Kategorie: Feature/Radio

Von 1989 bis 2004 habe ich ca. 100 Radiofeatures zur nachsowjetischen Entwicklung in Russland und deren lokelen und globalen Folgen erstellt. Sie basieren auf Gesprächen und Untersuchungen, enthalten daher eine Fülle authentischen Materials, das ich Ihnen hiermit zugänglich mache.

Sie finden die Features in der chronologischen Reihenfolge Ihrer Erstellung. Gezielte Informationen können Sie sich durch die Suchfunktion erschließen. Die Audiofassungen liegen mir als Kassetten vor. Wer Interesse an der Audiofassung hat, möge sich melden.

Sieben Kandidaten, aber keine Wahl?

Laut Umfragen ist der Sieg Wladimir Putins gewiß; 70 – 80 % der Befragten sind bereit ihn zu wählen. Von den übrigen sechs Kandidaten rangieren die ersten mit 3.5 % der Stimmen für Sergei Glasjew, 1,4% für Nicolai Charitonnow, 1,1, % für Irina Chakamada. Die restlichen drei Kandidaten vereinigen gerade einmal 1 % der Rating-Stimmen auf sich: 0,4 % für Iwan Rybkin, 0,3 % für Sergei Mironow und ganz am Ende mit 2 % Oleg Malyschin, den Kandidaten Wladimir Schirinowskis.
Warum treten die sechs Kandidaten unter solchen Umständen überhaupt gegen Wladimir Putin an?
Sergei Glasjew gilt als echter Herausforderer. Er war schon in der Dumawahl der Überraschungssieger, dessen neugegründeter Wahlblock „Heimatland“ von Null auf  9.04 %  aufstieg. Auch wenn er jetzt nicht als Kandidat des Blocks aufgestellt wurde, sondern unabhängig kandidiert, prescht er weiter voran: „Das Land steht vor einer Wahl“ so Glasjew. Statt den Oligarchen weiterhin zu erlauben, die Ressourcen des Landes rücksichtslos auszuplündern, müsse dieses Geld für eine neue Konzeption des Staatshaushaltes und eine neue Wirtschaftspolitik eingesetzt werden: Steuern für Superprofite, Verantwortung der Regierung für den Lebensstandard im Lande. Glasjew kritisiert dabei gleichermaßen Regierung wie Kommunisten, die mit Putin paktiert haben. „Wie die Armut zu besiegen ist in einem reichen Land“, lautet eine seiner zugkräftigen Agitationsparolen. 1961 geboren, tritt Glasjew damit nicht als aktuelle Konkurrenz zu Putin an, rechnet sich aber Chancen aus, die Kräfte zu bündeln, die eine Alternative zu Putin wollen, bzw. über Putins kommende Amtszeit bis zur nächsten Wahl im Jahre 2008 vorausdenken.
Für die übrigen Kandidaten liegen die Dinge anders: Nicolai Charitonnow, Kandidat der Kommunisten, tritt einen Pflichtweg an, um für seine schwer  angeschlagene Partei Präsenz zu zeigen. Charitonnow hat nichts vorzuweisen, was sich irgendwie vorteilhaft von den Vorstellungen Glasjews abheben würde: In seinem Programm verspricht er, den Mindestlohn und „die Mindestrente zu erhöhen, die Rechte der Bürger auf Arbeit und Erholung wiederherzustellen, Massnahmen zur Sanierung der Umwelt zu ergreifen, die staatliche Einheit des Landes zu sichern, Kriminalität und Terrorismus zu unterbinden sowie die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu erhöhen und die Autorität der Familie wiederherzustellen.“ Die erforderlichen Mittel möchte er – anders als Glasjew – nicht aus der Besteuerung, sondern aus der Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen gewinnen. Damit schrumpft sein Programm, vorgetragen zudem von einem Oberst des Inlandgeheimdienstes FSB und aktuellen Verehrer des stalinschen Geheimdienstchefs Dscherschinski, auf eine Überlebensgeste zur Rettung veränderungsunfähiger Traditionalisten und der Konservierung übriggebliebener alter Parteistrukturen.
Frau Chakamada ist Aushängeschild der Ultra-Liberalen und Oligarchen. Ihr Wahlkampf wird von einem Großaktionär des Yukos Konzerns finanziert. Sie macht Politik offenbar als Provokation: Sie eröffnete ihren Wahlkampf noch vor ihrer Nominierung mit frontalen Angriffen auf Präsident Putin, dem sie vorwarf, bei der Beendigung des Geiseldramas in einem Moskauer Theater im Herbst 2002 keine Rücksicht auf das Leben der Geiseln genommen zu haben. Vielmehr habe er ein gewaltsames Ende der Geiselnahme angeordnet, um sich als Law-and-Order-Präsident zu beweisen. Ebenso decke er die Verwicklungen des Geheimdienstes in den tschetschenischen Terrorismus. Auf ihrer Internetseite beklagt Frau Chakamada nach einem, wenn auch bisher ausgesetzten,  Haftbefehl gegen ihren Wahlkampfsponsor, den Yukos-Aktionär Lenid Newslin das „Anlaufen der Repressionsmaschine“. Offenbar solle sie eingeschüchtert werden. Eine politische Alternative hat Frau Chakamada jedoch nicht anzubieten. Eine neue Welle der Privatisierung, für die sie eintritt, wird von der Bevölkerung definitiv abgelehnt. Die „Union rechter Kräfte“, deren Mitglied Frau Chakamada ist, ist mit den Forderungen ihres Spitzenkandidaten Anatoly Tschubajs nach einer Privatisierung der kommunalen Strukturen bei der Wahl zur Staatsduma im Dezember sang und klanglos gescheitert. Da hilft es Frau Chakamada auch nichts, dass sie als unabhängige Kandidaten auftritt, die nicht von der Partei nominiert wurde. Ihre Angriffe gegen Präsident Putin, erwecken angesichts der Tatsache, dass ihre Partei in der Duma allen Kritiken zum Trotz letztlich Mehrheitsbeschaffer für den Päsidenten war, eher Irritation. Frau Chakamada kann den Verdacht nicht entkräften, nur verbal gegen Putin, praktisch aber mit ihm zu gehen.
Die restlichen drei Kandidaten leisten Schützenhilfe für einen Präsidenten und für ein Regierungssystem, dessen Stabilität dann gefährdet ist, wenn die Bevölkerung so sehr von der Übermacht des jetzigen Präsidenten überzeugt ist, dass sie zu 50% nicht zur Urne geht. Was den Dauer-Provokateur Schirinowski dazu bewogen hat, an Stelle seiner eigenen Person wie bei den vorherigen Präsidentenwahlen seinen ehemaligen Leibwächter  als Kandidat zu benennen, bleibt sein Geheimnis.

Europa – Modell oder Festung? Gedanken zur Organisation von Vielfalt

Europa ist ins Gerede gekommen. Vom alten Europa wird
gesprochen, vom neuen, von europäischer Schwäche, von
notwendiger europäischer Stärke. Der Euro ist dabei, den
Dollar zu überholen, aber die europäischen
Kernwirtschaften sind in der Krise. Was ist los mit Europa?
Ist Europa das Modell für die Gesellschaft von morgen oder
ist es ein Überbleibsel von gestern, das sich gegen den
Fortschritt der Globalisierung abschottet?
Europäische Intellektuelle streiten: Der französische
Philosoph André Glucksmann nannte Europa einen Vogel
Strauß, der seinen Kopf vor der Realität in den Sand stecke.
Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger
kleidete seine Kritik an einem, wie er meint,
handlungsunfähigen Europa in das Bekenntnis, der Fall
Saddam Husseins habe ein Gefühl des Triumphes bei ihm
ausgelöst. Professor Jürgen Habermas erklärte, zugleich mit
dem Sieg über den IRAK hätten die USA ihre moralische
Autorität eingebüsst.
In der Welt der ehemaligen europäischen Kolonien sind die
Sympathien klar verteilt: Europa ist der Traum, die USA
sind die Wirklichkeit. „Europa“, sagte kürzlich der
Vorsitzende einer städtischen afghanischen Gemeinschaft
zu mir – einer von denen, die nach dem Rückzug der
Sowjets aus Afghanistan ins Exil gingen und heute von
Europa aus um den demokratischen Aufbau Afghanistans
bangen: „Europa, das war für uns in Afghanistan, seit ich
denken kann, immer der zivile Weg der Entwicklung: Das
war Wohlstand, Frieden und Toleranz, Pluralität. Die USA
stehen bei uns für das Gegenteil: Sie stehen für Gewalt, für
Zerstörung von Tradition und gewachsener Identität. Das
Problem mit Europa ist, dass es dabei zuschaut.“ Solche
Töne hört man nicht nur aus afghanischem Munde: „Ihr
wachst zusammen, wir dagegen zerfallen,“ so schallte es
dem europäischen Reisenden zu Hochzeiten der Perestroika
auch aus dem Kernland der Transformation, aus Russland
entgegen. Und auch in Russland wird klar zwischen Europa
und den USA unterschieden.
Ethnische Entmischung, kulturelle Differenzen,
wirtschaftliche Ungleichheiten sind in der globalen
Umbruchsituation, welche auf die Öffnung der bi-polaren
Welt zur Globalisierung folgte, heute weltweit das Problem
Nummer eins. Europa verkörpert die Vision einer Ordnung,
die über das gegenwärtige Chaos hinausweist – und zwar
nicht trotz, sondern wegen seiner Schwäche. Während der
Invasion in den IRAK wurde Europa gerade wegen seiner
mangelnden Kriegsbereitschaft für viele zur Hoffnung auf
einen zivilen Weg aus der Krise.
Ist Europa heute also der Träger des allgemeinen
demokratischen Impulses, während die USA das koloniale
Erbe des alten Europa in einem neuen Empire
globalisieren? Ist Europa der Phönix, der aus der Asche der
europäischen Kolonialordnung als Guru einer neuen
pluralistischen und kooperativen, kurz: demokratischen
Völkergemeinschaft wiedergeboren wird?
Regie: Musik
Zunächst muss man wohl wissen, was Europa nicht ist:
Europa ist keine feststehende Größe, Europa ist ein
Prozess: Europa – das war ein mühsamer, immer wieder
von Kriegen und Katastrophen zurückgeworfener Aufstieg
vom Spätentwickler der Menschheitsgeschichte zur
imperialen Vormacht der Welt, Europa – das ist der Fall
von dieser Höhe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts –
die Weltkriege, der Faschismus, der Stalinismus – und
danach der mühsame Wiederaufstieg zum zivilen Partner
der Völkergemeinschaft in einer nachkolonialen Welt.
Europa ist die Kraft der Geschichte, welche die Welt
am nachhaltigsten umgestaltet hat, obwohl seine
natürlichen Wiegengaben dafür anfangs eher ungeeignet
waren: Die zerrissene Insellandschaft zwischen
Mittelmeer, Atlantik und den Nordmeeren war noch eine
Eis- und Sturmwüste, als andere Teile der Erde bereits erste
Kulturen hervorbrachten. Europas Geschichte beginnt erst,
als das Eis zurückweicht und Menschen aus wärmeren
Gegenden der Erde in die sich erwärmenden Gebiete
einwandern. Durch den Golfstrom wurde der europäische
Raum dann allerdings zum klimatischen Paradies. Mit
anderen Worten: Europa ist nicht erst heute zum
Einwanderungsland geworden, die Einwanderung ist der
Ursprung seiner Geschichte.
Die Impulse für Europas Entwicklung liegen
sämtlich außerhalb des heutigen europäischen
Kerngebietes: Aus dem Süden floss der mesopotamische
und ägyptische Kulturstrom; aus Zentralasien kamen die
Ionier, die Dorer, die Thraker und andere halbnomadische
Stämme geritten. In Kleinasien, Sparta, Athen,
Griechenland brachten sie ihre Kultur zur Blüte, als im
heutigen Europa noch die Bären brüllten Unter Alexander
I. drangen sie bis in den persischen Raum vor; die Barbaren
des Nordens interessierten sie nicht. Die Römer machten
das Mittelmeer zum Binnenraum ihres Imperiums, das sich
ebenfalls bis nach Asien erstreckte; die Völker des Nordens
grenzten auch sie als Wilde aus der römischen Welt aus.
Erst die Teilung in ein ost- und ein weströmisches Reich
gegen Ende des vierten Jahrhunderts westlicher
Zeitrechnung schuf die Voraussetzungen für den Beginn
einer zivilisatorischen Entwicklung des heutigen
europäischen Raums. Richtig los ging es sogar erst mit der
noch viel später erfolgten Teilung der christlich-römischen
Welt in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinischfränkische
Entwicklungslinie. Zu dem Zeitpunkt zählte man
aber bereits das 8., 9. und 1o. Jahrhundert nach Christi
Geburt: Hochkulturen in anderen Teilen der Erde – die
mesopotamischen, die asiatischen, die amerikanischindianischen
– hatten schon mehrere Zyklen hinter sich; die
arabisch-islamische Kultur schaute von großer Kultur-Höhe
auf die unbehauenen Barbaren im europäischen Norden
herunter. Erst in den Kreuzzügen, mit denen es die
muslimische Expansion zurückdrängte, entwickelte Europa
den Ansatz einer eigenen Identität. Die Kreuzzüge waren
die eigentlichen Geburtswehen Europas.
Aber dem Sturm der Mongolen entkam dasselbe
Europa ein paar Generationen später dann nur durch einen
historischen Zufall: Der mongolische Großkhan starb just
zu der Zeit, als die vereinigten Ritterheere des westlichen
Europa in der Schlacht bei Liegnitz 1251 von den
mongolischen Angreifern vernichtend geschlagen waren.
Die europäischen Fürstentümer bis hinein nach Gibraltar
lagen offen vor dem mongolischen Heer. Nur durch die
Tatsache, daß die feindlichen Heerführer ins ferne
Karakorum zurückehren mussten, um bei der Wahl des
neuen Khan anwesend zu sein, verdanken die Europäer,
daß sie von mongolischer Fremdherrschaft verschont
blieben.
Im Treibhaus dieser Enklave am westlichen Rande
des mongolischen Großreiches entstand Europa, in einer
fränkischen und in einer Moskauer Variante, einer
westlichen und einer östlichen also. Verbindendes Element
war das Christentum, wenn auch in die byzantinischorthodoxe
und die lateinische Linie gespalten. Dazu kam
die gemeinsame Feindschaft gegen Asiaten und den Islam.
Versuche, das in dieser Weise halb vereinte halb geteilte
Europa zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden und
als Weltreich zu etablieren, blieben jedoch immer wieder
erfolglos, wenn nicht gar in Katastrophen endeten: Die
Bemühungen Karl V., ein einheitliches christliches Reich
zu schaffen, in dem die Sonne nie untergehen sollte,
scheiterten an der Reformation. Der darauf folgende
30jährige Krieg, verwüstete Europa nicht nur, sondern
zerstückelte es. Die napoleonischen Träume führten in die
mörderischen Kriege der europäischen Nationalstaaten. Mit
Hitler kamen die Versuche, Europa gewaltsam zu einen,
endgültig zum Abschluss: Der nationalsozialistische Traum
von Groß-Europa, das die Welt beherrschen sollte,
hinterließ nicht nur Deutschland, sondern weite Teile
Europas in Ruinen, entledigte es seiner Kolonien und
vertiefte seine historischen Ost-West-Bruchlinien zur
Spaltung in zwei getrennte Welten. Das brachte den
Kontinent an den Rand seiner Existenz, während der
Kampf um die Weltherrschaft an die beiden rivalisierenden
neuen Weltmächte USA und UdSSR überging.
Regie: Musik
Ungeachtet ihrer Zerrissenheit, vielleicht sogar gerade
deswegen entwickelte sich aus der Enklave Europas jedoch
eine Expansionsdynamik, die ihresgleichen in der
Geschichte der Menschheit bis dahin nicht hatte: Die
Chinesen, obwohl hochentwickelt, begnügten sich mit der
Sicherung des chinesischen Beckens; zu ihren Hochzeiten
hatten sie eine Flotte, sogar Ansätze einer Industrie, aber
sie schufen damit kein überseeisches Imperium. Die
Pharaonen begrenzten ihre Herrschaft auf ihre Verewigung
in den Pyramiden. Die Griechen kamen über die Polis und
deren philosophische Begründung letztlich nicht hinaus;
Alexander I. war bereits ein Usurpator ihrer Geschichte.
Die Römer beließen es bei der Ausgrenzung der von ihnen
unterworfenen Kulturen aus dem mediterranen Kern des
Imperiums, bis sie von ihnen überrannt wurden. Selbst die
überaus mobilen Mongolen erschöpften sich nach wenigen
Generationen in der Verwaltung des Eroberten. Darüber
hinaus gab es bei ihnen keine verbindende Ideologie. Nur
der Islam entwickelte zeitweilig eine annähernd
vergleichbare Dynamik wie Europa, bis er sich durch
Traditionalismus und Fatalismus ausbremste. In der
europäischen Entwicklung dagegen verband sich die
Vielfalt und die Enge des europäischen Kontinentes mit
dem missionarischen Impuls des Christentums zu einer
durchschlagenden und ungebremsten Herrschafts-Ideologie
– europäische Missionare trieb es an alle Höfe, in alle
Hütten, Zelte und Krale der Welt in dem Bemühen, auch
noch die letzte Seele für Gott zu gewinnen; Politiker und
Kaufleute aus Europa sorgten dafür, daß die notwendigen
Mittel dafür aus den Weiten des Globus herangeholt
wurden – im Westen Europas per Schiff über die Ozeane,
im Osten zu Pferde quer durch die Weiten der asiatischen
Steppen.
Bei allen Differenzen gleichen sich die zwei Seiten
des christlichen Abendlandes letztlich in einem: In dem
Willen zur Missionierung und kolonialen Unterwerfung der
Welt. Gerade weil er nicht aus einem einheitlichen
Kommando kam, sondern aus einem vielgliedrigen,
differenzierten und widersprüchlichen Prozess hervorging,
verwirklichte er sich umso nachhaltiger und totaler;
fünfhundert Jahre benötigte Europa für den ersten Schritt:
Das reichte von Karl I. bis Christopher Columbus im
Westen Europas, also vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis
zum Jahre 1492, das reichte von der Kiewer Rus bis zum
Sieg Iwan III. über die Tataren, also von 882 bis 1480, im
europäischen Osten. Aber nach der Entdeckung Amerikas
durch Columbus und nach Iwans III. Sieg über die
Tataren-Mongolen expandierte der europäische
Kolonialismus geradezu explosionsartig, im Westen in
seiner maritimen, im Osten in seiner territorialen Variante.
Am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet Europa deshalb vor
allem eines: Herrschaft! Im Falle der Russen war es die
Selbstherrschaft innerhalb eines Imperiums, im Falle der
westlichen Europäer die Fremdherrschaft über Gebiete in
Übersee; das Verbindende aber war die Unterwerfung von
Kolonien.
Europa, das war bis hinauf zum 1.Weltkrieg der
Export des christlich-abendländischen Willens zur
Veränderung und zur Beherrschung der Welt. Materiell
bedeutete das: Ausbeutung der weltweiten Ressourcen
durch die Europäer; ideologisch bedeutete es:
Christianisierung oder Unterdrückung traditioneller
einheimischer Kulturen bis hin zu deren gezielter
Vernichtung. Es war eine rücksichtslose Expansion, die mit
brutaler Gewalt durchgesetzt wurde. Produkt dieser
Herrschaft war der weltweite Export der Industrialisierung
und der damit verbundenen Lebensweise.
Nichts schien diese Expansion aufhalten zu können.
Dann aber, im Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert
wurde die Welt zu eng für Europas weitere Expansion: In
Afghanistan prallten die Landmacht Russland und die
Seemacht England aufeinander, in Nordafrika standen sich
Briten und Franzosen gegenüber. Als die Deutschen,
gestärkt durch die Reichseinigung von 1871, sich
anschickten, den Briten mit dem Bau einer eigenen
Hochseeflotte die Seehoheit streitig zu machen, war der 1.
Weltkrieg praktisch eröffnet. Es bedurfte nur noch des
Anlasses. Der Krieg wurde zur Festigung der entstandenen
kolonialen Ordnung geführt – was er brachte, war der erste
Schritt zur Emanzipation der Kolonien. Der 2. Weltkrieg
vollendete diesen Niedergang der europäischen
Kolonialmächte bis zur Unabhängigkeit der meisten
Kolonien und der Spaltung Europas. Mit Spaltung war
Europa allerdings nicht einfach geografisch geteilt, wie es
sich in Stammtisch-Erinnerungen darstellt, also
kommunistisch im Osten und kapitalistisch im Westen; es
teilte sich vielmehr in einen staatskapitalistischen Osten
und einen Westen, der sich auf soziale Marktwirtschaft
orientierte. Die eine Seite Europas war als deren Gegenbild
in der anderen enthalten; aber die beiden Seiten waren nicht
miteinander vermittelbar, weil jede Seite Vorposten ihres
jeweiligen Lagers war. In der Berliner Mauer fand diese
Konfrontation ihren schärfsten Ausdruck. Doch die Teilung
war nicht nur ein deutscher, sie war ein europäischer
Niedergang. Nach 1945 wurde Europa faktisch zum Vorhof
der Supermächte USA und UdSSR, Osteuropa und die
DDR wurden Satelliten der UDSSR, West-Deutschland und
Westeuropa wurden zu Juniorpartnern der USA. Aus
Herrenvölkern waren vom Kriege ermüdete mittlere
Mächte geworden.
Regie: Musik
Gerade in Europas Niedergang liegt aber auch der Keim
seiner Wiedergeburt als Hoffnungsträger für eine zivile
Weltordnung: Der Schock der beiden Weltkriege
manifestierte sich am radikalsten in der deutschen Formel:
Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz und in der
Entwicklung West-Deutschlands zum demokratischen
Vorzeigestaat der kapitalistischen Welt und
Ostdeutschlands zum Aushängeschild des demokratischen
Sozialismus. Dass die DDR noch weniger sozialistisch als
die BRD musterhaft demokratisch war, ändert nichts an der
Tatsache, daß beide Teile Deutschlands die Vorzeigestücke
des jeweiligen Systems waren. Mit der Vereinigung beider
Hälften 1989 kamen sie zu einem neuen Ganzen
zusammen, dessen Charakter, auch wenn die Vereinigung
unter der Dominanz des westlichen Teils stattfand, bis
heute noch nicht wirklich klar ist.
Die Wiedervereinigung Deutschlands war auch eine
Wiedervereinigung Europas. Sie beschloss den
schrittweisen Aufstieg West-Europas aus dem
Nachkriegschaos zu demokratischer Pluralität. Nie wieder
Hegemonie einer europäischen Macht war das treibende
Motiv dieses Integrationsprozesses, der 1949 mit der
Gründung des Europarates begann, 1957 in die Gründung
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft überging und
zur Europäischen Union führte. Als Michael Gorbatschow
mit der Öffnung der Mauer 1989 der Integration
Westeuropas die Demokratisierung Osteuropas hinzufügte,
wurde Deutschland zum Verbindungsflur des neu
entstehenden gesamt-europäischen Hauses. Mit der
Osterweiterung der Europäischen Union sind inzwischen
weitere neue Mieter in dieses Haus eingezogen.
Ob dieses Haus sich allerdings bis nach Wladiwostok
erstreckt, wie manche meinen, darf bezweifelt werden.
Zwar ist Russland bis zum Ural zweifellos Teil der
europäischen Geschichte und dies begründet eine
besondere Beziehung Moskaus zur Europäischen Union,
aber Moskaus sibirische und zentralasiatische Territorien
gehören heute ebenso wenig zur Europäischen Union wie
die ehemaligen und verbliebenen Rest-Kolonien des
westlichen Europa. Die Zeiten, in denen sich Europa als
Herz einer weltweiten Kolonialordnung definierte, sind
endgültig vorbei.
Regie: Musik
Der Einfluss Europas auf die Welt ist heute nicht mehr
durch koloniale Bindungen vermittelt, sondern durch seine
wirtschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus liegt
Europas Anziehungskraft heute in seiner nach-kolonialen
Botschaft. Die Hausordnung in Europas Neubau, die oft
zitierte europäische Wertegemeinschaft, die aus den
Trümmern des alten imperialen Europa hervorgegangen ist,
enthält diesen Anspruch: Danach ist Europa die
Überwindung des Nachkriegs-Chaos durch wirtschaftliche
und zivile Kooperation in Europa selbst und darüber
hinaus. Europa ist ein Beispiel für die Möglichkeit von
Integration in schweren Zeiten. Europa ist Vielfalt der
Kulturen und Toleranz. Europa ist eine Gesellschaft, die
dem Prinzip des Sozialstaates verpflichtet ist. Europa ist
Demokratie. Europa ist Mobilität. Europa ist
Regionalmacht im globalen Geflecht. Europa ist
Katalysator einer neuen pluralen Weltordnung. In Europa
steht Pluralismus nicht nur in der Hausordnung, er wird
auch philosophisch, sozial- und bildungspolitisch gefördert.
Europas Philosophen treten für eine Kultur der Vielfalt ein,
die Europäische Union fördert Programme zum Schutz von
Minderheiten aller Art, eine „Pädagogik der Vielfalt“ wird
an den Universitäten, Lehr- und Bildungsanstalten auch auf
alltäglichem Niveau offiziell gefördert. Mit dem Titel
„Herausforderung Vielfalt“ ist beispielsweise eine
Internationale Konferenz überschrieben, die vom
Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des
Landes Schleswig-Holstein unter Beteiligung kirchlicher
Träger im Sommer 2003 durchgeführt wurde. Da geht es
um „Fremdheit und Differenz,, um „Pluralisierung und ihre
Folgen“, um “Strategien gegen Diskriminierung“, um
Perspektiven für die Entwicklung einer „Kultur der
Anerkennung“, die nicht nur das Fremde dulden und
akzeptieren, sondern das Fremde, das Andere als
Bereicherung des Menschseins erleben soll.
In Europa finden die Gegenbewegungen zur
Globalisierung, die in den USA zur Zeit entstehen, ihren
fruchtbarsten Boden: Die neueste US-Botschaft dieser Art
schwappt derzeit unter dem Stichwort „managing diversity“
nach Europa hinüber. Sie ersetzt das Leitwort von der
„corporate identity“, das bisher im Management gegolten
hat. Bemerkenswert daran ist nicht, daß die USA als
Stichwortgeber für Europa fungieren, bemerkenswert ist,
dass das Stichwort der „managing diversity“ gerade jetzt
aus den USA kommt und gerade jetzt in Europa Fuß fasst,
da sich eine konservative US-Regierung anschickt, den
gesamten Planeten gewaltsam unifizieren zu wollen.
Selbstbestimmung in einer Welt des bewusst
gestalteten Pluralismus, der gegenseitigen Anerkennung
und Hilfe der Menschen und der Völker, das ist heute
Europas gute Botschaft. Sie geht als Impuls auch in die
Globalisierung ein: Multipersonal, multikulturell und im
politischen Raum schließlich auch multipolar – das sind die
Begriffe, auf die sich diese Botschaft bringen lässt. Sie
schaffen Identität in Zeiten der Globalisierung, denn sie
helfen dem einzelnen Menschen, gleich welchen
Geschlechtes oder Alters, welcher Hautfarbe oder welchen
Standes den Ort ihrer Selbstverwirklichung und damit ihrer
Würde als Menschen zu finden. Politisch gilt das auch für
die Völker. Diese Botschaft ist eine echte Alternative zu
den Versuchen der unipolaren militärischen
Disziplinierung, die zur Zeit von den USA ausgehen.
Regie-Musik
Aber Europa hat auch ein anderes Gesicht. „Dieser Trend
zur Pluralisierung verläuft nicht geräuschlos und schon gar
nicht konfliktfrei“, heißt es z.B. in den Kommentaren der
an Vielfalt engagierten schleswig-hosteinischen
Pädagogen: „Es geht immer um Eingriffe in die bisherige
Verteilung von Macht. Prozesse der
Fundamentaldemokratisierung stoßen auf das Bestreben,
Privilegien zu verteidigen und jene Machtmittel möglichst
unsichtbar zu machen, mit denen sie aufrechterhalten
werden. Sie werden auch intrapsychisch so versteckt, dass
Angehörige des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ihre
Privilegien überhaupt nicht mehr wahrnehmen.“. i
Die Botschaft der Pluralität, heißt das, kann sich in
die Verteidigung der Pluralität gegen tatsächliche oder
vermeintliche Gefährdungen von außen verwandeln.
Auch dies ist keineswegs neu für Europa: Als
Einwanderungsland entstanden, haben die in Europa
Ansässigen sich doch immer gegen neue Einwanderer
gewehrt: Bereits Rom baute den Limes gegen die Völker
des Ostens, gegen die Zuwanderung aus den asiatischen
Steppen, gegen die Hunnen Attilas; den Norden Europas
befriedete Cäsar durch Unterwerfung, welcher bekanntlich
nur ein kleines gallisches Dorf an der Küste der Normandie
widerstand… Spätestens mit den Kreuzzügen gräbt sich das
Verständnis von Europa als Bollwerk gegen die
Ungläubigen tief in dass kollektive europäische
Unterbewusstsein ein – in Ost-Europa nicht viel anders als
im Westen: Danach waren die Muslime, die Sarazenen, die
Türken oder wie immer man sie nannte, gottlose
Ungeheuer, welche die Christenheit verschlingen wollten.
Vor ihnen galt es die Menschheit zu retten. Die Aufrufe
Papst Urban II. und späterer Päpste, zum Töten der
Ungläubigen auszuziehen und dafür das ewige Leben zu
ernten, lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.
Das ganze frühe Mittelalter, einschließlich der
Heldensagen, ist von der Totschlag-Romantik der
Kreuzritter geprägt.
Auf den Grundsteinen des Kreuzrittertums wurde
wenige Generationen später die Festung gegen die
Mongolen ausgebaut. Tschingis Chan galt ihren
Verteidigern als Kinderfresser, in ihm verschmolzen alle
bisherigen Feinde zur asiatischen Gefahr, zur Bedrohung
durch das Andere schlechthin, zum Anti-Christ;. Die
Kirche erklärte Tschingis Khan zur Geißel Gottes, die Gott
zur Prüfung der Menschheit geschickt habe. Besondere
Verdienste bei der Verteidigung gegen diese Gefahr nahm
dabei Russland für sich in Anspruch, das sich die Rettung
des christlichen Abendlandes vor den Mongolen zu gute
schrieb, ohne sich daran zu stören, dass dies die
historischen Tatsachen zurechtbog, da Europa, wie gesagt,
seine „Rettung“ lediglich dem Wechsel der Khane in
Karakorum zu verdanken hat. Ungeachtet solcher
Feinheiten konnte Joseph Goebbels die Skizzen des von
ihm geschaffenen russischen Untermenschen später nach
dem mittelalterlichen Klisché von Hunnen und Mongolen
fertigen lassen, die sich, krummbeinig, hässlich, mit einem
Säbel zwischen den Zähnen in die Mähnen ihrer ebenso
hässlichen Ponys klammern, um so das Abendland zu
überfluten.
Im Schreckensruf „Die Türken vor Wien“ festigte
sich das abendländische Bedrohungs-Syndrom im 17.
Jahrhundert weiter. Mit der Niederlage der Türken im Jahre
1683 löste sich zwar der Druck auf West-Europa; für Ost-
Europa wurden die Türken und alle mit ihnen verwandten
und verbundenen Völker in den folgenden Kriegen
zwischen Russland und der Türkei jedoch nicht nur zum
wichtigsten Gegner, sondern auch zum inneren Feind.
Diese Spur zieht sich bis ins heutige Russland, wo die
„Tschornije“, die Schwarzen, das rassistische Hassobjekt
für den russisch-orthodoxen christlichen Chauvinismus
sind. Auch der gegenwärtige westeuropäische Rassismus ist
nicht frei von diesem Klisché.
Im eisernen Vorhang, der West-Europa von Ost-
Europa, noch mehr aber den Westen von Asien trennte,
fand die Mär vom abendländischen Bollwerk gegen die
asiatische Bedrohung seine neuzeitliche Aktualisierung: Im
Bild des sowjetischen Kommunismus, der hinter dem
eisernen Vorhang nur darauf lauert, das verbliebene
christliche Abendland zu verschlucken, verwoben sich die
alten Klischés von Attila bis zu den Türken zum
kollektiven Wahnbild einer kommunistischen Bedrohung
aus dem Osten, für das der US-Präsident Ronald Reagan
noch kurz vor Gorbatschows Perestroika-Kurs schließlich
die schöne Bezeichnung vom „Reich des Bösen“ erfand,
vor dem die USA die Welt beschützen müssten.
Heute ist auch das Böse globalisiert. An die Stelle
des eisernen Vorhangs ist die weltweite Front gegen den
internationalen Terrorismus getreten. Das „Reich des
Bösen“ ist zur asymmetrischen „Achse des Bösen“
geworden. Aber ob asymmetrisch oder nicht, in dem Aufruf
gegen die „Achse des Bösen“ treten auch die traditionellen
europäischen Bedrohungs-Syndrome in neuer Gestalt
wieder hervor, aufgebaut von Ideologen, die den globalen
Kampf der Kulturen als Menetekel an die Wand malen und
durch einen US-Präsidenten, der zum Kreuzzug gegen das
Böse aufruft.
In diesem Kampf wird alles ausgegrenzt und
tabuisiert, wodurch sich die christlich-abendländische
Wertegemeinschaft bedroht fühlt; das ist, klar gesprochen,
alles, was nicht weißhäutig, nicht christlich und nicht
hochindustrialisiert ist. Ausnahmen machen die nichtweißen
US-Amerikaner und Amerikanerinnen, aber auch
nur, solange sie offizielle Repräsentanten der Supermacht
Nr. Eins sind. Ausnahmen machen auch die Menschen und
Völker, die man als Bündnispartner braucht, aber nur,
solange sie sich gebrauchen lassen. Das erinnert stark an
die Praktiken früherer Imperatoren, etwa jene der Römer,
welche Germanen, Hunnen und andere so lange hofierten,
wie sie als Grenztruppen andere Völker vor den Grenzen
aufhielten.
Im Namen von Vielfalt, Liberalität und
Selbstbestimmung, heißt das, beginnen sich Europäer
heute gegen eben diese Vielfalt, Liberalität und
Selbstbestimmung zu wenden. Ausdruck davon sind
politische Strömungen wie die Partei des ermordeten
Niederländers Pym Fortyn, die mit liberaler Argumentation
eine im Kern rassistische Ausgrenzungspolitik vertreten:
Wohlfahrt, Vielfalt und Selbstbestimmung ja, lauten ihre
Parolen, aber nur für Bürger Europas, nicht für Ausländer –
die sollen bleiben, wo sie geboren sind. Ausdruck dieser
Wende sind auch Positionen wie die des englischen
Premiers Tony Blair, der eher bereit ist, die demokratische
Grundsubstanz des europäischen Pluralismus den
Zentralisierungsforderungen der USA unterzuordnen, als
ein „multipolares Chaos“ zu riskieren. Wo diejenigen
stehen, die wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard
Schröder oder der franzöische Statspräsident Jaque Chirac
auf der Höhe der IRAK-Krise kurzfristig den Begriff
„multipolar“ benutzten, muss sich noch zeigen.
Unter solchen Voraussetzungen droht sich die schöne
europäische Hausordnung in ihr Gegenteil zu verkehren:
Aus Freiheit für Europa könnte sehr bald Abschottung
gegenüber dem Rest der Welt resultieren. Das Schengener
Abkommen von 1985 und seine Folgevereinbarungen
hinterlassen bereits eine beängstigende Spur: Aus der
Garantie auf Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte,
rassisch oder aus anderen Gründen Diskriminierte wird ein
ausgeklügeltes System zur Vermeidung von Asyl durch
Vorverlagerung der Asylentscheidungen in die Grenzländer
der Europäischen Union oder gleich ganz in die
Herkunftsländer von Flüchtlingen. Probestrecke für dieses
Verfahren war der Krieg im Kosovo, als Bosnische
Flüchtlinge gleich vor Ort interniert wurden. Eine
Fortsetzung fand das neue Verfahren in Afghanistan und
kürzlich wieder im IRAK.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen
hässliche Lager in den Randzonen der Europäische Union.
Die tschechische Republik zum Beispiel musste sich bereit
erklären, wenn sie betrittsfähig für die Europäische Union
werden wollte, ein Auffang- und Abschiebelager in
Balkowa zu bauen, in dem die Lebensbedingungen bewusst
auf Abschreckung angelegt sind. Beobachter humanitärer
Organisationen scheuen sich nicht von diesen Lagern als
KZs zu sprechen. Ähnliche Lager entstehen in anderen
Grenzbereichen der erweiterten Europäischen Union. Die
europäische Öffentlichkeit erfährt in der Regel nichts
davon. Die Maßnahmen werden auf europäischen
Innenminister-Konferenzen vereinheitlicht, die sich der
parlamentarischen Kontrolle entziehen. Die Medien
berichten kaum. Noch schwerer erkennbar sind die
virtuellen Lager in den nicht-europäischen
Herkunftsländern potentieller Flüchtlinge oder
Einwanderer. Diese Länder werden über wirtschaftlichen
Druck zur Kontingentierung ihrer Auswanderer veranlasst,
um nicht zu sagen gezwungen; in der Folge sind die
Grenzen nur für eine Minderheit mit Geld oder mit
Beziehungen offen. Freizügigkeit und Selbstbestimmung,
eines der höchsten Güter im Wertekatalog der
Europäischen Union, bleiben bei diesem Verfahren glatt
auf der Strecke. Eine solche Politik kann auch für die
innere Verfassung Europas auf Dauer nicht ohne
Auswirkungen bleiben. Die Konzentration europäischer
Innenpolitik auf die Abwehr von Einwanderern und die
Bekämpfung des internationalen Terrorismus droht auch
Europa in die Sackgasse eines präventiven
Sicherheitsstaates zu führen, in dem die Rechte der Bürger
das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen.
Regie: Musik
Was also ist Europa? Ein Modell oder eine Festung?
Als Modell für eine plurale Ordnung könnte Europa zeigen,
wie der Verzicht auf militärische Stärke bewusst zum
Ausgangspunkt eines zivilen Integrationsprozesses werden
kann. Es könnte Impulsgeber für den Weg zur Festigung
der pluralen Völkerbeziehungen und kooperativer
Entwicklungsstrategien sein, die sich faktisch im letzten
Jahrhundert herausgebildet haben. Damit läge im Modell
Europa gegenüber der gegenwärtigen Politik der USA eine
echte Alternative, die unter dem Motto: `Europa für alle´
Grundlage zukünftiger Politik Europas und der
Völkergemeinschaft sein könnte. Sie enthielte auch den
richtigen Ansatz zur Lösung der globalen Problems der
Migration. Ein Ausbau Europas als Festung dagegen
provoziert die Gefahr, dass die Ansätze zu einer
multipolaren Ordnung, die real bereits herangewachsen
sind, sich gegen den Willen Europas und der auf dieser
Linie mit ihm verbündeten USA und hinter deren Rücken
durchsetzen, dann aber in scharfen Konflikten, welche die
privilegierte Position des Westens mit Gewalt schwächen.
Das würde auch auf Kosten der zivilen Werte gehen, für die
Europa heute im Gegensatz zu den USA noch steht. Die
Wahl, die wir zu treffen haben, ist also nicht allzu schwer,
wenn das Modell Europa nicht die Vergangenheit, sondern
die Zukunft beschreiben soll.
©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist
www.kai-ehlers.de
i Prof. Dr. Uwe Sielert in „Pädagogik der Vuelfalt, S. 7

Wladiwostok – Vorposten Europas in Asien?

O-Ton 1: Bahnhof und Straßenbahn 1.20.00
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
hochziehen und mit O-Ton 2 verblenden
Erzähler:
Wladiwostok. Ende der transsibirischen Eisenbahn. Oder ist es ihr Anfang? Wer
hier mit der Bahn ankommt, hat die gewohnten Koordinaten verloren:
Schulgeografie und Landkarte verorten Wladiwostok als asiatischen Ausleger
Russlands am östlichsten Rande des euroasiatischen Kontinents. Man erwartet ein
fremdartiges Stadtbild, mindestens aber Plattenbauten sowjetischen Stils.
Ein Blick aus dem Fenster des einfahrenden Zuges, der erste Schritt auf den
Bahnhofsvorplatz hinaus, der sich direkt ins Stadtzentrum und zum Hafen hin
öffnet, lassen dagegen ein ganz anderes Gefühl aufkommen: Hier wendet sich der
Osten wieder nach Westen; dies ist eine europäische Stadt. Hier ist man näher an
New York, Bordeaux oder Hamburg als an Moskau – zumindest heute, seit
Wladiwostok keine geschlossene Stadt mehr ist, die sie bis 1992 als Kriegshafen
der UdSSR war.
O-Ton 2: Bahnhofsvorplatz und Straßenbahn 0.34.59
Regie: Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
hochziehen und langsam abblenden
Erzähler:
Schon die Straßenbahn hinterlässt einen anderen Eindruck als die Verkehrsmittel
der Städte Ulan Udé, Tschita, Blagoweschinsk, Chabarowsk; das sind die Zentren
der Verwaltungsbezirke, durch welche die transsibirische Eisenbahn sich entlang
der mongolischen und chinesischen Grenze nach Osten arbeitet. In diesen
Regional-Zentren bestimmen asiatische Gesichter das Bild. Selbst die sibirischen
Millionenstädte Irkutsk und Nowosibirsk sind bunte ethnische Schmelztiegel
gegenüber dem weißen Bild von Wladiwostok. Das ist so, obwohl Japan, Korea
und China direkt vor der Tür von Wladiwostok rund um das japanische Meer
liegen.
Regie: Geräusche der Straßenbahn hochziehen und abblenden
Erzähler:
Im „Archeologischen und ethnografischen Institut für die Völker des Ostens“, in
dem ich forsche und übernachte, wird der erste Eindruck gleich wissenschaftlich
bestätigt. Dr. Wladimir Turajew, Leiter der ethnografischen Abteilung, spezialisiert
auf sibirische Völker im Prozess der Globalisierung, greift zur Beantwortung der
Frage, wie Wladiwostok in die globalen Umbrüche von heute einzuordnen sei,
gleich tief in die historische Truhe: Entschieden grenzt er sich von Ideologien eines
neuen Euro-Asiatismus ab, in denen der alte russische Streit zwischen Slawophilen
und Westlern aus der Mitte des 19. und vom Anfang des 20. Jahrhunderts heute
wieder auflebt. Damals ging es darum, ob Russland zu Asien oder zu Europa
gehöre oder zu keinem von beidem:
O-Ton 3: Dr. Wladimir Turajew, Ethnograph 0.50.00
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Ja nje otnatschus sebja…
„Ich bin kein Freund des Euroa-Asiatismus. Ich denke, das ist für unser Land nicht
gut. Ich bin tief überzeugt davon, dass Russland ein europäisches Land ist. Sicher
hat es viele Elemente des Ostens, Asiens. Aber die heutigen Bedingungen der
Globalisierung bringen Veränderungen ähnlich wie beim Übergang vom 19. auf das
20. Jahrhundert mit sich, in denen sich damals das ganze Leben änderte. In solch
einer Situation muss das Land sich dahin wenden, wo die allgemeine Entwicklung
der Welt hingeht: Das ist heute die westliche Richtung. Wenn Sie es in den
Kategorien unserer alten russischen Auseinandersetzung zwischen Euroasiaten und
Westlern ausdrücken wollen, dann bin ich ein Westler.“
…otnatschus sapdnikom.“
Erzähler:
Mehr noch, setzt Dr. Turajew fort, Wladiwostoks Aufgabe bestehe heute darin,
westliche Kultur gegenüber Japan, Korea, China und der übrigen asiatischen Welt
zu vertreten:
O-Ton 4: Wladimir Turajew 1.13.01
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Wot, dalni wastotschni …
„Die fernöstlichen Verwaltungsbezirke sind in gewissem Sinne Vorposten.
Seinerzeit sagten wir ja, Vorposten des Sozialismus – heute sind sie Vorposten der
westlichen Art zu leben. Wladiwostok war ja von Anfang an eine westliche Stadt
im Osten. Das war mit seiner Gründungsgeschichte verbunden. Hier gab es den
Porta Franka, den französischen Hafen. Es gab den intensivsten kulturellen,
politischen und wirtschaftlichen Austausch nicht nur mit den Ländern Asiens, also
mit Japan, Korea und China, sondern auch mit den Ländern des westlichen Europa.
Und so hat sich Wladiwostok von Anfang an als eine Stadt wirtschaftlicher
Offenheit entwickelt. Über den Hafen stehen wir ständig in Verbindung mit
anderen Ländern, sind immer im Dialog: Die Fischer, die Seeleute. Dadurch hat
sich ein Leben entwickelt, das eher einer westlichen Stadt gleicht. In diesem Sinne
ist sogar eine so europäische Stadt wie meine Geburtsstadt Smolensk traditioneller,
östlicher, asiatischer als Wladiwostok.“
…tschem Wladiwostok.“
Erzähler:
Mit diesem Bogen von Wladiwostok bis nach Smolensk an der polnischen Grenze
hat Dr. Turajew ein russisches Paradoxon formuliert: Russland ist in seinem Herzen
asiatischer als in Asien selbst: Wladiwostok dagegen ist nicht Asien, Wladiwostok
ist Europa in Asien. Wladiwostok ist nicht aus der russischen Ost-Kolonisation
heraus gewachsen, wie die anderen sibirischen und fernöstlichen Städte, die sich
erst entlang der Seidenstraße und dann entlang des sibirischen Industriegürtels nach
Asien gefressen haben. Wladiwostok entstand vom Westen her, aus der Aktivität
der westlichen Kolonialmächte Frankreich, England und auch Deutschland, denen
die russischen Zaren mit der Gründung der Stadt am japanischen Meer im Jahre
1860 einen Riegel vorschoben. 1891 wurde die Stadt und mit ihr der Bezirk
Primorje, was so viel heißt wie Bezirk am Meer, mit dem Bau der Transsibirischen
Eisenbahn an die gesamtrussische Entwicklung angeschlossen; die Fertigstellung
der Bahn 1898 beschleunigte und besiegelte Russlands Eintritt in die Weltpolitik.
Für diese Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen die Historiker
von Russland als „Treibhaus des Kapitalismus“.
Dieser Entstehungsgeschichte verdankt Wladiwostok auch seinen Namen. Auf die
Frage, was unter „Vorposten“ zu verstehen sei, erklärt Professor Plaxen, ein älterer
Kollege Dr. Turajews, der im Institut das Laboratorium für Meinungsforschung
leitet, halb stolz, halb entschuldigend:
O-Ton 5: Prof. Jefgeni Plaxen, Meinungsforscher 0.40.15
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Kak skasats lutsche…
„Wie soll ich es am besten sagen? Wladiwostok irritiert mich immer wegen seines
Namens: Wlade – wostoka, das bedeutet, beherrsche den Osten! Es gibt bei uns
noch eine andere fernöstliche Stadt, auch spät gegründet, Blagoweschinsk am
Amur, direkt an der chinesischen Grenze. Ihr Name bedeutet so viel wie:
Verkündigungsstadt. Dieser Name liegt mir weit näher am Herzen; er wäre auch ein
besserer Name für unsere Stadt am äußersten Ende des russischen Reiches
gewesen. Das wäre auch heute die richtige Losung, unter der man hier vorgehen
sollte.“
…pod etim losungam iti.
Erzähler:
Der Wunsch Prof. Plaxens ist zu verstehen: Die Öffnung Wladiwostoks im Jahre
1991 war keineswegs gleichbedeutend mit Demokratisierung. Mit Hinweis auf die
Frontstadt Wladiwostok und eine angeblich drohende Gelbe Gefahr ertrotzte der
erste Gouverneur Wladiwostoks im neuen Russland, Nostratenko, sich
Sonderrechte von Moskau, konservierte aber zugleich das autoritäre Regime
sowjetischen Typs. Nostratenko ist inzwischen abgetreten, die Stadt öffnet sich.
Zweifellos sei Wladiwostok auch jetzt noch weit entfernt von Wohlstand, Ordnung
und Sauberkeit wie es sie in westlichen Städten, zum Beispiel Hamburg, gebe, so
Professor Plaxen, aber die Richtung sei doch immerhin schon einmal klar:
O-Ton 6: Prof. Jefgeni Plaxen, Meinungsforscher 0.40.23
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„No, Wladiwostoka…
„Ich glaube, dass wir eine Zukunft haben. Die Ergebnisse unserer Umfragen zeigen,
dass die Bevölkerung, auch die Regierung, sich allmählich verändert, dass man sich
zunehmend wieder als Avantgarde begreift, als eine Avantgarde, die russische
Interessen in der asiatisch pazifischen Region schützt; das bedeutet, das sie
europäische Werte schützt. Die Umfragen zeigen auch, dass man die Nase wieder
in den Wind steckt und das dieser Wind in die Richtung der USA, Frankreichs,
Deutschlands und anderer europäischer Staaten weht.“„
…ewropeskich stran.“
Erzähler:
Mit der asiatischen Seite der Stadt, vor der Gouverneur Nostratenko so eindringlich
warnte, konfrontieren uns die Mitarbeiter der chinesischen Abteilung des
Wladiwostoker Institutes für die Völker des Ostens. Mit fünf Mitarbeitern, drei
Männern, zwei Frauen, ist es dessen am besten besetzte Abteilung. Der Einfluss
Chinas auf den fernen Osten und Russland ist das Problem, zu dem das Institut die
umfangreichste Forschung unterhält. Korea oder auch Japan gehen dabei am Rande
mit. Die mongolischen oder turksprachigen Völker Russlands, ganz zu schweigen
von der Mongolei liegen schon gänzlich außerhalb des aktuellen
Forschungsinteresses des Institutes. Der Gigant China drängt alles andere beiseite.
Von Gelber Gefahr will hier indes heute niemand mehr sprechen. Sechs Millionen
Chinesen in Russland? Drohende Übernahme kommunaler Strukturen durch
Einwanderer? Die Zeiten Nostratenkos seien vorbei, heißt es. Unmissverständlich
weist ein Kollege des Teams, Nikolai Wrebschi die Millionen-Zahlen, die von
Moskau aus in die Welt gehen, als Spekulationen zurück:
O-Ton 7: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.41.35
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
“No, ja dumaju…
“Nun, ich denke, die Zahl, die Sie genannt haben – das ist reine Fantasie! Sie
können sich auf den Straßen von Wladiwostok überzeugen, dass man dort ziemlich
selten Chinesen trifft. Wenn man welche trifft, handelt es sich in der Regel um eine
Gruppe von Touristen, die kommen, um sich die Stadt anzusehen, sehr kultiviert,
sehr zivilisiert. Hier gibt es überhaupt keine Probleme. Was man da in Moskau
glaubt, dass es hier um Millionen geht, das ist absolut nicht wahr. Es ist eine
fantastische, an den Haaren herbei gezogene Zahl.“
…priviletschenije Ziffre.“
Erzähler:
Auf die Frage, wie er sich das Zustandekommen solcher Zahlen erkläre, fährt
Nicolai Wrebschi fort:
O-Ton 8: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.48.37
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
Ransche my gawarili…
“Früher hieß es, wir seien weit weg von Moskau. Ein berühmter sowjetischer
Roman hieß sogar so: „Moskau ist weit“. Jetzt kann man wohl sagen: Moskau ist
weit weg vom fernen Osten. Das hat vermutlich Auswirkungen. Und noch etwas:
Schon seit zehn Jahren zirkulieren diese Zahlen; wenn solche Zahlen erst einmal im
Druck sind, dann führen sie ein Eigenleben. Die Leute schreiben voneinander ab,
aber die Zahlen haben mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun. Man muss
kommen und nachschauen, wie Sie es jetzt tun. Die wirkliche Zahl ist um eine
Stelle kleiner oder sogar noch niedriger. Auf keinen Fall aber derart erschreckend
wie die aus Moskau.“
…kak we Moskwe.“
Erzähler:
Als 1991 das Visa-Regime an den fernöstlichen Grenzübergängen abgeschafft
wurde, berichten die Spezialisten, stieg die Zahl der Einwanderer, übrigens nicht
nur der chinesischen, sprunghaft an. Die meisten statistischen Angaben stammen
aus dieser Zeit, als Gouverneur Nostratenko die Hysterie anheizte. Nach
Wiedereinführung der Visumspflicht an der russisch-chinesischen Grenze 1996
flachte die Kurve der chinesischen Einwanderer erkennbar ab.
Es ist daher nicht die Zahl chinesischer Einwanderer, die das China-Team des
Wladiwostoker Ost-Institutes beunruhigt. Was sie aber doch beunruhigt, ist die Art,
wie die Chinesen im Lande tätig sind.
Alenija Gretina, eine der weiblichen Mitarbeiterinnen des China-Teams,
fühlt sich persönlich betroffen:
O-Ton 9:, Alenija Gretina, China-Forscherin 0.50.19
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzerin:
„Menja otschen bespakoit…
“Mich beunruhigt sehr, dass die natürlichen Ressourcen unseres Bezirkes Primorje
durch illegale Chinesen Schaden nehmen, die regelmäßig die Grenzen
überschreiten, ungeachtet der Grenzkontrollen. Unsere Taiga nimmt Schaden, weil
dort Frösche und seltene Pflanzen weggeschleppt werden; im Meer gibt es
Seegurken, die man kaum noch findet, Naturschutzgebiete plündern sie, wo sie nur
können. Das beunruhigt mich sehr! Ich kenne persönlich Chinesen, die dabei reich
geworden sind und weiter reich werden. Illegal natürlich. Das läuft alles
unreguliert. Damit unser natürlicher Reichtum nicht nur für Chinesen gut wäre,
sondern auch für uns, müssten die Behörden aktiver werden.“
…bolje aktivna.“
Erzähler:
Frau Gretinas Kollegen teilen ihre Befürchtungen. Das Problem liege allerdings
nicht bei den Illegalen, präzisieren sie; die illegale Zuwanderung hätten die
Behörden inzwischen unter Kontrolle. Das Problem liege gerade bei denen, die sich
legal im Land aufhielten:
O-Ton 10: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.40.45
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Eti graschdani kak….
„Diese Menschen agieren in der Regel auf offiziellem Boden, sie haben gültige
Dokumente, sie leben hier legal; bei ihnen ist alles in Ordnung. Die Übertretungen
von Gesetzen beginnen dort, wo sie wirtschaftlich aktiv werden: Oft kaufen sie
Holz, Fische und anderes unter der Hand und schaffen es weiter nach China. Darin
liegt das Problem; es ist nicht gelöst und es ist unklar wie es gelöst werden kann.
Das Problem sind also nicht die Chinesen, sondern wir selbst, die wir keine
Regelungen für ihre wirtschaftliche Tätigkeit finden.“
…nawesti parjadok.“
Erzähler:
Es komme noch ein anderer Aspekt hinzu, ergänzt die zweite Kollegin des China-
Teams, Frau Karetina:
O-Ton 11: Galina Karetina, China-Spezialistin 0.30.05
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzerin:
„Jesli…
„Wenn früher der Primorje Bezirk ein Ort für eine ursprüngliche Akkumulation
war, für Kleinhändler, die hier erstes Geld gemacht haben, dann dient er den reich
gewordenen chinesischen Geschäftsleuten inzwischen nur noch als Sprungbrett für
den russischen Markt. Das hörten wir von Chinesen, die groß im Geschäft sind. Für
diese Leute ist es nicht mehr interessant, sich auf russischem Territorium
aufzuhalten; das, wiederum, ist für Russland nicht mehr interessant.“
…Eta problem ssutschustwouit.“
Erzähler:
In dem Fall, erklärt Frau Karetina, flössen nämlich nicht nur die Gewinne illegaler
Geschäfte außer Landes, Russland verliere auch mögliche Steuereinnahmen. Dies
lasse schwere Krisen befürchten. Letztlich aber hänge natürlich alles von der
Entwicklung in China selbst ab. Wider Willen fasziniert schildert die Forscherin
das chinesische Wirtschaftswunder, das sie mit eigenen Augen in den freien Zonen
des chinesischen Nordwestens in den letzten fünfzehn Jahren beobachtet habe:
O-Ton 12: Galina Karetina, China- Spezialistin 2.04.00
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzerin:
„Pajawilis prekrasnie…
„Hervorragende Straßen tauchten auf, ausgezeichnete Brücken, schnelle
Verbindungen, das heißt, modernste Kommunikation. Da kann man fahren, ohne
sich um die Straßen kümmern zu müssen. Das ist natürlich wichtig für die
wirtschaftliche Entwicklung jeder Region. Dann die Produktion von
Konsumgütern: Man trennte sich sehr schnell von den Billigwaren, die anfangs hier
auf den Markt kamen, weil wir sie in unserer Krise hier brauchten. Es tauchten
Waren höherer Qualität auf. Jetzt können die China-Waren sich ohne weiteres mit
denen aus Südkorea oder anderen südasiatischen Ländern messen. Weiter: Private,
kleine Pkws, modernste Produktion, bei der man mit anderen Ländern, z. B.
Deutschland, zusammenarbeitet. Und dann der Baumarkt: Wohnhäuser,
Bürohäuser, Banken, alles mit modernster Technik gebaut, das greift bis in unsere
Region hinein. Auch der Maschinenbau. Alle diese positiven Ergebnisse liegen
direkt vor Augen. Auch die soziale Politik hat sich geändert: Pensionen werden
unabhängig vom Betrieb gezahlt; dann die Lehr-Anstalten: Wenn wir seinerzeit mit
dem Lohn ungefähr gleich lagen, so haben sich die Löhne der wissenschaftlichen
Angestellten in China jetzt sichtlich erhöht. Man kann sich wissenschaftliche
Untersuchungen leisten und hat dabei noch hohe Gehälter – im Unterschied zu
Russland. In diesem Sinne stehen wir noch ziemlich ernsthaft hinten an.“
…otschen silna otstojom.“
Erzähler:
Chinas Weg, wirtschaftliche Freiheit zu geben, aber politisch den Staat fest im Griff
zu halten, habe sich gegenüber der russischen Perestroika eindeutig als der bessere
Weg erwiesen, so Frau Karetina. Andererseits wisse niemand, wohin die
wachsende Arbeitslosigkeit, die schon jetzt über 100 Millionen Menschen betrage,
China noch treiben werde.
„Sie haben die Menschen, wir haben die Ressourcen“, so fassen die drei
Spezialisten des China-Teams ihre Sicht zusammen. 20 Millionen Menschen leben
jenseits des Ural in Sibirien und dem fernen Osten, 140 Millionen sind es in ganz
Russland, Tendenz fallend. Dem stehen 120 Millionen Japaner, 100.000 Millionen
Koreaner, 1,25 Milliarden Chinesen jenseits der Grenze gegenüber.
Den Eindruck, die Zukunft Wladiwostoks hänge allein von Chinas Entwicklung
ab, will das China-team des Ost-Institutes dann aber doch nicht stehen lassen. Auf
die Frage, ob man die Aufgabe Wladiwostoks etwa darin sehe, die bedrohte
russische Ökologie gegen den Ansturm aus China zu verteidigen, antwortet Nikolai
Wrebschi:
O-Ton 13: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.34.24
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„My ne protiw Kitajia…
“Wir sind nicht gegen China, wir sind für Russland. Wir exportieren Ressourcen ja
nicht nur nach China und nicht einmal hauptsächlich nach China; das hängt mit den
Besonderheiten der nationalen Verbrauchsstrukturen zusammen. Nehmen wir zum
Beispiel das Holz: Holzhäuser werden vor allem in den USA gebaut und auch in
Japan. Die größten Verbraucher von Holz sind die USA und Japan; danach erst
kommen Südkorea, China und andere Länder.“
…nje tolka Kitai.
Erzähler:
So wird aus dem „Vorposten Europas in Asien“ unversehens ein Vorpostens zum
Schutz der globalen Ressourcen. Mit dieser Sicht konfrontiert, bestätigt Professor
Viktor Larin, der Direktor des Instituts, zunächst kollegial die Angaben seiner
Spezialisten. Larin ist selbst Sinologe und Autor mehrerer Bücher, Mitarbeiter an
der in Moskau herausgegeben Zeitschrift „Diaspora“, die sich mit den Fragen
russischen Migration beschäftigt. Er nennt Zahlen zur Einwanderung von Chinesen,
die sich auf nachprüfbares statistisches Material stützen: 33.000 sind es im Fernen
Osten, ca. 200.000 für den gesamten Raum hinter dem Ural, die meisten von ihnen
als Pendler, die als Händler oder Gastarbeiter über die Grenze kommen. In der Zahl
sind aber auch Touristen und Studierende bereits enthalten. Ganze 600 Menschen
erhielten im fernen Osten seit 1990 die Staatsbürgerschaft. Illegale, so der Direktor,
könnten sich nur halten, solange sie Schmiergelder an die Grenzbehörden und die
Polizei zahlten. Wer nicht zahle, werde abgeschoben. Im Grunde stünden also auch
sie unter Kontrolle und wenn die Behörden wollten, dann könnten sie dem Spuk
von heute auf Morgen ein Ende bereiten.
Aber Direktor Larin nennt nicht nur Zahlen, er nennt auch Gründe, warum die
Zahlen nicht anders sein können:
O-Ton 15: Viktor Larin, Direktor des Ost-Instituts 1.01.36
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Est sdjes dwe…
„Es gibt zwei Hauptgründe, welche die Migration begrenzen, objektive Gründe:
Der erste ist die Kontrolle durch die Ausländerbehörde. Da gibt es jetzt auch eine
Übereinstimmung zwischen russischen und chinesischen Behörden, Grenzbehörden
und Organen der Polizei; sie arbeiten auf diesem Gebiet eng zusammen. Der zweite
Grund ist der begrenzte Markt: Die Chinesen kommen, um hier Geld zu verdienen.
Dafür haben sie zwei Möglichkeiten: Entweder als Arbeitskraft oder im Handel.
Der Markt für die Arbeitskräfte ist begrenzt. Die Nachfrage ist jetzt nicht so sehr
hoch, obwohl, wie bekannt, unsere Leute abwandern. Der Markt der Händler ist
ebenfalls begrenzt. Sie wissen: Acht Millionen im Fernen Osten, 20 in ganz
Sibirien! Mehr Kleinhändler, als heute hier sind, sind einfach nicht möglich, oder?
Wenn jetzt 5000 Händler hier tätig sind – was werden dann 10.0000 machen? Die
haben dann einfach keine Arbeit.“
…nje budit prosta rabota.“
Erzähler:
Direktor Larin bestätigt auch die Angaben seiner China-Abteilung, dass die
chinesischen Einwanderer bei weitem nicht die einzigen seien, die kontrolliert
werden müssen. Gastarbeiter kommen auch aus den ehemaligen sowjetischen
Gebieten Zentralasiens und des Kaukasus. Im Gegensatz zu den chinesischen
Pendlern bleiben sie sogar oft länger.
Kategorisch jedoch weist der Direktor die Vorstellungen zurück, die seine
Mitarbeiter zum Schutz der sibirischen Naturschätze entwickelt haben. Solche
Vorstellungen, erklärt er, glichen bedauerlicherweise den Argumenten, mit denen
seit Jahren der bereits beschlossene Bau von zwei Brücken, eine in
Blagoweschinsk, die andere in Chabarowsk verschleppt werde, die China und
Russland über den Amur hinweg verbinden sollten:
O-Ton 16: Viktor Larin, Direktor des Ost-Instituts 1.07.01
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Eta mentalität naschich…
„Das ist die Mentalität unserer Beamten. Sie haben Angst. Aber das einfach
dumm: Auch jetzt kann man die Ressourcen wegschaffen; über das Meer, über den
Bezirk Primorje geht das problemlos. Und dann: Es roden doch nicht die Chinesen,
es roden die Russen, es fördern doch nicht die Chinesen das Öl, es fördern die
Russen. Und die Zedernkerne sammeln doch auch nicht die Chinesen, die sammeln
doch unsere Leute! Die Chinesen kaufen, wenn es Nachfrage und Angebote.
Angst vor den Brücken – das ist nur die Rechtfertigung der eigenen Tatenlosigkeit,
der Unfähigkeit zu arbeiten, der Unfähigkeit diese Dinge zu organisieren Die
Entscheidung über unsere ökonomischen Probleme liegt nicht bei den Chinesen,
sondern in unseren eigenen Händen. Nicht die Chinesen haben schuld, dass die
Dinge von Contrabanden dorthin geschafft werden. Sie kaufen, Das ist für sie
profitabel. Aber wir sind es, die verkaufen.“
…my sche prodajom.“
Übersetzer
Richtig, so Direktor Larin, wäre die Überführung des illegalen Verschiebens von
Waren in einen offenen, besteuerten Handel. Die Brücken wären ein Schritt dahin
Das würde der Entwicklung beider Seiten nützen. Bei einer solchen Entwicklung
hätte Russland nur zu gewinnen. Warum sollte Russland sich vor China fürchten?
Fragt der Direktor: Noch nie in der Geschichte habe Russland mit China Krieg
geführt, ganz anders als mit Japan und auch Korea. Vor Japan und Korea fürchte
man sich auch nicht, warum also vor China? Auch in Zeiten der Globalisierung, so
der Direktor, werde sich diese Beziehung zu China kaum ändern.
Den Grund dafür sieht er in dem, was er die chinesische Idee nennt:
O-Ton 17: Viktor Larin, Direktor des Ost-Instituts 0.54.14
Regie: Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Kakaja kitaski swjer …
„Was ist die chinesische Idee? Es ist Vorstellung einer einheitlichen Nation. Für die
Chinesen ist nicht das Territorium wichtig, wichtig ist ein einheitlicher chinesischer
Ideenraum: Das große China. Aber das Große China – das ist nicht die territoriale
Ausdehnung; das eigentliche China waren immer die südlichen Provinzen, nicht
Sinkiang, nicht die Mandschurei, nicht Tibet. Diese Gebiete waren immer Vasallen-
Räume. Die Chinesen haben dort nie Verwaltungen aufgebaut. Es reichte Ihnen,
alle fünf Jahre ein kleines Geschenk zu bekommen. Eine territoriale chinesische
Expansion ist deshalb kaum zu erwarten. Chinesen haben immer anders gewirkt:
durch kulturelle Expansion. Das ist ihre Waffe, die ist erfolgreich.“
…uspeschno.“
Erzähler:
Mit dieser Sicht hat Direktor Larin ausgesprochen, was der eigentliche Inhalt der
Losung vom „Vorposten Europas“ für Wladiwostok heute ist: Der kulturellen
Expansion Chinas eine ebenbürtige Kraft entgegen zu setzen. Dies ist in seinen
Augen, wie in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung von Wladiwostok das alte
Europa, das wie das alte China heute über die Kraft verfüge, sich kulturell zu
erneuern. Daraus, so hoffen sie, werde etwas Neues entstehen. Der Hauptkonflikt
jedoch, der das nächste Jahrhundert bestimmen werde, davon ist Larin ebenso
überzeugt wie die Mehrheit der fernöstlichen Intellektuellen, ist der zwischen China
und den USA. „YinYan“, sagt Direktor Larin mit knapper Selbstironie, „es gibt
keinen leeren Raum.“ Wo vorher die Sowjetunion war, fülle jetzt China den Raum
aus. Mit dieser Sicht und nicht zuletzt mit deren klassisch-chinesischer
Formulierung ist der Direktor des Wladiwostoker Ost-Institutes selbst bereits ein
Produkt der von ihm prognostizierten neuen Begegnung von Europa und China.
©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist
www.kai-ehlers.de

Ortsbestimmung… Betrachtungen zur neuen Unordnung unserer Welt

Der 11.9.2001 gilt inzwischen als historisches Fanal: Nichts werde mehr sein, wie es war, heißt es. Von neuer Zeitrechnung ist die Rede, von neuem Bewusstsein. Real hat sich allerdings bisher nichts Prinzipielles geändert, außer, dass nach den neuen Sicherheitsdoktrinen der USA Krieg in Zukunft wieder möglich sein soll. Auch der Terrorismus ist keine neue Erscheinung; es gab ihn vor dem Anschlag vom 11.9. 2001 und es gibt ihn jetzt. Krieg und Terror sind bedauerlicherweise ständige Begleiter der Geschichte. Es ist nur so: Wir –  die Europäer und auch wir Deutschen –  hatten uns daran gewöhnt, die Aufteilung der Welt in zwei Lager nach 1945 für normal und das Gleichgewicht des Schreckens für Frieden zu halten. Doch diese Ordnung ist schon lange passe´. Heute regt sich  weltweit  Widerstand  gegen die Vorherrschaft der USA, gegen den westlich dominierten industriellen Spät-Kolonialismus unter Führung der Amerikaner. Die Anschläge vom 11.9.2001 waren bereits ein Ergebnis, nicht der Ausgangspunkt dieser Entwicklung.

Regie: Musik

Erste Anzeichen des Umbruchs zeigten sich schon mit der Krise der Sowjetunion. Das konnte man lange auf den “kranken Sozialismus “ schieben. Die kapitalistische Welt erschien als die eigentliche Gewinnerin; der Westen fühlte sich als Sieger. Der Japan-Amerikaner Francis Fukujama verstieg sich sogar dazu, den Sieg der USA als das “Ende der Geschichte” zu interpretieren. Inzwischen warnt er generell vor dem Ende jeglicher Entwicklung. Samuel Huntington dagegen erfand mit der islamischen Bedrohung einen neuen Feind. Tatsächlich hat der 11.9. 2001 lediglich offenbart, dass auch der Westen in der Krise ist. Die Supermacht USA hat sich übernommen. Je drohender sie heute in der Welt auftritt, umso klarer wird ihre innere Schwäche.

Die neuen Verhältnisse, die jetzt zum Durchbruch drängen, haben sich im Gewand der alten Ordnung  entwickelt. Die bipolare Teilung der Welt in Ost und West war schon seit 1964, als sich das kommunistische Lager in die chinesische und die sowjetische Linie aufspaltete, eigentlich gar keine zweiseitige mehr. Im Grunde gab es bereits eine Dreiteilung: In der Konkurrenz zwischen den Sowjets und dem Westen spielte China zunehmend den Part des lachenden Dritten. Seit Deng Hsiao Ping 1978 die Liberalisierung der chinesischen Wirtschaft einleitete, beschleunigte sich diese Entwicklung.  Heute ist China das Land mit dem am schnellsten wachsenden Bruttosozialprodukt der Welt, das sich anschickt, als Führer des asiatischen Entwicklungsraums zur neuen Weltmacht aufzusteigen.

Regie – Musik

Als Kernpunkt der heutigen Entwicklung ist festzuhalten: Die gegenwärtige globale Krise, die sich in dem von Amerika propagierten Krieg gegen den Terrorismus ausdrückt, ist eine Wachstumskrise. Sie markiert das Ende der Hegemonie der westlich geprägten Zivilisation vor dem Hintergrund eines globalen Entwicklungsdruckes der früheren Kolonien, die heute selbstständige Staaten sind und das Weltgeschehen mitgestalten wollen. Die Bedingungen für einen grundlegenden Wandel der nachkolonialen Verhältnisse haben sich verstärkt und drängen nach Verwirklichung. Das heißt, sie drängen auf  Beseitigung der spät-kolonialen Ordnung, so wie seinerzeit die bürgerlichen Kräfte Frankreichs und Europas auf eine Beseitigung der Feudalordnung drängten. Die Frage ist, ob die herrschenden Kräfte, die sich eben zu neuer imperialer Größe aufschwingen, diese Umwandlung zulassen oder ob sie versuchen, sie zu verhindern.

Die jüngste Entwicklung lässt mehrere Phasen erkennen:

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach die Krise am schwächsten Glied der Kette der nach westlichem Muster entwickelten Industriestaaten aus. Dazu ist anzumerken: Natürlich war die Sowjetunion niemals, so wenig wie Russland, bloß ein Bestandteil Europas.  Russland liegt zwischen Asien und Europa und definierte sich immer zwischen diesen Polen. Das ist heute – aller Globalisierung zum Trotz – nicht anders als vor tausend Jahren.

Die Industrialisierung Russlands, insbesondere die Zwangsindustrialisierung nach der Oktoberrevolution von 1917, vollzog sich aber nach europäisch-amerikanischen Vorgaben – als verspätete Industrialisierung unter sozialistischen Parolen, als Staatskapitalismus sowjetischen Typs. Auch als Kolonialmacht war Russland Bestandteil der europäischen Geschichte. Allerdings unterscheidet sich der russische Kolonialismus in wesentlichen Zügen vom zentraleuropäischen: Moskau kolonisierte territorial und integrativ statt maritim und aggressiv wie West-Europa und Amerika. In Russland verbanden sich Kernland und Kolonien zu einem vielgliedrigen Ganzen, während im europäischen Kolonialraum ebenso wie im amerikanischen die Trennung zwischen Mutterland und Kolonie immer gewahrt blieb.

Was so entstand, ist ein Industriegigant nach dem Muster des wissenschaftlich-technischen Weltbild des Westens – aber zu  großen Teilen auf asiatischem Boden und mit asiatischen Methoden. Seit Mitte der siebziger Jahre wurde deutlich, dass dieser Gigant die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit erreicht hatte – wirtschaftlich und politisch. Die Planwirtschaft und –Tonnenideologie der sowjetischen  Zwangs-Industrialisierung kam mit Eintreten der Computerrevolution an ihre  Grenzen. Denn nun wurde der Übergang zu qualitativer und  intensiver Produktion notwendig. Politisch markiert das Desaster von Afghanistan das Ende der russisch-sowjetischen Expansion. Weiter war der Ballon des russisch-sowjetischen Imperiums nicht mehr aufblasbar. Im Prinzip waren es somit keine speziellen “sozialistischen” Probleme, an denen die Krise ausbrach, es war die Notwendigkeit, von expansiven Entwicklungsmodellen zu intensiven, qualitativen überzugehen. Der sozialistische Überbau hat diese Probleme lediglich zugespitzt. Die sowjetische Nomenklatura unter Michail Gorbatschow erkannte die Unumgänglichkeit dieser Tatsachen und ließ sich auf einen Transformationsprozess ein. Der Slogan von der gewachsenen Bedeutung des “Faktors Mensch” gehört hierhin. Dezentralisierung, Demokratisierung, Befreiung der persönlichen Initiative sind die Stichworte, an deren Umsetzung Russland und andere nachsowjetische Staaten seitdem laborieren.

Mehr als fünfzehn Jahre lang galt angesichts dieser Entwicklung zunächst die Sowjetunion und dann Russland  als der “kranke Mann” des Globus. Der Westen gefiel sich in der Rolle des Arztes, der Rezepte verschreibt: Aber die neo-liberale Gewaltkur, die Boris Jelzin zusammen mit dem IWF, der Weltbank und anderen seinem eigenen Lande aufdrängte, erwies sich als Krankheit, welche die USA – als die Führungsmacht dieses Prozesses – in den letzten Jahren zunehmend selbst in die Krise brachte. Der Wahlkampf zwischen George W. Busch und Al Gore Anfang 2001 stand bereits vollkommen im Schatten dieser Krise. Die Politik, die Busch vor dem 11. 9.2001 betrieb: Zinssenkung, außenpolitischer Protektionismus, Rückzug Amerikas aus internationalen Verpflichtungen – war ein Krisenmanagement, das von Bankrotterklärungen und Firmenzusammenbrüchen begleitet wurde. Gleich nach dem 11.9.2001 ist die US-Administration zu einer global angelegten Notstandsbewirtschaftung und -Politik übergegangen : Milliarden für das Militär, Zurückfahren der Sozialpolitik, Schutzzölle für die US-Stahlindustrie. Einen günstigeren Anlass für diesen Kurs als den Anschlag auf das World Trade Center vom 11.9. 2001 hätte niemand erfinden können.

Man beachte aber den Unterschied: Anders als die Sowjets, die auf die wirtschaftliche Krise und die Niederlage in Afghanistan mit der Überführung der expansiven in eine intensive Entwicklung antworteten, nutzten die US-Amerikaner die Gelegenheit zu weiterer Expansion: Von der sogenannten “allein übriggebliebenen Weltmacht” schritten sie nun zum Anspruch auf die globale Führungsmacht, die ihren Einfluss jetzt in das einzige von ihr bis dahin noch nicht beherrschte Gebiet ausdehnt : nämlich  nach Zentralasien. Damit ist die Krise, die am schwächsten Glied losbrach, nunmehr auf die westliche  Industriegesellschaft insgesamt übergegangen. Anders als sie es selbst verstehen, haben George W. Busch und seine Verbündeten recht, wenn sie von einer Bedrohung der Zivilisation sprechen: Es ist die Krise der westlich dominierten wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die von den Abfallprodukten ihrer eigenen Dynamik, Globalisierung genannt, eingeholt wird.

Es scheint, als ob die USA in dieser Situation die ganze Welt unterwerfen könnten; ihr Aufstieg zum Gipfel der einzigen Weltmacht, welche die übrige Welt unter ihre Bedingungen zwingt, ist jedoch schon die Voraussetzung ihres Abstieges: Die “Allianz gegen den Terror” ist auf  begrenzten Interessen begründet. Sicher,  Russland ist interessiert, unter dem Deckmantel der Allianz seinen Einfluss in Zentralasien wieder herzustellen, womöglich gar noch auszuweiten, und auch China in die Schranken zu weisen, um dessen Übergriff auf Sibirien und den fernen Osten zu verhindern. Aber die Amerikaner holen in Afghanistan nur die Kohlen aus  d e m  Feuer, das die Russen anschließend mit humanitärer Hilfe, mit Waffenlieferungen, mit Angeboten zum Wiederaufbau usf. zu löschen versuchen. Besser könnten die Russen die Wunden, die ihnen Afghanistan seinerzeit geschlagen hat, nicht heilen.

Ähnliches gilt für den Kaukasus und für die GUS-Länder: Eine begrenzte Präsenz der Amerikaner im Kampf gegen örtliche “Terroristen” schafft der russischen Regierung Spielraum für zivile und wirtschaftliche Aktivitäten in diesen Gebieten, wo die Russen als Kolonisatoren verhasst sind, aber dennoch gebraucht werden. Wenn die Amerikaner sich an den Tschetschenen in Georgien die Finger verbrennen, brauchen es die Russen nicht mehr zu tun. Das ist für Moskau allemal überschaubarer als die bis dahin vom Kreml beklagte klammheimliche Unterstützung kaukasischer Separatisten durch die CIA.

Langfristig dürfte das Kalkül, dass Russland und die USA sich den euroasiatischen Raum aufteilen könnten, allerdings auf Sand gebaut sein: Da ist zunächst China, da ist Indien, da ist der Iran, da sind die Interessen der zentralasiatischen GUS-Länder, die sich zwischen den Giganten einen neuen Lebensraum aufbauen wollen. Deutlich drückt sich das im Zusammenwachsen der Shanghai-Gruppe aus, dem regionalen Bündnis zwischen Russland, China und der Mehrheit der GUS-Staaten, das sich seit Mitte der 90er Jahre um den  gemeinsamen Aufbau eines zentralasiatischen Wirtschaftsgebietes bemüht.

Zwar ist China wie Russland daran interessiert, unter dem Deckmantel der “Allianz gegen den Terror” separatistische Bestrebungen im eigenen Staatsgebiet niederzuschlagen. Noch wichtiger als das amerikanische Stillehalten aber ist den Chinesen die Ausweitung ihres Einflusses nach Sibirien und in den zentralasiatischen Raum. In diesem Spiel ist die Niederschlagung der islamischen Uiguren nur e i n Schachzug. Wichtiger ist der Bau von Trassen, Bahnen und Pipelines, die den zentralasiatischen Raum und den indischen Subkontinent für China öffnen. Ähnliches gilt für die lange nördliche Grenze mit Russland, über die China wirtschaftlich in den sibirischen Raum drängt. Es geht auch für China um den Zugriff auf Rohstoffe und um die Öffnung neuer Märkte für seine aufstrebende Produktion. Hier könnten die USA erhoffen, als lachender Dritter Nutzen aus einem Konflikt zwischen China und Russland zu ziehen. Tatsache ist allerdings, dass sowohl Russland als auch China in Zentralasien und Sibirien langfristig eher auf eine Abstimmung ihrer gegenseitigen Interessen als auf die Unterstützung der USA angewiesen sind.

Kommt hinzu, dass die USA kaum Interesse zeigen, in die infrastrukturelle und kulturelle Entwicklung des zentralasiatischen Raumes zu investieren. Ihr Interesse liegt in der Ausbeutung der Ressourcen und in der strategischen Besetzung des Raumes durch einen oder mehrere militärische Brückenköpfe. Nicht Entwicklung und kooperative Beziehungen, sondern Beherrschung und wirtschaftliche Ausbeutung des Raumes sind Ziel der dortigen US-Politik. Hier liegt auch der Dissens zwischen den USA und den Europäern begründet, der neuerdings wieder deutlicher hervortritt. Kurz gesagt: Europa hat ein konkretes wirtschaftliches Interesse an der durchgängigen und nachhaltigen Entwicklung des euroasiatischen Zentralraumes als Teil seiner eigenen geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität. Die USA haben dieses Interesse nicht. Sie sind an schnellen Gewinnen und leicht, bzw. verlässlich  zu beziehenden Ressourcen interessiert. Nur das strategische Interesse, China und Russland in Schach zuhalten, könnte die USA und Europa verbinden. Aber selbst hier verfolgen die Europäer, durch infrastrukturelle Großraumgestaltung mit den Russen und Chinesen verbunden, andere Konzepte als die Amerikaner.

Kurz gesagt, die gegenwärtige “Allianz gegen den Terror” deckt nur vordergründige, kurzfristigste gemeinsame Ziele bei einander sonst widerstrebenden Interessen ab.

2.Sprecher :

Da ist zum Beispiel  das Modell einer mono-, bzw. unipolaren Welt unter Führung der USA, kurz und klar “neues Empire” genannt. Dabei  dürfte neben der Ablehnung des Konzepts einer multipolaren Welt  die Stoßrichtung gegen China das stärkste Motiv sein.

Zu nennen ist auch der von russischen Nationalisten entwickelte Entwurf einer Widerherstellung der alten Machtaufteilung zwischen den USA und Russland. Dabei sollen die Amerikaner die Rolle der maritimen Kolonialmacht spielen, während die Russen sich als Führungsmacht des euroasiatischen Kontinents einschließlich Chinas präsentieren. Das liefe eindeutig auf Konfrontation hinaus.

Dann gibt es noch das Konzept einer “duopolaren” Konstellation, wo sich Russland und die USA gegen die “asiatische Gefahr”, speziell China , zusammentun. Dabei soll Russland die Versorgung der USA mit Ressourcen, und die USA die Weltsicherheit garantieren. Die gegenwärtige Politik scheint nach diesem Muster zu laufen. Diese Konzeption geht aber an den langfristigen Interessen Russlands und der gesamten südlichen Halbkugel des Globus vorbei.

1. Sprecher :

Jenseits all dieser Vorstellungen hat China in der Zeit, wo es seit der Spaltung der kommunistischen Welt von 1964 weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörte, die Strategie einer multipolaren Weltordnung entwickelt. Mit Beginn der Perestroika übernahm Michail Gorbatschow diese Option auch für Russland. 1997 legten Russland und China der UNO ein entsprechendes Papier zur Entwicklung der Weltordnung vor. Die wichtigsten ehemaligen Kolonien in der sogenannten dritten Welt, allen voran die Entwicklungsführer des euro-asiatischen Großraumes wie Indien, Iran, Pakistan fordern heute eine solche Ordnung, deren potentielle Träger sie dann wären, natürlich ausgenommen China und Russland.

Unter Wladimir Putin hat Russland zwar viele Aspekte des von Michail Gorbatschow  propagierten “Neuen Denkens” im Zuge einer autoritären Restauration relativiert – nicht aber die Ausrichtung der Außenpolitik an den Grundzügen der multipolaren  Strategie. Auch wenn es bei den Auftritten Wladimir Putins im Westen heute manchmal so scheint, als ob der russische Präsident ein Deutscher oder Amerikaner werden wolle, so sollte doch niemand übersehen, dass derselbe Wladimir Putin China, Korea, auch Indien, dem Irak und dem Iran mit denselben Gesten gegenübertritt: In Europa ist Wladimir Putin Bewohner des europäischen, in China des asiatischen Hauses. Für Indien, den Iran, Irak usf. ist er der beste Nachbar des euroasiatischen Subkontinents. Das ist kein falsches Spiel von Wladimir Putin, sondern das ist die reale Rolle, die Russland in der Welt hat, heute wie damals. Eine Rolle, die sich  aus seiner geostrategischen Lage zwischen Asien und Europa, zwischen Eismeer und indischem Subkontinent, zwischen Ost-Rom, mongolisch-chinesischem Großreich und westlichem Abendland entwickelt hat und in deren Folge der russische Raum – auch nach dem Ausscheiden der GUS-Staaten – immer noch von mehr als 150 Völkern bewohnt wird. In seiner offenen euro-asiatischen Zentrallage ist Russland heute so etwas wie der natürliche Motor einer multipolaren politischen Orientierung. Mehr noch als China, das zwar auch ein Vielvölkerstaat ist, der sich aber in der Abgeschiedenheit einer pazifischen Randlage des euroasiatischen Kontinentes entwickelte. Russland dagegen ist offen nach allen Himmelsrichtungen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Position Europas: Kann man Russland als Herz einer spontan gewachsenen multipolaren Ordnung Euroasiens betrachten, so die Europäische Union, die aus einer Vielzahl von Stämmen, Völkern und Nationen in einer langen Geschichte der Kriege nun als multinationale Union heranwächst, als ein Modell. Gemeinsam können Russland und die Europäische Union Impulsgeber für eine kooperative Neuordnung werden, am besten mit China zusammen und gruppiert um den neutralen Raum der Mongolei – wenn sie nicht in Wiederholung unseliger Achsenbildungen in den Versuch abgleiten, die angeschlagene Hegemonialordnung mit Gewalt gegen die anstehenden Veränderungen, in dem Falle auch gegen China, zu halten.

Die Versuchung ist groß. Denn die Krise ist nicht nur eine politische, die durch Kabinettskompromisse an grünen Tischen entschieden werden könnte, sondern auch eine soziale: Der weitgehend verdrängte Klassenkampf kehrt in Form nationaler und nationalistischer Unabhängigkeitsbestrebungen wie auch als anti-westlicher religiöser Fundamentalismus aus den ehemaligen Kolonien in die Metropolen zurück. Es fehlt nur noch der organisierende Impuls. Zur Zeit flackert die Unzufriedenheit mit einer ungerechten globalen Ordnung in hilflosem Terrorismus auf. Langfristig aber ist die Revolte gegen die sozialen Folgen einer von den Metropolen ausgehenden Globalisierung weder aufzukaufen, noch als bloßer Terrorismus zu denunzieren, und schon gar nicht mit Gewalt zu unterdrücken, wie die USA  es gegenwärtig versuchen. Sie ist aber auch nicht durch verbale Bekundungen zur “Bekämpfung der Armut in der Welt” wegzureden, wie man es von europäischer Seite, vor allem  von der deutschen Bundesregierung zur Zeit hört. Der Kampf gegen die Armut muss als konkrete, langfristig angelegte Entwicklungsförderung auch gegen die kurzatmigen  Ziele und gegen die technizistische und von militärischen Gesichtspunkten bestimmte Politik der USA durchgesetzt werden.

Die Auseinandersetzung um diese Fragen wird auch unsere eigene Situation hier in Europa transformieren. Sie wird zur Rückkehr sozialer Konflikte in unseren Alltag führen, zu einer Polarisierung zwischen denen, die Privilegien der Festung Europa gegen den Ansturm aus den ehemaligen Kolonien verteidigen und jenen, die sich als Partner in den weltweiten Kampf gegen Armut einbringen wollen.

Die Welt, die so entsteht, ist nicht mehr die Welt, in der die Forderungen aus den Tagen der französischen Revolution nach “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” auf  Freiheit ODER Gleichheit verkürzt werden konnten. Wo Freiheit der einen zur Freiheit der Ausbeutung von anderen und Gleichheit bei den anderen zu Gleichmacherei verkam. Gleichheit und Freiheit werden in Zukunft durch das Prinzip einer Kooperation verbunden werden, die aus der Einsicht kommt, dass Überleben und Entwicklung heute nur noch in gegenseitiger Unterstützung möglich sind. Der Förderung dieses Impulses muss daher alles Bemühen gelten. Das ist die Moral einer anderen Globalisierung.

