. 4 den Selbstschutz organisiert wird, dann wissen wir doch wofür.“

Erzähler:
Wenn es also keine Gewerkschaft im Betrieb gibt und keine Zentralplanung, wenn man sich politisch vom Direktort absetzt aber doch mit ihm zusammen die Geschicke des Betriebes bestimmt und gemeinsam mit ihm über Einstellungen und Entlassungen entscheidet, wer ist dann das „Wir“, in dessen Namen die vier Kollegen und die Kollegin sprechen?

O-Ton 18: Kollegenrunde, Forts. , Frau                        2,11
Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,20 kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach kurz Erzähler hochziehen, danach abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.

Regie: beim Stichwort „jest sabrannije“ vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten also jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet der Aktionäre: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht zur Zeit individuell davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
… kollektivni sobstwebbost.“

O-Ton 19:                         0,26
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Stichwort „kollektiv“ hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Da, sowerschenna vera…
„Ja, genau so!“ antworten die Kollegen. „Das haben Sie richtig verstanden. Ein Komitee von Eigentümern, die miteinander ihr Überleben sichern.“
Hier habe nicht ein Einzelner ein Riesenpaket Aktien, bekräftigt der junge Mann noch einmal; hier werde gemeinsam entschieden.
… vladejet Kollektiv…

Erzähler:
Auch in der Eisenbetonfabrik Nr. 4, heißt das, wurde privatisiert. Aber die Privatisierung brachte nicht hervor, was die Reformer beabsichtigt hatten. Ihnen galt die kollektive Betriebsorganisation als das Haupthindernis der Modernisierung und einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes. Daher wollten sie die Betriebskollektive entmachten. Das Privatisierungsproramm von 1991 sah vor, daß Direktoren und Belegschaften gemeinsam bei der Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiongesellschaften auf keinen Fall in den Besitz von Aktienmehrheiten kommen sollten, die ihnen eine Kontrolle über die Betriebe erlauben würden. In der Eisenbetonfabrik lief es genau umgekehrt: Die Privatisierung schweißte das Betriebskollektiv zu einer Überlebensgemeinschaft zusammen, die sämtliche Aktien in ihrer Hand hält. Das hebt den Betrien aus der Masse anderer hervor. Aber eine Insel im allgemeinen Chaos wollen die Kollegen nicht sein. Sie verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Belegschaften empfehlen:

O-Ton 20: Kollegenrunde                    0,47
Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, ausblenden

Übersetzerin:
„My, otschen plocha atnochimssja…
„Eine Insel zu sein, das finden wir ganz schlecht. Wir sind ja eine Fabrik für Eisenbetonbau. Wir können nicht gut leben, wenn es dem Baugewerbe um uns herum nicht gut geht. Wenn keine Häuser gebaut werden, ist unsere Produktion auch nicht gefragt. Das heißt, wir wünschen  uns und tun alles dafür, daß um  uns herum die Industrie arbeitet. Und nicht nur die Fabriken. Wir sind ja auch Menschen: Wenn wir sehen, daß neben uns eine Familie im Elend lebt, die kein Brot hat, wie kann ich da ruhig leben.
… prawilna, sie, ich…

Erzähler:
Aktiv versucht man daher andere Betriebe einzubinden:

O-Ton 21: Kollegenrunde, Frau                          0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und allmählich abblenden

Übersetzerin:
„I jeschtscho, schto my djelalem…
„Was machen wir? Unsere Werber gehen nach Norden zum Beispiel. Da holen sie Aufträge; aber sie holen die Aufträge nicht nur für uns, sondern gleich für andere Fabriken mit. Es gibt einen Rat, in dem einer von uns aktiv ist. Es ist der frühere Leiter des Betriebes. Er leitet heute einen Rat der Fabrikdirektoren. Sie überlegen, wie man die Betriebe entwickeln kann. Ohne so etwas geht es ja nicht.“
… bes etwawa nelsja

Erzähler:
Das Beispiel der Eisenbetonfabrik Nr. 4 setzt Maßstäbe. Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten, aber starken Direktor als Grundelemente einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft scheinen für Rußland ein Weg zu sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum ODER Privatisierung hinausführt.
Andrej Betz ist einer von denen, die dem von der Eisenbetonfabrik Nr. 4 initierten Rat der Direktoren  angehören. Er leitet einen Betrieb gleicher Größenordnung, „Stankosib“, eine Fabrik für Maschinenbau, ebenfalls in Nowosibirsk. Notwendig zu sagen, daß Alexander Lebed für Betz nur insoweit interessant ist, als er in der Lage ist, zwischen Boris Jelzin und den Kommunisten eine dritte Kraft aufzubauen. Von den Vorlieben seines Kollegen Matschalin für Pinochèt distanziert Andrej Betz sich entschieden, an den Erfolgen Matschalins aber mißt et sich:

O-Ton 22:     Direktor Betz, STANKOSIB,                  0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden , unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas taksche…
„Bei uns ist es genauso. Wir haben ca. 500 Aktionäre, die Aktien des Betriebes besitzen. Das heißt, es ist eine ganz normale Aktiengesellschaft, in der es kein staatliches Kapital gibt, 100% privates Kapital, darunter eine Gruppe von 16 Menschen, die ein Kontrollpaket von 51% halten. Es gibt einen Sowjet, es wird ein ausführender Direktor gewählt, der arbeitet.
Allerdings ist es bei uns nicht ganz so gut wie bei der Eisenbetonfabrik Nr. 4. Wir haben Lohnrückstände von zwei Monaten, der Lohn ist nicht sehr hoch, doch ausreichend denke ich. Die Fabrik arbeitet aber, und arbeitet stabil. Das heißt zur Zeit habe ich Hoffnung, daß wir die geforderten Produkte produzieren und auch verkaufen können.“
…neobchadimi produkti i prodawat.“