Regie: Musik

Die Entwicklung dieser Moral hat heute oberste Priorität: Es ist, als hielte die Welt den Atem an. Wir befinden uns in einem Energieknoten, Wendepunkt: im Auge des Taifuns. Wir müssen den Ort neu bestimmen, an dem wir uns befinden. Die Dimensionen menschlicher Entwicklung werden neu ausgelotet: Zuende geht der Streit, ob Krieg oder Kooperation der Ursprung aller Dinge sei. Nach einer langen Geschichte der Kriege, insbesondere nach den letzten beiden Weltkriegen, wissen wir, dass die Wahrheit nicht in dem einen oder dem anderen Pol liegt, sondern in der Vermeidung von Einseitigkeiten, im Dialog, in der Beziehung. Das ist die Botschaft der französischen Revolution, die bisher n i c h t verwirklicht wurde: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Keines dieser Elemente ist ohne die anderen möglich: Freiheit ohne Gleichheit führt ins Asoziale, Gleichheit ohne Freiheit in den Terror; in beiden Fällen fehlt als verbindendes Element die Brüderlichkeit. Das ist: Gegenseitige Hilfe, Kooperation. Aber selbst Kooperation ist ohne Gleichheit nicht möglich und ohne Freiheit verkommt Brüderlichkeit zu Bruderschaften, Nationalismus und Terror.

Die Welt des zurückliegenden Jahrhunderts hatte sich in der Polarität von Gleichheit hier und Freiheit dort als zwei polaren gesellschaftlichen Modellen verfestigt. Die sowjetische Perestroika hat die Auflösung dieser Polarisierung von der Seite der Gleichheit her eingeleitet; der Krieg gegen den Terrorismus leitet, durch seinen Anspruch, Freiheit mit Gewalt durchsetzen zu wollen, die Auflösung des Freiheitsmodells ein. Was die zukunftsweisende Botschaft der “Neuen Welt” war, Demokratie und Menschenrechte, wird zu deren ideologischer Absicherung.

Zwei gegenläufige Bewegungen gehen daraus hervor: Globalisierung hier und Anarchisierung dort. Es geht um die Suche nach neuen Identitäten. Neue Identitäten sind aber nicht allein auf der Suche nach Freiheit oder Gleichheit zu finden, sondern nur in Verbindung mit dem bisher vernachlässigten Prinzip der gegenseitigen Hilfe, weil ein Überleben, ganz zu schweigen von einem erfüllten und menschenwürdigen Leben auf diesem enger gewordenen Planeten in Zukunft nur kooperativ möglich ist.

Diese Kooperation betrifft all drei Sphären: die menschlich-gesellschaftliche, die global- ökologische und die universale des Kosmos. In der gesellschaftlichen Sphäre beinhaltet sie ein multipolares Weltbild statt eines monopolaren. Völker, Regionen,  Religionen sind darin wirtschaftliche und kulturelle, aber keine imperialen, nationalen Einheiten. Die Verwandlung der aus dem Zerfall der bipolaren Welt entsprungenen nationalen Ansprüche in solche wirtschaftlichen und kulturellen Einheiten einer multipolaren Ordnung erleben wir heute. Sie geht nur langsam vor sich und nicht ohne  Konflikte. In der globalen, ökologischen Sphäre geht es um eine neue Beziehung unserer Industriegesellschaft zur belebten und unbelebten Natur. Unser Globus wird nur überleben, wenn wir ihn als lebendiges Ganzes wahrnehmen, dessen Teile in organischer Wechsel-Beziehung zueinander stehen. Wir müssen realisieren, dass wir nicht nur Kopf, sondern auch Leib dieses Planeten sind – und umgekehrt, daß Tiere, Pflanzen und die Substanz der Erde nicht nur Materie sind, sondern hochgeordnete, im homöopathischen Sinne hochgradig potenzierte Materie und darüber hinaus lebendiges, beseeltes Leben, das nur mit unserer Hilfe eine Zukunft hat. In der kosmisch-universalen Sphäre geht es um die Erkenntnis der Besonderheit unseres Planeten in einem grenzenlosen Universum, genauer, um die Frage, welche Kräfte unser lebendiger Planet aus dem unendlichen Kosmos zieht – und welche er abgibt. Es ist die Frage nach der Einzigartigkeit unserer Spezies, nach dem Sinn ihrer Existenz, nach Geburt und Tod, nach einer für den ganzen Planeten verbindenden Ethik.

Regie: Musik

Dies alles bedeutet: Der Maßstab für Fortschritt liegt in Zukunft nicht mehr allein im wissenschaftlich-technischen, sondern im ethischen Bereich; Freiheit muss sich nicht mehr in der Aufblähung eines individualistischen Superego, Gleichheit nicht in einem über jeder Individualität stehenden Kollektivwohl beweisen, sondern darin, sich selbst und anderen ein Leben in Freiheit und Gleichheit zu ermöglichen. Von selbst wird diese Verwandlung sich nicht vollziehen. Der Mensch  ist ja nicht nur Objekt, sondern auch bewusst handelndes Subjekt der Geschichte. Sich selbst überlassen, wird die anstehende Verwandlung mit dem Zerfall der alten Welt enden, ohne daß die neue entsteht.

Die alte Welt, das ist die Hegemonie des technisch-wissenschaftlichen Zivilisationstyps westlicher Prägung in seiner “kapitalistischen” wie auch in seiner “sozialistischen” Variante. Wie ihre Zerfallsprodukte aussehen könnten, das lassen die gegenwärtigen terroristischen Anschläge und Anti-Terror-Einsätze ahnen, die in einen Krieg aller gegen alle zu schliddern drohen, der, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, nur mit einer Zerstörung des Lebens auf unserem Planeten enden kann.

Das Wissen um diesen drohenden Gang der Dinge ist die Basis für die Einsicht in die Notwendigkeit der gegenseitigen Hilfe. Da Angst aber erfahrungsgemäß kein ausreichendes Motiv für eine Änderung eingefahrener Weltbilder ist, eher deren Verhärtung provoziert, stellt sich die Frage, woher die Kräfte kommen, die eine Orientierung auf den schöpferischen Teil der Verwandlung unserer altgewordenen Weltbilder möglich machen. Die Antwort drängt sich auf: In Russland und mit Varianten auch in China ist es die Dynamik der Individualisierung, die aus einer ins Extrem getriebenen Tradition des Kollektivismus herausschießt. Im Westen ist es umgekehrt die Sehnsucht nach sinnstiftender Gemeinschaft, die aus der Inflation des Individualismus hervorgeht. Beides treibt die Suche nach neuen Wegen des Lebens an. Wie steht es mit der übrigen Welt? Asien? Afrika? Südamerika? Australien? Neuseeland? Diese Länder, Völker und Kulturen wirken bereits durch ihre bloße Existenz als Impulsgeber. Der durch sie gegebene faktische Pluralismus bildet die materielle Grundlage zukünftiger Entwicklung. Nicht Huntingtons Krieg der Kulturen, sondern das  demokratische Miteinander der Völker, der Kulturen und Religionen wird die Welt von morgen ermöglichen.

Stille Invasion an Chinas Grenzen? Beobachtungen zur „chinesischen Frage“. Korrektur nach einer Reise entlang der russ. chin. Grenzen

Skeptisch geworden gegenüber den Zahlenangaben zur angeblichen Invasion Chinas in den Eurasischen Raum, die ich selbst in einem Feature 2002 noch weitergegeben hatte, machte ich mich im Sommer 2002 in einer dreimonatigen Untersuchungsreise auf den Weg zur Überprüfung vor Ort. Ergebnis: Die Höhe der angebliche 6 Millionen chinesischer Einwanderer ist eindeutig eine politische Zahl.Vergleiche dazu

* kritisch das Feature: China - Russland: Stille Invasion oder startegische Partnerschaft
* aufgearbeitet: mein Buch: "Asiens Sprung in die Gegenwart

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Was will Europa in Zentralasien?

Was will Europa in Zentralasien?

Erzähler:

Seit dem 11.09.2001 sind westliche Truppen in Zentralasien stationiert – zunächst im Krieg gegen die Taliban, dann zur Stabilisierung der fast vollständig zerstörten Hauptstadt Afghanistans, Kabul. Das Hauptkontingent der Truppen stellen die USA, deren Soldaten weiterhin in Afghanistan kämpfen. Inzwischen sind sie auch in Usbekistan stationiert. Aber auch Europa ist präsent: Europäische Spezialtruppen unterstützen die USA im Kampf gegen die Reste der Al Quaida und versprengte Taliban-Kämpfer. Vor allem aber im zivilen Bereich übernimmt Europa seinen Part: Abgeordnete der europäischen Kommission, ebenso der deutsche Außenminister Joschka Fischer bereisten wiederholt in letzter Zeit große und kleine zentralasiatische Staaten. Die Konferenz zur Einsetzung einer provisorischen Nachkriegsregierung in Afghanistan wurde von Deutschland ausgerichtet. Bundeskanzler Gerhard Schröder war der erste westliche Politiker, der Kabul nach dem Krieg besuchte – in seinem Gefolge Vertreter der Wirtschaft und kein geringerer als Fußballkaiser Franz Beckenbauer. Die USA erwarten einen Stabilitätsbeitrag von den Europäern für Zentralasien in Höhe mehrerer Milliarden Euro und weitere militärische Unterstützung. Bei seinem Europa-Besuch im Mai des Jahres beschwor der US-Präsident George W. Bush vor dem deutschen Bundestag die Einheit der westlichen Interessen. Er sagte:

Zitat 1: George W. Bush:

“Gemeinsam widersetzen wir uns einem Feind, der sich an Gewalt und dem Schmerz von Unschuldigen nährt. Die Terroristen werden von ihren Hassgefühlen bestimmt: Sie hassen Demokratie und Toleranz und Meinungsfreiheit und Frauen und Juden und Christen und alle Muslime, die nicht ihrer Meinung sind. Andere töteten im Namen der Reinheit der Rasse oder des Klassenkampfs. Diese Feinde töten im Namen einer falschen Reinheit, sie pervertieren den Glauben, den sie zu haben behaupten. In diesem Krieg verteidigen wir nicht nur die vereinigten Staaten oder Europa, wir verteidigen die Zivilisation selbst.“

Erzähler:

Europa, das ist für den US-Präsidenten auch Osteuropa und darüber hinaus ebenso das Russland Wladimir Putins. So ermahnte er die Abgeordneten des deutschen Bundestages:

Zitat 2: G.W. Bush

“Eine weitere gemeinsame Mission ist die Ermutigung des russischen Volkes, seine Zukunft in Europa zu suchen – und zusammen mit Amerika.“

Erzähler:

Das neue NATO-Revirement, das Russland als fast gleichberechtigtes Mitglied in einen NATO-Kooperationsrat aufnimmt, soll diese Linie unterstreichen. Nicht Konkurrenz, sondern Kooperation bestimme die Beziehungen zwischen den USA und diesem großen Europa, versicherte der US-Präsident während seiner Europareise im Mai 2002 in Berlin, danach auch in Moskau, Paris und schließlich noch einmal beim NATO-Gipfel in Rom:

Zitat 3: G.W. Bush

„Wenn die Einigung Europas voranschreitet, nimmt die Sicherheit in Europa und Amerika zu. Mit der Integration Ihrer Märkte und einer gemeinsamen Währung in der Europäischen Union schaffen Sie die Voraussetzungen für Sicherheit und gemeinsame Zielsetzungen. In allen  diesen Schritten sehen die Vereinigten Staaten nicht den Aufstieg eines Rivalen, sondern das Ende alter Feindseligkeiten.“

Erzähler:

USA, Europa, Russland – eine große Staaten-Familie unter väterlicher Obhut der USA? Die von den USA geführte „Allianz gegen den Terror“ eine Wertegemeinschaft im gemeinsamen Interesse, „die Tyrannei und das Böse zu bekämpfen?“ Die NATO auf dem Weg zu einer, wie es manche nennen, paneuropäischen Polizei? Ist das die Wirklichkeit?

Selbstverständlich ist es das nicht. Es ist nur die aktuelle Medienversion einer lang angelegten Strategie US-amerikanischer Vorherrschaft. Wer wissen will, welche langfristigen Interessen die USA heute nach Zentralasien führen, welche Rolle sie Europa und welche sie Russland dabei zuweisen, findet Aufklärung bei dem US-Altstrategen Zbigniew Brzezinski. Er war einst  Sicherheitsberater bei Präsident Jimmy Carter und ist noch heute neben Henry Kissinger und Samuel P. Huntington einer der grauen Eminenzen in der Welt der berüchtigten Think Tanks, in denen die US-Globalstrategie ausgebrütet wird: Sein Vorwort zu seinem Buch „Die einzige Weltmacht“, herausgegeben im Jahre 1998, also weit vor der angeblichen Wende der Weltpolitik vom 11.9.2001, beginnt Brzezinski mit der bekmerkenswerten Feststellung :

Zitat 4: Zbigniew Brzezinski

„Seit den Anfängen der Kontinente übergreifenden politischen Beziehungen vor etwa fünfhundert Jahren ist Eurasien stets das Machtzentrum der Welt gewesen.“

Erzähler:

Im letzten Jahrhundert, so Brzezinski weiter, habe sich die Weltlage jedoch grundlegend verändert. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte sei ein außer-eurasischer Staat nicht nur als Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als die einzige und im Grunde erste Weltmacht auf den Plan getreten. Gemeint sind die USA. Eurasien habe dadurch seine geopolitische Bedeutung jedoch keineswegs verloren:

Zitat 5: Zbigniew Brzezinski

„In seiner westlichen Randzone – Europa – ballt sich noch immer ein Großteil der politischen und wirtschaftlichen Macht der Erde zusammen; der Osten des Kontinents – also Asien – ist seit einiger Zeit zu einem wichtigen Zentrum wirtschaftlichen Wachstums geworden und gewinnt zunehmend an politischem Einfluss. Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.“

Erzähler:

Nach dieser Klarstellung fährt Brzezinski fährt fort:

Zitat 6: Zbigniew Brzezinski

„Eurasien ist somit das Schachbrett, auf dem sich auch in Zukunft der Kampf um die globale Vorherrschaft abspielen wird. Erst 1940 hatten sich zwei Aspiranten auf die Weltmacht, Adolf Hitler und Joseph Stalin, expressis verbis darauf verständigt, (während der Geheimverhandlungen im November jenes Jahres), dass Amerika von Eurasien ferngehalten werden sollte. Jedem der beiden war klar, dass seine Weltmachtpläne vereitelt würden, sollte Amerika auf dem eurasischen Kontinent Fuß fassen. Beide waren sich einig in der Auffassung, dass Eurasien der Mittelpunkt der Welt sei und mithin derjenige, der Eurasien beherrsche, die Welt beherrsche.“

Erzähler:

Heute, ein halbes Jahrhundert später, stelle sich die Frage neu, nämlich: Werde Amerikas Dominanz in Eurasien von Dauer sein und zu welchen Zwecken könnte sie genutzt werden? Brzezinskis Antwort auf diese Frage verbindet amerikanische Freiheitspropaganda und machtpolitischen Pragmatismus auf atemberaubend offene Weise. Manche Menschen interpretieren diese Offenheit sogar als Zeichen demokratischer Kultur:

Zitat 7: Zbigniew Brzezinski:

„Amerikanische Politik sollte letzten Endes von der Vision einer besseren Welt getragen sein, einer Vision, im Einklang mit langfristigen Trends sowie den fundamentalen Interessen der Menschheit eine auf wirksamer Zusammenarbeit beruhende Weltgemeinschaft zu gestalten. Aber bis es soweit ist, lautet das Gebot, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung sein könnte.“

Erzähler:

Von Zbigniew Brzezinski stammt die Definition des zentral-asiatischen Raumes als „Eurasischer Balkan“. Er meint damit die Region, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach 1991 als Gemeinschaft unabhängiger Staaten, GUS hervorgegangen ist. Brzezinski betrachtet dieses Gebiet als herrschaftsfreie Zone, die einer neuen ordnenden Führung bedürfe – der amerikanischen, die das Gebiet für die Welt offen halten müsse. Auf jeden Fall müsse eine neue russische Monopolisierung des Gebietes verhindert werden:

Zitat 8: Zbigniew Brzezinski:

„Es ist dieses wohlvertraute Phänomen des Machtvakuums mit der ihm eigenen Sogwirkung, das die Bezeichnung eurasischer Balkan rechtfertigt: Im Kampf um die Vormacht in Europa winkte der traditionelle Balkan als geopolitische Beute. Geopolitisch interessant ist aber auch der eurasische Balkan, den die künftigen Transportwege, die zwischen den reichsten und produktivsten westlichen und östlichen Randzonen Eurasiens bessere Verbindungen herstellen sollen, durchziehen werden. Außerdem kommt ihm sicherheitspolitische Bedeutung zu, weil mindestens drei seiner unmittelbaren und mächtigsten Nachbarn von alters her Absichten darauf hegen, und auch China ein immer größeres politisches Interesse an der Region zu erkennen gibt.“

Erzähler:

Die „unmittelbaren mächtigsten Nachbarn“, von denen Brzezinski spricht, sind Russland, der Iran – und nicht zu vergessen Europa. Neuerdings tritt, wie auch Brzezinski wiederholt anmerkt, China hinzu. Dies seien mächtige Gründe für ein ausgleichendes Eingreifen der USA, meint Brzezinski. Noch viel wichtiger aber sei der eurasische Balkan aus einem anderen weiteren Grund, nämlich:

Zitat 9: Zbigniew Brzezinski:

„Weil er sich zu einem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte – konzentrieren sich in diesen Regionen doch ungeheure Erdgas- und Erdölvorkommen, von wichtigen Mineralien einschließlich Gold – ganz zu schweigen.“

Erzähler:

Der weltweite Energieverbrauch, so beschreibt  Brzezinski die Qualität dieses Filetstückes, werde sich in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten enorm erhöhen. Er zitiert Schätzungen des US-Departments of Energy, denen zufolge die globale Nachfrage bis zum Jahr 2015 um voraussichtlich mehr als fünfzig Prozent steigen werde. Die größte Zunahme werde dabei für den Fernen Osten, also vorrangig für China erwartet. Schon jetzt rufe der wirtschaftliche Aufschwung in Asien einen massiven Ansturm auf die Erforschung und Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor, und es sei bekannt, dass die zentralasiatische Region und das kaspische Becken über erdgas- und Erdölvorräte verfügten, die jene Kuwaits, des Golfes von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellten.

Zugang zu diesen Ressourcen zu erhalten und an ihrem Reichtum teilzuhaben, so Brzezinski, seien Ziele, die nationale Ambitionen weckten, Gruppeninteressen anregten, historische Ansprüche wieder aktualisierten, imperiale Bestrebungen wieder aufleben ließen und internationale Rivalitäten entfachten. Kurz, der US-Stratege aktualisiert die Grundzüge des „Great Game“, das am Ende des 19. Jahrhunderts um die Vorherrschaft über diese Region zwischen den großen imperialen Blöcken Russlands und Englands ausgetragen wurde und das nun, nach dem Ende der sowjetischen Alleinherrschaft über das Gebiet, erneut anstehe. Brisanter werde die Situation noch dadurch, setzt er hinzu, dass die Region nicht nur ein Machtvakuum darstelle, sondern auch intern instabil sei. Jeder der dortigen Staaten habe ernste innenpolitische Schwierigkeiten, die einzelnen Staatsgrenzen seien entweder von Gebietsansprüchen ihrer Nachbarn gefährdet oder sie lägen in ethnischen Problemzonen; nur wenige seien bevölkerungsmäßig homogen, einige seien sogar in gewalttätige Auseinandersetzungen territorialer, ethnischer oder religiöser Art verwickelt. Ein Eingreifen der „einzigen Weltmacht“, ist aus Zbigniew Brzezinskis Sicht daher nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Die Methoden, wie das zu geschehen habe, skizziert er wie folgt:

Zitat 10: Zbigniew Brzezinski:

„Die USA sind zwar weit weg, haben aber starkes Interesse an der Erhaltung eines geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Asien.“

Erzähler:

„Erhaltung des Pluralismus“ – das beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als die alte imperiale Strategie des „Teile und Herrsche“ im neuen Gewande, dieses mal in dem einer globalen US-Hegemonie. Es geht um den Zugriff der USA auf die Naturreichtümer Euroasiens, um Eingrenzung möglicher Konkurrenten, insbesondere Russlands.

Zitat 11: Zbigniew Brzezinski:

„Neben seinen weiterreichenden geostrategischen Zielen in Eurasien vertritt Amerika auch ein eigenes wachsendes ökonomisches Interesse, wie auch das Europas und des Fernen Ostens, an einem unbehinderten Zugang zu dieser dem Westen bisher verschlossenen Region. In  erster Linie geht es jedoch um Zugang zur Region, über den bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Moskau allein verfügen konnte.“

Erzähler:

In dieser Weltsicht, auch wenn sie im Namen der Weltgemeinschaft propagiert wird, nehmen Europa ebenso wie der „Ferne Osten“ lediglich die Rolle von „Randzonen“ Euroasiens ein, Europa ist für Brzezinski der „demokratische Brückenkopf“ im Westen, Japan und Korea der „fernöstliche Anker“, alle sind sie jedoch „Vasallen“, die in die hegemoniale Strategie der USA einzubinden sind. Russland fungiert unter der Rubrik des „Schwarzen Lochs“ im Zentrum Euroasiens, das neutralisiert werden müsse. Nicht nur der amerikanischen Militär- und Wirtschaftsmacht, sondern auch der amerikanischen Kultur könne auf Dauer keine heutige Gesellschaft widerstehen. Ergebnis werde eine Globalisierung des „American way of life“ sein, meint Brzezinski.

Er schließt sein Buch mit dem visionären Satz:

Zitat 12: Zbigniew Brzezinski

„Im Laufe der nächsten Jahrzehnte könnte somit eine funktionierende Struktur weltweiter Zusammenarbeit, die auf den geopolitischen Gegebenheiten gründet, entstehen und allmählich die Insignien des derzeitigen Herrschers der Welt annehmen, der vorerst noch die Last der Verantwortung  für die Stabilität und den Frieden in der Welt trägt. Ein geostrategischer Erfolg in dieser Zielsetzung wäre dann die durchaus angemessene Erbschaft, die Amerika als erst, einzige und letzte echte Supermacht der Nachwelt hinterlassen würde.“

Regie: Hier evtl. Musik

Erzähler:

„Hegemonie neuen Typs“, „eurasisches Schachbrett“, „demokratischer Brückenkopf Europa“, „Schwarzes Loch Russland“, „Eurasischer Balkan“ und „Fernöstlicher Anker“ – das sind die Schlagworte, die US-Stratege Zbigniew Brzezinski der Welt liefert. US-Präsident G.W. Bush bemüht sich gegenwärtig, sie in praktische Politik umzusetzen. Die von ihm begründete „Allianz gegen den Terrorismus“ lebt von Brzezinskis Geiste. Ganz offensichtlich, soviel ist unbestreitbar, beschreibt diese Strategie eine mögliche Sicht der Wirklichkeit: In Bezug auf Russland und China ist klar, warum diese Länder sich zur Zeit in diese Strategie einbinden lassen. Ihre Führungen erhoffen sich von einer Unterstützung der USA eine langfristige wirtschaftliche Stärkung und freie Hand gegen separatistische Tendenzen in ihren sich transformierenden und auseinanderstrebenden Imperien. Im übrigen aber gebe man sich, was die Westorientierung Wladimir Putins betrifft, keinen falschen Vorstellung hin. Wladimir Putin wiederholt immer wieder, gerade nach vorangegangenen Verbeugungen gegen Westen, was er schon zu seinem Amtsantritt formulierte:

Zitat 13: Wladimir Putin

„Russland hat sich immer als euroasiatisches Land gefühlt. Wir haben nie vergessen, dass ein grundlegender Teil unseres Territoriums sich in Asien befindet. Die Wahrheit ist, das muss man ehrlich sagen, dass wir dieses Vermögen nicht immer genutzt haben. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir zusammen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region von den Worten zur Tat schreiten – die Wirtschaft entwickeln, ebenso politische und andere Verbindungen. Alle Voraussetzungen dafür sind im heutigen Russland gegeben. Für Russland öffnen sich neue Perspektiven im Osten, die wir, daran gibt es keine Zweifel, entwickeln werden. Wir werden uns aktiv an der Umwandlung dieser Region in unser `allgemeines Haus´ beteiligen. Die volle Beteiligung Russlands an der gegenseitigen Wirtschafts-Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raumes ist natürlich und unausweichlich. Ist doch Russland ein ganz eigener Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.“

Erzähler:

Starke politische Strömungen in der politischen Klasse Russlands ebenso wie in der Bevölkerung sind die Basis für diesen Kurs Wladimir Putins. Die Ereignisse des 11.09.2001 haben an dieser Interessenlage nichts geändert. Die russische Föderation ist nach wie vor die zentrale Macht im Herzland Euroasiens – sie ist nicht Europa und nicht Asien, sondern Russland und westliche Hoffnungen, Russland könne seine Orientierung auf eine multipolare Weltordnung zwischen den Polen aufgegeben haben, dürften ziemlich an der Realität vorbeigehen. Ähnliches gilt für China, das zwar seit dem Ende der Sowjetunion eine aktive politische und wirtschaftliche Offensive in Richtung Westen entwickelt. Mehr als sechs Millionen Chinesen haben seitdem die Grenzen zur russischen Föderation überschritten und leben inzwischen dauerhaft auf russischem Gebiet; im Rahmen der „Shanghaier Gruppe“ hat China aber zusammen mit Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan und unter den interessierten Augen der übrigen regionalen Anrainer eine regionale Kooperation gestartet. Die GUS-Staaten sehen darin die Möglichkeit, sich von der chinesischen „Wirtschaftslokomotive“ mitnehmen zu lassen. Ziel Chinas ist die Wiederbelebung des transkontinentalen Korridors entlang der ehemaligen Seidenstrasse. Ein Besuch Jiang Tsemins in Deutschland im Frühjahr 2002 dokumentierte diesen Kurs Chinas.

Kurz: China sucht einen direkten Weg nach Europa, aber es  versucht sich auch Zugang zu den Ölressourcen am kaspischen Meer zu verschaffen und den zentralasiatischen Raum, einschließlich Russlands, Süd-Asiens und des muslimischen Orients für sich zu öffnen. Auch diese Realität ist nach dem 11.09.2001 nicht anders geworden.

Was die Europäer, allen voran die Deutschen sich von ihrer Präsenz in Zentral-Asien erhoffen, das fasste der deutsche Bundeskanzler nur zwei Monate nach dem 11.09.2001 auf einer Tagung zum 40jährigen Bestehen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in die gut klingenden Worte:

Zitat 14: Gerhard Schröder

„Entwicklungspolitik ist in den letzten Jahren deutlich politischer geworden. Sie geht heute weit über den reinen Ressourcen- und Technologietransfer hinaus. Entwicklungspolitik handelt heute von der Zukunftssicherung in einem sehr globalen Maßstab. Entwicklungspolitik hat deshalb notwendig etwas mit der Durchsetzung der universell geltenden Werte von Freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz zu tun. Und sie ist – das ist zu unterstreichen – in einer ganz besonderen Weise multilaterale Politik.“

Erzähler:

Diese Zielsetzung folgt dem Muster der amerikanischen Wünsche, dass Amerika von der Vision einer besseren Welt getragen sein sollte – unterscheidet sich von dieser allerdings durch die Betonung des Multilateralen. So wie aber Zbigniew Brzezinski erklärt, bis es soweit sei, dass Amerika wirklich von der Vision einer besseren Welt getragen werde, müssten die USA primär ihre Hegemonie verteidigen, sind auch die Worte des deutschen Kanzlers vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die gewachsene internationale Verantwortung Deutschlands und Europas in Zukunft auch militärische Einsätze notwendig mache, um die Voraussetzungen für die Verwirklichung von Freiheit und Menschenrechten erst einmal zu schaffen.

In den Strategiestuben des deutschen Auswärtigen Amtes wird man deutlicher: Schon während der ersten großen Asien-Rundreise Außenminister Fischers im Mai 2000 veröffentlichte der Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, Staatssekretär Achim Schmillen ein Strategiepapier, in dem er die Europäischen Interessen in Zentralasien skizzierte. Darin spricht der deutsche Staatssekretär genau wie Zbigniew Brzezinski von einer „Balkanisierung Zentralasiens“ und verweist wie dieser auf den – zum Teil noch unerschlossenen – Rohstoffreichtum der Region. Beides zusammen mache Zentralasien zu einem internationalen Sicherheitsrisiko. Er warnt vor einem Desinteresse und vor Tatenlosigkeit Deutschlands und Europas und fordert ein aktives Engagement der Europäer in Zentralasien.

Dafür gibt er, außer dem schon Gesagten, noch eine weitere Begründung, die in bemerkenswerter Weise von amerikanischen Darstellungen abweicht.

Wichtig sei die Region auch, erklärt er:

Zitat 15: Achim Schmillen:

„Zumal es sich nicht nur um ein Gebiet mit vielen Bodenschätzen handelt, sondern um die natürliche Kommunikationsbrücke zwischen Zentralasien, Südasien, China und dem Westen. Das Interesse Europas muss deshalb darin bestehen, dass dieses Gebiet stabilisiert wird.“

Erzähler:

Zwei geopolitische Faktoren sind nach Ansicht des deutschen Staatsekretärs für die Zukunft der Region und für Europa von besonderer Bedeutung:

Zitat 16: Achim Schmillen

„Erstens haben die zentralasiatischen Staaten keinen Zugang zum Meer. Sie brauchen Verbindungs- und Handelswege, um am internationalen Handel teilnehmen zu können. Die Handel- und Routensicherheit kann nur durch Zusammenarbeit zwischen den Staaten geschaffen werden. Zweitens ist die Region eine klassische Pufferzone. Sie trennt Europa vom indischen Subkontinent, von China und Ostasien. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die geostrategische Bedeutung der Region künftig die politische, ökonomische und sicherheitspolitische Bedeutung übertreffen wird. Der EU ist daran gelegen, die Energieimporte durch die Erschließung der Erdöl- und Erdgasreserven und der zentralasiatischen Region zu diversifizieren. Europa hat zudem großes Interesse an der Eindämmung der Rauschgiftzufuhr, der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus.“

Erzähler:

„Diversifizieren“, das bedeutet, Europa soll dafür sorgen, dass Öl- und Gasvorkommen der Region nicht von einem einzigen Lieferanten monopolisiert werden können – nicht von Russland, nicht von der Türkei, nicht vom Iran, aber auch nicht von den USA. Europa, so Achim Schmillen, müsse die in der Region aktiven Unternehmen ermuntern, eine zukunftsfähige Öl- und Gasindustrie aufzubauen, sowie, das stellt er besonders heraus, ein multipolares Pipeline-System unter Einschluss russischer Unternehmen. Für diese Politik der Kooperation will man nicht nur Russland und China, sondern auch die Vereinigten Staaten gewinnen, weil sich sonst kein breiter Lösungsansatz finden lasse.

Erzähler:

In weiteren Papieren aus dem Auswärtigen Amt, die – als persönliche Stellungnahmen von Mitgliedern des Planungsstabes deklariert – zeitgleich in österreichischen Militärfachblättern erschienen, werden noch weitere Vorstellungen deutlich. Dort heißt es:

Zitat 17: Auswärtiges Amt

„In der Region sind zwei Drittel aller Weltölreserven und annähernd 40% aller Erdgasreserven konzentriert. Daher gibt es ein vitales Interesse der Industrie- und Schwellenländer an dieser Region. Im Kaspischen Becken wurden beträchtliche Lagerstätten von Erdöl und Erdgas gefunden, und noch größere Mengen werden dort vermutet. Diese Ressourcen sind zwar quantitativ nicht mit denen am Golf vergleichbar, aber doch groß genug, um für die Versorgung Europas relevant zu sein.“

Erzähler:

Ähnliche Verlautbarungen konnte man von dem Kommissar für auswärtige Abgelegenheiten der Europäischen Kommission, dem Schweden Chris Patten hören. Anlässlich eines Besuches der außenpolitischen Troika der Europäischen Union im Kaukasus erklärte er bereits im Februar 2001:

Zitat 18: Christopher Patten, EU-Komissiar:

„Stabilität und wirtschaftlicher Aufschwung in der Region sind für Europa wichtig. Deshalb unterstützt die EU die Staaten der Region und fördert die regionale Zusammenarbeit. So wurden dem Kaukasus in den letzten neun Jahren Finanzhilfen in Höhe von etwa 1 Mrd. Euro gewährt. Im Rahmen des technischen Hilfsprogramms TACIS richteten wir die Transkaukasische Initiative für den Bau von Straßen und Schienen (TRACECA) ein und unterstützten die kaukasischen Länder bei der Durchleitung von Öl und Gas. Insbesondere der kaukasische Korridor, der über die Staaten Georgien, Armenien und Aserbeidschan die schnellste Verbindung zwischen Südeuropa und Zentralasien darstellt, ist hier wichtig. Die EU hilft dem südlichen Kaukasus deshalb seit langem dabei, sein großes Potential als Transitregion für Waren und Energie aus dem Gebiet um das kaspische Meer und Zentralasien noch besser auszuschöpfen.“

Erzähler:

US-Amerikanische und europäische Interessen unterscheiden sich deutlich, wenn es ins Konkrete geht. Im strategischen Bereich schlägt sich diese Differenz in Warnungen der Europäer vor der Wiederholung des „Great Game“, vor der einseitigen Orientierung auf militärische Mittel, in der Kritik an  unzurechender humanitäre und kulturelle Unterstützung nieder. Und dies nicht erst seit dem 11.09.2001, auch nicht erst nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan, sondern grundsätzlich.   In den bereits zitierten inoffiziellen Stellungnahmen aus dem auswärtigen Amt heißt es dazu, obschon zurückhaltend formuliert, unmissverständlich:

Zitat 19: Papier des Auswärtigen Amtes

„Grundsätzlich sind alle für die Großregion wesentlichen staatlichen Akteure in und außerhalb der Region an Stabilität in diesem Raum interessiert. Dabei gibt es jedoch konkurrierende Konzeptionen: Auf der einen Seite stehen Russland und – etwas weniger stark ausgeprägt – die USA und China, die Türkei und der Iran, die ganz im Sinne eines traditionellen Nullsummenspiels in der Tradition des `Great Game´ darauf zielen, ihren Einfluss in der Großregion zu vergrößern oder zumindest zu bewahren. Auf der anderen Seite stehen jene, die an einer Stärkung der Staatlichkeit der Länder der Großregion und an ihrer Kooperation untereinander und innerhalb der Staatenwelt interessiert sind. Das sind zum einen die betroffenen Staaten selbst und zum anderen u.a. – Europa. Prinzipiell können noch Japan, Australien, Südkorea und mit Abstrichen noch Indien dazu gerechnet werden. Der Iran und auch die Türkei könnten unter Umständen dafür gewonnen werden.“

Erzähler:

Amerikanern und Europäern, wenn auch nicht offen als Konkurrenten bezeichnet, werden von den europäischen Strategen unterschiedliche Interessen bescheinigt: Den Zugriff auf die Rohstoffe Zentralasiens wollen sie beide; aber während die USA darüber hinaus vor allem an der Verringerung des russischen Einflusses, der Isolierung des Iran und der Eindämmung Chinas interessiert seien, ziele das europäische Engagement vorrangig auf die Stärkung der Staatlichkeit in den zentralasiatischen Gebieten. Unter dem Stichwort „Stand der bisherigen Bemühungen“ heißt es lapidar:

Zitat 20: AA-Papiere

„Die Länder des Südkaukasus und Zentralasiens erhalten bereits vielfältige Unterstützung von unterschiedlichen Partnern und aus unterschiedlichen Programmen. Diese Aktivitäten sind allerdings beschränkt in ihrer Reichweite und kaum aufeinander abgestimmt. Die wichtigsten sind die Programme der Europäischen Union.“

Erzähler:

Es folgt eine beachtliche Liste: Darauf finden sich Kooperationsabkommen zum Aufbau übergreifender regionaler Infrastrukturen im Rahmen technischer Hilfsprogramme,  gesonderte Regionalprogramme, Programme humanitärer Hilfe, weiter Programme der Konfliktregulierung seitens der OSZE, des Europarates und der NATO. Dazu – interessanterweise unter der Rubrik des europäischen Engagements aufgeführt – Programme der UNO für die Armuts- und Wüstenbekämpfung, für den Aufbaus von Wirtschafts- und Finanzinstitutionen. Deutschland im besonderen unterhält mit Kirgisistan, Usbekistan, Kasachstan und sämtlichen Ländern des südlichen Kaukasus Partnerschaften der Entwicklungszusammenarbeit.

Scharf treten die Differenzen zwischen den USA und den Europäern in der Regelung der Nachkriegsordnung Afghanistans hervor. Die unter deutschem Vorsitz, aber von der „Allianz gegen den Terror“ eingesetzte Übergangsregierung Hamid Karzais in Afghanistan erwartet eine Ausweitung der internationalen Schutztruppe über die Grenzen der Hauptstadt Kabul hinaus auf andere afghanische Städte, um eine einigermaßen stabile Entwicklung im heutigen Afghanistan  einzuleiten. Die Europäer lassen dazu Bereitschaft erkennen; von der US-Regierung wurde eine solche Ausweitung jedoch abgelehnt. Eine Ausweitung, die auch eine Ausweitung der europäischen Präsenz mit sich brächte, das ist offensichtlich, würde das militärische Machtmonopol beeinträchtigen, das Washington zur Zeit in Afghanistan ausübt, und seinen Plänen für eine weitgehend in den USA ausgebildete, nationale afghanische Armee in die Quere kommen, die als langfristige Stütze für die Ausübung politischen Einflusses dienen soll.

Wie wenig die USA an der Entwicklung einer selbstständigen Staatlichkeit Afghanistans interessiert sind, zeigen die Vorgänge, welche die Einreise des Ex-Königs Mohammad Zahir Schah Anfang April begleiteten.

Ein englischer Journalist berichtete besorgt:

Zitat 21: Englischer Journalist:

„Der afghanische König Mohammad Zahir Schah, 87, der seit 1973 im italienischen Exil lebt, sollte mit großem Bahnhof in der Hauptstadt einziehen. Das italienische Außenministerium organisierte die Reise und bereitete eine Sicherheitseskorte vor. Der Chef der afghanischen Interimsregierung Hamid Karzai, selbst ein Royalist, wollte nach Rom fliegen, um den Monarchen nach Hause zu eskortieren. Eine 12-Zimmer Villa mit Swimming-Pool war als Residenz für den König in Kabul vorbereitet worden. Der US-Botschafter hatte sogar eine Abschiedsparty für ihn gegeben. Doch dann wurde die Reise abgesagt. Die Entscheidung wurde weder in Kabul noch in Italien getroffen, sondern in Washington. Präsident Bush rief den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi an und stellte die Sicherheitsvorkehrungen in Frage; er warnte vor einem möglichen Anschlag auf das Leben des Königs. Washington bestand darauf, Italien müsse die Sicherheit des Königs in Kabul garantieren, und nicht etwa das afghanische Innenministerium. Als Termin wurde der April vorgesehen.“

Erzähler:

Der Vorgang könnte als unbedeutend übergangen werden, zumal der König inzwischen eingereist ist; er zeigte aber, darin ist dem englischen Berichterstatter zuzustimmen, welche politischen Beziehungen heute in Afghanistan existieren:

Zitat 22: Forts. Englischer Journalist

„In allen Fragen, ob groß ob klein, hat Washington das Sagen, wobei die westlichen Alliierten wenig und Karzai überhaupt nicht hinzugezogen werden. Der `Los Angeles Times´ zufolge waren die Führer der Interimsregierung `irritiert und fühlten sich bloßgestellt´. Sie `beschwerten sich, dass sie nichts zu sagen´ hätten, grummelten aber letztlich `lediglich privat über  Einmischung von außen´.“

Erzähler:

In der Tat: Die Arbeitsteilung im nach-talibanischen Afghanistan ist exemplarisch: Die USA, unterstützt durch wenige Spezialisten der europäischen Staaten, setzen den Krieg gegen die Reste der Taliban fort, die europäischen Truppen konzentrieren sich auf Polizeiaufgaben in Kabul selbst und die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Alltagsgütern. Die Tatsache, dass Fußballkaiser Franz Beckenbauer den deutschen Bundeskanzler auf seinem Besuch in Kabul, dem ersten eines westlichen Allianzmitgliedes, begleitete, war kein Zufall, sondern ist als Botschaft gedacht. Sport, Kultur, wirtschaftliche und infrastrukturelle Hilfsprogramme sollen den Willen Deutschlands und mit Deutschland auch der Europäischen Union dokumentieren, den langfristigen Aufbau regionaler Strukturen zu fördern und zu unterstützen. In welchem Maße dies tatsächlich geschieht, das steht auf einem anderen Blatt. So viel aber ist klar: Diese Konzeption folgt einem anderen Interesse als die der USA: Europa ist Teil der multipolaren Realität des euroasiatischen Kontinents, die es aktiv und kooperativ fördern und gestalten muss, um darin zu überleben. Ähnliches gilt für Russland, China, die süd-asiatischen und die muslimisch-orientalischen Staaten. Den USA dagegen reicht es, wie Zbigniew Brzezinki es nennt, die Pluralität des Raumes aufrechtzuerhalten, um ihn als Hegemonialmacht zu beherrschen. Über diese Differenz können auf Dauer keine gemeinsamen Deklarationen hinwegtäuschen. Eine Differenzierung der gegenwärtigen amerikanischen Dominanz in eine multipolare Kooperation verschiedener größerer Mächte ist nur eine Frage der Zeit. Zu hoffen ist, dass sie sich friedlich vollzieht.

„Priemstwo“ – Russlands Annäherung an sich selbst

Besetzung:

Erzähler, Übersetzer

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung mit Betonungsangabe wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:

Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen (in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

4 Athmos (Musik)  und 10 O-Töne – in zwei Einheiten nach einander (A und B zum Verblenden) auf dem Band.

Zur Musik:

Ich stelle mir vor, daß Sie die Musik-Athmo so einspielen, daß der Refrain (der ein Beitrag zum Inhalt des Stückes ist) jeweils in der Aufblendung steht, d.h. am Anfang müssten Sie schauen, wie viel Vorlauf sie nehmen wollen, damit der Ton beimrefrain aufgeblendet werden kann.

Bitte die Schlüsse der O-Töne weich abblenden

Freundliche Grüße

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

Länge: 27.131  Zeichen

„Priemstwo“ –

Russlands Annäherung sich selbst

Athmo 1: Lied von Juri Ljosa: Lang ist der Weg                 2.08.02

Erzähler:

Von schönen Träumen der Kindheit, mit denen er davonschwimmen kann, singt Juri Ljosa. ,

Regie: Zwischendurch hochziehen zum Refrain, dann allmählich abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:

„Nu, i pust, budit ni lochki…

„Wenn auch mein Weg nicht leicht sein wird“, heißt es in dem Refrain, „treibt doch mein Floß weiter dahin. Und das ist auch nicht so schlecht.“ Das Lied trifft die russische Befindlichkeit von heute:  Die Krise ist schwer zu ertragen, aber die Träume von einem besseren Russland leben doch fort. Wer auf langen Strecken fährt, hat diese Kassette ganz sicher im Sortiment.

Regie: Vorübergehend hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:

Einer der aktivsten Träumer dieser Art ist Igor Tschubajs, Professor für Philosophie Russlands an Moskaus Universität für Völkerfreundschaft. Er arbeitet dort seit Jahren an der Wiederbegegnung Russlands mit sich selbst. Igor Tschubajs ist zugleich ein Beispiel für Russlands Zerrissenheit. Sein Bruder ist jener berüchtigte Anatoly Tschubajs, der als verantwortlicher Minister für Privatisierung zu einer der meist gehassten Figuren der neuen russischen Führung wurde. Er gilt als prinzipienloser Kopist des Westens, der auch sich selbst reichlich bedient hat.

Im ständigen Clinch mit seinem Bruder engagiert Igor Tschubajs sich seit Anfang der 90er für eine Erneuerung des russischen Selbstverständnisses zwischen Modernisierung und Tradition. Er sucht diesen Weg in der Akzeptanz der eigenen, russischen Geschichte. „Russland auf dem Weg zu sich selbst“, heißt eines seiner letzten Bücher. Es erschien 1998. „Priemstwo“, zu deutsch Akzeptanz oder auch Kontinuität, lautet sein Stichwort. Im Sommer 2000 erschien ein Sammelband unter diesem Titel, in dem die Ergebnisse einer internationalen Konferenz zu dieser Frage dokumentiert werden. Eine Bewegung bilde sich unter dieser Fragestellung heraus, erklärt Igor Tschubajs. Sie bekomme für Russland eine ähnliche Bedeutung wie seinerzeit die Frankfurter Schule für Deutschland oder die Wiener Schule für Österreich. In ihr wachse so etwas heran wie eine neue Philosophie Russlands.

Gefragt, was das sei, eine Philosophie Russlands, antwortet er:

O-Ton 1: Igor Tschubajs                                                      1.38.46

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Philosophia Rossii…

„Die Philosophie Russlands, um es ganz knapp zu sagen, ist die Analyse der Schlüsselwerte, die es bei uns gab. Generell ist Russland in vielem spezifisch. In gewisser Hinsicht erinnert es an Frankreich: In Frankreich fand 1789 die bürgerliche Revolution statt: Das Frankreich von 1789 und jenes nach 1789, das sind verschiedene Staaten. Die absolute Mehrheit aller Länder hat eine ungebrochene Geschichte, eine Kontinuität; in Frankreich ist die Geschichte zerrissen, in Russland auch, allerdings nicht räumlich wie in Deutschland während der Teilung, sondern der Zeit nach. Russland wurde der Zeit nach zerrissen: Russland vor 1917 – das ist ein Staat; ein vollkommen anderer ist Russland nach 1917; 1991 brach dann die Sowjetunion, brach das sowjetische System der Werte zusammen, die kommunistische Idee und seit zehn Jahren formen wir nun schon so eine Art neuen Staates, ohne zu wissen, was für ein Staat das ist. Die Philosophie Russlands ist die Analyse der Werte, die es im historischen Russland gab, dem Russland des Oktober. Damals nannte sich das die „Russische Idee“.  Es ist die Analyse der Werte, die es in der Sowjetunion gab: Was ist die kommunistische Idee, die kommunistische Ideologie und warum kam anstelle der russischen Idee die kommunistische? Das ist ja nicht zufällig. Das muss man verstehen. Indem man versteht, was die Russische Idee ist, indem man versteht, worin ihre Krise bestand, indem man versteht, warum an ihrer Stelle die kommunistische Idee kam und die kommunistische Ideologie, kann man aus dieser Entwicklung erkennen, was eine neue russische Idee sein kann.“

… russkaja idea.“

Erzähler:

Es war Dostojewski, der den Begriff der „Russischen Idee“ prägte, erklärt Igor Tschubajs. Danach schrieben alle bedeutenderen russischen Philosophen über die Russische Idee, Solowjow, Berdjajew usw., aber keiner bestimmte genau, was das sei. Ihre Methode, so Igor Tschubajs, war die der philosophischen Spekulation. Er versuche jetzt systematisch an das Problem heranzukommen, indem er Forschung auf vier Gebieten betreibe: Studium der russischen Geschichte, Analyse russischer Sprichworte, Analyse russischer Gedichte des 19. Jahrhunderts und schließlich Aufarbeitung der russischen Philosophen, die über die Russische Idee geschrieben hätten. So komme er zu drei Grundwerten, die für die russische Identität bestimmend seien:

O-Ton 2: Igor Tschubajs                                                     0.60.16

Regie: O-Ton (die deutschen Worte) kurz frei stehen lassen, nach Übergang zu Übersetzung abblenden, Sprecher setzt ein, O-Ton unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

Originalton Deutsch, dann weiter Russisch…

„Das ist die Verbreitung, die Ausweitung des Staates, die imperiale Politik, die im 14. Jahrhundert unter Iwan Kalita begann. Vom Moskauer Fürstentum, wo wir uns jetzt befinden, begann die Herrschaft zu expandieren. Diese Expansion kam bis nach Alaska, bis nach Finnland, bis nach Mittelasien, das heißt, die Russen brachten das größte Imperium in der Welt zusammen. Man kann sagen: Das war ein großer Erfolg; viele Völker haben das angestrebt, aber nicht allen gelang die Gründung eines solch großer Herrschaftsbereichs. Das ist das Erste. Das Zweite ist: Ein wichtiger Grundbestandteil der russischen Idee ist die russische Rechtgläubigkeit, die prawoslawische Kultur, die russische orthodoxe Kirche.

Der dritte Grundwert ist der Kollektivismus der Obschtschina, das sind die die auf die alte russische Bauerngemeinschaft zurückgehenden Gemeinschaftstraditionen. „Alle Russen des vierzehnten, fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts“, so Igor Tschubajs, „lebten in Obschtschinas, Gemeinschaften, und waren Kollektivisten. Das also ist die `Russische Idee´: Das Sammeln russischer Erde, die Orthodoxie und der Kollektivismus der Obschtschina.“

i obschini Kollektivism.“

Erzähler:

Zar, Kirche und Dorfgemeinschaft des alten Russland bildeten eine Einheit, wie sie effektiver nicht sein konnte. In Zar und Kirche verband sich das schier grenzenlose Land mit seinen zahllosen Völkern zu einer zentral geführten Einheit; die selbst verwalteten, aber dem Gutsherrn, dem Landesfürsten, letztlich dem Moskauer Hof verantwortlichen Dorfkollektive sorgten für die Umsetzung des einheitlichen Willens im täglichen Leben. Die Kirche gab ihren Segen dazu, indem sie die gemeineigentümliche Ordnung der Obschtschina zu der von Gott gewollten Form des Lebens erklärte. Den Bauern gab die Obschtschina Schutz, dem Moskauer Hof die Möglichkeit, den Willen des Verwaltung bis in die letzten Winkel des wachsenden Imperiums zu tragen, ohne sich mit den einzelnen „Seelen“, wie der Zar seine Untertanen nannte, befassen zu müssen. Diese Grundlagen, die das Leben des ganzen Landes bestimmten, so Igor Tschubajs, kamen am Ende des neunzehnten und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in die Krise. Es war eine Zeit der stürmischen Entwicklung auch für Russland:

O-Ton 3: Igor Tschubajs                                                      1.20.21

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Nietzsche i Dostojewski…

„Nietzsche und Dostojewski beschäftigten sich zur gleichen Zeit mit der Krise des Christentums, Nietzsche bei Ihnen im Westen, Dostojewski hier bei uns in Russland.  Nietzsche formulierte: An stelle des alten, kommt ein neuer Über-Mensch, freie Moral anstelle der alten Moral. Die imperiale Politik hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts vollkommen erschöpft. Weiter zu expandieren war nicht möglich. Die orthodoxe Kirche schwankte und der Kollektivismus der Obschtschina begann zu zerfallen. Die Stolypinsche Reform am Anfang des 19. Jahrhunderts orientierte auf private Hofwirtschaft. Kollektivismus gab es in Russland, weil die natürlichen Bedingungen so waren, dass alle einander helfen mussten, um zu überleben und alle Einkünfte wurden gleich gemacht. Am Anfang des Jahrhunderts tauchte neue Technik auf, neues Saatgut, neue Anbaumethoden, so dass das gemeineigentümliche Gleich-Machen schon nicht mehr interessant war. So zerfiel die Einheit von Kollektivismus, Imperium und Kirche. Das Land brauchte dringend eine Reformation – was aber kam, war die Revolution. Darin liegt die russische Tragödie, darin liegt das russische Elend.“

… w etom russiskaja beda.“

Erzähler:

Nicht nur Russland kam in die Krise. Ganz Europa, so  Igor Tschubajs, durchlebte gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Ideen- eine Identitätskrise – die Krise des Christentums. Zweitausend Jahre, so der Professor, war das Christentum das Fundament der Welt, war Gott war das Maß der Dinge – nun gab es ihn nicht mehr, jedenfalls nicht mehr verbindlich. Das hatte Folgen – für Russland allerdings andere als für den Westen:

O-Ton 4: Igor Tschubajs                                                      60,01

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

Jesli ransche swjo…

Wenn man früher alles durch Gott entschied, nun aber kein Gott mehr da war, so brauchte man jetzt einen neuen starken Regulator: So entstanden die totalitären Regimes – in Italien Mussolini, Hitler in Deutschland, Franko in Spanien, Lenin in Russland. Das sind alles Zeugen eines Prozesses. Europa verlor seine Identität, verlor seine Regeln. Einer der Aspekte des zweiten Weltkrieges war, dass zwei Mutanten zusammenstießen, Stalin und Hitler. Stalin siegte – aber die Erfolge des Sieges genießt der Westen, wo das abartige  Regime  vernichtet wurde. Europa erhielt Demokratie; im Westen brach das ganze unnormale System zusammen, bei uns aber ging das noch fünfzig Jahre lang weiter. Solange wir diese Identitätskrise nicht überwinden, neue Werte finden, die alten, ursprünglichen wider errichten oder reformieren werden wir unsere Probleme nicht lösen.“

…swoi problemi.“

Erzähler:

Vier Wechsel der Werte habe es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gegeben, erklärt Igor Tschubajs: Vom christlichen Kontinuum zum Totalitarismus, vom Totalitarismus zur Demokratie, von der Demokratie zum Globalismus. Obwohl selbst Aktivist der demokratischen Bewegung, die den ungeduldigen Boris Jelzin als Vollstrecker einer radikalen Liberalisierung auf den Thron hob, hat Igor Tschubajs mit der dritten Stufe, dem Übergang zur Freiheit, wie er es nennt, die größten Probleme. Sie gehe heute, meint er, ins Extrem der haltlosen Beliebigkeit, in Russland bis an die Grenze der Selbstvernichtung. Auf die Frage, mit welchen zeitgemäßen Inhalten die drei Grundsäulen der russischen Idee unter solchen Umständen modernisiert werden könnten, antwortet er:

O-Ton 5: Igor Tschubajs                                                      1.15.00             

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:

„A kakoi atwjet…

„Also, welche Antwort? Ich denke `Priemstwo´ ist eine Antwort. Mag sein, dass es Menschen gibt, die etwas prinzipiell Neues ausdenken, ich glaube, dass die religiöse Idee eine Modernisierung braucht; die kann in den Formen der der zeitgenössischen Kultur beschrieben werden. Wenn wir das nicht tun, dann werden wir sehr unruhige, nicht vorhersagbare Folgen zu tragen haben, denn dann werden wir überhaupt alles zugrunde richten: Kultur, Natur, uns. Nietzsches Meinung, dass aus dem alten Menschen der neue Übermensch ohne Gott hervorgeht, war, meine ich, ein großer Fehler. Dostojewski hat das in Russland alles sehr stark gefühlt. Einer seiner Helden, aus den `Brüdern Karamasow´, sagt: `Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt´. Das ist dieser Satz, der heute vielfach wiederholt wird. Nur würde ich es heute anders sagen: `Wenn es keinen Gott gibt und alles erlaubt ist, dann wird es keinen Menschen mehr geben!´ Wir glauben, wir hätten Gott beiseite geworfen – wir haben uns selbst beiseite geworfen, wir vernichten uns selbst.“

…Sebja unitschtaschajem.“

Athmo 2 – Musik                                                                  1.00.10

Regie: Musik verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, allmählich unter dem Erzähler ausblenden

Erzähler:

Eine Erneuerung der angeschlagenen russischen Identität ist notwendig – darin sind sich alle einig. Aber wie? Im Wahljahr 1996, nach dem ersten tschetschenischen Krieg, der Russland in eine tiefe Identitätskrise stürzte, rief Boris Jelzin zu einem öffentlichen Wettbewerb für die Entwicklung einer neuen nationalen Idee auf. Der Erfolg war mäßig. Das Projekt blieb stecken. Statt einer nationalen Idee kam der zweite Krieg in Tschetschenien unter Wladimir Putin.  Kein Wunder, kommentiert Igor Tschubajs, eine neue russische Identität lasse sich nicht von oben dekretieren, sie müsse an der Logik der russischen Geschichte in breiter Debatte auf der Basis der Vorarbeit von Spezialisten aller Gebiete herausgearbeitet werden:

Den aktuellen Stand des Problems skizziert er so:

O-Ton 6: Igor Tschubajs                                                      2.15.00             

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Besoslowna sewodnja…

„Es ist klar, dass Russland diese Werte heute nicht hat, dass es keine eigene Idee hat. Nach der Auflösung der Sowjetunion, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Idee, haben das natürlich alle begrüßt. Ich selbst war lange Mitglied in der Demokratischen Bewegung, habe mit der Partei gekämpft usw. Das Problem ist ja aber nicht, dass die alten Regeln zerstört wurden, sondern dass es keine neuen gibt und dass die Demokratie keine Demokratie ist: Demokratie – das sind normale Regeln, moralisch, historisch erprobt. All das gibt es bei uns nicht; wir haben keinerlei Regeln. Und in dieser Situation hat Russland vier Varianten, seine Identität wiederherzustellen, vier verschiedene Wege. Erstens: Dieses neue Russland kann einfach eine Neuausgabe der Sowjetunion werden. Zweitens: Das neue Russland kann seine ganze Geschichte beiseite werfen und den Westen kopieren. Das ist die `Union rechter Kräfte´ meines Bruders Anatoly. Aber ich glaube ihnen kein Wort: Sie sagen das eine, denken das zweite und tun das dritte. Nur formal kann man den Westen kopieren. Das ist pervers, lächerlich. Wir haben eine Geschichte von zwölf Jahrhunderten, das ist einer der ältesten Staaten der Welt.  Wie kann der einfach seine Geschichte wegwerfen.

Der dritte Weg ist eine Sammlung aus allem: ein bisschen Wiedererrichtung der UdSSR – gerade eben hat man bei uns ein Denkmal für Andropow aufgestellt – ein bisschen Kopie des Westens – Wir haben jetzt einen „Meir“, Bürgermeister, einen „Präsidenten“, ein „Weißes Haus“ – und schliesslich ein bisschen vom alten Russland. Aber so kann man sich nicht bewegen; das ist alles sinnlos. Das einzige, was aus meiner Sicht, akzeptabel ist – die vierte Variante – das ist der Weg der Kontinuität, von „Priemstwo“, der Weg der Akzeptanz, der Wiedervereinigung mit der eigenen Geschichte.“

…. putj samawossedejeninije.“

Erzähler:

Wiedervereinigung mit der eigenen Geschichte, das heißt für Igor Tschubajs: Reformen müssen an gewachsenen Strukturen anknüpfen, die Modernisierung des nachsowjetischen Russland muss sich mit den Fähigkeiten von gestern verbinden. Neue Impulse sind nur möglich durch Aufarbeitung des Alten. Eine vollkommene Wiederherstellung der alten Werte, so Igor Tschubajs, sei selbstverständlich nicht möglich, natürlichmüsse Erneuerung stattfinden, Weiterentwicklung. Für die drei Säulen der russischen Idee sieht er das so:

O-Ton 7: Igor Tschubajs                                                      1.50.00             

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Wot, saberannije semel…

„Also, das Sammeln der Erde: Die Expansion hat sich erschöpft, daher ist die Logik der Geschichte, dass die quantitative Entwicklung in eine qualitative übergehen muss. Das muss geschehen: Wenn das quantitative Wachstum sich erschöpft hat, dann muss das qualitative Wachstum beginnen. Jedes Kind beginnt als Kleinkind, wächst dann zwanzig Jahre und danach wächst es nicht mehr physisch, sondern intellektuell. Russland hat nun einen Punkt erreicht, an dem es sich physisch nicht weiter ausdehnen kann. Deshalb geht es nicht um neue Landnahme, nicht um neue Waffen, sondern darum, von quantitativem Wachstum zum qualitativen zu kommen. Wir müssen nicht die Armee verbreitern, nicht die Flotte weiter ausbauen. Natürlich braucht man eine Armee. Ich glaube nicht, dass die Armee überflüssig ist, aber ihr Platz ist begrenzt. Gebraucht wird dagegen Kommunikation; Straßen, Verbindungen, Wissenschaft, neue Technologien, Kultur, Kunst, Bildung, Medizin, das sind die wichtigsten Dinge. Man muss das Haus weiter ausbauen. Im größten Haus der Welt hat man nur die Wände aufgestellt, nun muss es auch von innen eingerichtet werden. Man muss vom Rohbau zum Ausbau voranschreiten. Nicht nötig in Tschetschenien Krieg zu führen, nicht nötig, Afghanistan zu besetzen, nicht nötig, unsere Divisionen in Tadschikistan zu stationieren, nicht nötig weiter zu expandieren, sondern sich mit allen zu befreunden. Nötig mit allen zu sprechen, damit der Frieden auf dem eigenen Territorium garantiert wird, innerhalb der eigenen Grenzen, und das eigene Land auszubauen.“

…swoju stranu.“

Erzähler:

Auch  die alte Einheit von Kirche, Staat und Gemeinschaft ist nicht wieder herstellbar, zumal das orthodoxe Christentum heute mehr noch als vor 1917 nur eine unter mehreren Religionen ist, die um die russischen Menschen werben. Islam, Buddhismus und in großen Teilen des Landes naturreligiöse Vorstellungen nicht-slawischer Völker sind ebenso Teil der russischen Identität. Auch die sowjetische Moral der nicht-kirchlichen, sozialistischen Ethik ist nach siebzig Jahren tief in der Bevölkerung verankert. Für die Wiederbegegnung mit der Religiosität bedeutet das:

O-Ton 8: Igor Tschubajs                                                      2.10.01             

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Wtaraja sostablajeschi…

„Zum zweiten Grundwert, der Orthodoxie: Wie soll es mit der Orthodoxie laufen? Natürlich ist die Frage der Religion eine sehr persönliche Frage. Unmöglich zu sagen, ihr müsst alle prawoslawisch, also orthodox christlich werden. Das geht nicht. Aber was ist die Orthodoxie, wenn wir sie nicht aus der Sicht der Religion, des Glaubens, des Atheismus betrachten, sondern aus dem der Kultur, der Kultorologie? – Die Orthodoxie ist ein System der Werte! Für den Buddhisten ist das Wichtigste die Einheit mit der Natur, die Erkenntnis seiner selbst als Teil der Welt. Für den Protestanten ist das Wichtigste die Aktivität, die Tätigkeit, die Arbeit, die Mühe, die Arbeitsmoral usw. Für den orthodoxen Christen ist das Wichtigste die Moral, das Wichtigste ist das sittliche Verhalten. Es heißt, in Russland habe es keine entwickelten Gesetze gegeben – hat es sehr wohl. Die Sowjetunion war ein nicht rechtsstaatlicher Staat; im historischen Russland dagegen gab es Rechte, gab es Gesetze. Die Rechte spielten bei uns allerdings niemals die Rolle, die sie zum Beispiel in Deutschland heute spielen oder in Amerika. Nicht deswegen, weil wir nicht entwickelt waren, sondern deshalb weil bei uns sehr viele Fragen über die Sittlichkeit gelöst wurden: Die Leute sprachen einfach miteinander, trafen Abmachungen und fertig. Wenn wir also wollen, dass Verbindungen zu unseren eigenen Traditionen wieder hergestellt werden, der eigenen Kultur, dann ist der Punkt nicht, dass alle gläubig sein müssen, der Punkt ist, dass das Wichtigste bei uns die höhere Geistigkeit ist, die Spiritualität, die Sittlichkeit: Geld ist sehr wichtig, aber es steht nicht an erster Stelle. Das Wichtigste ist, ein anständiger Mensch zu sein. Davon spricht die ganze russische Literatur, die ganze russische Folklore, die ganze russische Kultur. Wenn wir heute unsere Macht sehen, die korrumpiert ist, dann ist das nicht russisch, für Russland geht es nicht an, sich derartig aufzuführen. Das ist nicht akzeptabel für Russland.“

…nelsja sebja westi.“

Erzähler:

Für die dritte Säule, die Gemeinschaftstradition, russisch: Obschtschinost, lassen wir einen der vielen Intellektuellen sprechen, auf die Igor Tschubajs sich bezieht, wenn er von der entstehenden „Schule der Priemstwo“ spricht, die sich von unten entwickelt.

Boris Kagarlitzki – als scharfzüngiger radikaldemokratischer Analytiker der Perestroika-Generation einer romantischen Verklärung der alten Geschichte nicht verdächtig, erklärt zu Russlands Entwicklungschancen in der aktuellen Krise:

O-Ton 9: Boris Kagarlitzki, Analytiker                                   1.38.01

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Sdjes mi widim…

„Hier sehen wir natürlich einige Elemente der Obschtschtina-Tradition, die – wie paradox auch immer – gerade heute in Russland anwächst. Sie wird transformiert. Die Obschtschina-Tradition fährt fort sich zu entwickeln, sie passt sich dem Markt an, sie bildet ihre eigenen, quasi-marktwirtschaftlichen Beziehungen heraus usw. Die Privatisierung hat die russische Wirtschaft in einen Zustand zwischen früherem Dirigismus und privatkapitalistischen Produktionsformen gebracht. Um sich zu entwickeln, brauchen wir neue Formen der Beteiligung und darin kann die russische Obschtschina Tradition ganz sicherlich eine positive Rolle spielen. Nicht im Sinne Szuganows, also Obschtschina als autoritäre Struktur, sondern anders. Die Obschtschina ist im Wesen ja doppelwertig; in ihr liegt ein autoritäres Potential und ein demokratisches. Das Paradoxon der russischen Obschtschina liegt eben in diesem Doppelcharakter und diese Doppelwertigkeit hängt vom sozialen Kontext ab, in dem die Obschtschina sich befindet. Warum war die Obschtschina früher autoritär? Weil sie in einem autoritären Staatsystem aufbaut worden war. Wenn wir diese Obschtschina in einem demokratischen Umfeld und unter anderen sozialen Prioritäten aufbauen, dann kann sie ihr demokratisches Potential entwickeln. Dafür muss man sich aber von den politischen Illusionen des Szuganowschen Typs lösen.“

..schuganowskawa Typa.“

Erzähler:

`Sich von den politischen Illusionen Szuganowschen Typs lösen´, das bedeutet, sich von den Illusionen eines volkstümelnden, hurra-patriotischen Kommunismus zu lösen. Nur dann, darin stimmt Boris Kagarlitzki mit Igor Tschubajs überein, können Tradition und Moderne sich miteinander zu neuen sozialen Impulsen verbinden.

Athmo 3: Verblenden, Musik kurz stehen lassen,                        1.12.10

unter Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:

Hart grenzt Igor Tschubajs sich auch von Intellektuellen des rechten Lagers ab, die dasselbe Vokabular benutzen wie er, die wie er von Akzeptanz, Kontinuität und Aktualisierung traditioneller Werte sprechen, damit aber die Rückkehr zur Expansionspolitik des Imperiums verbinden. Einer dieser Leute ist Alexander Dugin, Gründer einer aus der Umgebung des Präsidenten Putin finanzierten euro-asiatischen Bewegung. Er möchte Russland als euroasiatische Führungsmacht in einem globalen Kampf gegen die USA etablieren. Dugin, zu Hochzeiten der Persteroika als nationalistischer Radikaler marginalisiert, war im Jahr 2001Initiator von Konferenzen zum Islam, zur Rolle der Kirche und weiterer Themen, die vom Präsidenten-Apparat, von der Duma und der Kirche unterstützt wurden; seine Schriften in Zeitschriften und Büchern über die notwendige globale Konfrontation zwischen Russland und den USA liegen unter den Kopfkissen der wichtigsten Führungsfiguren des staatlichen, insbesondere geheimdienstlichen und militärischen Apparates.

Zu Alexander Dugins Aktivitäten befragt, antwortet Igor Tschubajs:

O-Ton 9: Igor Tschubajs                                                      1.15.00             

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja dumaju…

„Ich  denke, dass die Idee der ´Priemstwo´, die Idee der Verbindung mit dem historischen Russland, eine Idee ist, die nicht ausgedacht, nicht künstlich ist; sie liegt in der Luft, sie kommt vielen in den Kopf, deshalb ist sie nicht nur mir in den Kopf gekommen, sondern auch Dugin, und einer Reihe weiterer Leute. Darin sehe ich etwas Positives; es zeigt: Wenn diese Idee etwas sehr Subjektives wäre, würde ich kaum jemand finden, der ihr zustimmte. Er ist dahin gekommen, ich bin dahin gekommen, andere sind dahin gekommen, das heißt, in dieser Vorstellung liegt etwas Rationales. Wenn aber Dugin und seine Parteigänger von „ Priemstwo“ sprechen, so wollen sie, so weit ich das verstehe, in vielem das alte Russland wieder herstellen, das damals existierte. Aber das zu bewirken ist nicht möglich und nicht nötig. Denn Russland war ein Imperium, Russland war mit Eroberungen befasst, Russland betrieb eine expansive Politik bei gleichzeitiger Vereinheitlichung, das ist heute absolut unnötig und unmöglich.“

…absolutna nje nuschna.“

Erzähler:

Und drastisch setzt Igor Tschubajs noch einmal nach:

O-Ton 10: Igor Tschubajs                                                    0.40.00

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Tak, wot, setschas…

„Also, sich jetzt mit der Expansion zu befassen, im 21. Jahrhundert! Das war im 19. Jahrhundert gut – im 21. Jahrhundert ist das sinnlos. Das ist, wie einen Zwanzigjährigen zu säugen. Das ist ein Irrenhaus. Das geht nicht. Das ist eine Krankheit. Wir leben in einer anderen Zeit, in einer anderen Situation, in einer anderen Kultur unter anderen Regeln; sich heute mit der Expansion zu befassen, ist eine Katastrophe.“

eta katastrofa.“

Erzähler:

Erfolge auf dem Wege der Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses für sein Land erwartet Igor Tschubajs nur, wenn alle Kräfte auf den inneren Ausbau konzentriert werden. Hoffnungen dafür gibt es. Im Sommer 2001 hat ihn das Ministerium für Bildung beauftragt, Lehrbücher für die Ausbildung an russischen Lehranstalten nach den von ihm entwickelten Vorstellungen zu erarbeiten. Entsprechende Kommissionen  für die Bereiche Geschichte, Sprache, Literatur und Philosophie sind bereits unter Leitung von Igor Tschubajs  tätig.

Athmo 4:  O.Ton allmählich kommen lassen,                      0.37.00

nach Erzähler hochziehen, ausblenden

Erzähler:

Was davon verwirklicht wird, hängt allerdings nicht alleine von Igor Tschubajs und dem Stab ab, den er um sich versammeln kann, sondern von den, wie Igor Tschubajs es ausdrückt, Unwägbarkeiten der  Macht und der allgegenwärtigen Bürokratie. Russland ist nämlich, das wird hier deutlich, nicht nur in vier nebeneinander liegende Zeitepochen gespalten, wie Igor Tschubajs es beschrieb, also alte,  das sowjetische, das demokratische und das aus allem zusammengemischte Russland. Neben der zeitlichen Spaltung des Landes existiert vielmehr noch eine weitere, die vielleicht noch tiefer geht: Es ist die zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Bürokratie und lebendigen Menschen. Diese Spaltung aufzuheben dürfte die größte Aufgabe sein, welche die „Schule der Priemstwo“ zu bewältigen hat, um Russland auf denem Weg zu sich selbst zu führen.

Regie: Musik hochziehen, ausklingen lassen

Tschetschenen – nur noch Banditen?

Besetzung:

Sprecher, Übersetzer,  Zitatorin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung mit Betonungsangabe wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:

Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

2 Athmos, 15 O-Töne – alle hintereinander auf dem Band

Bitte die Schlüsse der O-Töne weich abblenden

Freundliche Grüße

Kai Ehlers

WWW.kai-ehlers.de

Länge: 26.700 Zeichen

Tschetschenen

– nur noch Banditen?

Athmo 1: Erkennungsmelodie TV                                                   035

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, auslaufen lassen

Sprecherin:

Moskau, 9.1.2002, Tagesnachrichten: Es gebe keine Rebelleneinheiten mehr, sondern nur noch versprengte Banden, teilte der Generalstabschef der russischen Armee in Tschetschenien, Anatolij Kwaschnin der Öffentlichkeit mit. Neue Verhandlungen mit tschetschenischen Politikern, wie etwa die Gespräche zwischen Vertretern der russischen Regierung und Aslan Maschadows Leuten Ende des letzten Jahres, werde es nicht geben.

Athmo 2 : Erkennungsmelodie, Ausklang                               0,19

Ton unter der Sprecherin langsam kommen lassen. Nach Sprecherin vorübergehend hochziehen, abblenden

Sprecherin:

„Es werden keine Fehler mehr gemacht“, erklärte Kwaschnin. Ruhe in Tschetschenien werde dann einkehren, wenn die Finanzierung der Banditen durch das Ausland aufhöre.“

Erzähler:

Meldungen solcher Art sind das Einzige, was der Kreml heute der Öffentlichkeit über Tschetschenien in den von ihm inzwischen gänzlich kontrollierten Medien mitteilt. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Woche für Woche gibt es kleinere Meldungen in der Presse oder auch noch im unabhängigen Sender „Radio Moskau“ über Anschläge auf russische Militäreinrichtungen in den besetzen Gebieten, über Attentate auf Vertreter der mit Moskau kooperierenden tschetschenischen Verwaltungsorgane, über Schießereien im südlichen Rückzugsgebiet der tschetschenischen Kämpfer, die Tote und Verletzte kosten. Genaue Zahlen werden selten bekannt. Der letzte dieser Vorfälle war der „Absturz“ eines russischen Armeehubschraubers über tschetschenischem Gebiet Ende Januar, dem zwölf Personen, unter anderen der stellvertretende russische Innenminister zum Opfer fielen.

Auf der anderen Seite reißen die Meldungen über so genannte Säuberungen der russischen Besatzungsmacht nicht ab. Im Widerspruch zu den offiziellen Darstellungen wies die Menschenrechts-Organisation „Memorial“ im Januar daraufhin, dass bei solchen Einsätzen der russischen Armee seit Ende Dezember 2001 in Argun und weiteren Orten Tschetscheniens erneut viele Zivilisten verschleppt, gefoltert und getötet worden seien.

Frau Cheda Saratowa, die für „Memorial“ und die „Stiftung zum Schutz für Glasnost“ vor Ort recherchierte, beschrieb ihre Eindrücke mit den Worten:

Sprecherin: Frau Cheda Saratowa

„Im Dorf  Zozin-Jurt wussten die Leute zunächst nicht, wie viele Tote es gegeben hatte, wie viele mit unbekanntem Ziel verschleppt worden sind. Die meist betrunkenen russischen Soldaten verbrannten am Rande des Dorfes eine unbekannte Zahl von Leichen. Der ganze Ort stank nach verbranntem Fleisch und Verwesung.“

Erzähler:

Über hundert Todesopfer sollen allein bei diesem Einsatz gezählt worden sein. Frau Saratowa berichtete auch über die Ermordung des 37-jährigen Mussa Ismailow. Er war der Mulla von Zozin-Jurt. Seine Ehefrau Malika war Augenzeugin, wie die Soldaten ihren Mann fortschleppten: Ein Ohr war abgeschnitten. Das herabströmende Blut verklebte ihm die Augen. Als sie versuchte, den Soldaten zu folgen, drohten die, sie zu erschießen. Später durfte sie die Leiche ihres Mannes abholen, dies aber erst nachdem sie 1000 Rubel, umgerechnet 33 Dollar bezahlt und ein Papier unterschrieben hatte, in dem sie bestätigte, dass der tote Mussa Ismailow ein tschetschenischer „Bojewik“, also Kämpfer gewesen sei. Jungen Männern, berichtet sie weiter, wurden die Geschlechtsorgane abgeschnitten, einem 72-jährigen wurde mit dem Messer `Prosit Neujahr´ in die Haut geritzt.

Sprecherin:  Frau Cheda Saratowa

„Vielfach lassen die betrunkenen Soldaten sich dafür bezahlen, dieses oder jenes Haus nicht zu `säubern´. Für 5000 bis 7000 Rubel sind sie bereit, auf die Durchsuchung zu verzichten. Jetzt hat die 36-jährige Witwe des getöteten Mullah Angst um ihren 17-jährigen Sohn. Sie fürchtet, dass er ebenfalls zur Waffe greifen wird, um seinen Vater zu rächen. Die meisten, sagt sie, die heute gegen die föderalen Truppen kämpfen und die als Banditen bezeichnet werden, sind einfache Leute, die ihre Verwandten rächen wollten, weil sie gegen alles Recht abgeschlachtet werden.“

Erzähler:

Berichte über Vorgänge dieser Art, die noch vor Jahresfrist Schlagzeilen in den kritischen Medien des Westens machten, finden sich heute nur noch dort, wo man auch unter der von den USA und dem Westen geschmiedeten „Allianz gegen den Terror“ dem Frieden mit Russland nicht traut, etwa bei der Zeitung „Die Welt“.

„Seit Russland als nützlicher Verbündeter der USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gilt“, so zitiert „Die Welt“  den Moskauer Politologen Andrej Piontowski, Direktor des unabhängigen Instituts für Strategische Studien, sei der Westen blind geworden für das, was in Tschetschenien geschehe. Den Moskauer Militärexperten Felgenhauer zitiert die Zeitung mit den Worten, die jetzige Haltung des Westens komme einer „totalen carte blanche“ für Moskau gleich.

Unmissverständlich reagieren die nicht-russischen Völker Russlands: Da sind zunächst ganz unverdächtige Zeugen – die Tschuwaschen. Mit ca. vier Millionen Menschen sind sie heute die zweitgrößte Minderheit in der russischen Föderation nach den Tataren; sie leben in einer autonomen Republik Tschuwaschien an der mittleren Wolga, mitten im Herzen  Russlands also; sie sind brav und seit Jahrhunderten ins russische Imperium integriert, sie denken nicht daran, die Föderation zu verlassen; zudem sind sie seit vielen Jahrhunderten christianisiert. Nichtsdestoweniger verstehen die Tschuwaschen den Krieg Moskaus gegen die Tschetschenen als Angriff auf ihre eigene Autonomie:

O-Ton 1: Michael Juchma,                                                       0,48

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:

„Ja tschitaju, schto…

„Ich denke, dass der Krieg in Tschetschenien eine Tragödie ist, und zwar nicht nur für Tschetschenien, nicht nur für das russische Volk, sondern für ganz Russland, für alle Völker Russlands. Uns nicht-russische Völker schreckt das sehr auf. Heute erklärt Russland die Tschetschenen zu Feinden; einerseits soll Tschetschenien zu Russland gehören, andererseits wird das ganze Territorium bombardiert, wird alles vernichtet, wird das Land als Feind behandelt. Und was, wenn morgen die Tataren in die gleiche Lage kommen? Danach die Tschuwaschen? Dann vielleicht die Burjäten in Sibirien? Nach der Logik der Dinge ist das sehr wohl möglich.“

…polni wasmoschno.“

Erzähler:

Der so spricht, ist Michael Juchma, auch in Moskau hoch angesehener tschuwaschischer Volksschriftsteller, Gesprächspartner von Michail Gorbatschow, der seine Lebensaufgabe darin sieht, Geschichte, Mythen und Legenden der Wolgavölker zusammenzutragen, um sie dem Vergessen zu entreißen. Darüber hinaus leitet er das zu Michael Gorbatschows Zeiten entstandene  tschuwaschische Kulturzentrum, das sich um eine Renaissance der tschuwaschischen Kultur bemüht.

Gleich neben der tschuwaschischen Republik liegt El Mari, ebenfalls eine autonome Republik, benannt nach den finnisch-ugrischen Stämmen, die hier nach der Völkerwanderung einst ein Zuhause gefunden haben. Auch die Mari sind keine Moslems, auch sie sind weit entfernt davon, sich aus der russischen Föderation lösen zu wollen. Doch auch die Mari fühlen sich durch eine Politik der inneren Kolonisierung bedrückt, die Moskau gegenüber seinen ethnischen Minderheiten inzwischen wieder eingeschlagen habe.

Der Krieg gegen die Tschetschenen, so kann man es im Kulturzentrum und beim Schriftstellerverband in Joschkar-Olar, der Hauptstadt der Republik El Mari, hören, sei nur der krasseste Ausdruck davon. Chenofan Chainikow, ein über die Grenzen El Maris und auch Russlands hinaus bekannter einheimischer Stalinismusexperte und Terrorismusforscher, nennt den Krieg einen Genozid, der von Historikern einst nicht anders beurteilt werden werde als die Verbrechen Stalins. Allen nicht-russischen Völkern sei klar, womit dieser Krieg sie bedrohe:

O-Ton 2: Joschkar- Olar, Chedofan Chainikow                                                 0,28

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:

„Oni sche ponimajut…

„Sie verstehen doch, was geschähe, wenn sie mehr Freiheit fordern würden. So die Inguschen, die Osseten, die Dagestani. Die Wolgavölker. Hundertfünfzig  Millionen gegen eine Million! Das verstehen doch alle: Das ist das Gesetz des Dschungels wie es früher war! Die Wahrheit ist auf der Seiten dessen, der die Macht hat.“

… u kawo sila.“

Erzähler:

Unüberhörbar schließlich wird im benachbarten Tatarstan, der Heimat der größten kulturellen und ethnischen Minderheit des heutigen Russland, was die nicht-russischen Völker Russlands von den offiziellen Darstellungen des Tschetschenien-Konfliktes halten: Hier wird nicht nur die neokoloniale Politik Moskaus gegenüber seinen Minderheiten beklagt, hier – in dieser mehrheitlich muslimisch geprägten Republik – fühlt man sich auch als Moslem diskriminiert.

Ildu Sadikow, der Vorsitzende des tatarischen Zentrums in Kasan, kritisiert den tschetschenischen Separatismus; er ist stolz darauf, dass die Tataren für ihre – wie es in Russland heißt – nationalen Interessen, den Weg des Ausgleichs mit Russland gesucht haben. Unmissverständlich aber formuliert auch er:

O-Ton 3: Tatarisches Zentrum, Ildu Sadikow                             0,33

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:

„Wot, we etom wapros…

„In dieser Frage liegt natürlich viel Strittiges, aber ich denke, es hat eine Verletzung von moralischen und internationalen Normen durch die staatlichen Organe, und zwar von Seiten des herrschenden Volkes gegeben. Was jetzt dort stattfindet, ist ein Kolonialkrieg, mit dem Russland gewaltsam ein Volk halten will, das nicht bleiben will. Dieser Krieg  findet schon hunderte von Jahren statt. Das tschetschenische Volk wurde ja auch deportiert, wie Sie wissen.“

…kak wy snaetje.“

Erzähler:

Als Tatare ist man solidarisch mit den um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Tschetschenen, als Moslem sieht man sich auf einer Seite mit den Glaubensbrüdern, die dort in Tschetschenien – gesegnet von den Patriarchen der orthodox-christlichen Kirche – verfolgt werden. Sogar im Islamischen Zentrum Kasans, der größten offiziellen Vertretung der Moslems in Russland, kann man Kritik an Wladimir Putins Kriegs-Kurs hören, obwohl die Leitung des Zentrums sich demonstrativ um Kooperation mit Moskau und der von Moskau zur Staatskirche erhobenen orthodoxen Kirche bemüht.

Wladimir Putin habe aus seinen Absichten ja gar kein Geheimnis gemacht, erklärt Waljulla Jaghub im Büro des obersten Mufti von Kasan und erinnert daran, was die Presse über Wladimir Putin berichtetete, noch bevor dieser zum Präsidenten gewählt war:

O-Ton 4: Mufti                                                                              0,22

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:

„Uwaschajemie gasjeti, pissali… n

„Die verehrte Moskauer Presse hat doch ganz offen darüber geschrieben, was Putin damals auf einer Versammlung des KGB erklärt hat: ´Wenn wir die Tschetschenen erledigt haben´, sagte er, `dann nehmen wir uns die Kane vor.´ Mit `Kanen´ meint er wohl uns.“

… nawerna my.“

Erzähler:

Ja, Kane, damit sind die Muslime Russlands gemeint, an der Wolga, im Kaukasus, in Sibirien, selbstverständlich auch in Moskau. Waljulla Jaghub lacht: er sei Realist, sagt er. Seine Behörden versuchen sich zu arrangieren. Draußen im Lande jedoch, nicht nur in Tatarstan, auch im benachbarten Baschkortastan und weiteren islamischen Republiken an der Wolga, ganz zu schweigen vom Kaukasus, hat sich unter solchen Bedingungen eine radikalere Stimmung herausgebildet, vor allem unter arbeitslosen Jugendlichen. Aus ihr gehen Freiwillige für den Einsatz in Tschetschenien hervor. Soziale Perspektivlosigkeit, Auflehnung gegen Diskriminierung, fehlgeleitete neue Religiosität und Hoffnung auf Abenteuer sowie leichtes Geld verbinden sich bei ihnen in der Bereitschaft zum Djihad, dem heiligen Krieg: Lieber Sterben als in Elend und Langeweile verkommen, lautet ihr Motto.

Scheich Adin, eben über Zwanzig, selbst arbeitslos, ist einer dieser jungen Männer. Als Chef des „Islamischen Zentrums“ in der von der russischen Krise existenziell betroffenen Industriestadt Nabereschnye Tschelni hilft er Freiwilligen dabei, an die tschetschenische Front zu kommen:

O-Ton 5: Scheich Adin                                                              0,45

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:

„I nje tolka…

„Und nicht nur für humanitäre Hilfe“, betont er. „Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem.“ Jeder entscheide natürlich für sich selbst. Wer dort sterbe, erlange große Ehre, er erhalte sogar ein besonderes Begräbnis. Er stehe höher als andere Muslime. Ja, das islamische Zentrum unterstütze diese jungen Leute: „Selbstverständlich“, so Schaich Adin, „denn sie erfüllen den Willen Allahs.“

…ispolnjajut wole Allacha.“

Erzähler:

Weitere Stimmen ließen sich aufzählen – selbst aus dem fernen Sibirien, wo Burjäten, wo Chakasen, wo Tuwiner, Jakuten und andere sogenannte kleinere Völker, obwohl keine Muslime, den Krieg gegen die Tschetschenen ebenfalls als Krieg gegen ihre eigene Souveränität und die Rechte von Minderheiten in Russland erleben.

Tschetschenien ist, so sehen sie es, lediglich der aktuelle Brennpunkt dieser Entwicklung. Moskau halte die Tschetschenen offenbar für besonders geeignet, um im Krieg gegen sie die Einheit des Imperiums wieder zusammen zu schmieden. Nicht selten wird die Rolle, welche die Tschetschenen dabei in Russland einnehmen, mit jener der Juden verglichen. Auch viele Tschetschenen sehen sich in diesem Vergleich.

Mussa Tumssojew *, selbst Tschetschene, ist einer von denen, die die tschetschenische Tragödie in dieser Weise verstehen. Er ist leitender Mitarbeiter an der russischen Akademie der Wissenschaften* in Moskau. Wo er an Problemen der regionalen Entwicklung forscht.

Ja, diese Vergleiche mit den Juden gibt es, sagt er:

O-Ton 6: Mussa Tumssojew                                                               0,45

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

“Schtoby tebja sametili…:

„Es hieß, um bemerkt zu werden, muss man entweder Jude oder Tschetschene sein. Die Tschetschenen selber sagen es so: Es gibt generell zwei Perioden, eine, in der man sich mit den Juden beschäftigt und eine, in der man sich mit den Tschetschenen befasst. Wenn man sich nicht mit den Juden befasst, dann quält man die Tschetschenen; jeder wird auf diese Weise traktiert. Wenn es um Extreme, um Krisen geht, dann werden eben Freimaurer oder Juden gejagt. Geht es gegen die Tschetschenen, dann können die Juden sich ein bisschen erholen – und umgekehrt. Es heißt: Wenn es gut wird für die Tschetschenen, dann ist es nicht gut für die Juden.“

… ne charascho jewreom.“

Erzähler:

Wie die Juden, so Mussa Tomssojew, leben die Tschetschenen seit Jahrhunderten in der Diaspora: Aus dem Westen – nicht aus dem Osten, auch nicht aus dem Orient, betont Mussa Tumssojew, sondern aus Europa – in den Kaukasus eingewandert, hätten sie sich dort nicht integrieren können. Von den anderen Völkern des Kaukasus unterschieden sie sich durch ihre helle Haut und durch ihre Sprache, von den Russen durch ihre archaischen Traditionen. In der Ungepasstheit, die ständig das Problem des Überlebens aufwerfe, so Mussa Tumssojew, liege daher ihr besonderer Charakter:

O-Ton 7: Mussa Tomssojew

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Wyschewannije…

„Das Phänomen des Überlebens hat zu besonderen Traditionen geführt, welche die Tschetschenen seit Jahrhunderten bewahrt haben. Anders kann ich mir auch heute kein Überleben vorstellen, wenn es keine Arbeit gibt, keine Pensionen gezahlt werden, überhaupt nichts gezahlt wird, obwohl die Familien dutzende Köpfe haben. Wovon leben sie? Sie leben auf Kosten derer, die zureisen, die sie ernähren, von den Übrigen draußen, die alles geben, was sie haben. Das ist normal – für uns ist das irgendwie normal. Für andere mag es wichtig sein, sich selbst einzurichten; für uns ist es wichtig, sich mit der Familie einzurichten. Solche Umstände! Können Sie sich eine Einzimmer-Unterkunft vorstellen, während des Krieges und darin fünfzehn Menschen? Auch das ist für uns normal. Bei mir war es auch so. Als ich hier auf meine Wohnung siebzehn Menschen anmeldete, hörte ich bei der Polizei:  `Was denn, wie geht das?! Das ist doch physisch unmöglich!´ Ich habe sie gefragt: `Und fünfzehn Leute im Zelt in Inguschien – das ist möglich?´ – Hauptsache sie überleben; das sind meine Probleme.“.

eto moi problemi.“

Erzähler:

Kern der Traditionen, die sich so herausgebildet haben, ist die Familie. Sie ist die Stütze des Überlebens – und in der Familie, so Mussa Tumssojew weiter, ist es deren patriarchale Struktur:

O-Ton 8: Mussa Tomssojew                                                     0,50

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Bei uns gilt vor allem das Prinzip des Ältesten. Seine Verwandten sind ihm, sagen wir, direkt untergeordnet.  Er kann Vater, Großvater oder Urgroßvater sein. Er hat praktisch für jede  Entscheidung das Wort der höchsten Autorität. Wenn es um Hilfe geht, dann haben Tanten, Onkel und generell Verwandte auch mitzusprechen. Ich denke, dass die Tschetschenen in den letzten zehn Jahren des Krieges nicht verhungert sind, verdanken sie vor allem diesen familiären Beziehungen. Und in diesem Sinne nicht nur Vater, Mutter, Bruder, Schwester, sondern auch die Onkel und die Onkel zweiten Grades und die weite entfernten Verwandten und alle die ihr Schärflein zur materiellen Existenz beigetragen haben.“

… materialni sosstajannije.“

Erzähler:

Der Zusammenhalt dieser Familie ist nicht an einen Ort gebunden. Entscheidend ist, wo sich der Älteste befindet: Solange er lebt, lebt die Familie. Der Zusammenhang der Familie ist unter allen Umständen zu wahren und zu verteidigen. Aus der Sicht eines jungen Mannes, der als Vorstand einer tschetschenischen Flüchtlingsgruppe in Tatarstan lebt, sind schon die Tschetschenen, die sich in die Moskauer Duma haben wählen lassen, keine Tschetschenen mehr. Sie sind für ihn Abtrünnige, Verräter:

O-Ton 9: Vorstand von Nabereschnye Tschelni                  0,50

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Tschetschenen – die töten, wenn ein Feind kommt, mit der Waffe in der Hand ihre Kinder, Vater, Sohn, Mutter. Niemals werden sie mit dem Feind zusammenarbeiten. Das gibt es bei uns nicht. Wir haben bis heute die Blutrache. Bringt man meinen Bruder um, muss ich die Schuldigen töten. – Dieser Krieg werde niemals aufhören, meinen Leute vom Typ Schirinowskis – recht hat er: Man muss schon alle Tschetschenen vernichten, bevor es Ruhe in Russland gibt. Solange der letzte Tschetschene noch nicht getötet ist, wird der Krieg nicht enden. Wenn sie nicht nur Dudajew, Chattab, Bassajew und andere, vielleicht ein Dutzend Leute der Führung umbringen, sondern das ganze Land niedermachen,  wenn sie Dörfer, Bezirkszentren, Städte, tausende und abertausende Frauen, Kinder und Alte vernichten, wie kann es da Freundschaft mit Russland geben? Nicht einmal reden kann man darüber!“

… bytj ne moschet.“

Erzähler:

Da ist sie, die andere Seite der Archaik, wie sie auch von einem Europäer oder europäischen Russen nicht schärfer gezeichnet werden könnte. Mussa Tumssojew, mit dieser Aussage konfrontiert, bestätigt, dass diese Sitten im Allgemeinen bis heute gültig seien. Nicht alle seien damit ganz glücklich, auch er selbst nicht; das Bild vom „wilden Tschetschenen“ aber weist er, höflich doch deutlich, zurück:

O-Ton 10: Mussa Tumssojew                                                    0.45

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Pri swem wot eta…

„Bei aller Wildheit, die man uns zuschreibt, ist es doch so: Angesichts des Nicht-Vorhandenseins von Staat, sowohl auf russischer als auch auf tschetschenischer Seite, nicht einmal gerechnet die dauernden Umsturzversuche, leben unsere Bürger heute unter Bedingungen, dass sie sich selbst schützen müssen. Unter diesen Umständen  haben diese Einrichtungen, einschließlich jener der Blutrache, des Prinzips der Ältesten und andere doch eine wesentliche Funktion dafür, dass, sagen wir, das Verbrechen keinen massenhaften Charakter annimmt, denn mögliche Banden, die etwas Kriminelles planen, müssen gewärtig sein, dass daraus eventuelle ein Gegenschlag erfolgt.“

…atwjetni udar.“

Erzähler:

Nicht die angebliche Wildheit habe den Terrorismus hervorgebracht, fährt Mussa Tumssojew fort, und nicht der Terror den Krieg, sondern der Krieg den Terror und die angebliche Wildheit sei möglicherweise gerade das, was seinem Volk das Überleben ermögliche:

O-Ton 11: Mussa Tumssojew                                                     1,40

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja schitaju schto…

Ich glaube, dass gerade diese Gebräuche und Traditionen  positiven Charakter tragen; sie sind nicht negativ und sie sind keine Bremse für eine progressive Entwicklung der tschetschenischen Gesellschaft; in keiner Weise, absolut nicht. Traditionen, die man im Westen wilde nennt, würden dort, im Westen vielleicht die Entwicklung behindern, für uns stimmt das überhaupt nicht. – Was ich jetzt sage, mag für einen Europäer vielleicht ein bisschen beleidigend sein, aber unsere Wildheit führt jedenfalls nicht zu dieser Eingeschlechtlichkeit, nicht zu dieser, sagen wir, Progressivität, dieser Duldsamkeit, mit der die Europäer heute Homosexuelle und was weiß ich alles tolerieren – und bestenfalls darüber lächeln. Wir können darüber nicht lachen – das ist für uns Wildheit! Wie kann so etwas sein?! Also, wir sehen bei den Europäern unsererseits so viel Wildheit! Deshalb gefällt mir, deshalb gefällt uns allen unser Konservativismus und unsere Wildheit, die uns helfen, eine normale Familie zu haben, in der ein Mann ein Mann ist und eine Frau eine Frau, in der die Kinder sich den Eltern unterordnen, deshalb gefallen uns Eltern, die ihre Kinder in den Schlaf singen, alles aus ihnen machen und nicht solche, in der die Kinder die Eltern am Ende aufgeben. Warum verbringen die Tschetschenen auch als Erwachsene ihre Zeit mit den Eltern? Warum gibt es die verlassenen Häuser bei uns nicht? Warum gibt es bei uns kaum obdachlose Kinder? Warum? Wie soll man das einem Europäer erklären?!“

…kak objasnjat ewropezem?“

Erzähler:

Schwer, dies einem Europäer zu erklären, schon gar, wenn der Wert der Toleranz dabei in Frage gestellt wird. Mit „Europäer“ sind in diesem Falle auch die Russen gemeint, deren Beziehungen zwischen Vater und Sohn, zwischen Männern und Frauen Mussa Tumssojew als für sich unverständlich beschreibt.

So steht man sich in einer Weise fremd gegenüber, welche die russische Psychologin Irene Brezna in einem Aufsatz über die Agressionen zwischen vaterdominanter tschetschenischer und mutterdominanter russischer Gesellschaft zu der Feststellung führt, der russische Sohn, der russische Mann sei dazu verdammt, sich immer wieder mit Gewalt aus der übergroßen Abhängigkeit von der Mutter zu befreien, ein unterwürfiger Mutterkult bringe die Aggression gegen die Mutter, die Famile als andere Seite der Medaille krass hervor, während die tschetschenische Familie ihre Söhne, ihre Kinder von vornherein frei lasse und so den Wert der Familie erhalte. Schon in der Sprache zeige sich dieser Unterschied.

Frau Brezna scheut sich nicht sehr deutlich zu werden:

Zitatorin: Irena Brezna

„Das häufigste Schimpfwort, das wie ein Refrain die Sprache des russischen Sohnes über alle Schichten hinweg durchzieht, spricht für sich – job tvoju matj, fick deine Mutter. Bei jeder kleinsten Alltagsverärgerung wird die Mutter geschändet, was wohl Erleichterung verschaffen soll, eine Art Emanzipation des Sohnes heraufbeschwört. Grobes Fluchen heißt auf Russisch mat, meteritsa, materschtschina, es stammt von matj, die Mutter ab, an die es unzertrennlich gekoppelt ist. Im vaterdominanten Kaukasus ist mat dermaßen tabu, dass die russischen Soldaten, die in jedem Satz die Ausdrücke automatisch gebrauchen, wegen dieser schlimmsten Ehrenverletzung von den Tschetschenen umgebracht werden können. Die russisch-kaukasische Grenze ist auch diese sprachliche.“

Erzähler:

Und Frau Brezna ergänzt noch:

Zitatorin: Irene Brezna

„Es erscheint mir nicht abwegig, neben den geostrategischen Interessen auch den Neid als Faktor im Feldzug gegen den Nordkaukasus anzuführen – den Neid des im geistigen Inzest lebenden russischen Sohnes auf eine Kultur, die die Loslösung von der Mutter als Vorbedingung für die Menschwerdung fordert. Die räumliche und die geistige Distanz zwischen Menschen ist zwar bei den Tschetschenen vor allem vom Geschlecht bestimmt und ihre Form durch die Gebräuche streng vorgegeben, aber das Recht auf Abgrenzung ist grundlegend für ihren Begriff der menschlichen Würde und Existenz überhaupt.“

Erzähler:

Neid könnte auch in einer anderen Frage noch Triebfeder des Hasses sein, der sich zur Zeit in Tschetschenien austobt: Ähnlich wie bei den Juden haben sich auch aus der tschetschenischen Diaspora Umtriebigkeit und aktiver Händlergeist als besondere Fähigkeiten des tschetschenischen Volkes herausgebildet, die den Tschetschenen schon zur Sowjetzeit einen Sonderstatus eintrugen.

Mussa Tumssojew charakterisiert diesen Zug mit den Worten:

O-Ton 12: Mussa Tumssojew                                                          1,35

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Tschitaetsja otschen…

„Für die Tschetschenen ist es eine Schande, wenn sie dir nichts auf den Tisch stellen können. Aber das muss man natürlich irgendwie verdienen. In der sowjetischen Zeit war Saisonarbeit in Tschetschenien daher sehr weit entwickelt: Man hatte seinen staatlichen Arbeitsplatz, im Urlaub oder an freien Tagen fuhr man nach Kasachstan oder nach Russland und arbeitete noch da oder dort. Vor allem im Sommer wenn der Bau im Gange ist. Kann man sich so ein Volk vorstellen? Angesichts dessen, was in letzter Zeit geschehen ist und dessen was man so spricht, scheint es paradox, aber die Tschetschenen sind ist ein außerordentlich arbeitsames Volk. Auch gerade weil sie in diesen Mängeln leben. Sie sind sehr mobil. Für sie sind Grenzen keine Hindernisse. Alles, was irgendwie materiellen Wohlstand bringen könnte, sind sie bereit zu realisieren. In der sowjetischen Zeit haben viele auf diese Weise gearbeitet. Das, was sich heute Kommerz nennt, das Kleine Business, das ist schon lange vorher, noch in der sowjetischen Zeit in Tschetschenien entwickelt gewesen, die Korporativ-Bewegung hat unter den Tschetschenen eine sehr starke Unterstützung gefunden. Als es dann entsprechende Gesetze gab, haben die Tschetschenen zweifellos versucht, ihr Kapital zu vergrößern.“

… naschit swoi kapital.“

Erzähler:

Ja, bestätigt Mussa Tumssojew dann, für diese Sonderrolle würden die Tschetschenen heute abgestraft. Der weit verbreiteten Verbitterung über die russische Krise werde  durch ihre Verfolgung ein Ventil gegeben:

O-Ton  13:  Mussa Tumssojew                                                0,30

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Nu obsche u nas….

„Generell heißt es bei uns, dass wir alle fünfzehn Jahre bestraft werden – fünfzehn Jahre Widerwärtigkeiten, dann fünfzehn Jahre Rückkehr zu uns selbst. Fünfzehn Jahre wird etwas hervorgebracht, aber kaum stehen wir wieder auf den eigenen Beinen, kaum besitzen wir wieder etwas, dann geht es wieder von vorne los.“

…konfliktnaja situatia.“

Erzähler:

Hiermit enden die Parallelen zwischen Tschetschenen und Juden allerdings. Anders als die Juden, so Mussa Tumssojew, haben die Tschetschenen keine geschriebene Geschichte, keine kulturelle Kontinuität, keine Stabilität einer politischen oder staatlichen Entwicklung. Seine Betrachtung dieser Unterschiede endet in dem Seufzer:

O-Ton 14: Mussa Tomssojew                                                0,50

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Dwe tisatschi ljet…

„Die Juden hatten zweitausend Jahre lang keinen  Staat und hatten ihn doch. Sie überlebten intellektuell. Wir versuchen es leider durch Stärke. Wir glauben, dass wir stark sind, sogar stärker als die Starken, obwohl es nötig wäre, sich gerade davor zu fürchten. Die andere Seite der Stärke ist ja die Kurzfristigkeit ihrer Effekte, während intellektuelle Kraft auf Dauer wirkt. Aber es scheint, dass uns Tschetschenen diese kurzfristigen Heldentaten besser gefallen, die kurzfristigen Demonstrationen von Stärke, obwohl ich immer sage, wenn es uns gelingen soll zu siegen, einen Staat aufzubauen, dann nicht nur durch Stärke; Stärke, Kraft, Gewalt kann nicht das wichtigste Mittel zur Lösung unserer Fragen sein.“

… naschewa wapros.“

Erzähler:

In diesem Gedanken liegt für Mussa Tumssojew auch die Lösung der tschetschenischen Krise, selbst wenn er sich schwer tut, daran zu glauben:

O-Ton 15: Mussa Tomssojew                                                0,50

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

Seufzer; „Tut…

„Da ist es sehr schwer, Rezepte zu geben. Es gibt ja sehr unterschiedliche Phasen des Konfliktes, der sich verändert, der sich verengt hat; es gibt die persönlichen Konstellationen: Dudajew/Jelzin, Maschadow/Putin, Bassajew und andere. Jede Seite führt den Kampf irgendwie mit eigenen Vorstellungen. Nur eins ist sicher: Auf tschetschenischer Seite wird immer wieder erklärt, dass es sich um einen Kampf für die Unabhängigkeit handelt; die andere Seite behauptet immer wieder, dass sie den Krieg für die Unversehrheit ganz Russlands führe. Das heißt, wir kommen dahin, ungeachtet einer reihe von Banditen und Terroristen auf beiden Seiten, dass es letztlich sehr wohl um den Status der Republik geht. Das kann man kaum in Frage stellen. Da man den letzten Krieg aber nun einmal unter der Losung des internationalen Terrorismus begonnen hat, kann man nicht damit enden, das ganze Volk umzubringen: Wenn die russische Seite die Unterstützung des Volkes haben will, um mit ihm zu siegen, dann muss sie erklären und zeigen, dass sie bereit ist, den Krieg auch tatsächlich ausschließlich gegen Banditen und Terroristen zu führen und dass die Frage der Unabhängigkeit für die Bevölkerung entschieden werde, wenn sie bereit sei, die russische Regierung im Kampf gegen die Terroristen zu unterstützen. Man muss das Recht der Tschetschenen auf Unabhängigkeit deklarieren, dann kann man den Teil des Volkes gewinnen, der auf dieser Seite steht. Diese Frage kann man über ein Referendum entscheiden.

…referendum.“

Erzähler:

Frieden werde es nur geben, wenn öffentlich erklärt werde, dass die Frage der Unabhängigkeit entschieden werde und wenn Verhandlungen geführt würden.  Der jetzige Präsident Aslan Maschadow müsse nicht unbedingt auch der zukünftige sein, aber er sei nun einmal der gewählte, gesetzliche Präsident, mit dem jetzt verhandelt werden müsse. Alles andere könne dann schon Sache von Verhandlungen sein.

Dies ist die Stimme der Vernunft, aber ob sie gehört wird, hängt nicht allein von der Einsicht solcher Menschen wie Mussa Tumssojew ab, ebenso wenig allein vom Willen der Völker Russlands, sondern auch vom internationalen politischen Klima. Ein Ende des Mordens wird es erst gefunden werden können, wenn auch die internationale Gemeinschaft imstande ist, ein Volk wieder als Volk und nicht nur als Ansammlung von Banditen und den Kampf um Selbstbestimmung wieder als legitim statt als bloßen Terrorismus zu erkennen .

In Putins Russland kein Platz mehr für Rechte?

Besetzung:

Sprecher, Übersetzer,  Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung mit Betonungsangabe wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:

Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen (in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

18 O-Töne – in zwei Einheiten nacheineinander (A und B) zum Verblenden auf dem Band

Bitte die Schlüsse der O-Töne weich abblenden

Den O-Ton B 2 (kirchlicher Gesang) sollten Sie, bitte, einmal vorher durchhören, bevor Sie die Kommentare setzen. Danke.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

Länge: 29 977 Zeichen

In Putins Russland

kein Platz mehr für Rechte?

A 1 – O-Ton: Platz, Ansagen durchs Megafon                        1.55.17

Regie: Athmo kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:

Moskau, Versammlung vor dem so genannten „Weißen Haus“. Hier hat Russlands jüngere Geschichte ihre Gedenkstätte. Der „Tag der Demokratie“ wird hier alljährlich begangen. Er gilt dem Gedenken an die Verhinderung des konservativen Putschversuches vom August 1991, die Boris Jelzin an die Macht brachte. Er gilt auch de Erinnerung an den Sündenfall der russischen Demokraten zwei Jahre später, als Boris Jelzin die Duma in eben demselben Haus zusammenschießen ließ. Mehrere provisorische Altäre, immer mit frischen Schleifen behängt, mahnen an die Opfer beider Ereignisse, die sich hier vermischen. Heute geht es um die zehnte Wiederkehr des demokratischen Aufbruchs. Aufgerufen hat die „Union rechter Kräfte“, die Vereinigung derer, sich immer noch Demokraten nennen, obwohl im Volksmund aus Demokraten längst „Dermokraten“ geworden sind.

Der Zulauf ist spärlich. Dreihundert, vielleicht vierhundert Menschen treffen sich auf dem weitläufigen Gelände. Einzelne, schon etwas vergilbte Porträts von Boris Jelzin tauchen auf, ebenso nicht mehr ganz frische Bilder der jungen Männer, die hier den Tod fanden. Die Erinnerungen sind längst zu Floskeln geronnen:

…Megafon

B 1 – O-Ton: Gruppe von Männern und Frauen                                      30.19

Regie: Verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:

„A sewodnja…

Einen Feststag will dieser Mann begehen. „Die Revolution feiern“, fügt er hinzu. „Uns erholen“, meint die Frau, „damals hatten wir Angst, es war alles so schwer; jetzt ist es besser, besonders Putin, der Präsident. Das Volk hat sich beruhigt, ist normal geworden, er auch. Warum soll es für das Volk auch immer schlecht sein?“

… malawata potschemu ta.“

Erzähler:

Auch jüngere Leute haben sich eingefunden:

A 2 – O-Ton: Musik, Junge Leute vor dem „Weißen Haus“ 60.21

Regie: Verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:

„A sdjes proischodit

„Eine Feier für die Erneuerung der russischen Flagge wird hier begangen“, antwortet ein Jugendlicher auf die Frage, warum er und seine Freunde hierher gekommen seien. „Erinnerung ist wichtig“, meint ein anderer. Die Schule kann noch keine Fakten bringen, dort wird die Liebe zu Russland gelehrt.“ Ganz einig ist man sich aber nicht: „Jelzin brachte Demokratie“, meint ein Mädchen. „Anfangs ja, jetzt schon nicht mehr“, widerspricht ein Junge. Aber jeder könne doch frei entscheiden hier zu sein, wirft ein weiterer ein. „Putin ist in Ordnung; er ist ein guter Mann.“ Das finden sie alle, auch wenn Macht, ergänzt einer, immer irgendwie schlecht sei.

…dastatitschna charoschi.“

Erzähler:

Auch ein paar jugendlicher Glatzköpfe sind erschienen. Sie geben zunächst dasselbe Motiv für ihre Anwesenheit an wie die Altersgenossen um sie herum, allerdings einen Ton aggressiver:

A 3 – O-Ton: Skins                                                                19.32

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Erzähler:

Platzgeräusche, „Eta snaminatelnaja Data…

„Das ist ein wichtiges Datum unserer Geschichte: Da sind all diese überflüssigen Leute verschwunden, die Kommunisten usw. Jelzin kam an die Macht und mit ihm die Demokratie. Das ist ein Feststag für unser Land.“

..stranje iskatj.“

Erzähler:

Von Wladimir Putin allerdings halten sie nichts: Der sei doch halber Kommunist und führe keine anständigen, wie sie sagen, „nationalen“ Reformen durch. Gefragt, was sie unter „nationalen Reformen“ verstehen, antworten sie:

A 4 – O-Ton : Skins, Forts.                                                   32,24

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu takowa tschelowjek…

„Nun einen solchen Menschen mit nationalistischen Ansichten gibt es zurzeit nicht, der unser Land von all diesen Nicht-Russen säubern würde, den Tschetschenen usw. Aber wir sind National; wir lesen viel Nationales. Bald werden die Skins hier an der Macht sein. Dann wird alles gesäubert, dann gibt es hier nur noch die weiße Welt.“

tolka bjeli mir.“

A 5 – O-Ton: Skins Forts.                                                     1.20.39

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischen Übersetzer und Erzähler vorübergehend hochziehen, wieder unterlegen und am Schluss verblenden

Erzähler:

Zu dem Treffen der Demokraten kommen sie, “weil das hier“, sagen sie, „so oder so ihr Fest“ sei, ein Fest Russlands. In letzter Zeit seien sehr viele Skin-Gruppen in Moskau und in Russland entstanden, erzählen sie. Viele Zeitungen gebe es, viele Aktionen. „Zu Führers Geburtstag““, sagt einer. „gab´s eine Aktion gegen Nicht-Russen, die haben wir auf dem Markt platt gemacht. Bei uns läuft zurzeit alles ganz gut. Es gibt tausende von uns. In Moskau, außerhalb, egal, überall trifft man uns heute.“

Regie: Vorübergehend hochziehen

Erzähler:

„Heute begreifen viele, dass unser Land Patrioten braucht und sie werden zu Skins“, fährt der Glatzkopf fort. Sein Nebenmann ergänzt:  „Wir kämpfen gegen diese ganzen Antifaschisten, Kommunisten, Nicht-Russen, auch gegen Skins, die es mit den Kommunisten halten.“ Wie? „Nun, mit dem den einfachsten Mittel“, grinsen sie und zeigen die Fäuste.

… borimsja.“

B 2 – O-Ton: Klerikale Gesangsgruppe                                     2.21.14

Regie: Verblenden mit O-Ton 6, unterlegen, allmählich kommen lassen, verschiedentlich zwischen den Kommentaren hochziehen, am Schluss verblenden

Erzähler:

Gesang….

Noch sind diese Worte nicht verklungen, da zieht eine Gruppe in farbigen klerikalen Gewändern auf den Platz. Sie wirbt zwar nicht mit den Fäusten, aber ebenso eindrücklich für Patriotismus:

Regie: Zwischendurch hochziehen:

Erzähler:

„Oh, heiliges Russland!“ „Oh, goldenes Russland!“ „Oh, rechtgläubiges Russland!“ ruft der Vorsänger. „Oh, heiliges Russland! Oh, rechtgläubiges Russland! Oh, gesegnetes Russland!“ wiederholt der Chor.

Regie: Zwischendurch hochziehen

Und auch im Folgenden immer wieder hochziehen

Erzähler:

Die Gespräche auf dem Platz ersterben. Die Menschen bestaunen den malerischen Auftritt und lauschen gebannt, wie ein Hochruf dem anderen folgt:

„Heil der Zarin des Reiches!“ ruft der Solist.

„Heil! Heil! Heil!“ antwortet der Chor.

„Heil der Wiedergeburt von Russlands Größe am Weißen Hause im August 91!“ – wieder: „Heil! Heil! Heil!“

Weitere Sprüche sind:

„Heil der Mutter unseres Herrn!“

„Heil der Mutter des neuen heiligen Russland!“

„Heil unserer ewigen Unbezwinglichkeit!“

„Heil der Mutter der neuen Menschheit!“

Regie: Zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Der Gesang beschwört wieder und wieder:

„Oh, Russlands, das herrschende! Oh, russisches Reich!

….Gesang

Regie: Unter dem Erzähler verblenden

Erzähler:

Gut eine halbe Stunde dauert die Vorführung. Niemand schreitet ein. Im Gegenteil, der Platz füllt sich mit Neugierigen. Ein Mann mittleren Alters meint:

A 6 –  O-Ton: Mann                                                              50.36

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:

„Dlja menja

„Für mich ist das neu. Das hätte ich gar nicht für möglich gehalten. Das findet ja sonst in der Kirche statt. Ich finde das angenehm. Ich sehe junge, ehrliche Menschen, die eine neue Spiritualität haben. Und sie haben viel Leute angezogen. Es scheint, als ob die Kirche sich jetzt auch wandelt: Man geht ins Volk, man bezeugt Gott so wie es sein soll. Das spricht sogar junge Leute an, die hier stehen geblieben sind. Die Kirche wird der neue Rahmen für Russland. Das ist sehr gut. Gebe Gott, dass sich das weiter entwickelt. Ich sympathisiere damit. Das ist sehr gut.“

otschen charascho

Erzähler:

In einer Gruppe von Passantinnen erklärt eine Frau:

A 7 – O-Ton: Passantin                                                            57.29

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen, unter Erzähler allmählich abblenden, unterlegen

Übersetzerin:

Na skolka ja ponila

„Soweit ich verstehe ist das eine Sekte von Altgläubigen. Da ich nicht in die Kirche gehe, liegt mir das fern, aber die Kostüme haben mir gefallen.“

Erzähler:

Der Nationalismus der Gruppe stört sie nicht, ebenso wenig wie den Mann vor ihr. „Wieso? Russland ist nun mal ein Imperium!“, meint sie. Auch wenn es jetzt eine Demokratie sei und manche Schwäche habe, so bleibe es doch ein großes Reich. „Es ist ein riesiges Land“, erklärt die Frau, ,,und ein riesiges Potential, in dem kluge und nachdenkliche Menschen Leben.“ Es scheine wohl so, lacht sie dann, dass sie eine Patriotin sei.

…swoij strani.“

Erzähler:

Damit gibt sie die Stimmung wieder, die den Platz erfasst hat –Bekenntnisse zur Demokratie als patriotische Nostalgie! Die Veranstalter zeigen sich wenig beunruhigt. Die Gruppe sei nicht eingeladen worden, ist auf Nachfragen von einem der Organisatoren zu erfahren, öffentlich aber distanziert man sich nicht.

Nur einer aus der Reihe der vielen Redner und Rednerinnen findet kritische Worte. Es ist Jefgeni Proschtschetschin. Er ist ebenfalls Mitglied der „Union rechter Kräfte“, aber als Vorsitzender des „Moskauer Antifaschistischen Komitees“ und  als Abgeordneter der Moskauer Stadt-Duma von 1995 bis 1999,  wo er den Vorsitz über die „Kommission gegen Extremismus“ führte, steht er den patriotischen Tendenzen seiner eigenen Partei kritisch gegenüber. Der nostalgischen Stimmung angepasst, aber mahnend erklärt er daher:

A 8 – O-Ton: Jewgeni Proschtschetschin                             2.00.05,

Chef des Moskauer antifaschistischen Zentrums

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Daragije drusja

„Liebe Freunde! Russische Bürger, die ihr hierher gekommen seid! Wir alle sind glückliche Menschen, ungeachtet der Mühen unseres schwierigen Lebens. Wieso sind wir glücklich? Weil wir einen der dramatischsten Augenblicke der Geschichte erleben durften. Wir sahen das, was die unsere Nachkommen einst die große Augustrevolution nennen werden. Und wir haben sie mit eigenen Händen bewirkt. Aber ich möchte doch etwas anmerken: Einer meiner Vorredner schwärmte eben davon, wie gut es sei, dass die früheren Putschisten heute die Duma akzeptieren. Ich möchte doch aus Erfahrung sagen, dass wir heute noch nicht so weit sind, dass das ganze Volk, milde gesagt, einheitlich hinter einem neuen Russland, hinter der Demokratie stünde. Ja, zwar arbeiten frühere Putschisten heute in der Duma, zwar leitet Herr Lukianow zum Beispiel die Gesetzgebende Versammlung, aber die Duma hat es immer noch nicht geschafft, die ihr vorliegenden antifaschistische Gesetze zu beschließen. Das weiß ich genau, denn ich habe die Entwürfe ausgearbeitet. Wir sind noch weit von demokratischen Verhältnissen entfernt; das wird noch hundert Jahre dauern. Demokratie und Patriotismus sind nicht dasselbe! Da muss man nicht naiv sein! Allerdings, auch wenn wir jetzt wenige sind, ist das nichts Schlimmes: Ein Großer Fluss beginnt mit kleinen Rinnsalen und der steter Tropfen höhlt den Stein. Und wir werden uns hier immer wieder versammeln, damit Russland sich Schritt für Schritt, unter Schwierigkeiten, unter Widerständen, trotz allem der Demokratie nähert.“

….prodwigalis.“

Erzähler:

Jefgeni Proschtschetschin weiß, wovon er spricht. Seit Mitte der achtziger  – damals noch als Dissident unter marginalisierten Bedingungen und elenden Lebensumständen – hat er sich dem Kampf gegen Faschismus und Extremismus in Russland verschrieben. Er gründete das „Antifaschistische Komitee Moskau“, für das er seit 1995 in die städtische Duma einzog, wo er die „Kommission zur Überwachung von Extremismus“ leitete. Mehr als eine Handvoll dickleibige Broschüren gab die Kommission in den Jahren von 1996 bis 1999 heraus, in denen sämtliche rechten und nationalistischen Gruppen aufgelistet wurden, die Ende der 80er und Anfang der neunziger wie Pilze aus dem Boden sprossen. Über 30 Gruppierungen zählt der erste Bericht von 1995 auf. Die größte davon war die militante „Russische nationale Einheit“, RNE des Alexander Barkaschow. Sie selbst gab ihre Mitgliederzahlen mit 100.000 an, Das Komitee schätzte sie auf 10.000. Zu den Dumawahlen 1999 wollte sich die RNE unter dem Namen „Spas“ Rettung sogar an den Wahlen beteiligen, was ihr in letzter Minute aus formalen Gründen untersagt wurde. Im letzten Bericht, den die Extremismus-Kommission 1999 herausbrachte, hatte sich die Zahl der Gruppen verdoppelt, was allerdings weniger auf zahlenmäßiges Wachstum, als auf steigende ideologische Tätigkeit und damit Differenzierung zwischen den Gruppen zurückzuführen war. Auch hatte das „Komitee“ sich gezwungen gesehen, der Kirche ein gesondertes Kapitel zu widmen. 1999 verlor Jewgeni Proschtschetschin sein Mandat in der Moskauer Duma. Seitdem hängen nicht nur die von ihm ausgearbeiteten Antifaschistischen Gesetze fest, es erschienen seitdem auch keine weiteren Berichte mehr über die Entwicklung der rechten Szene. Die Situation hat sich seit 1999, das heißt, seit dem Antreten von Wladimir Putin, entschieden geändert. Aber wie –  das zu beschreiben, fällt Jewgeni Proschtschetschin schwer.

So kommt er zu der paradoxen Aussage:

A 9 – O-Ton: Proschtschetschin, Forts.                                      2.12..10

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Tut, otschen sloschni…

„Schwierige Frage: Einerseits hat sich überhaupt nichts geändert – außer der Auswechslung einiger Köpfe der Administration. Es ist so eine Stagnation, so eine Flaute, nicht wesentlich Neues. Es ist nichts von dem eingetreten, was befürchtet wurde, kein halber Faschismus, nein, nichts dergleichen. Spannungen gibt es natürlich, aber es ist alles langweiliger, flacher geworden, es gibt weniger politische Positionen. Die Duma hat sich in ein Organ verwandelt, das die Entscheidungen der Administration abstempelt. Die Presse wurde stromlinienförmig. Natürlich missfällt mir sehr die Wieder-Einführung der stalinschen, breschnewschen Hymne. Sehr missfallen hat mir das Getue rund um den verschlossenen Wagen des nord-koreanischen Diktators, für dessen Sonderzug man die Menschen vom Bahnhof gejagt hat. So etwas hat es noch nie gegeben. Weiter die große Anzahl der KGBler und FSBler, also von  Geheimdienstlern im Regierungsapparat. Das ist alles sehr spannungsträchtig und unangenehm. Außerdem der endlose Krieg in Tschetschenien. Positiv ist allein, dass nach der Krise von 1998 die Menschen mehr einheimische Produkte kaufen. Die hohen Preise für Öl und Nickel geben uns eine Basis. Das macht die Hälfte des russischen Budgets aus. Darauf kann er soziale Probleme ein bisschen ausgleichen. Der Bevölkerung gefällt natürlich, dass der alte Jelzin weg ist; der war verbraucht. Der Neue ist jung, er kämpft, er ist für Ordnung, er greift hart durch. Deshalb herrscht jetzt diese politische Stille, dieser Stau. Was geschieht, wenn die Preise plötzlich fallen, das weiß niemand. Wir sind gegen nichts versichert! Der Stau Putins kann nicht ewig dauern, aber es gibt viele, denen das gefällt.“

… kamu to nrawitsja.“

Erzähler:

Unter diesen Umständen, so Jefgeni weiter, habe sich auch die extreme Rechte sehr verändert:

A 10 – O-Ton: Proschtschetschin, Fortsetzung                           1.24.14

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Tosche apjat otschen…

„Das ist auch wieder erstaunlich: Praktisch – obwohl das schon mehr bei Jelzin geschehen ist als bei Putin – ist die mächtige neo-faschistische Bewegung RNE zusammengebrochen. In den letzten zwei, drei Jahren hört man von ihr fast nichts. Es gab eine Spaltung, an der ich nicht unbeteiligt war, natürlich indirekt. Wir initiierten damals eine Austrittsbewegung aus der RNE, eine Organisation von jugendlichen Barkaschowzis, ziemlich viele. Sie eröffneten ihren eigenen Sowjet, dann gaben sie eine eigene Zeitung heraus, traten in dem Medien auf usw. Es gab Konflikte, die Spaltung, 1998, und sie schlossen Barkaschow selbst aus. Er nannte seine Gruppe von da an, Gardia Barkaschowa, die Wache Barkaschows. Sie beschäftigten sich mit inneren Auseinandersetzungen. Nach der Wahl 1999 wurde es dann ganz still: Vor vier Jahren, war ganz Moskau mit Klebezetteln der RNE, 1999 auch noch mit denen der SPAS, überschwemmt, Barkaschowzis standen Wache, sie traten auf; jetzt gibt es praktisch keine. Das ist gut. Das ist die eine Seite.“

odnoje stranje.“

Erzähler:

Auf der anderen Seite, so Jewgeni Proschtschetschin weiter,  gebe es aber auch sehr belastende Symptome:

A 11 – O-Ton: Proschtschetschin, Forts.                             40.23

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu,  drogoi stranje jest…

„So wächst in letzter Zeit die Xenophobie, die Fremdenfeindlichkeit gewaltig an, und allen voran leider hier in unserem Moskau, in unserer Hauptstadt. Es wirken die Gesetze Bürgermeister Luschkows, diese idiotischen Registrationen und Kontrollen, gegen die ich seinerzeit gestimmt habe. Die teilen die Menschen auf in weiße und dunkle, unterscheiden sie nach der Nase. Das ist für eine zivilisierte Gesellschaft natürlich überhaupt nicht akzeptabel. So fängt man keinen Terroristen und ängstigt auch keinen Verbrecher. Das ist nur zusätzliches Taschengeld für die Miliz, die sich schmieren lässt, verlorenes Geld.“

…otrisannije dengi.“

Erzähler:

Schon unter Jelzin sei antifaschistische Arbeit kein Vergnügen gewesen, fährt Jewgeni Proschtschetschin fort; immerhin aber sei die Duma-Kommission, sei selbst das „Komitee“ zu Anhörungen gerufen worden. Jetzt aber habe sich das Blatt vollkommen gewendet:

A 12 – O-Ton: Proschtschetschin, Forts.                              1.29.20

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Satrudnik organisatii…

„So berichtet ein Mitarbeiter unserer Organisation aus der Duma – wo er inkognito tätig ist – dass dort eine ganze Reihe von Abgeordneten die Fraktion der Schirinowski-Partei, ebenso wie die der kommunistischen Partei benutzen, um über deren Wege kostenlos Containerweise Literatur zu verteilen. Sie vertreiben sie über ganz Russland, wesentlich in Armeeabteilungen. Kürzlich ging eine riesige Sendung zu Truppen in Tadschikistan. Es handelt sich um antisemitische, nationalistische und faschistische Schriften, fragwürdige Literatur, natürlich Schriften des klassischen Faschismus vom Typ der so genannten „Protokolle der Weisen von Zion“, „Mein Kampf“ in russischer Sprache usw. Außerdem verkauft man sehr viele faschistische Lieder, Videokassetten, rassistische und faschistische Propagandafilme, auch künstlerischer Art wie „Jud süß“ – das alles wird praktisch ohne Einschränkung und straflos verteilt oder verkauft. Diesen Mist zu vertreiben ist leider profitabel geworden.  Früher musste man das ohne Gewinn abgeben, heute nimmt diese Literatur einen ökonomischen Platz ein. Die Menschen bezahlen für dieses fragwürdige Vergnügen. Das ist eine sehr schlechte, beunruhigende Tendenz.

…triwolschnaja tendenzia.“

Erzähler:

Leider, so Jefgeni Proschtschtschin mit einem Seitenblick auf den patriotischen Auftritt der klerikalen Gruppe vor dem „Weißem Haus“ hätten sich auch in der Kirche die nationalistischen Tendenzen verstärkt:

A 13 – O-Ton: Kirche                                                            1.50.22

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu, russkaja prawaslawnaja…

„Schon generell ist die russische orthodoxe Kirche Reformen sehr leider feindlich gesinnt: Ihre negative Haltung dem Papst gegenüber, ihre Feindschaft zu Kiew. Überdies genießen sie große Unterstützung von Seiten des Staates; unter Putin noch mehr als vorher. Das ist wieder diese Einheit von Staat und Kirche, anders als im Westen, wo Religion unabhängig ist. Und trotzdem hat man noch Angst vor Konkurrenz anderer Religionen, die man mit allen Mitteln zu übervorteilen trachtet. So entstehen große Widersprüche zwischen dem Anspruch der Kirche auf Heiligkeit und ihrer Unterstützung durch Geld, Polizei, den Apparat. Der Klerus macht dunkle Geschäfte mit Alkohol und Tabak. Die Leute geben Geld für gute Zwecke, aber keiner weiß wohin es geht. Auch innerhalb der Kirche gibt keine Reformen: Die Kirchensprache ist immer noch Altslawisch, was praktisch niemand versteht.  – Das alles schafft keine Autorität; das schafft keinen neuen Glauben – es bleibt ein ideologisches Vakuum. Deshalb kann jede beliebige extremistische Ideologie diesen Platz ausfüllen. Die Ideologie hat sich nach dem Ende der Sowjetunion ja keineswegs gleich der Orthodoxie zugewandt. Keineswegs! Die Menschen wissen nichts davon! Viele haben ihre eigenen Vorstellungen, glauben an Zauberer und Hexen, Das ist extrem gefährlich, weil extreme, marginale Ideologien äußerst schnell und sehr  massenhafte Verbreitung finden können, extrem gefährlich.“

…krainje apasna.“

Erzähler:

Zwei Linien lassen sich, so Jefgeni Proschtschtschin, vor dem Hintergrund dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in der Rechten beobachten: Die eine zeige sich in den Skins, die neuerdings durch Moskau und andere Städte marodierten. Sie nehmen die fremdenfeindlichen Parolen Juri Luschkows, Wladimir Putins, des tschetschenischen Krieges und einzelner Gouverneure zum Anlass, über nicht-russische Minderheiten herzufallen. Von der Miliz werden sie als „Fußballfans“ heruntergespielt. Passanten berichten nach solchen Überfällen aber immer wieder, dass sie Abzeichen der RNE auf den Kutten dieser Fans gesehen haben. Bei einem  der letzten Vorfälle dieser Art überfiel eine Horde von ca. 300 solcher „Fans“ mit Knüppeln und Schlageisen bewaffnet drei Vorortmärkte systematisch nacheinander, wo sie auf die vornehmlich kaukasischen Händler einprügelten. Ergebnis: Zwei Tote und über zwanzig Verletzte. Bei den Überfällen am 20. April wurde ein Tschetschene erstochen.

Die Sprüche, bald werde ganz Russland unter der Herrschaft der Skins stehen, verweist Jefgeni Proschtschtschin ins Reich kranker Gehirne. Für offenen Terror und für offene faschistische Sprüche sei die russische Bevölkerung nach ihren Erfahrungen mit Stalin und Hitler nicht zu haben. Die Gefahr eines neuerlichen Umsturzes will der Chef des Moskauer antifaschistischen Komitees jedoch nicht ausschließen:

A 14 – Ton: Jefgeni. Forts.                                                   52.19

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Jesli, tak skaschim, formje..

„In der Form der Barkaschowzis – natürlich nicht. Aber von Seiten der Gesellschaft, auf Grundlage der Xenophobie, da besteht schon so eine Gefahr. Sie wird kaum die offene Form á la Barkaschow annehmen. Das war ja auch in Deutschland anfangs so, aber dann gab es die Nürnberger Gesetze, dann das, dann das und so ging es Schritt für Schritt in Richtung des Genozids. Im russischen Staat ist prinzipiell alles möglich. Ich würde mich da nicht festlegen wollen. In all den Aspekten der Wirtschaft, der sozialen Probleme, den Arbeitsverhältnissen, in allen Fragen des Extremismus herrscht eben Ruhe vor dem Sturm.“

…tische pjered burje.“

Erzähler:

Die eigentliche Gefahr, so Jefgeni Proschtschtschin weiter, gehe ja nicht von den Militanten, sondern von der anderen Linie aus, von den neuen Rechten, die sich inzwischen ins Establishment integriert hätten, wo sie als ideologischer Impulsgeber der neo-imperialen Renaissance Russlands wirkten. Als exemplarisch dafür nennt er die Karriere Alexander Dugins. Dugin, seinem Selbstverständnis nach „Geopolitiker“, der Russlands Mission darin sieht, Euroasien unter russischer Führung zu vereinen, um die Vorherrschaft der USA zu brechen, galt zu Zeiten der Perestroika als national-bolschewistischer Extremist. Nur ein halbes Jahr nach Antritt Präsident Putins gründete er mit offizieller Unterstützung eine „Euroasiatische Bewegung“. Alexander Dugins aktuelle Rolle skizziert Jefgeni Proschtschtschin mit den Worten:

A 15 – O-Ton: Jefgeni Proschtschtschin, Forts.                     1.30.26

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Nu, ja dumaju…

„Nun ich denke, dass die Lage Dugins ziemlich stabil ist, ziemlich gut für ihn, er ist faktisch zum Teil des Establishments geworden. Kürzlich hat er in der Stadt Rostow seinen Doktor gemacht, es gibt da auch noch einen Boris Reschwik, mit dem er zusammenarbeitet, ein Typ mit rein faschistischer Haltung. Gleichzeitig war er wichtigster Ratgeber für Selesnjow, den Duma-Präsidenten der Kommunistischen Partei. In der Beliebtheitsskala russischer Internetseiten steht Dugin auf dem vierten Platz. Dugin ist also ein Mensch, der stark auf die Gesellschaft einwirkt. Und dass man einen Menschen, der Himmlers SS für eine humanitäre Organisation hält, derart akzeptiert, dass er bei dem Duma-Präsidenten Selesjnow arbeiten kann, dass er einer der Ideologen der „Bewegung Russland“ gewesen ist, , dass man ihn oft ins Fernsehen einlädt, das heißt nur, dass das allgemeine Niveau von Nationalismus und  Fremdenfeindlichkeit soweit angewachsen ist, dass für einen solchen Menschen Nachfrage besteht. Was noch vor zehn Jahren peinlich war auszusprechen, das wird jetzt als wissenschaftliches Modell akzeptiert, das ist sehr schlecht.“

otschen plocha.“

Erzähler:

Im Büro der neu gegründeten „Euroasiatischen Bewegung“ wird sofort klar, was Antifaschisten und Demokraten beunruhigt. Alexander Dugin empfängt nicht mehr, wie noch vor der Wahl Wladimir Putins  im Hinterzimmer eines dubiosen Plattenladens, sondern in einem funkelnagelneuen, computerisierten und nach neuestem Chic durchgestylten Appartement in einem teuren Geschäftshaus. Beim Treffen lässt er sich dieses mal damit entschuldigen, dass er überraschend zu einem Termin ins Ministerium berufen worden sei. Statt seiner empfangen zwei junge Burschen den ausländischen Besucher. Einer stellt sich als Chef der neu gegründeten Zeitung „Euroasien“, der andere als „Koordinator der Bewegung“ vor. Alexander Dugins Chefredakteur war zuvor Chef vom Dienst bei Alexander Prochanow, dem Herausgeber der bekanntesten national-bolschewistischen Zeitung Russlands, „Sawtra“, morgen, bei dem auch Alexander Dugin lange Zeit schrieb. Unter dem Namen „Djen“, der Tag,  stand sie 1993 in vorderster Reihe des Widerstandes, den Boris Jelzin mit Panzern im „Weißen Haus“ zusammenschießen ließ. Jetzt hat der junge Mann vom, wie er sagt „ewiggestrigen Prochanow“ zum „modernen Dugin“ gewechselt, weil der über ein Konzept verfüge, das in der Lage sei, die Gesellschaft tatsächlich zu verändern.

Am weißen Konferenztisch ihres Empfangssaales erläutern die beiden Aktivisten die Erfolge ihrer Bewegung:

A 16 – O-Ton: im Büro der „Euroasiatischen Bewegung“  1.30.24

Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, wieder hochziehen

Übersetzer:

„Dweschennije prosta rastjot…

„Die Bewegung wächst einfach wie auf einer Versteigerung, ständig neue Gruppen, ständig neue Leute aus der intellektuellen Elite. Ein halbes Jahr nach der Gründung haben wir schon in allen Regionen Gruppen. Zweitens wachsen die Initiativen. Da war zunächst der Kongress “Drohung des Islam oder Islam in der Bedrohung?“, der großes öffentliches Interesse fand – in der Presse, im TV, im Internet. Es gab ernsthafte Beratungen mit der Administration.“

Regie: Vorübergehend hochziehen

Erzähler:

„Die islamische Konferenz“, ergänzt der andere junge Mann, haben wir noch aus eigenen Kräften organisiert. Inzwischen gibt es über zehn Vorschläge für weitere Konferenzen zu anderen Themen aus den Regionen. Initiatoren sind schon nicht mehr wir, sondern örtliche Initiativen und Administrationen. Wir werden nur noch um Teilnahme und konzeptionelle Gestaltung gebeten, also dass Alexander Dugin oder Leute seines Vertrauens dort Vorträge halten. Das letzte Beispiel ist eine Konferenz, die wir mit dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche planen. Es geht um die Rolle, die die russisch-orthodoxe Kirche für Russland spielen muss. Das ist auch für den Präsidenten von großer Bedeutung.“

… president.“

Erzähler:

Ein Blick auf den Trägerkreis der Islam-Konferenz macht klar, wie weit Alexander Dugin und seine Leute es bereits gebracht haben: Da stehen die Administration des Präsidenten, die Staatsduma und die Zentrale geistliche Führung des Islam in Russland einträchtig untereinander; als Mitglieder des Organisationskomitees lässt sich neben dem Vorsitzenden der Duma, Selesnjow; neben dem obersten Mufti der russischen Muslims, Scheich ul islam Talgat Tadschuddin und anderen auch der Metropolit der Moskauer orthodoxen Kirche, Kyrill nennen. Wladimir Putin wird als Schutzpatron der Konferenz mit Aussagen zur euroasiatischen Orientierung seiner Politik zitiert. Als Ergebnis präsentierte die Konferenz einen Plan zur Teilung Tschetscheniens, welcher der Administration empfohlen wird. In ihm ist die dort lebende Bevölkerung nur noch imperiale Verschiebemasse.

Letzte Höhepunkte in der Karriere Alexander Dugins sind die Erklärungen, mit denen er sich in Russland und per Internet in die Auseinandersetzung zur Globalisierung einmischt. Er stimmt ihren Kritikern zu und fordert sie auf, sich gemeinsam mit ihm und der „Euroasiatischen Bewegung“ gegen die Führungs-Ansprüche der USA und für eine neue multipolare Welt einzusetzen.

Möglich ist dies vor dem Hintergrund, dass die russische Bevölkerung in den letzten Jahren tatsächlich Opfer neo-liberaler Experimente wurde, dass Russland sich tatsächlich zwischen Asien und Europa definiert, dass Wladimir Putin, anders als zuvor Michail Gorbatschow und auch noch Boris Jelzin, tatsächlich eine Politik zwischen Asien und Europa zu entwickeln versucht. Unter Ausnutzung dieser Tatsachen hat Alexander Dugins Propaganda alle Aussichten, zu einem ideologischen Treibsatz zu werden, in dem der nationalistische Explosivstoff in der berechtigten Kritik an der Globalisierung und dem friedlichen Eintreten für eine gerechtere neue Weltordnung versteckt wird.

Auf den Spuren Attilas – Die Wiederentdeckung eines historischen Mythos. Eine Entdekungsreise mit dem tschuwaschischen Volksschriftsteller Michail Juchma. (Lange Fassung, nicht gesendet))

Vorschlag für eine Programmvorschau:

Attila war der Zertrümmerer Roms. Vor ihm erzitterte Byzanz; er trieb die Germanen vor sich her, die ihrerseits die Völker des heutigen Westeuropa überrannten und erst haltmachten, als die Mauern Roms nicht mehr standen. Kein Limes konnte die Gewalt aufhalten, die da aus den Steppen des Ostens herangestürmt kam, nicht die heldenhaften Burgunder, später bekannt als die Nibelungen, nicht die frühen Franken, welche die Eroberung von Paris durch Attilas Reiter erdulden mußten.
Aber Attila war auch der,  an dem Europa zum erstenmal eine eigene Kontur gewann. Mit der Schlacht auf den katalaunischen Feldern in Südfrankreich im Jahre 451, die Attila weiteres Vordringen nach Westen stoppte, beginnt die eigenständige Geschichte Europas.
Die Reste der hunnischen Scharen ziehen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründen sie das bolgarische Reich. Es erlebt seine größte Blüte am Ende des 7. Jahrhunderts. Nach seiner Zertrümmerung durch die Chasaren, einem weiteren asiatischen Volk, gründet ein Teil der Bolgaren  das donaubolgarische Reich, ein anderer Teil das wolgabolgarische. Beide Reiche werden im dreizehnten Jahrhundert von den Mongolen und den mit ihnen verbündeten Völkern  zerschlagen, die damit ihre eigenen, seßhaft gewordenen Vorfahren überrannten.
Viele Mythen, Legenden und Sagen unserer europäischen Kultur ranken sich um diese Völkerzüge und Kämpfe,. Es ist die Zeit der Helden, die Jugendgeschichte Europas. Es ist die Zeit der Nibelungen, die Zeit der Rache Kriemhilds, welche die Ihren an den Hof Attilas lockt, um sie dort niedermetzeln zu lassen. Die westliche Seite dieser historischen Mythe ist uns allen bekannt. In ihr spielt Attila die Rolle eines Erfüllungsgehilfen für Kriemhild, den Hintergrund für die Heldentaten der Nibelungen. Wer aber kennt ihre östliche Variante?
Ja, es gibt auch eine östliche Variante des Nibelungenliedes. Besser gesagt, es gibt ein östliches Heldenepos, das die Taten  und das Leben Attilas und sein Zusammentreffen mit den Völkern des Westens besingt. Lange Zeit war es so gut wie verloren,  war erst durch die mongolische Eroberung, nach der Zurückdrängung der Mongolen durch Moskau dann durch die russische, später durch die sowjetische, insgesamt durch die westliche Geschichtsschreibung auf die Nachtseite der Geschichte gedrängt. Jetzt, nach dem Ende der Sowjetunion, taucht  – wie so vieles – auch das fast vergessene Epos von Attila wieder auf: Mitten im Herzen Rußlands, am russischsten aller Flüsse, der Wolga, lebt ein Volk in einer autonomen Republik, die nach diesem Volk autonome Tschuwaschische Republik heißt. Dieses Volk, mit ca. 3 Millionen Menschen in der heutigen russischen Föderation seiner Größe nach an dritter Stelle nach den Russen und den Tataren zu nennen, leitet seine Geschichte über die Wolgabolgaren direkt von den Hunnen ab. In diesem Volk wird seit „urdenklichen Zeiten“  das Epos von „Atil und Krimkilte“ erzählt. Es ist eine moralische Geschichte darüber, wie Attila unter seinen aus dem Westen stammenden Gefangenen die schöne Kriemhilde entdeckt, sich in sie verliebt und an ihr zugrunde geht.
Bis  Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieses Epos nur mündlich weitergeben. Im Jahre 1917 wurde es von dem tschuwaschischen Dichter Petraw erstmals aufgeschrieben, jedenfalls ist das die einzige erhaltene schriftliche Fassung. Um die Jahrhundertwende erlebte das tschuwaschische Volk eine kulturelle Renaissance, nachdem es in seiner Identität als eigenständiges Volk erst durch die Mongolen im dreizehnten Jahrhundert, in den folgenden Jahrhunderten durch die russische Ostkolonisation fast ausgelöscht worden war. Wladimir Iljitsch Lenin, der Begründer der Sowjetunion, stammte aus Simbirsk, einer der Kultstätten des tschuwaschischen Volkes. Er war selbst zu einem Drittel Tschuwasche, er unterstützte die Renaissance der tschuwaschischen Selbstständigkeit und versuchte sie solange wie möglich auch gegen Stalins Angriffe zu schützen. Spätestens mit Lenins Tod aber war es auch mit der tschuwaschischen Eigenständigkeit vorbei. Die tschuwaschische Sprache wurde auf die Dörfer verbannt,  das Epos verschwand in privaten Archiven und Truhen.
In einer dieser Truhen entdeckte ich es, als ich 1992 mit dem tschuwaschischen Schriftsteller, Sammler von Legenden und Mythen seines Volkes, Mischa Juchma, in der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik Tscheboksary zusammentraf. Da saßen wir uns unvermittelt gegenüber, ein Nachfolger der Hunnen und ein Nachfolger westlicher Völker, verwundert darüber, daß der eine von der Existenz eines Epos der jeweils anderen Seite bis dahin nichts wußte; Mischa Juchma kannte die Nibelungensage nicht und ich nicht das Epos „Atil und Krimkilte“. Soviel aber war sofort klar: Beide Epen berichten  über denselben historischen Zeitraum,  denselben Attila und dieselbe Kriemhilde,  atmen denselben Geist der Helden – nur hier aus östlicher, dort aus westlicher Sicht. Über diese Entdeckung berichtet dieses Stück.

Kai Ehlers

Das Feature:

Auf den Spuren Attilas –
Über die Wiederentdeckung historischer Helden.

Als sich vor Jahren der eiserne Vorhang hob, wurde ein anderer, viel älterer Vorhang sichtbar –  jener, der sich über die asiatische Geschichte Rußlands, genauer über den nomadischen Ursprung seiner Vielvölkerrealität gelegt hat. Heute kommt diese Realität wieder in Bewegung und damit erwacht auch die Erinnerung an die Helden dieser Zeit wieder. Das ist Attila, später auch Tschingis Chan. Unser Autor Kai Ehlers folgt den Spuren dieser Erinnerung im heutigen Rußland.

O-Ton 1:  Klagelied im Bus
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden.

Erzähler:
Lied im Bus…
Unterwegs an der mittleren Wolga. Eine kleine Reisegesellschaft, zusammengestellt vom „Twuschwaschischen Kulturzentrum“ in Tscheboksary, befindet sich auf der Fahrt entlang des „Silbernen Ringes der alten tschuwaschischen Geschichte“. Tscheboksary ist die Hauptstadt der tschuwaschischen Republik an der mittleren Wolga. Zusammen mit fünf weiteren autonomen Republiken bildet sie dort einen ethnischen Flickenteppich nicht-russischer Völkerschaften im Herzen der russischen Föderation. Das Lied, das die kleine Gesellschaft singt, ist eine alte tschuwaschische Volksweise. Sie beklagt den Verlust der Heimat.
Dasselbe Lied empfängt uns an allen Orten, wo uns kleine Komitees in Landestracht erwarten. Die mobile Geschichtskunde ist ein Ereignis, das gemeinschaftlich begangen wird. Früher wäre so etwas als nationalistische Abweichung unmöglich gewesen. Jetzt wird Geschichte erstmals wieder aus tschuwaschischer, nicht aus russischer Sicht erlebt. Der Ring, den der Bus in drei Tagen erst flußabwärts, dann am anderen Ufer zurück in einem Gebiet von der Größe Süddeutschlands abfährt, beinhaltet eine Reise zu den vergessenen  Städten des mittelalterlichen Bolgarstan, dem Staat der Wolgaubolgaren. Von ihm leiten die heutigen Tschuwaschen ihre Herkunft ab.
…Ende des Liedes, Lautsprecher

Regie: Allmählich hochziehen,  kurz stehen lassen und wieder abblenden

Erzähler:
Tajabo, Tikesch, Bolger, Poler heißen die alten Städte, zu denen die Reise führt. Vergessene Namen. Über 70 befestigte Städte habe es in Bolgarstan in der Zeit vom siebten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts gegeben, erklärt der Schriftsteller Mischa Juchma, der als Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“ die Reise leitet. Sie wurden von den Bolgaren gegründet, die nach der Niederlage Attilas auf den katalaunischen Feldern im Jahre 451 dort seßhaft wurden, nachdem sie vorher als Teil der Hunnen nach Westen gestürmt waren. Es waren stolze Festungen, die die Bolgaren, bis dahin Nomaden, nun bauten Aber nicht eine davon blieb erhalten, als Anfang des dreizehnten Jahrhunderts eine zweite nomadische Völkerwelle nach Westen stürmte, die Mongolen:

O-Ton 2: Mischa Juchma
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„“Kogda Mongoli ….
„Als die Mongolen kamen, war Püler die Hauptstadt unserer Vorfahren. Viele Lieder über den Untergang Pülers sind überliefert, lange, lange Epen. Zar der Tschuwaschen war damals Ultenbyk. Fünfundvierzig Tage hielt er die Stadt. Ultenbyk fiel im Kampf, aber seine Tochter und ihr Mann kämpften noch fast zwei Jahre gegen die Mongolen. Für die Mongolen war das ganz und gar ungewohnt, die asiatischen Städte, auch die festesten Burgen waren ihnen innerhalb von Tagen zugefallen. Über diesen Widerstand der Tschuwaschen ist bis heute nichts bekannt, es ist fast vergessen; das wird unseren Kindern nicht erzählt.“

O-Ton 3: Juchma, Forts.
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Russki istoriagrafia…
Vieles ist nach Mischa Juchmas Ansicht am gängigen westlichen Geschichtsbild zu korrigieren, das sich auf russische Geschichtsschreibung stützt: Nicht die Russen, sondern die Vorfahren der Tschuwaschen, die Bevölkerung Bolgarstans,  hätten das Land gegen die Mongolen verteidigt, erklärt er der Reisegruppe. Die russischen Fürsten waren vereinzelt, sie halfen sich nicht gegenseitig, verrieten einander sogar an die Mongolen. Bolgarstan dagegen war ein einheitliches Reich  Und nicht nur das: Die Tschuwaschen konnten der mongolischen Kampftechnik – Pferd, Bogen, Scheinattaken – besser begegnen. Sie war ihrer eigenen sehr ähnlich.
Die Mongolen, so Juchma, wussten genau, daß nicht die vereinzelten russischen Fürsten, sondern das vereinigte Königtum Bolgarstan das Bollwerk war, welches sie nehmen mußten, wenn sie auf ihrem Weg nach Westen den Rücken freihaben wollten. So hätten sie ihre Kräfte darauf  konzentriert, die bolgarischen Städte vollkommen dem Erdboden gleich zu machen. Russische Fürsten dagegen seien bereit gewesen, sogar Tribut für die Mongolen einzusammeln. Auf diese Weise habe Moskau unter Iwan Kalita, was soviel heißt wie Iwan Geldbeutel, zur neuen Macht heranwachsen können.
Und nicht nur das! Das wachsende Moskau wurde bald zur neuen Bedrohung für die verbliebene nicht-russische Bevölkerung. Sie geriet zwischen die Fronten des zerfallenden mongolischen Weltreichs und der mächtiger werdenden Russen.
Bei einer zweiten Fahrt des Tschuwaschischen Kulturzentrums auf das jenseits der Wolga liegende benachbarte Gebiet der autonomen Republik El Mari, dem Siedlungsbereich einer weiteren ehemals aus der Steppe kommenden Völkergruppe, erklärt Michail Juchma:

O-Ton 4:  Marschroute „Malo Kalzo“
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Etot marschrut…
„Diese Reiseroute nennt sich `Kleiner Ring des alten Tschuwaschien´. Die Ereignisse auf diesem  Ring gingen im sechzehnten Jahrhundert vor sich. Die Tschuwaschen stellten sich zunächst auf die Seite Moskaus gegen die Mongolen, indem sie sich aktiv an der Eroberung Kasans beteiligten und unterstützten so die Expansion Moskaus nach Osten. Aber Iwan der Schreckliche erfüllte das Versprechen nicht, das er den Tschuwaschen gegeben hatte und buchstäblich anderthalb Monate nach der Eroberung Kasans begann ein Krieg der tschuwaschischen Völker gegen das Moskauer Zarentum. Dieser Krieg dauerte zweiunddreißig Jahre. Er wurde mit dem Fall von Tjala entschieden. Diese Stadt werden wir uns heute ansehen. Ihr Name steht für die Kämpfe um die Unabhängigkeit der tschuwaschischen und marizischen Völker.“
… i marizich narodow“

Erzähler:
Was wir nach der Ankunft in dem entsprechenden Bezirk der Republik El Mari dann sehen, sind kahle Steilhänge an der Wolga, unter deren Bewuchs nur noch die historische Phantasie zu erkennen vermag, was sich dort einst abgespielt haben mag, als Iwan IV. seinen Krieg gegen die Mari, Tschuwaschen, Baschkiren und andere an der Wolga siedelnde Nachkommen ehemaliger Steppenvölker führte, nachdem sie ihm zuvor den Sieg über das mongolische Restchanat Kasan ermöglicht hatten.

O-Ton 5: Stimmen, Lied
Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Lied…
Beim Treffen im „tschuwaschischen Kulturzentrum“ geht es noch tiefer hinein in die tschuwaschische Geschichte, noch weit zurück hinter die Zeit der Mongolen. Michail Juchma stellt – am Rande der Versammlung – Fachleute zur tschuwaschischen Geschichte vor. Da ist zunächst der greise Dichter Alexander Iwanowitsch Terentjew. Er ist von Haus aus Ingenieur, hat aber ein Buch über die Geschichte seines Volkes geschrieben. Was jedoch das Aufregendste ist – er hat eine Ballade über Attila verfaßt, den er den großen, ruhmreichen tschuwaschischen Zaren nennt.
Wie kommt ein Ingenieur dazu, nicht nur eine tschuwaschische Geschichte zu schreiben sondern dazu auch noch eine Ballade über Attila zu verfassen? Die Antwort des alten Mannes ist verblüffend:

O-Ton 6: Alexander Terentjew
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje o pomminannije..
Nach meiner Erinnerung begann die Geschichte Tschuwaschiens mit der großen chinesischen Mauer: Stiller Ozean, China, Altai, danach die kaspische Steppe, das Asowsche Meer; dann kommen schon die Bolgaren, noch nicht die Tschuwaschen. Die kommen später  – das ist alles hunnische Geschichte, Attila! Die Bolgaren teilten sich; die einen wandten sich zur Donau, die anderen kamen an die Wolga.“
…na Wolgu“

Erzähler:
Ja, aber die Ballade? Wie entstand die Idee, über Attila zu schreiben?

O-Ton 7: Terentjew, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei Imperator hochziehen, wieder abblenden, weiter unterlegen

Übersetzer:
„Tschuwstwo gordostje…
„Das Gefühl des Stolzes! Keine Geschichte – und auf einmal war da ein berühmter Vorfahr! Auf einmal gab es da unseren eigenen Imperator.
…swoi Imperator“

Regie: zwischendurch hochziehen, abblenden unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden.

Erzähler:
Schmunzeln erinnert sich der alte Mann an Erfahrungen in als Student in Italien. Wenn er sagte, er sei Tschuwasche, habe niemand gewußt, wer das sei. „Sagte ich aber: Nachfahre Attilas“, dann hatte ich gleich alle Aufmerksamkeit für mich. Sie nannten mich dann scherzhaft: Attila. Jemand anderes habe es ja nicht gegeben, auf den man stolz sein konnte, fügt der dichtende Ingenieur noch hinzu, höchstens noch Lenin.

O-Ton 8:  Terentjew, Forts. und Ende
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Nu drugoi y menja…
„Lenin stammte ja auch aus einer tschuwaschischen Stadt, aus Simbirsk. Er war ja selbst zu einem Drittel Tschuwasche. Er versuchte, den Tschuwaschen zu helfen, auch gegen Stalin. Auf Lenin sind die tschuwaschischen Intellektuellen natürlich auch immer stolz gewesen.“             …Imeni Lenina“

Regie:
O-Ton kurz hochziehen, danach abblenden

Erzähler:
Prof. Dr. Dimitri Wassili Dimitriwitsch, ebenfalls nicht der Jüngste, ist Dozent an der Fakultät für die mittlere und neuere Geschichte Tschuwaschiens an der Universität von Tscheboksary. Er betont den Zusammenhang zwischen Hunnen und Mongolen. Für ihn sind beide nicht zu trennen. Dazu kommen noch die turkstämmigen Völker. Sie haben alle dieselbe Wurzel, meint er:  die Völkerwiege des Altai. Sie habe immer wieder die unterschiedlichsten nomadischen Völker hervorgebracht, alle irgendwie ethnisch, sprachlich und kulturell trotz vieler Unterschiede miteinander verwandt, turksprachige, mongolische, tatarische und andere Völker. Auf die Frage, warum Attila, dann Tschingis Chan und später andere dieser Völker immer wieder so große Siege erringen konnten, antwortet der Professor:

O-Ton 9: Prof. Dimitri Wassili
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach (erstem) Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„O Attileje eschtscho bil…
„Unter Attila gab es das System der kriegerischen Demokratie: Starke militärische Führer, große Nähe zum Volk, Lebensgemeinschaft. Ihre Ausbildung für den Krieg begann schon im Alter von zwei Jahren. Sie waren sehr gute Kämpfer. Sie kannten das chinesische Kriegshandwerk, besonders Belagerungstechniken, sie hatten sogar chinesische Strategen bei sich. Die Hunnen haben ja beständig Krieg mit den Chinesen geführt. Auch ihre Bögen waren den anderen ihrer Zeit überlegen. Mit den Mongolen war es nicht viel anders. Auch sie holten sich viele Kenntnisse von den östlichen Techniken.“

Erzähler:
„Das wichtigste aber“, wiederholt der Professor, mehrere Male,  „war ihr starker Zusammenhalt, die kriegerische Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Völker, sowohl bei den Hunnen, als auch später bei den Mongolen und Türken. Man war nicht einfach untergeordnet, man stand für ein und dasselbe Ziel, man gehörte zusammen, Unterschiede gab es nicht, kaum feudale Schranken. Nomaden haben zwei Ziele“, faßt der Professor zusammen: „die Herden zu hüten und Kriegsbeute zu machen. Der Krieg gilt bei ihnen als Arbeit. Das ist der Grund, warum sie so gut kämpfen konnten.“
…magli woiewat“

Erzähler:
Damit bin ich, mitten in Rußland, ganz in die Geschichte der euroasiatischen Steppenvölker eingetaucht. Ein Weiteres tut Michail Juchma, als er nun erklärt, im Grunde habe sich mit den Mongolen nur die hunnische Geschichte wiederholt und bei diesen Worten er in die Truhe seiner literarischen Schätze greift, um mir ein Epos von „Atil und Krimkilte“ zu zeigen, das er im Lauf seines Lebens aus Bruchstücken der tschuwaschischen Überlieferung rekonstruiert hat. Bedächtig knüpft er die Schleifen auf, mit denen das Manuskript eingebunden ist und beginnt, von meiner Verblüffung ermuntert, feierlich die Einleitung vorzutragen:

O-Ton 10: Mischa Juchma liest, Anfang des Epos
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, sehr allmählich runterziehen, abblenden, am Schluß hochziehen

Zitator: Zitat:
„Attila muchtassa kalani..
„Wer Attil ist, weiß heute niemand,
Man sagt, es gab wohl keinen
Solchen Menschen bei den Tschuwaschen.
Das ist aber nicht richtig.
So wollen wir allen erklären:
Attil ist der Tschuwaschen uralter Zar,
ruhmreicher Feldherr und Heerführer.
Im Altertum kannte ihn jeder.
Auch Euch wollen wir Kunde geben davon.
Ein rechtes Leben hat er gelebt,
Er liebte die Tschuwaschen.
Aber unglückliche Liebe
Hat ihm Leiden gebracht.
Er wollte zu viel wohl
Die Jugend hätte darüber gelacht.
Seine Kräfte hat er nicht richtig gewogen,
Hat nicht gewußt, wen zu lieben.
Hat wohl die Menschen um sich bedrängt,
Deshalb bedrängten die Götter ihn.
Laßt uns davon erzählen
Und das Heldenlied der Dichter singen.

Erzähler:
Hier dieser Einleitung hält Michail Juchma inne. 1917 wurde das Epos erstmals niedergeschrieben, erklärt er. Autor war ein Mann namens Pitraw:

O-Ton 11: Michail Juchma
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

„Übersetzer:
„Pitraw swoi prescgodennnije…
Pitraw stammt aus Volk der Ubi; das ist ein sehr alter tschuwaschischer Stamm, der auch in den Kämpfen des 13. Und 14. Jahrhunderts eine führende Rolle gespielt hat…. Die Ubi kommen aus dem Stamm Attils. Deshalb hatten sie Interesse daran, dieses Epos zu bewahren.“
… Atitil … etot Epos“

Erzähler:
Das revolutionäre Tauwetter nach 1917 ermöglichte es Pitraw, die bis dahin mündlich überlieferten Texte erstmals im kleinen Kreise tschuwaschischer Intellektueller zu veröffentlichen. Als Stalin an die Macht kam und Bücher wie „Attila“ als nationalistische Abweichung konfisziert wurden, versteckte Pitraw sein Werk in dem Dorf, in dem er wohnte, unter den Dielen seines Hauses. Er selbst kam im Lager ums Leben. Als Kind fand Michail Juchma die verrotteten Reste. Seitdem bemühte er sich, das Werk wieder zusammenzutragen.
Zwölf Gesänge sind von dem Epos überliefert. Sie berichten über die Kämpfe der Hunnen mit den Völkern des Westens. Eines Tages entdeckt Attila die blonde Schönheit Kriemhilde unter den von seinen Truppen eingebrachten Gefangenen. Er verliebt sich in sie, wirbt um die Widerstrebende, vergißt alle seine Pflichten, bis sie schließlich einwilligt, als Nebenfrau zu ihm zu ziehen. In der Hochzeitsnacht kommt Attila ums Leben. Es folgt die Zeit der Verwirrung für die von ihm geführten Völker, die erst mit deren Ansiedlung in den neuen Siedlungsräumen endet.
Die eigentliche Handlung des Epos beginnt mit den Worten:

O-Ton 12: Michail Juchma, Epos, Fortsetzung
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Peremesch paijat, Attil…
„Attil ist der ruhmreiche Feldherr und der Zar der Tschuwaschen. Unter Attils Leitung überfallen die Tschuwaschen ihre Feinde, die Tschuchen. Die Tschuchen leitete ihr Zar und Feldherr Tschupajrek. Auf dem großen Feld wird ein harter Kampf geführt. Schließlich siegt Attils Heer über die Feinde. Die gefangenen Leute werden zu Attil von seinen Soldaten gebracht. Unter ihnen ist auch das schöne Mädchen Krimkilte.“
Nach diesen Worten geht es sofort in die erste Schlacht:

O-Ton 13: Michail Juchma liest
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß hochziehen

Zitator:
„Simpa cin chuschschintsche…
Vorn ist Attil,
Der Klügste ist Attil,
Der Tapferste ist Attil,
Der Böseste ist Atil.
In seinen Händen hält er keinen Säbel,
In seinen Händen hält er eine Hellebarde,
Er schlägt mit der Hellebarde
Und es bleibt eine Spur,
Er schlägt zur anderen Seite
Und macht einen Weg.
Unter Atil geht kein Roß,
Unter Atil geht ein Vollblut,
Aus seinen Nüstern kommt Feuer,
Flammen aus seinem Maul.
Er schaut auf eine Seite
Und es beginnt Feuerbrand,
Er schaut auf die andere Seite
Und es beginnt zu flammen.
Es kämpfen die Menschen –
Tschuwaschen mit ihren Feinden,
Jeder schlägt,
womit er kann,
Jeder stößt,
womit er kann,
Jeder schneidet
Womit er kann,
jeder schießt,
womit er kann,
Die Tschuwaschen werden
von Atil geführt,
Die Tschuchen von Tschupajrek.
…  tschupajrek jertce pyratj.“

Erzähler:
Die Tschuwaschen, erklärt Michail Juchma in einer Pause, suchten ihr Glück wie viele Völker des Altai im westlichen Meer, dort wo die Sonne untergeht. Tschuchi waren für sie alle jene Völker, die ihnen dabei im Wege standen. Die Tschuchi werden in dem Epos als ebenso arbeitsamen und tapfer wie die Tschuchen bezeichnet. Dann aber heißt es unerbittlich:

O-Ton 14: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Zitator:
„Pjer jawara…
In einem Nest
können Krähe und Dohle nicht sitzen.
In einem Haus
Können Hund und Katze nicht leben.
So können im weiten Land,
Auf dem offenen Feld,
In der Steppe,
Auf der Wiese
Mit den Tschuwaschen die Tschuchen nicht leben.
Deshalb führen sie diesen großen Krieg,
In dem tschuwaschischen Heer sind viele Menschen,
Im tschuchischen Heer ebenso viele,
Sie kämpfen entsetzlich
Sie greifen einander an.
…..tapancach pyraschsche.

Erzähler:
Am Ende haben die Heere Attilas gesiegt, Attilas Feldherr Ajtaman führt seinem Chan die Gefangenen zu. Attila will sie, wie es bei ihm Kriegsbrauch ist, alle töten lassen. Doch da erblickt er unter ihnen eine schöne junge Frau. Von ihren blauen Augen und ihrem blonden Haar wird die ganze Umgebung bezaubert. Auch Attilas Herz wird von ihr gefesselt. Erstaunt fragt er:

O-Ton 15: Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzerin hochziehen

Zitator/Attil
„Ec kam…
„Wer bist Du?
Bist du eine gnädige Frau?
Oder bist du eine Göttin?
Sage, wer du bist?“

Erzähler:
Sie aber fordert ihn stolz auf, erst ihrem verletzten Vater zu helfen, bevor sie ihren Namen nenne. Ihr Vater ist, Tschupajrek, der Heerführer und Fürst der Tschuchen. Attila, hingerissen von ihrer Schönheit und ihrem Mut, gibt Befehl, den zu Tode verletzten Tschupajrek zu pflegen und dessen Leute zu schonen. Danach ist die Schöne bereit, Auskunft über sich selbst zu geben:

O-Ton 16: Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator wieder hochziehen

Zitatori/in:
„Culty turra…
„Wer einem Menschen hilft –
Liebt auch die Höchsten im Himmel.
Meinen Namen kann ich
Dir jetzt selbst nennen – Krimkilte
…Krimkilte“

Erzähler:
Attila ist wie verwandelt. Aus dem rauhen Eroberer ist ein sanfter Werber geworden:

O-Ton 17: Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Zitator/Attila:
„Bitaraimi pikeschschem…
Du schönstes Mädchen Krimkilte,
Was du gesagt hast, ist wunderbar.
Nicht länger Feind ist der Tschuche nun,
sondern Verwandter mir.
Schon morgen werden die Ätzte
Deinen Vater geheilt haben.
Dich lade ich zu mir ein
Sei du mir teuer als Gast.
… man chana.“

Erzähler:
Nun nehmen die Ereignisse ihren Lauf:, alles ein wenig anders, als es uns aus dem Nibelungenlied vertraut ist: Attila erklärt Kriemhilde seine Liebe und bittet sie, seine Frau zu werden. Sie weigert sich. Er vergißt Haus, Familie und Eroberungspläne. Er verbringt alle Zeit damit, um sie zu werben. Sie hat ihn vollkommen verwirrt. Seine Gefolgsleute, seine Söhne, das einfache Volk – alle bemerken es, aber niemand wagt den Fürsten zu tadeln. Nur seine Frau Herkke, was soviel heißt wie Mutter des Volkes, wagt ein offenes Wort:

O-Ton 18: Juchma, Epis, Forts.                Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit O-Ton  20 verblenden

Zitatorin:/ Herkke:
„Ech, Attil…
„Ach, Attil!
Du hast also vergessen!
Du hast also deine Seele verkauft!
Drei Söhne hast du –
Drei Falken,
Du hast sie alle vergessen.
In Liebe zu dir,
in Achtung zu dir,
Hab ich mein ganzes Leben verbracht,
Das hast du nicht schätzen können!
Vor den Verwandten,
Vor der Kämpfgefährten,
Begreife, was sagst du jetzt?
Jeder Mensch hat seine Pflichten
Vor seinen Anhängern,
vor seiner Familie,
Vor der Verwandtschaft,
Vor den Freunden.
Du bist der Zar, vergiß nicht,
Du hast noch größere Pflichten –
Vor dem Lande,
Vor den Feldherren,
vor den Kriegern,
Vor Deinem Volk.
Das hast du alles vergessen,
Der Tochter des Tschuchen gegeben –
Das, was du in deiner Seele hast,
Das, was du in deinen Gedanken hast
Das alles restlos
Hast du ihr gegeben.
Du brauchst jetzt kein Vaterland,
Du brauchst jetzt kein Heer,
Du brauchst keine Anhänger,
Du brauchst keine Familie,
Was brauchst du,

Der seine Seele verkauft hat?
Außer dem Lachen der Tochter des Tschuchen,
Brauchst Du jetzt nichts.
Der weiße Irbis hat die alte Ehre verloren,
Ach, Tankár, rette uns!“

O-Ton 19: Flötenmusik, getragen
Regie: O-Ton verblenden, nach O-Ton 20 ganz hochziehen, kurz frei stehen lassen, unterm Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:
Flöte
Der weiße Irbis, der Schneelöwe, ist das Totemtier Attilas; Tankar ist der höchste Gott im alten hunnischen wie auch im heutigen tschuwaschischen Olymp. Als seine Frau diese Kräfte anruft, kann Attila nicht anders als ihr recht zu geben. Er verspricht Besserung.  Aber kaum geht er wieder zu Kriemhilde, hat er aufs neue alles vergessen. Eroberungen, Volk, Heimat, Familie – alles ist ihm gleichgültig. Er hat nur noch Krimkilte im Sinn. Ihre Macht über ihn erklärt Michail Juchma so:

O-Ton 20: Michail Juchma, Kommentar
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Drewni awtor…
„Der Autor des Epos charakterisiert Kriemhilde als junge Frau, die das Fremde, das ganz andere Volk repräsentiert. Das betrifft sowohl die äußeren Merkmale Kriemhildes, auch ihre Art zu denken, die Welt zu sehen. In gewissem Maße freut es mich, daß der Autor Kriemhilde entschuldigt und sogar stolz ist auf sie. Als sie in den fremden Volksstamm geriet, als ihr Vater verwundet war, da war sie imstande, Attila an seinen Platz zu verweisen. Gerade dadurch eroberte sie wohl in diesem Moment das Herz Attilas. Darüber hinaus ist sie Patriotin ihres Volkes. Lange hat sie Attila nicht nachgegeben. Der Autor des Epos bezeichne sie daher sogar als Amazonin. Das heißt, es ist eine Geschichte der Verbeugung vor den Frauen. Sie hat sich zum Schein unterworfen, damit aber ihre Ehre und die Ehre ihres Volkes gerettet. Sie wird später dafür bestraft, aber ohne daß der Autor sie schlecht macht“

O-Ton 21: Michail Juchma, Forts.
Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Mnje nrawitsja…
Ihm gefalle dieses Epos überhaupt, fährt Michail Juchma fort: Offenbar gehe es dem Autor nicht darum andere Völker niederzumachen. Er sehe auch in seinen Feinden Menschen, die ihren Wert hätten, indem sie sich selbst, ihre Heimat, ihr Land verteidigten und so würdige Gegner Attilas seien. Dem Autor gehe es vielmehr darum, dem eigenen Volk zu zeigen, daß ein Herrscher, der seine eigenen Werte verliere, den Untergang seines Volkes herbeiführe. Darin liege vermutlich das wichtigste Ziel dieses Epos.
… dostoinimi pritifnikimi Attila“

Erzähler:
Und zögernd fügt Michail Juchma hinzu:

O-Ton 22:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Eta goworit…
„Das bedeutet offenbar, daß die höher entwickelte Kultur des Westens auf die despotische Denkweise des Ostens wirkte und sich als überlegen erwies. Genauer: die auf allgemein menschliche Werte aufgebaute Siedlerkultur des Westens wirkt mildernd auf die Kriegskultur der Nomaden, so muß man es wohl verstehen.“
…moschit bit, tak“

Erzähler:
Attila der Wilde, Kriemhild die kultivierte? Verblüfft sitzen wir uns gegenüber, dort der asiatische Hunne, hier der westliche Tschuche. Das Wichtigste sei, einannder kennenzulernen, sagt Michail Juchma schließlich und verspricht, mir den Rest des Epos vorzutragen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt.

O-Ton 23: Musik im Bus
Regie_: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:
Lied…
Die Gelegenheit kommt schon bald. Wieder sind wir unterwegs. Dies mal im kleinen Kreis von Mitarbeiterinnen des Kulturzentrums. Diesmal geht es nach Sugut, dem Heimatort Michail Juchmas. Juchma will mir dort zeigen, wie die Erinnerung an Attila heute lebt. Mit uns fährt auch ein türkischer Student, der im tschuwaschischen Kulturzentrum ein Praktikum absolviert. Kaum in Sugut angekommen, sehen wir uns durch ihn in ein Gespräch mit Dorfbewohnerinnen verwickelt. Es geht um seinen Namen, Attila. Die Verständigung ist einfach, man radebrecht in Türkisch und Tschuwaschisch miteinander; die Sprachen kommen aus einer Wurzel. Nur für mich muß man hin und wieder aufs Russische zurückgreifen:

O-Ton 24:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:
„Hm, ja, Attila;  türkisch…
Wie häufig man den Namen Attila doch antreffe! In der Türkei, ebenso wie in Tschuwaschien. Ob man ihn ihm einen gemeinsamen Vorfahren habe? Ja, aber klar, versichert der türkische Student, Attila ist unser aller Vorfahr!“ Die Umstehenden stimmen zu. „Attila bedeutet Vater, manchmal auch einfach nur Ata oder Atner.“ „Türken und Tschuwaschen“, übersetzt eine Frau für mich, „das sind doch dieselben Menschen.“
..charascho, spassibo, Stimmen

O-Ton 25:
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Frauenstimmen
Im Zentrum des Ortes treffen wir auf große Geschäftigkeit. Frauen am Betonmischer, junge alte. In geblümten Kleidern die einen, in Trainingshosen die andern, aber alle mit dem von der Stirn nach hinten gebundenen Kopftuch.. „Auch wie bei uns zuhause“, meint der Student. „Eine Kirche bauen wir“, sagen die Frauen. Freiwillig? „Na klar, freiwillig.“ Und ohne Bezahlung. „Wir helfen“, lachen die Frauen, „wir geben den Männern bescheid, damit sie es richtig machen.“
… snajem, Lachen

Erzähler:
Man ist stolz auf den Bau der Kirche. Traditionen will man damit pflegen. Aber es geht weniger um das Christentum, als um ein Zentrum für das Dorf, für die Gemeinschaft, erklärt Juchmas älterer Bruder, der uns herumführt. Er ist hier in Sugut Dorflehrer.

O-Ton 26: Juchma, Trecker
Regie: verblenden, Ton langsam kommen lassen, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Trecker, dglja tebja…
„Das Interessanteste für Dich, “ kommentiert Michail Juchma,  „ist die Methode, wie  hier gebaut wird: So wie jetzt die Kirche, so werden auch die Häuser gebaut, gemeinsam. Das ist es. Wenn jemand in Elend verfallen ist, dann versammelt sich das Volk und baut gemeinsam ein Haus. So wie jetzt die Kirche. Das ist gegenseitige Hilfe, das ist die Hilfe der Dorfgemeinschaft.“
… obschtschina, Trecker

O-Ton 27: Athmo und Admisnistration
Regie: O-Ton kommen lassen, breit stehen lassen, abblenden, gut hörbar unterlegen, nach Erzähler bei „Nawerna“ kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, anschließend hochziehen.

Erzähler:
Athmo: Türen…, Gänse…, Eisentreppe…, Hall,… „Nawerna….
Der junge, agile Kolchosdirektor, der zugleich Administrator ist, bringt uns ins Verwaltungsgebäude. Es ist zugleich Kulturhaus. Auf die Frage, ob er sich mit der Wiedergeburt tschuwaschischer Geschichte befasse, antwortet er:

Regie: kurz hochziehen

Übersetzer:
„Ja doch, als Vorstand der Kolchose muß ich das wohl. – Was gibt es da so?
Da ist die Durchführung von Kulturveranstaltungen, die aus eigener Tradition herkommen, alte tschuwaschische Traditionen, meine ich, Gedenken an Geschichte, Hochzeiten, Geburten, Jubiläen nach alten Riten. Wir laden Künstler aus der ganzen Republik ein. Wagentheater, Konzerte, Chorsingen. Das alles gibt es ziemlich oft.“
… we etom godu (…)“

O-Ton 28:
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach Erzähler deutlich hochziehen, stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler wieder hochziehen, dann allmählich abblenden

Erzähler:
Gesang
Auch ein Buch über die Geschichte des Dorfes habe man herausgegeben, ergänzt Michail Juchma. Eine wichtige Arbeit, findet er, aber sehr mühsam. Alles mußte einzeln zusammengetragen werden genau wie bei Atil und Krimkilte…

Regie: Hochziehen, abblenden

Erzähler:
Bevor er weitere Ausführungen machen kann, wird er unterbrochen, denn zur Unterstützung ihres Direktors  nun hat ein Chor den Raum betreten, einige Mitglieder in traditioneller tschuwaschischer Tracht, der die Gäste mit Brot und Salz  begrüßt und tschuwaschischer Lieder singt:

O-Ton 29:
Türen, Abfahrt, Auto
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Mehrere Stunden später geht es zur anderen Seite des Dorfes zurück, wo wir bei den Juchmas nächtigen sollen. Die kurze Fahrt nutze ich, um Michail Juchma nach den Einzelheiten zur Quellenlage des Epos von Attila und Kriemhilde zu befragen, bei deren Darstellung er zuvor unterbrochen worden war:

O-Ton 30: Juchma im Auto
Regie: O-Ton verblenden, kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Eta rasrusnjenje…
„Es sind einzelne Gedichte, einzelne Strophen, Prosaerzählungen, ein unzusammenhängender Text. Ich habe ihn aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen. Bei einigen weicht der Inhalt etwas ab: Der sachliche Grundtenor aber ist, daß Attila anfangs ein guter Herrscher war. Er bemühte sich um das Volk. Später, als er schon viele Völker besiegt hatte, wandelte er sich sehr stark zum Schlechten: Er brachte seinen Bruder um, begann die Gesetze seines Volkes zu mißachten, seine Frau zu beleidigen, er machte seinen zweiten Sohn zum Lieblingssohn, das heißt zum Erben. Darüber entstand Streit zwischen den  Völkern, die im hunnischen Bund waren. Es entstanden Kämpfe, aber Attila kümmerte sich nicht darum. Er fand Gefallen daran, sich immer aus Neue mit jüngeren und noch jüngeren Frauen zu verheiraten.“
…na maladix genschin“

Erzähler:
Die ganze Zeit? Immer aufs Neue?