Erzähler:
Auch außerhalb von Nowosibirsk erregt das Beispiel der Eisenbetonfabrik Nr. 4 Aufmerksamkeit. Die Mehrheit der in Aktiengesellschaften umgewandelten Kolchosen und Sowchosen ist ohnehin nach wie vor kollektiv organisiert. Viele ehemalige Staatsbetriebe hat die Privatisierung handlungsunfähig gemacht. Sie suchen nach Alternativen. Wie schmal der Grat dennoch ist, auf dem die Alternative sich konkret entwickeln kann, macht ein Besuch bei „Kras-Les-Masch“, der größten Waldmaschinenfabrik Sibiriens in Krasnojarsk deutlich. Auch dieser Betrieb hat eine ca. fünfhundertköpfige Belegschaft. Auch für Viktor Schmidt, den Direktor dieses Betriebes, ist die Eisenbetonfabrik Nr. 4 eine Orientierung. Ihr Erfolg sei kein Zufall, betont er, sondern ein Musterbeispiel für rechtzeitige Orientierung am Markt:

O-Ton 23: Direktor Schmidt, Krasnojarsk                  0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, auslaufen lassen bis zum Schluß (ist ausgeblendet)

Erzähler:
„Njet, on videmo charascho rabotajet…
„Nein, sie arbeitet offensichtlich gut., und zwar einfach, weil sie sich rechtzeitig orientiert hat.  Sie hat ihre Belegschaft auf ein Minimum reduziert. Wenn sie für die Industrie bauen würde, wäre Schluß, da steht die Bautätigkeit; dasselbe für die Eisenbahn. Sie haben sich jedoch auf den privaten Bereich konzentriert – und da boomt es zur Zeit.“

Erzähler:
Dennoch hält er es nicht für möglich, dem Beispiel einfach zu folgen:

O-Ton 24: Direktor Schmidt, Fortsetzung                         0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Pritschina otschen prastaja..
„Wir machen es nicht so, weil das allgemeine Niveau unseres Alltags das nicht zuläßt. Nun gut, man könnte es tun, dann gäbe es da eine Fabrik, die gut lebt. Es ist offensichtlich, daß das nur ginge, wenn es allgemeine Linie wäre. Es muß ein staatliches Programm geben. Wir Direktoren sind ja keine dummen Leute, wir wissen, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie man profitabel arbeitet. Aber wohin mit den anderen? Sie werden vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben. Sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…  videmo gossudarstwa.“

Erzähler:
Die Alternative, die sich heute in Rußland andeutet, ist die einer Wiederherstellung der engen Verbindung zwischen Betriebsgemeinschaften nach Art der Eisenbetonfabrik Nr. 4 und staatlicher Lenkung, ausgehend von Maßnahmen auf lokaler und regionaler Basis. Theoretisch skizzierte ein Analytiker wie Boris Kagarlitzki, Aktivist der frühen Perestroika und heute freischwebender Reformsozialist, die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklung bereits 1996, als nach den letzten Präsidentenwahlen die Schwäche des russischen Staates gegenüber der kriminellen Privatisierung und dem wild wuchernden neurussischen Spekulationskapital unübersehbar wurde:

O-Ton 25: Boris Kagarlitzki                        2.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, gelegentlich vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geht ungefähr vor? Alles wurde privatisiert, nicht? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe vor Ort zu `nationalisieren´, das heißt neu als Gemeinschaftsbesitz zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Obschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in neuer Form, in spontaner Weise – für die Betriebe besteht nur einfach diese desolate Situation; also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie in dieser Weise zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer, und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen ganzen kleinen neuen Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt vom Herankommen und von der politischen Entwicklung ab.“
… otchoda polititschiskowo raswitje.“

Erzähler:
Praktisch beginnt die Alternative sich inzwischen in den Programmen zu konkretisieren, mit denen die Kandidaten für die Wahl eines neuen russischen Präsidenten im Jahre 2000 gegenwärtig antreten: Sowohl der nach der Sommerkrise amtierende neue Ministerpräsident Jefgeni Primakow, als auch potentielle Präsidentschaftskanidaten wie der Moskau Bürgermeister Juri Lyschkow wie ebenso der zur Zeit als Gouverneur von Krasnojarsk amtierende Alexander Lebed versprechen eine Wirtschaftspolitik, welche die gewachsenen sozialen Strukturen des Landes nicht weiter nur ausbeute oder zerschlage, sondern auf ihnen aufbauen oder gar deren Entwicklung befördern soll. Diese gewachsenen Strukturen sind eben jene gemeinschaftlichen, korporativ-paternalistischen Strukturen, deren Regeneration in der Eisenfabrik Nr. 4. zu beobachten ist. Die Frage ist inzwischen nicht mehr, ob das geschehen wird, sondern wie, das heißt, ob es als Zusammenschluß auf freiwilliger Basis heranwächst oder ob es mit Gewalt erzwungen wird. Von der Entscheidung dieser Frage hängt Rußlands weiteres Schicksal ab.