O-Ton 31: Juchma, über Attila, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Aha, wsjo wremia…
„Ja, immer aus Neue! Und er feierte die ganze Zeit Feste, statt sich um den Staat zu kümmern. So verlor er seine Mannschaften. Sie verließen ihn. Da entschied einer seiner Verwandten, ihn zu beseitigen. Aber das war nicht möglich, weil Attilas Autorität, auch seine Leibwache groß war. Später verliebte sich dieser Verwandte in Kriemhilde. Als Attila dieses Mädchen sah, forderte er von dem Verwandten, daß er ihm dieses Mädchen abtrete. Der verabredete daraufhin mit Kriemhilde, daß sie Attila täuschen solle, also ihm Liebe verspreche und so weiter.
Am Ende kommt es dann so, daß sie zustimmt, seine Frau zu werden. Aber als die Hochzeit war und sie schon in die Gemächer Attilas gehen sollten, sagte sie: Ich liebe dich nicht, ich werde mit deinem Verwandten fortgehen. Über diese Ungeheuerlichkeit regt er sich so auf, daß er stirbt. So die Erzählung.  Die Moral des Epos lautet also: Wenn Du ein großer Herrscher bist, dann liebe dein Volk, hilf ihm und fordere es nicht sinnlos heraus. So wird erklärt, warum Attila starb. Er starb, weil er unmäßige Macht wollte, unmäßig alle jungen Frauen haben wollte und unmäßig trank. Es ist eine interessante Lehre, welche die Erzählung gibt: Sie rechtfertigt den Verwandten, der ohne Gewalt, auf geschickte Weise mittels der Frau den hart und brutal gewordenen Attila zu beseitigen versteht.“
..ot jestokowa Attila“

O-Ton: Musik, Gesang
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Im Haus der Juchmas werden wir schon erwartet. Es ist einer dieser soliden, zugleich anheimelnden Holzbauten, draußen geschnitzte Türen und bemalte Rahmen, ein umbauter Hof, drinnen der wohltuende Petschka, der Wärme spendende Ofen. Teigtaschen werden aufgetragen, dazu Selbstgebrauter aus eigener Obsternte. Einer der älteren Anwesenden läßt es sich nicht nehmen, dem Gast vorzuspielen. Michail Juchma reiht sich bescheiden ein. Der berühmte Nationalschriftsteller ist hier nur der jüngere Bruder; hier hat der ältere Bruder das Sagen. Über ihm steht nur noch das Wort  Babuschkas, der Familienältesten.
Aber als Mischa ansetzt, um das Epos von Attila und Kriemhilde weiter vorzutragen, tritt sofort andächtige Stille ein. Mit wenigen Worten führt er von der ersten Begegnung zwischen Attila und Kriemhilde ins weitere Geschehen. Er braucht nicht viel zu erklären. Hier hört man die Geschichte nicht zum ersten Mal:

O-Ton 32: Michail Juchma, Epos
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden,

Erzähler:
„Wischschemesch paijat, Attil…
Als Attila weder auf seine Frau, noch auf seine Ratgeber hörte, berichtet das Epos weiter, versuchte der Feldherr Markka, sein Freund, ihm ins Gewissen zu reden. Aber Attil jagte ihn in die Verbannung: Davon hörten Attils Feinde, die unterworfenen Völker des Ostens, ebenso wie die Tschuchen im Westen, die alle nur darauf gewartet hatten, sich von seiner Vorherrschaft befreien zu können. Sie schließen sich zusammen und rücken gegen ihren gemeinsamen Feind vor. Unter den feindlichen Truppen befindet sich auch Krimkiltes Vater Tschupajrek, der seine Tochter aus der Gewalt Attilas befreien will.  Der bedrängte Attila ruft Ajtaman, den Bezwinger Tschupaireks. Aber Ajtaman läßt sich verleugnen; er sei krank. Nun bereut Attila, den Felherren Markka verstoßen zu haben. Die Heere rücken aufeinander zu. Doch statt einer allgemeinen Schlacht kommt es zu einem Zweikampf zwischen Attila und dem Vater Kriemhildes. Keiner von beiden kann siegen. Beide Heere ziehen sich zurück. Das bringt die Wende.

O- Ton 33: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator:
„Schapaschu pulmanni….
„Der Krieg wird nicht geführt,
Das Blut wird nicht gegossen
Das erfreut Attil.
Es läßt ihn an die Zukunft denken
Seine Herzensliebe,
Seile Seelenliebe
Verstärkt sich wieder,
Sie bringt Attil zu Krimkilte.“

Erzähler:
Jetzt endlich, sei es aus echter Liebe, aus Verwirrung oder aus Berechnung, stimmt Kriemhilde zu, Attilas Frau zu werden. Freude bricht aus. Attila befiehlt, alle, auch die ehemaligen Feinde, als Hochzeitsgäste zu laden.

O-Ton 34: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator/Attil:
„Tschernjer purnje tje…

„Ladet alle ein!
Auch die Jamanen,
Auch die Sujanen,
Auch die Kajtaschen,
Auch die Wakiweren.
Auch die Putlanen
Auch die Tschuchen!
Schickt zu Tschupajrek Gesandte,
Bringt in Tschupajreks Haus Geschenke.“

Erzähler:
Nur Attilas Frau Herkke bedrängen dunkle Ahnungen. Sie beschwört ihren Mann:

O-Ton 35: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitatorin hochziehen

Zitatorin/Herrke:
„Tschawaschschene…
„Den Tschuwaschen,
Bringt dein Glück nur Not
Unglück bringt Deine Freude.
Das sehe ich in deinem Gesicht,
Das fühle ich mit meinem Herzen.“

Erzähler:
Aber Attil schiebt alle Bedenken beiseite. Er hofft auf das Glück. Als Tschupajrek kommt, bemüht Attila sich ihn überzeugen, daß er Kriemhild nicht mit Gewalt, sondern mit seiner Liebe gewonnen habe:

O-Ton 36: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Zitator/Attila:
„Kurtan i Tschupajrek…

„Siehst du, Tschupajrek,
Weißt du, Tschupajrek,
Ich zwinge deine Tochter nicht,
Mit meiner Liebe habe ich ihr Herz gewonnen,
die Hochzeit hat sie selbst gewollt,
auch dir wird sie es sagen.“

Erzähler:
Nachdem sich Tschupajrek in  einer Unterredung mit seiner Tochter selbst davon überzeugen konnte, gibt er sein Einverständnis zu der geplanten Hochzeit. Jetzt reisen alle Fürsten der Nachbarvölker zur Hochzeit an.

O-Ton 37: Hochzeitsmusik
Regie_ Ton kommen lassen, kurz stehen lassen unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:
Ausgelassene, rhythmische Musik
Und nun wird gefeiert. Attila ist glücklich, er ist freundlich nach allen Seiten. Kriemhild ist überaus schön, wunderbar. Zur Hochzeit ist auch der genesene Ajtaman gekommen. Attila nimmt auch ihn mit großer Freude auf. Alle singen Hochzeitslieder, man tanzt, freut sich. Brautführer, Brautjungfern, die Verwandten des Bräutigams, Mädchen, Frauen. Attila selbst – jeder singt sein Lied. Jedes Volk führt seine eigenen Lieder und Tänze vor. Unter allgemeiner Ausgelassenheit werden Braut und Bräutigam schließlich zu ihrem Hochzeitslager geführt. Dabei werden derbe Scherzlieder gesungen.

O-Ton 38: „Char“ (Tröte)
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, während des Scherzliedes hin und wieder hochziehen, wie es paßt

Erzähler:
Lautes Tröten..
Zur Freude aller Anwesenden demonstriert der musizierende Alte nun ein anderes Instrument, den Char. Es dient dazu schlechte Geister auszutreiben.

O-Ton 39: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der letzten Strophe noch einmal einen kräftigen Tusch

Zitator:
„Timer, timer, timerschke…
Der Riegel ist aus Eisen
Nicht nur aus trocknem Holz.
Wenn unser Schwager könnte
Neun Söhne zeugt er stolz.
Tröte

Unsre Schwiegertochter,
ist locker wie sonst keine;
Zum Schwager legt sie sich
Zieht danach schnellstens Leine.

O-Ton 40:
Regie: verblenden, allmählich kommen lassen, nach den letzten Zeile hochziehen,  kurz frei stehen lassen und dann vor Erzähler hart abbrechen

Ausgelassene, rythmische Musik

Zitator/Forts.:
Sehr brav ist unser Schwager,
Er scheut zurück vor nichts.
Doch bellt der Hund, dann drückt
Er an die Schwiegertochter sich.
Musik – bricht plötzlich ab

Erzähler:
Plötzlich wird die Tür zum Hochzeitslager aufgerissen. Kriemhilde stürzt heraus und schreit:

O-Ton 41:
Regie: O-Tons ganz stehen lassen, verblenden

Zitatorin/Krimkilte:
„Ach, inkek…

„Ach, Jammer!
Großer Jammer!
Er ist tot!“

O-Ton 42: Musik, Tontaube                 98,7, A, 61
Regie: Drei Wellen: O-Ton kommen lassen, stehen lassen, bei Erzähler abblenden, unterlegen, nach Erzähler vorübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, danach noch einmal vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen und abschließend hochziehen. Unter O-Ton 44 dann ausklingen lassen.

Erzähler:
Musik, langsam
Attil ist auf dem Hochzeitslager gestorben. Schnell entfernen sich die Gäste. Das ganze tschuwaschische Volk ist in Kummer geraten. Wie soll es ohne Attil leben?! Trauergesänge erschallen.

Regie: hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Musik, langsam
Um diese Zeit berichtet man, daß die Tschuwaschen von Feinden von verschiedenen Seiten überfallen worden sind. Sie beginnen eilig ihr Heer zu sammeln. Zum neuen Zaren wird Ajtaman ernannt. Aber Ajtaman ist nicht da. Jemand berichtet, das Ajtaman mit Krimhilde zu den Tschuchen gegangen sei. Wer kann den Tschuwaschen in dieser Lage noch helfen?

Regie: hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, unter O-Ton 44 allmählich abblenden

Erzähler:
Musik, schneller
Da kehrt, als Retter aus dieser Not, der Feldherr Markka zurück.
Tontaube, schnell

O-Ton 43: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator, Markka:
„Uzt urig sassi…
„Es schlagen Hufe
Es wiehert ein Pferd.
Zu den Tschuwaschen,
die in Not geraten sind,
Zu den Tschuwaschen,
die an Kummer leiden,
Reitet der Feldherr Marka,
Gleich spricht er: Als ich
vom Tode Attils erfuhr
Bin ich rechtzeitig
In großer Eile gekommen.
Wer auf mich hofft,
Soll sich hinter mich stellen,
Wer mit mir sein wird,
Soll sich neben mich stellen.“

Erzähler:
Die Tschuwaschen sind froh, sie rufen „Utarja!“, Hurra! Sie stellen sich um den Feldherrn Marka und machen ihn zu ihrem Fürsten. Mit Markkas Hilfe schlagen sie die anstürmenden Feinde. Kriemhild und Ajtaman werden gefangen genommen.  Das Volk will Kriemhilde und Ajtaman bestrafen. Man will sie in Stücke schneiden und den Hunden vorwerfen. Aber der Feldherr Markka ist damit nicht einverstanden. Er will weder Krimhilte noch Ajtaman töten lassen. „Die Scham und die Schande sind qualvoller als der Tod“, sagt er. Daraufhin werden Kriemhildes Haare, Ajtamans Bart geschnitten; anschließend werden beide in die Steppe hinaus gejagd. Danach muß Feldherr Marka sich um sein Volk kümmern. Obwohl er die Feinde geschlagen hat, weiß er: Nach dem Tod Attilas können die Tschuwaschen nicht weiter an demselben Ort leben. Unter seiner Leitung legen sie Attila in einen goldenen Sarg und begraben ihn in der offenen Steppe. Damit die Feinde sein Grab nicht finden können, lassen sie an dieser Stelle eine Herde Pferde galoppieren. Danach führt der Feldherr Markka die Tschuwaschen an einen neuen Ort, wo sie heute noch leben. Das Epos endet mit den Sätzen:

O-Ton 44: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator:
„Saplasse nessere…

„So ziehen die Tschuwaschen
An einen neuen Ort,
an einen fruchtbaren Ort,
an die Ufer der Wolga,
In ein sehr schönes Land.

O-Ton 45: Musik
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Zitator hochziehen, stehen lassen, abblenden, dem Zitator unterlegen, zwischendurch aufblenden, dem Erzähler unterlegen, dem O-Ton 47 unterlegen, nach Übersetzer beim Einsatz der rhythmischen Flöte hochziehen, dann langsam abblenden

Zitator/Forts.
Tontaube, Trommeln, Flöte

Sie beginnen ein neues Leben.
Auch heute leben sie dort,
Auch heute vergessen sie
den Feldherren Markka nicht.
Musik

Erzähler:
Still wurde es in der Stube der Juchmas. Erinnerungen an Markka, das sind Erinnerungen an den Übergang vom nomadischen zum seßhaften Leben. Das ist das quälende Hin-Und-Her-Gerissen-Sein zwischen dem Schmerz über den Verlust von Weite und Freiheit des nomadischen Lebens und der Zufriedenheit über die Sicherheit der Sesshaftigkeit. Die Geschichte Rußlands und seiner Völker ist geprägt von dieser Zerissenheit. Er habe dazu sogar Gedichte geschrieben, erklärte Michail Juchma nach einigem Schweigen. In ihnen gehe es um Kindheitserinnerungen an eine Steppe, an wilde Pferde, an eine heiße Sonne und an die Wüste, die er alle nie selber sah. Aber auch Träume werden an diesem Abend wach, in denen ein anderer Michail Juchma erkennbar wird, als jener, der Kriemhild als Botin einer überlegenen westlichen Zivilisation bezeichnet. Schüchtern fast, aber doch voll banger Hoffnung, sinniert er:

O-Ton 46: Michail Juchma, Kommentar
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Kak Mongoli prischli…
„Von den Mongolen bis zu den Hunnen waren es 700 Jahre, seitdem sind wieder fast siebenhundert Jahre vorbei: Könnte doch sein, daß der Osten heute wieder nach Westen herüberkommt?“
Tontaube, Trommel, Flöte aus O-Ton 46
Erzähler:
Am nächsten Morgen geht es wieder zurück nach Tscheboksary. Woher all die Einzelheiten des Epos wisse, frage ich Michail Juchma, wenn doch der Text des Autors Pitraw seinerzeit verlorengegangen sei? Von Babuschka, seiner Großmutter, antwortet Michail Juchma, wie übrigens auch all die anderen frühen Mythen, Legenden und Erzählungen der Tschuwaschen, ebenso wie die der anderen Völker an der Wolga, die er gesammelt habe. Michail Juchmas Großmutter war Geschichtenerzählerin im Dorf Sugut:

O-Ton 47: Juchma
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach Übersetzen hochziehen.

Übersetzer:
„U Babuschke sabiralis…
„Bei Babuschka versammelten sich, als ich noch sehr jung war, die Alten des Dorfes, um sich miteinander zu besprechen. Das war die Gilde der Erzähler. Ich saß zwischen ihnen und hörte zu. Sie stimmten einige Dinge miteinander ab: Hier muß man etwas so, da etwas anders erzählen; über dieses Dorf muß man das und das sagen, anders ist es nicht richtig, so geht es nicht! Ich erinnere mich gut an diese Gespräche, die mich sehr beeindruckt haben. Besonders erinnere ich mich daran, wie sie eine Erzählerin aus einem entfernteren Nachbardorf kritisierten, die sagte, daß Ultenbyk gestorben sei. Sie stellten klar, daß man das so nicht sagen dürfe, daß man sagen müsse: Er verschwand; wohin er verschwand, ist nicht bekannt, aber er erscheint manchmal Leuten am Horizont auf weißem Pferd und umgeben von seinen Kriegern, tschuwaschischen Truppen.“
…tschuwaski atrjadi

Erzähler:
Heute ist Michail Juchma selbst Babuschka. So werden Schriftsteller gelegentlich im Volksmund genannt. Die wirkliche Babuschka könne er natürlich niemals ersetzen, wehrt er ab. Sie habe unermeßlich viel mehr gewußt als er, denn sie sei die Bewahrerin eines tausendjährigen Wissens. Zwischen ihr und ihm fehle eine ganze Generation, die Kriegsgeneration, die Stalingeneration.  Außerdem habe sie besondere Kräfte gehabt:

O-Ton  48: Mischa über  Babuschka, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
??? „Ana bila bolsche…
„Sie war mehr als nur eine Märchenerzählerin. Sie bewahrte das ganze Erzählgut. Sie hatte auch religiöse Aufgaben. In die Kirche konnte sie natürlich nicht gehen, die Kirchen waren ja niedergerissen. Aber in ihren Erzählungen gab es immer alte tschuwaschische Götter. Sie kannte alle Götter und Mythengestalten. Aber sie erzählte nicht nur, daß es sie gab, sondern auch wo sie sich aufhielten, auf einem bestimmten Berg, an einem bestimmten Ort. Da waren große Drachen, riesige Schlangen. Und ich fragte: Großmutter, warum gibt es diese Schlangen in unserer heutigen Welt nicht? Und sie sagte: `Das war damals, lang zurück, lange zurück zur Zeit unserer Vorfahren. ´  Diese Erinnerung an die alte Natur hat sich bei Großmutter sehr gut erhalten.“
…otschen charascho sakranilas“

Erzähler:
Unter solchen  Gesprächen erreichten wir die kleine Druckerei, in denen die von Michail Juchma aufgeschrieben Geschichten, auch das Epos von Attil und Krimkilte heute in kleine Broschüren gepreßt werden. Hier wird noch jede Zeile mit der Hand in Blei gesetzt – eine Technik, die selbst schon vergessen ist.

O-Ton 49: Druckerei
Regie: Während der letzten Worte langsam kommen lassen, stehen lassen, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Maschinengeräusche: Sammler, Stimmen, Druckerpresse
Das Stampfen der Druckerpressen noch im Ohr, komme ich im fernen Nowosibirsk, einer 2000 km weiter in Osten gelegenen Station meiner Reise zu neuen, überraschenden Blicken hinter den hunnisch-mongolischen Vorhang der russischen Geschichte: 90% Prozent der Namen sibirischer Flüsse, Berge und Landschaften, höre ich, seien mongolischen, tatarischen, turksprachigen oder sonstigen nomadischen Ursprungs. Bei einem guten Bekannten, Juri Gorbatschow, Journalist, Poet und Liedermacher, den ich bei einer früheren Begegnung als gemäßigten russischen Nationalisten kennengelernte, stoße ich auf  eine Überraschung besonderer Art. Ich finde ihn beschäftigt damit, ein Lied über die zu schreiben, die er die neuen Hunnen oder auch die neuen Wikinger nennt. Befragt, wie das zu verstehen sei, antwortete er:

O-Ton 50: Juri Gorbatschow
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, slowa nowi Gunni…
„Nun, das Wort neue Hunnen benutze ich, um die Strukturen des heutigen Verbrechens zu kennzeichnen. Es ist ungefähr so wie bei Tschgis Chan: Es sind Krieger. Nimm die  gut organisierten Brigaden von Schutzgelderpressern, die überall ihre Gelder eintreiben. Sie sind nach dem Prinzip der Kampfgemeinschaften organisiert. Die kann man mit den Wikingern, mit den Hunnen oder mit den Horden Tschingis Chans vergleichen. Das sind Banden, Banditen, Kämpfer, die sich versammeln, um Beute zu machen. Töten ist für sie kein Problem. Die Wikinger hatten ihre Schiffe; danach bestimmte sich die Größe ihrer Brigade. Die Hunnen hatten ihre Jurtengemeinschaft. Heute bilden sich Minibrigaden nach der Menge der Leute, die in ein Auto passen, fünf, sechs Leute und noch ein gewisses Hilfspersonal. Alles nach alten Prinzipien.“

O-Ton 51: Juri, Guitarre
Regie: Unter dem Erzähler langsam kommen lassen

Erzähler:
Mit diesen Worten hat Juri zur Guitarre gegriffen, um mir seine neueste Schöpfung vorzuspielen.

Regie:
Nach Erzähler kurz stehen lassen, abblenden Allmählich abblenden

Erzähler:
Prof. Derewianko, Leiter des Instituts für Archäologie der Universität von Nowosibirsk, den ich auf Juris Empfehlung hin anschließend aufsuchte, ist gar nicht einverstanden mit solchen neuen Begriffen. Er hält sie für modisches Gerede, Verfälschung der wirklichen Geschichte, Ausdruck der Oberflächlichkeit der neuen Zeit. Sicher seien sie alle Räuber gewesen, so der Professor. Die Wikinger aber seien bezahlte Söldner, dazu noch Händler und von Haus aus seßhaft und bald in die einheimische Bevölkerung integriert gewesen; Hunnen und Mongolen dagegen nomadische Krieger, die sich fremde Völker unterwarfen. Das gelte es strikt zu unterscheiden, betont der Professor, auch wenn die einen wie die anderen tiefe Spuren in der russischen Geschichte hinterlassen hätten. Daß die Tschuwaschen Attila für sich reklamieren, quittiert der Professor mit einem gemütlichen Lächeln: Die Herkunft der Hunnen aus dem nordchinesischen Raum unterliege keinem Zweifel, meint er, ebenso auch die hunnischen Wurzeln der Mongolen. Welche Völker aber im Einzelnen zu den Hunnen gehörten und wie sie sich im Zuge der verschiedenen Wanderungswellen mischten,  könne niemand bisher mit wissenschaftlicher Genauigkeit sagen. Das herauszufinden sei Sache zukünftiger Forschung, findet er. Wichtiger ist ihm, bei aller Gleichartigkeit auch die Unterschiede zwischen der hunnischen und der mongolischen Bewegung herauszuarbeiten:

O-Ton 52:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Dschweschennije Mongolow…
„Die Bewegung der Mongolen hatte einen anderen Charakter als die der Hunnen. Nach der Bildung des Imperiums durch Tschingis Chan war die mongolische Bewegung schon nicht mehr spontan, wie die hunnische zuvor. Die setzte sich wie ein Schneeball durch die Steppe fort. Die mongolische war bereits auf Eroberung gerichtet, trug klar politische Züge: Die Unterwerfung Nord-Chinas, des Hai-Reiches, das den Westen Chinas beherrschte, die Vernichtung der zentralasiatischen Reiche, schließlich, Ost-, dann Westeuropa. Alles nacheinander. Das zielte bewußt auf Weltherrschaft, wie es das vorher nur unter Alexander von Makedonien und Rom gegeben hatte.“

Erzähler:
Aus heutiger Sicht, so der Professor, müsse man Attila, ebenso wie Tschingis Chan wohl als brutale Tyrannen bezeichnen, doch müsse man zu verstehen versuchen:

Übersetzer:
„Das war jene Welt; das war jene Zeit – die Brutalität, der Mord an Verwandten, die Tötung von Ehefrauen, sogar des Vaters, der Mutter; das alles war üblich in der damaligen nomadischen Welt und nicht nur bei ihnen, auch in der römischen oder der griechischen Zivilisation. Unter dem Aspekt der Weltgeschichte würde ich daher die Rolle der Hunnen, erst recht die der Mongolen nicht vollkommen negativ bewerten. Die Millionen an Toten, die sie hinterließen, sind vom Standpunkt menschlicher Moral nicht zu vertreten, aber in beiden liegt eine gewisse Unausweichlichkeit der Menschheitsentwicklung; das war sozusagen die Rückseite der menschlichen Geschichte. Darin aber, daß das Imperium Tschingis Chans schließlich zwei Welten, die östliche und die westliche, engstens zusammenbrachte, lag natürlich sehr viel Positives.“
…mnoga polaschitelno.“

Erzähler:
Die Hunnen zertrümmerten die römische Welt und schufen so die Voraussetzungen für die Entstehung der europäischen Zivilisation, so der Professor. Hauptsächliche Erben des mongolischen Weltreiches aber wurden die Russen. „Schritt für Schritt“, so der Professor, „vollzog sich unter dem Einfluß der Mongolen die Entwicklung der russischen Staatlichkeit, während Moskau die Herrschaft der Chane weiter und weiter nach Osten zurückdrängte. Mongolisches Tribut- und Gefolgschaftsprinzip, ethnischer Pluralismus bei zentralisierter Führung, Sprache und nicht zuletzt nomadische Mentalität gingen so in das entstehende russische  Imperium ein. Aber nicht nur Mongolen und Russen, nicht nur zwei Ethnien, betont der Professor, als wolle er Michael Juchma zitieren, zwei Welten trafen so aufeinander, die nomadische und die seßhafte. Der Konflikt zwischen ihnen habe die Geschichte der Menschheit begleitet und sei heute im Begriff neu aufzubrechen.

O-Ton  53: Musik
Regie: Musik allmählich kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, stehen lassen, mit Applaus abblenden

Erzähler:
Musik…..
Damit hat der Professor ein Stichwort genannt, das über die Schwelle des Jahres 2000 hin Gültigkeit haben wird. Wenn es wohl auch keinen neuen Attila oder Tschingis Chan geben wird, so kommt doch mit Sicherheit eine neue Begegnung von Ost und West auf uns zu.

Altai – Wiege der Völker und letzte Zuflucht?

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin, Zitator
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Achtung: zwei Bobbies
Auf Bobby eins befinden sich alle O-Töne
Auf Bobby zwei (Ende des Bandes) befinden sich alle Musik-Athmos.

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Altai – Wiege der Menschheit und letzte Zuflucht?

Musik 1:        2,27
Regie: O-Ton kommen lassen, ausreichend lange stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Altai – fremde Töne, Land der Sehnsucht. Ein Bergland von den Ausmaßen Mitteleuropas, eine  Nische zwischen den Welten. Der mächtigste Gipfel des Altai, Ak-Sümer, russisch Belucha im Hoch-Altai, markiert mit seinen 4505 Metern Höhe den Kreuzpunkt der Grenzen von vier Ländern aus vier Himmelsrichtungen: Im Osten die mongolische Hochebene bis zur Wüste Gobi, im Süden China und Tibet, im Westen die Steppen Kasachstans. Der nördliche Altai gehört zum heutigen Russland, durch dessen sibirische Tiefebene sich die gewaltigen Flüsse Irtysch, Ob und Jennessej ihre langen Wege zum nördliche Eismeer suchen. Seit 1991, dem Datum der Auflösung der Sowjetunion, wird auch dieses lange verschlossene Stück Erde wieder zugänglich. Die Republik Altai, geteilt in den industrialisierten Vor-Altai mit der Hauptstadt Barnaul und den Hoch-Altai mit der Bezirksstadt Gorno-Altaisk, Berg-Altai, gehört heute zur russischen Föderation. Die Republik verwaltet sich aber autonom und man besinnt sich wieder der eigenen Geschichte und der alten Traditionen des nomadischen Lebens, des Obertongesangs und des Schamanismus. Verehrer des Landes sprechen von der Schweiz Russlands. Gemeint ist damit vor allem Gorno-Altaisk, das bergige Hochland.

Regie: O-Ton hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zuerst kamen jedoch die Reformer, wie überall im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich. Sie brachten offene Grenzen, vor allem aber brachten sie den Impuls der Privatisierung. Er fand offene Ohren bei der mittleren Bürokratie, die sich Unabhängigkeit von Moskau, die selbstständige Nutzung ihrer reichen Erzvorkommen, Kohle und anderer Naturschätze und die Anbindung an westliches Lebensniveau erhoffte. Selbst im hohen Altai ist man reformwillig. Stolz führt Vincenti Tengerekow, leitender Mitarbeiter des Agrokombinats von Gorno-Altaisk, der örtlichen Agrarverwaltung sowjetischen Typs, westliche Gäste durch die Dörfer, um ihnen den Fortgang der Reform zu zeigen. Hin- und her geschüttelt auf unwegsamem Gelände erläutert er unterwegs im Jeep deren Ziele:

O-Ton 1: Vincenti Tengerekow,             0,59
Agrarkomninat in Gorno-Altaisk
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer overvoice:
Jeep, „Predprejatii…
„Die Unternehmen sollen jetzt die Privatisierung durchführen, sich in Aktiengesellschaften umwandeln. Das betrifft Unternehmen der Weiterverarbeitung, Dienstleistungs-, Verkehrs und Versorgungsunternehmen. Die müssen dann entscheiden, ob sie im Kombinat bleiben wollen oder sich selbst organisieren. Auch Kolchosen und Sowchosen, also die Kollektivbetriebe, sollen sich umwandeln. Es wird kleine private Höfe geben. Auch die werden entscheiden müssen, ob sie rausgehen.“

Erzähler:
Dann werde es kein Kombinat mehr geben, setzt er fort, nur einzelne Assoziationen, Betriebe und Höfe. Das Kombinat werde sich in Ministerium für Landwirtschaft verwandeln.                            …kombinata njet.“

Erzähler:
Schnell setzte allerdings Ernüchterung ein. Edmund Voll, Chef des Butter-Käse-Kombinats von Gorno-Altaisk, der unmäßigen Hitze wegen hemdsärmelig unter einem altersschwachen Ventilator, bricht bei der Frage nach der Privatisierung in Lachen und Stöhnen zugleich aus:
O-Ton 2: Edmund Voll,
Chef des Butter-Käse-Kombinats               0,10
Regie: O-Ton mit Lachen kommen lassen, ganz stehen lassen,

Originalton:
Lacht, „Chotsche jest… no motsche njet –„
„Wir wollen es schon, aber wir können es nicht.“

Erzähler:
Um Butter und Käse privat rentabel produzieren zu können, erklärt Edmund Voll weiter, brauche man ein Minimum von fünfzig Kühen;  um fünfzig Kühe halten zu können, brauche man brauche Kannen, Töpfe, eine ganze Kanalisation und vor allem: Heu! Anders als in Deutschland wachse im Altai das Gras jedoch nur fünf Monate.
Beim Vergleich mit der Schweiz stöhn der Direktor auf:

O-Ton 3: Voll, Forts.         1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Stöhnt „Ponimaetje, wy mne sadali….
„Sie stellen Fragen! Das ist so als ob Nord- und Südpol vergleichen wollte. Aber nur geografisch, nur äußerlich kann man den Altai mit der Schweiz vergleichen. Das Klima hier ist vollkommen ist  härter! Aber ein Vermögen haben wir in Gorno-Altai (Achtung: hier nicht „Altaisk“) Die ökologische Reinheit! Der Altai ist eine Zone, die noch geschützt ist vor dem Einfluss der Großkonzerne, Fabriken, der Gasgewinnung usw. In diesem Sinne haben wir einen großen Reichtum. Hier wachsen noch ungefähr 2000 geschützte Pflanzen, von ihnen sind mehr als 300 Heilkräuter. Wenn die Kühe diese Gräser fressen, unser frisches Wasser trinken, dazu noch die reine Luft und die Sonne – dann ist die Biomasse, die Bioqualität der Produkte dreimal höher als in der Schweiz.“
…dwa, tri rasa.“

Erzähler:
Edmund Voll hat Grund, diese Reinheit von Gorno-Altai (sic!) zu betonen: Sind die hässlichen Produkte der Industrialisierung in den letzten fünfzig Jahren doch von allen Seiten herangekrochen: Vom berüchtigten sibirischen Kusbass im Norden, aus dem kasachstanischen Karaganda im Westen haben sich die Kohlegruben bis nach Barnaul, Rubzowsk und andere Orte im westlichen Vor-Altai vorgefressen; die angrenzende kasachische Steppe wurden von den Sowjets, die Wüsten Gobi im Osten, die Takla Makan im Süden von der VR-China in atomares Versuchsgelände verwandelt. Und trotz seines Stolzes auf die ökologische Reinheit seiner Heimat gehört Edmund Voll doch zu den Befürwortern des noch in sowjetischer Zeit geplanten Staudamm-Projektes, das die Reformer nach 1991 mit Volldampf vorantreiben wollten, mit dem sie aber auf den Widerstand der Naturschützer stießen, die das Projekt als sowjetische Gigantomanie ablehnten.

Musik 2: Maultrommel
Regie: O-Ton unter dem Text allmählich kommen lassen, Textende kurz frei stehen lassen, allmählich abblende, unterlegen

Erzähler:
Den Reformern folgten die Forscher und Forscherinnen. Seit zumindest der ehemalige sowjetische Teil, also außer dem Altai selbst auch Kasachstan und die von der Sowjetunion quasi besetzte Mongolei, wieder frei zugänglich ist, erlebt die Altaiforschung einen Aufschwung. Die ersten sind die Sprachforscher: Frau Dr. Eva Schaki kommt aus Budapest. Sie forscht nach dem Schlüssel, der die Sprachen des sibirischen Raumes verbindet angefangen beim Tungisischen im Norden Sibiriens über das Alt-Türkische und Mongolische bis ins Ungarische hinein. „Es sind“, so Dr. Schaki, „Sprachen mit derselben Struktur: Sie agglomerieren.“
„ Das heißt“, erklärt sie, „man bildet Sätze durch Anhäufung, man hängt die Suffixe ans Ende der Wörter. Im Grunde“, fasst sie zusammen, „kommt die Sprache aus einem ähnlichen Denken“:

O-Ton 4: Frau Schaki,     0,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß abblenden

Übersetzerin:
„Since this area…
“Soweit es diesen Raum betrifft, ich spreche vom Steppengebiet Euroasiens, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Menschen in einer Art Netz miteinander lebten. Sie beeinflussten sich immer gegenseitig.“
…each other.“ (abblenden)

Erzähler:
Paläontologen, Ethnologen, Archäologen und viele andere Forscher und Forscherinnen durchstreifen den Raum in ausgedehnten Expeditionen, um dieses Netz zu erforschen. Seit der Öffnung des Altai 1991 geschieht das auch mit Unterstützung der UNESCO, die den Altai zum Weltkulturerbe erklärt hat. Entdeckungen wie die Saurierfriedhöfe in der Wüste Gobi, wie die vollkommen erhaltenen Mammuts im Permafrostboden Sibiriens, die dort offensichtlich von einem Moment auf den nächsten eingefroren waren, lassen die Vermutung aufkommen, dass das sibirische Zentralasien und als sein geografischer Mittelpunkt der Altai einstmals nicht nur für Großtiere und Urpflanzen, sondern auch für Vorläufer der menschlichen Rasse günstige, möglicherweise sogar besonders günstige Entwicklungsbedingungen boten.
Einer, der sich diesem Thema besonders gewidmet hat, ist der mongolische Archäologe und Anthropologe Belikt Lowzenwandon Besutow. Was Linguisten sich erschließen müssen, sieht er durch archäologische und anthropologische Funde erwiesen: Der Altai, meint er, war ein Schmelztiegel, wenn nicht gar der Ursprung all der Völker, die man heute in Euroasien kennt. Begeistert zeigt er seine neuesten Schädelfunde:

O-Ton 5: Belikt Lowzenwandon Besuto,     0,17
Anthropologe in Ulaanbaator
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja magu pakasatj…
„Ich kann Ihnen mein Material zeigen, meine menschlichen Schädel, mein Material an menschlichen Knochen. Ich untersuche sie, ich vermesse die rassenmässigen Charakteristiken:
…karakteristiki.“ Papiergeraschel

Erzähler:
Bei diesen Worten wickelt er die sorgfältig ausgepackten Schädel aus, weist auf die Unterschiede der Schädelbildung hin: Breites Gesicht, flache Nase hier, hohe enge Stirn, hohe Nase dort. „Schon in der Bronzezeit lebten sowohl Mongoloide wie auch Europäide hier“, erklärt er, „genau wie heute.“ Auch heute finde man alle Typen von Schädeln in allen möglichen Mischformen im sibirisch-zentralasiatischen Raum. Sie kommen alle, so der Forscher, aus dem Raum des Altai. Endlich könne er das jetzt beweisen:

O-Ton 6: Belikt Lowzenwandon, Forts.     0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Swje Mongolowedi…
„Das sagen alle Mongoloweden: Es gibt eine große Familie der altai-ischen Sprachen. Das ist der kultur-historische, der geografische Raum der großen Steppe. Von Korea, von der nordchinesischen bis zur südrussischen Steppe, der ganze Steppenkorridor, erstreckte immer schon ein Siedlungsgebiet; nach Christi Geburt dann die Hunnen, Sembizen, Dschudjanen, Türken, Uiguren, Kirgisen, später die Mongolen, Tschingis Chan. Sie alle haben zeitweise über die Bewohner der Steppe geherrscht, Nomaden.“
…katschewnikami.“ Tür

Erzähler:
Prof. Alexander Fedotow, ein junger Bulgare mit Begeisterung für die neue Zeit, aber tiefem Verständnis für die Bedeutung von Traditionen, will noch weiter vordringen. Er versucht, den Mythos des Altai zu erfassen, der in seinen Epen, Gesängen und schamanischen Traditionen lebt. Prof. Fedotow forscht und lehrt an der Universität zu Sofia, verbringt aber viel Zeit auf Expeditionen in Korea, der Mongolei, Südrussland oder im Hoch-Altai. Er fand heraus, dass all die Gebiete durch gemeinsame mythische Motive miteinander verbunden sind; am Motiv dessen, was er die „Wunderbare Geburt“ nennt, wirbt er vor Kollegen und Kolleginnen für diese Sichtweise:

O-Ton 7: Prof. Fedotow, Alta-ist aus Bulgarien    0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„So, the motive of miraculous birth…
“So ist das Motiv der wunderbaren Geburt also in Legenden weit verbreitet. Das gibt Grund genug, Vergleichstudien zwischen koreanischen und altai-ischen Mythologien zu betreiben. Danke.“
…Thank you for attention”, Beifall

Erzähler:
Im Gespräch konkretisiert Prof. Fedotow, warum er nicht nur Mongolen, Türken, Mandschus, Tungisen, Tuwa, Kasachen und all die bereits von seinen Kollegen und Kolleginnen genannten Völker, sondern auch die Koreaner und selbst die Japaner dem mythischen Raum des Altai zuschlägt:

O-Ton 8: Fedotow, Forts.     1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluss ausblenden

Übersetzer:
„All the things are…
“All diese Dinge sind sehr ähnlich und es sind Dinge, die alle sehr, sehr alt sind. Kann sein, dass die Mythen mit diesen Menschen auf die Halbinsel kamen oder dass sie von Menschen hervorgebracht wurden, die dort schon lebten – so oder so: in dieser Periode war das Bewußtsein das gleiche, es war altai-isch. Danach erst wurden sie Konfuzianer, wurden sie Bhuddisten usw. In jedem Fall ist klar, dass der Altai eine Art kulturellen Zentrums für die Entwicklung vieler Zivilisationen war wie die mongolische, wie die türkische, wie die mandschurische, wie die koreanische. Ich fand auch sehr enge Verbindungen der altai-ischen Welt mit der tibetischen Zivilisation in der materiellen und in der spirituellen Kultur.“
…spiritual culture.“ (ausblenden)

Erzähler:
Über die Behringstraße, die seinerzeit noch passierbar gewesen sein müsse, so Prof. Fedotow, hingen auch die Indianer mit dem Altai zusammen. Davon ist er überzeugt. Gefragt, ob er den Klimaverschiebungen des vorgeschichtlichen Sibirien Bedeutung für seine Forschungen beimesse, antwortet er:

O-Ton 9: Fedotow, Forts.     1,06
Regie: O-Tom kurz steteh lassen abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da,da, da….
„Ja, ja, ja, ja, ja! Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber es ist durchaus möglich, dass bis zu einer Naturkastrophe im Raum des Altai ein in jeder Beziehung angenehmes Klima für die Entstehung einer archaischen Megazivilisation bestand, die sich dann ausgebreitet hat. Man kann die Augen einfach nicht davor verschließen, dass all diese Menschen, auch die Japaner, obwohl sie dem vielleicht nicht zustimmen mögen, und die Koreaner, die ganze Bevölkerung entlang des Flusses Amur, alle mongolischen Völkerstämme und die türkischen eine Menge Gemeinsames verbindet – sowohl die Sprache, das vor allem, wie auch die Merkmale ihrer materiellen Kultur.“
… attuda.“

Erzähler:
Und sie wissen vermutlich auch, lacht er, dass in Europa ebenfalls mindestens zwei Völker existieren, die sich von dieser Kultur herleiten, die Ungarn und die Bolgaren, nicht zu vergessen die vielen nicht-slawischen Völker im Kaukasus und an der mittleren Wolga, die Unganrn und die Finnen: Die ganze ethnische Geschichte dieses riesigen Zentralasiens, findet er, bedürfe dringender wissenschaftlicher Erforschung:

O-Ton 10: Fedotow, Forts.    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch Musik 3 einspielen, am Ende Ton hochziehen, ausblenden und Musik hochziehen, allmählich ausblenden

Übersetzer:
„Wide nauke…
„In der Wissenschaft wird Zentralasien als ethnischer Kessel bezeichnet. Die Völker waren entweder Nomaden oder Halbnomaden. Sie waren durch gleiche geografische Bedingungen verbunden. Sie können nicht anders existieren. Deshalb denke ich, dass in den Vorstellungen von einer Megakultur ein rationaler Kern liegt.

Musik 3: Gesang     1,04
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Übersetzer, Forts.
In der Welt gibt es nun einmal die beiden Arten von Zivilisation, die sesshafte und die nomadische. Die nomadische entwickelte sich zwischen den sesshaften Polen in China und dem Westen. –
So hat es sich entwickelt.“
…tak polutschilas.“

Regie: O-Ton ausblenden, Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Ökologische Nische, Etnischer Kessel, Megakultur – damit ist das Thema benannt, das den Raum des Altai heute zur Attraktion werden lässt. Romantiker und Visionäre aus aller Welt suchen darin eine Alternative zur industrialisierten Welt. Das gilt vor allem für Russen aus den städtischen Ballungszentren, also aus Moskau und St. Petersburg; für die sibirischen Städte Nowosibirsk, Krasnojarsk oder für kleinere Industrie-Agglomerationen ist der Altai – russische Maßstäbe für Entfernungen berücksichtigt – Nah-Erholungsgebiet.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen, danach langsam abblenden

Einer dieser Menschen ist Boris Werschinin. Er ist Direktor des Museums für Völkerkunde in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau und leitender Mitarbeiter in der Moskauer Kulturorganisation „Ethnost“, die sich um eine Aufarbeitung und Pflege der innerrussischen Völkerbeziehungen bemüht. Er ist leidenschaftlicher Verehrer des Altai, den er auf den Spuren seiner großen Vorbilder Nicolas und Helena Roehrich immer aufs neue bereist. Sie entdeckten in den zwanziger Jahren den Altai im Zuge einer sechsjährigen Expedition für Russland spirituell.  Roerich-Gesellschaften, die es heute in fast in allen größeren Städten Russlands gibt, spielen gegenwärtig eine wichtige Rolle als Stichwortgeber einer kulturellen und spirituellen Erneuerung des Landes. Im Altai sind Nicolas und Helena Roehrich bis heute hoch geachtet. Am Rande eines Kongresses in Ulaanbaator erklärt Boris Werschinin sein Engagement für den Altai auf den Spuren der Roerich-Expedition mit den Worten:

O-Ton 10 Boris Werschinin,     0,47
Direktor des Museums für Völkerkunde
in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Eta expeditia, ana…
“Diese Expedition war keine normale Expedition. Diese Expedition war mit der kosmischen Evolution der Menschheit verbunden. Wir wissen alle, dass auf dem Planeten immer ein kosmischer Focus entsteht, das heißt, eine besondere Region, die mit dem Kosmos verbunden ist. Und auf diesem Boden geschieht gewissermaßen eine energetische Entzündung und dort geschieht die Erzeugung einer neuen Kultur, einer neuen Zivilisation. Und periodisch verlöschen diese Kulturen und die Zivilisationen gehen zugrunde.“
…rasruschajetsja.“

Erzähler:
Boris Werschinin betrachtet den als globale Ressource ökologischer und spiritueller Erneuerung:

O-Ton 11: Werschinin, Forts.    1,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, wa perwich…
„Erstens ist es ein besonderes Territorium, das eine einzigartige geografische Landschaft besitzt. Zweitens bildet die Region eine ökologische Nische, die bisher nicht urbanisiert wurde. Man muss sie als ökologische Ressource erhalten und entwickeln, denn für den Planeten ist es wichtig, eine solche große Reproduktionszone zu haben, die den Planeten harmonisieren kann. Aus der Sicht der Ökologie ist ein Zukunftsprojekt. Viertens interessiert mich die Region unter dem Gesichtspunkt der Geopolitik: Diese Region ist ein Rad, das  umgeben ist von vier großen Reichen: Im Norden Russland, im Osten das große China, im Süden Indien und im Westen die islamische Zivilisation. Der Altai trennt diese Welten einerseits, schützt sie als Puffer sozusagen, andererseits vereinigt sie sie. Diese Reiche können und müssen daher an dem Projekt Altai mitwirken.“
…wot etich programm.“

Erzähler:
Noch höher, ganz auf der Höhe der Zeit, siedelt Bat Sur Dschem Jangin das Thema an. Er ist Direktor des „Zentrums für nationale Anthropologie am medizinischen Institut“ von Ulaanbaator in der Mongolei. Seine Interesse gilt der Erhaltung des genetischen Fonds Zentralasiens. Unter genetischem Fond versteht er die Fähigkeit, welche Völker entwickeln, sich an die ökologischen Bedingungen eines bestimmten Raumes anzupassen. In einer Zeit, in der globalen Migration, in der Viren mit Überschallgeschwindigkeit rund um den Globus geschleppt werden könnten, so der Genetiker, bestehe die Gefahr, dass die Fähigkeiten zur Anpassung verlorengingen:

O-Ton 12: Bat Sur Dschem Jangin     0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen. Abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna ssewodnja charascho…
„Natürlich, das ist heute gut: Die Menschen lieben einander, treffen sich, heiraten, bekommen Kinder, weltweit, alles gut, einerseits macht das nichts. Andererseits verlieren die Genfonds, die an eine ökologische Nische angepasst waren, ihr Gleichgewicht; es können Gene eingeschleppt werden, die nicht angepasst sind. Sie können Krankheiten verursachen. Wir studieren den Genfond der hiesigen Bevölkerung daher mit dem Ziel, den eingeborenen, ursprüglichen Genfonds zu erhalten.“
…aboregeni Genofond (ausblenden)

Erzähler:
Im INTERNET wird der Altai heute als bevorzugte Adresse für zivilisationsmüde Städter aus aller Welt angeboten, die hoffen, dort einen echten Schamanen zu treffen. Die wenigen nach dem Aderlass der Sowjetzeit dort praktizierenden Schamanen dagegen ziehen sich vor diesem Rummel in die Berge oder einfach in die Anonymität zurück. Es stellt sich die Frage: Der Altai als Bio-Park, als Museum für lebende Nomaden und globaler Genfond – kann dies die Lösung für die Probleme der industriellen Welt sein?

Musik 4:     1,34
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Wäre es nicht richtiger, einfach von der nomadischen Kultur zu lernen, wie man weniger Ressourcen verbraucht, wie man mobiler unterwegs sein kann, wie man die Verbindung zur Erde mit allen Sinnen, aber auch mit allen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten von heute erneut aufnehmen kann, also energisch voran, statt wieder einmal zurück zur Natur zu schreiten? Die Auseinandersetzung um diese Frage hat erst begonnen. Der Altai wird dabei ein wichtige Rolle spielen.

Anatomie der russischen Seele

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen: 27.434
Gesamtlänge der O-Töne: 24,09

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung:
Athmos und O-Töne nacheinander auf dem Band!
Erst die Athmos, dann die Töne
– Atmos:    4
– O-Töne: 19

Bitte die O-Ton Schlüsse weich auf- und abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Anatomie der russischen Seele

Athmo 1: Sänger auf der Ostseefähre                1,50
Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, verblenden mit Athmo 2

Erzähler:
Russischer Abend auf der „Anna Karenina“. Auf halber Strecke zwischen Travemünde und St. Petersburg, zwischen Westen und Russland geben Sänger und Tänzerinnen den Touristen, was sie erwarten: Wiedergeburt des alten Russland im neuen Gewande – Vorhang hoch, Blick frei auf die lange verborgene russische Seele!
Melancholie, Folklore, Stiefeltänze – alle Klischès, die der Westen zum russischen Wesen zu bieten hat, werden den Reisenden vorgeführt. Seinen westlichen Besuchern präsentiert sich das neue Russland heute nach dem Motto des alten, das der russische Dichter Tjutschew vor mehr als 15o Jahren mit den Worten beschrieb, mit dem Verstand sei Russland nicht zu fassen, an Russland könne man nur glauben. So nähern sich die Reisenden Russland in einer Verfassung, in der sich Neugier, unerklärliche Sehnsucht und Furcht vor dem Unbekannten zu einem angenehmen Schauder verbinden.
Musik, Beifall. hochziehen, verblenden

Atmo 2: Hare Krischna Gruppe auf der Straße                0,49
Verblenden, hochziehen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Wie verblüfft sind die Ankommenden jedoch, in den Straßen von St. Petersburg nicht russische Lieder, sondern spirituellen Import aus Indien zu hören, der ihnen aus dem Westen bestens bekannt ist: „Hare Krischna, Hare Hare“ singt die Gruppe junger Krischna-Adepten, die durch die Innenstadt St. Petersburgs zieht, um weitere Anhänger zu werben. Der seelische Notstand des reformgeschüttelten Landes treibt ihnen die jungen Leute zu. Eine genaue Zahl ist nicht bekannt.
Die Umstehenden reagieren gelassen:
Musik, verblenden

O-Ton 1: Passanten in St. Petersburg                          1,03
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Hauptsache sie glauben überhaupt etwas“, meint eine junge Frau mitten im Gewühl. Sie hat Mühe sich verständlich zu machen.
„Jeder hat seinen Gott,“ setzt sie hinzu. „Aber unser Gott ist das natürlich nicht. „Den müsse man doch eher im Christentum suchen.
„Es geht um die Seele“, wirft jemand ein.
„Wir haben ja jede Richtung verloren“, fährt die junge Frau fort. „Sie wissen schon, Perestroika. Deshalb diese Suche bei uns. Man sucht in den Religionen, im Christentum, im Buddhismus, bei den Krischnas, überall.“
…ischit eto we religie…

Erzähler:
Szenen wie diese sind seit Anfang der neunziger Jahre in Russland alltäglich geworden. Perestroika, ins Deutsche übersetzt: Umbau, führte nicht nur zu wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltungen. Sie hinterließ auch die russische Seele als einen gewaltigen Bauplatz. Abriß, Umbau und Neubau gehen dabei an vielen Stellen gleichzeitig vor sich, ohne dass jemand über einen Bauplan verfügte. Eine dieser Stellen wurde die psychologische Fakultät der Universität von Krasnojarsk. Anfang der 90er Jahre gründet ihr Leiter, Prof. Viktor Makarow, die „Freie Universität für mentale Ökologie“, die sich die Suche nach geistiger Gesundheit und einer neuen Spiritualität zum Ziel gesetzt hat. In mehrmals jährlich stattfindenden Zehn-Tage-Kursen, „Dekadniks“, die als Schiffsreise von Krasnojarsk zur Mündung des Jenessej im Nordmeer und wieder zurück abgehalten werden, verbindet Professor Makarow psychologische und psychotherapeutische Grundlagenforschung, praktisches therapeutisches Training und die Entwicklung eines neuen, ökologisch orientierten  Freizeitverständnisses miteinander.

Athmo 3: Musik auf dem Flussschiff:                           1,41
Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Auch auf diesem Schiff wird russisch gesungen. Aber was den professionellen Sängern auf der „Anna Karenina“ so selbstverständlich gelang, muss hier mühsam dem Vergessen entwunden werden. Gut 250 Menschen haben sich auf dem Schiff versammelt. Sie kommen aus allen Gegenden Russlands und aus den verschiedensten Berufen, die mit seelischer und geistiger Gesundheit zu tun haben: Psychologen, Therapeuten, Heiler, Gurus auf der Seite der Lehrenden, die auch miteinander experimentieren, Lehrer, Ärzte, Pflegepersonal, angehende Sozialarbeiter, Studenten und Studentinnen als Lernende, dazu Menschen, die einfach nur Heilung suchen. Das Angebot erstreckt sich von akademischen Vorlesungen zur Psychologie über „runde Tische“ zu sozialpolitischen und kulturellen Fragen des nachsowjetischen Wandels bis hin zu therapeutischer Praxis, den sog. „Trainings“, von denen man sich konkrete Impulse für die eigene Arbeit oder auch persönliche Erkenntnisse oder einfach nur Hilfe erhofft. Sie reichen ihrerseits von klassischen sowjetischen Methoden wie Hypnose bis hin zu tantrischen, schamanischen und anderen Szeancen..

O-Ton 2: Klingel, Auditorium, Prof. Viktor Makarow                1,22
Regie: Verblenden, Klingel frei stehen lassen, nach den ersten Worten abblende, unterlegen, ausblenden

Erzähler:
Psychologie, erklärt Professor Makarow in seiner Eingangsrede, nehme heute in Russland einen neuen Stellenwert ein. Russische Psychologie habe die Chance, Ost und West, Alt und Neu, traditionelle und moderne Methoden auf neue Weise für den Wiederaufbau der eigenen Kräfte zu nutzen, allerdings, schränkt er ein, nur wenn gezielt daran gearbeitet werde.
Schon beinahe provokativ in seiner Sachlichkeit, fasst er diese Botschaft in die Worte:

O-Ton 3: Makarow, Forts.                                0,38
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer obervoice:
„Sewodnja is…
„Heute kommt russische Kultur aus der Emigration zu uns zurück. Zu unserem Bedauern müssen wir allerdings feststellen, dass in der Psychologie und Therapie kaum Russisches zu uns kommt. Leider ist das nicht so. Vielmehr ist es so, dass durch unsere offene Tür in den letzten Jahren Konzeptionen westlicher und östlicher Methoden geradezu hereinstürzen. Und oft geschieht das in so einer Art, man kann schon sagen, Kolonisation“.
…tak skaschim

Erzähler:
Die Anregungen aus Ost und West aufzugreifen, der Kolonisation jedoch mit der Entwicklung eigener Konzepte entgegenzutreten, ist das Anliegen, das Viktor Makarow mit der Durchführung seiner „Dekadniks“ verfolgt. Die Konzeption der mentalen Ökologie, so Perspektive des Professors, beinhalte eine spirituelle Sicht der Welt und der Gesellschaft als Ganzes, die es möglich mache, das die russische Gesellschaft gesunde und neue Kraft gewinne.
In einer kleinen Arbeitspause erläutert er, wie das zu verstehen ist. Das Land, erklärt er, habe sich seit Einsetzen der Perestroika entschieden verändert:

O-Ton 4: Makarow, Forts.                                  0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Djeszet, pjatnazet…
„Zehn, zwanzig Jahre zurück bestand unsere professionelle Aufgabe darin, in professionellen Anstalten zu arbeiten: in Krankenhäusern, in Anstalten. Aber heute ist unser ganzes Land wie ein einziges Krankenhaus. Das heißt, unsere professionelle Aufgabe besteht heute darin, Lösungen für die Gesellschaft zu finden und nicht nur in den einzelnen Anstalten.“
…we etich utverschdennich.“

Erzähler:
Früher habe man in einem Netz sozialer Garantie gelebt, fährt der Professor fort, es war lange im voraus klar, was der nächste Tag bringen werde. Jetzt heiße es Geld verdienen, sich durchsetzen, erfolgreich werden. Was morgen komme, sei ungewiss. Aber wie werde man erfolgreich? Wie könne man solche Ungewissheit ertragen, wie unter solchen Umständen geistig und seelisch gesund bleiben, wie Selbstbewusstsein gewinnen? Das wisse heute niemand in Russland. Das müsse erforscht, Rat, Hilfe, Stützen und neue  Möglichkeiten, die Lebenskräfte zu stärken, müssten gefunden werden:

O-Ton 5: Makarow, Forts.                                  0,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Paka my destwitelna…
“Zur Zeit sammeln wir, sammeln wir faktisch von allen Seiten. Aber darüber hinaus sammeln wir schon nicht mehr nur, sondern bauen auf Basis dessen, was wir sammeln, auch schon unser Eigenes auf.
…sasdojom swoju.“

Erzähler:
Das Sammeln, das Assimilieren, konkretisiert der Professor auf die Frage, was er unter „Eigenem“ verstehe, sei überhaupt ein Charakterzug des russischen Volkes:

O-Ton 6: Makarow, Forts.                                 0,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„My raschirajeschjasja…
„Wir sind ein offenes, ein weites Volk. Wir sind eine Nation, die gern andere bei sich aufnimmt, die gern zwischen anderen lebt, die keine Feindschaften ausbildet, so ein enger Nationalismus ist uns fremd, ja, das ist so eine Besonderheit von uns.“
…asobenost takaja.“

Erzähler:
Von einer Romantisierung der russischen Seele, wie sie von orthodoxen Christen und von Alt-Sowjets heute vorgenommen wird, welche die christliche Nächstenliebe oder soziale Hilfsbereitschaft zum unvergänglichen spirituellen Kern russischen Wesens erklären, hält Professor Makarow allerdings nichts.
Sachlich meint er:

O-Ton 7: Makarow, Forts.                                                          0,31
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu, ja dumaju…
„Nun, ich denke, dass russische Menschen  nicht spiritueller sind als andere Menschen; sie sind nur weniger organisiert. Deshalb entsteht der Eindruck, dass sie eine besondere Spiritualität haben. Es ist aber so: Sie sind nur einfach weniger organisiert und weniger an systematische und ständige Arbeit gewöhnt.“
…pastajannumu trudu.“

Erzähler:
So unterkühlt, beinahe sarkastisch wie diese Feststellung klingt, so banal klingt die Begründung, die Professor Makarow dafür gibt; dabei führt sie aber mitten doch in die russische Wirklichkeit:

O-Ton 8: Prof. Makarow, Forts.                                                   0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Eta paschlo…
„Das entwickelte sich aus der Folklore. In unserer Folklore, in unseren Märchen arbeitet niemand, niemand tut etwas. Unklar in den Volksmärchen, womit die Menschen sich beschäftigen, alle erholen sich. Das ergab sich offensichtlich aus der ziemlich reichen Umwelt, die den Menschen die Möglichkeit gab, ohne allzu harte Arbeit zu leben – die große Weite, in welcher der Mensch nicht bedrängt war.“
…tschjelowjeka.“

Erzähler:
Dieselbe Weite, so Professor Makarow, konfrontierte die Menschen andererseits mit starken Extremen, mit extremen klimatischen Unterschieden und Härten, mit extremer ethnischer Vielfalt bis zum Chaos, mit dem Zwang, immer wieder fremde Einflüsse aufnehmen zu müssen und sich mit ihnen arrangieren zu müssen. Dies habe die Menschen immer wieder zu spontanem Handeln gezwungen. Sorglosigkeit und Bedrohung, daraus folgend Großzügigkeit und Ängstlichkeit lagen beständig dicht beieinander. Im Ergebnis habe sich daraus  eine psychische Struktur entwickelt, die man als seelischen Extremismus bezeichnen könne.
Um eine Verdeutlichung gebeten, antwortet der Professor:

O-Ton 9: Prof. Makarow, Forts.                                                     0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu odnoi stranje…
„Nun, das ist einerseits die große Trägheit. Im russischen Sprichwort klingt das so: „Bevor es nicht donnert, bekreuzigt ein Mann sich nicht.“ Das heißt, zunächst tut man gar nichts, dann stürzt man sich heldenhaft darauf alles zu retten. Wenn man normal arbeiten würde, hätte man den Heroismus nicht nötig.. “
…ja nje snaju.“

Erzähler:
„Aber ich weiß nicht genau“, schließt der Professor; „das ist alles sehr schwierig.“ Und in der Tat: Deutungen anderer Teilnehmer der von ihm organisierten „Dekadniks“ widersprechen seiner Sicht, wie es scheint diametral. So etwa die Ansichten einer Gruppe von Anhängern Porfirjew Iwanows, eines sibirischen Meisters. Ihm folgen viele Menschen in Sibirien. Die „Iwanowzis“, wie man sie nennt, sehen russisches Wesen gerade nicht in der Assimilation wie ihr Gastgeber Makarow, sondern umgekehrt in der Konzentration: Erst in der systematischen Abhärtung gegenüber extremer Kälte und extremer Hitze kommt der russische Mensch ihrer Ansicht nach zu seinem wahren Wesen. Hierin bestätigen sie allerdings letztlich doch wieder nur Makarows Sicht des seelischen Extremismus und mit ihrer bloßen Anwesenheit auf dem Schiff seinen pluralistischen Ansatz.
Ähnliches gilt für die anderen Methoden, Modelle, Erkenntniswege, die auf den „Dekadniks“ vorgestellt werden. Nur wenige jüngere Leute, einige von Ihnen ehemalige Studenten und Studentinnen des Professors, wollen sich mit dessen breitem Weg des pluralistischen Sammelns und Assimilierens nicht zufrieden geben. Sie suchen nach tiefergehende Erklärungen für das, was mit den Menschen  ihres Landes heute vorgeht. Sie verstehen sich als angehende Psychoanalytiker.
Eine von diesen jüngeren Leuten ist Irina Golgowskaja, eine junge Frau aus Nowosibirsk in Sibirien. Sie ist die Vertreterin einer „Klinik 2001“, in der sich nach 1992 eine Gruppe junger sibirischer Ärzte und Psychologen zusammengeschlossen hat.
Ganz wie Professor Makarow wendet Frau Golgowskaja sich zunächst gegen die Vorstellung, die russische Seele sei etwas Besonderes:

O-Ton 10: Irina Golgowskaja                            0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Mnje kaschetsja…
„Mir scheint, die Probleme, mit denen ich mich beschäftige, sind überall, bei allen Völkern die gleichen, sie sind international. Sie haben natürlich eine spezielle sowjetische oder russische Färbung, aber generell haben meine Patienten dieselben Sympthome wie die in anderen andern Ländern. Das denke ich.“
…Ja tak dumaju.“

Erzähler:
Wie viele Ärzte und Psychologen der jüngeren Generation hat auch Frau Golgowskaja die Schriften Freuds, Adlers, Jungs und die ganze nachfolgende Entwicklung der westlicher Psychoanalyse und Psychotherapie in Intensivkursen nachgearbeitet, seit die sowjetischen Denkverbote unter Michael Gorbatschow fielen. Sie verfügt damit über ein doppeltes theoretisches Instrumentarium, das aus einer Verquickung alter sowjetischer und neuer westlicher Schulen hervorgeht. Ihr Interesse gelte zunächst einmal Menschen, erklärt sie, den Grundstrukturen menschlichen Seins, nicht Russen, Sowjets, einzelnen Völkern, Nicht-Russen oder Verhaltensweisen von Menschen bestimmter Zeiten. Sie untersuche die Realität des Menschen als Produkt des generellen Kampfes zwischen moralischen Forderungen, Tabus und Verboten der Gesellschaft und den Instinkten des Einzelnen, die – Selbsterhaltung, Ernährung und Sexualität – die von der Gesellschaft, vertreten durch Staat, Schule und Familie, diszipliniert werden. Allein hierin könne es Unterschiede geben:

O-Ton 11: Golgowskaja, Forts.                                                       0,49
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Mir soziume……
„Die Welt des Soziums, also der Gesellschaft und ihrer Organe, ist nicht auf Offenbarung der Instinkte aufgebaut, sondern auf deren Unterdrückung. Instinke sind verboten, das ist das Erste. Instinkte werden verdrängt. Instinkte werden sublimiert. Alles mögliche macht man mit ihnen, bloß eine Offenbarung reiner Instinkte gibt es nicht. Ein Unterschied zwischen den Gesellschaften liegt möglicherweise darin, in welcher Weise die Menschen sie verdrängen, sublimieren usw.
…schtota delajut.“

Erzähler:
Unter dieser Definition kommt Frau Golgowskaja dann aber doch, ähnlich wie vorher Professor Makarow, zu einigen, wie sie vorsichtig einschränkt, ersten Beobachtungen über das, was sich heute im seelischen Raum Russlands an besonderen Entwicklungen ereignet:

O-Ton 12: Golgowskaja, Forts..                                                      1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
“Ja sametila…
„Ich beobachte, dass unser Land sich formal geöffnet hat, wir reisen heute ins Ausland, wir sind Touristen, wir machen Geschäfte usw. usf. Formal gibt es heute keine Grenzen. Das Land ist offen. Zugleich ist es enger geworden. Man hat das Gefühl, dass Russlands Inneres wieder abgeschlossen ist und dass es da drinnen arbeitet, irgendwie, so wie ein Suppe kocht. Was das wird, ob es Ausbrüche geben wird oder die Suppe schlecht kocht, das weiß keiner, aber es brodelt. Ja, da geht heut so ein Prozess vor sich, dass die russische Seele gekocht wird, Erinnerung hochkommt, eine Wiedergeburt stattfindet.“
…wosraschdennije ruskowo duschi.“

Erzähler:
Zwar will Frau Frau Golgowskaja sich nicht festlegen, was aus diesem Prozess hervorgehen mag. Vieles sei noch zu ungewiss, auch wisse niemand, ob nicht der Strom noch zwischendurch ausfalle. Einzelne Elemente dessen, was sie in dem großen Topf erkenne, ist sie nach einigem Drängen aber doch bereit zu benennen:

O-Ton 13: Golgowskaja, Forts.                        1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Nu, element kristianstwa…
„Nun, das Element des Christentums, das kocht da; aber es muss noch durchgekocht werden und rückwärts wieder hinaus. Christentum ist in in Russland nicht mehr möglich, nicht, weil ich das nicht will, sondern einfach weil es hohl ist. Natürlich bleibt etwas zurück, eine Art Sud; natürlich geht das Ganze nicht in zwanzig Jahren, nicht in hundert Jahren. Diese Suppe wird noch lange kochen.  – Weiter sehe ich auch solche Elemente, in denen sich die Russische Seele tatsächlich von anderen Seelen unterscheidet. Auch die kochen dort: Zutraulichkeit, Aufrichtigkeit, Offenheit.“
…otkritost.

Erzähler:
Solche Züge der russischen Mentalität kann Frau Golgowskaja durchaus erkennen, selbst in den Turbulenzen der tiefgehenden transformation, die sich heute in Russland vollzieht, auch wenn sie darin keine prinzipiellen Unterschiede sehen möchte. Doch anders als bei den Westeuropäern laufe bei russischen Menschen vieles direkter, meint sie, weniger über Worte, intuitiv. Es falle ihr schwer genauer zu werden, schränkt sie gleich wieder ein, denn sie kenne Ausländer noch nicht so gut, um vergleichen zu können. Vergleichbare Züge habe sie aber bei ihrem ersten Besuch in Afrika angetroffen.
Dann wagt sie einen Erklärungsansatz:

O-Ton 14: Golgowskaja, Forts..                                            1,04 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Snajesch…
„Man kann es vielleicht so erklären: Dass der russische Mensch möglicherweise auf einer früheren Stufe der Entwicklung steht als die Europäer. Aber wenn der Mensch noch näher an der Biologie steht, mehr in der nonverbalen Sphäre der Beziehungen, dann ist, um es neurophysiologisch zu sagen. das erste Signalsystem entwickelter, also das vorverbale. So kann man das vielleicht sehen. Es ist einfach nur eine frühere Stufe der Entwicklung. Das ist eine vollkommen normale Erklärung. Das ist wahrscheinlich schon alles. Und speziell von hierher erklärt sich wohl auch dieser bemerkenswerte russische Zug der sorglosen Prinzipienlosigkeit.“
…presposablajemost.“

Erzähler:
Natürlich gebe es eine russische Mentalität, erklärt sie nun. Aber
Russisch-Sein sei eben, anders als viele glaubten, weniger eine Frage der gemeinsamen Sprache, als der des Lebensstils, der sich aus gemeinsamen Erfahrungen im vorsprachlichen Raum herausbilde. Die Sprache komme erst in zweiter Linie dazu, verbunden mit dem Prozess der Disziplinierung der spontanen, instinktiven Äußerungen des Lebens. So bilde sich schließlich heraus, was man Kultur und Mentalität nenne. So verstanden habe sie nichts dagegen einzuwenden, einige charakteristische Merkmale des russischen Wesens zu beschreiben:

O-Ton 15: Goolgowskaja, Forts.                           0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Odna is tschert….
„Einer der Züge des russischen Menschen ist eine gewisse Adaptivität, ist Anpassungsvermögen, ist Leichtfertigkeit, Überlebensfähigkeit, also lauter Eigenschaften, die charakteristisch für ein frühes Stadium des Lebens sind. Jedes Tierjunge ist überlebensfähiger als das erwachsene Tier, wie ja überhaupt die Instinkte bei Kindern weniger unterdrückt sind.“
…namnoga bolsche, ponimajesch?“

Erzähler:
Da ist es wieder, aller Modernisierung und aller Abgrenzung von ihrem Lehrer Professor Makarow zum Trotz, das vorsowjetische Russlandbild, welches das 18. und 19. Jahrhundert bestimmte: Russland als Kind, Europa als Greis; russische Spontaneität als Jungbrunnen für ermüdete Europäer: Goethe, Rilke, Barlach auf deutscher Seite; Dostojewski, Solowjew, Berdjajew und viele andere auf russischer haben an diesem Bild mitgezeichnet. Kein nicht-russischer Analytiker dürfte heute eine solche Charakterisierung wagen, ohne sich dem Verdacht des Chauvinismus oder Rassismus auszusetzen. Frau Golgowskaja, auf der Suche danach, was mit ihrem Lande heute geschieht, scheut sich nicht es zu tun. Sie setzt sogar noch eins drauf, indem sie – und dies mit einer unüberhörbaren Sympathie – die Polarität benennt, in der sich Kindlichkeit und autoritäre Gesellschaft in ihrem Lande gegenseitig hervorbringen:

O-Ton 16: Golgowskaja, Forts..                        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Jesli we Rossije…
„Wenn in Russland der Staat immer stark war, die Familie immer stärker war als woanders, es hier also immer mehr Verbote gab, dann klingt es natürlich absurd, wenn ich gleichzeitig sage, dass man hier mehr nach den Instinkten lebt. Das ist aber nicht absurder als festzustellen, dass Matriarchat und Patriarchat sich gegenseitig stützen, also zwar äußerlich alles verboten erscheint, starke Verbote, starke patriarchale Moral, im Inneren aber eine starke Innerlichkeit¸ weibliche Intensität, ein viel höheres Niveau kindlicher Wahrnehmungkraft entsteht. Also, das alles heißt: Es gibt mehr Verbote, ja, als Resultat aber auch größere innere Freiheit, eine echtere, intensivere Existenz, näher am Leben.“
…swabodu bolsche.“

Erzähler:
Mit dieser Beobachtung ist Frau Golgowskaja nun ganz in auf die von Professor Makarow skizzierte Linie des seelischen Extremismus eingeschwenkt. Allerdings gibt sie sich mit den von ihm benannten Ursachen nicht zufrieden, wenn sie hinter dem Gegensatz von kindlicher Spontaneität und autoritärer Gesellschaft die tiefer liegende Polarität eines unausgetragenen Kampfes zwischen matriarchalen und und patriarchalen Strukturen vermutet. Die sich in einer extremen Spaltung der psychischen Realität ihres Landes niederschlage.
Diese Spaltung zu erforschen und Wege zu finden, damit zu leben, bzw. sie zu überwinden, hat Frau Golgowskaja sich zur Lebensaufgabe gemacht.

Athmo 4: Lieder am Feuer
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Erzähler kurz frei stehen lassen, mit O-Ton 1, 18, 19vVerblenden und gemeinsam auf- und  abblenden, nach O-Ton 19 frei stehen lassen und langsam abblenden.

Erzähler:
Mit solchen Differenzen geht man beim letzten „Dekadnik“ Ende der neunziger Jahre auseinander.

Regie: Musik kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, verblenden

Erzähler:
Am nächtlichen Feuer in einem Moskauer Vorort trifft man sich wieder. Ein Kongress findet sein Ende. Aus der „Freien Universität für mentale Ökologie“ ist eine „Liga russischer Psychotherapeuten“ geworden, die Professor Viktor Makarow, inzwischen Leiter der Psychotherapeutischen Fakultät der Medizinischen Universität Moskaus, von Moskau aus leitet. Der Sammler ist zum Organisator geworden. Mit regelmäßigen Kongressen in der Hauptstadt der russischen Föderation versucht er der Entwicklung der russischen Therapie eine Richtung und Stabilität zu geben. Das Bild der Arbeit aber hat sich verändert. Nicht mehr die spirituelle Suche nach mentaler Ökologie steht im Vordergrund. Im Vordergrund stehen Methoden, die praktischen Nutzen im Alltag versprechen. Besonderer Renner ist die Methode der „Neuro-lingutistischen Programmierung“, ein System der Entwicklung und Kontrolle körperlichseelischer Abläufe. kurz NLP genannt, die sich in Russland zur Zeit, nicht zuletzt beim Aufbau einer psychologischen Kontrolle der Armee besonderer Beliebtheit erfreut. Die NLP-Meister, wie sie sich nennen, demonstrieren die Effektivität ihrer Methode an ihrer Anwendung im tschetschenischen Krieg. Damit dominieren sie praktisch den gesamten Kongress. Obwohl Professor Makarow die NLP-Meister fürfür eine Art, wie er sagt, wiedergeborene Apparatschiks, „Politruks“, also Polit-Aktivisten hält, die zu sehr am schnellen Erfolg orientiert seien, und obwohl er das nach wie vor akute Unwesen von Scharlatanen im Lande beklagt, ist er trotzdem zufrieden:

O-Ton 17: Prof. Viktor Makarow                    0,36
Regie: O-Ton mit Athmo 5 verblenden, mischen, beides zusammen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Smisl kongressa…..
„Ob der Kongress einen Sinn hat? Er hat einen großen Sinn: Wir vereinigten die Mehrheit der psychotherapeutischen Richtungen um die „LIGA russischer Therapeuten„ und um die „Europäische Assoziation für Psychotherapie“. Wir vereinigen jetzt alle, die sich in unserem Lande entwickeln.“
…nasche stranje.“

Erzähler:
Die Suche nach dem Eigenen in Russlands Seele aber hat Professor Makarow auch als Organisator nicht aufgegeben. Die Form sei international, erklärt er kurz angebunden, der Inhalt aber national:

O-Ton 18: Viktor Makarow                        0,15
Regie: O-Ton mit Athmo 5 verblenden, mischen, beides zusammen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Soderschannije ja imeju…
„Unter Inhalt verstehe ich: Wir denken anders, wir haben einen anderen Lebensstil, wir haben ein anderes Verständnis vom Glück und daher muss unsere Arbeit natürlich Unterschiede aufweisen.“
…otlitschi.

O-Ton 19: Viktor Makarow.
Regie: O-Ton mit Athmo 5 und O-Ton 18 verblenden, mischen, beides zusammen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,zwischendurch hochziehen,  nach Übersetzer allmählich hochziehen

Erzähler:
Als ginge es darum, diesen Unterschied zu beweisen, werfen Männer und Frauen, die um das Feuer stehen, – die NLP-Meister nicht anders als die anderen – je einen Ast in die Flammen.

Regie: Ton zwischendurch hochziehen

„Es ist ein Ritual“, erklären sie. „Das machen wir jedes Mal, wenn wir uns treffen. Damit werden Probleme verbrannnt.“
…schigajutsja problemi.“

Regie: O-Ton 19 ausblenden, Athmo 5 allmählich kommen lassen

Erzähler:
Einen bessere Demonstration für das, was die russische Seele auszeichnet, als diese Runde am Feuer hätten der strenge Professor und seine an Effektivität orientierten Kolleginnen und Kollegen nicht geben können. Ihre Aufgabe als Therapeuten wird dann erfüllt sein, wenn sich nicht nur bei ihnen, sondern im ganzen Lande Spontaneität und Effektivität auf spielererische Weise miteinander verbinden.

Regie: Musik Ausklang

Russland an der Wolga: Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung: zwei Einheiten auf der Sendung:
1. Atmos 1 – 2
2. O-Töne 1 – 18

Mögliche Kürzung:
– 0-Ton 16

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland an der Wolga:
Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Athmo 1: Musik aus dem Autoradio                 3,59
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden,
—  auch unter O-Ton 1 und 2 mit unterlegen  —

Erzähler:
Russland, Wolga. Auf dem Weg von Tschuwaschien in die benachbarte Republik Tatarstan. Tschuwaschien und Tatarstan sind zwei von sechs nicht-slawischen ethnischen Republiken Russlands an der mittleren Wolga. Nabereschnye Tschelni ist unser Ziel.
Zu Guten Zeiten lebte die Stadt von der Produktion der Superlastwagen „Kama“. Sie haben ihren Namen von dem Nebenfluß, der hier aus dem Nordosten in die Wolga mündet. Vor achthundert Jahren stießen russische und tatarisch-mongolische Heere hier aufeinander; heute gilt Nabereschnye Tschelni als Zentrum der tatarischen nationalen Bewegung. „Stadt der Verbrecher“ wird sie wegen des rauen sozialen Klimas genannt, das heute dort herrscht, seit die Produktion des LKW-Werkes fast zum Erliegen gekommen ist.
Aus Nabereschnye Tschelni kommen immer wieder Impulse für eine tatarische Unabhängigkeit. Sie ziehen nicht nur Tataren in ihren Bann. Sie ermutigen auch die Völker der umliegenden ethnischen Republiken –Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mari, Mordawier, allesamt turksprachige bzw. finnisch-ugrische Völker aus Innerasien – in ihrem Streben nach mehr Selbstständigkeit.
Auch Wassili, unser tschuwaschischer Fahrer fühlt sich angezogen vom Geist dieser Stadt. Als aktives Mitglied des tschuwaschischen Kulturzentrums in Tscheboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik, der uns als seine Freunde vorstellt, ist er zugleich der Vermittler, der den Fremden die Türen ins tatarische Zentrum in Nabereschnye Tschelni  öffnet – allerdings nicht ohne eine leichte Distanzierung gegenüber den Tataren vorwegzuschicken. Noch auf dem Wege nach Tatarstan erklärt er uns die feinen Unterschiede zwischen den Wolgavölkern:

O-Ton 1: Wassili                   0,45
Regie: O-Ton kurz ( zusammen mit der Athmo 1)
frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler overvoice:
„Istoria y Tschuwaschej i…
„Die Geschichte der Tschuwaschen und der Mari ist die gleiche: Wir sind Nachkommen der Wolgabulgaren, die von den Tataren-Mongolen geschlagen wurden. Danach wurden alle, auch die Tataren,  von den Moskauer Fürsten kolonisiert. Tschuwaschen und Mari wurde der orthodoxe Glaube aufgezwungen, der für diese Völker nicht akzeptabel ist. Er einigt sie nicht, er isoliert sie. Eine Degradierung findet statt.“
…idjot Degradatie.“

Erzähler:
Geburtenrückgang, Alkoholismus, eine drogenabhängige Jugend, kranke Kinder – in all dem sieht Wassili Folgen der russischen, später sowjetischen Kolonisation. Allein der Islam zeige sich resistent, meint er; er gebe den tatarischen Völkern mehr Widerstandskraft. Er werde daher von Moskau gefürchtet. Der tschetschenische Krieg ist für Wassili ein Ausdruck dieser Realität. Hier versuche Moskau reinen Tisch zu machen. Wassilis Meinung dazu ist unmissverständlich:

O-Ton 2: Wassili, Forts.                        0,49
Regie: O-Ton (zusammen mit Athmo 1)
kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der Wiederholung des Übersetzers hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja tschitaju…
„Ich halte das, was sich in Tschetschenien zur Zeit ereignet, für einen Genozid am tschetschenischen Volk…

Erzähler:
„Heute die Tschetschenen, morgen wir“, so faßt Wassili seine Sicht zusammen. Dagegen müssten sich alle kleineren Völker gemeinsam zur Wehr setzen. Ein demokratisches Russland, so Wassili, könne nur als Konföderation bestehen, andernfalls sei Gewalt nötig, um ein solches Territorium zu halten, so wie es die gegenwärtige Kremlherrschaft leider versuche.
…wlast ninischnije kremljowskaja.“

Erzähler:
In Naberschnye Tschelni werden wir, obwohl wir erst spät nachts  eintreffen, fürstlich empfangen. Den ganzen Abend hat man im „Tatarischen Zentrum“ auf die angekündigten Gäste gewartet, um sie für die Nacht in der Familie des Vorsitzenden Rafis Kaschapow unterbringen zu können. Rafis Kaschapow ist ein agiler Mittdreißiger, seine Frau eine schüchterne Schönheit, die uns, schon im Schlafgewand und ohne Kopftuch, noch zur späten Nachtzeit verpflegt. Zwei Kinder im ersten Schulalter müssen ihr Bett für die späten Gäste räumen. Am nächsten Morgen geht es früh ins Zentrum. Das sind zwei miteinander verbundene Wohnungen im Erdgeschoß einer der gleichförmigen Plattenbauten der Stadt.
Rafis Kaschapows erste Aktivität besteht darin, sein Notizbuch nach möglichen Gesprächspartnern für den ausländischen Korrespondenten durchzutelefonieren. Dafür nimmt er sich reichlich Zeit. „Ich will, dass unsere Arbeit bekannt wird“, sagt er. Erst nachdem er mehrere Zusagen erhalten hat, holt er einen Stapel Fotos und beginnt sie vor uns auszulegen. Vielfältige Aktivitäten des Zentrums werden aus ihnen ersichtlich.
Das erste Bild zeigt wilde Reiter in folkloristischen Trachten:

O-Ton 3:Rafis Kaschapow                                                         2,27
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen (0,20 / 0,35 / 045 / 1,00 / 1,25 / 140), am Schluss hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Eta atze…
„Dies ist vom Pferderennen“, erklärt der Vorsitzende. „Jedes Jahr machen wir einmal so ein Fest zusammen mit den Wolgarepubliken Baschkortastan, Orjenburg, Tschuwaschien, Mari El, Utmurtien und Tatarstan. Es geht um den Zusammenhalt der Völker. Das ist ja so etwas wie ein Staatsgebiet.“ „Da sind wir bei Jandarbijew“ fährt er fort: „Der tschetschenische Präsident nach Dudajew.“ Dann kommen Bilder aus Dagestan; danach eine Scharfschützin aus Tschetschenien. „Sie hat wohl an die hundert russische Gegner getötet“, kommentiert Rafis Kaschapow.  „Das ist von unserer humanitären Aktion für Tschetschenien, da waren wir beim ersten Mal mit 28 Lastern unterwegs.“ Das ist eine Runde von tschetschenischen Kommandeuren.“ „Hier sind wir bei den Krimtataren“ „Dies ist eine türkische Delegation, die das Zentrum besucht hat. Unsere Beziehungen sind eng. Die Türken unterstützen das Zentrum.
So geht es über eine Stunde: Bilder vom ersten tschetschenischen Krieg, Bilder vom zweiten, Bilder jährlicher sog. „nationaler Aktionstage“, Bilder von regelmäßigen Hilfsaktionen für die „tschetschenischen Brüder“. Tatarische Selbstbesinnung und islamische Renaissance, Einsatz für eine nicht-russische Autonomie der Völker an der Wolga und Parteinahme für den Befreiungskrieg der Tschetschenen scheinen untrennbar miteinander verbunden. Moskaus lange koloniale Geschichte  in der Auseinandersetzung mit Hunnen, Tataren, Mongolen und Türken wird in den Fotos ebenso wie in den Plakaten an den Wänden des Zentrums lebendig.
Am Schluss noch Bilder von Umzügen und Demonstrationen: „Einmal im Jahr führen wir einen Gedenktag durch“, kommentiert Rafis Kaschapow. „Das geschieht anlässlich der Eroberung Kasans durch Iwan IV. im Jahr 1552, mit dem die russische Kolonisation begann. Das Datum darf nicht vergessen werden. Da ziehen wir nach Kasan. Auch hier vor Ort machen wir Aktionen.“
…totsche provodim.“

Erzähler:
Von den Autoritäten der tatarischen Republik in deren heutiger Hauptstadt Kasan werden die Aktionen der Aktivisten aus Nabereschnye Tschelni, insbesondere ihre Parteinahme für die Tschetschenen mit gemischten Gefühlen gesehen. Einerseits geben sie der Souveränitätspolitik von Tatarstans Präsident Schamijew größeres Gewicht, andererseits stören sie dessen Einvernehmen mit Moskau. Sogar das islamische Zentrum in Kasan distanziert sich von ihnen als „Fundamentalisten“. Gefragt, was er davon halte, wenn man sie „wahabitische Extremisten“, tatarische Nationalisten oder gar Faschisten nenne, antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 4: Rafis Kaschapow                               1,31
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun, soll man doch! Aber bitte, erstens: Mein Volk hat Sprache, Kultur, Religion, Sitten verloren; wir verlieren uns weiter in gemischten Ehen: Kinder aus gemischten Ehen gehen in die Kirche – unsere Sprache, Kultur, Religion verschwinden. Nur die wenigstens gemischten Ehen bewahren sich als Tataren. Wenn das so weitergeht, wird es uns bald nicht mehr geben. Was heißt da schon Nationalist! Die Russen brauchen das nicht zu fürchten. Sie haben keinen Grund für Nationalismus; trotzdem existiert er: Selbst wenn sie in Tschetschenien 20.000 oder 30.000 Soldaten verlieren – ihr Genfond verschwindet trotzdem nicht. Aber wir verschwinden allmählich. Man witzelt schon, wir seien wie eins dieser sibirischen Völker, die Tschukschen, die es bald nicht mehr gibt. Heute bezahlen 20 Millionen Mohammedaner Steuern ins russische Budget, aber Fernsehen, Radio, Zeitungen nehmen keinerlei Rücksicht auf die kleinen Völker. Sogar in so kleinen Ländern wie der Schweiz oder Finnland gibt es mehr nationale Programme als bei uns. Also muss ich etwas für mein Volk tun.“

Erzähler:
Wer aber sein eigenes Volk liebe, setzt Rafis Kaschapow hinzu, sei er nun Russe, Ukrainer, Baschkire oder was immer, der liebe auch seinen Nachbarn.
…lubit ssasjeda.”

Erzähler:
Der Zusatz klingt nach Mäßigung. Die Frage bleibt aber doch: Was meint Rafis Kaschapow, wenn er von „seinem Volk“, wenn er von „den Tataren“ spricht? Worin besteht die Identität des „tatarischen Volkes“? Ist sie gleichbedeutend mit dem Islam? Auf diese Frage antwortet er:

O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts.                                                 1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer overcvoice:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – immerhin 20 Millionen, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während orthodoxe Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen murren. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“

Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatarischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands  gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural  habe man träumen können, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Moslems, Christen und andere sollten dort in Koexistenz leben. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Staates und der orthodoxen christlichen Kirche. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.
Schließlich fasst Rafis Kaschapow das aktuelle Credo des Zentrums in den Worten zusammen:

O-Ton 6: Rafis Kaschapow, Forts.                                           0, 34
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen

Übersetzer overvoicee:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre.  Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“

Erzähler:
So eingestimmt, fällt es nicht schwer, das Anliegen derer zu verstehen, die inzwischen, aktiviert durch die morgendlichen Anrufe des Vorsitzenden, im Zentrum zum Gespräch mit dem ausländischen Korrespondenten erschienen sind. Der Erste, der sich vorstellt, ist Agludi Wiselud, ein kleiner, verknitterter, aber eifrig gestikulierender Mann. Er versteht sich als Privatforscher. Gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter widmet er sich der, wie er es nennt, „Erforschung der historischen und ideologischen Grundlagen der tatarischen nationalen Bewegung.“ Die Hunnen – Attila, die Mongolen – Tschingis Chan, die Türken – das sind seine Forschungsgebiete. Die Türken betrachtet er als „Übernation“ vergleichbar der „arischen Zivilisation“:

O-Ton 7: Agludi Wiselud, Forscher                          0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun zunächst beschäftigen wir uns mit der vor-islamischen Geschichte der Türken, also der, die mit den Hunnen verbunden ist, mit Attila, den frühen Turkvölkern. Wir studieren ihre Zivilisation. Wir fanden einige Punkte, die vorher nicht studiert wurden. Zum Beispiel Hinweise, dass wir alle aus einer Zivilisation kommen, Türken und auch Deutsche, der arischen. Natürlich ist das alles ziemlich missbraucht. Wir studieren daher auch die nationalistischen Verzerrungen dieser Fakten. Aber es gibt eben einige interessante Hinweise, dass vor der Christianisierung die deutschen Stämme äußerst eng mit den türkischen verwandt waren, also den Tataren, Türken, Uskeben und andere.“
…Usbekami, etami.“

Erzähler:
Dafür spreche das Runenalphabet, fährt Agludi Wiselud fort, das germanische wie auch turkstämmige Völker benutzt hätten. Zwar hätten die Germanen von links nach rechts, die Turkvölker von rechts nach links geschrieben, aber die „Ideologie“, wie Agludi Wiselud es nennt, sei beiden gemeinsam. Der höchste germanische Gott Odin entspreche dem höchsten altturkischen Gott Tanger, den man ja heute noch bei den turksprachigen Nachkommen der alten Turkvölker im Wolgagebiet finde. Allerdings, schränkt Agludi Wiselud ein, befänden sich Forschungen seiner Gruppe noch sehr am Anfang, besonders was die germanischen Ursprünge betreffe, denn leider gebe es kaum Literatur über germanische Mythen in russischer Sprache.
Selbstbewusster tritt Gabbrachman Salaludinow auf, ein distinguierter Herr, der während des Gesprächs mit Agludi Wiselud bereits ungeduldig auf seinen Auftritt gewartet hat. Er stellt sich als Vorstand des „Club Bolgar“ vor, der die Geschichte des „Großen Bolgarstan“ erforsche, das in der Folge der hunnischen Wanderungen an Donau und Wolga entstanden sei. Der falschen russischen und daraus folgend ebenso falschen europäischen Geschichtsschreibung will er die historischen Fakten entgegenstellen. Nur daraus könne eine richtige Politik erfolgen. Solche Clubs, erklärt der Bolgar-Forscher, gebe es nicht nur in Naberschnye tschelni, sondern auch in Kasan, das er das „heutige Bolgar“ nennt, sowie in allen anderen etnischen Republiken an der Wolga; sogar in Moskau und St. Petersburg finde man welche:

O-Ton 8: Gabbrachman Salaludinow                              1,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice
„We naschem klubje…
“In unserem Club versammeln sich diejenigen,  welche die Geschichte kennenlernen wollen und die sich für Bolgaren halten. Wir propagieren unsere wahre Geschichte: Dass wir Bolgaren sind. Die Geschichte der Bolgaren ist sehr reich. Es gibt tragische wie auch heroische Momente darin, aber eins ist unbestreitbar: Bolgarstan war für seine Zeit eine hochentwickelte kultivierte Gesellschaft. Wir hatten früher als die Russen einen Staat und früher als die Mongolen. Wir sind mit den Mongolen in keiner Weise verwandt. Die Mongolen überfielen uns vielmehr, sie kamen zu uns im Krieg. Wir leisteten  langen Widerstand, aber die Kräfte waren ungleich. Und so haben sie uns besiegt. Aber nicht sie haben unseren Staat zerstört. Der Staat blieb, die staatstragende Dynastie, die ganze Armee und alle staatlichen Einrichtungen blieben; alle Führer; der ganze Adel blieb an seinem Platz. Erst als die Russen uns besiegten, da wurde alles zerstört.“
… ani bsjo rasruscheli.“

Erzähler:
Russische Geschichtsbücher berichten anders: Nach russischer und bisher auch im Westen herrschender Vorstellung waren es nicht die Bolgaren, die den Mongolensturm aufhielten, sondern die Russen und es waren nicht die Russen, die Bolgarstan zerstörten, sondern die blutrünstigen Horden Tschingis Chans und seines Heerführers Batu, die alles, was sich ihnen auf dem Weg nach Westen entgegenstellte, angeblich mit Stumpf und Stil vernichteten. Tatsächlich verbanden sich die Mongolen nach dem Fall Bolgarstans mit den dort siedelnden Völkern. Aus Bolgarstan wurde das Chanat Kasan. Aus der Vermischung ansässiger bolgarischer Bevölkerung mit mongolischen Stämmen entstand der ethnische Flickenteppich, der heute rund um die mittlere Wolga ausgebreitet ist. Unter der Bezeichnung „Wolga-Ural“, so Gabbrachman Salaludinow bilde dies alles heute einen kulturellen und politischen Zusammenhang, der nach eigener Verwirklichung strebe:

O-Ton 9: Gabbrachman Salaludinow                                      0,45
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Wolga-Ural eta…
„Wolga-Ural, das ist Bolgarstan. Um es nicht direkt Bolgarstan zu nennen, nennt man es Wolga-Ural. Wir möchten aus ganzem Herzen den bolgarischen Staat wiederbeleben, allerdings in begrenzterem Umfang. In unserem Volk, das der Verordnung nach heute Tataren genannt wird,  gibt es verschiedene Dialekte. Alle diese Dialekte sind bolgarisch. Darüber hinaus sind die Baschkiren unser Volk. Sie sind auch Bolgaren. Die Baschkiren – das ist der Ural. Wir, die sog. Tataren – das ist die Wolga, zusammen bilden wir Wolga-Ural, eben Bolgarien.“
…i jest Bolgarie.“

Erzähler:
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung an der Wolga das heute nicht begreife, dann liege das an den politischen Bedingungen:

O-Ton 10: Gabbrachman Salaludinow                      0,34
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Moskwa boitsja…
„Moskau hat Angst, die russische Führung hat Angst, denn wenn wir uns Bolgaren nennen, dann erheben wir uns sofort hoch über die Russen.  Unser Staat war früher da, unsere Gesellschaft ist entwickelter, unsere Kultur ist höher, unsere Geschichte ist älter. Sie aber wollen das nicht. Sie wollen, dass wir Tataren genannt werden, und niedriger stehen als sie. Das ist das Problem.“
…vot, we etam wapros.”

Erzähler:
Karim Schakirow, der Vertreter der baschkirischen Gemeinde des Ortes und damit inoffizieller Vertreter der baschkirischen nationalen Bewegung , der gleich darauf vor dem Mikrofon sitzt, gibt sich ein bisschen bescheidener. Zwar legt auch er Wert auf die Feststellung, dass die Baschkiren ein altes Volk mit epischer Vergangenheit, die Russen dagegen ein junges ohne Geschichte seien, das nicht einmal ein eigenes Epos besäße, dass das baschkirische Alphabet dreiundvierzig Buchstaben habe statt nur dreiunddreißig wie das Russische; der Meinung, dass die Baschkiren das wildeste der nicht-russischen Völker an der Wolga seien, mag er aber nicht so recht zustimmen:

O-Ton 11: Karim Schakirow                       0,37
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Kakaja dolje prawda…
„Ein bisschen Wahrheit liegt darin, doch würde ich nicht sagen, dass sie wild sind: Sie sind Kinder der Natur, sie sind sehr gefühlsbetont. Baschkiren sind weniger geeignet für die heutige harte, marktorientierte Art zu leben. Die Baschkiren sind naive Kinder der Natur. Wir haben immer in Übereinstimmung mit der Natur gelebt, in der Natur.“
…moschno i tak skasatj.“

Erzähler:
Baschkiren lebten nicht nur in Übereinstimmung mit der Natur. Anders als die benachbarten Tataren, die von Iwan IV. gewaltsam unterworfen wurden, gliederten sie sich freiwillig den Moskauer Fürsten an. So blieb ihnen auch eine gewaltsame Christianisierung erspart und sie haben heute, im Unterschied zu den anderen Wolgavölkern, nur eine einzige Religion, den Islam. Das macht sie zu einem Faktor, mit dem der Kreml rechnen muss, auch wenn sie, wie Karim Schakirow betont, heute immer noch auf Ausgleich mit Moskau setzen.

O-Ton 12: Russisches Zentrum                             0,57
Regie: O-Ton während des Erzählers kommen lassen,  nach Erzähler vorübergehend ganz hochziehen, abblende, hörbar unterlege, hochziehen, abblenden

Erzähler:
Ganz andere Töne schlagen uns entgegen, als unsere tatarischen Gastgeber mit uns zum russischen Zentrum hinüberfahren, damit wir, wie Rafis Kaschapow sagt, auch ihre Gegenspieler kennenlernen.

Regie: vorübergehend hochziehen

„Wer hat Europa vor den Mongolen gerettet?“, entrüstet sich der Vorsitzende des Zentrums, als die Sprache auf die russische Kolonisation kommt. „Die Tschuwaschen?“ „Die Tataren? Nein, wir! Wir waren es, die Russen! Tschingis Chan hatte die Bolgaren doch schon überrannt! Wenn wir Russen nicht gewesen wären, dann wäre heute nichts mehr!“ Und unvermittelt stößt er hervor:: „So haben wir Europa auch vor Hitler gerettet. Nicht ihr Deutschen, wir Russen haben Europa gerettet! Verstehen Sie, wir! Nicht die Amerikaner, nicht die Engländer, nicht die Franzosen, erst recht nicht die Polen!“
… nje tjem bolje nje poljaki.“

Erzähler:
Die Entrüstung des Vorsitzenden steigert sich schnell zu aggressiver Demagogie:

O-Ton 13: Russisches Zentrum, Forts.                                 1,51
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,40 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Tschuwaschien – existiert es?“ schreit er. „Mordawien – existiert es?“ „Die Tataren – existieren sie?“ Da man dies bejahen muß, setzt er nach: „Ja? Sie existieren? – Also, wenn wir sie vernichtet hätten, wie könnten sie da existieren?“ (…) Einwände fegt er beiseite: „Kolonie?  Was für eine Kolonie? Bei uns kann es überhaupt keine Kolonie geben. Im Zarismus, bei den Imperatoren waren die Tataren die gebildetsten Leute.“ Von welcher Kolonie man da reden könne, bitte von welcher Kolonie.

Regie: Bei 0,40 zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Fragen der Besucher ertrinken in einem langen, nicht enden wollenden Monolog des Vorsitzenden über die Notwendigkeit, russische Kultur gegen die jüdische bolschewistische Revolution und gegen das heute wieder herrschende Judentum durchzusetzen. Putin sei der erste Schritt in die richtige Richtung, der Krieg gegen die Tschetschenen notwendig, er werde irgendwann mit einem Frieden enden. So sei das nun einmal mit Kriegen. Diese Auslassungen enden mit einer Nötigung zu Tee, Keks  und Wodka. Dann ist dieser Spuk vorüber.
…allmählich ausblenden….

Erzähler:
Zurück im tatarischen Zentrum stoßen wir nun auch dort auf Vertreter eines härteren Kurses, allerdings in sanfterer Sprache. Das ist vor allem ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart, den Rafis Kaschapow lachend als „Wahabiten“ ankündigt. Scheich Adin, wie der bärtige junge Mann sich selbst vorstellt, ist Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabeschnye Tschelni.
Gefragt, wie er sich fühle, wenn er „Wahabit“ benannt werde,  antwortet er:

O-Ton 14: Scheich Adin                    1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“

Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden

Übersetzer overvoice, Forts.
Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…fundamentalistom i protsche.“

Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben.
Was er darunter verstehe?

O-Ton 15: Scheich Adin, Forts                                                        0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna tschelowjek…
„Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“

Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?

O-Ton 16: Scheich Adin, Forts.                                                     0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna…
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims –  uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumanitarnom pomotschom.“

Erzähler:
Viele junge  Männer, die hinunterfuhren, sein aus dem Umkreis des Komitees gekommen, erklärt Scheich Adin; keiner von ihnen sei gefahren, um nur humanitäre Hilfe zu leisten:

O-Ton 17: Scheich Adin, Forts.                                                     0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen  dem Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“

Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
…wolje Allacha.“

Erzähler:
Gegen solche Töne klingt die Klage des Vorsitzenden der örtlichen tschetschenischen Gemeinschaft, der mit bitteren Worten die elende Lage der tschetschenischer Flüchtlinge in der örtlichen Diaspora schildert, schon beinahe milde. Nicht nur milde, sondern freundlich stimmt ein abschließender Blick in den großen Versammlungsraum des Zentrums, wo sich eine Gruppe jüngerer und älterer Frauen – in Kopftüchern, aber mit offenen, fröhlichen Gesichtern  – zur abendlichen Koranschule versammelt hat:

O-Ton 18: Frauen in der Koranschule                             26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
„Wir lernen den Islam“, sagt die Lehrerin. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“

O-Ton 19: Koranschule, Forts.                     559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden

Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, erklärt die Lehrerin weiter. Männer blieben für sich, Kinder ebenso.
„Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“
Eine andere Frau zeigt ein Heft: „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“.
„Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.

Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, sagen die Frauen. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, meint eine, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo

O-Ton 20:  Wassili im Auto                                                0,59
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen, unter dem Übersetzer abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, danach mit Athmo 2 verblenden

Erzähler:
So geht es heimwärts nach Tschuwaschien. Mehr noch als wir, ist Wassili, unser treuer Begleiter, erfüllt, von dem, was er gehört hat:

Übersetzer overvoice:
„Moja wpetschetlennije…
„Mein Eindruck von dieser Reise und den Gesprächen mit den Leitern der Organisationen ist sehr befriedigend. Das tschuwaschische Kulturzentrum und andere können hier lernen lernen…

Regie: Athmo 2 verblenden, Musik unter dem Erzähler allmählich hochziehen, danach frei stehen lassen, ausklingen lassen.

Erzähler:
Er lässt offen, was ihn mehr beeindruckt hat: der Aktivismus der Männer oder die fröhliche Entschlossenheit der Frauen. Eine Entscheidung zwischen beidem muss er hoffentlich niemals treffen.

Russland an der Wolga: Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung: zwei Einheiten auf der Sendung:
1. Atmos 1 – 2
2. O-Töne 1 – 18

Mögliche Kürzung:
– 0-Ton 16

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Zusatz aus der  Überarbeitung:
O-Ton 11 und 11 sind gestrichen;
die Zählung wie auf dem Zuspielband wurde beibehalten.

Russland an der Wolga:
Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Athmo 1: Musik aus dem Autoradio                 3,59
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden,
—  auch unter O-Ton 1 und 2 mit unterlegen  —

Erzähler:
Russland, Wolga. Auf dem Weg von Tschuwaschien in die benachbarte Republik Tatarstan: Tschuwaschien und Tatarstan sind zwei von sechs nicht-slawischen ethnischen Republiken Russlands an der mittleren Wolga. Nabereschnye Tschelni ist unser Ziel.
Nabereschnye Tschelni ist eine der großen Industrieagglomerationen der sowjetischen Zeit. Sie entstand als Reißbrettgründung und Fertigbauprodukt rund um das Lastwagenwerk „Kama“. Der Name des Werkes stammt von dem Nebenfluß, der hier aus dem Nordosten in die Wolga mündet. Zu guten Zeiten lebten mehr als 500.000 Menschen von der sozialen Pyramide des Schwerkraftwagen-Werkes. „Kama“  ernährte sie alle – und nicht schlecht. „Kama“-Laster und „Kama“-Baufahrzeuge galten als Exportschlager der Sowjetunion. Noch heute sieht man sie in den ehemaligen sozialistischen Ländern.
„Stadt der Verbrecher“ wird Nabereschnye Tschelni heute wegen des rauen sozialen Klimas genannt, das jetzt dort herrscht, seit die Produktion der „Kamas“ fast zum Erliegen gekommen ist. Arbeitslosigkeit, soziale Desintegration, Alkoholismus, Drogensucht, Prostitution und hohe Jugendkriminalität sind die Folgen.
Vor achthundert Jahren stießen russische und tatarisch-mongolische Heere hier an der Kama aufeinander. Heute gilt Nabereschnye Tschelni als Zentrum der tatarischen nationalen Bewegung. Von hier kommen immer wieder Impulse für eine tatarische Unabhängigkeit von Moskau, die nicht nur Tataren in ihren Bann ziehen. Sie ermutigen auch die Völker der umliegenden ethnischen Republiken –Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mari, Mordawier.
Auch Wassili, unser tschuwaschischer Fahrer, Aktivist des tschuwaschischen Kulturzentrums, fühlt sich angezogen vom Geist dieser Stadt – allerdings nicht ohne sich zugleich von den Tataren zu distanzieren. Noch während der Fahrt erklärt er uns die feinen Unterschiede zwischen den Wolgavölkern:

O-Ton 1: Wassili                   0,45
Regie: O-Ton kurz ( zusammen mit der Athmo 1)
frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler overvoice:
„Istoria y Tschuwaschej i…
„Tschuwaschen und Marie haben eine gemeinsame Geschichte“, so Wassili. „Sie sind beide Nachkommen der Wolgabulgaren, die von den Tataren-Mongolen geschlagen wurden. Die Tataren wurden dann von den Moskauer Fürsten kolonisiert. Tschuwaschen und Mari wurde das Christentum aufgezwungen; die Tataren konnten den Islam bewahren. Der Islam gibt den tatarischen Völkern mehr Widerstandskraft. Er wird daher von Moskau gefürchtet und bekämpft.“

Erzähler:
„Wie in Tschetschenien“, meint Wassili. Seine Meinung zu den Ereignisen dort ist unmissverständlich:

O-Ton 2: Wassili, Forts.                        0,49
Regie: O-Ton (zusammen mit Athmo 1)
kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der Wiederholung des Übersetzers hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja tschitaju…
„Ich halte das, was sich in Tschetschenien zur Zeit ereignet, für einen Genozid am tschetschenischen Volk

Erzähler:
„Heute die Tschetschenen, morgen wir“, fasst Wassili seine Sicht schließlich zusammen. Dagegen müssten sich alle kleineren Völker Russlands gemeinsam zur Wehr setzen. Ein demokratisches Russland könne nur als Konföderation bestehen, andernfalls sei so ein Territorium wie das russische nur mit Gewalt zusammenzuhalten.“
…wlast ninischnije kremljowskaja.“

Erzähler:
In Naberschnye Tschelni werden wir, obwohl wir erst spät nachts  eintreffen, fürstlich empfangen. Den ganzen Abend hat man im „Tatarischen Zentrum“, einer umgewidmeten Wohneinheit irgendwo in der Plattenbauwüste,  auf die angekündigten Gäste gewartet, um sie für die Nacht in der Familie des Vorsitzenden Rafis Kaschapow unterbringen zu können. Die Fahrt dorthin führt noch einmal durch endlose spärlich beleuchtete Plattenbauquadrate, bevor sie im vierten Stock einer dieser Wohnmaschinen vor einer der heute in Russland üblichen eisernen Etagentüren endet. Dahinter empfängt uns – unvermutet wie Aladins Wundertür – eine Wohnung, in der sich alter sowjetischer Wohnstandard mit orientalischem Kitsch zu einer überwältigenden Fülle verbindet. Rafis Kaschapow ist ein agiler Mittdreißiger, seine Frau eine schüchterne Schönheit, die uns, obwohl schon im Schlafgewand und ohne Kopftuch, noch zur späten Nachtzeit verpflegt. Zwei Kinder im ersten Schulalter müssen ihr Bett für die späten Gäste räumen und bei Vater und Mutter schlafen.
Am nächsten Morgen geht es früh ins Zentrum. Rafis Kaschapows erste Aktivität besteht darin, sein Notizbuch nach möglichen Gesprächspartnern durchzutelefonieren. Dafür nimmt er sich reichlich Zeit. „Ich will, dass unsere Arbeit bekannt wird“, sagt er. Erst nachdem er mehrere Zusagen erhalten hat, holt er einen Stapel Fotos und beginnt sie vor uns auszulegen. Vielfältige Aktivitäten der Stadt und des Zentrums werden aus ihnen ersichtlich.
Das erste Bild zeigt Reiter in folkloristischen Trachten:

O-Ton 3:Rafis Kaschapow                                                         2,27
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen (0,20 / 0,35 / 045 / 1,00 / 1,25 / 140), am Schluss hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Eta atze…
„Dies ist vom Pferderennen“, erklärt der Vorsitzende. „Jedes Jahr machen wir einmal so ein Fest zusammen mit den Wolgarepubliken Baschkortastan, Orjenburg, Tschuwaschien, Mari El, Utmurtien und Tatarstan. Es geht um den Zusammenhalt der Völker. Das ist ja so etwas wie ein Staatsgebiet.“ „Da sind wir bei Jandarbijew“ fährt er fort: „Der tschetschenische Präsident nach Dudajew.“ Dann kommen Bilder aus Dagestan; danach eine Scharfschützin aus Tschetschenien. „Sie hat wohl an die hundert russische Gegner getötet“, kommentiert Rafis Kaschapow.  „Das ist von unserer humanitären Aktion für T    schetschenien, da waren wir beim ersten Mal mit 28 Lastern unterwegs.“ Das ist eine Runde von tschetschenischen Kommandeuren.“ „Hier sind wir bei den Krimtataren“ „Dies ist eine türkische Delegation, die das Zentrum besucht hat. Unsere Beziehungen sind eng. Die Türken unterstützen das Zentrum.
So geht es über eine Stunde: Bilder vom ersten tschetschenischen Krieg, Bilder vom zweiten, Bilder jährlicher sog. „nationaler Aktionstage“, Bilder von regelmäßigen Hilfsaktionen für die „tschetschenischen Brüder“. Tatarische Selbstbesinnung und islamische Renaissance, Einsatz für eine nicht-russische Autonomie der Völker an der Wolga und Parteinahme für den Befreiungskrieg der Tschetschenen scheinen untrennbar miteinander verbunden. Moskaus lange koloniale Geschichte  in der Auseinandersetzung mit Hunnen, Tataren, Mongolen und Türken wird in den Fotos ebenso wie in den Plakaten an den Wänden des Zentrums lebendig.
Am Schluss noch Bilder von Umzügen und Demonstrationen: „Einmal im Jahr führen wir einen Gedenktag durch“, kommentiert Rafis Kaschapow. „Das geschieht anlässlich der Eroberung Kasans durch Iwan IV. im Jahr 1552, mit dem die russische Kolonisation begann. Das Datum darf nicht vergessen werden. Da ziehen wir nach Kasan. Auch hier vor Ort machen wir Aktionen.“
…totsche provodim.“

Erzähler:
Von den Autoritäten der tatarischen Republik in deren heutiger Hauptstadt Kasan werden die Aktionen der Aktivisten aus Nabereschnye Tschelni, insbesondere ihre Parteinahme für die Tschetschenen mit gemischten Gefühlen gesehen. Einerseits geben sie der Souveränitätspolitik von Tatarstans Präsident Schamijew größeres Gewicht, andererseits stören sie dessen Einvernehmen mit Moskau. Sogar das islamische Zentrum in Kasan distanziert sich von ihnen als „Fundamentalisten“, die die soziale Krise für ihre Ziele ausnutzten.
Gefragt, was er davon halte, wenn man sie „wahabitische Extremisten“, tatarische Nationalisten oder gar Faschisten nenne, antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 4: Rafis Kaschapow                               1,31
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun, soll man doch! Aber bitte, erstens: Mein Volk hat Sprache, Kultur, Religion, Sitten verloren. Nur die wenigstens gemischten Ehen bewahren sich als Tataren. Wenn das so weitergeht, wird es uns bald nicht mehr geben. Was heißt schon Nationalist! Die Russen haben keinen Grund für Nationalismu: Selbst wenn sie in Tschetschenien 20.000 oder 30.000 Soldaten verlieren – ihr Genfonds verschwindet trotzdem nicht – aber wir verschwinden allmählich. Man witzelt schon, wir seien wie eins dieser sibirischen Völker, die Tschukschen, die es bald nicht mehr gibt. Heute bezahlen 20 Millionen Mohammedaner Steuern ins russische Budget, aber die Medien beachten die kleinen Völker nicht. Sogar in so kleinen Ländern wie der Schweiz oder Finnland gibt es mehr nationale Programme als bei uns. Also muss ich etwas tun für mein Volk.“

Erzähler:
Wer aber sein eigenes Volk liebe, setzt Rafis Kaschapow hinzu, sei er nun Russe, Ukrainer, Baschkire oder was immer, der liebe auch seinen Nachbarn.
…lubit ssasjeda.”

Erzähler:
Der Zusatz klingt nach Mäßigung. Die Frage bleibt aber doch: Was meint Rafis Kaschapow, wenn er von „seinem Volk“, wenn er von „den Tataren“ spricht? Die Bevölkerung Tatarstans besteht zu 50 % aus Russen, die anderen 50% sind Tataren, dazu Minderheiten anderer Wolgavölker. Nabereschnye Tschelni ist keine tatarische, keine moslemische, sie ist eine aus dem Boden gestampfte Industriestadt, in die Menschen aus allen Teilen der großen Sowjetunion zogen.
Was meint Raschis Kaschapow also, wenn er von „seinem Volk“ spricht? Auf diese Frage antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts.                                                 1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer overcvoice:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – immerhin 20 Millionen, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während orthodoxe Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen murren. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“

Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatarischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands  gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural  habe man träumen können, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Moslems, Christen und andere sollten dort in Koexistenz leben. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Staates und der orthodoxen christlichen Kirche. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.
Schließlich fasst Rafis Kaschapow das aktuelle Credo des Zentrums in den Worten zusammen:

O-Ton 6: Rafis Kaschapow, Forts.                                           0, 34
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen

Übersetzer overvoicee:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre.  Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“

Erzähler:
So eingestimmt, fällt es nicht schwer, das Anliegen derer zu verstehen, die, aktiviert durch die morgendlichen Anrufe des Vorsitzenden, im Zentrum zum Gespräch mit dem ausländischen Korrespondenten erseinen. Der Erste ist ein Kollege von der örtlichen Presse. Seine Hauptinteresse gilt der Frage, wie man in Deutschland mit gewaltbereiten Jugendlichen umgehe Dies, meint er, sei zur Zeit das größte Problem in Nabereschnye Tschelni, nachdem dessen soziale Pyramide zusammengebrochen sei. An zweiter Stelle nennt er Alkoholismus und Drogensucht. Die Administration unternehme nichts. Sie habe kein Geld und befinde sich in den Händen der Mafia. Wenn bei „Kama“ nicht bald wieder produziert werde, werde sich die Spannung in einer sozialen Erxplosion entladen.
Der zweite Gast des Zentrums an diesem Morgen, Agludi Wiselud, hat wenig Sinn für diese aktuellen Probleme. Der kleine, eifrig gestikulierender Mann versteht sich als Privatforscher. Gemeinsam mit anderen widmet er sich, wie er es nennt, der „Erforschung der historischen und ideologischen Grundlagen der tatarischen nationalen Bewegung.“ Hunnen, Mongolen, Türken – das sind seine Themen:

O-Ton 7: Agludi Wiselud, Forscher                          0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun zunächst beschäftigen wir uns mit der vor-islamischen Geschichte der Türken, also der, die mit den Hunnen verbunden ist, mit Attila, den frühen Turkvölkern. Wir studieren ihre Zivilisation. Wir fanden einige Punkte, die vorher nicht studiert wurden. Zum Beispiel Hinweise, dass wir alle aus einer Zivilisation kommen, Türken und auch Deutsche, der arischen. Natürlich ist das alles ziemlich missbraucht. Wir studieren daher auch die nationalistischen Verzerrungen dieser Fakten. Aber es gibt eben einige interessante Hinweise, dass vor der Christianisierung die deutschen Stämme äußerst eng mit den türkischen verwandt waren, also den Tataren, Türken, Uskeben und andere.“
…Usbekami, etami.“

Erzähler:
Allerdings, schränkt Agludi Wiselud ein, befänden sich die Forschungen seiner Gruppe noch sehr am Anfang, besonders was die germanischen Ursprünge betreffe, denn leider gebe es kaum Literatur über germanische Mythen in russischer Sprache.
Selbstbewusster tritt Gabbrachman Salaludinow auf, ein distinguierter Herr. Er stellt sich als Vorstand des „Club Bolgar“ vor, der die Geschichte des „Großen Bolgarstan“ erforsche, das in der Folge der hunnischen Wanderungen an Donau und Wolga entstanden war. Der falschen russischen und daraus folgend ebenso falschen europäischen Geschichtsschreibung will er die historischen Fakten entgegenstellen. Nur daraus könne eine richtige Politik erfolgen. Solche Clubs, erklärt der Bolgar-Forscher, gebe es übrigens nicht nur in Naberschnye Tschelni, sondern auch in Kasan, das er das „heutige Bolgar“ nennt, sowie in allen anderen etnischen Republiken an der Wolga; sogar in Moskau und St. Petersburg finde man welche:

O-Ton 8: Gabbrachman Salaludinow                              1,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice
„We naschem klubje…
“In unserem Club versammeln sich diejenigen,  welche die Geschichte kennen lernen wollen und die sich für Bolgaren halten. Wir propagieren unsere wahre Geschichte: Dass wir Bolgaren sind. Die Geschichte der Bolgaren ist sehr reich. Es gibt tragische wie auch heroische Momente darin, aber eins ist unbestreitbar: Bolgarstan war für seine Zeit eine hochentwickelte kultivierte Gesellschaft. Wir hatten früher als die Russen einen Staat und früher als die Mongolen. Wir sind mit den Mongolen in keiner Weise verwandt. Die Mongolen überfielen uns vielmehr, sie kamen zu uns im Krieg. Wir leisteten  langen Widerstand, aber die Kräfte waren ungleich. Und so haben sie uns besiegt. Aber nicht sie haben unseren Staat zerstört. Der Staat blieb, die staatstragende Dynastie, die ganze Armee und alle staatlichen Einrichtungen blieben; alle Führer; der ganze Adel blieb an seinem Platz. Erst als die Russen uns besiegten, da wurde alles zerstört.“
… ani bsjo rasruscheli.“

Erzähler:
In einem muss man dem Bolgar-Forscher zustimmen: Russische Geschichtsbücher berichten anders. Nach russischer und gängiger westlicher Vorstellung waren es nicht die Bolgaren, die den Mongolensturm aufhielten, sondern die Russen und waren es nicht die Russen, die Bolgarstan zerstörten, sondern die Mongolen. Tatsächlich verbanden sich die Mongolen jedoch nach dem Fall Bolgarstans mit den dort siedelnden Völkern. Aus Bolgarstan wurde das Chanat Kasan. Aus der Vermischung ansässiger bolgarischer Bevölkerung mit mongolischen Stämmen entstand der ethnische Flickenteppich, der heute rund um die mittlere Wolga, mitten im russischen Haus ausgebreitet ist.
Unter der Bezeichnung „Wolga-Ural“, so Gabbrachman Salaludinow bilde dies alles heute einen kulturellen und politischen Zusammenhang, der nach eigener Verwirklichung strebe:

O-Ton 9: Gabbrachman Salaludinow                                      0,45
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Wolga-Ural eta…
„Wolga-Ural, das ist Bolgarstan. Um es nicht direkt Bolgarstan zu nennen, nennt man es Wolga-Ural. Wir möchten aus ganzem Herzen den bolgarischen Staat wiederbeleben, allerdings in begrenzterem Umfang. In unserem Volk, das der Verordnung nach heute Tataren genannt wird,  gibt es verschiedene Dialekte. Alle diese Dialekte sind bolgarisch. Darüber hinaus sind die Baschkiren unser Volk. Sie sind auch Bolgaren. Die Baschkiren – das ist der Ural. Wir, die sog. Tataren – das ist die Wolga, zusammen bilden wir Wolga-Ural, eben Bolgarien.“
…i jest Bolgarie.“

Erzähler:
Moskau versuche nach wie vor diese Wahrheit zu unterdrücken:

O-Ton 10: Gabbrachman Salaludinow                      0,34
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Moskwa boitsja…
„Moskau hat Angst, die russische Führung hat Angst, denn wenn wir uns Bolgaren nennen, dann wachsen wir hoch über die Russen hionaus: Unser Staat war früher da, unsere Gesellschaft ist entwickelter, unsere Kultur ist höher, unsere Geschichte ist älter. Sie aber wollen das nicht. Sie wollen, dass wir Tataren genannt werden, und niedriger stehen als sie. Das ist das Problem.“
…vot, we etam wapros.”

O-Ton 12: Russisches Zentrum                             0,57
Regie: O-Ton während des Erzählers kommen lassen,  nach Erzähler vorübergehend ganz hochziehen, abblende, hörbar unterlege, hochziehen, abblenden

Erzähler:
Ganz andere Töne schlagen uns entgegen, als unsere tatarischen Gastgeber mit uns zum russischen Zentrum hinüberfahren, damit wir, wie Rafis Kaschapow sagt, auch ihre Gegenspieler kennen lernen. Hier hat die gärende soziale Desintegration der Stadt als Gegenbild zum tatarischen Nationalismus russische Ordnungsfanatiker auf den Plan gebracht, die den bekannten Demagogen Wladimir Schirinowski noch als Weichling beschimpfen. 93% der Verwaltung von Nabereschnye Tschelni werde von Tataren gestellt, behauptet der Vorsitzende des Zentrums; an allen Schulen werde tatarisch gesprochen, nicht eine gebe es, an der nur russisch gesprochen werde. Überall in den Medien höre man ständig tatarische Lieder, wann höre man mal richtige russische?

Regie: vorübergehend hochziehen

„Und wer hat Europa vor den Mongolen gerettet?“, entrüstet sich der Vorsitzende, als die Sprache auf die russische Kolonisation kommt. „Die Tschuwaschen? Die Tataren? Nein, wir! Wir waren es, die Russen! Tschingis Chan hatte die Bolgaren doch schon überrannt! Wenn wir Russen nicht gewesen wären, dann wäre heute nichts mehr! Wir haben Europa gerettet, so wie wir Europa auch vor Hitler gerettet haben! Nicht ihr Deutschen, wir Russen haben Europa gerettet! Verstehen Sie? Wir! Nicht die Amerikaner, nicht die Engländer, nicht die Franzosen, erst recht nicht die Polen!“
… nje tjem bolje nje poljaki.“

Erzähler:
Tatarstans Präsident nehme sich das Recht, die Einheit Russlands in Frage zu stellen, fährt der Vorsitzende fort. Aber wozu brauche Tatarstan einen eigenen Chan? Wozu brauche Russland viele kleine Präsidenten? Es gebe doch schon einen Präsidenten in Moskau!

O-Ton 13: Russisches Zentrum, Forts.                                 1,51
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,40 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Tschuwaschien – existiert es?“ schreit er. „Mordawien – existiert es?“ „Die Tataren – existieren sie? – Ja? Sie existieren? – Also, wenn wir sie vernichtet hätten, wie könnten sie da existieren?“ Einwände fegt er beiseite: „Kolonie?  Was für eine Kolonie? Bei uns kann es überhaupt keine Kolonie geben. Im Zarismus, bei den Imperatoren waren die Tataren die gebildetsten Leute.“ Von welcher Kolonie man da reden könne, bitte von welcher Kolonie.

Regie: Bei 0,40 zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Fragen und Einwände der Besucher ertrinken in einem Monolog des Vorsitzenden über die Notwendigkeit, russische Kultur gegen die jüdische bolschewistische Revolution und gegen das heute wieder herrschende Judentum durchzusetzen. Putin sei der erste Schritt in die richtige Richtung, der Krieg gegen die Tschetschenen notwendig, er werde irgendwann mit einem Frieden enden wie jeder Krieg. So sei das nun einmal mit Kriegen! Als die Gäste schließlich zum Aufbruch drängen, müssen sie schließlich noch eine Einladung zu Tee, Keks  und Wodka über sich ergehen lassen. Dann ist dieser Spuk vorüber.
…allmählich ausblenden….

Erzähler:
Zurück im tatarischen Zentrum stoßen wir nun auch dort auf Vertreter eines härteren Kurses, allerdings in sanfterer Sprache. Das ist vor allem ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart, den Rafis Kaschapow lachend als „Wahabiten“ ankündigt. Scheich Adin, wie der bärtige junge Mann sich selbst vorstellt, ist Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabereschnye Tschelni.
Gefragt, wie er sich fühle, wenn er „Wahabit“ benannt werde,  antwortet er:

O-Ton 14: Scheich Adin                    1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“

Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden

Übersetzer overvoice, Forts.
„Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…fundamentalistom i protsche.“

Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist das Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben.
Was er darunter verstehe?

O-Ton 15: Scheich Adin, Forts                                                        0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna tschelowjek…
„Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“

Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?

O-Ton 16: Scheich Adin, Forts.                                                     0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna…
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims –  uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumanitarnom pomotschom.“

Erzähler:
Die jungen Leute in unserer Stadt suchen nach Aufgaben, so Scheich Adin. Und die, die sich an uns wenden, sind nicht hinunter gefahren, um nur humanitäre Hilfe zu leisten:

O-Ton 17: Scheich Adin, Forts.                                                     0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen  dem Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“

Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
…wolje Allacha.“

Erzähler:
Gegen solche Töne klingt die Klage des Vorsitzenden der örtlichen tschetschenischen Gemeinschaft, der mit bitteren Worten die elende Lage der tschetschenischer Flüchtlinge in der örtlichen Diaspora und die Schikanen der örtlichen Behörden gegen sie schildert, schon beinahe milde. Nicht nur milde, sondern freundlich stimmt ein abschließender Blick in den großen Versammlungsraum des Zentrums, wo sich eine Gruppe jüngerer und älterer Frauen – in Kopftüchern, aber mit offenen, fröhlichen Gesichtern  – zur abendlichen Koranschule versammelt hat:

O-Ton 18: Frauen in der Koranschule                             26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
„Wir lernen den Islam“, erklärt die Lehrerin bereitwillig. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“

O-Ton 19: Koranschule, Forts.                     559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden

Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, fährt die Lehrerin fort. Für Männer gebe es gesonderten Unterricht, ebenso für Kinder.
„Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“
Eine andere Frau zeigt ein Heft: „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“.
„Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.

Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, meint eine Frau. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, ergänzt eine andere, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo

O-Ton 20:  Wassili im Auto                                                0,59
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen, unter dem Übersetzer abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, danach mit Athmo 2 verblenden

Erzähler:
So geht es heimwärts nach Tschuwaschien. Mehr noch als wir, ist Wassili, unser treuer Begleiter, erfüllt, von dem, was er gehört hat. In der Arbeit des Zentrums sieht er die adäquate Antwort auf die soziale Desintegration und die Degradierung der eigenen, wie es in Russland heißt, nationalen Identität, von denen er sich bedroht fühlt:

Übersetzer overvoice:
„Moja wpetschetlennije…
„Mein Eindruck von dieser Reise und den Gesprächen mit den Leitern der Organisationen ist sehr befriedigend. Das tschuwaschische Kulturzentrum und andere können hier lernen…

Regie: Athmo 2 verblenden, Musik unter dem Erzähler allmählich hochziehen, danach frei stehen lassen, ausklingen lassen.

Erzähler:
Er lässt offen, was ihn mehr beeindruckt hat: die Aktivismus der Männer oder die fröhliche Entschlossenheit der Frauen. Eine Entscheidung zwischen beidem muss  er hoffentlich niemals treffen.

GASPROM – Anatomie eines Giganten

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
GASPROM = GASPROM. RAO EUS = RAO EUES

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Am Ende der O-Töne bitte leicht abblenden, um die etwas harten Schnitte aufzufangen.

Achtung:
GASPROM wird – je nachdem er/sie/es im Kontext als Gigant, Korporation, Organisation, Konzern, Monopol uä. bezeichnet wurde – als „er“, „sie“ oder „es“ angesprochen.

Freundliche Grüsse

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

GASPROM – Anatomie eines Giganten

In Russland soll weiter reformiert werden. Das verkündet sein neuer Präsident Wladimir Putin. Bei der Frage, worum es dabei zukünftig gehen soll, stösst man auf eiserne Strukturen. Sie heißen „GASPROM“, „RAO EUS“, „MGS“. Das sind die Kürzel für die in Russland so genannten „natürlichen Monopole“, Gasversorgung, Energiewirtschaft, Eisenbahn. GASPROM, der Gas-Gewinnungs-Komplex, ist der Gigant unter diesen Giganten. Er kontrolliert 35% des Weltgasaufkommens. Ein Drittel des westeuropäischen, vor allem des deutschen Gasverbrauchs, wird über GASPROM gedeckt. GASPROM – das sind mehr als 10.000 Bohrstellen, mehr als 14.000 Kilometer zentraler Pipelines. Bei GASPROM arbeiten gut 370.000 Menschen. Nicht nur Russland, auch die Länder der ehemaligen Sowjetunion hängen an den Röhren von GASPROM. Über ein Drittel des russischen Staatsbudgets wird von GASPROM getragen. Bei GASPROM werden die höchsten Löhne Russlands gezahlt. GASPROM-Personal besetzt Führungsfunktionen des Staates. Der langjährige Ministerpräsident Tschernomyrdin war vordem Chef von GASPROM. Mit 250 Milliarden Rubel Steuerschulden, das ist die Hälfte des Staatsbudgets, ist GASPROM allerdings auch der größte Schuldner der russischen Regierung.
So ließe sich die Liste der Superlative fortsetzen. Das Wichtigste ist jedoch, dass GASPROM, dazu noch das Energiemonopol und die Eisenbahn, der  stärkste Brocken ist, der einer weiteren Privatisierung in Russland heute entgegensteht. Vergleichbare Bedeutung hat nur noch die Frage von Grund und Boden.     Schon die sogenannten „Jungen Reformer“, allen voran Boris Nemzow, scheiterten an GASPROM und dessen Lobby in der Staatsduma, als sie 1997 auf Drängen des Internationalen Währungsfonds in einer zweiten Reform-Welle zur endgültigen Privatisierung der „natürlichen Monopole“ ansetzen wollten:

O-Ton 1: Itogi    37,41
Regie: Kurz stehen lassen, nach Einsetzen des Sprechers allmählich abblenden

Erzähler:
Den „Skandal der Woche“ meldete das russische Fernsehen in der zweiten Aprilhälfte 1977, nachdem der Chef von GASPROM, Rem Wjecherew in der Duma öffentlich Lieferstop angedroht hatte, wenn die Regierung auf dem sofortigen Begleichen der Steuerschulden von GASPROM bestehe. Die Mehrheit der Duma unterstützte seinen Auftritt.
Boris Nemzow, kurz zuvor von Präsident Jelzin in die Regierung geholt, um die steckengebliebenen Reformen zu forcieren, zeigte sich ratlos:

O-Ton 2: Boris Nemzow     36,96
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abbblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Maja sadatscha stoit …
„Meine Aufgabe ist es, Schluss damit zu machen, dass diese großen Monopole das Land regieren. Mich wundert deshalb, wie die Frage von GASPROM in der Duma behandelt wurde.“
…Dumje.“
Erzähler:
Boris Nemzow konnte sich nicht durchsetzen. Ein Jahr später folgte der große Bankenkrach. Das Spekulationskapital brach zusammen, der Rohstoffexporteur GASPROM dagegen ging gestärkt aus der Krise hervor. Spekulanten gehen, so der Volksmund, aber GASPROM besteht.
Inzwischen, drei Jahre später, trotz Ablösung der jungen Reformer, trotz Rücktritt von Boris Jelzin und ungeachtet der Zähmung der Duma durch Wladimir Putin steht die Frage der „natürlichen Monopole“, allen voran GASPROMs nach wie vor auf der Liste der ungelösten Probleme des Landes. Das wird nirgendwo deutlicher als bei den Kommunisten, deren Kandidat Gennadij Szuganow Wladimir Putin bei den Präsidentenwahlen zwar unterlag, die aber nach wie vor mit rund 30% der Wählerstimmen ein beachtenswertes Protest- und gegebenenfalls auch Störpotential darstellen.
Wladimir Filippow, Sekretär der kommunistischen Duma-Fraktion für internationale Beziehungen, betont zwar die Kooperationsbereitschaft der kommunistischen Abgeordneten gegenüber der neuen Regierung. In der Frage der natürlichen Monopole aber sagt er dem neuen Präsidenten Schwierigkeiten voraus:

O-Ton 3: Wladimir Filippow    59,83
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, GASPROM eta…
„Nun, GASPROM ist für ihn auch ein großes Problem, überhaupt die Aufteilung der natürlichen Monopole. Zersplitterung, das ist für uns eine große Bedrohung, denn für ein solches Land, mit einem solchen Raum, einem solchen Territorium bilden die natürlichen Monopole den  verbindenden Halt. Wenn man jetzt die Eisenbahn, GASPROM oder RAO EUS, also die Energiewirtschaft in kleine Stückchen aufteilt, dann wird das nur negative Folgen haben. Die Bedingungen sind überall unterschiedlich: Die Entwicklung der nördlichen Regionen kann man schon aus rein klimatischen Gründen nicht mit den südlichen vergleichen usw. Das heißt, aus wirtschaftlichen und aus anderen Gründen wird diese Frage das Examen für ihn sein.“
…budit examen.“

Erzähler:
Es wird also auch in Zukunft Konfrontationen um diese Fragen geben?

O-Ton 4: Wladimir Filippow     51,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da, ja dumaju da…
„Ich denke ja, da gab es erst kürzlich wieder Gespräche, dass GASPROM sich selbst aufteilen wollte. Diesmal war die Regierung dagegen. Selbstverständlich, den Kampf um GASPROM gab es, gibt es und wird es immer geben. Das ist einfach ein kolossales Geld und alle diese finanziellen Ströme müssen natürlich kontrolliert werden. Putin hat Einfluss auf Einiges, aber GASPROM wird noch nicht vollkommen von den Leuten kontrolliert, die es gern kontrollieren möchten. Aus dieser Sicht wird der Kampf um GASPROM sich fortsetzen.“
… prowoditsja.“

Erzähler:
Über den Inhalt der Gespräche will oder kann Wladimir Filippow nichts sagen. Es scheint, als sei GASPROM von einem diplomatischen Schleier umgeben. Auch aus dem Hauptquartier der Organisation sind keine aktuellen Kommentare zu bekommen. Was zu bekommen ist, sind Jahresbilanzen und turnusmäßige Pressemitteilungen. Sie haben allerdings die Geschmeidigkeit von Regierungsverlautbarungen. In ihnen erklärt der Vorsitzende Rem Wjecherew, dass sich an der Politik von GASPROM nichts geändert habe, dass es erfolgreich bemüht sei, seine Exporte sowohl nach Europa als auch nach Asien expansiv zu entwickeln, neue Technik einzuführen, sich offen zu halten für die Marktentwicklung usw.
Bemerkenswert ist allerdings das von Jahr zu Jahr lauter werdende Eingeständnis, dass die Schulden der russischen Verbraucher an GASPROM beständig steigen. Das betrifft Haushalte ebenso wie Unternehmen oder öffentliche Stellen. 1998 waren es noch 79 Millionen Rubel; damit war fast ein Drittel des Jahresverbrauchs nicht bezahlt. Dazu kommt noch die Tatsache, dass ohnehin häufig nicht in Cash, sondern in Verrechnungen bezahlt wird. Für 1999 waren bereits 109 Milliarden Rubel nicht bezahlter Rechnungen aufgelaufen. Sperrung der Lieferung, erklärt die GASPROM-Leitung, sei jedoch keine Lösung des Problems. Es müssten „andere Wege“ gefunden werden, wobei offen bleibt, welche „anderen Wege“ gemeint sind.
Ungezahlter Schulden zum Trotz rühmen sich GASPROMS Hochglanzbroschüren aber einer eigenen Bildungs- und Sozialpolitik: Aufwendige Forschungsprogramme in eigenen wissenschaftlichen Labors, wachsender Einsatz für Unterhaltung und Neugründung eigener Schulen und Institute, Wohnhäuser, Kindergärten, Krankenhäusern, Kantinen und sogar Sonderpensionen für die eigene Belegschaft werden jährlich bilanziert. Auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes nimmt GASPROM eine Pionierrolle für Russland für sich in Anspruch.
Wer Genaueres wissen will, ist jedoch auf eigenes Nachforschen angewiesen. Einmal auf diesem Weg, findet man sich allerdings sehr schnell bald im Herzen der russischen Wirklichkeit: GASPROM ist überall. Wird der Name GASPROM ausgesprochen, gibt es in der Regel, selbst unter den abgeklärten russischen Intellektuellen, heftige Reaktionen.
Typisch dafür  dürfte ein Mann wie Wjatscheslaw Nikonnow sein. Er ist Leiter einer „Stiftung Politik“. Er bezeichnet sich selbst als Konservativen. Seine Ansichten hat er soeben in einem dicken Wälzer unter dem Titel: „Was ist russischer Konservativismus“ niedergelegt. 1999 arbeitete er für den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, inzwischen ist er Parteigänger von Wladimir Putin, wenn auch ein skeptischer. Bei der Erörterung von Putins Programm kommt er, als könnte das gar nicht anders sein, auf die Rolle von GASPROM und RAO EUS zu sprechen. An ihnen, meint Nikonnow führe für Putin kein Weg vorbei. Gefragt, welchen Unterschied er zwischen den Giganten sehe, platzt der Analytiker ganz untheoretisch heraus:

O-Ton 5: Wjatscheslaw Nikonnow     43,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nikakoi…
„Überhaupt keiner. Die eine wie die andere Korporation ist ein Monopol. Und da wie dort wird gestohlen. Die einen, GASPROM bezahlen nur etwas mehr ins Budget als die anderen. Das ist alles.“

Erzähler:
Im Übrigen, setzt Nikonnow hinzu, habe Russland immer ein korporatives System gehabt, das sich auch unter Jelzin nicht aufgelöst habe. Auch unter Jelzin habe es keine Demokratie gegeben. Daran werde sich nichts ändern.
…Nitschewo nje ismenjajetsja. Absolutna.“

Erzähler:
Politisch von der entgegengesetzten Seite kommt André Kolganow, Doktor der Wirtschaftswissenschaften an der Staatlichen Moskauer Universität, MGU. Er ist Mitglied in einem kleinen reformsozialistischen Kreis rund um die Theoriezeitschrift „Alternative“. In der Beschreibung von GASPROM aber stimmt er mit dem Konservativen Nikonnow überein:

O-TON 6: André Kolganow     47,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„GASPROM dastatitschna…
„GASPROM ist zur Zeit eine ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. Solche Strukturen gibt es in Russland heute wenige. Außer GASPROM  kann man da noch das Ministerium für Reisebeziehungen, also die Eisenbahn, und das Einheitliche-Energie-System, RAO EUS nennen. Zwar hat sich der Status dieser Organisationen verändert. Es veränderten sich auch einige wirtschaftliche Beziehungen. Aber ihre Führungsstruktur hat sich mehr oder weniger erhalten wie zu sowjetischen Zeiten.““
…Sowjetski wremia.“

Erzähler:
Neu sei, so Dr. Kolganow, dass der Staat die Preise für Gas und für die Stromtarife nicht mehr bestimme. Er wirke zwar auf die Preispolitik ein, könne sie aber nicht mehr direkt festlegen. Der Staat reguliere auch die Beziehung zwischen Stromverbrauchern und Lieferanten nicht mehr. Die seien jetzt „näher am Markt“. Formal seien diese Organisationen privatisiert worden: GASPROM sei heute eine Aktiengesellschaft, an welcher der Staat 40% halte; die übrigen 60% lägen bei den Betreibern von GASPROM selbst und bei ausländischem Kapital. Allerdings dürfe das ausländische Kapital 9% nicht übersteigen. Aber hier habe sich, so Dr. Kolganow, ein befremdliches Phänomen eingestellt.

O-Ton  7: André Kolganow    53,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No sdjes prisaschli…
„Seit der Privatisierung verfügt GASPROM über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von GASPROM unterstellt; GASPROM führt also Aufsicht über sich selbst. GASPROM ist eine merkwürdige Organisation: nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. GASPROM ist überhaupt eine ziemlich mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“
… zeli imperi.“

Erzähler:
Besonders erwähnenswert ist auch für Dr. Kolganow der korporative Aufbau GASPROMS:

O-Ton 8: André Kolganow    1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela w tom tschto…
“Die Sache liegt so: Vor Beginn der radikalen Markt-Reformen hatten praktisch alle Unternehmen der Sowjetunion ihre eigenen sozialen Strukturen. Sie bestimmten die soziale Lage ihrer Arbeiterschaft. Mehr noch, GASPROM als eine der reichsten Organisationen – jetzt die reichste überhaupt, insofern sie mit dem Export von Ressourcen zu tun hat – konnte einen wesentlichen Teil ihrer sozialen Infrastruktur erhalten. Sie zahlt ihren Arbeitern ein ziemlich hohen Lohn und bietet soziale Leistungen. Die höchsten Löhne gibt es zur Zeit im Banksektor, danach bei den ölfördernden und gasfördernden Industrien und der Elektroenergie.“
…i Elektroenergetiki.“

Erzähler:
Erstaunliches hört man von dem Doktor der Wirtschaften über die Beziehung zwischen GASPROM und den russischen Oligarchen: Nicht Konkurrenz, wie man nach den Ereignissen von 1997 und 1998 annehmen sollte, sondern Zusammenarbeit bestimme deren Umgang miteinander. Auch das politische Urteil Dr. Kolganows über GASPROM verblüfft: Obwohl seiner Struktur nach autoritär und nicht demokratisch habe GASPROM doch kein Interesse an einer Restauration:

O-Ton 9: André Kolganow     32,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„GASPROM…
„GASPROM ist an einer Restauration der früheren sowjetischen Ordnung nicht interessiert; Gasprom wollte die marktwirtschaftlichen Reformen. In erster Linie deshalb, weil diese Reformen ihr freie Hand gaben für den Verkauf von Gas ins Ausland und die Möglichkeit ihre Einnahmen zu erhöhen. Deshalb pflegt GASPROM beste Beziehungen zur gegenwärtigen Macht und ihren Politikern.“
…ninischni wlasti.“

Erzähler:
„Mehr noch“, meint Kolganow:

O-Ton 10: André Kolganow    18,37
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A na schot sozialnich…
„Was die soziale Frage betrifft, so kann sich GASPROM den sozialen Kompromiss mit den eigenen Arbeitern leisten. An den übrigen ist GASPROM soweit interessiert, dass keine Massenunruhen entstehen – nicht mehr.“
…Nje bolje tawo.“

Erzähler:
Im Büro der Moskauer freien Gewerkschaften bestätigt ihr Präsident Michail Nagaitzew diese Einschätzung. durch eine aktuelle Nachricht, die ein grelles Licht auf GASPROMs Haltung zur Demokratie wirft. Leise, fast als scheue er das Mikrofon, erklärt er:

O-Ton 11 Michail Nagaitzew     32,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Oni sejtschas…
„Sie haben jetzt gerade ihre eigene Gewerkschaft gegründet. Eine überregionale Gewerkschaft, soweit das Gesetz das erlaubt. Sie hatten gerade eine Konferenz. Man wird sehen, wie sie mit den anderen Gewerkschaften arbeitet. GAS-Öl-Gewerkschaft nennt sie sich.“                 …nasiwajetsja, zentralni komitet.“

Erzähler:
Weitere Auskünfte über GASPROM wehrt der Präsident der Moskauer freien Gewerkschaften ab. Gespräche über GASPROM, bescheidet er den neugierigen Westler, bedürften der längeren Vorbereitung.
Verständlich, denn die Beziehungen der Mehrheit der russischen Bevölkerung gegenüber GASPROM, insbesondere in den in sogenannten „Provinzen“, ist nicht gerade besonders einfach. Nur eine Tagesreise von Moskau zum Beisspiek, an der mittleren Wolga, in der Industriestadt Tscheboksary, wo die Bevölkerung von Arbeitslosigkeit und dem Zerfall der früheren Versorgungsstrukturen heimgesucht wird, ist man überhaupt nicht gut auf GASPROM und seine Belegschaft zu sprechen:

O-Ton 12: Arbeiter in Tschboksary     44,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ah, GASPROM…
„Ach, GASPROM! Nun die GASOWIKI gewinnen bei uns Gas; überall auf dem Lande gewinnen sie Gas. Aber ich finde, das Gas sollte Eigentum des Volkes sein, das heißt, es sollte Gerechtigkeit in der Eigentumsfrage geben.
Die Menschen, die in der Fabrik arbeiten und die, die am Gas arbeiten, müssten den gleichen Lohn bekommen. Jetzt aber ist es so, dass die GASOWIKI ein wahnsinniges Geld machen, während die in der Fabrik nicht mal ihre Kopeken bekommen.“
…polutschit.“

Erzähler:
Die Bevölkerung Russlands, soweit sie nicht zur Belegschaft von GASPROM gehört, fühlt sich ausgeraubt. GASPROM, obwohl der Form nach sowjetisch, erweist sich doch als der größte Gewinner unter den Krisengewinnlern. Weit entfernt davon, als Modell gegen den Zerfall der alten Strukturen zu wirken, verschärft er ihn bis zur Spaltung der Bevölkerung: GASPROM ist nicht nur ein Staat im Staate, sondern auch eine privilegierte Gesellschaft in der Gesellschaft. Da geht der Streit mit den Oligarchen offenbar nicht ums Prinzip, sondern um den größeren Anteil
Für Boris Kagarlitzki, den im Westen bekanntesten radikaldemokratischen Kritiker, ist diese Tatsache Ansatzpunkt für eine besondere Kritik der Organisation:

O-Ton 13: Boris Kagarlitzki     1,18,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ponimaesch, GASPROM…
„GASPROM, ist ein ernsthaftes Thema, weil darin die alten Strukturen des  sowjetischern Korporativismus erhalten sind. GASPROM ist das Beispiel dafür, wie nicht–kapitalistische Strukturen zum Kapitalismus streben. GASPROM organisiert die Beziehungen seiner Werktätigen auf seine Weise, ganze Regionen sind rein von GASPROM aufgebaut. Dieser ganze sowjetischen Paternalismus ist nicht nach Marktbeziehungen begründet, nicht auf dem freien Lohnarbeiter, sondern nach ganz anderen Beziehungen der Unterordnung, der Verwaltung usw. Auf der anderen Seite aber ist GASPROM eine total kapitalistische Korporation, weil er schon auf dem internationalen Markt arbeitet, sich am Kapitalexport beteiligt usw. Durchaus möglich, dass die Erfolge der Korporation auf dem internationalen Markt geringer wären, wenn GASPROM im inneren kapitalistischer wäre.“
…garasda mensche.“ lacht

Erzähler:
Sowjetischer Korporativismus, von dem Kagarlitzki wie die anderen Gespprächspartner vor ihm spricht – darunter sind die Strukturen des sowjetischen Lebens zu verstehen, die sich aus der Verstaatlichung und Industrialisierung der traditionellen russischen Bauerngemeinde, der Obschtschina ergaben. Aus ihr gingen die sowjetischen Kolchosen und Sowchosen, also die kollektiven landwirtschaftlichen Betriebe, ebenso aber auch die betrieblichen und wissenschaftlichen Arbeitskollektive hervor. In ihnen war betriebliches und außerbetriebliches Leben in einer Pyramide organisiert, an deren Spitze die Führung aus Partei, Gewerkschaft und Betriebsleitung stand. Innerhalb der Pyramiden bestimmten Tauschbeziehungen das Leben – Arbeit gegen soziale Versorgung und Sicherheit, Erst im Austausch zwischen den Pyramiden bekam der Geldverkehr seine eigentliche Bedeutung. Dies alles, so Boris Kagarlitzki, spiegele sich in GASPROM wider, das von diesen Sdtruikturen profitiere:

O-Ton 14: Kagarlitzki, Forts.     1,22,84
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei „What is good for…“ hochziehen bis zum Schluß stehen lassen.

Übersetzer:
„Ja prosta imeju vidu…
„Man hat dort viel zu verbergen. Viel! Es ist eben klassisches Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft effektiv arbeitet, die in sich nach wie vor sowjetisch organisiert ist:  GASPROM bestiehlt sich ständig selbst. Geld, das aus dem Gas-Sektor kommt, wird auf andere Sektoren verschoben. Auf Staatsebene läuft es überhaupt genial: Zwar hält der Staat 40% der Aktien, aber er hat ausdrücklich auf Zahlung von Dividenden verzichtet, damit das Geld in Investitionen gehen kann. Tatsächlich werden mit diesem Geld jedoch Projekte finanziert, die absolut nichts mit Gas zu tun haben. Zudem hat man die Kontrolle an die Führung überschrieben. Kurz, der Staat hat alle Ansprüche abgegeben außer denen auf Steuern und die bezahlt GASPROM nur teilweise mit der Behauptung der Staat schulde dem Unternehmen seinerseits die Bezahlung der Lieferungen. So kommt schließlich Wjecherews Losung zustande wie seinerzeit Fords: „What is good for General Motors is good für America.“ Bei Wjecherew heißt das: `Was gut ist für GASPROM, das ist auch gut für Russland.´
478… choroscho glja Rossije.“

Erzähler:
Einen Insider-Einblick in diese Strukturen GASPROMs  gibt ein leitender Mitarbeiter der Gesellschaft. Nennen wir ihn Sergej Sergejew. Sergej arbeitet in einem Moskauer Tochterunternehmen der Korporation. Er möchte seinen tatsächlichen Namen und seine Funktion nicht öffentlich genannt wissen, weil er daraus Nachteile für seine Position befüchtet.     Sergei bestätigt die Beschreibungen GASPROMs als Monopol, das im alten sowjetischen Stil geführt werde. Entscheidend aber ist aus seiner Sicht die Schuldenfrage. Im ersten Schritt macht er noch die Reformer verantwortlich. Sie hätten, meint Sergej, durch ihre Politik eine anarchische Situation geschaffen, in der niemand niemanden entsprechend geltender Gesetze bezahle, in der stattdessen alles – bis hin zu den Steuern – Sache von Verhandlungen und Beziehungen sei:

O_Ton  15: Sergei, Forts.     36,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Idjot wechselej..
„Die Verrechnungen laufen über Wechsel, über gegenseitige Verschuldung, über einfachen Warenaustausch oder auch über primitivsten Austausch von Privilegien, also etwa: `Wir veranlassen den Leiter dieser oder jener Branche loyal gegenüber der Adminstration zu sein und sie berechnet uns weniger Steuern.´ So treten alle auf. GASPROM ist keine Ausnahme.“
…nje isklutschennije.“

Erzähler:
Bei der Erörterung der korporativen Strukturen von GASPROMs jedoch kommt Sergej ins Plaudern. Auf die Frage, ob man sie auf nicht-kapitalistische Wurzeln zurückführen könne, antwortet er:

O-Ton 16: Sergei, Forts.    35,00
Regie: O-Ton von kürzer stehen lassen, abblenden, unterlegen, hinten beim Stichwort „extrapolarre Ökonomie“ hochziehen, dann allmählich ablenden

Übersetzer:
„Prinzipje wy prawi…
„Im Prinzip haben Sie recht, obwohl in GASPROM auch andere Gesetze wirken. In den unteren Schichten der Bevölkerung überlebt man ja vielfach auf Grund dessen, was englische Ökonomen die `extrapolare Ökonomie´ genannt haben., also eine Wirtschaft, die außerhalb der klassischen Schemata liegt.“                …schema

Erzähler:
Viele kleine Gruppen in Russland, erzählt Sergej, auf dem Dorf, in der Familie, ganze Zusammenhänge von Familien, Clanverwandte usw. könnten nur durch gegenseitige Hilfe überleben. Menschen, die in der Provinz leben, aber Kinder in Moskau haben, überleben nicht mit dem Geld, sondern mit den Produkten, welche die Kinder ihnen bringen. Oder auch umgekehrt: Eine Gruppe Verwandte unterhält Garten, Kühe, Schweine, rackert wie die Sklaven nur damit ihre Kinder in Moskau überleben können oder umgekehrt, die Kinder erarbeiten Geld, um ihre Eltern zu unterhalten. Solche Wirtschaftsformen, schießt Sergej, habe er in ganz Europa nicht gesehen, auch nicht in Osteuropa. Die gebe es  nur in Russland und trotz seines transnationaler Charakters seien die verschiedenen Unternehmen von GASPROM in Russland selbst wohl auch Teil dieser Struktur:

O-Ton 17: Sergei, Forts.    40,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Schto kassajetsja…
„Was die transnationalen Aktivitäten betrifft, so handelt GASPROM wie eine normale, europäische, westliche Korporation. Was GASPROMs Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der èxtrapolaren Wirtschaft´, aber über sie ist GASPROM doch gezwungen, sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“
…rossiskuju spezifiku.“

Erzähler:
„Sich den russischen Besonderheiten anzupassen“ – das bedeutet, GASPROM existiert halb nach den Gesetzen des globalisierten Marktes und halb nach den Tauschgesetzen der traditionellen russischen Gemeinschaftsstrukturen: Obschtschina, Sowchose, Kolchose, Betriebskollektiv. GASPROM ist Bindeglied zwischen kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Welt. Das ist seine soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit. Damit hat Sergej Sergejew die allgemeinste Charakteristik von GASPROM gegeben. Und damit ist GASPROM beispielhaft für die Entwicklung ganz Russlands. Kein Wunder also, dass GASPROM zum Streitapfel der Nation wird, den besonders auch die vaterländischen Kräfte politisch für sich vereinnahmen möchten.
„Der Kampf um GASPROM“, so formuliert es dementsprechend Alexander Prochanow, wortgewaltiger Propagandist des sich selbst so bezeichnenden patriotischen und imperialen Lagers, „ist der Kampf um den Staat.“

O-Ton 18: Alexander Prochanow    1,41,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„GASPROM ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist ganz sicher für den Staat nützlich. In ihr gewinnt man riesige Gelder. GASPROM bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat GASPROM die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. GASPROM hat zugleich sehr viele Verbindungen zum privaten Geschäft. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist grässlich. GASPROM arbeitet leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen zur Seite. Aber über GASPROM verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. GASPROM reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt such auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf GASPROM zur Zeit Angriffe: Allzu lecker sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski. Deshalb ist der Kampf um GASPROM wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistischen Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen.“
… posmotrim.“

Erzähler:
Was unter der „geopolitischen Orientierung“ zu verstehen ist, erklärt Alexander Dugin, ein Gesinnungsgenosse Alexander Prochanows. Er glaubt in Rem Wjecherew einen mächtigen Verbündeten für die von ihm angestrebte euroasiatische, genauer anti-atlantische, anti-amerikanische Orientierung Russlands gefunden zu haben:

O-Ton 19: Alexander Dugin    60.09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wjecherew ewrojasiz…
„Wjecherew ist Euroasiat. Er ist Iraner von Geburt. Das ist sehr interessant. Er ist Parteigänger des euroasiatischen Patriotismus. Bei GASPROM läuft die Privatisierung sehr, sehr langsam. Praktisch gar nicht. Das Monopol bewahrt sich eine einheitliche Leitung. Damit kräftigt es den Boden für die Änderung de Politik des Landes an eine euroasiatische Orientierung. Ich denke Wjecherew ist einer der mächtigsten Unterstützer der Euroasiatischen Renaissance.“

Erzähler:
Das gelte nicht für Tschernomyrdin, den früheren Vorsitzenden von GASPROM, dessen Westorientierung „extrem negative“ Ergebnisse gebracht habe, schränkt Alexander Dugin ein. Im Ganzen aber sei GOASPROM eine Quelle euroasiatischer Kraft und Wjecherew darin eine äußerst akzepbtable Figur.
…polaschitelni figuri“

Erzähler:
In der Öffentlichkeit wurden diese Auseinandersetzungen in letzter Zeit kaum erkennbar. Während des Präsidentenwahlkampfes irrten ein paar kritische Berichte über GASPROM durch die Presse, so in dem Skandalblatt „Sowerschenno Sekretno“ (Ganz Geheim.) Das Blatt setzte seinem Artikel zwei Zitate voraus, eines von Boris Beresowski, dem bekanntesten unter den Oligarchen, das andere von Rem Wjecherew im Namen von GASPROM. Boris Beresowski wir mit den Worten zitiert:

Zitator:
„Der Staat ist der Hauptaktionär bei GASPROM und es ist vollkommen unnormal, dass dieser potentielle Finanzier gegen den Präsidenten und gegen die Regierung benutzt wird.“

Erzähler:
Rem Wjecherew darf dagegen halten:

Zitator:
„Er (Beresowski) wühlt beständig hier herum. Mir ist sehr gut bekannt, über welche unter meinen Assistenten er zu wirken versucht! Aber ich werde niemals am Zügel solcher Leute wie ihm oder Abramowitsch gehen.“

Erzähler:
„Die Zügel solcher Leute – damit sind die neureichen Oligarchen, ist die berüchtigte Jelzin-Familie, sind die unermüdlichen Privatisierer aus dem liberalen Lager gemeint, die heute Einfluss auf Wladimir Putin zu nehmen versuchen. Genaueres erfährt die Öffentlichkeit jedoch nicht. Eine Information, welchen Kurs die neue Regierung gegenüber den „natürlichen Monopolen“ verfolgt, ganz zu schweigen von einer öffentlichen Auseinandersetzung darüber, gibt es bisher nicht. Selbst Alexej Simonow, 1992 Gründer und heute Präsident der „Stiftung Glasnost“, dessen erklärtes Ziel die Schaffung von Transparenz gesellschaftlicher Vorgänge ist, wehrt die Bitte um Aufklärung über GASPROM resigniert ab:

O-Ton 20Alexej Simonow    20,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta nje k mnje…
„Das ist keine Frage an mich. Ich weiß davon nichts. Ich lese nur die Presse. Was ich da sehe, hat keine Basis. Das ist ein zu großer Maßstab, um darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen. Was trotzdem darüber gesagt wird, sind Dummheiten.“
…to gluposti.”

Erzähler:
Der Hinweis, dass selbst die Presseabteilung von GASPROM nicht zu mehr bereit sei, als der Übergabe von Jahresberichten, entlockt ihm dann doch noch den Kommentar:

O-Ton 21: Simonow, Forts.    30,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dasche presssluschba…
„Sogar der Pressedienst ist nicht bereit? Erstaunlich! Nun, ihnen ist zur Zeit, wie ich es verstehe, auferlegt worden, dem Volk keine Furcht darüber zu machen, dass bei uns ein Krieg zwischen GASOWIKI und ENERGETIKI ausbrechen könnte. Wahrscheinlich wissen sie selbst nicht, was sie in der Sache machen sollen.“
… tscho s etim djelats.“

Erzähler:
Diese Feststellung des Präsidenten der „Stiftung Glasnost“ kommt den Tatsachen vermutlich am nächsten: Der kurz nach Wladimir Putins Vereidigung als Präsident zwischen ihm und Wladimir Beresowki sichtbar gewordene Konflikt, in dem ausgerechnet Magnat Beresowski dem von ihm selbst zuvor mit viel Einsatz gepuschten Präsidenten nun dessen Zentralismus als Verletzung der neuen Demokratie Russlands vorwirft, lässt erahnen, dass die Kämpfe zwischen alten und neuen Strukturen in Russland mit  der Wahl Wladimir Putins noch lange nicht abgeschlossen sind. Womöglich beginnen sie erst jetzt richtig. Wie dieser Kampf ausgeht, ob er zu einer neuerlichen Stärkung des Zentralstaat, ob er zu weiteren Privatisierungen führt oder ob neue und alte Reiche Russlands sich in einem Kompromiss gegen eine mit beiden unzufriedene Bevölkerung finden, ist eine offene Frage. Von ihrer Lösung hängt nicht nur das politische Schicksal Wladmir Putins, sondern das des gesamten Russland ab.

Russlands multizentrale Strategie

Besetzung:

Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

–    1 Athmo zum Einblenden (erster Ton auf dem O-Ton-Band)
–    9 O-Töne

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russlands multizentrale Strategie

O-Ton 1: TV-Nachrichtensendung        2,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen,  unter dem Einführungstext vom ersten Satz an allmählich kommen lassen, danach (bei 0,50, Tusch) vorübergehend hochziehen, mit Sprecherin abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen, abblenden

Die Welt befindet sich in einer Übergangssituation. Die bipolare Ordnung, die das letzte Jahrhundert bestimmte, gehört der Vergangenheit an. Die Auflösung der Sowjetunion hinterließ ein geschwächtes Russland, eine orientierungslose GUS, dafür eine gestärkte USA, ein wachsendes Europa und die Osterweiterung der NATO. Neue Mächte melden sich zu Wort: Indien, Pakistan, Iran, Südostasien, Südafrika, Südamerika, China. Eine neue Ordnung entsteht. Wie wird sie aussehen? Unipolar unter Führung einer Weltmacht, multipolar, erneut bipolar? Welche Rolle wird das von Wladimir Putin geführte Russland darin einnehmen?

Regie: bei Tusch hochziehen, mit Sprecherin abblenden, unterlegen

Erzähler:
Tagesnachrichten im NTW, dem unabhängigen russischen Fernsehen: Irans Präsident Muhammad Chatami in Moskau. Demonstrativ setzt der neue Mann im Kreml außenpolitische Zeichen. Vereinbarungen über Lieferung russischer Raketen für den Iran, Unterstützung des iranischen Atomprogramms durch Russland, weitere Lieferverträge über konventionelle Waffen Russlands an den Iran sind nur die auffälligsten Vereinbarungen, die getroffen werden. Langfristig geht es um mehr: Es geht darum, so ist selbst den Kommentaren dieser eher westlich orientierten Fernsehstation zu entnehmen, die  westlichen Stereotypen vom Schurkenstaat Iran zu durchbrechen, der von den USA beanspruchten Vorherrschaft in Mittel- und Südasien etwas entgegenzusetzen. Es sei Zeit, darin stimmen alle Kommentare überein, das amerikanische Embargo gegen den Iran zu durchbrechen und Russlands Flanke nach Mittelasien wieder zu öffnen, nachdem entsprechende Schritte gegenüber China und Korea bereits erfolgt seien. Ölgeschäft, Gleichberechtigung auf dem internationalen Rüstungsmarkt, Stärkung der strategischen Situation Russlands und des Iran zum gegenseitigen Nutzen, Stabilisierung des kaspischen Raumes. Das sind die Vokabeln, die in dieser Sendung fallen. Tenor: Wir sind immer noch eine Großmacht; und wenn Großmacht sich heute wirtschaftlich definiert, gibt es keinen Grund, warum wir uns an dem Geschäft nicht beteiligen sollten.
… targowle.“ Tusch

Erzähler:
Mit der Intensivierung der Beziehungen zum Iran, Amerikas Intimfeind Nummer eins, mit Kontaktaufnahme zu Korea, mit Intensivierung der Beziehungen zu Peking antwortet Wladimir Putin demonstrativ auf die Pläne für den Aufbau eines Nationalen Raketen-Abwehrschirms, die von dem neuen US-Präsidenten George Busch zur Zeit  forciert werden. Dem Werben Wladimir Putins nach Osten entsprechen gleichzeitige Vorschläge von ihm an die Europäische Union, sich mit Russland gemeinsam um den Aufbau eines Abwehrschirms zu bemühen. Die Zielrichtung dieser Politik ist klar: Russland versucht, das internationale Bündnissystem in Bewegung zu bringen, das entgegen den Hoffnungen, die sich Michail Gorbatschow Ende der 80er bei seinem Zugeständnis zur deutsch-deutschen Einigung machte, ganz auf die Vorherrschaft der USA und der NATO eingeschwenkt ist. Westliche Strategen sind beunruhigt. Westliche Militärs beobachten argwöhnisch Putins neuen Kurs Wladimir Putins in der russischen Sicherheitspolitik. Besondere Beunruhigung löste die Verabschiedung eines neuen Sicherheits- und eines neuen Militärkonzeptes kurz nach dem Amtsantritt Wladimir Putins aus. In umfänglichen Untersuchungen, Tagungen und Schulungen versucht man sich Klarheit zu verschaffen, was der Kurs Russlands für die europäische, für die westliche Sicherheit zu bedeuten hat.
In einer dieser Untersuchungen, einer Schrift des deutschen „Forschungsinstituts für internationale Politik und Sicherheit“ mit dem Titel: „Russische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Putin“, werden das alte und das neue außenpolitische Konzepte unter dem Gesichtspunkt der multinationalen Orientierung verglichen. Der Autor ist Hannes Adomeit. Mit Sympathie charakterisiert er das aus Michail Gorbatschows „Neuem Denken“ entstandene Konzept der russischen Außenpolitik, das während der Jahre der Präsidentschaft Boris Jelzins galt:

Zitator:
„Das alte Konzept enthielt  Formulierungen, die schon damals dem `patriotischen Konsens´ entgegenstanden und die insbesondere von einem großen Teil der Militärführung abgelehnt wurden. Die Entstehung einer multipolaren Welt wurde als dominante Entwicklungsrichtung in den internationalen Beziehungen bezeichnet. Militärische Macht in der Weltpolitik spiele zwar weiterhin eine wichtige Rolle, politische, wirtschaftliche , wissenschaftliche- technologische, ökologische und informationstechnische Faktoren gewönnen aber zunehmend an Bedeutung. Die Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands hätten derzeit keinen militärischen Charakter, sie seien vielmehr hauptsächlich innerer Natur und gründeten auf wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Problemen. Sogar die nukleare Abschreckungsfähigkeit Russlands wurde in diesen Zusammenhang gestellt.“

Erzähler:
Die Herausbildung einer multipolaren Ordnung, in der Russland neben den USA, China, Europa und anderen Ländern der ehemaligen Kolonialgebiete eine unter mehreren Großmächten ist, die gleichberechtigt miteinander Frieden und Sicherheit in einer sich ökologisierenden Welt garantiert – das ist der Kern dieser Vorstellung. Derartige, „für das außenpolitische Establishment Moskaus ungewohnt vernünftige und klare Formulierungen“, so der Autor des Berichtes weiter, seien im neuen Sicherheitskonzept nicht mehr enthalten. Seit dem NATO-Einsatz in Kosovo betone Russland zwar weiterhin seine multipolare Orientierung, sehe diese aber durch militärische Machtpolitik, vor allem seitens der USA, gefährdet. Die neue Konzept setze andere Schwerpunkte:

Zitator:
„Im ersten Kapitel `Russland in der Weltgemeinschaft´ heißt es nun, , die Bedeutung  militärischer Faktoren in der internationalen Politik sei grundlegender Natur. Ein Kampf zweier sich gegenseitig ausschließender Tendenzen zeichne sich ab: Dem Trend zur Mulitipolarität auf der einen Seite stehe das Streben gegenüber, `eine Struktur der internationalen Beziehungen zu schaffen, die auf der Dominanz der entwickelten westlichen Länder unter Führung der USA beruht.´ Dieses Dominanzstreben ziele auf die `einseitige Lösung von Schlüsselproblemen vor allem mit militärischer Gewalt und unter Umgehung grundlegender Normen des Völkerrechts“.

Erzähler:
Aus Sicht der westlichen Strategen ist dies ein Rückfall in die Logik des Kalten Krieges, die Schlimmes erwarten lasse. Allerdings, so dieselben Quellen, dürfe man sich in der russischen Politik nicht an Wortlaute von Konzepten oder Programmen klammern. Allein zum neuen Sicherheitskonzept habe es fünfzehn (15!) Entwürfe verschiedener Institutionen gegeben, die alle in Details voneinander abwichen und sich für den Außenstehenden letztlich zu einem undurchsichtigen Knäuel verstrickten. Mehr noch, schließlich widerspreche die neue Militärdoktrin sogar noch der letzten Variante des Sicherheitskonzeptes. Zwar skizziere auch die Militärdoktrin in ihrem Entwurf erneut Unipolarität und Multipolarität als die beiden heute herrschenden Trends der Weltpolitik. Zwar stelle sie fest, dass Unipolarität sich auf die Dominanz einer Supermacht, nämlich der USA, gründe und auf die Lösung von Schlüsselfragen der Weltpolitik durch militärische Gewalt, während Multipolarität auf gleichen Rechten der Völker  und Nationen beruhe, auf Achtung  eines Gleichgewichtes der Nationalinteressen  von Staaten und der Anwendung grundlegender Normen des Völkerrechtes. Es werde auch festgestellt, dass Russland nur letztere Tendenz als legitim betrachte. „In der Endfassung aber“, so die westlichen Strategen verblüfft, also in der verabschiedeten Form der Militärdoktrin, „ wurde die negative Wertung der Vereinigten Staaten ersatzlos gestrichen.“ Was praktisch gelte, sei unklar. Russland Orientierung, heißt das, bleibt für den Westen offen.
In der Sprache der Militärs klingt das so:

Zitator:
„In der Außen- und Sicherheitspolitik Putins ist im Vergleich zu Jelzin – zumindest in den letzten Jahren seiner Amstzeit – ein größerer Pragmatismus und größere Flexibilität im Verhältnis zum Westen zu bemerken. Das kann für den Westen sowohl vorteilhaft als auch nachteilig sein. Pragmatismus erfordert, sich mit dem Westen zu arrangieren, das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und der NATO zu normalisieren. Diesen Erfordernissen zu genügen ist bereits Teil von Putins Agenda.  Infolgedessen gibt es wieder verbesserte Chancen einer Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland. In der Rüstungskontrollpolitik und bei der Friedenssicherung in Europa. Hier liegen die Vorteile für den Westen. Die Nachteile liegen darin, dass Putin die im Moskauer sicherheits- und außenpolitischen Establishment gängigen Vorstellungen und die unter Jelzin für den Westen entwickelte Sicht der `nationalen Interessen Russlands teilt, diese Interessen aber geschickter und wirksamer vertritt.“

Athmo-1: Musik, Moderatorin, Glas naroda        1,55
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, (bei 0,49, Moderatorin mit Stichwort „Glebowski) vorübergehend hochziehen, unterlegen, am Schluss hochziehen, mit Beifall verblenden

Erzähler:
Verwirrt sind auch die innenpolitischen Beobachter, verwirrt ist die Bevölkerung. Hat Wladimir Putins Politik nun zu einer besseren Wahrnehmung der nationalen Interessen, zu einer Stabilisierung der nationalen Konsenses in Russland geführt oder nicht? Öffnet er Russland weiter zum Westen oder nicht? Macht er die Menschenrechte zum Maßstab seines Handelns oder nicht?
Zu dieser Frage sind die widersprüchlichsten Positionen zu hören. So kürzlich in der Sendung „Das Auge des Volkes“, der populärsten politischen Fernseh-Talkshow Russlands. Unter der Frage, „Wohin treiben wir?“ diskutieren politische Experten untereinander und mit dem Publikum:

Regie: bei 0,49 zum Stichwort “Gleboswski“vorübergehend hochziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Einer der Experten ist Gleb Pawlowski, Leiter eines „Fonds für effektive Politik“, der auf undurchsichtige Weise als eine Art überparteiliche graue Eminenz des Kremls tätig ist; sein Kontrahent ist Sergej Darienko, der sich während der zurückliegenden letzten Wahlkämpfe einen Namen als Schmutzschleuder der Nation gemacht hat. Anfangs agitierte er zugunsten der von Wladimir Putin inspirierten Partei „Einheit“, nach deren Wahlsieg zugunsten Wladimir Putins selbst. Jetzt haben sich  die  Fronten verkehrt: Der überparteiliche Gleb Pawlowski ergreift Partei für den Präsidenten: Der habe Russlands Nationalgefühl stabilisiert, meint er. Wladimir Putins ehemaliger Fürsprecher sieht seinen vormaligen Liebling inzwischen als Wegbereiter einer auf Russland zukommenden Katastrophe einer nationalsozialistischen Diktatur:

O-Ton 2: Gleb Pawlowski                  0,53
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblende, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, danach hochziehen

Erzähler:
„Ja dumajau schto…
Gefragt, welche Auswirkungen Wladimir Putins Linie auf die Außenpolitik habe, speziell auf Russlands Beziehung zu Europa, witzelt Fond-Chef Pawlowski zunächst provokant: Das sei deren Problem. Auch für Amerika gelte das, setzt er hinzu.
Dann kommt er zur Sache:

Regie: Nach Abklingen des Beifalls und ersten Worten vorübergehend hochziehen. Nach den Stichworten „Ja swjo wremeni…“ abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer obvervoice:
„Ja swjo wremeni…“
„Ich höre von Politikern immer Klagen, Klagen. Aber es passiert doch etwas Phantastisches: Ein nationales Russland ist widererstanden! Unsere Politiker hängen immer noch der Sowjetunion nach, aber Russland ist aus der Sowjetunion doch schon seit zehn  Jahren herausgewachsen! Die Union hat sich damals mit Amerika herumgeschlagen; da gab es Probleme, aber jetzt!? Jetzt gibt es Russland! Jetzt müssen wir aufbauen – auf unserem eigenen freien Boden ein freies Land. Wie kann es sein, europäisch?
… moschet bit, ewropeski?.“

Erzähler:
Unbeantwortet lässt er die Frage im Raum stehen. Sergej Darienko greift sie auf, entwirft aber ein vollkommen anderes Bild:

O-Ton 3: Sergej Darienko, Journalist              1,54
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja dumau schto…
„Ich denke selbstverständlich, dass wir erstens Russland verloren haben – die Hälfte, ja, mehr als die Hälfte hinsichtlich der Quantität,  die Hälfte der Bevölkerung. Die Sowjetunion hatte immerhin vierundzwanzig Millionen Quadratkilometer, jetzt sind es siebzehn Millionen. In Bezug auf die Qualität haben wir noch entschieden mehr als nur die Hälfte verloren. Das ist für mich ganz offensichtlich. Und wenn wir Russland weiter so heruntermachen, dann schrumpfen wir auf eine Handvoll Leute, auf das Maß einer Schildkröte. Es ist ganz offensichtlich, dass wir uns heute nicht in Richtung Europa bewegen. Ich denke, wir sollten das tun, aber dafür müsste die Macht politische Parteien unterstützen, statt sie zu vernichten, auch wenn das dem politischen Rating schadet, dafür sollte sie die Öffentlichkeit unterstützen und nicht vernichten, sollte ein solches unbequemes Instrument wie die Presse ertragen, und nicht vernichten, dann können wir vielleicht in fünfundzwanzig Jahren in die europäische Gesellschaft gehen. Aber heute, heute sitzen wir da und fragen uns: Was tun wir während dieser fünfundzwanzig Jahre? Statt uns auf Europa hin zu bewegen haben wir jetzt eine absolute Zustimmung für einen Führer Putin, das Volk verlangt nach einem Führer und die ganze Entwicklung geht in Richtung eines Nationalsozialismus, meine Herrschaften! Putin selbst kann kein solcher Führer werden, aber die Kräfte, auf, die er sich jetzt stützt, die er heranzieht, die Welle, die da entsteht, die wird ihn beiseitespülen.“
…smojet Putin, ponimaetje?.“

Erzähler:
So extrem wie die Vorgaben der Exponenten, so uneinheitlich sind die Positionen des Publikums: Gehen wir den europäischen Weg? Gehen wir den asiatischen? Gehen wir einen eigenen russischen Weg zwischen den beiden Polen? Ein klares Meinungsbild kommt nicht zustande. Schließlich formuliert ein Teilnehmer den kleinsten gemeinsamen Nenner in unnachahmlich russischer Weise:

O-Ton 4: Publikum                     0,47
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ossobene demokratie tolka…
„So etwas wie Demokratie gibt es nur in einer Hinsicht bei uns: Wir haben einzig die Chance, die Hoffnung, in drei Jahren, in sieben, in elf Jahren etwas zu ändern. Heute gibt es nichts! Heut gibt es nur Putin – und der weiß nicht wohin. Deshalb sammeln sich um ihn herum Abenteurer, die ihm die phantastischsten, unsinnigsten Ideen vorschlagen, dümmliche Politiker. Ja, dümmliche Politiker schaffen heute bedauerlicherweise eine extrem unstabile Situation, extrem gefährlich. Aber um zu verhindern, dass das Schlimmste geschieht,  muss man ein System zur Stützung Putins aufbauen.“
…sderschit Putinu.“

Erzähler:
Mit Wodka die Trunksucht bekämpfen, hieße das. Nicht ausgeschlossen, dass dieses alte russische Rezept tatsächlich anschlagen könnte. Aber was hieße, Putin zu stützen? Das ist die viel entscheidendere Frage. Wladimir Putin selbst verkündete bei seinem Antritt in einer Erklärung, die er über Internet verbreiten ließ,  Patriotismus und Privatisierung verbinden zu wollen. Nach Jahren des mechanischen Nachahmens fremder Modelle müsse Russland nun seinen eigenen Weg gehen. Worin aber, außer dem Aufbau eines starken Staates, dieser eigene Weg bestehen soll, wurde auch aus diesem Credo nicht klar. Seitdem wechselt antiwestliche Rhetorik mit prowestlicher; imperiale Gesten, die an das Gebaren der alten Supermacht erinnern, folgen auf Bekenntnisse zu multipolaren Optionen, der demonstrativen Installierung des Starken Staates als Mittel der nationalen Politik folgen eher zurückhaltende Aktivitäten. Außer Pragmatismus lässt sich darin keine Linie erkennen.
Wer verstehen will, ist auf Vergleiche mit Vorgängern Wladimir Putins angewiesen. Solche Vergleiche finden sich in der Aufarbeitung der Geschichte der Perestroika. Interessante Hinweise gibt die US-amerikanische Osteuropa-Expertin Angela Stent, die sich, obwohl im politischen Planungsstab des US-Außenministeriums tätig, um eine objektive Analyse bemüht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Rivalen der Geschichte“, in dem sie die russische und die deutsche Situation nach der Wende vergleicht, schreibt sie:

Zitatorin:
„1996 gründete Boris  Jelzin eine Kommission , die Vorschläge erarbeiten sollte, worin die neue Nationalidee Russlands besteht. Dies mag jemanden, der aus einem Land mit einer wohlfundierten Außenpolitik kommt, vielleicht merkwürdig erscheinen, aber es spiegelte die gegenwärtige Realität. Russland besaß keine nationale Idee. Nach dem Zerfall der Sowjetunion steckte es in einer tiefen Krise, als es entscheiden musste, wie seine Außenpolitik künftig aussehen sollte. Einerseits wurde es der internationale Erbfolger der Sowjetunion, Erbe des ständigen Sitzes der UdSSR im UN-Sicherheitsrat, des größten Teils ihrer Streitkräfte, ihrer außenpolitischen Institutionen – und ihrer Schulden. Andererseits unterschieden sich Rußlands Positionen und Interessen sehr von denen der Sowjetunion, und seine außenpolitischen Ziele machten einen grundlegenden Wandel durch. Das neue Russland hatte auf Ideologie und Mission der UdSSR verzichtet und besaß nicht mehr deren globales Potential.“

Erzähler:
Die größte Herausforderung, so Frau Stent weiter, besteht für Russland  darin, eine neue Identität als nicht imperiale, große Regionalmacht finden zu müssen, deren Interessen nicht durch ideologische Faktoren bestimmt sind. Darin ist ihr zuzustimmen: In ihrem Bemühen, mit dieser Realität fertig zu werden, wandten sich Russlands Eliten zunächst ihrer Geschichte zu, doch weder das Zarenreich noch die Rückwendung zur Sowjetunion lieferten den Boden für nicht-imperiale Impulse einer nationalen Erneuerung.
Ein „Element historischer Kontinuität“ aber fand auch Frau Stent im Richtungsstreit um Russlands Orientierung zwischen Asien und Europa. Im 19. Jahrhundert waren es die Slawophilen und Westler, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Euroasiatiker und Bolschewiki. Nach der Wende aktualisieren sich solche Positionen in dem Gegensatz von „Atlantizisten“ und „Eurasiern“, also in den vornehmlich an den  USA orientierten Liberalen und den anti-amerikanischen ausgerichteten Konservativen.
In diesem Richtungsstreit findet Frau Stent Erklärungen für die russische Außenpolitik. Sie schreibt:

Zitatorin:
„Russlands erster Außenminister, Andrej Kosyrew, ein ehemaliger sowjetischer Diplomat, verkörperte diese russische Zwiespältigkeit. Als er im Dezember 1995 zurücktrat, wurde er sowohl von den Westlern als auch von den Eurasiern kritisiert. Von 1992 bis 1995 vertrat er eine `atlantizistische´, prowestliche Orientierung. Zum ersten mal seit Jahrhunderten trat Russland nicht mehr für ein alternatives internationales System ein, sondern hatte die westlich dominierte Ordnung mit ihren Spielregeln akzeptiert. Doch dann pochte Kosysrew immer nachdrücklicher auf Russlands Recht auf eine Einflusssphäre in den ehemaligen Sowjetrepubliken.“

Erzähler:
Andrej Kosyrew wurde  im Januar  1996 durch Jewgeni Primakow abgelöst, einen altgedienten Diplomaten sowjetischer Schule. Jewgeni Primakow repräsentierte einen veränderten Konsens der russischen Politik, eine Synthese aus „atlantizistischen“ und eurasischen Positionen, die Russlands Beziehung zum Westen neu zu bestimmen suchte, indem es Russland erneut als Brücke zwischen Asien und Europa definierte. Das Eingreifen der NATO im Kosovo, insbesondere ihre Selbstmandatierung durch Umgehung Russlands und Chinas in der UNO, aktualisierte diese Positionen zu dem erklärt anti-amerikanischen Kurs, wie er sich auch in den Entwürfen der neuen Sicherheitskonzepte und der Militärdoktirn niederschlug.
Jefgeni Primakow nahm im Dezember 1999  – damals noch Gegenkandidat zu Wladimir Putin für die bevorstehende Präsidentenwahl – selbst eine Wahlveranstaltung in Moskau zum Anlaß, um kritische Fragen westlicher Journalisten nach dem tschetschenischen Krieg mit Kritik am Westen, speziell den USA, zu kontern:

O-Ton 5: Jewgeni Primakow als Wahlkämpfer                    0,51
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Meschte stjem…
“Bei der Gelegenheit möchte ich noch sagen: Ich war kürzlich in Deutschland, auch in Litauen. Ich kenne daher die Stimmung zu dieser Frage direkt, habe außerdem sehr viel über die Reaktionen des Westens auf die Ereignisse in Tschetschenien gelesen, speziell auch die der amerikanischen Sender hier studiert. Ich muss sagen: Ich habe den Eindruck, dass der Westen in dieser Angelegenheit auf Revanche für die Ereignisse im Kosovo setzt und uns deshalb tödlicher Vergehen beschuldigt. So geht es aber nicht! Es muss ein gleiches Herangehen geben, kein Messen mit zwei unterschiedlichen Standards bei Ereignissen auf der internationalen Arena.“
…meschdunarodnii areni.“

Erzähler:
„Revanche“ – mit diesem Vorwurf erschien ein seit Michail Gorbatschow nicht mehr gebrauchter Terminus wieder im politischen Vokabular russischer Politiker, allerdings in neuer Bedeutung: Russland sieht sich als Sachwalter der neu entstehenden multipolaren Weltordnung, deren Entstehung vom Anspruch der USA auf alleinige Weltherrschaft gefährdet wird. Im  Lager des gemäßigten Patriotismus, der sog. zentristischen Kräfte, wird diese Position zu der Zeit sehr vorsichtig, aber unüberhörbar formuliert.
Ein Vertreter dieser Kreise ist Pjotr Fjedossow, politischer Berater beim Vorsitzenden des Konfödereationsrates der russischen Föderation. Er meint:

O-Ton 6: Pjotr Fjedossow, Berater im Föderationssowjet      0,55
Regie: O-Ton frei stehen lassen

Pjotr Fjedossow, deutsch, original:
„Ich halte diese Huntingtonische Idee von mono-multipolaren Welt für sehr interessant, wo er sagt: Es gibt nur eine Supermacht und mehrere Großmächte, die Supermacht ist auf diese Großmächte angewiesen, die Großmächte sind in der Endkonsequenz daran interessiert, die Supermacht nicht alleine schalten und walten zu lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man das anerkannt hat. Während die Supermacht, sagt er, daran interessiert ist, in jeder Region die jeweilige hegemoniale Macht unter Druck zu setzen, durch die Unterstützung der inneren zentrifugalen Prozesse, und durch die Unterstützung des jeweiligen Konkurrenten. Japan gegen China, Argentinien gegen Brasilien, Großbritannien gegen das deutsch-französische Tandem, Ukraine gegen Russland etc.“
…Russland  etc.“

Erzähler:
Die Supermacht, die alles bestimmen will, die aber von Pjotr Fjedossow nicht beim Namen genannt wird, sind selbstverständlich die USA. Nicht so zurückhaltend wird derselbe Sachverhalt zur gleichen Zeit im radikal-patriotischen Lager beschrieben, das sich mit dem Wechsel des politischen Konsenses aus der politischen Randlage ins Zentrum der Politik vorrücken sieht.
Einer von ihnen ist Alexander Prochanow, Herausgeber der größten und einflussreichsten national-patriotischen Wochenzeitung „Sawtra“, morgen. Prochanow war 1993 einer der führenden Köpfe der nationalen Front, welche die Auflösung der Duma durch Boris Jelzin mit Waffengewalt zu verhindern suchte; bei den Duma- und Präsidentenwahln 1999/2000 war er Bündnispartner der Kommunistischen Partei. Er erklärte nach Wladimir Putins Sieg:

O-Ton 7: Alexander Prochanow                    1,40
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Putin jawlajetsja…
„Putin ist die Reaktion auf den Jelzinismus. Jelzinismus, das war blinde Nachahmung des Westens. Wenn Putin diesen Weg weitergeht, dann bleibt von Russland nur noch Staub. Vielleicht erweist Putin sich als Agent des Westens. Das schließe ich nicht aus. Dann bleibt nichts von Russland. Wenn Putin aber Selbstachtung hat,  wenn er Egoist ist, jung, ein richtiger Politiker, wenn er ein richtiger Russe ist, dann versucht er auf diesen Ruinen der russischen Gesellschaft ein neues Gebäude aufzubauen und dann wird er nicht in den Spuren des Westens gehen. Dann wird er bei den internationalen Beziehungen zwischen multipolaren Potentialen der Welt balancieren und sie stärken: Südliches Korea, chinesische, indische Entwicklung, naher Osten, islamische Welt, ja! Nach Europa wird Putin sich im besonderen wenden, namentlich um Deutschland wird er sich kümmern, weil Deutschland die Alternative zu Amerika ist. Sie ist gewissermaßen noch maskiert, existiert aber. Deshalb denke ich, Putin wird ein wendigerer Mensch sein als Jelzin und seine Umgebung, sein Kommando, die FSBler, die KGBler, also die Geheimdienste, sind fähig, das Land wieder auf den Boden nationaler Interessen zu stellen.“
…interessach wstranje.“

Erzähler:
Das genaue Gegenteil erwarteten die bei den letzten Wahlen unterlegenen Liberalen. Alexander Melnikow etwa, Assistent des Vorsitzenden der mit knapp 6% eben noch in die Duma gerutschten Partei „Jabloko“, erklärt kurz nach der Wahl Wladimir Putins:

O-Ton 9: Alexander Melnikow                    1,03
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer, overvoice:
„Ja dumaju schto…
„Ich denke, dass die Politik Russlands unter Herrn Putin in bezug auf den Westen schroffer wird. Aber ich halte Schroffheit nicht für ein Synonym von Vernünftigkeit. Ich halte Herrn Putin nicht für einen erfahrenen Politiker und deshalb ist es sehr gut möglich, dass er eine Reihe von Fehlern machen wird in den Beziehungen Russlands zum Westen. Ich denke, es gibt Hinweise für einen Isolationskurs. Die Stimmung dafür ist generell in der Gesellschaft vorhanden; sie wächst bedauerlicherweise nicht allein und nicht vor allem durch Aktivitäten unserer Leute, etwa Herrn Putins, sondern wesentlich auch durch die Fehler, die von Seiten des Westens gegenüber Russland  gemacht werden, oder auch von der Europäischen Union. Ich denke, einer der schärfsten Fehler ist der Krieg im Kosovo.“
…woina NATO w Kosovo.“

Erzähler:
Inzwischen haben sich die Fronten zwischen der NATO und Russland wieder etwas entspannt. Keine der genannten Erwartungen ist eingetreten: Wladimir Putin hat sich nicht als Agent des Westens enttarnt, aber ebenso wenig als Antiwestler. Auch Erwartungen, der neue Präsident werde die Länder der GUS mit neo-imperialen Ambitionen bedrängen, sind bisher nicht eingetreten. Wladimir Putin hat lediglich die ohnehin schon laufenden Annäherungen zwischen Russland und Weißrussland intensiviert. Auch die Beziehungen Russlands zu China, in den Monaten des Kosovokrieges und in den ersten Monaten der Präsidentschaft Wladimir Putins als strategisches Bündnis gegen die Vorherrschaft der USA in den Vordergrund gerückt waren, sind wieder aus den Schlagzeilen der Tagespresse verschwunden. In Kreisen derer, die sich in Russland berufsmäßig mit diesen Fragen beschäftigen, gibt man sich realistisch. Gefragt, ob er einen Sinn in der multizentralen Option der russischen Politik sehe, insbesondere auch der strategischen Partnerschaft zwischen China und Russland und ihr eine Chance gebe, antwortet Alexej Maslow, Professor für chinesische Geschichte und Politik an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau und zugleich Berater der Regierung in Fragen der China-Politik:

O-Ton 9: Alexej Maslow, Chinaspezialist                1,48
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer, overvoice
„Eta dwa waprossow…
„Das sind zwei Fragen: eine Chance zu haben oder einen Sinn zu haben. Hat sie einen Sinn? Ja, in einer polyzentristischen Welt liegt ein Sinn. Die Chance ist dagegen nach meiner Ansicht nicht sehr hoch. Was ist eine polyzentristische Welt? Sie gründet sich auf zwei Postulate: Das erste Postulat lautet: Alle Länder achten ihre gegenseitige Identität und richten ihre Anstrengungen nicht darauf, diese Identität zu zerstören. Das zweite Postulat ist: Die alle Länder in einer gerechten Welt gleichermaßen über wirtschaftliche, politische und militärische Ressourcen verfügen, die ihnen ihre Identität garantiert. Wenn diese Punkte erfüllt sind – dann ja. Das würde einen Sinn im Rahmen der UNO machen, wenn wir uns gegenseitig als gleichberechtigt achten. Aber die Erfahrung zeigt, dass heute jedes Land, welches über entscheidende größere Macht verfügt, andere bedrängt. Das war so mit der Sowjetunion in Afghanistan, das sind die Operationen der USA heute praktisch überall in der Welt. In der wirklichen Welt haben die schönen Worte von der Gleichberechtigung der Schwachen und der Starken keine Gültigkeit. Von daher kann man sehen: Heute gibt es gleichberechtigte Potentiale zwischen großen Imperien, USA, China, Russland, die fast gleich sind. Auch wenn Russland sich in einer Dauerkrise befindet, verfügtes doch über Atomwaffen und riesige Ressourcen. Das macht eine Entwicklung möglich.“
150 …Raswiwatsja.“

Erzähler:
Atomwaffen und riesige Ressourcen als letzte Reserve, um für ein Gleichgewicht zwischen den großen Imperien Russlands, Chinas und der USA zu sorgen? Neue Konfliktlinien, statt demokratischer Formen der Kooperation in der UNO und anderen globalen Gremien?  Bleibt also nichts von dem „Neuen Denken“, mit dem Michail Gorbatschow die bipolare Welt Mitte des letzten Jahrhunderts in Bewegung brachte? Es scheint so! Aber so paradox es klingt: Eben darin liegt vermutlich der Keim für die weitere Entwicklung einer multipolaren Ordnung. Wenn nämlich die bipolare Welt in eine Ordnung übergeht, in der sich eine Mehrzahl großer Mächten einander im Gleichgewicht halten, dann ist das der Ansatz dafür, dass eine multipolare Ordnung nicht nur in Worten beschworen wird, sondern sich in der Realität praktisch entwickelt.

Russland: Eine starker Mann für ein Land ohne Staat Putins langer Weg zur Demokratie

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen: 44.700 (einschl. Der sehr ausführlichen O-Ton- und Regie-Ansagen)
Gesamtlänge der O-Töne: 38.00

Sollte eine Kürzung notwendig werden,
Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)
– O-Ton 15 (+ Erzähler davor)
– O-Ton 17 (+ Erzähler davor)

Achtung: zwei Bänder!
– Atmos 1 – 5
– O-Töne 1 – 31

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland:
Eine starker Mann
für ein Land ohne Staat?
Putins langer Weg zur Demokratie.

Athmo 1: Meeting; Musik            1,25
Regie: Ton  langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, runterziehen, unterlegen, mit O-Ton 1 verblenden

Erzähler:
Russische Demokraten fühlen sich provoziert. Westliche Beobachter sind beunruhigt: Droht eine russische Diktatur, seit Boris Jelzin von Wladimir Putin abgelöst wurde? Folgt auf den Liberalismus Jelzins jetzt ein Notstandsregime Putins? Wird Wladimir Putin Despot in einem unregierbaren Land?
Ängste schlugen hoch, noch bevor Wladimir Putin Präsident geworden war: Gegen den von ihm geführten Krieg in Tschetschenien richtete sich der Protest, gegen seine Geheimdienst-Vergangenheit, gegen die von ihm inspirierten Übergriffe auf die Presse.
Die Gefahr von Terror und Faschismus beschwören die Redner und Rednerinnen dieser Kundgebung. Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten, fasst die Ängste stellvertretend zusammen:

O-Ton 1: Waleri Barschiow, Menschenrechtler            0,41
Regie:  O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Daragie drusja…
“Liebe Freunde, Unglück kam über unser Land. Es ist Krieg, ein Krieg,  der Tod, Zerstörung, Übergriffe, Lügen bringt.Das Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat die Gesellschaft dem Militär einen Freibrief ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
150 …Faschism“, Beifall

Erzähler:
Die wenigen programmatischen Äußerungen, die vor der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten von ihm selbst zu hören waren, gaben den Befürchtungen beunruhigter Demokraten Nahrung. Unterwegs im Lande und über das Fernsehen erklärte er:

O-Ton 2: Wladimir Putin,                   0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana…
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, danach den Kommunismus und jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form der Verwaltung aufbauen, die das Wichtige, die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Zum geflügelten Wort avancierte die Mahnung, die Wladimir Putin vor der Strategiekommission aussprach, die er selbst zur Ausarbeitung seines Programms einsetzte:

O-Ton 3: Wladimir Putin             0,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Pomnitje…
„Erinnern Sie sich daran, die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns unterwerfen müssen. Der Verlust der Rechtsordnung führt zu Chaos und Grenzenlosigkeit.“
…bespredelju.“

Erzähler:
Die Reaktion der Mehrheit Bevölkerung trug ein weiteres zu den düsteren Erwartungen der Demokraten bei. Genervt vom Zerfall unter Jelzin, liefen Wähler, Parteien und Institutionen dem neuen starken Mann zu: Typisch die Ansichten zweier junger Passantinnen in Moskau kurz vor der Wahl:

O-Ton 4: Passantinnen             0,39
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Diktatur der Gesetze? Was das ist? Natürlich eine Regierung, die mit Gewalt operiert“, meint die eine der jungen Frauen Studentinnen des Rechts, wie sich herausstellt.„Nun, wenn sie kommt“, ergänzt ihre Freundin, „dann sind wir unbedingt dafür. Mit offenen Armen! Aber das sind ja doch wieder nur großspurige Versprechungen. – Wenn sie wirklich Ordnung schaffen würden – in Grosny,  die Wirtschaft stabilisieren…, das wäre einfach toll! Aber wenn es wieder nichts wird, dann ist überhaupt unklar, wohin wir treiben.“
…nje panjatna kuda.“

Erzähler:
Angst vor einer Verschärfung der Krise und vor weiterem politischen Zerfall, das sind die Stimmungen, die Putins des starken Staates stützen. Jefim Berschin, früher Redakteur bei der „Literaturnaja Gasjeta“, heute freischaffender Journalist, fasst das in die Worte:

O-Ton 5:  Jefim Berschin, Journalist            1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Rossije bolsche nje…
„Rußland hat kein Recht mehr, Niederlagen hinzunehmen! Es kann sich nicht erlauben, weitere Kriege zu verlieren. Wenn es noch einmal  verliert, wird es Rußland nicht mehr geben. Es wird in Stücke zerfallen, denn eine weitere Niederlage würde eine gewaltige negative Dynamik in der Bevölkerung haben. Das Volk hat in den letzten Jahren zu viel verloren: Es verlor den kalten Krieg, es verlor den einheitlichen Staat, es verlor seine Wirtschaft – es hat fast alles verloren. In diesem Zustand der Erniedrigung können Menschen nicht leben.“
..schitj nje mogut.“

Erzähler:
Kaum im Amt, ließ Wladimir Putin per Internet einen Text verbreiten, in dem er so etwas wie programmatischen Ziele umreißen ließ:

Zitator: (getragen)
„Es ist eine Tatsache, dass in Russland immer eine Neigung zu kollektiven Formen der Lebensgestaltung über den Individualismus dominiert hat, dass paternalistische Stimmungen in Russland tief verwurzelt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet die Verbesserung ihrer Lage nicht mit eigenen Anstrengungen, mit Initiative und Unternehmungslust, sondern vielmehr mit der Hilfe und der Unterstützung des Staates und der Gesellschaft. Aus der Verschmelzung  dieser traditionellen mit den universellen, allgemein menschlichen Werten entsteht eine neue russische Idee. Ihr Kern: Die Verbindung von Privateigentum und Patriotismus.“

Erzähler:
Alexander Prochanow, seiner eigenen Einschätzung nach Nationalbolschwist, als Herausgeber und Chefredakteur der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra (morgen) Anfang der 90er einer der Führer der „Nationalen Front“, die gegen die Westöffnung mobilisierte, 1993 Sprachrohr des bewaffneten Widerstandes der Duma gegen Boris Jelzins Erlass zu ihrer Auflösung, kommentierte dieses Konzept Wladimir Putins in klassisch marxistischer Terminologie:

O-Ton 6: Prochanow            0,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche zur liberalen Basis, auf der er wirtschaftlich steht. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Athmo 2: Musik – Juri Ljosa: „
Regie: kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach dem Absatz vorübergehend hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Nicht leicht wird mein Weg sein und lang“, singt Juri Ljosa…“ Man hört ihn oft, wenn man im Lande unterwegs ist. „Die Hoffnung stirbt am letzten“, heißt es. Inzwischen hat Wladimir Putin das Ansehen Moskaus im Lande und in der Welt wieder etwas anheben können: Er hat den Abwärtstrend der Wirtschaft gestoppt, er hat die Macht der Oligarchen, also der Clans der Privatisierungsgewinnler zurückgedrängt, er hat die Korruptionsskandale niedergeschlagen; er hat die Duma zu einem Akklamationsorgan gemacht, die Regionalfürsten unter das Kuratel seiner  sieben Administratoren gestellt. Er hat die Medien auf Linie gebracht. Selbst die offiziellen Gewerkschaften hat er für seine Politik gewonnen.
Alexander Afonin beispielsweise, Betriebsratsvorsitzender und Sekretär der „Föderation der freien Gewerkschaften“ in der Moskauer Fabrik für Kugellager, kurz „Podschebnik“ genannt, mit einer ca. 8000köpfigen Belegschaft einer der größten Betriebe Moskaus, zeigt sich geradezu begeistert von der neuen Entwicklung. Endlich werde das alte System abgelöst, freut er sich, in dem die Arbeiter mit Produkten ihres Betriebes zum Verkauf losgeschickt wurden, statt ihren Lohn zu erhalten:

O-Ton 7: Alexander Afonin, Betriebsrat              1.09
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.40 hochziehen, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“A wot tschas imena…
“Jetzt sind wir auf das Geldsystem übergegangen. Das ist ja viel einfacher und besser für uns: Da kriegst du für ehrliche Arbeit, die du mit eigenen Händen geleistet hast, ehrliches Geld. Man muss doch essen, man braucht Kleidung, der Kindergarten muss bezahlt werden, das Kind muss in die Schule, das kostet doch alles! Deshalb ist die Politik jetzt auf dem richtigen Weg: Es war Zeit die Barterei einzuschränken.“

Regie: bei 0.40 Zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Die Barterei einschränken“, das bedeuted: Geldverkehr statt Natuturaltausch. Auch wenn noch nicht alles so sei, wie man es sich wünsche, meint Afonin, insbesondere natürlich in den Regionen, habe sich die Situation unter Putins Herrschaft doch entschieden stabilisiert.“
…namnoga stabilisiruitsja.“

Erzähler:
Die Zentrale der „Freien Gewerkschaften“ geht mit einem „Bündnis für Arbeit“ auf Schmusekurs mit der Regierung. Die Streikwelle der letzten Jahre unter Jelzin ist abgeklungen, neue Streikbewegungen werden zur Zeit nicht erwartet. Die Aufregung, welche die letzten Jahre der Jelzin-Ära kennzeichnete, hat sich gelegt. Alternativen zu Wladimir Putin werden nicht formuliert. Juri Lewada, Chef des etablierten Zentralen Meinungsforschungsinstitutes in Moskau, das allwöchentlich Daten zur Beliebtheit russischer Politiker erhebt, meint dazu:

O-Ton 8: Juri Lewada                                                   0,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
“Opposizija jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
…sawjedoma.“

Athmo 3: Meeting, Musik            0,58
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, mit O-Ton 9 verblenden

Erzähler:
Tatsächlich haben Privateigentum und Patriotismus, deren Zusammenführung der neue Prasident versprach, haben Modernisierung und Tradition sich auch unter Wladimir Putin bisher nicht zu einer neuen „russischen Idee“ verbunden. Die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche entgleiten vielmehr dem staatlichen Zugriff, manche sogar stärker als zuvor.
Nach wie vor wütet der Krieg in Tschetschenien, in dem sich die ungelösten Territorial- und Vielvölkerprobleme Russlands austoben. Ein Ende ist nicht in Sicht. Alles, was auf ein Ende des Krieges ziele, werde von Moskau heute abgelehnt, so Mussa Tumsojew, tschetschenischer Wissenschaftler in Moskau:

O-Ton 9: Musa Basnikajew              0,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„K´soschelenju…
„Leider, leider brauchen sie Vorfälle, um ein Ende zu finden – entweder so etwas wie Budjonnowsk, die Geiselnahme, oder Grosny 1996, als die tschetschenischen Kämpfer die Stadt zurückeroberten. Nur nach solchen Vorfällen sind sie bereit, in realen Kategorien zu denken.“
…realni kategorie…“

Erzähler:
„Budjonnowsk“ – das ist das Sybonym für den ersten terroristischen Anschlag von Seiten der Tschtschenen im ersten tschtschenischen Krieg. Solange der dieser Krieg tobt, ist er ein Treibsatz gegen die Einheit der russischen Föderation. Viele der nicht-slawischen Völker Russlands verstehen Moskaus Vorgehen gegen die Tschetschenen als Bedrohung ihrer eigenen Autonomie. Der Krieg hat eher sprengende als einigende Wirkung.
Ungelöst ist auch die Agrarfrage. Innerhalb eines Jahres wollte Boris Jelzins erster Wirtschaftsminister Jegor Gaidar bei seinem Antritt 1991 die kollektive Wirtschaft des sowjetischen Typs in eine Bauernwirtschaft nach westlichem Muster umgewandelt haben. Schon Mitte 1993 stagnierte diese Reform. Zwar waren zum dem Zeitpunkt bereits die meisten Sowchosen in Aktiengesellschaften umbenannt worden aber ihre Produktionsweise änderte sich nicht. Die Mehrheit der neuen Privatbauern kehrte in den Schutz ihrer früheren Kollektive zurück. Zahllose Erlasse Boris Jelzins zur Fortsetzung der Privatisierung auf dem Lande verhallten ergebnislos. Putin kündigte auch in diesem bereich neue Initiativen an.
Boris Kagarlitzki, linksreformerischer Analytiker in Moskau, skizziert die seit Wladimir Putins Amtsantritt entstandene Lage mit den Worten:

O-Ton 10: Boris Kagarlitzki            0,58 Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, agrarni wapros…
„Nun die Agrarfrage, ist auch wieder so eine Sache. Gott sei Dank ist die Anzahl unverständiger Leute, die in Russland auch den Boden privatisieren wollen, nicht so hoch. Was das Volk dazu denkt, auch die Agrarpartei oder die Kommunisten, ist für die Regierung nicht wichtig. Wenn sie der Privatisierung des Bodens erste Priorität einräumen würde, dann könnte sie das ohne weiteres durchziehen. Notfalls kauft sie sich die nötigen Stimmen in der Duma, auch die der Kommunisten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Risiken in Bezug auf die Privatisierung des Bodens so hoch sind, dass sie jede Initiative auf diesem Gebiet bremsen.“
… we etom planje.“

Erzähler:
Worin das von Boris Kagarlitzki benannte Risiko besteht, erläutert Alexander Nikulin, ein junger Agrarwissenschaftler. Er ist soeben von Studien auf dem Dorf zurückgekehrt: Kampagnen der Gouverneure von Saratow und Tatarstan, die mit regionalen Auktionen vorgeprescht sind, erwiesen sich als ein Schlag ins Wasser, berichtet er. Die Bauern haben kein Geld für den Kauf; die anschließenden notwendigen Investitionen liegen zu hoch, die Rechtslage ist zu unsicher. Wer kauft, muss damit rechnen, morgen wieder enteignet zu werden:

O-Ton 11: Nikulin                    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamy i ssostajannije…
„Deshalb ist die Euphorie der Gaidarschen Privatisierung und der Reformen im Agrarbereich vorüber. Jetzt verstehen alle, dass in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren die großen Betriebe der früheren Sowchosen und Kolchosen die wichtigsten Betriebe bleiben werden. Will man deren Lage skizzieren, dann muss man sagen: Seit 1990, in den Jahren des Chaos hat ungefähr ein Drittel seine Existenz aufgegeben, weil sie einfach alle bankrott waren. Die Menschen, die in diesen Sowchosen übriggeblieben sind, befinden auf dem Niveau der Naturalwirtschaft. Sie graben die Erde per Hand um oder wenn sie Glück haben, mit einem defekten Traktor. Das ist eine ziemlich primitive Art der Existenz.“
…ssuschustwawannije.“

Erzähler:
Auf die Frage, ob er von Wladimir Putin neue Privatisierungs-Initiativen im Agrarbereich erwarte, antwortet Alexander Nikulin:

O-Ton 12: Alexander Nikulin            0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja tschesna skaschu…
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Moment ist nichts spürbar, was Putin in Bezug auf Privateigentum an Grund und Boden unternehmen will. Ich würde aber auch sagen, selbst wenn ein solches Projekt verwirklicht würde, bedeutete das nicht automatisch den Sieg und die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft, sicher nicht. Letztlich wird das Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das bleibt Papier: Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen.“
…sluschitsja.“

Erzähler:
Der Zar ist weit, hieß dieses Motto unter Jelzin und so heißt es auch jetzt. Andererseits, so Alexander Nikulin, habe Putin ja bereits entscheidend in die Entwicklung eingegriffen, allerdings in einer Weise, welche die Lage wesentlich verschlechtert habe:

O-Ton 13: Nikulin, Forts.                    1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wy snaetje, ja by…
„Putin erklärte, dass es nötig sei, die vertikale Staatsmacht zu stärken. In der Realität bedeutet das Re-Zentralisierung und eine erneute Stärkung Moskaus für alles und jedes. Es bedeutet, dass die Leiter der örtlichen Administration von oben eingesetzt und nicht mehr von der örtlichen Bevölkerung gewählt werden; zweitens bedeutet es, dass selbst der geringe finanzielle Spielraum für ein eigenes Budget verschwindet, den sie jetzt noch hatten; es wird von den Distrikten bestimmt. Die Jelzinsche Kampagne für die Selbstverwaltung war zwar nur eine ideologische, aber in diesem Rahmen konnte man etwas machen. Jetzt waren schon die ersten Monate unter Putin äußerst angespannt. Sie zeigten, dass auch eine gänzliche Beseitigung der örtlichen Selbstverwaltung möglich ist. Dazu kommt meine eigene Beobachtung, dass ohnehin im Vergleich zu der Zeit, als es die bäuerlichen Sowjets gab, jetzt die Bedingungen für örtliche Selbstverwaltung sehr viel schlechter geworden sind.“
…obschestwa.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf die entstandene Realität wirft, was Alexander Nikulin über den ökologischen Dienst zu erzählen hat, eine der neuesten Einrichtungen, die harmlosen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik und westlich orientierter neuer Staatlichkeit vorgezeigt wird:

O-Ton 14: Nikulin, Forts.                 0,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Dewonosti godi….
„In den 90er Jahren wurden nach westlichem Muster überall in den Regionen ökologische Dienste eingerichtet. Sie sind sehr strikt. Sie fordern die formale Einhaltung ökologischer Standards. Unter den Bedingungen Russlands ist eine Erfüllung dieser Standards aber nicht möglich. Kommt also ein Beamter des ökologischen Dienstes auf die Sowchose und sagt: `Sie müssen ausmisten, sie müssen die Wege pflegen, sie müssen dies und das!´ Der Direktor hat aber keine Kräfte und keine Mittel; es ist nicht real! – Da muss man dem ökologischen Dienst dann einfach „Wsjatki“, geben, mit ihnen trinken, heißt das, sie verpflegen, ihnen Geld geben, damit sie dann wieder gehen. Der ökologische Dienst gilt deshalb als einer der schlimmsten Racketteure, Schutzgeldeintreiber, den die örtlichen Landgemeinen am meisten fürchten. So sieht es mit der Ökologie vor Ort aus.“
…na mestach.“

Erzähler:
Auch im Bereich der Industrie wollen Patriotismus und Privateigentum sich partout nicht verbinden: Die schwachen Anzeichen eines Aufschwungs in der Industrie führen nicht zu mehr Recht und Gesetz, sondern zu einem gnadenlosen Run der Spekulanten auf die wenigen effektiven Betriebe.
Ausgerechnet Betriebsrat Afonin, der den Aufschwung so sehr begrüßt, klagt bitter über diese Entwicklung. Nachdem er seine Begeisterung über die neue Stabilität geäußert hat, fährt er fort:

O-Ton 15: Alexander Afonin, Betriebsrat            0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Chatja wo to schto…
“Andererseits – was sich gegenwärtig um die Fabrik herum abspielt, das ist genau die negative Seite: dass sich alle die, die sich um die sogenannte Privatisierung von Unternehmen bemühen,  jetzt auf unseren Betrieb stürzen, um Aktien zu kaufen, Firmen, Organisationen, Personen, ganz beliebig. Für irre Summen wollen sie von unseren Betriebsmitgliedern Aktien erwerben. Wir wollen aber die Dividende für die Fabrik haben. Deswegen haben wir  jetzt faktisch einen Aufkauf von Aktien durch die Belegschaft des Betriebes organisiert, damit wir auf unserem guten Wege weitermachen können.“
… tak prodolschatj.“

Erzähler:
Der gute Weg des Betriebes – das ist der Einsatz der Gewinne für Investitionen und für die Auszahlung der Löhne. Eine paradoxe Situation ensteht: Kaum zeigt sich ein Betrieb als rentabel, stürzen sich die Aktienhaie auf ihn, während die Belegschaften sich mit Direktoren und Kommunen zusammenschließen, um feindliche Übernahmen zu verhindern. Im ganzen Lande entwickeln sich Konflikte dieser Art. Je stärker der Aufschwung, je mehr also zu verteilen ist, um so stärker werden sie zunehmen. Wladimir Putins Sozialpolitik heizt diese Entwicklung zudem in doppeltem Sinne an: Das neue Steuergesetz begünstigt die Reichen; die Ersetzung der betrieblichen Sozialfonds durch staatliche Sozialfürsorge dagegen entzieht der armen Bevölkerung die Lebensgrundlage, denn diese Maßnahmen führen praktisch zu einer Liquidierung des immer noch bestehenden Systems der naturalen Betriebszuwendungen, von denen ein Großteil der russischen Bevölkerung heute lebt, ohne ihr aber für die Zukunft einen Lohn garantieren zu können, der den Wegfall der betrieblichen Leistungen aufwiegt.
Mit der Novellierung des immer noch geltenden sowjetischen Arbeitsgesetzes, in dem weitgehende Rechte und Versorgungsansprüche festgeschrieben sind, will die Regierung gleichzeitig die Rechte der arbeitenden Bevölkerung einschränken. Realistisches Ergebnis dieser Politik, so Oleg Neterebski, Vizepräsident der „;Moskauer freien Gewerkschaften“, kann nur Protest sein oder, wie schon im Agrarbereich deutlich wurde, die Mißachtung der neuen Gesetze:

O-Ton 16: Oleg Neterebski,             1,23
Vizepräsident der „Moskauer Freien Gewerkschaften
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Übersetzer:
„liba tichi bunt..
„Entweder stiller Aufruhr oder lauter Aufruhr, aber auf jeden Fall Aufruhr. Verstehen Sie, es gibt offenen und es gibt heimlichen Aufruhr. Heimlicher Aufruhr ist auch ein Aufruhr. Das ist die vollkommene Stagnation aller Aktivitäten, grob gesagt, das ist einfach der Übergang auf ein eine andere Ebene der Gesellschaft, wo jeder für sich ist und das ganze System des Staates zerfällt. Das ist noch katastrophaler, als wenn der Mensch in einer bestimmten Situation offen protestiert. Aber ich bin Pragmatiker und deshalb erwarte ich nicht das Schlimmste. Putins Absicht der Straffung des Staates ist ja von der Idee her in Ordnung. Aber ich sehe erst einmal, dass die neuen Spielregeln vor Ort nicht gelten. Wir kennen doch unser bürokratisches System: Das ist ein äußerst langer, korrumpierter Mechanismus, bei dem der Erfolg keineswegs sicher ist. Das ist das Problem.“
…vot tscho problema.“

Erzähler:
Ein weiteres Problem wurde deutlich, als im Sommer 2000 der „Ostankino“, Moskaus Fernsehturm, ausbrannte: Bis zum Brand galt der Turm als Symbol technischer Größe der Sowjetunion, heute Russlands, ähnlich wie die Raumfahrt oder die Metro in Moskau und St. Petersburg. Seit dem Brand haben die Gewerkschaften ein neues Thema: die Überbelastung und die Überalterung der technischen Anlagen des Landes, die ohne Modernisierung zur technischen Katastrophe führen wird.
Ähnliches wie mit dem „Ostankino“ kann jederzeit bei der Metro geschehen, meint Wladimir Sassurin, Vizepräsident der Gewerkschaft der Transportarbeiter, gequält von dem Straßenlärm, der ungefiltert in sein enges, graues Büro drängt:

O-Ton 17: Wladimir Sassurin, Gewerkschafter        0,41
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Übersetzer:
„I nje tolka metro…
„Und nicht nur die Metro. Das Jahr 2003 oder 2004 ist, so weit ich weiß, bereits als Jahr der technogenen Katastrophe eingeplant. Ist das etwa normal, eine technogene Katastrophe so einzuplanen? Nötig wäre zu planen, dass sie nicht eintritt! Das kann in Russland nur der Staat. Das sage ich Ihnen nicht nur als Gewerkschaftsführer, nicht nur als Vizepräsident, sondern einfach als russischer Mensch.“
…tschelowjek.“

Erzähler:
Was Gewerkschafter Sassurin mit seinem begriff der „technogenen Katastrophe“, etwas grob übersetzt einem allgemeinen technologischen SuperGAU, nur andeutet, bekommt bei Professor Leonid Gordon, Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft, wissenschaftlich belegte Konturen: Nicht nur die Metro, nicht nur Betriebe, die gesamte allgemeine Infrastruktur samt Bausubstanz der Wohnhäuser sei gefährdet, erklärt er. Nirgends lebten so viele Menschen in Wohnblocks wie in Russland. Die meisten dieser Bauten seien zu schnell hochgezogen worden, ihre Modernisierung überfällig.. Vor allem im fernen Osten Russlands. In einem Vergleich mit den USA versucht der Professor das Problem, vor dem Russland heute steht, deutlich zu machen:

O-Ton 18: Prof. Gordon, Institut für Weltwirtschaft    1,10
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Übersetzer:
„Nu. predstawtje sebja…
„Denken Sie an die Einfamilienhäuser in Amerika: In jedem Haus ist voller Komfort. Aber sie sind individualisiert. Die Elektrische, also die Bahn, ist natürlich zentralisiert, die Wasserversorgung, Kanalisation. Aber letztlich kann man dort selbst, auf eigene Rechnung, mit eigenen Händen etwas machen. In Russland möchten die Menschen sehr gern mit ihren eigenen Händen etwas tun. Sie machen es ja auch, wo es geht, selbst Professoren renovieren ihre Wohnungen selbst, ihre Datschen usw. Das ist eine große Reserve der Gesellschaft. Aber es gibt verschiedene Dinge, die sind so zentralisiert, da kann man alleine einfach nichts ausrichten. Deshalb ist die Situation heute zwar etwas besser als 1998, aber da gibt es diese kranken Punkte, aus denen heraus die Situation sich sehr schnell ändern kann – was Gott verhüten möge .“
…schto eta nje byla…“

Erzähler:
Eine ernüchternde Zustandsbeschreibung gibt Marina Schabanowa, Soziologin aus Nowosibirsk. Ende 2000 legte sie ein Buch zur „Sozialen Freiheit in der Transformations-Gesellschaft“ vor. Darin zieht sie Bilanz aus ihren zehnjährigen Forschungen zu der Frage, ob die Bevölkerung durch Perestroika und Privatisierung mehr oder weniger Freiheit gewonnen hat. Ihr Ergebnis: Zwar gebe es heute mehr Freiheiten, die von einer kleinen Schicht aktiver Menschen genutzt werde:

O-Ton 19: Marina Schabanowa, Soziologin            0,49
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Übersetzerin:
„W`tosche wremja…
“Zugleich zeigen die Befragungen jedoch, dass das Niveau der individuellen Freiheit bei der Mehrheit der Bevölkerung sich in derselben Zeit gesenkt hat: Die Menschen wurden unabhängiger, selbstständiger und sie haben die Rechte dazu, aber unter den heute bestehenden Bedingungen halten sie sich für weniger frei. In ländlichen Gegenden meinen sogar 68 – 73%, dass sie unter den neuen Bedingungen weniger Möglichkeiten haben, so zu leben, wie sie es selbst wollen, das heißt, das ohne Hindernisse zu verwirklichen, was sie selbst wollen.“
…prepjatswijemi.“

Erzähler:
„Freiheit, ja – Möglichkeit ihrer Verwirklichung, nein“: Unter Wladimir Putins Politik habe sich dieser Widerspruch noch verschärft, meint Frau Schabanowa. Ihre Erwartungen sind düster: Auf der einen Seite entwickle sich Individualismus, vor allem bei den Jungen und bei der mittleren erfolgreichen Generation, das sei im Prinzip ja nicht schlecht, als Ergebnis davon zerfalle jedoch der bisherige gesellschaftliche Konsens. Was da heranwachse, schildert sie so:

O-Ton 20: Schabanowa, Forts.            1,15
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Übersetzerin:
„Nu, kak okonomitschiski…
„Nun, der ökonomische Mensch, der nur an sich denkt. Aber das spaltet die Gesellschaft, Missgunst entsteht und es wird lange keine Anerkennung des Privateigentums geben, weil man das alles als gesetzlos, unmoralisch usw. betrachtet. Das kollektive Prinzip geht verloren. Jetzt verbinden sich die Menschen nicht mehr in Kollektiven, sie schließen sich in den Familien zusammen. In Polen heißt es: `Ich bin Pole´ oder `Ich bin Katholik´. Bei uns heißt es: `Ich bin Vater´, `Ich bin Bruder´ oder wie immer. Das heißt, sehr stark definiert man sich aus der Familie, weil die Hauptaufgabe heute ist, das Überleben der eigenen Familie zu sichern. Das füllt die Menschen heute vollkommen aus. Solange sich die Menschen weiter auf diesem Niveau der ersten Befriedigung von Grundbedürfnissen befinden, werden sie keinen Losungen von irgendeiner nationalen Idee folgen.“
…nationalnuju ideu.“

Erzähler
Konkrete Änderungen der Situation seien notwendig, erklärt sie: Größere Produktionssicherheit, mehr Rechtssichertheit, bessere Förderung der Wissenschaft, insgesamt eine stärkere Rolle des Staates. Den aktuellen Maßnahmen der Regierung jedoch –  Steuergesetz, Sozialgesetz, Arbeitsgesetz – steht sie skeptisch gegenüber.

O-Ton 21: Schabanowa, Forts.             0,49
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Übersetzer:
„Vot, to jest…
“Man hat bei uns neue Gesetze erlassen, aber keine Mechanismen für ihre Realisierung aufgestellt. Jetzt sind da Menschen, die früher solche Rechte nicht hatten, sie jetzt in Anspruch nehmen wollen, aber nicht können. Das hat negative Auswirkungen auf die Freiheit. Gleichzeitig will man nicht verlieren, was man früher hatte. Beides ist nicht immer vereinbar. Kann sein, dass das in einer sich verändernden Gesellschaft für eine gewisse Zeit unvermeidlich ist. Aber die Freiheit wird leiden, wenn man den Menschen nicht entweder die neuen Rechte gibt oder die alten wiederbelebt.“
…wosratdatj starije.“

Erzählung:
Unter diesen Umständen, so Frau Schabanowa, bestehe die Gefahr, dass von Wladimir Putins „Diktatur der Gesetze“ nur die Diktatur übrigbleibe und Freiheit wie zu Zeiten Wladimir Wyssotzkis, des großen Protestsängers der Sowjetzeit, als persönliches Aufbegehren in den Untergrund abgedrängt werde.

Athmo 4: Musik – Wladimir Wyssotzki            1,23
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Erzähler:
Probleme im Agrarbereich, Aufruhr in Betrieben, drohender TechnoGAU, der Aufschwung erkauft durch den Krieg und zudem abhängig von der Höhe des Ölpreises auf dem Weltmarkt, dazu ein gesellschaftliches Klima, in dem Rechtssicherheit durch Abdrängen der politischen Opposition und Einschränkung lokaler Selbstverwaltung erkauft wird – das sind die Marken am Horizont der putinschen Stabilität.

Regie: Ton vorübergehend hochziehen

Wo liegen die Ursachen für diese Konstellation?
Bei der Suche nach Erklärungen trifft man auf Menschen wie Wjatscheslaw Nikonnow. Er ist Chef eines „Fonds für Politik, lebt von politischer Beratung, versteht sich selbst als konservativ. Geradezu aufreizend gelassen betrachtet er das „Putinsche Fieber“, wie er es nennt. Putin ist für ihn, wie er sagt, nur die Rückkehr zur Norm“:

O-Ton 22: Wjatscheslaw Nikonnow, Konsultant            0,45
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Übersetzer:
„U Putina njet…
„Putin hat kein Konzept. Von russischem Weg oder dergleichen hat er nicht wirklich gesprochen. Für mich ist allerdings klar, dass es das westliche Entwicklungsmodell für Russland nicht geben wird. Russland hat ein paar spezieller Besonderheiten, sowohl im nationalen Charakter, als auch im wirtschaftlichen System und in der Geografie, durch die es sich vom Westen sehr unterscheidet. Das ist hinreichend bekannt. Klar ist, dass es hier bei uns immer ein großes Ausmaß staatlicher Einmischung, dass es immer Staatswirtschaft geben wird. Russisch – das heißt: Bürokraten mischen sich ins Geschäft!“
…utschastewajet bisenissom.“, lacht

Erzähler:
Zur Norm gehöre aber auch das, so Nikonnow weiter,  was Wladimir Putin „kollektivie Traditionen“ nenne. Allerdings müsse man präzisieren: Nicht um Kollektivismus gehe es, sondern um korporative Strukturen. Genauer, setzt er hinzu, gehe es nicht um irgendeine mystische kollektive Mentalität der vielzitierten „russischen Seele“, sondern um konkrete soziale Strukturen im Zusammenwirken von Einzelnen  und Gemeinschaft, Führern und Geführten:

O-Ton 23: Nikonnow             0,58
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Übersetzer:
„Korporativism, konjeschna..
„Korporativismus ist natürlich kein Kollektivismus, von dem immer die Rede ist, also dieses angebliche kollektive Bewusstsein. Umgekehrt: Russland ist ja gerade ein sehr individualistisches Land. Bei uns sagt man oft, wir hätten den Kollektivismus aus dem Osten und die Arbeitsliebe aus dem Westen. Ich denke eher, aus dem Westen haben wir den Individualismus, das Einzelgängertum, aus dem Osten den Despotismus: Despotismus auf individueller Grundlage – das ergibt eine einzigartige Mischung! Sie ist dem westlichen Menschen wenig verständlich. Mit Sicherheit aber gibt es keine puritanische protestantische Arbeitsethik in Russland und wird es auch keine geben. Es ist ganz offensichtlich, dass es hier andere Spielregeln geben wird.“
…prawili igri.“

Erzähler:
Moskau stehe seit eh und je zwischen Zentralismus und Anarchismus, das russische Imperium finde seinen Sinn darin, die Einheit in der Vielfalt der Völker Euro-Asiens herzustellen und dies immer wieder auch mit Gewalt. Russland ist nicht Europa, konstatiert Wjatscheslaw Nikonnow schließlich, allerdings auch nicht Asien:

O-Ton 24: Nikonnow            0,15
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Übersetzer:
„Rossije eta…
„Russland ist nicht Osten und nicht Westen – Russland ist Russland. Es liegt auch nicht irgendwie zwischen etwas – es ist eine eigene Zivilisation, die sich von östlicher und westlicher unterscheidet und so wird es auch in Zukunft sein.“
..i tak budit.“

Erzähler:
In der Zwitterlage zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozalismus sieht auch Tatjana Saslawskaja die Besonderheit ihres Landes. Frau Saslawskaja war Ende der achtziger Jahre wissenschaftliche Stichwortgeberin der Perestroika; danach war sie vorübergehend als Beraterin Gorbatschows tätig. Heute ist sie Co-Rektorin im ”Institut für Sozialwissenschaften” in Moskau. In ihrem Buch, `Die Gorbatschow-Strategie´ von 1989, beschrieb sie die damalige sowjetische Ökonomie mit den Worten:

Zitator:
”Das beschriebene System  stellt eine Art Hybridprodukt, einen  Zwitter aus dem zentralisierten  planwirtschaftlichen und dem marktwirtschaftlichen  Weg dar, wobei  es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht  mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird,  sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.”

Erzähler:
Von Beziehungswirtschaft sprach sie an anderer Stelle. Viele Begriffe wurden später gefunden, um das zu definieren, was aus der Transformation des von Frau Saslawskaja beschriebenen sowjetischen Zwitters hervorging: „Übergangsgesellschaft“ „Mutant“. Sie selbst spricht heute von einem „kriminellen Monster“: In einem aber gleichen sich alle Erklärungsversuche: Früher oder später rückt bei allen die Rolle, die das Kollektiv in der russischen Gesellschaft einnimmt, ins Zentrum der Fragestellung. Gerade die Schwierigkeiten der Privatisierung ließen ein Element der russischen Sozialordnung hervortreten, das weit hinter die sowjetische, tief in die russische Geschichte zurückreicht, die „Obschtschina“, die alte russische Bauerngemeinschaft, deren gemeineigentümliche Sozialordnung zum Grundmuster der sowjetischen Gesellschaft wurde.
Boris Kagarlitzki, der schon zitierte linksreformerische Analytiker, erklärt, wie das zu verstehen ist:

O-Ton 25 : Boris Kagarlitzki             1,30
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Übersetzer:
„Schto takoje..
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Obschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umso mehr als man darum herum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befasst sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali.“

Erzähler:
Hier ist man am Drehpunkt russischer Staatlichkeit: Wer Geschichte und Aktualität des russischen Staates verstehen will, muss die Geschichte der „Obschtschina“ studieren. Teodor Schanin, Russlands zur Zeit führender Agrartheoretiker, Rektor der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“, zugleich Professor der Ökonomie in Manchester, beschreibt diese Geschichte so:

O-Ton 26: Prof. Teodor Schanin, Ökonom                        1,09
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Übersetzer:
„If you talk…
„Wenn man von der Obschtschina spricht, die es im 19. Jahrhundert in Russland gab, dann war sie ein System, das gut für die Bauern war, indem es gegen hohe Risiken der Landwirtschaft schützte in einer Situation, in der es extrem schwierig war, ohne die Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die „Obschtschina“ eine Funktion für die Regierung, nämlich, ihre Macht ohne allzu große bürokratische Strukturen auszuweiten: Ohne jemanden vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, dem Dorf den Befehl zu geben, Rekruten für die Armee zu stellen oder Steuern zu zahlen. Man brauchte keinen Beamten zu schicken. Das machten alles die Bauern selbst. Die Elite wiederum konnte unterwegs sein. In diesem Sinne war die Obschtschina effektiv nach zwei Seiten: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern und sie diente den Bedürfnissen der Regierung. Auf diese Weise schaffte sie Stabilität.“
… was so stable.“

Erzähler:
Nach innen agrarischer Ur-Kommuninismus, nach außen Instrument des Moskauer Zentralismus – das war das Doppelgesicht der „Obschtschina“, das den Westen und westlich orientierte Reformer immer wieder verwirrte. Sie schaffte nicht nur Stabilität, sie war auch selbst über Jahrhunderte stabil, weil beide Seiten an ihrer Existenz interessiert waren. Ihre neuere Entwicklung beschreibt Teodor Schanin mit den Worten:

O-Ton 27: Schanin, Forts.                 1,42
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Übersetzer:
“But this type of…
„Aber dieser Typ von Obschtschina kam in die Krise, weil einige sie verlassen wollten, andere nicht. Speziell in der Zeit Stolypins, des letzten zaristischen Reformministers, war es so. Er wollte sie auflösen, weil er fürchtete, dass sie ein Instrument für die revolutionäre Aktion werden könnte, was sie 1905, 1906, 1907 auch tatsächlich wurde. Die Stabilität der Obschtschina, ihre Kraft, ihre tiefen Wurzeln bewiesen sich sehr direkt, als der Bürgerkrieg kam; da kehrten alle Obschtschinas ins Leben zurück, auch die, die unter Stolypin aufgelöst worden waren. 1920 gründeten die Bauern selbst wieder Obschtschina, sodass diese viel mehr waren als bloße staatliche Institutionen. Die Bauern gaben dem System der Obschtschina die Präferenz vor anderen Arten zu leben. Aber diese Art wurde zerstört. Heute benutzen die  Russen das Wort Obschtschina in der Bedeutung von Gemeinde. Also, wenn es nur Gemeinde heißt, dann ist jedes Dorf eine Obschtschina; wenn es aber im Sinne von gegenseitiger Unterstützung gemeint ist, im Sinne von gemeinsamem Besitz und immer wieder vorgenommener Neuaufteilung von Land nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dann existiert sie nicht mehr
…does not exist.“

Erzähler:
Zerstört wurde die alte „Obschtschhina“ durch Stalin, der die gewachsene Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe im Zuge der Kollektivierung in staatliche Zwangsgemeinschaften verkehrte, in denen das Privateigentum aufgehoben war. Viele Bauern wurden zwangsweise in die Fabriken getrieben; wer auf dem Dorfe blieb, durfte, wie einst unter Iwan dem Schrecklichen, das Dorf nicht oder nur mit Sondererlaubnis der Partei verlassen. Der Bauer wurde Angestellter auf seinem eigenen Feld, sein Hof war Eigentum der Sowchose. Diese Verhältnisse lockerten sich nach Stalins Tod. Unter Breschnjew war der eigene Garten, waren die eigenen Hühner, war das eigene Schwein möglich, manchmal auch schon die eigene Kuh. Boris Jelzins Privatisierungspolitik zielte auf die vollkommene Auflösung der dörflichen „Obschtschina“ und der nach ihrem Muster geformen Arbeitskollektive. Den heute erreichten Stand skizziert Teodor Schanin so:

O-Ton 28: Teodor Schanin                                     0,59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„To which extend…
„Zu welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben – ich meine, die Menschen beeinflussen sich gegenseitig – ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, im Süden Russlands, zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein `Aktiengesellschaft-Dorf´, aber es ist exakt dasselbe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft.“
… it operates.“

Erzähler:
Wie es läuft, das führt Teodor Schanin zu Erkenntnissen, die er unter dem Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ zusammenfasst, einer Wirtschaft, die außerhalb der bekannten Pole von Kapitalismus oder Sozialismus, Staatsdirigismus oder Liberalismus stattfindet. In ihr erreicht das Modell der „Obschtschina“ trotz ihrer aktuellen Desorganisation gesamtgesellschaftliche Bedeutung für eine Lebensweise, die kollektive und private, industrielle und familiäre Ökonomie in anderer als der im Westen vorherrschenden Art miteinander verbindet Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert: „Blat“ Beziehungen, heißt das Zauberwort, das schon Frau Saslawskaja zu ihrer Analyse der „Beziehungswirtschaft“ brachte. Das Wesen dieser Wirtschaftsweise erklärt Teodor Schanin so:

O-Ton 29: Schanin, Forts.                                    1,07
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It´s economy favours…
„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst Es spielt keine Rolle, ob das Tauschobjekt gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. In der Sowjetzeit nannten wir es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht: Anschieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen.  Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“
… will stop.“

Erzähler:
„Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs“, das bedeutet: Der Austausch von Gunst, findet, so wie die russische Gesellschaft organisiert ist, selbstverständlich nicht als Aktion zwischen isolierten Individuen statt, sondern zwischen Personen, die Mitglieder von Gemeinschaften oder Kollektiven sind. Sie bringen die Möglichkeiten ihrer Gemeinschaft in den Austausch mit ein. Anders gesagt, der einzelne Mensch ist so stark wie die Gemeinschaft, die Obschtschina, der Clan, das Kollektiv, dem er angehört. Die „Gunst“, von der Teodor Schanin spricht, wird zwischen den Kollektiven ausgetauscht. Die Individuen sind nur die Vermittler, wie der von Schanin erwähnte „Tolkatsch“, der Anschieber in der Sowjetzeit.
Vor dem Hintergrund dieser Realität wird Wladimir Putin, Stabilität und zugleich Demokratie letztlich nur herstellen können, wenn er sich auf diese real existierenden sozialen Strukturen und die damit untrennbar verbundene Mentalität der russischen Bevölkerung stützt. Darin folgt er Jelzin und Gorbatschow, Lenin und Stalin, dem letzten Zaren Nicolaus II. ebenso wie den ersten Selbstherrschern Moskaus im 15. und 16. Jahrhundert. Stabilität entsteht in Russland nicht aus dem Austausch individueller Interessen auf einem offenen Markt, sondern aus der kunstvollen, wenn nötig auch obrigkeitlichen Regulierung des Gunstgeflechtes, in dem Mitglieder von Gemeinschaften handeln. Wohl vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die russische Sprache kein passendes Wort für den westlichen Begriff des Staates hat. „Staat“ kann ins Russische entweder nur mit dem Lehnwort „Schtat“, mit der Umschreibung „bürgerliche Gesellschaft“ oder mit dem russischen „Gossudarstwo“ übersetzt werden. Das letztere aber bedeutet nicht Staat, sondern Herrschaft. Dafür kennt das Russische jedoch eine Reihe von Ersatzbegriffen wie „Büroktie“, Administration“, „Macht“ und dergleichen.
Was könnte unter den Bedingungen der heutigen Veränderungen in Russland heute daraus erwachsen? Diese Frage beantwortet Alexander Nikulin aus der Pespektive der Agrarwissenschaft mit den Worten:

O-Ton 30: Nikulin                             1,11 (Text kürzer als der Ton)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,  verblenden

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja….
„Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow ist ein großer russischer Agrarwissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts, der die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Diese Theorie ist eine Kombination, sagen wir, des Individuellen und des Kollektiven, wenn die einzelne Menschen in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind, dabei in Prozesse, die man einschätzen, die man rationalisieren kann. Das ist nicht einfach die Obschtschina, das ist die effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. In Abhängigkeit von Ort und wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann es sehr viele unterschiedliche Kombinationen dieser Art geben. Sie bilden sich zur Zeit spontan und arbeiten in Russland. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlern, von Politikern, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen rationalen Entwicklung zu geben. Das erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
…perspektivni putj.“

Erzähler:
Alexander Nikulin, ebenso wie sein Lehrer Teodor Schanin und die mit ihm verbundene Schule Tatjana Saslawaskajas sind nicht die einzigen, die sich Gedanken dieser Art machen. Auch unter Historikern, Philosophen und Publizisten entwickelt sich die Debatte, wie Russlands nationale Identität aussehen könnte.
Igor Tschubajs, Bruder des berüchtigten Ministers für Privatisierung in der Zeit Jelzins, Anatoly Tschubajs ist einer von ihnen. Er ist Historiker an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Er leitet dort den Forschungsbereich einer „Philosophie Russlands.“ Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Weltbildes, so Igor Tschubajs, nachdem klar wurde, dass die dadurch entstandene Leerstelle nicht durch einen einfachen Import aus dem Westen zu schließen sei, ebensowenig aber durch eine Rückkehr zum imperialen Russland des Zarismus, bleibe für Russland im Grunde nur ein Weg:

O-Ton 31: Igor Tschubajs, Historiker
2000/2, Band 2, A, 492
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

„Jedinstwenni prijemlimi putj…
„Der einzige annehmbare Weg ist der weg der Akzeptanz, der Weg der Wiedervereinigung mit sich selbst. Ich kann sagen, dass bei uns in unserem Lande jetzt zum ersten mal seit siebzig Jahren eine neue, unabhängige wissenschaftliche Schule entstanden ist, eine neue wissenschaftliche Richtung wie seinerzeit die Frankfurter Schule in Deutschland oder die Wiener Schule der Philosophie. Die Schule, die bei uns entstand, nennt sich „Schule der Akzeptanz“
492 ..schkola priemstwa.“

Erzähler:
Akzeptanz und Modernisierung von Grundwerten des russischen Selbstverständnisses ist das Anliegen dieser Schule, so Igor Tschubajs. Um drei Aspekte gehe es: Um die „Sammlung russischer Erde“, das ist die Frage des russischen Imperiums, um die kollektiven Gemeinschaftstrukturen, die Obschtschina, und um die orthodoxe Religion. Eine Erneuerung dieser Grundwerte, also eine neue russische Idee könne aber weder von oben verordnet, noch den Menschen und Völkern Russlands übergestülpt werden. Sie müsse von unten wachsen. Das braucht Zeit.

Athmo 5: Musik –                     2,12
Bulad Okutschawa“ „Noch dreht sich die Erde…“
Regie: Verblenden, Ton allmählich kommen lassen, am Ende hochziehen und ausklingen lassen

Erzähler:
„Noch dreht sich die Erde“, singt Bulad Okudschawa. Er wird von allen verehrt. In seinen Liedern sind die Gegensätze zwischen Asien und Europa, zwischen Aufbegehren und Despotismus, zwischen Gunstwirtschaft und Dirigismus, an denen westlich orientierte Reformer in Russland immer wieder gescheitert sind, zu einer zärtlichen Symbiose vereint. Ob die von einem starken Mann Putin angestrebte Verbindung von Privateigentum und Patriotismus geeignet ist, diese Symbiose zum Wohle Russlands zu fördern, muss sich erweisen.

Euroasiatische Visionen russischer Nationalisten

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne: 28 Min.

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung: zwei Bänder!
– Atmos   1 – 4 (Athmo 4 entfällt)
– O-Töne 1 – 18

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Euroasiatische Visionen
russischer Nationalisten

Athmo 1: Gesang                1.03
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Erzähler:
Beim sortieren der Beeren, die er selbst in der Taiga, dem sibirischen Urwald gesammelt hat, singt Gennadij Schadrin russische Volkslieder. Djeenja, so nennen ihn seine Begleiter, ist ein sibirischer Jäger, Ökologe und Patriot. Er arbeitet als Agrarreporter beim Nowosibirsker städtischen Radio, wo er regelmäßige Sendungen über die Entwicklung der Dörfer und ihrer Menschen macht. Sein Hauptinteresse gilt der Bedrohungen, der die Dörfer seit der großen Wende durch die „westliche Überfremdung“, wie er es nennt, ausgesetzt sind. Djeenja ist ein friedlicher Mensch. Die Lieder seiner Heimat, die Beeren der Taiga, die Pflege der russischen Sprache und Kultur sind ihm wichtiger als die großen politischen Fragen. In den Dörfern müsse man sich umschauen, meint er. Dort werde das Russische am ehesten bewahrt:

O-Ton 1: Wasser am Brunnen    1,06
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Geräusche von Wassereimern…
Am Brunnen eines Dorfes kommt Djeenja am nächsten Tag ins Plaudern. Die neue Zeit verwirre die Menschen, meint er. Man wisse nicht mehr, was man denken solle, noch weniger, wie man sich in dieser Krise gesund erhalten könne. Zurück zur Sowjetzeit wolle natürlich niemand, der westliche Weg bleibe den russischen Menschen fremd. Doch gebe es einen russischen Weg, das Leben zu meistern, das „System Iwanow“, dem viele Sibiriaken und auch Menschen im Westen Russlands heute folgten.
Wasser, Waschgeräusche

Erzähler:
Das System Porfirjew Iwanows, Energie aus der Abhärtung gegen die Kälte zu gewinnen, wird heute von vielen Menschen in Sibirien angewandt: Morgens, gleich nach dem Aufstehen kann man aus den Haustüren sibirischer Wohnhäuser Menschen kommen sehen, die sich kurzentschlossen kaltes Wasser über den Kopf gießen – sommers wie winters, auch in den Städten. Nicht alle jedoch, die in der Verwirrung der neuen Zeit nach neuen Wegen suchen, bescheiden sich mit einem solchen selbstgenügsamen Weg. In Moskau klingen selbst die gemäßigten Töne schon anders. Hören wir Jefim Berschin, Redakteur und Poet. Er hat den Zusammenbruch des sowjetischen Weltbildes begrüßt; nun aber das amerikanische an dessen Stelle zu setzen, weigert er sich. Amerikanischer Geschäftssinn könne niemals die russische Kultur ersetzen, so Jefiim Berschins Überzeugung, das amerikanische Bewusstsein sei einfach erschreckend. Aufgeschreckt durch das Eingreifen der NATO im Kosovo erklärt er:

O-Ton 2:Jefim Berschin    1,11
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„W` Amerikje ssewodnja..
„In Amerika wird heute eine Ideologie des Anti-Intellektualismus propagiert: Der Mensch soll tätig sein, er soll nicht denken, er braucht keine Bildung. Das ist ROM am Beginn des 21.Jahrhunderts.  Amerika versteht nicht, was es da anrührt. Amerika glaubt, dass man seine eigenen Ziele künstlich in jedes beliebige Land importieren und sie dann dort wirken lassen kann. Das ist nicht möglich. – Warum versteht Amerika das nicht? Weil Amerika die Wichtigkeit des kulturellen Ursprungs des Staates nicht begreift. Insofern Amerika selbst keine kulturellen Ursprünge hat, sondern alles aus verschiedenen Ländern zusammengerührt ist und eine eigene Kultur noch nicht entstanden ist, ist Amerika ein Land ohne kulturelle Wurzeln. Es versteht die Wichtigkeit von Kultur und Tradition nicht,  nur Alltagskultur. Europa dagegen muss das begreifen! Die europäischen Staaten sind doch Staaten mit ältesten Kulturen!“
… kulturami:“

Erzähler:
Russische Eigenständigkeit in Abgrenzung nach Westen, vor allem gegenüber den USA ist heute der Grundkonsens russischer Patrioten, gleich ob in der Metropole oder auf dem Lande. Europa, insbesondere Deutschland dagegen anvanciert zum Wunschpartner, mit dem man sich kulturell verbunden fühlt und mit dem man die USA in die Schranken weisen möchte. In den letzten Jahren der Jelzinschen Präsidentschaft entwickelte sich diese Linie zu einer mächtigen Gegenkraft zu dem nach Westen orientierten Kreml. Gallionsfigur dieser Bewegung wurde vorübergehend der General Alexander Lebed. Nach dem von ihm für den ersten tschetschenischen Krieg 1996 bewirkten Waffenstillstandsvertrag gewann er vorübergehend soviel Popularität, dass er 1996 im Wahlgang um die Präsidentschaft als dritter nach Boris Jelzin und dessen Systemsgegner Gennadij Szuganow, dem Chef der KP, durchs Ziel ging. Im zweiten Wahlgang abgeschmettert verlegte Alexander Lebed sich dann allerdings darauf, im fernen Krasnojarsk das Modell einer euroasiatisch orientierten Herrschaft aufzubauen, um es von dort aus nach Moskau zu tragen. Zur Aktualität der euroasiatischen Orientierung waren aus dem Kreis seines Kranojarsker Kommandos seinerzeit Einschätzungen wie diese zu hören:

O-Ton 3: Wladimir Polutschin, Kultusminister     0,51
in Krasnojarsk
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„No takawa Situatia…
„Nun, das ist die Situation, denn das Territorium ist riesig. Da ist das asiatische Territorium und ein Teil liegt in Europa. Das ist natürlich ein Problem. Es ist aber auch die einzigartige Chance, zur Brücke zwischen Osten und Westen zu werden. Das ist meine Meinung. Das ist aber auch die Meinung von Alexander Iwanowitsch, dass Russland im 21. Jahrhundert nur dann wirklich ein mächtiger und wirtschaftlich präsenter Staat werden kann, wenn wir zur Brücke zwischen Osten und Westen werden können. Das ist für Russland die Chance, wenn ein guter Führer kommt.“
…nastajeschi lider.“

Erzähler:
Der so spricht, ist Wladimir Polutschin, Minister für Kultur in dem von Alexander Lebed nach seiner Wahl zum Gouverneur von Krasnojarsk zusammengestellten Kabinett. Mit dem kommenden Führer war selbstverständlich Alexander Lebed gemeint, der mit der von ihm geschaffenen Bewegung „Ehre und Heimat“ und seinem Versprechen auf eine „Diktatur des Gesetzes“ bei der Wahl im Jahr 2000 Präsident zu werden hoffte. Tatsächlich ging ein anderer mit der selben Losung durchs Ziel, Wladimir Putin. Gegen Alexander Lebed, der mit dem Image eines „Generals für den Frieden“ warb, siegte Wladimir Putin als Zivilist, der den zweiten tschetschenischen Krieg für die Wiederherstellung der imperialen Größe Russlands begann und ihn bis heute noch führt. Jetzt fühlen sich all diejenigen ermutigt, für die Russlands Lage zwischen Asien und Europa schon immer mit aggressiveren Vorstellungen verbunden war. Wichtigster Vertreter dieser Linie ist Alexander Dugin, seit der Wende unter Michail Gorbatschow Autor zahlloser Artikel zu Fragen der euroasiatischen Geopolitik Russlands, Herausgeber einer nationalistischen Theoriezeitung „Elemente“ und seit den Wahlen zur Duma im Oktober 1999 auch politischer Berater des Dumapräsidenten Selesnjow.
Alexander Dugin begrüßte die Wahl Wladimir Putins mit den Worten:

O-Ton 4: Alexander Dugin    0,55
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice
„Putin ja magu skasatj..
„Was Putin sagt ist das, was ich seit Jahren sage. Faktisch wiederholt er Wort für Wort das, was ich seit vielen Jahren vorbringe. Ich bin nicht einfach nur Nationalist, ich bin Euroasiatiker. Das ist ein umfassendes Konzept, das ich entwickelt habe. Es betrifft drei Elemente: Die geopolitische Denkweise, das euroasiatische Projekt, die Selbstständigkeit der russischen Zivilisation. Ich wirke seit Jahren durch die zentristischen Strukturen, Minister, Innenministerium, Armee. Ich habe immer wieder gesagt: es kommt der Moment, das die euroasiatische Sicht zum offiziellen strategischen Programm Russlands wird. Mit Putin ist es soweit.“
…c Putinnom eta biwaetsja.“

Erzähler:
Ohne eine Frage abzuwarten, erläutert er, was er unter einer geopolitischen Denkweise versteht:

O-Ton 5: Dugin, Forts.     1.05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
“Geopolititschiskaja termina…
„Grundgedanke der Geopolitik liegt im Gegensatz zwischen territorialen und maritimen Imperien. Dieser Gegensatz hängt nicht von Ideologien, nicht von konkreten religiösen, ethnischen oder rassischen Faktoren ab. Der eine Pol, der atlantische, also der westliche, maritime folgt der einen Logik der Geschichte, der andere Pol, der territoriale, der Kontinentalismus, folgt den Gesichtspunkten des Euroasiatismus. Die Identifizierung mit dieser Erscheinung auf dem Niveau der alltäglichen Politik bildet die euroasiatische Bewegung, die ich führe und vertrete. Das ist der Neo-Euroasiatismus, wenn man so will. Er nimmt Grundelemente aus historischen Quellen, aber fügt wichtige neue  Elemente der Geopolitik, der Soziologie, der neueren Geschichte usw. hinzu“
… i tagdali.“

Erzähler:
Die aktuelle Sicht, mit der er den historischen Euroasiatismus ergänzt, beschreibt Alexander Dugin mit den Worten:

O-Ton 6: Dugin, Forts    . 0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ssetschas w mirje…
„Zur Zeit entwickelt sich eine beängstigende geopolitische Situation: Es entsteht eine unipolare Welt unter vollkommener Herrschaft der USA. Die einzige Struktur, die dem nach geopolitischen Gesetzen widerstehen kann, ist die Erde Russlands. Wenn wir unsere russische Erde an der Peripherie verlieren, verlieren wir unsere Möglichkeit, eine planetare Alternative zu bilden. Wir verraten auf diese Weise nicht nur unsere historische Mission, sondern hindern auch noch andere Völker, Europa, Asien, eine freie Wahl zwischen dem atlantischem Modell und anderen zu treffen.“
…kakoito inoi.“

Erzähler
Die Länder des Islam, so Alexander Dugin, bilden eine Übergangszone zwischen den kontinentalen und den atlantischen Tendenzen. Beide Seiten müssten daher versuchen, Einfluss zu nehmen sei. „Das“, so Dugin, „ist objektiv unvermeidlich!“
Auf die Frage, wie er sich diese  „Einflussnahme“ von Seiten Russlands vorstelle, ob durch imperiale Eroberung oder durch Verträge, antwortet Alexander Dugin kühl:

O-Ton 7: Dugin, Forts.     0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja nje wosraschaju…
„Ich habe nichts gegen den imperialen Weg, er ist zur Zeit nur wegen unserer Schwäche nicht möglich. Nicht aus Humanismus, sondern aus Realismus glaube ich, dass der Weg der Eroberung dieser Staaten zur Zeit für uns nicht möglich ist. Dadurch erledigt sich die Frage nach dem imperialen Weg. Jeder realistische Geopolitiker – außer Dummköpfen – erkennt das und wird sich danach richten.“
… kagby saglassitsja.“

Erzähler:
Das „Euroasiatische Projekt“, fährt Alexander Dugin fort, sehe stattdessen drei Ebenen vor: Erstens – einfache Verträge zum gegenseitigen Nutzen mit Ländern euroasiatischen Nachbarn Russlands; zweitens – konföderative Verbindungen, in der Perspektive eine euroasiatische Konföderation als strategische Vereinigung; drittens – die Neutralisierung Europas und des pazifischen Raumes, genauer, deren Loskoppelung vom atlantischen Bündnis. Ziel, so Alexander Dugin, sei selbstverständlich eine multipolare Welt; die sei aber nur auf dem Umweg über die Wiederherstellung der bipolaren zu erreichen:

O-Ton 8: Dugin, Forts.     1,23
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesli my ssetschas…
“Wenn wir jetzt direkt auf eine multipolare Welt zusteuern würden, dann würde es eine Amerika-zentrierte Welt werden und keine echte multipolare, eine fiktive. Das verstehen die chinesischen Führer sehr gut, die indischen wie überhaupt alle normalen Menschen. Wir wollen die multipolare Welt; um dahin zu kommen, müssen wir aber zunächst die bipolare Welt wiederherstellen, denn im Konfliktfall wird die amerikanische Hegemonie, die amerikanische Expansion so funktionieren, wie die USA es gerade am Kosovo gezeigt haben und weiter zeigen werden. Deshalb brauchen wir unser atomares Drohpotential. Wenn das durch die asiatischen Potentiale multipliziert wird, können wir den Amerikanern diktieren, Europa und die pazifische Region in die Entmilitarisierung zu entlassen. Zu dem Zweck unterstützen wir auch den Euro, zu dem Zweck unterstützen wir eine eigene pazifische Währung usw., das heißt, wir helfen, die Unabhängigkeit Europas und des pazifischen Bereiches herzustellen; dafür erwarten wir, dass entspreche Hilfe zurückkommt….
…historie dolschni…“

Erzähler:
Die Befreiung Europas, die Entwicklung eines europäischen Bewusstseins, sei ebenfalls eine euro-asiatische Aufgabe, fährt Alexander Dugin fort. „Wir müssen Europa nach Europa zurückbringen!“ erklärt er und, einmal in Fahrt, macht er Deutschland eine Liebeserklärung von besonderer Qualität:

O-Ton 9: Dugin; Forts.    1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unter Erzähler allmählich ausblenden

Übersetzer overvoice:
“Kstati, sa prawal…
“Übrigens, für den Zusammenbruch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist natürlich die deutsche Geopolitik verantwortlich, welche die Notwendigkeit der Orientierung Berlin. Moskau-Tokio nicht begriff. Das wäre der Sieg gewesen. Wenn wir gemeinsam locker London eingenommen hätten, dann würden wir Russen zusammen mit den Deutschen heute eine wunderbare, demokratische Welt regieren.“

Erzähler:
Deutschland ist aus Alexander Dugins Sicht der wichtigste Partner einer möglichen euroasiatischen Achse. Deutschland für ein Bündnis gegen die USA zu gewinnen, ist für ihn eins der wichtigsten Ziele russischer Außenpolitik. Die USA sind für ihn, ganz in der Diktion des Kalten Krieges, Weltbrandstifter Nummer eins. Auf den Krieg in Tschetschenien, auf den Einsatz russischer Truppen in GUS-Ländern angesprochen, die der Vision einer friedlichen euroasiatischen Bündnispolitik Russlands sichtlich entgegenlaufen, bricht es aus dem Geopolitiker Dugin heraus:

O-Ton 10 Dugin, Forts.     1.31
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Na samom djele…
“Nach meiner Meinung liegt die Verantwortung für mögliche gefährliche Konfrontationen ausschließlich bei den USA und beim atlantischen Modell. Warum? Amerika glaubt, dass alle sich nach ihrer Wirtschaft ausrichten müssen. Wenn Eroberungen früher militärisch stattfanden, so heute durch wirtschaftliche Modelle. Im Kern verhält sich Amerika als Hegemon, führt sich als Kolonisator und als einziger Schiedsrichter auf. Russland hat seinen guten Willen gezeigt, besonders durch Perestroika, hat ein einiges Deutschland ermöglicht, hat sich ohne Vorleistung aus dem Warschauer Vertrag zurückgezogen. Im Gegenzug aber bewegt sich die NATO nach Osten, kreist Russland ein, statt eine multipolare Welt zu ermöglichen, gehen die USA daran, eine monopolare aufzubauen, halten sich für die Weltpolizei, haben überall ihre Doktrinen verbreitet. Ich denke, der Hauptfeind und die Hauptgefahr für die Menschheit  – das sind die USA und ihre wahnsinnige, fanatisch, totalitäre, neo-nazistische atlantische Position.“
…atlantiskaja positia..“

Erzähler:
Um zukünftigen Konflikten zu entgehen, schließt Dugin, müsse die Welt sich zu einer einheitlichen antiamerikanische Front zusammenschließen. Nur so werde sie in Frieden leben können.
Klaren Text spricht auch Alexander Prochanow, Herausgeber und Chefredakteur der vielgelesenen national-patriotischen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen), der Alexander Dugin seit Jahren ein Forum für die Verbreitung seiner Ideen liefert.
Alexander Prochanow war Sprachrohr der „Nationalen Front“, die seinerzeit militant gegen Michail Gorbatschow, 1993 offen militärisch gegen Boris Jelzin mobilisierte. Er ist zeitweiliger Bündnisgenosse der Kommunistischen Partei Russlands. Vor der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten polemisierte er erbittert gegen die Inkonsequenz des „Klons Putin“, von dem niemand wisse, woher er stamme. Inzwischen gehört Prochanow zu Wladimir Putins Fürsprechern. Prochanow skizzierte die Rolle, die Russland seiner Ansicht nach spielen soll, schon 1992 mit den Worten:

O-Ton 11: Alexander Prochanow     1.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ideologie katorie…
„Die Ideologie, welche die auseinanderfallende russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei Komponenten: Das ist die Komponente der sozialen Gerechtigkeit – die sozalistische Komponente – und die nationale Gerechtigkeit, also die nationale Komponente. Das ist eine zukünftige nationalsozialistische oder auch sozialnationalistische Ideologie, wie beliebt. Im Kern wird das möglicherweise Faschismus wie bei Mussolini – ohne rassistische Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie kann es verschiedene Formen der politischen Kultur geben. Ich bin traditioneller russischer Imperialist. Das ideale Russland, das ist für mich ein euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der Völkervielfalt hervorgeht – das zentrale Volk jedoch, das regulierende Volk, das sind die Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind kommunikativer und sie leben überall. Die heutige russische Föderation ist ein totes Stück Holz, sinnlos, Nonsens. Es kann kein Russland geben, wo dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen ihrer Heimat leben.“
..swoich rodine..“

Erzähler:
Restaurative Expansion des sowjetischen Imperiums, Mobilisierung der konservativen und Rechten Kräfte für die „nationale Konterrevolution“, wie Prochanow es nennt, ist die Politik, die aus dieser Sichtweise folgt. Inzwischen ist der „traditionelle Imperialist“ Prochanow etwas vorsichtiger geworden, allerdings ohne seine Gesinnung dabei zu verbergen. Gefragt, ob es ihn störe, wenn man ihn einen „Faschisten“, „Nationalisten“ oder „Rassisten“ nenne, antwortet er:

O-Ton 12: Prochanow, Forts.     1,19
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu snaetje…
„Nun, wissen Sie, der Ärger darüber ist schon lange vorbei. Wie hat man uns nicht genannt: Man nannte mich einen Militaristen, vor dem afghanischen Krieg; dann wurde ich Sklave des Generalstabs genannt, zur Zeit des Putsches wurde ich Putschist genannt; dann wurde ich Faschist genannt, als liberale jüdische Gruppen nach möglichst diffamierenden Bezeichnungen suchten; dann nannte man mich Konservator, Mensch ohne Rückgrat. Rassist hat mich noch niemand genannt. Aber die Begriffe verkommen. Faschist? Was soll ein russischer Faschist sein? So etwas gibt es nicht. Es gibt einen amerikanisch-technotronischen Faschismus, der in einer beängstigenden Weise die eigene weiße Rasse als das Höchste ansieht und einen erschreckenden Genozid am russischen Volk begeht. Er findet seine Analogie im historischen Faschismus. Es gibt jüdischen Faschismus, der das jüdische Volk in eine absolut privilegierte Situation gegenüber allen anderen Völkern erhebt. Aber einen russischen Faschismus gibt es nicht, das ist nicht mehr als ein Schreckgespenst.“
…ne bolje tschem schupil.“

Erzähler:
Die antisemitischen Wendungen in Alexander Prochanows Rede sind nicht zu überhören. Perestroika, Privatisierung, ebenso wie der von ihm so bezeichnete „technoktronische Faschismus“ der USA, was wohl heißen soll, auf Technik basierender Faschismus, sind aus seiner Sicht das Werk der jüdischen Internationale. In dieser Sicht ist er auch mit Alexander Dugin verbunden. In die gleiche Richtung entwickelten sich auch jene Bündnispartner Alexander Lebeds, die seinen gemäßigten Kurs in Krasnojarsk nicht mittragen wollten. Der „Kongress russischer Gemeinden“, eine Organisation, die russische Minderheiten in und Flüchtlinge aus den ehemaligen Sowjetgebieten vertritt, trennte sich von ihm, nachdem er den Waffenstillstand 1996 ausgehandelt hatte, weil er den kosakischen, das heißt den Nachfahren der russischen Kolonisten in Tschetschenien keine Privilegien gegenüber der tschetschenischen Bevölkerungsmehrheit zugestehen wollte. Auch kritisierten sie Lebed dafür, dass er nicht bereit gewesen sei, den Weg eines russischen Pinochet zu gehen. Alexander Lulko, Vorsitzender der Nowosibirsker Ortsgruppe bringt die Methoden, mit denen er Russland gegenüber der amerikanisierten und jüdischen Überfremdung wieder Russisch machen möchte, auf den Nenner:

O-Ton 13: Alexander Lulko,               1.06 (Text kürzer als der Ton)
Kongress russischer Gemeinden
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Übersetzer overvoice:
„Da jesli tschesna…
“Wenn ich ehrlich bin, dann bin ich für eine nationale Diktatur. Ich habe darüber mit Lebed gesprochen. Ich fragte ihn, wie stehen Sie zu Pinochet? Lebed sagte, sehr gut, Pinochet hat für Ordnung gesorgt. Er brachte Chile wieder auf die Beine. Chile hat heute das höchste Lebensniveau in Südamerika. Damals erklärte Lebed öffentlich, dass er eine nationale Diktatur anstrebe wie in Chile, um Ordnung herzustellen im Lande. Das würde natürlich Markt sein, nicht die Art von Diktatur wie bei Stalin – also, es gibt begrenzte Freiheiten, aber Menschen, die stehlen, töten und Banden bilden wie zur Zeit bei uns geschieht… das geht nicht!  Deshalb bin ich für die härtesten Methoden; sagen wir es so.“
… skaschim tak.

Athmo 2: Platzmusik    1,07
Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden mit O- Ton 15

Erzähler:
Wohin diese Haltung führt, der selbst ein Ordnungspolitiker wie Alexander Lebed nicht konsequent genug, für die ein Kriegsherr wie Wladimir Putin nur zweite Wahl ist, führt Wladimir Schirinowskis „Liberal-demokratische Partei“ vor. Bei ihr bleibt von dem „geopolitischen Projekt“ Alexander Dugins, von der „sozialistischen Komponente“ und der „nationalen Gerechtigkeit“ Alexander Prochanows, von der „nationalen Ordnung“, die sich der „Kongress russischer Gemeinden“ erträumt letztlich nur noch rassistische Demagogie übrig. Vertreter der Schirinowski-Partei wie Alexander Loginow, ein ehemaliger Offiziersschüler, Abgeordneter der Partei in der Moskauer Staatsduma, lieben es, bei Veranstaltungen der Partei in vollem Wichs vor die Versammlungen zu treten:

O-Ton 14: Alexander Loginow, Partei Schirinowskis    2,10
Regie: Ton verblenden, langsam hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach belieben zwischendurch hochziehen,  nach Erzähler hochziehen, verblenden

Erzähler:
„My prowosglaschaem…
„Wir verkünden eine Politik des nationalen Egoismus“, erklärt Loginow. Dann folgt eine demagogische Phrase auf die andere: Das grundlegende Ziel sei die Wohlfahrt des eigenen Volkes. Ihn interessiere nicht, wie die Georgier in Georgien leben, die Kasachen in Kasachstan, die Balten im Baltikum. Ihn interessiere allein das Überleben der eigenen, der russischen Bevölkerung. Wie aber sehe es damit aus? Das russsische Volk werde von den ehemaligen Republiken ausgeraubt; für Minderheiten werde alles getan, für die russische Mehrheit nichts. Wenn in einer jakutischen Stadt 95% Russsen, aber nur 5% Russen lebten, wieso müssten Russen dort dann die jakutische Sprache lernen? Weil die Jakuten die Urbevölkerung seien? So wie es anderswo die Tataren, die Kaukasier, die Tschetschenen?  Ja, und wo, bitte sehr, könnten die Russen zuhause sein? Hätten nicht sie die Gebiete zivilisiert? Bei der Urbevölkerung kämen zwanzig Kinder auf eine Frau, die russischen Frauen, elend wie die Verhältnisse heute seien, schafften nicht einmal zwei. Jedes Jahr schrumpfe das russische Volk um zwei Millionen! In zwei Generation werde es das russische Volk nicht mehr geben. „Wofür“, ereifert sich der Redner, „nennt man uns Faschisten?“ Er antwortet gleich selbst: „Weil wir heute sagen: In der Welt geht eine grässliche Tragödie vor sich, ein Genozid gigantischen Ausmaßes am russischen Volk!  (…) Marode kleine afrikanische Stämme zu schützen, gilt heute als normal, das liegt im Rahmen der Demokratie, der Menschenrechte, der Internationale, aber wenn ein 150 Millionen Volk stirbt, darf man nicht davon reden. Dann heißt es: Faschisten. Darüber kann ich nur lachen….“
…smejus na etot wapros.“

Athmo 3: Lied von Juri Gorbatschow    2,58
Regie: Verblenden, langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, verblenden –
Nach O-Ton 15 noch einmal aufziehen, dem Erzähler unterlegen unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Auf welchen Boden diese Demagogie zielt, kann man ermessen, wenn man Juri Gorbatschow zuhört, Journalist, Dorfschriftsteller und Liedermacher in Nowosibirsk. Der platte Rassismus der Schirinowski-Partei widert ihn an, ebenso der Antisemitismus Alexander Prochanows und seiner Freunde. Aber Juri Gorbatschow liest Prochanows Zeitung und die Desorganisation des russischen Kulturraumes, die Entstehung einer neuen sozialen Schicht der „Nowi Russki“, für die nur das Gesetz des eigenen Vorteils gilt, hat ihn zu einem Lied über neue Hunnen und neue Wikinger inspiriert.
Befragt, was er darunter versteht, erklärt er:

O-Ton 15: Juri Gorbatschow, Poet, Journalist    1,40
Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen – mit Musik aus Athmo 3 verblenden

Übersetzer overvoice:
„Djela w´tom schto…
“Naja, die Struktur des organisierten Verbrechens, das ist mit bloßem Auge erkennbar, ist die gleiche wie in den Horden Tschingis Chans.  Das sind Krieger, das sind gut organisierte Brigaden, die Racketeure, also die Schutzgelderpresse oder die Gruppen im kriminellen Geschäft. Drogen, Überfälle, Krontrollen von Verkehrswegen – all das ist nach den Prinzipien von Kampfgruppen organisiert. Die kann man mit den Wikingern vergleichen oder auch mit den Hunnen. Es sind Banden, Banditen, Krieger, die sich zusammenrotten, rauben, töten; töten ist für sie kein Problem. Das ist die psychische Verfassung des frühen Menschen, wie sie bei den Hunnen war oder bei den Skythen oder bei irgendwelchen frühen Ariern. Das war alles ein und dieselbe Mentalität. Zu Zeiten der Jagd, auf Kriegszügen da wurde geraubt, vergewaltigt und gemordet, auch von den Christen – von denen nur im Namen von Christus. Und ebenso das Heer Tschingis Chans: Wenn einer den Zehnerverband, die Grundeinheit, verließ, wurde der ganze Verband getötet. Heute ist das genauso: Wenn einer aus der Brigade raus will, wird er umgebracht, einfach getötet. Sie leben nur für heute, an morgen denken sie nicht. Vom Geschäft verstehen sie nichts, nur vom teilen der Beute. Was ist das anderes als neue Hunnen?“
…nowi Gunni.“

Athmo 3: Gorbatschow singt, Forts.
Regie: Verblenden mit O-Ton1, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Juri Gorbatschow unterstreicht seine Darstellung mit Zitaten historischer Autoren , deren Arbeiten über den Zusammenhang von Geografie, Geschichte und Kultur Euroasiens auch Alexander Dugin, Alexander Prochanow und andere erklärte Nationalisten für sich in Anspruch nehmen. Die gleichen Autoren dienen aber, wenn es um die Diskussion dessen geht, was Russland ist und werden soll, auch Menschen als Quelle, die sich nicht zum patriotischen Lager zählen, sondern diesem als Linke, Demokraten oder einfach nur als kritische Intellektuelle mit Distanz oder gar Ablehnung gegenüberstehen.
Einer dieser Menschen ist Oleg Woronin, Dozent der Geschichte in Irkutsk und Aktivist der Perestroika, Radikaldemokrat, seit Mitte der 90er auch Direktor einer Investmentfirma „Asia“ in Irkutsk:

O-Ton 16: Oleg Woronin, Dozent der Geschichte    1,05
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Skaschim, rjad istorikow…
„Es gibt bei uns eine Reihe von Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts, wir nennen sie, Euroasiaten. Sie haben nichts gemein mit einigen Moskauer Ideologen, die sich Euroasiaten nennen, im Kern aber einfach Faschisten sind wie Dugin und andere. Ungeachtet dessen, was die Nationalisten aus ihnen machen, haben diese Wissenschaftler zur Lage Russlands viel zusammengetragen, was seine Lage zwischen Asien und Europa, als Brücke zwischen Ost und West und die Entstehung seine staatlichen Strukturen aus dieser Mischung verschreibt. Vieles davon kommt aus dem Osten, genau genommen aus dem mongolischen Staat. Dazu kommen die türkischen Einflüsse und viele frühere Einflüsse aus dem nomadischen Korridor. Das ist natürlich eine große historische Erfahrung, Aber bedauerlicherweise hat unsere historische Wissenschaft diese Erfahrung ignoriert, vergessen. „
…ignorirowala, sabila.“

Erzählung:
Die Tatsache, dass die Geschichte verdrängt und vergessen wurde, macht es möglich, das richtige historische und geopolitische Tatsachen und die interessanten Ideen des euroasiatischen Historiker des letzten Jahrhunderts von russischen Nationalisten heute für ihre Zwecke benutzt werden. Das, so Oleg Woronin, sei höchst bedauerlich, weil es die Annahme der eigenen Geschichte und eine echte Orientierung Russlands zwischen Asien und Europa erschwere.
In dieselbe Richtung geht Igor Tschubajs, Bruder des berüchtigten Ministers für Privatisierung in der Zeit Jelzins, Anatoly Tschubajs.
Igor Tschubajs ist Historiker an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Er leitet dort den Forschungsbereich einer „Philosophie Russlands.“ Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Weltbildes, so Igor Tschubajs, nachdem klar wurde, dass die dadurch entstandene Leerstelle nicht durch einen einfachen Import aus dem Westen, ebenso wenig aber durch eine Rückkehr zum imperialen Russland des Zarismus zu schließen sei, bleibe für Russland im Grunde nur ein Weg:

O-Ton 17: Igor Tschubajs, Historiker    0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

„Wot, is maja…
„Der einzige annehmbare Weg ist der Weg der Akzeptanz, zur Wiedervereinigung mit sich selbst. In unserem Lande ist jetzt zum ersten mal seit siebzig Jahren eine neue, unabhängige wissenschaftliche Schule entstanden, eine neue Richtung wie seinerzeit die Frankfurter Schule in Deutschland oder die Wiener Schule der Philosophie. Die neue Schule, die bei uns entstanden ist, nennt sich `Schule der Akzeptanz´“.
…schkola priemstwa.“

Erzähler:
Um die Akzeptanz und gleichzeitige Modernisierung von drei Grundwerten werde geforscht und diskutiert. Diese sind: Die „Sammlung russischer Erde“, also die Frage des russischen Imperiums, die kollektiven Gemeinschaftsstrukturen und die orthodoxe Religion. Eine Erneuerung der Grundwerte, also eine neue russische Idee könne aber weder von oben verordnet, noch den Völkern Russlands übergestülpt werden. Auch müsse sie im Gespräch und nicht in der Konfrontation mit den Nachbarn Russlands entstehen. Welchen Weg Russland schließlich einschlägt, dürfte nicht zuletzt auch von der Gesprächsbereitschaft dieser Nachbarn abhängen. Sie müssen Russlands Lage zwischen Asien und Europa nicht nur verstehen, sondern ihrerseits akzeptieren.

Russlands ungelöste Agrarfrage

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtlänge der O-Töne: 20,23

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann vielleicht O-Ton 16 (zum ökologischen Dienst, Forts.) notfalls auch 15, einschl. der einleitenden Erzählertexte. Forts. Mit Erzähler vor O-Ton 17 dann wie jetzt. im ungekürzten Text

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Russlands ungelöste Agrarfrage

Russlands Bauern haben es schwer. Sie müssen nicht nur hart arbeiten; sie müssen auch eine Reform ertragen, deren Erfolge bisher trotz wiederholter Anläufe nicht erkennbar sind. Nach zahllosen Versuchen, auch die Landwirtschaft  im Schnelldurchgang zu privatisieren, musste Boris Jelzin seinem Nachfolger Wladimir Putin die Agrarfrage als ungelöstes Problem hinterlassen. Wird es dem neuen Präsidenten Russlands anders ergehen als seinem Ziehvater Boris Jelzin? Kai Ehlers berichtet und analysiert.

O-Ton 1: Megaphon draußen, Redner drinnen        1,13
Regie: Ton langsam kommen lassen, frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem erstem Sprecher (mit Rednerstimme) vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Erzähler:
Novosibirsk. Gebietsparlament. Draußen Proteste: Der Unmut richtet sich gegen die katastrophalen Folgen der Privatisierungspolitik: Stillgelegte Betriebe, mangelnde Versorgung, steigende Lebenshaltungskosten:

Regie: Ton vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Drinnen Reden über die Notwendigkeit der Reorganisation der ländlichen Selbstverwaltung: Delegierte aus Dörfern und kleinen Städten des Oblastes, des Regierungsbezirks, wurden zusammengerufen, um sie darüber beraten zu lassen, wie ein Gesetz zur örtlichen Selbstverwaltung aussehen könnte.  Mehr Entscheidungsfreiheit fordern die Delegierten, mehr finanzielle Unterstützung durch die Regierung, vor allem aber Verfügungsgewalt über das örtliche Budget.
Rede…

Erzähler:
Viel Hoffnung machen sich die Delegierten allerdings nicht. Zu tief ist das Misstrauen gegenüber der „Macht“, das heißt, gegenüber der eingessenen Bürokratie, die in die eigene Tasche wirtschaftet, statt die wenigen Gelder, welche aus dem zentralen Moskauer Budget zurücktröpfeln, an die Dörfer und Bezirkszentren weiterzuleiten. Im Foyer bekräftigt eine Delegierte die Kritik mit den Worten:

O- Ton 2:  Delegierte im Foyer        0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
Foyergemurmel, „Sowerschenna werna…
„Ganz genau! Das ist es, worunter wir vor Ort leiden: dass man uns reichlich Aufgaben gibt, Möglichkeiten jedoch kaum. Denn finanziert wird alles von oben. Man möchte natürlich hoffen, dass dies alles nicht nur Worte sind. Das wäre auch so, wenn man die Aufstellung des Budgets von unten zuließe. Dann wären es zu hundert Prozent nicht nur Worte, sondern Taten. Aber das sehen wir bisher nicht.“
…eta nje widim.“

Erzähler:
Dies alles geschah im Herbst 1994, und zwar nicht nur in Nowosibirsk, sondern im ganzen Land, drei Jahre, nachdem Boris Jelzin die Überführung der Sowchosen, also der Kollektivwirtschaften in Aktiengesellschaften verfügt hatte, ein Jahr nachdem er den Obersten Sowjet in Moskau, danach die gesamte Sowjetstruktur bis hinunter zum letzten Dorf auflösen ließ. Sie hatten der Privatisierung im Wege gestanden. Für eine Reorganisation der Landwirtschaft reichte das alles nicht. Auch alle Versuche Boris Jelzins, Land zum freien Kauf und Verkauf per Erlass freizugeben, blieben ohne Resonanz; die Verabschiedung eines entsprechenden Kodex durch die Duma scheiterte wiederholt am Widerstand der Kommunisten und anderer Traditionalisten. Jetzt muss auch Wladimir Putin  mit Widerstand in der Agrarfrage rechnen. Andrej Filippow, verantwortlich für Außenkontakte der Duma-Fraktion der Kommunistischen Partei Russlands, begründet das ausländischen Gästen gegenüber mit den Worten:

O-Ton 3: Andrej Filippow, leitender KP-Funktionär    1,07
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Otnaschennije semlij…
„Die Beziehung zum Boden! Verstehen Sie? Das wird eine der sehr ernsthaften Fragen von Putins Position sein. Die Rede ist von freiem Kauf und Verkauf. In dem neuen Kodex dazu, der bisher nicht angenommen wurde, wird das gefordert. Gartenflächen, Datschen – das sind Fragen, die entschieden sind; das ist so und niemand wendet etwas dagegen ein. Es geht um etwas anderes. Es geht um den landwirtschaftlich genutzten, um produktiven Boden: Da sind wir gegen den freien Kauf und Verkauf. Wie Putin sich da verhalten wird? Auf der einen Seite sagt er: Ja, das ist nötig, Auf der anderen Seite sieht er selber, dass eine solche Entscheidung nicht einfach akzeptiert werden wird. Das wird für ihn ein sehr ernsthaftes entscheidendes Moment.“
…tak momjent.“

Erzähler:
Wladimir Putin selbst habe das Thema bei seinen Wahlreisen erneut ins Gerede gebracht, erklärt Filippow. Es werde also auf jeden Fall zu neuen Auseinandersetzungen kommen. Zudem, setzt Filippow hinzu, müsse man die prinzipielle Bedeutung dieser Frage für Russland bedenken:

O-Ton 4: Filippow, Forts.         0,49
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Ah potom systjema…
„Muss man sehen, dass das System der  Nutzung des Bodens historische, alte, uralte Wurzeln hat: Die gemeinschaftliche  Nutzung. In der kosakischen Bevölkerung etwa. Unsere Kosaken hatten ja niemals private Nutzung. Das war immer gemeinschaftliche Nutzung, die „Obschtschina“. Das kosakische Dorf, das gemeinschaftliche Eigentum usw. usw. Das heißt, aus wirtschaftlicher Sicht und aus der Sicht einer ganzen Reihe von prinzipiellen Fragen wird die Bodenfrage für Putin ein Examen.“
…budit Examen.“

Erzähler:
Die „Obschtschina“, das ist das aus der zaristischen Bauerngemeinschaft hervorgegangene Lebens- und Arbeitskollektiv, das in der Sowjetzeit als Sowchose, Kolchose oder Betriebskollekiv das gesellschaftliche Leben und sogar den Staatsaufbau bestimmte. Pro oder Contra „Obschtschina“, da darf man Filippow folgen, das ist in der russischen Diskussion heute fast gleichbedeutend mit pro oder contra Privatisierung. Die Ansichten darüber, was man unter „Obschtschina“ zu verstehen habe, gehen allerdings sehr weit auseinander. Teodor Schanin, führender Agrartheoretiker des heutigen Russland, zugleich Professor an der Universität in Manchester, möchte deshalb, vor jeder weiteren Debatte, erst einmal definieren, was diese „Obschtschina“ denn eigentlich ist:

O-Ton 5: Teodor Schanin        1,09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„If you talk…
„Wenn man von der Obschtschina spricht, die es im 19. Jahrhundert in Russland gab, dann war sie ein System, das gut für die Bauern war, indem es gegen hohe Risiken der Landwirtschaft schützte in einer Situation, in der es extrem schwierig war, ohne die Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die „Obschtschina“ eine Funktion für die Regierung, nämlich, ihre Macht ohne allzu große bürokratische Strukturen auszuweiten: Ohne jemanden vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, dem Dorf den Befehl zu geben, Rekruten für die Armee zu stellen oder Steuern zu zahlen. Man brauchte keinen Beamten zu schicken. Das machten alles die Bauern selbst. Die Elite wiederum konnte unterwegs sein. In diesem Sinne war die Obschtschina effektiv nach zwei Seiten: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern und sie diente den Bedürfnissen der Regierung. Auf diese Weise schaffte sie Stabilität.
… was so stable.“

Erzähler:
Die „Obschtschina“ schaffte nicht nur Stabilität, erklärt Teodor Schanin weiter, sie war auch selbst über Jahrhunderte stabil, weil beide Seiten an ihrer Existenz interessiert waren. Dann fährt er fort:

O-Ton 6: Schanin, Forts.        1,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„But this type of…
„Aber dieser Typ von Obschtschina kam in die Krise, weil einige sie verlassen wollten, andere nicht. Speziell in der Zeit Stolypins, des letzten zaristischen Reformministers, war es so. Er wollte sie auflösen, weil er fürchtete, dass sie ein Instrument für die revolutionäre Aktion werden könnte, was sie 1905, 1906, 1907 auch tatsächlich wurde. Die Stabilität der Obschtschina, ihre Kraft, ihre tiefen Wurzeln bewiesen sich sehr direkt, als der Bürgerkrieg kam; da kehrten alle Obschtschinas ins Leben zurück, auch die, die unter Stolypin aufgelöst worden waren. 1920 gründeten die Bauern selbst wieder Obschtschina, sodass diese viel mehr waren als bloße staatliche Institutionen. Die Bauern gaben dem System der Obschtschina die Präferenz vor anderen Arten zu leben. Aber diese Art wurde zerstört. Und in unserer Zeit benutzen die  Russen das Wort Obschtschina in der Bedeutung von Gemeinde. Also, wenn es nur Gemeinde heißt, dann ist jedes Dorf eine Obschtschina; wenn es aber im Sinne von gegenseitiger Unterstützung gemeint ist, im Sinne von gemeinsamem Besitz und immer wieder vorgenommener Neuaufteilung von Land nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dann existiert sie nicht.“
392…does not exist.“

Erzähler:
Die alte „Obschtschina“ existiert nicht mehr, meint Teodor Schanin. . Zerstört wurde sie durch Stalin, der die gewachsene Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe im Zuge der Kollektivierung in staatliche Zwangsgemeinschaften verkehrte, in denen das Privateigentum aufgehoben war. Wie einst unter Iwan dem Schrecklichen durften die Bauern ihre Dörfer nicht oder nur mit Sondererlaubnis der Partei verlassen; ihr Hof blieb Eigentum der Sowchose. Diese Verhältnisse lockerten sich nach Stalins Tod. Unter Breschnjew war der eigene Garten, die eigenen Hühner, das eigene Schwein möglich, manchmal auch schon die eigene Kuh. Boris Jelzins Privatisierungspolitik zielte auf die Auflösung der „Obschtschina“ überhaupt und auf die Schaffung einer Schicht privater Bauern. Den heute erreichten Stand skizziert Teodor Schanin so:

O-Ton 7: Schanin, Forts.        0.59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To which extend…
„Zu welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben – ich meine, die Menschen beeinflussen sich gegenseitig – ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, im Süden Russlands, zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein `Aktiengesellschaft-Dorf´, aber es ist exakt dasselbe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft.“                                                                                                   …it operates.“

Erzähler:
Wie es läuft, das beschreibt Alexander Nikulin, jugendlicher Mitarbeiter Teodor Schanins,. Er ist soeben mit einer Gruppe Forscher der von Teodor Schanin geleiteten Moskauer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ von einjährigen Feldforschungen aus den Dörfern im Süden Russlands zurückgekehrt. Gefragt zu welchen Ergebnissen sie gekommen seien, gibt er die provozierende Antwort:

O-Ton 8: Alexander Nikulin        0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Danni otschen interesnije…
„Die Daten sind sehr interessant. Es gibt da einen alten russischen Witz, schon 200 Jahre alt. Er stammt aus der Zeit, als ein in Paris lebender Freund des Historikers Karamsin diesen bat, ihm zu schreiben, was in Russland vorgehe. Karamsin antwortete: `Das ist sehr einfach: Man klaut´“.
…warujut.“

Erzähler:
Sofort schränkt Alexander Nikulin jedoch ein: Diese Erklärung sei unter Russen bis heute sehr populär, wissenschaftlich gesehen müsse man aber von „informellem Einkommen“ sprechen. Eine dörfliche Familie in Kuban zum Beispiel lebe offiziell von 600 oder 1000 Rubeln, von ungefähr 30 Dollar also. Ihr reales Einkommen betrage jedoch zwischen  200 und 300 Dollar. Aus dieser Tatsache ergebe sich ein höchst interessantes Bild vom Zustand der Landwirtschaft:

O-Ton 9: Nikulin, Forts.        1,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nasche isledowannige pakasiwajut…
„Unsere  Untersuchungen zeigen, dass in Wirklichkeit in der bäuerlichen Sphäre eine Symbiose zwischen dem Kleinen und dem Großen besteht, zwischen familiärer Wirtschaft und Großstrukturen. Die Symbiose geschieht eben häufig in den merkwürdigsten Formen des naturalen Austausches: Man zahlt seinen Kolchosmitglieder nichts, dafür nutzen die Kolchosmitglieder die Ressourcen auf nicht-legale Weise. Dadurch erhält  und reproduziert sich das ganze System und fährt fort zu funktionieren. Hier geht es um die Balance: Wie unsere Erfahrungen zeigen, führt die alleinige Ausrichtung auf das Kleine ebenso wie die alleinige Ausrichtung auf das Große zur Krise und Degradierung. Wenn die Kolchosmitglieder zu viel `klauen´, dann geht die agrarische Produktionspotenz der Kolchose zugrunde, und sie können nirgendwoher Ressourcen nehmen. Dann kehren sie zur Naturalwirtschaft zurück. Das ist schlecht. Wenn sie überhaupt nicht schaffen etwas zu nehmen, dann verelenden die Familien. Diese sehr interessante Balance zu erkunden war unsere Aufgabe.“
… bili nasche pojesdi.“

Erzähler:
Die Privatisierung in der von Boris Jelzin 1991 projektierten Form, so Alexander Nikulin weiter, ist ins Stocken geraten. Einen Boom privater Bauern gab es zwischen 1992 und 1993: Da gab es einen steilen Anstieg für die Registrierung von privaten Höfen; das ging bis 1995, aber seit 1995 geht diese Kurve insgesamt wieder abwärts. Man kann einige Typen von Bauern in dieser Bauern-Bewegung unterscheiden: Der wichtigste und erfolgreichste Typ war der frühere Leiter der Kolchose oder nomenklaturische Arbeiter des Agrar-Komplexes, der sogenannte „effektive Bauer“, der seine privilegierte Lage in den herrschenden Strukturen nutzte, der den besten Boden, die beste Technik an sich nahm und der die Möglichkeit hatte, Kredite zu bekommen. Der Zweite ist der Typ des Enthusiasten, der unbedingt selbst Herr seines eigenen Bodens werden wollte, es ausprobieren wolle. Der dritte ist einfach eine starke Familie, die versuchte eine Wirtschaft aufzubauen.
Jetzt kann man sagen, so Aleander Niculin, dass bei allen drei Typen die Dinge nicht sehr erfolgreich verlaufen. Es gibt eine gewisse Zahl starker Bauern, die eine erfolgreiche Wirtschaft betreiben, aber das bedeutet, dass sie von früher her besondere Verbindungen haben, was man in Russland mit dem Wort „Blat“, beschreibt, Beziehungen mit der Administration, mit den Banken, usw. Das heißt, sie wirtschaften keineswegs in freien marktwirtschaftlichen Beziehungen, sie sind trotz allem irgendwelchen großen Strukturen verpflichtet, die sie finanzieren oder sie nehmen, nicht anders als die „Kolchosniki“ auch, die Ressourcen der Sowchose für sich in Anspruch. Für ein Fläschchen Wodka verhandelt der Privatbauer mit den „Kolchosniki“ und die geben ihm den Saattrockner, Korn, Technik, bestellen ihm das Feld usw. Das ist auch ein Grund, schließt Alexander Nikulin diese Schilderung,  warum die „Kolchosniki“ die Bauern nicht eben lieben. „Der Bauer“, sagen sie, „ist nur der größere Dieb im Vergleich kleineren Dieben in der Kolchose“:

O-Ton 10: Nikulin, Forts.        0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamy i ssostajannije…
„Deshalb ist die Euphorie der Gaidarschen Privatisierung und der Reformen im Agrarbereich vorüber. Jetzt verstehen alle, dass in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren die großen Betriebe der früheren Sowchosen und Kolchosen die wichtigsten Betriebe bleiben werden. Will man deren Lage skizzieren, dann muss man sagen: Seit 1990, in den Jahren des Chaos hat ungefähr ein Drittel seine Existenz aufgegeben, weil sie einfach alle bankrott waren. Die Menschen, die in diesen Sowchosen übriggeblieben sind, befinden auf dem Niveau der Naturalwirtschaft. Sie graben die Erde per Hand um oder wenn sie Glück haben, mit einem defekten Traktor. Das ist eine ziemlich primitive Art der Existenz.“
…ssuschustwawannije.“

Erzähler:
Bisheriger Tiefststand der Reformen wurde 1998/9 mit dem Vorpreschen des Gouverneurs von Saratow erreicht. Er erließ ein regionales Dekret über privates Eigentum an landwirtschaftlichem Boden im Bezirk und inszenierte eine landesweite Kampagne:

O-Ton 11: Nikulin, Fort.         0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Bili sosdani potschti….
„Es wurden Aktionen im ganzen Bezirk angesetzt. Aber das Resultat war ein Reinfall. Es fanden sich keine Käufer und jetzt kostet ein Hektar Boden in Saratow siebzehn Rubel; das ist ungefähr eine Mark und zwanzig Pfennig,  Jetzt ist es um die Kampagne still geworden. Nach ihrem Muster hat dann noch der Gouverneur von Tatarstan, Schamijew, einen ähnlichen Versuch gestartet. Der brachte ebenso wenig Resultate.“
…ni kakich ni prinislo.“

Erzähler:
Die Erklärung, die Alexander Nikulin für den Reinfall gibt, kennzeichnet den Stand der Entwicklung:

O-Ton 12: Nikulin, Forts.         0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja by skasal…
„Ich würde sagen, der Hauptgrund besteht darin, dass es nicht ausreicht, einfach nur Boden zu kaufen. Um ihn zu bearbeiten, braucht es Kapital, Technik, Infrasstruktur. Besitzer von einzelnen Landstücken sind in Russland nicht existenzfähig. Das ist das Erste. Das Zweite ist die gesetzgeberische Verwirrung: Die Dekrete der Gouverneure von Saratow und Tatarstan zum Beispiel sind aus Sicht der russischen Verfassung nicht gesetzmäßig. Da kann es geschehen, dass einem gemäß der Gesetze der russischen Föderation dieser Boden später einfach wieder abgenommen wird.“
… atbirut etu semlju. (Schnaufer)

Erzähler
Es entsteht ein düsteres Bild: Die Produktivität der Landwirtschaft ist seit 1990 um die Hälfte gesunken. Das Wort Katastrophe will der junge Forscher jedoch nicht zulassen: Das Volk hungere nicht, es gebe auch keinen Bürgerkrieg. Russlands Landwirtschaft sei immer noch in der Lage, seine Menschen zu ernähren, sie zu kleiden und sie TV schauen zu lassen. Auf diesem Niveau, wenn auch elend, erklärt er, könnten die Menschen lange Zeit existieren, ohne dass sie vollkommen untergingen. Schlimmer erscheint Alexander Nikulin die soziale Apathie, die aus der Untätigkeit des Staates resultiere, allgemeine Desorganisation, Depression, steigender Alkoholismus, Wachsen der Jugendkriminalität, Drogenkonsum. Kann Wladimir Putin in dieser Situation tatsächlich neue Impulse in der Agrarpolitik setzen und dabei Privatisierung, wie kurz nach seinem Antritt als Präsident versprochen, auch noch mit Patriotismus, also traditioneller Lebensweise verbinden? Auf diese Frage antwortet Alexander Nikulin:

O-Ton13: Nikulin, Forts.        0,51
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja tschesna skasatj…
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Moment ist nichts spürbar, was Putin in Bezug auf Privateigentum an grund und Boden unternehmen will. Ich würde aber auch sagen, selbst wenn ein solches Projekt verwirklicht wird, bedeutet das nicht automatisch den Sieg und die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft, sicher nicht. Letztlich wird das Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das bleibt Papier: Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen.“
…sluschitsja.“

Erzähler:
Andererseits, so Alexander Nikulin, habe Putin ja bereits entscheidend in die Entwicklung eingegriffen, allerdings in einer Weise, welche die Lage wesentlich verschlechtert habe:

O-Ton 14: Nikulin, Forts.        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wy snaetje, ja by…
„Putin erklärte, dass es nötig sei, die vertikale Staatsmacht zu stärken. In der Realität bedeutet das Re-Zentralisierung und eine erneute Stärkung Moskaus für alles und jedes. Es bedeutet, dass die Leiter der örtlichen Administration von oben eingesetzt und nicht mehr von der örtlichen Bevölkerung gewählt werden; zweitens bedeutet es, dass sich selbst das geringe Budget auflöst, das sie jetzt noch hatten; es wird von den Distrikten bestimmt. Die Jelzinsche Kampagne für die Selbstverwaltung war zwar nur eine ideologische, aber in diesem Rahmen konnte man etwas machen. Jetzt sind schon die ersten Monate unter Putin äußerst angespannt. Sie zeigen, dass auch eine gänzliche Beseitigung der örtlichen Selbstverwaltung möglich ist. Dazu kommt meine eigene Beobachtung, dass ohnehin im Vergleich zu der Zeit, als es die bäuerlichen Sowjets gab, jetzt die Bedingungen für örtliche Selbstverwaltung sehr viel schlechter geworden sind.“
…obschestwa.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf die entstandene Realität wirft, was Alexander Nikulin über den ökologischen Dienst zu erzählen hat, eine der neuesten Einrichtungen, die harmlosen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik vorgezeigt wird:

O-Ton 15: Nikulin, Forts.        0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dewonosti godi….
„In den 90er Jahren wurden nach westlichem Muster überall in den Regionen ökologische Dienste eingerichtet. Sie sind sehr strikt. Sie fordern die formale Einhaltung ökologischer Standards. Unter den Bedingungen Russlands ist eine Erfüllung dieser Standards nicht möglich. Kommt also ein Beamter des ökologischen Dienstes auf die Sowchose und sagt: `Sie müssen ausmisten, sie müssen die Wege pflegen, sie müssen dies und das!´ Der Direktor hat aber keine Kräfte und keine Mittel; es ist nicht real! – Da muss man dem ökologischen Dienst dann einfach „Wsatki“, geben, mit ihnen trinken, heißt das, sie verpflegen, ihnen Geld geben, damit sie dann wieder gehen. Der ökologische Dienst gilt deshalb als einer der schlimmsten Racketteure, Schutzgeldeintreiber, den die örtlichen Landgemeinen am meisten fürchten. So sieht es mit der Ökologie vor Ort aus.“
…na mestach.“

Erzähler:
Natürlich, so Alexander Nikulin, könne man das alles nicht über einen Leisten ziehen. Russland sei groß und die Verhältnisse von Region zu Region verschieden. Doch auch aus der Art der Unterschiede leuchtet eine gemeinsame russische Realität hervor:

O-Ton 16: Nikulin, Forts.         0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na premjer…
„Zum Beispiel der Norden Russlands ist gegenwärtig einer der ökologisch saubersten ländlichen Gebiete des Landes. Auf Grund der wirtschaftlichen Krise ist die einzige Schwierigkeit, welche die ländlichen Gebiete ökologisch wirklich belastet hat, nämlich die chemische Überdüngung, jetzt praktisch ganz zurückgegangen. Jetzt ist chemischer Dünger unglaublich teuer geworden und die Mehrheit der Regionen benutzt ihn überhaupt nicht mehr. In reichen Regionen wie zum Beispiel in Kuban fahren die starken Wirtschaften dagegen fort, in großem Maßstab mit chemischer Düngung zu arbeiten. Kuban hat eine der höchsten Krebsraten in Russland. Als Grund wird der völlig unkontrollierte Einsatz der giftigen Düngemittel angenommen. Auch hier kann man sich vom ökologischen Dienst durch wieder Geschenke loskaufen.“
…problem njet.“

Erzähler:
Auswege aus der Situation liegen nicht in einer weiteren Privatisierung, ebenso wenig wie im Widerstand dagegen, erklärt Alexander Nikulin. Sie liegen einzig und allein in der Anerkennung der Realität:

O-Ton 17: Nikulin, Forts.        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja….
„Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow ist ein großer russischer Agrarwissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts, der die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Diese Theorie ist eine Kombination, sagen wir, des Individuellen und des Kollektiven, wenn die einzelne Menschen in begrenzte kollektive Prozesse eingebunden sind, dabei in Prozesse, die man einschätzen, die man rationalisieren kann. Das ist nicht einfach nur die hehre Obschtschina und Sobornost, soziale und geistige Gemeinschaft, von der viele russische Nationalisten geschrieben haben. Die kann ich in der Realität nicht erkennen. Was ich in der  Realität aber sehe, ist die äußerst produktive, äußerst perspektivreiche, effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und in Abhängigkeit zur geografischen Lage, in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann es sehr viele unterschiedliche Kombinationen dieser Art geben. Sie bilden sich zur Zeit spontan und arbeiten in Russland. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlern, von Politikern, über sie nachzudenken, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen rationalen Entwicklung zu geben. Das erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
…perspektivni putj.“

Erzähler:
Hier aber zeigt sich das eigentliche Problem: Haupthindernis, das einer solchen Lösung entgegenstehe, fasst Alexander Nikulin seine Beurteilung der Lage zusammen, liege nicht in der Frage, `Privatisierung oder nicht?´, sondern in der Existenz einer landwirtschaftlichen Bürokratie, welche die Ressourcen für sich nutze und andere Entwicklungen nicht zulasse – und dies nach Wladimir Putins ersten Reformen noch schlimmer unter Jelzins Präsidentschaft:

O-Ton 18: Nikulin, Forts.        1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Bedarf zwischendurch hochziehen, am Ende hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Ja wam daju…
„Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel. In der Nähe des Ortes, wo ich arbeitete, gab es eine heruntergekommene Sowchose. Vor einem Jahr wurde dort ein neuer Vorstand gewählt. Und wie so oft in Russland, wo so viel von der Leitung, dem Hausherrn usw. abhängt, schaffte er es, die Situation der Sowchose merklich zu verbessern. Der zentrale Punkt seiner Reform bestand darin, dass er eben genau diese symbiotische Beziehung zwischen den großen Strukturen der Kolchose und den Interessen der Familien an privaten Wirtschaften herstellte: Ihm fiel es schwer, Lohn in Geld auszuzahlen, also ging er zu Zahlungen in Naturalien über – Korn usw., das die `Kolchosniki´ bekommen konnten. Merklich stieg der Stimulus für die Arbeit, die Margen für die Wirtschaftsleistung stiegen an, und die Leute spürten innerhalb eines Jahres, dass sie besser leben konnten. In derselben Zeit – wie das oft vorkommt in dieser Zeit bei Gebieten, die sich in einem verwahrlosten Zustand befunden haben – fanden sich auf dem Gebiet dieser Sowchose ein paar private Bauern ein, „ffektive Bauern“, Chef-Bauern: Einer von ihnen war der Leiter, der andere der Staatsanwalt des Distrikts. Formal sind sie Bauern, in Wirklichkeit muss diese arme Kolchose ihnen die Felder bestellen.  Der neue Direktor der Kolchose erklärte, dass sie die Felder nicht weiter für diese Chefs bearbeiten würden, sondern sich um ihre eigenen Felder kümmern wollten. Buchstäblich zwei Monate danach betrieben die Chefs gegen den Direktor ein Strafverfahren wegen nicht gezahlter Steuern und erklärten, dass sie ihn vor Gericht bringen und ins Gefängnis setzen würden. Und hier geschah es: Die Leute solidarisierten sich massenweise mit ihrem Vorstand. Sie erklärten, dass sie ihren Vorstand nicht herausgeben würden, sie versammelten sich zu Demonstrationen im Distriktzentrum. Da haben sie, was an starken Orten geschieht: Örtliche ländliche Gemeinschaft gegen örtliche Bürokratie. Das ist sehr gefährlich.“
… otschen apastna.“

Erzähler:
Gefährlich, erklärt Alexander Nikulin, weil solche Konflikte, die es auch an anderen Orten gebe, den Keim bewaffneter Auseinandersetzungen in sich trügen,. Das, betont er, wäre die wirkliche Katastrophe!
Mit dieser Sicht steht der junge Forscher nicht allein. Boris Kagarlitzki, einer der auch im Ausland bekannten Reformlinken, bringt das Problem der weiteren Privatisierung in der Landwirtschaft deshalb auf den einfachen Punkt:

O-Ton 19: Boris Kagarlitzki        0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, agrarni wapros…
„Nun die Agrarfrage, ist auch wieder so eine Sache. Gott sei Dank ist diese Anzahl unverständiger Leute, die in Russland den Boden privatisieren wollen, nicht so hoch. Was das Volk dazu denkt, auch die Agrarpartei oder die Kommunisten ist für die Regierung nicht wichtig. Wenn sie der Privatisierung des Bodens erste Priorität einräumen würde, dann könnte sie das ohne weiteres durchziehen. Notfalls kauft sie sich die nötigen Stimmen in der Duma, auch die der Kommunisten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Risiken in Bezug auf die Privatisierung des Bodens so hoch sind, dass sie jede Initiative auf diesem Gebiet bremsen.“
… we etom planje.“

Erzähler:
Ob Wladimir Putin bereit ist, angesichts dieser Situation mit neuen Initiativen zur Privatisierung durchzustarten, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass die Realität, welche Forscher wie Alexander Nikulin beschreiben, sich still und stetig im Lande verbreitet – vielleicht sogar mit stillschweigender Billigung des neuen Präsidenten. Das wäre die pragmatische und friedlichere Variante.

Warum Russland nicht verhungert – Russlands andere, extrapolare Ökonomie.

Seit über einem Jahrzehnt wird in Russland privatisiert. Es entwickelt sich aber nicht, was sich nach dem Willen der westlich orientierten Reformer entwickeln sollte. Zwar gibt es inzwischen Privateigentum, aber die kollektiven Strukturen leben weiter; zwar gibt es einen Markt, er funktioniert aber nicht nach den bekannten Gesetzen des westlichen Kapitalismus. Kritiker sprechen von „Kapitalismus im Übergang“, von Chaos und Mafia. Eine Dauerkrise hat das Land erfasst. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet und ächzt – der immer wieder vorhergesagte endgültige Zusammenbruch aber ist bisher trotz all dem ausgeblieben. Neuerdings sind russische Ökonomen zu hören, die diesen Zustand Russlands nicht als Schwäche, sondern als Spezifikum ihres Landes zu beschreiben versuchen. Wortführer dieser Richtung ist Teodor Schanin, Professor der Ökonomie. Als Rektor einer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau und zugleich langjähriger Professor für Ökonomie an der Universität von Manchester in England ist er der Kopf eines wissenschaftlichen „joint venture“, das russische Realität und westliche Methodik in einem neuen Forschungsansatz zu verbinden versucht.

Teodor Schanin hat soeben einen umfangreichen Band mit Forschungen zum Stichwort einer „Informellen Ökonomie“ in Russland  herausgegeben. Auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, antwortet er:

O-Ton 1: Teodor Schanin 2,30

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„One has to begin…

„Man muss mit einem Paradoxon beginnen: Das Paradox besteht in der sozialen und wirtschaftlichen Existenz der Mehrheit der Menschen Russlands. Nach den meisten offiziellen Statistiken ist die Produktion innerhalb von zehn Jahren auf mehr als die Hälfte gesunken. In der Landwirtschaft ist es sogar noch schlimmer. Aufs Ganze gesehen, ging die Wirtschaft um die Hälfte zurück. Der Niedergang ging einher mit einer Polarisierung: Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Unter solchen Bedingungen müsste theoretisch gesehen die Hälfte der Russen hungern, die Versorgung in den meisten russischen Provinzen müsste zerstört sein, die Kinder müssten barfuss und ohne Schulunterricht herumlaufen etc. Wenn Sie aber hinkommen – nicht nach Moskau, das ist sowieso eine Insel – sondern in die Provinzen, dann funktioniert das gesamte soziale System, die Schulen arbeiten, mit unterbezahlten oder ganz unbezahlten Lehrern, aber sie arbeiten, die Polizei operiert, sie operiert nicht gut und sie ist korrupt, aber sie operiert, alle Dienste funktionieren und es gibt keine Anzeichen von Hunger – und Hunger ist nun einmal eins der wenigen Dinge, die extrem schwierig zu verstecken sind. Es ist klar, dass man in jeder Gesellschaft einen gewissen Prozentsatz von marginalisierten Menschen findet, die Paupers sind, aber die findet man auch in New York. Diese Armen, diese Obdachlosen usw. sind ein Problem, sie sind aber nicht das spezielle Problem unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass diese russische Gesellschaft in einem viel schlechteren sozial-wirtschaftlichen Zustand sein müsste, als sie es nach dem, was wir von staatlichen und nicht-staatlichen Statistiken wissen, tatsächlich ist. Der einzige Weg zu erklären, was da geschieht, ist anzunehmen, das es da eine Komponente gibt, die in unserer Analyse fehlt. Ich denke, diese Komponente die entdeckt wurde, lange bevor die Russen darauf  kamen, ist das, was als informelle Wirtschaft definiert wurde.“

…informal economy.“

Erzähler:

Er selber, fügt er hinzu, spreche lieber von extrapolar. Entdeckt, wie der Professor es nennt, wurde die Komponente der informellen Wirtschaft in Ländern der sog. Dritten Welt, in Afrika, in Südamerika, in Indien und Asien. Aber auch im Westen, etwa in Italien wurden Elemente dieser Wirtschaftsweise aufgedeckt. Im Wesen geht es, so Prof. Schanin, um sozialwirtschaftliche Strukturen von Bauernwirtschaften, die sich in industriellen Gesellschaften oder in Sektoren von ihnen wiederfinden. Das gilt natürlich besonders für ein Land wie Russland, das zu Zeiten der Revolution von 1917 noch zu 80% landwirtschaftlich strukturiert war, das noch jetzt zu über 50% dörflich, ja teilweise sogar nomadisch lebt, wobei von den 50% städtischer Bevölkerung über dies hinaus noch gut die Hälfte von direkten Beziehungen zum Dorfe oder zum Kleingartenbesitz auf dem Lande lebt.

Gefragt, was man sich unter einer „informellen“ Wirtschaft vorzustellen habe, antwortet Professor Schanin:

O-Ton 2: Prof. Schanin, Forts.                1,50

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„It is an economy…

“Das ist eine Wirtschaft, die nach anderen Prinzipien arbeitet als die kapitalistische, aber auch als die Staatswirtschaft: Eine Wirtschaft, bei der das Ziel eher im Überleben besteht als in der Akkumulation von Kapital; entsprechend geht es oft eher um eine Maximierung des Nutzens der Arbeit, als um eine Maximierung von Profit. Es ist ein System, in dem der formelle Aspekt des Systems, die legale Struktur, eine weitaus geringere Rolle spielt als Verwandtschaft oder ethnische Beziehungen, wo die Durchsetzung von Verträgen, die in normalen kapitalistischen Ländern durch Gesetz, Gerichte und Polizei vollzogen wird, in einer sehr anderen Art vor sich geht. Die Durchsetzung erfolgt zum Beispiel durch Loyalitäten innerhalb der Familie, über Gefühle der Verantwortung gegenüber der ethnischen Gemeinschaft: „Ein Asari benimmt sich nicht so!“ oder so ähnlich. Die ganze Logik des Funktionierens ist eine andere. Dieses System verbirgt sich bis zum Punkt des Verschwindens, es ist teilweise schwarze Wirtschaft, es ist eine Wirtschaft, die sich den Steuern entzieht oder auch graue Wirtschaft, von der man nicht recht weiß, ob sie steuerlich erfasst werden sollte oder nicht. Noch wichtiger aber ist: Es ist verborgen, weil nicht die richtigen Fragen gestellt werden. Der beste Weg, Dinge nicht zu erkennen ist nun einmal, nicht nach ihnen zu sehen, analytisch verstanden.“

…not to look for them, analyticly.“

Erzähler:

Was Prof. Schanin jetzt theoretisch zu erfassen sucht, ist für russische Praktiker, also Manager, Geschäftsleute, Wirtschaftsbürokraten schon lange Realität. Sie unterscheiden zwischen westlichem Modell der Reform und „realer Wirtschaft“. Jussef Diskin etwa, Assistent des Direktors am „Institut für sozial-ökonomische Probleme des Bevölkerung“, welches regelmäßige Untersuchungen für die russische Zentralbank durchführt, zugleich auch Manager bei „Sib-Neft“, einer der großen Ölkonzerne des Landes, erklärt schon vor dem großen Bankenkrach im April 1997 im Ton größter Selbstverständlichkeit:

O-Ton 3: Jussef Diskin 1,11

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Übersetzer:

”Nu, jesli goworits stroga…

„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: dass es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt“

…rossiski ekonomiki.“

Erzähler:

Feudale Überbleibsel – damit ist gemeint: Keine vollkommene Geldwirtschaft, kein funktionierender Lohn-Ware-Kreislauf, kein offener Markt, auf dem sich Individuen als Käufer und Verkäufer begegnen, stattdessen Regelung des Lebens – Arbeit, Versorgung, Kultur – in den eng gezogenen Grenzen patriarchaler sozialer oder ethnischer Beziehungen. Einen tiefen Einblick in diese Struktur liefert der Wirtschaftsriese  „Gasprom“, auf deutsch: der Gas-Gewinnungs-Komplex. Ausgerechnet in den Strukturen dieses international organisierten russischen Multi, der 35% des Weltgasaufkommens kontrolliert und verschiedene Niederlassungen in  westlichen Ländern hat, treten heute die Elemente der von Diskin beschriebenen Verhältnisse besonders deutlich zutage. Sergei Sergejewitsch, ein leitender Mitarbeiter des Konzernes, skizziert das Finanzgebaren des Multis, stellvertretend für die russische Wirklichkeit, mit den Worten:

O-Ton 4: Sergej Sergejewitsch, „Gasprom“                            0,36

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Idjot wechselej..

„Verrechnungen laufen über Wechsel, über gegenseitige Verschuldung, über einfachen Warenaustausch oder auch über primitivsten Austausch von Privilegien, also etwa: `Wir veranlassen den Leiter dieser oder jener Branche loyal gegenüber der Administration zu sein und sie berechnet uns weniger Steuern.´ So treten alle auf. Gasprom ist keine Ausnahme.“

…nje isklutschennije.“

Erzähler:

„Gasprom“ gilt im Lande geradezu als Synonym für informelle Strukturen: Er ist die undefinierbare Mischung zwischen privaten und öffentlichen Interessen. In ihm wird informelle Wirtschaftsweise exemplarisch erkennbar. Zu seiner Beschreibung greift Sergej Sergejewitsch sogar zu Begriffen Teodor Schanins:

O-Ton 5: Sergejewitsch, Forts.                                                 0,35

Regie: O-Ton von kürzer stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:

„Prinzipje wy prawi…

„Im Prinzip haben Sie recht, obwohl in Gasprom auch andere Gesetze wirken. In den unteren Schichten der Bevölkerung überlebt man ja vielfach auf Grund dessen, was der englisch-russische Ökonom Teodor Schanin, glaube ich, trans- oder extrapolare Ökonomie genannt hat, also eine Wirtschaft, die außerhalb der klassischen Schemata liegt.“

…schema

Erzähler:

Viele kleine Gruppen, fährt Sergej fort, auf dem Dorf, in der Familie, ganze Zusammenhänge von Familien, Clanverwandte usw. könnten nur durch gegenseitige Hilfe überleben. Menschen in der Provinz, die Kinder in Moskau haben, überlebten nicht mit Geld, sondern mit den Produkten, welche die Kinder ihnen brächten. Umgekehrt unterhalte eine Gruppe Verwandter Garten, Kühe, Schweine, arbeite rund um die Uhr, nur damit ihre Kinder in Moskau eine Ausbildung erhalten könnten. Dies alles funktioniere großenteils ohne Geld. „Gasprom“, obwohl ein internationaler Konzern, sei wohl Teil dieser Struktur:

O-Ton 6: Sergejewitsch, Forts.                                                  0,40

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Schto kassajetsja…

„Was die transnationalen Aktivitäten betrifft, so handelt Gasprom wie eine normale, europäische, westliche Korporation. Was Gasproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nur indirekt Teil der `extrapolaren Wirtschaft´, aber über diese Beteiligung ist Gasprom doch gezwungen, sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“

…rossiskuju spezifiku.“

Erzähler:

Mächtigen theoretischen Beistand erfährt die Moskauer Schule Teodor Schanins durch Tatjana Saslawskaja, Stichwortgeberin der neuen nachsowjetischen russischen Soziologie. Aus der von ihr begründeten Nowosibirsker Schule war bereits Anfang der 70er Jahre des eben zuende gegangenen Jahrhunderts zu hören, die Wirtschaft Russlands werde sich irgendwie zwischen Kapitalismus und Sozialismus in neuen, nicht gekannten Formen entwickeln. In einem ihrer ersten Bücher,  unter dem deutschen Titel „Die Gorbatschow-Strategie“, schrieb sie 1988:

Zitatorin:

„Das beschriebene System stellt eine Art Hybridprodukt aus dem zentralisierten planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen System dar, wobei es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird, sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.“

Erzähler:

Allen diesen Positionen, wie ungewöhnlich sie für westliche Ohren, wie provokativ sie für die westlich orientierten russischen Reformer bereits klingen mochten, war jedoch noch eines gemeinsam, die Beurteilung der Situation als Mangel, als vorübergehende Erscheinung, als Zustand, der früher oder später in ein entwickelten Marktsystem übergehen oder sich doch mindestens den westlichen Modellen angleichen müsse. Frau Saslawskaja sprach – nach Abwendung von Michail Gorbatschow und in offener Kritik an Boris Jelzin – Mitte der 90er sogar von einem „Monster“, das einen kriminellen Staat und eine kriminelle Gesellschaft hervorgebracht habe.

Mit Teodor Schanin gehen russische Analytiker nun dazu über – theoretisch – die Unfähigkeit Russlands zur glatten Übernahme westlicher Modelle nicht mehr als nur als Versagen, sondern als einen Schritt zu einer anderen, eigenständigen Entwicklung zu begreifen.

Entsprechend weist Professor Schanin daher inzwischen Fragen danach, wie es zu der „informellen Wirtschaft“ kommen konnte, als ärgerliche und irreführende Dummheit zurück:

O-Ton 7: Prof. Schanin, Forts.                                           2,08

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Well, first I think…

„Nun, zunächst glaube ich, dass die Formulierung „es kam von etwas“ nicht sehr nützlich ist. Die Idee, die hinter dieser Frage steht, ist doch die Vorstellung, dass es eine Krise gegeben hat und dass sich diese Formen als Ergebnis dieser Krise entwickelt haben. Die Frage kommt nach dem Motto: Gib uns einen Tag, an dem diese verdammte Sache anfing! – Und dann war es natürlich, als Gorbatschow anfing dumm zu werden, oder vielleicht nicht Gorbatschow, sondern jemand anders, Jelzin und seine Leute: sie haben eine schreckliche Unordnung hervorgebracht, sodass wir jetzt diese vielen Methoden haben, wie Leute unterwegs sind, merkwürdige Dinge tun, um zu überleben usw.

So ist es aber nicht. Tatsächlich ist es so, dass informelle Wirtschaft schon vorher in der Sowjetunion und davor schon im zaristischen  Russland existierte. Sie hatte unterschiedliche Namen und sie hatte unterschiedliche Formen. Jeder Russe kennt „Blat“, Beziehungen. Zu Sowjetzeiten gab es ein russisches Sprichwort, sehr wichtig: „Blat wische Sownarkoma“; auf deutsch, Beziehungen stehen über dem „Obersten Rat der Volkskommissare“. Die Alltagsmacht auf dem Land, heißt das, war „Blat“, nicht die Partei. „Blat“ ist der informelle Weg, wirtschaftliche Probleme außerhalb der offiziellen Wege zu lösen. Ohne „Blat“ wäre die sowjetische Regierung kollabiert, denn „Blat“ hat sehr viele Probleme gelöst, so wie die informelle Wirtschaft sehr viele Probleme löst. Es ist wichtig zu begreifen, dass informelle Wirtschaft nicht einfach irgendeine grauenhafte Situation ist, in der die Menschen sich befinden. Es ist eine Methode, eine ganzer Satz, ein ganzes System von Methoden, dringende Probleme zu lösen, um das Leben für Menschen erträglich zu machen, die andernfalls doch verhungern würden.“

…otherwise would starve.“

Erzähler:

Folgerichtig möchte Prof. Schanin Kennzeichnungen wie Schattenwirtschaft, graue Wirtschaft, Mafia, die bisher zur Beschreibung der Wirtschaft Russlands benutzt wurden, selbst die der  „realen“ und der „informellen“ Wirtschaft, obwohl sie ihm selbst immer noch wieder unterlaufen, als unzureichend hinter sich lassen. Sie alle, so Prof. Schanin, wiederholten immer nur die Beschreibung des Mangels. Auch der Begriff des „informellen“ beinhalte letztlich nur die Negation formellen, staatlichen, lasse aber keine eigene Struktur erkennen. Schon im gewählten Begriff, den man wähle, müsse erkennbar werden, dass es bei dem, was sich heute in Russland entwickele, nicht um eine mangelhafte, unentwickelte, demnächst überwundene, sondern um eine andere Wirtschaftsweise gehe:

O-Ton 8: Schanin, Forts.                                                     2,06

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„My termin is…

“Mein Begriff ist „expolare Wirtschaft“. Ich habe es so gesagt: Die meisten Wirtschaftsweisen, die wir kennen, basieren auf zwei Modellen; das eine ist das der kapitalistischen Wirtschaft, Markt usw.Wir kennen dieses Modell sehr gut, denn das ist es, was wir an unseren wirtschaftlichen Fakultäten überall auf der Welt unterrichten. Das zweite Modell ist die Staatswirtschaft. Das kennen wir weniger, aber wir kennen es doch immerhin. Die Erfahrung der Sowjetunion hat uns reichlich viel darüber gelehrt. In der ganzen Welt neigt man dazu zu sagen, es ist entweder so oder so oder irgendeine Mischung dazwischen und man kann alle Länder der Welt entlang einer Skala zwischen diesen Extremen auflisten, die klare Modelle sind. Wenn es eine Krise einer mehrheitlich marktorientierten Wirtschaft gibt, dann stützt der Staat, wenn die Staatswirtschaft nicht läuft, dann geht es anders herum. Zur Zeit leben wir in einer Phase, in der die Krise der Staatswirtschaft eine Wirtschaft des freien Marktes fördert, aber in einer ganzen Reihe von Ländern kann man bereits eine Rückbewegung beobachten. So hat man Pole und Pendel als ein Modell! Das sieht alles extrem einfach aus, es ist aber auch alles, was wir in unserem Verständnis von Wirtschaft haben. Mein Punkt ist, dass der größte Teil der realen Wirtschaft von wirklichen Menschen, die ihr Leben in dieser oder jener Weise führen, außerhalb dieser Pole verläuft,  außerhalb dieses Pendel und außerhalb dieser Skalen. Man muss sie nicht irgendwo unterbringen – vielleicht mehr Markt oder vielleicht mehr Staat? Nein, sie ist anders, sie passt nicht in dieses Modell. Und weil sie nicht in dieses Modell passt, sehen die Menschen sie nicht.“

… people don´t see it.“

Erzähler:

Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert:

O-Ton 9: Schanin, Forts.                                                             2,34

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„It´s economy favours…

„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst: Ich tue dir einen Gefallen, ich bin Kartenverkäufer im Theater; ich bin Dir gefällig, Karten für das Theater zu bekommen; Du hilfst du mir, meine Tochter in die Universität zu hieven, in die sie gehen möchte. Es ist oft sehr viel komplizierter, es ist natürlich nicht nur gegenseitige Gefälligkeit zwischen zwei Menschen, es ist oft ein System von gegenseitiger Gefälligkeit zwischen Dutzenden von Menschen, von denen jeder irgendetwas an jeden gibt. Es wäre aber auch nicht richtig, dies als Markt der Gefälligkeiten zu bezeichnen, denn Markt ist ein Vorgang, bei dem es ein Äquivalent gibt, über das man Dinge austauscht, nämlich Geld. So ist es nicht. Es ist ein nicht-äquivalenter Austausch, denn Du selbst bestimmst, was äquivalent ist; du selbst sagst: Eine Karte für einen Platz in der Universität. Es gibt keine Gelddefinition davon; du weißt nicht, ob es korrekt ist. Es spielt keine Rolle, ob es gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. Und wie ich sagte, wie nannten es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht : Schieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen. Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“

… will stop.“

Erzähler:

Expolare Wirtschaft, so Prof. Schanin ist eine symbiotische Wirtschaft. Sie verbindet Kapitalismus und Sozialismus, Staatswirtschaft und nicht-staatliche Formen der Wirtschaft, Groß-Betriebe und Familienwirtschaft, bäuerliches und industrielles Arbeiten miteinander. Vor allem aber ist sie kein theoretisches Modell, sondern Ausdruck gewachsener Kultur, Geschichte, Mentalität und besonderer Gemeinschaftsstrukturen der Völker und Länder:

O-Ton 10: Schanin, Forts. 1,39

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Übersetzer:

„It´s a relationship…

„Es ist die Beziehung, die durch Werte definiert ist, durch Konzeptionen von Ästhetik, von Eigentum usw. – was eben Kultur ist. In diesem Sinne wird die Übertragung und die Funktionalisierung dieser Formen durch kulturelle Muster verstärkt. Das ist der Grund, warum verschiedene extrapolare Wirtschaftsweisen verschieden ablaufen. Ich meine, selbst wenn ähnliche Probleme existieren und wenn vergleichbare Anstrengungen unternommen werden, nimmt die expolare Wirtschaftsweise in verschiedenen Ländern verschiedene Form an. In einer Gesellschaft, die streng familistisch ist, in der die Familie also einen extrem hohen Wert besitzt, läuft sie auf die eine Weise, in Gesellschaften die sehr viel individualistischer sind, wird sie anders ablaufen. In Russland gibt es Gruppen, ethnische Gruppen, nicht Russen, die nach familistischen Prinzipien organisiert sind und wenn jemand dazukommt, der nicht da hineinpasst, also kein Verwandter ist, dann wird er zum Verwandten gemacht. Entweder man heiratet ihn oder er wird zum Verwandten definiert: `Er ist wie ein Neffe für mich´, sagen die Leute. `Er ist wie ein Bruder für mich.´ Was tun sie? Sie nehmen ihr kulturelles Modell und packen die Dinge dort hinein. Diese Struktur der Definitionen hilft den Menschen, eine informelle Wirtschaftsweise zu betreiben.

…to do informal economy.“

Erzähler:

Eine allgemeine Renaissance der „Obschtschina“, der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft, wie sie von vielen russischen Patrioten erwartet wird, hält Prof. Schanin allerdings für illusorisch. Als Lebenszusammenhang, der staatliche Verwaltungseinheit und dörfliche Hilfsgemeinschaft zugleich war, habe sie die Interessen von oben mit denen von unten zum gegenseitigen Nutzen verbunden. Das sei der Entwicklung extrapolarer Wirtschaftsformen sehr förderlich gewesen. Die Zwangskollektivierung während der Sowjetzeit, neuerdings die Privatisierung habe dieses Gleichgewicht zerstört:

O-Ton 11: Schanin, Forts.                        1,10

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Übersetzer:

„To which extent the peasants…

„In welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben, ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, also Süd-Westrussland zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein Aktiengesellschaft-Dorf, das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt, aber es ist exakt dasselbe: Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft. Das entwickelt sich teils wegen der Krise so, teils wegen der demografischen Situation, dass nur noch alte Leute im Dorf sind. Als Einheit der gegenseitigen Hilfe ist die Obschtschina jedoch gestorben.“

…unites people operating together.“

Erzähler:

Wichtiger für die Herausbildung extrapolarer Wirtschaftsweisen als die traditionellen Gemeinschaftstrukturen ist nach Teodor Schanins Ansicht der Globalisierungsprozess, der heute auch Russland erfasst hat. Er lasse nicht nur in Russland, sondern überall auf der Welt Elemente der extrapolaren Wirtschaft entstehen:

O-Ton 12: Schanin, Forts. 1,19

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Übersetzer:

„Well, there is no doubt…

„Es gibt keinen Zweifel daran, dass es ein Wachstum globaler Verbindungen gibt. Es gibt auch, aus meiner Sicht, keine Zweifel daran, dass dieser Prozess Nachteile für mehr als die Hälfte der Menschheit bringt. Informelle Wirtschaften sind kein Produkt der Krise, aber die Krise entwickelt sie. Ich glaube, dass Globalisierung und globale Wirtschaft weitere Krisen hervorruft, weil sie Polarisierungen einführen. Die Globalisierung führt dazu, dass es immer mehr Orte, Räume, Lebenszusammenhänge gibt, die ohne Geld auskommen müssen. Es entstehen Inseln der Globalisierung und die Zahl dieser Inseln nimmt zu und wird weiter zunehmen. Der einzige Weg, um das Anwachsen dieser Inseln zu verringern, die ausgeschlossen sind vom allgemeinen Wohlstand,  besteht darin, die Globalisierung zu stoppen.“

…stop globalisation.“

Erzähler:

Dies sei möglich, setzt er hinzu, weil die Globalisierung an ihren eigenen inneren Widersprüchen in die Krise komme.

Untermauerung seiner Ansichten wachsen dem Professor aus der von ihm geleiteten „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ zu. Sie schickt ihre Absolventen zu  Feldforschungen für längere Zeit direkt in die Untersuchungsgebiete, Sowchosen, Kolchosen – kollektiven Landwirtschaftsbetrieben – Fabriken, Städten, Regionen.

Da ist zum Beispiel der junge Alexander Nikulin, der soeben von halbjährigen Studien aus dem Süden Russlands zurückkehrt. Er berichtet über Experimente im Gouvernement Saratow, wo die Administration versucht hat, die Privatisierung im Agrarbereich durch große Auktionen voranzutreiben, in denen der Bevölkerung Land zum Kauf angeboten wurde – es kaufte niemand. Der Masse der Landbevölkerung fehlt sowohl das nötige Geld als auch die Motivation. Private Bauern sind unter den heutigen Bedingungen Russlands nur in Ausnahmen existenzfähig. Was dagegen um sich greift, sind Formen der Integration von Familien- und Großwirtschaft. Anders als sein abgeklärter Lehrer, der sich mit Prognosen zurückhält, wagt der junge Nikulin daher eine Perspektive zu formulieren:

O-Ton 13: Alexander Nikulin                  1,26

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Übersetzer:

„Mnje predstawlajetsja…

„Ich stelle mir vor, dass für Russland heute das Modell Tschejanows aktuell ist. Tschejanow ist der große Agrarsoziologe des zwanzigsten Jahrhunderts, der eine Theorie der wirtschaftlichen Kooperativen ausgearbeitet hat. Das ist die Theorie der Kombination des, sagen wir, Individuellen mit dem Kollektiven, wenn einzelne Persönlichkeiten in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind. Das ist nicht einfach die wundersame Obschtschina. Der Idee der Obschtschina, wie sie von vielen russischen Nationalisten ausgemalt wird, stehe ich skeptisch gegenüber. Aber was ich doch in der Wirklichkeit sehe, ist eine äußerst effektive und äußerst produktive Kombination zwischen Persönlich

-Familärem und Großbetrieblich-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und entsprechend den geografischen oder ökomischen Entwicklungsbedingungen kann es sehr viele solche Kombinationen geben. Die entstehen gegenwärtig spontan in Russland und sie arbeiten. Die Aufgabe der Wissenschaftler, die Aufgabe der Politiker besteht darin, sie zu studieren, über sie nachzudenken und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wirklich vernünftig zu entwickeln. Das

erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“

..otschen perspektivno putj.“

Erzähler:

Wohin sich das Blatt tatsächlich wendet, ist offen. Regierung und Internationaler Währungsfond, an dem auch unter Wladimir Putins Führung die russische Politik ausgerichtet wird, sind an den Erkenntnissen über den expolaren Charakter der russischen Wirtschaft, so Teodor Schanin, nicht interessiert; sie orientieren auf kurzfristige Gewinne. Was die Menschen betrifft, die tatsächlich unter der Krise leiden, so sind sie damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren. Die Wirklichkeit, scheint es, muss ihre eigene Überzeugungskraft entfalten. Da bleibt nur die Hoffnung, dass die Wirklichkeit letztlich stärker ist als alle Modelle.

Russland: Chancen für die Radikalen?

O-Ton 1: Megaphon-Agitation                    16,B,194
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Moskau. Meeting vor Moskaus größtem Betrieb, der Autofabrik SIL. Die radikale Gewerkschaft „Saschita“, Schutz agitiert gegen die Sozialpolitik unter Präsident Putin: Entlassungen, nicht gezahlte Löhne, der Abbau der betrieblichen Sozialfonds, die drohende Einschränkung von Rechten für die arbeitende Bevölkerung durch die beabsichtigte Neufassung des Arbeitsgesetzes sind ihre Themen. Dazu der für das Jahr 2004 befürchtete „technische GAU“, der Zusammenbruch der technischen Infrastruktur, wenn weiterhin nichts in deren Modernisierung investiert wird. Die „Föderation freier Gewerkschaften“ unternimmt öffentlich nichts dagegen; Anfang der 90er als radikale Protestbewegung entstanden, ist sie inzwischen selbst Staatsgewerkschaft, die sich mit der Regierung arrangiert.
Jetzt sind es kommunistische Kräfte, die den Protest organisieren:
Megaphon allmählich ausblenden
Erzähler:
Das Misstrauen ihnen gegenüber ist groß. Gut fünfzig Menschen haben sich direkt auf dem Platz versammelt. Arbeiter von SIL beobachten von der anderen Straßenseite her:

O-Ton 2: Arbeitergruppe                        16,B, 219
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Megaphon, Stimme: „Dasche nemnoschko…
„Ein bisschen albern das alles“, meint einer. „Da schicken sie Pensionäre hierher zum Meeting! Ist doch uninteressant. Sind ja auch kaum Leute da, obwohl man reichlich Flugblätter verteilt hat.“

Regie: Andere Stimme

Erzähler:
„Die Arbeiter glauben das einfach nicht mehr“, meint ein anderer.
„Lohn für unsere Arbeit brauchen wir“, meint ein dritter, „mehr nicht; und anständige Arbeitsbedingungen, dass wir Menschen sein können.“
245 (338)….bili ludmi ..megaphon

Regie:Megaphon abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden
Mit O-Ton 3

Erzähler:
Sergei Trochin, Arbeiter bei SIL und Mitbegründer der dortigen Betriebsgruppe von „Saschita“ lässt sich durch solche Kommentare nicht beirren. So etwas sei heute üblich, meint er. Dass die Kollegen aber überhaupt wieder zum Meeting herauskämen, kündige eine neue Qualität von Protesten an. Die Zeit werde es zeigen:

O-Ton 3: Serge Trochin, Aktivist von „Saschita“              14/B/245
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Na sawodje my stolknulis…
Sie seien in der Fabrik mit einer paradoxen Situation konfrontiert, erklärt er. Die Kollegen seien nach wie vor Mitglied der etablierten Gewerkschaft, mit Fragen jedoch kämen sie zu ihnen.
268  verlegenes Lachen,  …prichoditsja k`nam.“

Erzähler:
Grund für diese Entwicklung, so Sergei: Die etablierten Gewerkschaften sind für die Arbeiter lebenswichtig, solange sie die betrieblichen Sozialfonds verwalten. Jetzt stellt die Regierung diese Funktion der Gewerkschaft in Frage. „Saschita“ dagegen hat politische Ziele, unter anderem ruft sie zum Widerstand gegen eben diese Pläne der Regierung auf. Die Betriebsgruppe von SIL gibt ein monatliches Flugblatt heraus:

O-Ton 4: Sergei Trochin, Forts.                14/A/308
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Listok wosnamnom…
„Das Flugblatt sei natürlich den Vorgängen in der Fabrik gewidmet, erklärt Sergei, aber es kommentiere sie so, dass die Menschen zu denken begännen. Das sei das Wichtigste.“
322 …ludej dumat.“

Erzähler:
Denken, das heißtz für Sergei an die Zukunft denken:
Zwar habe sich die Lage unter Putin ein wenig beruhigt. Zwar werde in einigen Betrieben wieder regelmäßig Lohn gezahlt. Erstens aber geschehe das selbst in guten Betrieben auf niedrigstem Niveau, schlimmer sei aber zweitens, dass Gewinne weiterhin nicht investiert, sondern privatisiert würden.

O-Ton 5: Sergei Trochin, Forts.                     14, B,490
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Sdjes wosmoschno dwa…
Sergei sieht zwei Varianten: Einen weichen Kurs der Regierung, das bedeute ständige kleinere Kämpfe wie in allen zivilisierten Ländern, dann dauere die Modernisierung vielleicht 50 Jahre. Oder die Regierung ziehe ihr Programm durch, also Abbau der Sozialfonds bei Fortsetzung der Privatisierung, dann werde es zu Konflikten mit der Arbeiterschaft kommen, die sich wehren müsse, denn letztlich gehe alles durch ihre Hände. Auch alle Mängel der Maschinen, setzt Sergei noch hinzu, da gebe es nichts zu verbergen.
123 … nitsche ne skeowisch.“

Arbeitskämpfe in Russland2

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4.5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Arbeitskämpfe in Russland

Arbeitskämpfe begleiten die Entwicklung des neuen Russland, seit Michail Gorbatschow sie Ende der 80er legalisierte. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Streikbewegung im Sommer 1998, als Grubenarbeiter der sibirischen Region Kusbass, unterstützt durch streikende Lehrer, Schüler und Studenten, die Gleise der transsibirischen Eisenbahn und die große Ost-West-Magistrale des Fernverkehrs durch Besetzung blockierten. Ihre wichtigste Forderungen lautete: „Nieder mit Jelzin!“ Wie entwickeln sich die Arbeitskämpfe heute, nachdem Jelzin den Weg für seinen Nachfolger Putin freigemacht hat? Kai Ehlers hat sich im Lande umgehört.

O-Ton 1: „Miting“ vor der Fabrik S.I.L.        1,00
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Regie-Stichwort: „Megaphon“ vorübergehend hochziehen, abblenden

Erzähler:
Straße, Megafon „Daragie Tawarischtschi…
Moskau. „Miting“ auf einem Platz nicht weit von den Toren des Automobilwerkes S.I.L., der „Fabrik namens Lichatschows“. Mit ca. 23.000 Beschäftigten ist es das größte Werk Moskaus. Es gilt als das Paradebeispiel für Bürgermeister Luschkows Wirtschafts- und Sozialpolitik: 1996 erwarb die Stadt Moskau die Mehrheit der SIL-Aktien, um den drohenden Bankrott des Werkes abzuwenden. Seit die Stadt Haupteigentümer des Werkes ist, ist der vormalige monatelange Zahlungsverzug beim Lohn auf gelegentliche Verzögerungen zurückgegangen. Mit einem durchschnittlichen Lohn von 2500 Rubel, das sind  fünfundzwanzig Deutsche Mark und Hilfsarbeiterlöhnen bei 1000 Rubel, also ca. 10 Mark, liegen die Löhne jedoch immer noch am Existenzminimum:
Megaphon

Erzähler:
Zum „Miting“ aufgerufen hat die „Russische Kommunistische
Arbeiterpartei“.

O-Ton 2: Miting. Forts.    2,15
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, bei „Rossiski kommunistitschiski“ kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, unter Erzähler auslaufen lassen

Erzähler:
„Rossiskki kommunistitscheski…
In einem Flugblatt Nr. 88, das die Redner in immer erneuten Varianten kommentieren, wendet sie sich an die Arbeiter und Arbeiterinnen der Automobilfabrik:

Zitator:
„`Towarischtschi´, Kollegen Genossen der Automobilfabrik!
Beim Überschlagen der Ausgaben für die Sommerferien und für die Schule unserer Kinder sehen wir, dass die Preise aufs Neue für alles gestiegen sind. Die Regierung aber redet uns hartnäckig die Notwendigkeit der Verteuerung der Mieten, der kommunalen Gebühren, der Heizung, des Verkehrsmittel, des Benzins und der Preise ein.
Glauben Sie, dass die gegenwärtige Regierung Ihre Interessen schützt und nicht die der Eigentümer? Welche Art Eigentümer sehen wir heute? Alles, wozu sie in der Lage sind, das ist: Staatliches Eigentum in ihre Taschen zu schaffen, es gnadenlos auszubeuten, ohne einen Pfennig für Renovierung und Entwicklung zu vergeuden (Beispiele: Fabriken und Ölgewinnung, Schiffe und Fernsehtürme) und wenn eine Katastrophe geschieht, die Kräfte des Staates dorthin zu werfen, die Armee, den Katastrophenschutz, Mittel und Budgets, das heißt, unser aller hart erarbeitetes Geld. Für die größten Bourgeois von ihnen hat die bourgeoise Regierung die Steuern soeben um das Dreifache gesenkt (von 30% auf 13%).
Finden Sie nicht, Kollegen, dass es schwer ist, all diese „Borrissowitsche“ und „Abramowitsche“ im Nacken zu haben? Wenn sie es nicht schwer finden, dann gehen sie ruhig an den Mitings und den Mahnwachen vorbei. Wenn diese Last Sie aber körperlich oder moralisch bedrückt, dann schließen Sie sich dem allgemeinen Kampf der Arbeiter für ihre Rechte an.“
abebbendes Megaphon, Straße

Erzähler:
Etwa 50 Menschen haben sich auf dem Platz eingefunden, die meisten von ihnen Mitglieder der Partei. Die Redner wettern gegen „Borrissowitsche und Abramowitsche“, die Synonyme für die neuen Russen und die sogenannten Oligarchen. Arbeiter von SIL kommen nicht auf den Platz; in mehreren Gruppen beobachten sie von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, getrennt durch den lauten Verkehr, das Geschehen. Ihre Kommentare sind nicht gerade schmeichelhaft für die Veranstalter des „Mitings“:

O-Ton 3:  Sil Arbeiter        0,46
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, zwischen beiden Erzählern vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Nemnoschko smeschno…
„Ein bisschen lächerlich“, meint einer, „Pensionäre, die schon nicht mehr arbeiten, die schafft man hierher zum `Miting´. Zu Haus haben sie nichts zu tun, wissen nicht, wohin mit ihrer Energie. Nichts von Interesse. Schauen Sie, wo sind die Leute? Niemand kommt. Und das trotz der Flugblätter.“

Regie: vorübergehend hochziehen

Erzähler:
„Die Arbeiter glauben einfach nichts mehr“, sagt ein anderer. „Wie oft hat es das schon gegeben. Und dann nichts.“
…a netschewo.“

Erzähler:
Was da auf dem Platzt durchs Megaphon dröhnt, geht über ihre Köpfe hinweg. Ihre Forderungen sind klar und direkt:

O-Ton 4: Forts. SIL-Arbeiter        0,13
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Schto nam nada…
„Was wir brauchen“ meint ein weiterer aus der Gruppe: „Ganz einfach: Lohn für unsere Arbeit. Sonst brauchen wir gar nichts. Und dass man uns achtet.“
…uwaschennije bila.

Erzähler:
Aber nicht alle Teilnehmer des „Mitings“  sind Pensionäre. Und auch nicht alle sind Mitglieder der „Russischen kommunistischen Arbeiterpartei“. Mit von der Partie sind auch Vertreter der Gewerkschaft „Saschita“, die neuerdings als radikale Kraft, auch bei SIL, von sich reden macht. Einer von ihnen ist Wassili Schoskariow, Facharbeiter bei SIL. Wassili Schoskariow ist betrübt, dass seine „Silowzis“ trotz vieler Flugblätter nicht mehr als einen Beobachterposten auf der anderen Straßenseite einnehmen wollen:

O-Ton 5: Wassili Schoskariow, SIL-Arbeiter,     0,28
Gewerkschaftsaktivist
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jesli chotschisch…
„Siehst Du da drüben? Im Cafe – Silowzis. Da drüben beim Warenhaus `Klon´ – Silowzis. Weiter da hinten bei dem Imbissstand – Silowzis. Man müsste rübergehen, sie fragen, warum sie nicht herkommen – obwohl ich doch anderthalb tausend von diesen Flugblättern im Betrieb verteilt habe.“
…Megaphonproben.

Erzähler:
Wassili Schoskariow ist das, was er selbst einen „denkenden Arbeiter“ nennt. Als „denkender Arbeiter“ ist er nicht einverstanden mit den aus der Privatisierung bei SIL entstandenen Verhältnissen, die den Großaktionären Einfluss und unkontrollierbare Dividenden bringen, den Arbeitern aber weiteren Lohnverfall, Abbau sozialer Leistungen und die ständige Ungewissheit, ob sie morgen überhaupt ihren Lohn ausgezahlt bekommen. Obwohl die Stadt jetzt Hauptaktionär von SIL ist, so Schoskariow, habe sich für die Belegschaft doch wenig geändert:

O-Ton 6: Schoskariow, Forts.        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja, kak rabotschi…
„Ich als denkender Arbeiter komme zu dem Schluss, das SIL für unseren Bürgermeister Luschkow allein als Reklame wichtig war.  Das war eine Zeit, als er Ambitionen hatte, auf die allgemeine politische Arena Russlands hinauszugehen, und zeigen musste, wie er als Hausherr zu wirtschaften versteht. Deshalb übernahm er das Aktien-Kontrollpaket von SIL und investierte in SIL. Wir kriegten Bankkredite. Aber das war 1996; jetzt ist immerhin schon 2000, aber SIL ist nicht profitabel geworden. Es ist alles Reklame.“
… reklamny.“
Erzähler:
Von dem Lohn bei SIL, so Schoskariow, könne doch niemand recht existieren. Er selbst, ledig, komme mit 2500 Rubel einigermaßen hin; Urlaub, Reisen oder längerfristige Anschaffungen schon nicht mehr gerechnet. Aber wie sollten ganze Familien von 1000 Rubel existieren!

O-Ton 7: Schoskariow, Forts.        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Otschen trudna…
„Sehr schwer haben es die Silowzis, von denen beide in der Fabrik arbeiten, Mann und Frau. Und wenn dann noch drei Monate nicht gezahlt wird, wissen sie überhaupt nicht mehr, wovon sie leben sollen. Sie existieren nur, indem sie sich von ihrem eigenen Geld, das sie schon erarbeitet haben, einen, wie es heißt, außerordentlichen Vorschuss erbitten, zwei- dreihundert Rubel. Da müssen sie erst zum Vorarbeiter, dann zum Hauptbuchhalter, dort kriegen sie, wenn Geld vorhanden ist, ihre Unterschrift, werden ausgezahlt, können überleben.“
…wyschewajet.“

Erzähler:
Aber selbst der außerordentliche Vorschuss würde nicht reichen, müssten die Arbeiter tatsächlich von ihrem Lohn leben:

O-Ton 8: Schoskariow, Forts.        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja spraschiwaju…
„Ich frage die Kollegen: Wie lebst Du? Ihr beiden arbeitet hier und ihr habt Kinder. Er antwortet mir: Naja, ich habe noch Verwandte im Dorf. Ich habe dort noch zwei Säcke Kartoffeln, sieben Kisten Kohl. In der Region ist es noch schlechter. Dort gibt es Lohnrückstände von einem halben Jahr, in einzelnen Fällen sogar zwei Jahre. Und das allgemeine Lohnniveau ist um vieles niedriger, in Nischninowgorod liegt der mittlere Lohn bei 1500. Allerdings haben sie auch engere Beziehungen zum Lande.
…priwjasenje semlje.“

Erzähler:
Zu den Bedingungen, mit dem niedrigen Lohn überleben zu können, gehört auch das nach wie vor existierende System der Sonderzuwendungen oder kostenlosen Unterstützung aus dem betrieblichen Sozialfonds, den die Gewerkschaften verwalten:

O-Ton 9: Schoskariow, Forts.        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na prafessich…
„In schwierigen Produktionsbereichen, also wo mit Farben gearbeitet wird in der Gießerei usw., da gibt es Milch, einen Liter am Tag. Es gibt auch Spezialkleidung. Das ist wie früher. In den großen Betrieben wie unserem hat sich das nicht geändert. Wir haben Kantinen. Es gibt Anlagen für Sport und Kultur. Außerdem gibt die Gewerkschaft für Kinderferien im Sommer und im Winter bis zu 80% der Kosten als Subventionen. Wenn ich fahren würde, müsste ich 20% bezahlen.“
..etich fondow.“

Erzähler:
Viele Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik aber, so Wassili Schoskariow, kennen ihre Rechte nicht. Sie kommen für drei, vier Monate als Saisonarbeiter aus den russischen Regionen, aus Ländern der GUS, aus Moldawien. Rund 1000 Soldaten werden Monat für Monat als Hilfsarbeiter eingesetzt. Sie bekommen 30 Rubel im Monat.
Wassilis Tätigkeit als Gewerkschafter besteht unter diesen Umständen darin, wenn er nicht ausnahmsweise für ein „Miting“ agitiert, den Kollegen und Kolleginnen bei der Stellung von Anträgen für die „außerordentlichen Vorschüsse“ zu helfen. „Teewasserpolitik“ nennt er das in einer klassischen leninistischen Formulierung. Streiks hat es bei SIL zuletzt 1996 gegeben, seitdem nur einzelne spontane Arbeitsverweigerungen. In diesem Jahr sei die Unruhe gestiegen, meint Wassili, aber die offizielle Gewerkschaft sei angepasst und passiv. Deswegen haben er und einige Kollegen sich in der Gruppe „Saschita“ zusammengeschlossen, um die Interessen der Kollegen besser vertreten zu können. Die Erfolgsaussichten beurteilt er sachlich:

O-Ton 10: Schaskariow, Forts.        0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja dumaju na…
„Ich denke wir haben heute einen Stillstand oder sogar einen Niedergang der Aktivitäten, insgesamt der Arbeiterbewegung. Gründe dafür gibt es viele. Darüber will ich jetzt nicht reden. Aber es gibt einzelne sehr radikale Auftritte. So im Wyborger Chemiefaserwerk in Leningrader Bezirk, wo die Arbeiter den Betrieb sogar besetzt haben. Es gibt einige Betriebe, wo die Arbeiter aktiv aufgetreten sind und die Betriebe in ihre Hände genommen haben.“
…swoi ruki.”

Erzähler:
Geradezu düster jedoch wird Wassili, als er auf die von der Regierung beabsichtigte Novellierung des Arbeitsgesetzes kommt:

O-Ton 11: Schoskariow, Fort.        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ispolsujutsja…
„Heute gilt noch der alte Kodex aus der sowjetischen Zeit. Obwohl daraus schon viele Teile gestrichen wurden, gibt der den Arbeitern noch ziemlich viele Möglichkeiten Widerstand zu leisten. In dem Kodex heißt es, dass Lohn regelmäßig zu zahlen ist, dass schwere Berufe Vergünstigungen bekommen, dass die Arbeit der Frauen begrenzt sein muss, Nachtarbeit vor allem, überhaupt, dass die Arbeitszeit streng reguliert wird, dass es für Schichtarbeit der besonderen Zustimmung der Gewerkschaft bedarf usw. Das steht der Regierung, die heute die Wirtschaft ankurbeln will, und die andere als gewaltsame Mittel dafür nicht kennt, im Wege, deshalb wollen sie ein schärferes Arbeitsgesetz, um die Lohnarbeiter zu härterer Arbeit zu zwingen, um ihnen den sozialen Schutz zu streichen, die Gewerkschaft auszuschalten.
…ja ponimaju ich.“
Erzähler:
„Ich verstehe sie“, setzt Wassili Schaskariow hinzu, „denn wir leben in einer neuen Zeit: Privateigentum ist aufgekommen, die Wirtschaft, die Arbeitsbedingungen haben sich verändert.“ Seine Organisation habe daher einen eigenen Entwurf vorgelegt, der mehr Rechte für die Arbeiter fordere. Auch andere Entwürfe wurden noch vorgelegt, insgesamt sind es jetzt, mit dem der Regierung, vier. So konnte der Entwurf der Regierung nicht einfach die Duma passieren und die Entscheidung steht erst für den Herbst an.
Bei Jefgenia Gwoisdek kann man den Ablauf des „Mitings“ und Wassili Schoskariows Kommentare in den statistischen Gang der Dinge einordnen. Jefgenia Gwoisdek, eine junge Frau von eben über zwanzig Jahren, leitet eine „Agentur für Arbeits- und Sozialinformationen“, deren Direktorin sie ist. Einmal im Monat gibt die Agentur eine „Gewerkschaftliche Umschau“ heraus, die eine penible Übersicht über Qualität und Quantität der Arbeitskämpfe in Russland zusammenstellt.
Danach sind offene Streiks in Russland insgesamt von 1998 auf 1999 um ein Drittel, im ersten Halbjahr 2000 noch einmal um das Zehnfache zurückgegangen. Über das zweite Halbjahr liegen noch keine Auswertungen vor. Die Chefin der Agentur erklärt das so:

O-Ton 12: Jefgenia Gwoisdek, Direktorin     1,54
der „Agentur für Arbeits- und Sozialinformationen“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, jest metodi…
„Nun, es gibt offizielle und nicht offizielle Methoden, die offiziellen kennen alle und niemand interessiert sich dafür. Ja klar, schon seit einem Jahr organisiert die „Föderation der neuen Gewerkschaften“, also die offizielle Gewerkschaft, keine allrussischen Streiks mehr. Kleinere Aktionen finden ebenfalls keine Aufmerksamkeit. Die größten Aktionen des letzten halben Jahres von der Gewerkschaft Transport und Verkehr durchgeführt, das sind vor allem die Beschäftigten der städtischen Betriebe, Busfahrer, Tralleybusfahrer usw. Sie befanden sich in der Tat unter schwierigsten Bedingungen, das sollte die größte Aktion des letzten halben Jahres werden. Sie können sich ja selbst vorstellen, was bei deutschen Arbeitern geschehen würde, wenn sie ein halbes Jahr keinen Lohn bekämen. Aber unter der Leitung der `Föderation´ entschied diese Gewerkschaft, nicht zu streiken, sondern nur fünfminütige Mahnwachen durchzuführen. Das ist einfach elend, absolut lächerlich. Das war die größte Aktion des letzten halben Jahres! Die radikalsten Aktionen gab es von neuen Gewerkschaften, die von einzelnen Arbeitern durchgeführt wurden. Kürzlich erfuhren wir von einer Schweinefabrik in Rjasan, die von einer westlichen Organisation gekauft werden sollte. Weil die Arbeiter fürchteten, dass man sie rauswerfen würden, waren sie dagegen, dass der Eigentümer des Betriebes wechsele. So besetzten sie den Betrieb und ließen die neuen Eigentümer einfach nicht rein.
…nowi sobstwenika.“

Erzähler:
Die „Agentur für Arbeit und Soziales“ unterscheidet verschiedene Arten von Konflikten:

O-Ton 13: Gwoisdek, Forts.        1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wosnawnom…
„Im Großen und Ganzen, man kann sagen 90% der Konflikte drehen sich um die Zurückhaltung von Löhnen und um ihre Höhe. Auch heute noch. Das ist der populärste Konflikt der letzten fünf Jahre, denn an einigen Orten hat sich die Verzögerung in der Auszahlung erneut bis auf  sieben oder acht Monate erhöht. Hin und wieder gibt es auch politische Forderungen. Die letzten gab es zu Zeiten Jelzins, dessen Rücktritt gefordert wurde. Jetzt gibt es praktisch keine. Weitere Forderungen sind branchenspezifisch, bessere Arbeitsbedingungen etwa, also Standardforderungen. Im letzten Jahr gibt es eine neue Tendenz: Konflikte um die Verteilung des Eigentums. Die Situation ist ziemlich einfach: Entweder die Arbeiter fürchten, dass man sie rauswirft, oder der alte Eigentümer versucht sie gegen den neuen aufzuhetzen, um auf diese Weise etwas zu ändern. Das heißt, die Arbeiter werden einfach nur Figuren im Spiel um das Eigentum.“
…sobwenosta.“

Erzähler:
Keineswegs nur im Fall des Zellulosekomibats in Wyborg, fährt Frau Gwoisdek fort, habe sich der Zusammenstoß zwischen den Arbeitern und dem neuem Eigentümer zum bewaffneten Konflikt ausgeweitet. Ähnliche Vorfälle gebe es auch in anderen Regionen Russlands. Eine allgemeine Zunahme der Bereitschaft, Probleme mit der Faust zu lösen, will die junge Direktorin darin aber nicht sehen:

O-Ton 14: Gwoisdek, Forts.        1,04
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Smotrja kakoi…
„Es kommt darauf an, welche Periode man betrachtet. Nimmt man die letzten fünf Jahre, dann wächst meiner Einschätzung nach die soziale Spannung in Russland nicht. Man kann natürlich noch nach einzelnen Regionen unterscheiden, dann ist es hier ein bisschen besser, dort ein bisschen schlechter, aber im Durchschnitt ist die Lage einigermaßen stabil, wenn man denn von Stabilität reden will – ich würde es einfach Apathie nennen. Auch gibt es verschiede  Arten der Faust: Wenn wir von organisiertem Protest sprechen, dann gibt es da nichts; die etablierte Gewerkschaft ergreift einfach keinerlei entsprechende Maßnahmen und für einfache spontane Aufstände ist die Situation nicht schlecht genug, jedenfalls nicht für russische Arbeiter, die einiges gewohnt sind.“
…priwigli.“

Erzähler:
Das klingt wie die Prognose einer dauerhaften sozialen Stagnation. Bei der Frage nach der Zukunft, die sich aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Putins ergeben könnte, kommt jedoch auch die so sehr auf Objektivität bedachte junge Direktorin in Unruhe:

O-Ton 15: Gwoisdek, Forts.        1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzen:
„Wy snaetje a tom…
„Kennen sie den Konflikt um die Schaffung der Sozialsteuern? An ihm können Sie am besten erkennen, was der Staat will und was die Gewerkschaften wollen: Der Staat entschied, die soziale Unterstützung zu optimieren. Sie wissen ja, dass jeder Bürger Russlands Kindergarten, medizinische Versorgung, Reisen, alles das praktisch umsonst bekommt. Der Gewerkschaften verwalten dieses System. Putin entschied dieses System umzubauen. Seine Hauptbegründung ist, dass die Gewerkschaft nicht von Mitgliedsbeiträgen, sondern von den Geldern der Sozialversicherungen lebt. Deswegen entschied er Druck auf die „Föderation der freien Gewerkschaften“ auszuüben und ihnen diese Einnahmequelle zu entziehen.“
…dachodow.“

Erzähler:
Eine paradoxe Situation sei entstanden, findet die junge Frau: Putin gehe es im Grunde darum, die soziale Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, was auch im Interesse der Gewerkschaften liegen müsse; ausgerechnet die aber träten nun entschieden gegen die neue Regelung auf. Und in der Tat: Die Gewerkschaften entfalten eine Kampagne gegen das neue Gesetz. Ihre Begründung ist der Putins naturgemäß entgegengesetzt. Oleg Neterebski, Vizepräsident des Moskauer Verbandes der „Föderation“ erklärt die Haltung seines Verbandes so:

O-Ton 16: Oleg Neterebski,         0,34
Vizepräsident der Moskauer Sektion der „Föderation freier Gewerkschaften Russlands“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Byl danno obeschannije…
“Die Regierung hat versprochen, dass das Gesetz zu keiner Einschränkungen der sozialen Programme führen werde. Tatsächlich wurde schon jetzt die Finanzierung von Kindersportschulen liquidiert;  liquidiert wird die Ausgabe von Mitteln für die Erholung von Arbeitern und anderes mehr. Sie sagen das eine und tun das andere.“
…drogoje.“

Erzähler:
Und etwas müsse man klarstellen, was dem Ausländer nicht ohne weiteres verständlich sein könne: In der Sowjetunion sei nur ein kleiner Teil der Arbeit in Geld entlohnt worden, andere, weitaus größere Teile der Arbeit wurden in Form der sozialen Fonds vergütet, aus denen die Menschen medizinische Versorgung für sich und die Familie, Urlaub, Kindergärten, Jugendlager usw. bis hin zum kostenfreien Begräbnis beziehen konnten – scheinbar kostenlos,  aber eben nur scheinbar, denn diese Sozialfonds wurden ja vom Ertrag ihrer Arbeit aus dem Betriebsvermögen getragen. So ein System hatten wir früher, so Oleg Neterebski, jetzt fällt das alles auseinder:

O-Ton 17: Neterebski. Forts.    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas faktitschiski…
„Nach der sowjetischen Zeit sind die Einkommen rasant gefallen, aber es blieben die sozialen Fonds, die der Mensch, wie arm auch immer, noch nutzen konnte. Durch die jetzige Entscheidung werden diese Fonds praktisch beseitigt, aber das Einkommen bleibt so niedrig wie zuvor. Wenn das wenige Geld, das auf Grund geringer Lohneinkommen in die staatlichen Fonds kommt, auch noch für andere Dinge ausgegeben wird wie zum Beispiel für die Bewältigung solcher Katastrophen wie des Unterganges der Kursk, des Brandes  im Moskauer Fernsehturm „Ostankino“ – und so etwas haben wir mit dem Pensionsfond leider bereits erlebt – dann bedeutet das, das diejenigen, die das Geld erarbeitet haben, es praktisch nicht mehr nutzen können. Das ist alles.“
…eta swjo.“

Erzähler:
Mit diesen Begründungen konfrontiert, kommt die Chefin der „Agentur für Arbeit und Soziales“ zu einer Aussage, mit der sie nahezu ihr gesamtes Gewerbe in Frage stellt, die aber typisch ist für die heutige russische Situation:

O-Ton 18: Jefgenia Gwoisdek, Forts.        0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, wtoij situatije…
„Nun, die Lage, in der sich der russische Mensch des statistischen Durschnitts heute befindet, ist derart schlecht, dass er kaum eine reales Gefühl dafür hat, ob sie durch das, was die Regierung tut ein bisschen schlechter oder ein bisschen besser wird; die allgemeine Krise ist derart stark, dass Aktivitäten der Regierung im Prinzip nichts daran ändern können. Deshalb nehmen die Arbeiter real überhaupt nichts wahr. Und da sie nun einmal nichts wahrnehmen, können wir auch nicht sagen, ob es gut oder schlecht ist, was die Regierung tut.“
…prawitelstwo.“

Erzähler:
Das neue Arbeitsgesetz veranlasst die junge Direktorin zu der sarkastischen Aussage:

O-Ton 19: Jefgenia Gwoisdek, Forts.        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Jesli smotritj…
„Wenn man es vom Sandpunkt der Menschenrechte aus betrachtet, dann wird es tatsächlich schlecht, denn die Arbeiter werden noch schlechter leben, und die Situation als ganze verschlechtert sich. Ich sage: Im Prinzip wäre dieser Kodex nicht schlecht für einen Hitler in Deutschland oder Russland unter Stalin, wenn alle zur Fabrik gehen, weil man muss, weil es keinen Ausweg gibt. Aber jetzt haben wir eine andere Situation. Unter diesen Bedingungen ist der Kodex deshalb einfach unannehmbar, denn er bedeutet letztlich einfach, dass die Gewerkschaften als Struktur liquidiert werden, überhaupt.
…strukturu. wabsche.“

Erzähler:
Gewerkschaftliche Interessen und Interessen der Regierung, so Jefgenia Gwoisdek, stehen im aktuellen Russland unversöhnlich gegeneinander:

O-Ton 20: Gwoisdek, Forts.        0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Profsojusni Kodex…
„Die volle Erfüllung des gewerkschaflichen Kodex wäre der Bankrott des Staates, alle Unternehmen müssten schließen, denn es ist nicht möglich, den Arbeitern die geforderte Lebensqualität zu gewähren. Bei voller Umsetzung des Regierungsentwurfes würden die Arbeiter in absolut unmenschliche Bedingungen gezwungen. Deshalb kann man weder den einen noch den anderen akzeptieren.“
…prinimat nelsja.“

Erzähler:
Deutlicher lässt sich das Patt kaum noch benennen, in dem sich die Regierung Wladimir Putins und die arbeitende Bevölkerung Russlands heute gegenüberstehen. Nur die offiziellen Meinungsforscher vom „Allrussischen Zentrum für die Untersuchung der öffentlichen Meinung“, kurz ZIOM genannt, die schon Gorbatschows Auf- und Niedergang mit statistischen Werten versorgten, können es noch deutlicher sagen: Nach ihren Daten steht Wladimir Putins Rating, also seine Sympathikurve – zwischen sechzig und fünfundsechzig Prozent schwankend – nach wie vor unverändert hoch. Alternativen zu Putin,  meint Juri Lewada, Direktor des Instituts, würden nicht formuliert:

O-Ton 21: Juri Lewada, Direktor         0,44
des „Allrussischen Zentrums für die Untersuchung der öffentlichen Meinung“, ZIOM
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ne kakich aktiwnich…
„Es sind keinerlei aktive soziale Bewegungen zur Zeit erkennbar. Wir warten üblicherweise ja sehr auf neue Streiks usw. Zur Zeit gibt es dafür geringe Chancen, weil im Ganzen die Situation mit dem Lohn besser ist als früher. Es gibt Zahlungsrückstände, aber weniger als früher. Das hängt damit zusammen, dass die Regierung Öl-Dollars hat; mit diesen Dollars und mit Hilfe der Überweisung einiger Rubel kann sie einige Löcher stopfen. Das ist nicht besonders hoffnungsvoll nicht sehr seriös, aber es macht sonst niemand etwas anderes.“
…ne sdjelajut.“

Erzähler:
Mit den Aktivitäten der neuen Gewerkschaft „Saschita“, mit der allgemeinen gewerkschaftlichen Opposition gegen die Sozialsteuer und gegen den neuen Arbeitskodex konfrontiert und auf die in gewerkschaftlichen Kreisen formulierte Erfahrung hingewiesen, dass gerade wirtschaftliche Entspannung die Arbeiter zu neuen Kämpfen aktiviere, weil es endlich etwas zu verteilen gebe, antwortet er:

O-Ton 22: Lewada, Forts.        1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We prinzipje…
„Im Prinzip ist das richtig – wenn man von seriösen Bewegungen mit seriösen Zielen spricht, mit Forderungen nach der Veränderung der Situation im Lande usw. Da war es in der Weltgeschichte in der Tat immer so und alle Umwälzungen sind dann entstanden. Aber bei uns ist es nicht so, nicht eine Spur davon ist zu sehen, keine seriösen Bewegungen und auch niemand, der sie organisieren könnte. Ich denke, das ist die nächste Phase, wenn sich in den nächsten Monaten die Beziehung der Menschen zur Regierung und zum Präsidenten verändert hat, wenn nämlich die Ressourcen, die er zu Anfang erhalten hat, verbraucht sind, aber die Möglichkeiten, irgendwelche geräuschvollen Abenteuer und politischen Effekte aufzubauen, nicht mehr gegeben sind. Einen neuen Krieg anzufangen – dafür ist niemand da; den jetzigen Krieg fortzusetzen – dafür reichen die Kräfte nicht und es gibt keine Ergebnisse. Welche Auswege  gefunden werden können, ist nicht klar und auch nicht klar, wer sie finden könnte.“
…moschet sdjelatj.“

Erzähler:
Änderungen der Situation erwartet Juri Lewada nur von oben, direkt aus den herrschenden Kreisen. In der Bevölkerung, so Russlands etabliertester Meinungsforscher, fehle jede Tradition und jede dazu fähige Organisation. Was gegenwärtig von kommunistischen Splittergruppen an „Mitings“ durchgeführt werde, sei weit von irgendeinem Einfluss auf die wirklichen Ereignisse im Lande entfernt.

O-Ton 23: “Miting”, Megaphon        1,37
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen (bis 0,40)

Erzähler:
Megaphon…
Das ist auch die Meinung von Oleg Babitsch, gesamtrussischer Koordinator der Gewerkschaft „Saschita“, der als Beobachter an dem „Miting“ teilnimmt. Solche abstrakten Aktionen  müsse man sich sparen, findet er. In den Betrieben selbst müsse man arbeiten, dafür jedenfalls mache „Saschita“ sich stark. Zum Beispiel die letzte Aktion bei GASPROM in Astrachan, wo es um Lohn, Arbeitsschutz und die Einführung ökologische Schutzmaßnahmen ging:

Regie: bei 0,40 (Lachen) vorübergehend ( 2 sec.) hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Es war ein voller Erfolg. Alle unsere Forderungen wurden erfüllt. Eine wichtige Rolle spielten dabei übrigens ungefähr zweihundert Telegramme, die unsere Leute erhielten, darunter viele aus dem Westen. Das hat ihnen sehr geholfen, weil sie auch alle an die Regierung gingen. Diese Solidarität hilft; die Leute fühlen sich geschützt, sie sind nicht allein. Sie befinden sich in der tiefen Provinz, aber sie wissen, die Welt weiß von uns. Das ist toll.“
Megaphon

Regie: vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, gegen Ende des Erzählers allmählich hochziehen.

Erzähler:
Russlands Zeichen stehen auf soziale Umverteilung. Welche der gewerkschaftlichen Linien sich dabei durchsetzt, die neue Radikalität von Organisationen wie „Saschita“ oder die sozialpartnerschaftliche Linie der „Föderation der freien Gewerkschaften Russlands“, hängt davon ab, welchen Kurs die Wladimir Putin einschlägt, noch mehr allerdings davon, ob Russland auch in Zukunft in den Genuß teurer Öl-Dollars kommt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Warum Russland nicht verhungert – Russlands andere, extrapolare Ökonomie.

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Zitatorin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Die englischen Texte sind durchweg identisch mit dem darunterliegenden Ton, so dass – bei evtl. Längen – innerhalb der Töne beliebig zwischendurch aufgeblendet werden kann.

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Warum Russland nicht verhungert –
Russlands andere, extrapolare Ökonomie

Seit über einem Jahrzehnt wird in Russland privatisiert. Es entwickelt sich aber nicht, was sich nach dem Willen der westlich orientierten Reformer entwickeln sollte. Zwar gibt es inzwischen Privateigentum, aber die kollektiven Strukturen leben weiter; zwar gibt es einen Markt, er funktioniert aber nicht nach den bekannten Gesetzen des westlichen Kapitalismus. Kritiker sprechen von „Kapitalismus im Übergang“, von Chaos und Mafia. Eine Dauerkrise hat das Land erfasst. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet und ächzt – der immer wieder vorhergesagte endgültige Zusammenbruch aber ist bisher trotz all dem ausgeblieben. Neuerdings sind russische Ökonomen zu hören, die diesen Zustand Russlands nicht als Schwäche, sondern als Spezifikum ihres Landes zu beschreiben versuchen. Wortführer dieser Richtung ist Teodor Schanin, Professor der Ökonomie. Als Rektor einer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau und zugleich langjähriger Professor für Ökonomie an der Universität von Manchester in England ist er der Kopf eines wissenschaftlichen „joint venture“, das russische Realität und westliche Methodik in einem neuen Forschungsansatz zu verbinden versucht.
Teodor Schanin hat soeben einen umfangreichen Band mit Forschungen zum Stichwort einer „Informellen Ökonomie“ in Russland  herausgegeben. Auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, antwortet er:

O-Ton 1: Teodor Schanin                2,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„One has to begin…
„Man muss mit einem Paradoxon beginnen: Das Paradox besteht in der sozialen und wirtschaftlichen Existenz der Mehrheit der Menschen Russlands. Nach den meisten offiziellen Statistiken ist die Produktion innerhalb von zehn Jahren auf mehr als die Hälfte gesunken. In der Landwirtschaft ist es sogar noch schlimmer. Aufs Ganze gesehen, ging die Wirtschaft um die Hälfte zurück. Der Niedergang ging einher mit einer Polarisierung: Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Unter solchen Bedingungen müsste theoretisch gesehen die Hälfte der Russen hungern, die Versorgung in den meisten russischen Provinzen müsste zerstört sein, die Kinder müssten barfuss und ohne Schulunterricht herumlaufen etc. Wenn Sie aber hinkommen – nicht nach Moskau, das ist sowieso eine Insel – sondern in die Provinzen, dann funktioniert das gesamte soziale System, die Schulen arbeiten, mit unterbezahlten oder ganz unbezahlten Lehrern, aber sie arbeiten, die Polizei operiert, sie operiert nicht gut und sie ist korrupt, aber sie operiert, alle Dienste funktionieren und es gibt keine Anzeichen von Hunger – und Hunger ist nun einmal eins der wenigen Dinge, die extrem schwierig zu verstecken sind. Es ist klar, dass man in jeder Gesellschaft einen gewissen Prozentsatz von marginalisierten Menschen findet, die Paupers sind, aber die findet man auch in New York. Diese Armen, diese Obdachlosen usw. sind ein Problem, sie sind aber nicht das spezielle Problem unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass diese russische Gesellschaft in einem viel schlechteren sozial-wirtschaftlichen Zustand sein müsste, als sie es nach dem, was wir von staatlichen und nicht-staatlichen Statistiken wissen, tatsächlich ist. Der einzige Weg zu erklären, was da geschieht, ist anzunehmen, das es da eine Komponente gibt, die in unserer Analyse fehlt. Ich denke, diese Komponente die entdeckt wurde, lange bevor die Russen darauf  kamen, ist das, was als informelle Wirtschaft definiert wurde.“
…informal economy.“

Erzähler:
Er selber, fügt er hinzu, spreche lieber von extrapolar. Entdeckt, wie der Professor es nennt, wurde die Komponente der informellen Wirtschaft in Ländern der sog. Dritten Welt, in Afrika, in Südamerika, in Indien und Asien. Aber auch im Westen, etwa in Italien wurden Elemente dieser Wirtschaftsweise aufgedeckt. Im Wesen geht es, so Prof. Schanin, um sozialwirtschaftliche Strukturen von Bauernwirtschaften, die sich in industriellen Gesellschaften oder in Sektoren von ihnen wiederfinden. Das gilt natürlich besonders für ein Land wie Russland, das zu Zeiten der Revolution von 1917 noch zu 80% landwirtschaftlich strukturiert war, das noch jetzt zu über 50% dörflich, ja teilweise sogar nomadisch lebt, wobei von den 50% städtischer Bevölkerung über dies hinaus noch gut die Hälfte von direkten Beziehungen zum Dorfe oder zum Kleingartenbesitz auf dem Lande lebt.
Gefragt, was man sich unter einer „informellen“ Wirtschaft vorzustellen habe, antwortet Professor Schanin:

O-Ton 2: Prof. Schanin, Forts.                    1,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It is an economy…
“Das ist eine Wirtschaft, die nach anderen Prinzipien arbeitet als die kapitalistische, aber auch als die Staatswirtschaft: Eine Wirtschaft, bei der das Ziel eher im Überleben besteht als in der Akkumulation von Kapital; entsprechend geht es oft eher um eine Maximierung des Nutzens der Arbeit, als um eine Maximierung von Profit. Es ist ein System, in dem der formelle Aspekt des Systems, die legale Struktur, eine weitaus geringere Rolle spielt als Verwandtschaft oder ethnische Beziehungen, wo die Durchsetzung von Verträgen, die in normalen kapitalistischen Ländern durch Gesetz, Gerichte und Polizei vollzogen wird, in einer sehr anderen Art vor sich geht. Die Durchsetzung erfolgt zum Beispiel durch Loyalitäten innerhalb der Familie, über Gefühle der Verantwortung gegenüber der ethnischen Gemeinschaft: „Ein Asari benimmt sich nicht so!“ oder so ähnlich. Die ganze Logik des Funktionierens ist eine andere. Dieses System verbirgt sich bis zum Punkt des Verschwindens, es ist teilweise schwarze Wirtschaft, es ist eine Wirtschaft, die sich den Steuern entzieht oder auch graue Wirtschaft, von der man nicht recht weiß, ob sie steuerlich erfasst werden sollte oder nicht. Noch wichtiger aber ist: Es ist verborgen, weil nicht die richtigen Fragen gestellt werden. Der beste Weg, Dinge nicht zu erkennen ist nun einmal, nicht nach ihnen zu sehen, analytisch verstanden.“
…not to look for them, analyticly.“

Erzähler:
Was Prof. Schanin jetzt theoretisch zu erfassen sucht, ist für russische Praktiker, also Manager, Geschäftsleute, Wirtschaftsbürokraten schon lange Realität. Sie unterscheiden zwischen westlichem Modell der Reform und „realer Wirtschaft“. Jussef Diskin etwa, Assistent des Direktors am „Institut für sozial-ökonomische Probleme des Bevölkerung“, welches regelmäßige Untersuchungen für die russische Zentralbank durchführt, zugleich auch Manager bei „Sib-Neft“, einer der großen Ölkonzerne des Landes, erklärt schon vor dem großen Bankenkrach im April 1997 im Ton größter Selbstverständlichkeit:

O-Ton 3: Jussef Diskin        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
”Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: dass es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt“
…rossiski ekonomiki.“

Erzähler:
Feudale Überbleibsel – damit ist gemeint: Keine vollkommene Geldwirtschaft, kein funktionierender Lohn-Ware-Kreislauf, kein offener Markt, auf dem sich Individuen als Käufer und Verkäufer begegnen, stattdessen Regelung des Lebens – Arbeit, Versorgung, Kultur – in den eng gezogenen Grenzen patriarchaler sozialer oder ethnischer Beziehungen. Einen tiefen Einblick in diese Struktur liefert der Wirtschaftsriese  „Gasprom“, auf deutsch: der Gas-Gewinnungs-Komplex. Ausgerechnet in den Strukturen dieses international organisierten russischen Multi, der 35% des Weltgasaufkommens kontrolliert und verschiedene Niederlassungen in  westlichen Ländern hat, treten heute die Elemente der von Diskin beschriebenen Verhältnisse besonders deutlich zutage. Sergei Sergejewitsch, ein leitender Mitarbeiter des Konzernes, skizziert das Finanzgebaren des Multis, stellvertretend für die russische Wirklichkeit, mit den Worten:

O-Ton 4: Sergej Sergejewitsch, „Gasprom“                          0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Idjot wechselej..
„Verrechnungen laufen über Wechsel, über gegenseitige Verschuldung, über einfachen Warenaustausch oder auch über primitivsten Austausch von Privilegien, also etwa: `Wir veranlassen den Leiter dieser oder jener Branche loyal gegenüber der Administration zu sein und sie berechnet uns weniger Steuern.´ So treten alle auf. Gasprom ist keine Ausnahme.“
…nje isklutschennije.“

Erzähler:
„Gasprom“ gilt im Lande geradezu als Synonym für informelle Strukturen: Er ist die undefinierbare Mischung zwischen privaten und öffentlichen Interessen. In ihm wird informelle Wirtschaftsweise exemplarisch erkennbar. Zu seiner Beschreibung greift Sergej Sergejewitsch sogar zu Begriffen Teodor Schanins:

O-Ton 5: Sergejewitsch, Forts.                             0,35
Regie: O-Ton von kürzer stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Prinzipje wy prawi…
„Im Prinzip haben Sie recht, obwohl in Gasprom auch andere Gesetze wirken. In den unteren Schichten der Bevölkerung überlebt man ja vielfach auf Grund dessen, was der englisch-russische Ökonom Teodor Schanin, glaube ich, trans- oder extrapolare Ökonomie genannt hat, also eine Wirtschaft, die außerhalb der klassischen Schemata liegt.“
…schema

Erzähler:
Viele kleine Gruppen, fährt Sergej fort, auf dem Dorf, in der Familie, ganze Zusammenhänge von Familien, Clanverwandte usw. könnten nur durch gegenseitige Hilfe überleben. Menschen in der Provinz, die Kinder in Moskau haben, überlebten nicht mit Geld, sondern mit den Produkten, welche die Kinder ihnen brächten. Umgekehrt unterhalte eine Gruppe Verwandter Garten, Kühe, Schweine, arbeite rund um die Uhr, nur damit ihre Kinder in Moskau eine Ausbildung erhalten könnten. Dies alles funktioniere großenteils ohne Geld. „Gasprom“, obwohl ein internationaler Konzern, sei wohl Teil dieser Struktur:

O-Ton 6: Sergejewitsch, Forts.                             0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Schto kassajetsja…
„Was die transnationalen Aktivitäten betrifft, so handelt Gasprom wie eine normale, europäische, westliche Korporation. Was Gasproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nur indirekt Teil der `extrapolaren Wirtschaft´, aber über diese Beteiligung ist Gasprom doch gezwungen, sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“
…rossiskuju spezifiku.“

Erzähler:
Mächtigen theoretischen Beistand erfährt die Moskauer Schule Teodor Schanins durch Tatjana Saslawskaja, Stichwortgeberin der neuen nachsowjetischen russischen Soziologie. Aus der von ihr begründeten Nowosibirsker Schule war bereits Anfang der 70er Jahre des eben zuende gegangenen Jahrhunderts zu hören, die Wirtschaft Russlands werde sich irgendwie zwischen Kapitalismus und Sozialismus in neuen, nicht gekannten Formen entwickeln. In einem ihrer ersten Bücher,  unter dem deutschen Titel „Die Gorbatschow-Strategie“, schrieb sie 1988:

Zitatorin:
„Das beschriebene System stellt eine Art Hybridprodukt aus dem zentralisierten planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen System dar, wobei es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird, sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.“

Erzähler:
Allen diesen Positionen, wie ungewöhnlich sie für westliche Ohren, wie provokativ sie für die westlich orientierten russischen Reformer bereits klingen mochten, war jedoch noch eines gemeinsam, die Beurteilung der Situation als Mangel, als vorübergehende Erscheinung, als Zustand, der früher oder später in ein entwickelten Marktsystem übergehen oder sich doch mindestens den westlichen Modellen angleichen müsse. Frau Saslawskaja sprach – nach Abwendung von Michail Gorbatschow und in offener Kritik an Boris Jelzin – Mitte der 90er sogar von einem „Monster“, das einen kriminellen Staat und eine kriminelle Gesellschaft hervorgebracht habe.
Mit Teodor Schanin gehen russische Analytiker nun dazu über – theoretisch – die Unfähigkeit Russlands zur glatten Übernahme westlicher Modelle nicht mehr als nur als Versagen, sondern als einen Schritt zu einer anderen, eigenständigen Entwicklung zu begreifen.
Entsprechend weist Professor Schanin daher inzwischen Fragen danach, wie es zu der „informellen Wirtschaft“ kommen konnte, als ärgerliche und irreführende Dummheit zurück:

O-Ton 7: Prof. Schanin, Forts.          2,08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Well, first I think…
„Nun, zunächst glaube ich, dass die Formulierung „es kam von etwas“ nicht sehr nützlich ist. Die Idee, die hinter dieser Frage steht, ist doch die Vorstellung, dass es eine Krise gegeben hat und dass sich diese Formen als Ergebnis dieser Krise entwickelt haben. Die Frage kommt nach dem Motto: Gib uns einen Tag, an dem diese verdammte Sache anfing! – Und dann war es natürlich, als Gorbatschow anfing dumm zu werden, oder vielleicht nicht Gorbatschow, sondern jemand anders, Jelzin und seine Leute: sie haben eine schreckliche Unordnung hervorgebracht, sodass wir jetzt diese vielen Methoden haben, wie Leute unterwegs sind, merkwürdige Dinge tun, um zu überleben usw.
So ist es aber nicht. Tatsächlich ist es so, dass informelle Wirtschaft schon vorher in der Sowjetunion und davor schon im zaristischen  Russland existierte. Sie hatte unterschiedliche Namen und sie hatte unterschiedliche Formen. Jeder Russe kennt „Blat“, Beziehungen. Zu Sowjetzeiten gab es ein russisches Sprichwort, sehr wichtig: „Blat wische Sownarkoma“; auf deutsch, Beziehungen stehen über dem „Obersten Rat der Volkskommissare“. Die Alltagsmacht auf dem Land, heißt das, war „Blat“, nicht die Partei. „Blat“ ist der informelle Weg, wirtschaftliche Probleme außerhalb der offiziellen Wege zu lösen. Ohne „Blat“ wäre die sowjetische Regierung kollabiert, denn „Blat“ hat sehr viele Probleme gelöst, so wie die informelle Wirtschaft sehr viele Probleme löst. Es ist wichtig zu begreifen, dass informelle Wirtschaft nicht einfach irgendeine grauenhafte Situation ist, in der die Menschen sich befinden. Es ist eine Methode, eine ganzer Satz, ein ganzes System von Methoden, dringende Probleme zu lösen, um das Leben für Menschen erträglich zu machen, die andernfalls doch verhungern würden.“
…otherwise would starve.“

Erzähler:
Folgerichtig möchte Prof. Schanin Kennzeichnungen wie Schattenwirtschaft, graue Wirtschaft, Mafia, die bisher zur Beschreibung der Wirtschaft Russlands benutzt wurden, selbst die der  „realen“ und der „informellen“ Wirtschaft, obwohl sie ihm selbst immer noch wieder unterlaufen, als unzureichend hinter sich lassen. Sie alle, so Prof. Schanin, wiederholten immer nur die Beschreibung des Mangels. Auch der Begriff des „informellen“ beinhalte letztlich nur die Negation formellen, staatlichen, lasse aber keine eigene Struktur erkennen. Schon im gewählten Begriff, den man wähle, müsse erkennbar werden, dass es bei dem, was sich heute in Russland entwickele, nicht um eine mangelhafte, unentwickelte, demnächst überwundene, sondern um eine andere Wirtschaftsweise gehe:

O-Ton 8: Schanin, Forts.         2,06
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My termin is…
“Mein Begriff ist „expolare Wirtschaft“. Ich habe es so gesagt: Die meisten Wirtschaftsweisen, die wir kennen, basieren auf zwei Modellen; das eine ist das der kapitalistischen Wirtschaft, Markt usw.Wir kennen dieses Modell sehr gut, denn das ist es, was wir an unseren wirtschaftlichen Fakultäten überall auf der Welt unterrichten. Das zweite Modell ist die Staatswirtschaft. Das kennen wir weniger, aber wir kennen es doch immerhin. Die Erfahrung der Sowjetunion hat uns reichlich viel darüber gelehrt. In der ganzen Welt neigt man dazu zu sagen, es ist entweder so oder so oder irgendeine Mischung dazwischen und man kann alle Länder der Welt entlang einer Skala zwischen diesen Extremen auflisten, die klare Modelle sind. Wenn es eine Krise einer mehrheitlich marktorientierten Wirtschaft gibt, dann stützt der Staat, wenn die Staatswirtschaft nicht läuft, dann geht es anders herum. Zur Zeit leben wir in einer Phase, in der die Krise der Staatswirtschaft eine Wirtschaft des freien Marktes fördert, aber in einer ganzen Reihe von Ländern kann man bereits eine Rückbewegung beobachten. So hat man Pole und Pendel als ein Modell! Das sieht alles extrem einfach aus, es ist aber auch alles, was wir in unserem Verständnis von Wirtschaft haben. Mein Punkt ist, dass der größte Teil der realen Wirtschaft von wirklichen Menschen, die ihr Leben in dieser oder jener Weise führen, außerhalb dieser Pole verläuft,  außerhalb dieses Pendel und außerhalb dieser Skalen. Man muss sie nicht irgendwo unterbringen – vielleicht mehr Markt oder vielleicht mehr Staat? Nein, sie ist anders, sie passt nicht in dieses Modell. Und weil sie nicht in dieses Modell passt, sehen die Menschen sie nicht.“
… people don´t see it.“

Erzähler:
Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert:

O-Ton 9: Schanin, Forts.             2,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It´s economy favours…
„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst: Ich tue dir einen Gefallen, ich bin Kartenverkäufer im Theater; ich bin Dir gefällig, Karten für das Theater zu bekommen; Du hilfst du mir, meine Tochter in die Universität zu hieven, in die sie gehen möchte. Es ist oft sehr viel komplizierter, es ist natürlich nicht nur gegenseitige Gefälligkeit zwischen zwei Menschen, es ist oft ein System von gegenseitiger Gefälligkeit zwischen Dutzenden von Menschen, von denen jeder irgendetwas an jeden gibt. Es wäre aber auch nicht richtig, dies als Markt der Gefälligkeiten zu bezeichnen, denn Markt ist ein Vorgang, bei dem es ein Äquivalent gibt, über das man Dinge austauscht, nämlich Geld. So ist es nicht. Es ist ein nicht-äquivalenter Austausch, denn Du selbst bestimmst, was äquivalent ist; du selbst sagst: Eine Karte für einen Platz in der Universität. Es gibt keine Gelddefinition davon; du weißt nicht, ob es korrekt ist. Es spielt keine Rolle, ob es gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. Und wie ich sagte, wie nannten es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht : Schieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen.  Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“
… will stop.“

Erzähler:
Expolare Wirtschaft, so Prof. Schanin ist eine symbiotische Wirtschaft. Sie verbindet Kapitalismus und Sozialismus, Staatswirtschaft und nicht-staatliche Formen der Wirtschaft, Groß-Betriebe und Familienwirtschaft, bäuerliches und industrielles Arbeiten miteinander. Vor allem aber ist sie kein theoretisches Modell, sondern Ausdruck gewachsener Kultur, Geschichte, Mentalität und besonderer Gemeinschaftsstrukturen der Völker und Länder:

O-Ton 10: Schanin, Forts.         1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It´s a relationship…
„Es ist die Beziehung, die durch Werte definiert ist, durch Konzeptionen von Ästhetik, von Eigentum usw. – was eben Kultur ist. In diesem Sinne wird die Übertragung und die Funktionalisierung dieser Formen durch kulturelle Muster verstärkt. Das ist der Grund, warum verschiedene extrapolare Wirtschaftsweisen verschieden ablaufen. Ich meine, selbst wenn ähnliche Probleme existieren und wenn vergleichbare Anstrengungen unternommen werden, nimmt die expolare Wirtschaftsweise in verschiedenen Ländern verschiedene Form an. In einer Gesellschaft, die streng familistisch ist, in der die Familie also einen extrem hohen Wert besitzt, läuft sie auf die eine Weise, in Gesellschaften die sehr viel individualistischer sind, wird sie anders ablaufen. In Russland gibt es Gruppen, ethnische Gruppen, nicht Russen, die nach familistischen Prinzipien organisiert sind und wenn jemand dazukommt, der nicht da hineinpasst, also kein Verwandter ist, dann wird er zum Verwandten gemacht. Entweder man heiratet ihn oder er wird zum Verwandten definiert: `Er ist wie ein Neffe für mich´, sagen die Leute. `Er ist wie ein Bruder für mich.´ Was tun sie? Sie nehmen ihr kulturelles Modell und packen die Dinge dort hinein. Diese Struktur der Definitionen hilft den Menschen, eine informelle Wirtschaftsweise zu betreiben.
…to do informal economy.“

Erzähler:
Eine allgemeine Renaissance der „Obschtschina“, der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft, wie sie von vielen russischen Patrioten erwartet wird, hält Prof. Schanin allerdings für illusorisch. Als Lebenszusammenhang, der staatliche Verwaltungseinheit und dörfliche Hilfsgemeinschaft zugleich war, habe sie die Interessen von oben mit denen von unten zum gegenseitigen Nutzen verbunden. Das sei der Entwicklung extrapolarer Wirtschaftsformen sehr förderlich gewesen. Die Zwangskollektivierung während der Sowjetzeit, neuerdings die Privatisierung habe dieses Gleichgewicht zerstört:

O-Ton 11: Schanin, Forts.             1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To which extent the peasants…
„In welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben, ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, also Süd-Westrussland zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein Aktiengesellschaft-Dorf, das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt, aber es ist exakt dasselbe: Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft. Das entwickelt sich teils wegen der Krise so, teils wegen der demografischen Situation, dass nur noch alte Leute im Dorf sind. Als Einheit der gegenseitigen Hilfe ist die Obschtschina jedoch gestorben.“
…unites people operating together.“

Erzähler:
Wichtiger für die Herausbildung extrapolarer Wirtschaftsweisen als die traditionellen Gemeinschaftstrukturen ist nach Teodor Schanins Ansicht der Globalisierungsprozess, der heute auch Russland erfasst hat. Er lasse nicht nur in Russland, sondern überall auf der Welt Elemente der extrapolaren Wirtschaft entstehen:

O-Ton 12: Schanin, Forts.                           1,19
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Well, there is no doubt…
„Es gibt keinen Zweifel daran, dass es ein Wachstum globaler Verbindungen gibt. Es gibt auch, aus meiner Sicht, keine Zweifel daran, dass dieser Prozess Nachteile für mehr als die Hälfte der Menschheit bringt. Informelle Wirtschaften sind kein Produkt der Krise, aber die Krise entwickelt sie. Ich glaube, dass Globalisierung und globale Wirtschaft weitere Krisen hervorruft, weil sie Polarisierungen einführen. Die Globalisierung führt dazu, dass es immer mehr Orte, Räume, Lebenszusammenhänge gibt, die ohne Geld auskommen müssen. Es entstehen Inseln der Globalisierung und die Zahl dieser Inseln nimmt zu und wird weiter zunehmen. Der einzige Weg, um das Anwachsen dieser Inseln zu verringern, die ausgeschlossen sind vom allgemeinen Wohlstand,  besteht darin, die Globalisierung zu stoppen.“
…stop globalisation.“

Erzähler:
Dies sei möglich, setzt er hinzu, weil die Globalisierung an ihren eigenen inneren Widersprüchen in die Krise komme.
Untermauerung seiner Ansichten wachsen dem Professor aus der von ihm geleiteten „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ zu. Sie schickt ihre Absolventen zu  Feldforschungen für längere Zeit direkt in die Untersuchungsgebiete, Sowchosen, Kolchosen – kollektiven Landwirtschaftsbetrieben – Fabriken, Städten, Regionen.
Da ist zum Beispiel der junge Alexander Nikulin, der soeben von halbjährigen Studien aus dem Süden Russlands zurückkehrt. Er berichtet über Experimente im Gouvernement Saratow, wo die Administration versucht hat, die Privatisierung im Agrarbereich durch große Auktionen voranzutreiben, in denen der Bevölkerung Land zum Kauf angeboten wurde – es kaufte niemand. Der Masse der Landbevölkerung fehlt sowohl das nötige Geld als auch die Motivation. Private Bauern sind unter den heutigen Bedingungen Russlands nur in Ausnahmen existenzfähig. Was dagegen um sich greift, sind Formen der Integration von Familien- und Großwirtschaft. Anders als sein abgeklärter Lehrer, der sich mit Prognosen zurückhält, wagt der junge Nikulin daher eine Perspektive zu formulieren:

O-Ton 13: Alexander Nikulin                                    1,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja…
„Ich stelle mir vor, dass für Russland heute das Modell Tschejanows aktuell ist. Tschejanow ist der große Agrarsoziologe des zwanzigsten Jahrhunderts, der eine Theorie der wirtschaftlichen Kooperativen ausgearbeitet hat. Das ist die Theorie der Kombination des, sagen wir, Individuellen mit dem Kollektiven, wenn einzelne Persönlichkeiten in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind. Das ist nicht einfach die wundersame Obschtschina. Der Idee der Obschtschina, wie sie von vielen russischen Nationalisten ausgemalt wird, stehe ich skeptisch gegenüber. Aber was ich doch in der Wirklichkeit sehe, ist eine äußerst effektive und äußerst produktive Kombination zwischen Persönlich
-Familärem und Großbetrieblich-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und entsprechend den geografischen oder ökomischen Entwicklungsbedingungen kann es sehr viele solche Kombinationen geben. Die entstehen gegenwärtig spontan in Russland und sie arbeiten. Die Aufgabe der Wissenschaftler, die Aufgabe der Politiker besteht darin, sie zu studieren, über sie nachzudenken und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wirklich vernünftig zu entwickeln. Das

erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
..otschen perspektivno putj.“

Erzähler:
Wohin sich das Blatt tatsächlich wendet, ist offen. Regierung und Internationaler Währungsfond, an dem auch unter Wladimir Putins Führung die russische Politik ausgerichtet wird, sind an den Erkenntnissen über den expolaren Charakter der russischen Wirtschaft, so Teodor Schanin, nicht interessiert; sie orientieren auf kurzfristige Gewinne. Was die Menschen betrifft, die tatsächlich unter der Krise leiden, so sind sie damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren. Die Wirklichkeit, scheint es, muss ihre eigene Überzeugungskraft entfalten. Da bleibt nur die Hoffnung, dass die Wirklichkeit letztlich stärker ist als alle Modelle.

Altai – Wiege der Völker und letzte Zuflucht?

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin, Zitator
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtlänge der O-Töne: 21,29

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Achtung: zwei Bobbies
Auf Bobby eins befinden sich die vier Takes (1 – 4) für die Musik, die eingespielt werden soll.
Auf Bobby zwei befinden sich alle Sprachtöne
O-Ton 3 muss durch die angehängte „O-Ton 3 Korrektur“ ersetzt werden

Vorschlag für evtl. notwendige Kürzungen:
O-Ton  11

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Altai – Wiege der Menschheit und letzte Zuflucht?

Musik 1:        2,27
Regie: O-Ton kommen lassen, ausreichend lange stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Altai – fremde Töne, Land der Sehnsucht. Ein Bergland von den Ausmaßen Mitteleuropas, eine  Nische zwischen den Welten. Der mächtigste Gipfel des Altai, Ak-Sümer, russisch Belucha im Hoch-Altai, markiert mit seinen 4505 Metern Höhe den Kreuzpunkt der Grenzen von vier Ländern aus vier Himmelsrichtungen: Im Osten die mongolische Hochebene bis zur Wüste Gobi, im Süden China und Tibet, im Westen die Steppen Kasachstans. Der nördliche Altai gehört zum heutigen Russland, durch dessen sibirische Tiefebene sich die gewaltigen Flüsse Irtysch, Ob und Jennessej ihre langen Wege zum nördliche Eismeer suchen. Seit 1991, dem Datum der Auflösung der Sowjetunion, wird auch dieses lange verschlossene Stück Erde wieder zugänglich. Die Republik Altai, geteilt in den industrialisierten Vor-Altai mit der Hauptstadt Barnaul und den Hoch-Altai mit der Bezirksstadt Gorno-Altaisk, Berg-Altai, gehört heute zur russischen Föderation. Die Republik verwaltet sich aber autonom und man besinnt sich wieder der eigenen Geschichte und der alten Traditionen des nomadischen Lebens, des Obertongesangs und des Schamanismus. Verehrer des Landes sprechen von der Schweiz Russlands. Gemeint ist damit vor allem Gorno-Altaisk, das bergige Hochland.

Regie: O-Ton hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zuerst kamen jedoch die Reformer, wie überall im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich. Sie brachten offene Grenzen, vor allem aber brachten sie den Impuls der Privatisierung. Er fand offene Ohren bei der mittleren Bürokratie, die sich Unabhängigkeit von Moskau, die selbstständige Nutzung ihrer reichen Erzvorkommen, Kohle und anderer Naturschätze und die Anbindung an westliches Lebensniveau erhoffte. Selbst im hohen Altai ist man reformwillig. Stolz führt Vincenti Tengerekow, leitender Mitarbeiter des Agrokombinats von Gorno-Altaisk, der örtlichen Agrarverwaltung sowjetischen Typs, westliche Gäste durch die Dörfer, um ihnen den Fortgang der Reform zu zeigen. Hin- und her geschüttelt auf unwegsamem Gelände erläutert er unterwegs im Jeep deren Ziele:

O-Ton 1: Vincenti Tengerekow,             0,59
Agrarkomninat in Gorno-Altaisk
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Jeep, „Predprejatii…
„Die Unternehmen sollen jetzt die Privatisierung durchführen, sich in Aktiengesellschaften umwandeln. Das betrifft Unternehmen der Weiterverarbeitung, Dienstleistungs-, Verkehrs und Versorgungsunternehmen. Die müssen dann entscheiden, ob sie im Kombinat bleiben wollen oder sich selbst organisieren. Auch Kolchosen und Sowchosen, also die Kollektivbetriebe, sollen sich umwandeln. Es wird kleine private Höfe geben. Auch die werden entscheiden müssen, ob sie rausgehen.“

Erzähler:
Dann werde es kein Kombinat mehr geben, setzt er fort, nur einzelne Assoziationen, Betriebe und Höfe. Das Kombinat werde sich in Ministerium für Landwirtschaft verwandeln.                            …kombinata njet.“

Erzähler:
Aber Vincent Tengerekow, obwohl von der allgemeinen Notwendigkeit der Reformen überzeugt, fürchtet doch, dass die Privatisierung für den Altai vielleicht nicht der richtige Weg sein könnte: Für seine eigene Zukunft ist ihm nicht bang, die werde sich im Rahmen des neuen Ministeriums vollziehen, meint er. Für die Bauern aber fürchtet er schlimme Folgen:

O-Ton 2: Tengerekow, Forts.        1,01
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, allmählich ausblenden

Übersetzer:
Jeep „Mi pereschili otschen mnoga…
„Wir haben schon sehr viele Reformen erlebt und alle wurden immer auf den Schultern der Bauern ausgetragen. Auch die neue Reform liegt wieder auf ihnen. Warum? Weil die Bauern nicht geschützt sind.  Wenn die Grubenarbeiter streiken, dann geht es um mehr Lohn. Wofür soll der Bauer streiken? Da gibt es nichts. Das ist seine spezifische Art der Arbeit. Die Kolchosen waren ein Schutz, da konnte man in einer Front auftreten. Aber jetzt, als Verkäufer von Waren, kennt man einander nicht. Man kann nicht gemeinsam auftreten. Einzeln ist man wehrlos. Das ist das Problem.“
…wot tschom problem wsja.“
Erzähler:
Deutlicher wird Edmund Voll, einer der vielen Russlanddeutschen des Altai, die Stalins Deportation hierhin verschlagen hat. Er ist Chef des Butter-Käse-Kombinats. Das Kombinat ist einer der größten Betriebe in Gorno-Altaisk, der mit seinen Produkten nicht nur Sibirien, sondern auch Zentralrussland beliefert. Kombinatschef Voll, der unmäßigen Hitze wegen hemdsärmelig unter einem altersschwachen Ventilator, bricht bei der Frage nach der Privatisierung in Lachen und Stöhnen zugleich aus:

O-Ton 3: Edmund Voll,
Chef des Butter-Käse-Kombinats               0,10
Regie: O-Ton mit Lachen kommenlassen, ganz stehen lassen,

Originalton:
Lacht, „Chotsche jest… no motsche njet –„
„Wir wollen es schon, aber wir können es nicht.“

Erzähler:
Um Butter und Käse privat rentabel produzieren zu können, erklärt Edmund Voll weiter, brauche man ein Minimum von fünfzig Kühen;  um fünfzig Kühe halten zu können, brauche man brauche Kannen, Töpfe, eine ganze Kanalisation und vor allem: Heu! Anders als in Deutschland wachse im Altai das Gras jedoch nur fünf Monate. Beim Vergleich mit der Schweiz stöhn der Direktor auf:

O-Ton 4: Voll, Forts.         1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Stöhnt „Ponimaetje, wy mne sadali….
„Sie stellen Fragen! Das ist so als ob man fragt, wie sich Antartktis und Nordpol voneinander unterscheiden: Ja, es scheint so, dass da Eis ist und dort auch, nicht? Aber ich glaube, dass die Arktis härter ist als der Nordpol – nein, nur geografisch, nur vom äußeren Bild her kann man den Altai mit der Schweiz vergleichen, auf keinen Fall aber in Bezug aufs Klima. Aber ein Vermögen haben wir in Gorno-Altai (Achtung: hier nicht „Altaisk“) Die ökologische Reinheit! Der Altai ist eine Zone, die noch geschützt ist vor dem Einfluss der Großkonzerne, Fabriken, der Gasgewinnung usw. In diesem Sinne haben wir einen großen Reichtum. Hier wachsen noch ungefähr 2000 geschützte Pflanzen, von ihnen sind mehr als 300 Heilkräuter. Wenn die Kühe diese Gräser fressen, unser frisches Wasser trinken, dazu noch die reine Luft und die Sonne – dann ist die Biomasse, die Bioqualität der Produkte dreimal höher als in der Schweiz.“
…dwa, tri rasa.“

Erzähler:
Edmund Voll hat Grund, diese Reinheit von Gorno-Altai (sic!) zu betonen: Sind die hässlichen Produkte der Industrialisierung in den letzten fünfzig Jahren doch von allen Seiten herangekrochen: Vom berüchtigten sibirischen Kusbass im Norden, aus dem kasachstanischen Karaganda im Westen haben sich die Kohlegruben bis nach Barnaul, Rubzowsk und andere Orte im westlichen Vor-Altai vorgefressen; die angrenzende kasachische Steppe wurden von den Sowjets, die Wüsten Gobi im Osten, die Takla Makan im Süden von der VR-China in atomares Versuchsgelände verwandelt. Und trotz seines Stolzes auf die ökologische Reinheit seiner Heimat gehört Edmund Voll doch zu den Befürwortern des noch in sowjetischer Zeit geplanten Staudamm-Projektes, das die Reformer nach 1991 mit Volldampf vorantreiben wollten, mit dem sie aber auf den Widerstand der Naturschützer stießen, die das Projekt als sowjetische Gigantomanie ablehnten.
Einer dieser Naturschützer ist Wassili Wassiljewitsch. Als junger Mann wanderte er aus dem russischen Stammland ein wie viele andere russische Kolonisten. Jahrzehnte war er leitender Zoo-Techniker der Republik Altai, deren oberster Tierhüter also und in dieser Funktion langjähriges Mitglied des regionalen Parteikomitees. Als Pensionär ist Fischen und Jagen heut seine Lieblingsbeschäftigung. Wassili Wassiljewitsch gehört zu denen, die den Altai für eine uneinnehmbare Burg halten. Er ist überzeugt davon, dass die Reformen der Perestroikajahre sich letztlich ebenso den natürlichen Gegebenheiten anpassen werden wie alle früheren Neuerungen es schon mussten. Seine Begründung ist einfach:

O-Ton 5: Zootechniker Wassili Wassiljewitsch,
Gorno Altaisk                              1,03
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A u nas jest juschneje…
„Bei uns gibt es südliche Bezirke, Kosch Agatsch, an der Grenze zur Mongolei zum Beispiel. Dort gibt es keinen Wald; leer alles dort, halbe Wüste. Es ist der Anfang der Gobi, die sich von uns aus in die Mongolei hinein erstreckt. Wie können Menschen dort in individuellen Einzelwirtschaften existieren, wenn sie sechzig Kilometer pro Tag nomadisieren!? Können sie nicht! Sie müssen zusammenhalten; sie haben keine andere Wahl. Im Sommer tief unten im Tal, im Winter oben auf den Bergen und das mit allem Vieh, die ganze Kolchose. Allein bist du verloren. Sie ziehen um, weil im Winter im Tal kein Vieh gehalten werden kann: Harte Winde, starke Kälte, bis zu sechzig Grad Minus. In anderen Regionen ist es ähnlich.
…priblisitelno tak.“

Erzähler:
Mit der nomadischen Lebensweise, die beste Lebensbedingungen für die Tiere sucht, hat die Urbevölkerung sich diesen Gegebenheiten angepasst. Russische Kolonisten besiedelten das Vorland und die Täler. Wassiljew erzählt, wie er in die Jurten geholt wurde. Er erzählt von der Gastfreundschaft der Altai-Nomaden, die keinen Gast, ohne ein Geschenk ziehen lassen, das man sich vorher aussuchen muss. Er berichtet von den Zeltgöttern der Altaier: „Sie wechseln sie, wenn sie sich als unfähig erwiesen haben“, schmunzelt er, „ein praktisches Volk.“

Musik 2: Maultrommel                        1,33
Regie: O-Ton unter dem Text allmählich kommen lassen, nach Textende kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen

Erzähler:
Allmählich trägt ihn die Erinnerung fort und ununterscheidbar vermischen sich Züge der Altainomaden mit denen der benachbarten Tuwa, Chakasen, Mongolen, Kasachen, Usbeken und mit seinen eigenen Touren als Tierwart in den Bergen, ebenso wie in den endlosen Steppen des Vor-Altai. Obwohl doch nur russischer Tierarzt, dazu leitender Funktionär der Partei, wurde er zu Hochzeiten, Geburten und Sterberitualen gerufen, feierlich und mit der gleichen Hochachtung wie die eingeborene Schamanen verehrt. Er taufte Kinder, er wurde als Arzt um Rat gefragt. Einige male half er sogar bei Geburten. Kommunismus und Schamanismus, das Siedlerleben russischer Kolonisten und einheimisches Nomadentum haben sich in seiner Person miteinander verbunden. Diese Mischung ist für eine schnelle Privatisierung nicht besonders geeignet.

O-Ton: Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Den Reformern folgten die Forscher und Forscherinnen. Seit zumindest der ehemalige sowjetische Teil, also außer dem Altai selbst auch Kasachstan und die von der Sowjetunion quasi besetzte Mongolei, wieder frei zugänglich ist, erlebt die Altaiforschung einen Aufschwung. Altai-isten verschiedenster Länder, allen voran – schon der Sprache wegen – Frauen und Männer des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes, studieren Geschichte, Kultur und die mögliche Bedeutung des Altai für die globale Entwicklung heute.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen

`Schon der Sprache wegen´, das bedeutet, in den Bergen des Altai werden die Sprachen der dort siedelnden Völker gesprochen: das turksprachige Altai-isch in verschiedenen Dialekten, diverse mongolische Varianten, Chakasisch, Tuwinzisch, Kasachisch, dazu usbekische, kirgisische und andere Dialekte. Russisch aber ist, bis auf die südlichen chinesischen Ausläufer des Altai, die ohnehin zur Zeit vom Westen her und aus Russland nicht zugänglich sind, auch heute noch die allgemeine Verkehrssprache. Für Sprachforscher ist der Altai eine Offenbarung, die tief in die Urgeschichte der Menschheit hineinführt.

Regie: Musik: Hochziehen, danach allmählich abblenden

Frau Dr. Eva Schaki aus Budapest jedenfalls ist begeistert über die neuen Möglichkeiten, ihren Forschungen jetzt nicht mehr nur theoretisch, sondern „vor Ort“ nachzugehen zu können. Sie hat sich auf den Altai spezialisiert, weil sie dort, wie sie sagt, das Gelenk findet, das die verschiedenen Teile der euroasiatischen Sprachentwicklung verbindet. Aus dem Altai, so Dr. Schaki, ziehen  die verschiedenen, miteinander zusammenhängenden Sprachlinien aus vorgeschichtlicher Zeit heraus in alle Richtungen:

O-Ton 6: Eva Schaki, Sprachforscherin aus Budapest     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß ausblenden

Übersetzerin:
„Die mandschurischen Tschungiten wanderten sehr weit nach Norden. Mit den alten Türken ist es ähnlich. Denken Sie nur an die Karaimen in Polen, an die Tschuwaschen, bzw. die Tataren-Baschkiren in Russland an der Wolga. Auch das Jakutische im Nord-Westen Sibriens ist eine Turksprache. Selbst in der Mongolei gibt es turksprachige Minderheiten.“
…minor turkey…. (abblenden)

Erzähler:
Es gebe einen gemeinsamen Schlüssel, so Dr. Schaki, der zu all diesen Sprachen führe, von den tungisischen Stämmen im Norden über das Türkische und Mongolische bis ins Ungarische hinein. „Es sind“, erklärt Dr. Schaki, „Sprachen mit derselben Struktur: Sie agglomerieren. Das heißt“, erklärt sie, „man bildet Sätze durch Anhäufung, man hängt die Suffixe ans Ende der Wörter. Im Grunde“, fasst sie zusammen, „denken die Menschen ähnlich:“

O-Ton 7: Frau Schaki, Forts.    0,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß abblenden

Übersetzerin:
„Since this area…
“Soweit es diesen Raum betrifft, ich spreche vom Steppengebiet Euroasiens, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Menschen in einer Art Netz miteinander lebten. Sie beeinflussten sich immer gegenseitig.“
…each other.“ (abblenden)

Erzähler:
Paläontologen, Ethnologen, Archäologen und viele andere Forscher und Forscherinnen durchstreifen den Raum in ausgedehnten Expeditionen, um dieses Netz zu erforschen. Seit der Öffnung des Altai 1991 geschieht das mit Unterstützung der UNESCO, die den Altai zum Weltkulturerbe erklärt hat. Entdeckungen wie die Saurierfriedhöfe in der Wüste Gobi, wie die vollkommen erhaltenen Mammuts im Permafrostboden Sibiriens, die dort offensichtlich von einem Moment auf den nächsten eingefroren waren, lassen die Erkenntnis aufkommen, dass das sibirische Zentralasien und als sein geografischer Mittelpunkt der Altai einstmals nicht nur für Großtiere und Urpflanzen, sondern auch für Vorläufer der menschlichen Rasse günstige, möglicherweise sogar besonders günstige Entwicklungsbedingungen boten.
Einer, der sich diesem Thema besonders gewidmet hat, ist der mongolische Archäologe und Anthropologe Belikt Lowzenwandon Besutow. Die Kompliziertheit seines Namens erklärt sich daraus, dass er nach alter Tradition dazu übergegangen ist, nicht nur Vor- und Vatersnamen, sondern auch seinen Stamm-Namen Besutow zu führen. Was Linguisten sich erschließen müssen, sieht er durch archäologische und anthropologische Funde erwiesen: Der Altai, meint er, war ein Schmelztiegel, wenn nicht gar der Ursprung all der Völker, die man heute in Euroasien kennt. Begeistert zeigt er seine neuesten Schädelfunde:

O-Ton 8: Belikt Lowzenwandon Besuto,
Anthropologe in Ulaanbaator    0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja magu pakasatj…
„Ich kann Ihnen mein Material zeigen, meine menschlichen Schädel, mein Material an menschlichen Knochen. Ich untersuche sie, ich vermesse die rassenmässigen Charakteristiken:
…karakteristiki.“ Papiergeraschel

Erzähler:
Bei diesen Worten wickelt er die sorgfältig ausgepackten Schädel aus, weist auf die Unterschiede der Schädelbildung hin: Breites Gesicht, flache Nase hier, hohe enge Stirn, hohe Nase dort. „Schon in der Bronzezeit lebten sowohl Mongoloide wie auch Europäide hier“, erklärt er, „genau wie heute.“ Auch heute finde man alle Typen in allen möglichen Mischformen im sibirisch-zentralasiatischen Raum. Sie kommen alle, so der Forscher, aus dem Raum des Altai. Endlich könne er das jetzt beweisen:

O-Ton 10: Belikt Lowzenwandon, Forts.    0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Swje Mongolowedi…
„Das sagen alle Mongoloweden: Es gibt eine große Familie der altai-ischen Sprachen. Das ist der kultur-historische, der geografische Raum der großen Steppe. Von Korea, von der nordchinesischen bis zur südrussischen Steppe, der ganze Steppenkorridor, war immer schon ein Siedlungsgebiet; nach Christi Geburt dann die Hunnen, Sembizen, Dschudjanen, Türken, Uiguren, Kirgisen, später die Mongolen, Tschingis Chan. Sie alle haben zeitweise über die Bewohner der Steppe geherrscht, Nomaden.“
…katschewnikami.“ Tür

Erzähler:
Prof. Alexander Fedotow, ein junger Bulgare mit Begeisterung für die neue Zeit, aber tiefem Verständnis für die Bedeutung von Traditionen, will noch weiter vordringen. Er versucht, den Mythos des Altai zu erfassen, der in seinen Epen, Gesängen und schamanischen Traditionen lebt. Prof. Fedotow forscht und lehrt an der Universität zu Sofia, verbringt aber viel Zeit auf Expeditionen in Korea, der Mongolei, Südrussland oder im Hoch-Altai. Er fand heraus, dass all die Gebiete durch gemeinsame mythische Motive miteinander verbunden sind; am Motiv dessen, was er die „Wunderbare Geburt“ nennt, wirbt er vor Kollegen und Kolleginnen für diese Sichtweise:

O-Ton 10: Prof. Fedotow, Alta-ist aus Bulgarien    2,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„So, the motive of miraculous birth…
“So ist das Motiv der wunderbaren Geburt also in Legenden weit verbreitet. Der Hauptcharakter solcher Inkarnationen ist üblicherweise himmlischen Ursprungs. Er kommt zur Erde herunter nach besonderen Angeboten und Gebeten, die von seinen zukünftigen Eltern vollbracht wurden. In der Regel sind diese Eltern extrem alt und können keine Kinder bekommen, aber in wunderbarer Weise geschieht es doch. Die Empfängnis geschieht durch Kontakte mit Sonnenstrahlen. Manchmal sind auch Wolken im Spiel, unbekannte Kräfte oder seltsame Kreaturen. Die Geburt geschieht normal aus dem Bauch der Mutter, aus dem Knie oder aus der Achselhöhle. Geburt aus dem Ei bedeutet himmlischen Ursprung, es ist ein Symbol für die Sonne. Der Hauptcharakter ist schön wie die Sonne oder hat einen strahlenden Körper oder ein solches Gesicht. Mythische Charaktere haben eine außerordentliche Kindheit, sie entwickeln sich sehr schnell, sie  und haben außerordentliche Kräfte. Vögel und wilde Tiere beschützen und ernähren sie. Später, wenn die Mythen in epische Erzählungen verwoben sind, ist dieses Motiv eines der wichtigsten. In all diesem gibt es eine große Übereinstimmung in den zentralasiatischen mongolischen, koreanischen und burjätischen Mythen. Das gibt Grund genug, Vergleichstudien zwischen koreanischen und altai-ischen Mythologien zu betreiben. Danke.“
…Thank you for attention”, Beifall

Erzähler:
Im Gespräch konkretisiert Prof. Fedotow, warum er nicht nur Mongolen, Türken, Mandschus, Tungisen, Tuwa, Kasachen und all die bereits von seinen Kollegen und Kolleginnen genannten Völker, sondern auch die Koreaner und selbst die Japaner dem mythischen Raum des Altai zuschlägt. „Bei meinen Forschungen fand ich erstaunliche Übereinstimmungen“, erklärt er:

O-Ton 11: Fedotow, Forts.     1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluss ausblenden

Übersetzer:
„All the things are…
“All diese Dinge sind sehr ähnlich und es sind Dinge, die alle sehr, sehr alt sind. Kann sein, dass sie mit diesen Menschen auf die Halbinsel kamen oder dass sie von Menschen hervorgebracht wurden, die dort schon lebten – so oder so: in dieser Periode war das Bewußtsein das gleiche, es war altai-isch. Danach erst wurden sie Konfuzianer, wurden sie Bhuddisten usw. In jedem Fall ist klar, dass der Altai eine Art kulturellen Zentrums für die Entwicklung vieler Zivilisationen war wie die mongolische, wie die türkische, wie die mandschurische, wie die koreanische. Ich fand auch sehr enge Verbindungen der altai-ischen Welt mit der tibetischen Zivilisation in der materiellen und in der spirituellen Kultur.“
…spiritual culture.“ (ausblenden)

Erzähler:
Über die Behringstraße, die seinerzeit noch passierbar gewesen sein müsse, so Prof. Fedotow, hingen auch die Indianer mit dem Altai zusammen. Davon ist er überzeugt. Gefragt, ob er den Klimaverschiebungen des vorgeschichtlichen Sibirien Bedeutung für seine Forschungen beimesse, antwortet er:

O-Ton 12: Fedotow, Forts.     1,06
Regie: O-Tom kurz steteh lassen abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da,da, da….
„Ja, ja, ja, ja, ja! Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber schließlich und endlich müssen die Wissenschaftler der unterschiedlichen Gebiete auf diese oder jene Weise wahrscheinlich ihre Entdeckungen vereinigen. Es ist durchaus möglich, dass bis zu einer Naturkastrophe im Raum des Altai ein in jeder Beziehung angenehmes Klima für die Entstehung einer archaischen Megazivilisation bestand, die sich dann ausgebreitet hat. Man kann die Augen einfach nicht davor verschließen, dass all diese Menschen, auch die Japaner, obwohl sie dem vielleicht nicht zustimmen mögen, und die Koreaner, die ganze Bevölkerung entlang des Flusses Amur, alle mongolischen Völkerstämme und die türkischen eine Menge Gemeinsames verbindet – sowohl die Sprache, das vor allem, wie auch die Merkmale ihrer materiellen Kultur.“
… attuda.“ Lachen

Erzähler:
Und sie wissen vermutlich auch, lacht er, dass in Europa ebenfalls mindestens zwei Völker existieren, die sich von dieser Kultur herleiten, die Ungarn und die Bolgaren, nicht zu vergessen die vielen nicht-slawischen Völker im Kaukasus und an der mittleren Wolga, die Unganrn und die Finnen: Die ganze ethnische Geschichte dieses riesigen Zentralasiens, findet er, bedürfe dringender wissenschaftlicher Erforschung:

O-Ton 14: Fedotow, Forts.    1,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wide nauke…
„In der Wissenschaft wird Zentralasien als ethnischer Kessel bezeichnet. Da gibt es so viele ethnische Gruppen, eine vermischte sich mit der anderen usw. usw. und das alles ging – historisch gesehen – vergleichsweise schnell. All diese Gruppen  charakterisieren sich durch einen bestimmten Verhaltenstyp, eine bestimmte Lebensart: Sie waren entweder Nomaden oder Halbnomaden.Deshalb denke ich, dass in den Vorstellungen von einer Megakultur ein rationaler Kern liegt. Die Völker sind durch die gleichen geografischen Bedingungen verbunden. Sie können nicht anders existieren. Korn ist nur auf kleinsten Flächen anbaubar, weil das Klima einfach zu rau ist. Gras gedeiht nicht auf dem Boden; hier hält man Vieh, das Gras muss sich im Winter selbst erneuern. Hier in Zentralasien gab es keine dauernden befestigten Städte, weil das einfach nicht möglich war. Man betrieb Tierzucht, bearbeitete Leder, Metall, trieb Handel mit China wie auch mit dem Westen“

Musik 3: Gesang    1,04
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Übersetzer, Forts.
In der Welt gibt es nun einmal Welt die beiden Arten von Zivilisation, die sesshafte und die nomadische. Die nomadische entwickelte sich zwischen den sesshaften Polen. So hat es sich entwickelt.“
…tak polutschilas.“

Regie: O-Ton ausblenden, Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Ökologische Nische, Etnischer Kessel, Megakultur – damit ist das Thema benannt, das den Raum des Altai heute zur Attraktion werden lässt. Romantiker und Visionäre aus aller Welt suchen darin eine Alternative zur industrialisierten Welt. Das gilt vor allem für Russen aus den städtischen Ballungszentren, also aus Moskau und St. Petersburg; für die sibirischen Städte Nowosibirsk, Krasnojarsk oder für kleinere Industrie-Agglomerationen ist der Altai – russische Maßstäbe für Entfernungen berücksichtigt – Nah-Erholungsgebiet.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen, danach langsam abblenden

Einer dieser Menschen ist Boris Werschinin. Er ist Direktor des Museums für Völkerkunde in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau und leitender Mitarbeiter in der Moskauer Kulturorganisation „Ethnost“, die sich um eine Aufarbeitung und Pflege der innerrussischen Völkerbeziehungen bemüht. Er ist leidenschaftlicher Verehrer des Altai, den er auf den Spuren seiner großen Vorbilder Nicolas und Helena Roehrich immer aufs neue bereist. Sie entdeckten in den zwanziger Jahren den Altai im Zuge einer sechsjährigen Expedition für Russland spirituell.  Roerich-Gesellschaften, die es heute in fast in allen größeren Städten Russlands gibt, spielen gegenwärtig eine wichtige Rolle als Stichwortgeber einer kulturellen und spirituellen Erneuerung des Landes. Im Altai sind Nicolas und Helena Roehrich bis heute hoch geachtet. Am Rande eines Kongresses in Ulaanbaator erklärt Boris Werschinin sein Engagement für den Altai auf den Spuren der Roerich-Expedition mit den Worten:

O-Ton 14: Boris Werschinin,     0,47
Direktor des Museums für Völkerkunde
in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta expeditia, ana…
“Diese Expedition war keine normale Expedition. Diese Expedition war mit der kosmischen Evolution der Menschheit verbunden. Wir wissen alle, dass auf dem Planeten immer ein kosmischer Focus entsteht, das heißt, eine besondere Region, die mit dem Kosmos verbunden ist. Und auf diesem Boden geschieht gewissermaßen eine energetische Entzündung und dort geschieht die Erzeugung einer neuen Kultur, einer neuen Zivilisation. Und periodisch verlöschen diese Kulturen und die Zivilisationen gehen zugrunde.“
…rasruschajetsja.“

Erzähler:
Boris Werschinin interessiert sich für dies alles, wie er aufzählt, unter vier Gesichtspunkten:

O-Ton 16: Werschinin, Forts.    1,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, wa perwich…
„Erstens ist es ein besonderes Territorium, das eine einzigartige geografische Landschaft besitzt, Gebirgsformationen: Himalaya, Tien Schan, Altai, Sajan. Sie bilden gleichsam eine Tasse, genannt Trofanski Asis, deren tiefste Stelle 200 Meter unter dem Meeresspiegel liegt, also effektiv eine Tasse. Zweitens interessieren mich die Erfahrungen der Expedition selbst, die eine Entwicklungslinie für unsere menschliche Kulturentwicklung markiert hat. Drittens bildet die Region eine ökologische Nische, die bisher nicht urbanisiert wurde. Man muss sie als ökologische Ressource erhalten und entwickeln, denn für den Planeten ist es wichtig, eine solche große Reproduktionszone zu haben, die den Planeten harmonisieren kann. Aus der Sicht der Ökologie ist es eine Oase der Zukunft, welche die einzigartige Möglichkeit bietet, dort schon heute neue Technologien, schadstofffreie Produktion, biologisch saubere Nahrung zu entwickeln usw; außerdem qualifizierte neue Energie, denn hier gibt es besondere Energien, die man nutzen kann. Das ist ein Zukunftsprojekt. Viertens interessiert mich die Region unter dem Gesichtspunkt der Geopolitik: Diese Region ist ein Rad, das  umgeben ist von großen Reichen: Im Norden Russland, im Osten das große China, im Süden Indien und im Westen die islamische Zivilisation. Die Region trennt diese Welten einerseits, schützt sie als Puffer sozusagen, andererseits vereinigt sie sie. Die Reiche können und müssen daher an diesem Projekt und Programm mitwirken.“
…wot etich programm.“

Erzähler:
Noch höher, ganz auf der Höhe der Zeit, siedelt Bat Sur Dschem Jangin das Thema an. Er ist Direktor des „Zentrums für nationale Anthropologie am medizinischen Institut“ von Ulaanbaator in der Mongolei. Seine Interesse gilt der Erhaltung des genetischen Fonds Zentralasiens. Unter genetischem Fond versteht er die Fähigkeit, welche Völker entwickeln, sich an die ökologischen Bedingungen eines bestimmten Raumes anzupassen. In einer Zeit, in der globalen Migration, in der Viren mit Überschallgeschwindigkeit rund um den Globus geschleppt werden könnten, so der Genetiker, bestehe die Gefahr, dass die Fähigkeiten zur Anpassung verlorengingen:

O-Ton 16: Bat Sur Dschem Jangin     0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen. Abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna ssewodnja charascho…
„Natürlich, das ist heute gut: Die Menschen lieben einander, treffen sich, heiraten, bekommen Kinder, weltweit, alles gut, einerseits macht das nichts. Andererseits verlieren die Genfonds, die an eine ökologische Nische angepasst waren, ihr Gleichgewicht; es können Gene eingeschleppt werden, die nicht angepasst sind. Sie können Krankheiten verursachen. Wir studieren den Genfond der hiesigen Bevölkerung daher mit dem Ziel, den eingeborenen, ursprüglichen Genfonds zu erhalten.“
…aboregeni Genofond (ausblenden)

Erzähler:
Im INTERNET wird der Altai heute als bevorzugte Adresse für zivilisationsmüde Städter aus aller Welt angeboten, die hoffen, dort einen echten Schamanen zu treffen. Die wenigen nach dem Aderlass der Sowjetzeit dort praktizierenden Schamanen dagegen ziehen sich vor diesem Rummel in die Berge oder einfach in die Anonymität zurück. Es stellt sich die Frage: Der Altai als Bio-Park, als Museum für lebende Nomaden und globaler Genfond – kann dies die Lösung für die Probleme der industriellen Welt sein?

Musik 4:     1,34
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Wäre es nicht richtiger, einfach von der nomadischen Kultur zu lernen, wie man weniger Ressourcen verbraucht, wie man mobiler unterwegs sein kann, wie man die Verbindung zur Erde mit allen Sinnen, aber auch mit allen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten von heute erneut aufnehmen kann, also energisch voran, statt wieder einmal zurück zur Natur zu schreiten? Die Auseinandersetzung um diese Frage hat erst begonnen. Der Altai wird dabei ein wichtige Rolle spielen.

Wunder Putin – oder soziales Pulverfass?

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Wunder Putin – oder soziales Pulverfass?

Ein Jahr ist Wladimir Putin inzwischen Präsident Russlands. Die Aufregung um den Machtwechsel an der Spitze des Landes hat sich gelegt. Aus Mr. Nobody, der außer dem Krieg gegen die Tschetschenen kein Programm vorzuweisen hatte, wurde der erklärte Stabilisator, der allen alles verspricht. Den einen stellt er die Fortsetzung der liberalen Reformen in Aussicht, den anderen die Rückkehr zu den traditionellen russischen Gemeinschaftsstrukturen, stabile Profite durch Abbau der kostenlosen Sozialfürsorge hier, eine gerechtere, demokratischere und sozialere Gesellschaft dort. Vaterländische Gesten wie die soeben vom Präsidenten höchstpersönlich angeordnete Wiedereinsetzung der sowjetischen Hymne, modernisiert durch einen neuen Text, sollen diesen Kurs der Versöhnung symbolisieren. Wie weit stimmen Worte und Taten, klassenversöhnende Symbolik und Realität überein?
Kai Ehlers hat sich im Lande umgeschaut.

O-Ton 1: Addidas Turnschuh-Fete                                          1,05
auf dem Platz der Revolution
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, vor Antworten (030) hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Moskau. Innenstadt. Platz der Revolution: Wo früher nur Lautsprecher und Megaphone von Versammlungsrednern zu hören waren, hämmern jetzt Techno-Rhythmen von einer gewaltigen Bühne, welche die Firma Addidas hier aufgestellt hat. Acht für ein paar Tage auf den Platz gemalte Spielfelder laden zum Basketball spielen ein; Bälle und Turnschuhe werden gestellt. Alle Felder sind pausenlos von jugendlichen Spielern besetzt. Die Firma Sprite spendiert kostenlose Erfrischung. Vorbeigehende Passanten sind überwältigt.

Regie: Bei 0, 30 vorübergehend hochziehen, Sprache kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Einfach toll, dass unsere Jungs sich hier tummeln können“, meint ein Mädchen, das soeben aus der Metro auf den Platz kommt, „besonders, dass es im Zentrum ist.“
„Echt Klasse, einfach super“, ergänzt ihre Freundin.
…„super“, Musik

Regie: Unter dem Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:
Ältere Passanten sind ein bisschen verwirrt. Eine Frau, sichtlich abgearbeitet, rätselt: „Ich Verstehe nicht, worum es geht. Wahrscheinlich ein Fest. Für mich ist das nichts mehr“, setzt sie hinzu, „aber gut für die Jugend!“

O-Ton 2 : Fortsetzung Addidas-Fete        0,28
Regie: O-Ton unter Erzähler kommen lassen, zum Stichwort „Pepsi“ hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen, beim Stichwort „Putin“ wieder hoch kommen lassen, abblenden

Erzähler:
Wer das hier macht? Unser Bürgermeister wahrscheinlich, lachen zwei junge Männer. Wirklich gut, finden sie.

Regie: zum Stichwort (0,05) „Pepsi“ vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

„Aber wir sind keine Pepsis“, schränken sie ein: „Das zieht bei uns schon nicht mehr.“ Sie loben ihren neuen Präsidenten, Wladimir Putin. Ja, der macht es möglich. Mit den Oligarchen räume er auf. Ein soziales Programm habe er auch. Überhaupt, habe er erst angefangen.
…totschna.“ Töne

Erzähler:
Dies ist der Tenor, den man gegenwärtig rundum im Lande hört. In ihm klingt die Selbstdarstellung der Regierung nach, wie sie auch im Ausland zu vernehmen ist. So erklärte Russlands neuer Ministerpräsident Michail Kassjanow in einem Vortrag über „Leistungen und Vorhaben“, den er bei einer Veranstaltung des „Deutsch-russischen Forums“ und des „Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft“ im Dezember 2000 in Berlin hielt:

Zitator:
„Wir werden bürokratische Verfahren verringern, es gibt ein neues Steuergesetz, einheitliche Sozialabgaben, einheitliche Importzölle, weniger Umsatzsteuer. Betriebskosten werden, was schon lange von Investoren gefordert wird, steuerlich absetzbar. Wir haben zur Zeit ein Profizit von 2,5%; das ist der erste Überschusshaushalt. Wir arbeiten an der Transformation des Schuldenproblems  in Fördermittel der Investitionen. Strukturelle Reformen werden bei staatlichen Monopolen durchgeführt: Energie, Wohnung, Transport, insbesondere bei GASPROM, der gesamtrussischen Gasbewirtschaftung.“

Erzähler:
Ein Wachstum von 10% schreibt die Regierung Putins sich auf die Fahnen, wobei offen bleibt, wie sich das auf das Jahr verteilen wird. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sie eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht: Strukturelle Reformen, das bedeutet, Entmonopolisierung, weitere Privatisierung, Umstellung der Zuteilungswirtschaft auf Geldverkehr. Eine Verordnung wurde erlassen, die Bartergeschäfte, also Naturaltausch zwischen Betrieben, eingeschränkt und die Betriebe zur Zahlung von Löhnen anstelle der Vergütung durch Naturalien oder soziale Dienstleistung verpflichtet. Die Steuerreform brachte Erleichterungen für Großverdiener und Großunternehmen. In einer Vielzahl von Betrieben haben sich die Lohnzahlungsrückstände verringert. Das ist eine Bilanz, die niemand erwartet hat und so sind die weiteren Erwartungen groß, auch wo die Skepsis gegenüber Wladimir Putin nicht zu übersehen ist. Das gilt vor allem für die „Föderation freier Gewerkschaften Russlands“, die seit 1991 landesweit das Erbe des alten sowjetischen  Gewerkschaftsverbandes angetreten hat.
Alexander Afonin, Betriebsratsvorsitzender und Sekretär der „Föderation der freien Gewerkschaften“ in der Moskauer Fabrik für Kugellager, kurz „Podschebnik“ genannt, mit einer ca. 8000köpfigen Belegschaft einer der größten Betriebe Moskaus, zeigt sich ganz angetan von der neuen Entwicklung. Endlich werde das alte System abgelöst, in dem die Arbeiter mit Geschirr, Wodka, Büstenhaltern oder womit immer sonst losgeschickt wurden und sich ihren Lohn ein zweites Mal erarbeiten mussten, statt ihr verdientes Geld zu bekommen:

O-Ton 3: Alexander Afonin, Betriebsrat         1,19
in der Moskauer Kugellagerfabrik „Podschebnik“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei Stichwort „Barter“ (0,49) vorübergehend hochziehen, unterlegen, am Schluss hochziehen

Übersetzer:
“A wot tschas imena…
“Ja und gerade jetzt sind wir auf das Geldsystem übergegangen. Klar, das ist ja viel einfacher und besser für uns. Da kriegst du für ehrliche Arbeit, die du mit eigenen Händen geleistet hast, ehrliches Geld. Da kriegt der Arbeiter es wirklich! Wie er es dann gebraucht, ist seine persönliche Sache. Was soll er mit Wodka! Die Kinder trinken keinen Wodka! Die Frau trinkt nicht. Er selbst kann sich auch nur einmal betrinken. Aber essen muss man, Kleidung braucht man, Kindergarten muss bezahlt werden, das Kind muss in die Schule, das kostet doch alles! Deshalb ist die Politik jetzt auf dem richtigen Weg: Es ist Zeit die Barterei einzuschränken.“

Regie: Bei 0,49, Stichwort „Barter“ vorübergehend hochziehen,

Erzähler:
Zweifeln begegnet Betriebsrat Afonin mit dem entwaffnenden Hinweis, irgendwann müssten doch alle einmal zahlen.  So oder so, auch wenn noch nicht alles so sei, wie man es sich wünsche, insbesondere natürlich in den Regionen, habe sich die Situation unter der neuen Regierung doch entschieden stabilisiert.“
…namnoga stabilisiruitsja.“

Erzähler:
Selbst erklärte Gegner Wladimir Putins, die nichts von dem sozialpartnerschaftlichen Kurs halten, den die „Föderation freier Gewerkschaften“ gegenüber der Regierung eingeschlagen hat, die in der „Föderation“ vielmehr die Verlängerung der alten sowjetischen Staatsgewerkschaften unter neuem Namen sehen, kommen nicht umhin, die Verbesserung der Lage zu konstatieren. So Sergej Trochin, Arbeiter bei „Podschebnik“, Aktivist der linksradikalen Splittergewerkschaft „Saschita“, auf deutsch: Schutz, die in der 1998 entstanden ist. Ihr erklärtes Ziel ist die erneute Vergesellschaftung des Betriebes. Sergej Trochin beschreibt die aktuelle Lage bei „Podschebnik“ so:

O-Ton 4: Sergej Trochin, Arbeiter bei „Podschebnik“,        0, 31,5
Aktivist der Gewerkschaft „Saschita“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela we tom schto…
„Paradox , aber wahr: Dem Betrieb half die Krise.  Davor arbeitete er so: Verbrauchen, verbrauchen, sammelte Schulden, Lohn wurde zurückgehalten. Aber nach dem 17. August, auf Grundlage dessen, dass jetzt ein ziemlich großer Teil der Produkte in den Export geht, wurde die Fabrik profitabel.“
…sawod stal pribelno.”

Erzähler:
In kargen Sätzen begründet er, wie es dazu kam:

O-Ton 5: Trochin, Forts.        0,46
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Pokupajet…
„Jetzt kaufen verschiedene Betriebe. Natürlich ist das immer noch weniger im Vergleich zu früher. Aber wir haben große Verbraucher: Ministerium für Verkehr – Eisenbahnen; die Waggons laufen hauptsächlich auf unseren Kugellagern, Automobilfabriken – Wolga, Moskwitsch, Schiguli. Die ganze Situation wird wieder etwas besser. Solche Aufträge, von denen ich sprach, hat es lange nicht mehr gegeben. Jetzt gibt es sie. Das ist das, was ich von meinem Platz aus erkennen kann.“
..tak widna.“
Erzähler:
Mit weit größerem Abstand betrachtet Alexander Busgalin die Entwicklung. Busgalin ist Professor für Ökonomie an der „Moskauer staatlichen Universität“ und zugleich führendes Mitglied der Gruppe „Alternativen“, eines Zirkels kritischer Intellektueller, die sich als Keim einer reformsozialistischen Bewegung verstehen. Auch der Professor sieht sich veranlasst, einen leichten Aufschwung zu konstatieren:

O-Ton 6: Prof. Alexander Busgalin, Ökonom    0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na ssammom djele…
„Die Welle der Streiks ist in den letzten Monaten nicht so hoch, wie  früher. Es gibt ein gewisses Wachstum der Produktion. Um einiges besser steht es um die Auszahlung der Löhne, hier und da haben sich die Bezüge sogar erhöht. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Situation für die Arbeiterschaft sich gebessert hat und die Bewegung von Streiks des klassischen Typs ein bisschen zurückgegangen ist.“
…tschut mensche.“

Erzähler:
Das könne man durchaus eine Stabilisierung nennen, meint der Professor. Sie habe allerdings nicht erst mit dem Regierungsantritt Wladimir Putins begonnen, sondern bereits mit dem Bankenkrach von 1998, in dem der gesamte auf Spekulationsgeldern aufgebaute Ex- und Import-Boom zusammengebrochen sei. Seit dieser Zeit entwickle sich, wenn auch langsam, ein einheimischer Markt mit einheimischen Produkten. Darüber hinaus sei die Stabilität widersprüchlich, schließe einige negative Elemente ein:

O-Ton 7: Busgalin, Forts.        0,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„No eta imena…
„Es ist die Stabilisierung eines Übergangssystems, dieses befremdlichen Organismus zwischen Liberalismus und Autoritarismus, der sich bei uns herausgebildet hat. Ich nenne ihn deformierten oder auch mutierten Kapitalismus.“
…mutantnom Kapitalismom … organism“

Erzähler:
Der Mutant, so Busgalin, habe durchaus die Chance ein wirtschaftliches Wachstum zu entwickeln. Besser als eine Krise der ständigen Zerrüttung sei er allemal. Jedoch trage er den Keim kommender Konflikte in sich:

O-Ton 8: Busgalin, Forts.        0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer
„Eta dawolni…
„Es gibt ja das bekannte Paradoxon, dass wirtschaftliches Wachstum nicht Niedergang, sondern Belebung der Arbeiterbewegung nach sich zieht, wenn die Arbeiter begreifen, dass Bedingungen gegeben sind, unter denen sie für ihre Rechte kämpfen können und müssen. E sieht alles so aus, als ob sich das in Russland so entwickeln könnte.“
…dastatischno positivno.“
Erzähler:
Die Realität gibt Prof. Busgalins Theorien recht. Die einsetzende wirtschaftliche Entspannung kommt keineswegs automatisch der arbeitenden Bevölkerung Russlands zugute, im Gegenteil, sie droht deren Ausbeutung noch zu verschärfen. Moskaus Musterfabrik „Podschebnik“ führt es vor. Aktivist Sergej Trochin ist sehr besorgt:

O-Ton 9: Sergej Trochin, Arbeiter bei “Podschebnik”    0,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela we tom schto..
“Die Sache ist die: Auf der Aktionärsversammlung wurde erklärt, dass die Fabrik einen soliden Profit macht, dass sie ein rentables Unternehmen geworden ist. Sofort danach begann der Kauf von Aktien durch verschiedene Leute. Rentable Unternehmen sind heute eine Seltenheit, umso mehr als dies eine große Fabrik ist.“
…bolschoi sawod.“

Erzähler:
Diese Entwicklung bedeutet: Kaum ist der Betrieb in die Zone der Profitabilität gekommen, stürzen sich die Aktienspekulanten auf ihn. Die Gefahr, dass der Betrieb von Spekulanten übernommen wird, die den Profit abziehen, statt ihn in eine Modernisierung der Anlagen und höheren Lohn für die Belegschaft zu investieren, vereint die beiden ansonsten voneinander entfremdeten Gewerkschaften. „Saschita“ agitiert mit Betriebsflugblättern und in „Mitings“ vor dem Betrieb gegen die betriebsfremden Käufer. Die „Föderation der freien Gewerkschaften“ versucht den Kauf der Aktien durch die Belegschaft, einschließlich Direktor und Betriebsveteranen zu organisieren. Betriebsrat Afonin, soeben noch voll des Lobes über den Aufschwung, erklärt:

O-Ton 10: Alexander Afonin, Betriebsrat     1,31
bei „Podschebnik“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, bei 0,45 („tak prodolschatj“) vorübergehend hochziehen, unterlegen, am Ende hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Chatja wo to schto..
“Andererseits – was sich gegenwärtig um die Fabrik herum abspielt, das ist genau die negative Seite: dass sich alle die, die sich um die sogenannte Privatisierung von Unternehmen bemühen,  jetzt auf unseren Betrieb stürzen, um Aktien zu kaufen, Firmen, Organisationen, Personen, ganz beliebig. Für irre Summen wollen sie von unseren Betriebsmitgliedern Aktien erwerben. Wir wollen aber die Dividende für die Fabrik haben. Deswegen haben wir  jetzt faktisch einen Aufkauf von Aktien durch die Belegschaft des Betriebes organisiert, damit wir auf dem guten Wege weitermachen können.“
… tak prodolschatj.“

Regie: Vorübergehend bei 0,45 hochziehen

Erzähler:
Der „gute Weg“, von dem Afonin spricht, ist der Weg einer Musterfabrik, die zu Sowjetzeiten durch effektive Produktion, aber auch durch besondere soziale Leistungen glänzte: betriebliche medizinische Versorgung, Kindergärten, Sportstadion, mehrere Ferienanlagen, Pioniercamps, betriebseigener Kulturpalast bis hin zur Betriebsrente. Vieles davon, so Afonin, hat man bis heute erhalten und will es weiter behalten. „Wir“, die sich darum kümmern – das ist der Aktionärsrat, gewählt von der Mehrheit der Aktionärsversammlung, die sich aus der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung, dem Direktor und jenen Kollegen zusammensetzt, die Aktien des Betriebes besitzen. Sogar Bürgermeister Juri Luschkow, so Afonin, unterstütze diese Kampagne.
…nam tosche.“

Erzähler:
Eine paradoxe Situation ist entstanden: Der relative Aufschwung unter Wladimir Putins Präsidentschaft mobilisiert den Widerstand gegen die Fortsetzung der Privatisierung, welche die Regierung Putins sich auf die Fahnen geschrieben hat. Sogar Moskaus Bürgermeister Lyschkow unterstützt den Widerstand des Betriebskollektivs gegen die Aktienhaie. Er muss verhindern, das der zweitgrößte Betrieb der Stadt von Spekulanten ruiniert und die Stadtkasse durch soziale Kompensationen wie Arbeitslosengelder, Fürsorge usw. belastet wird. Moskau, obwohl reicher als die Regionen, ist kein Einzelfall; Konflikte dieser Art kennt man auch an anderen Orten: Oleg Babitsch, als „Koordinator der Gewerkschaft Saschita“ an solchen Aktivitäten in ganz Russland beteiligt, fasst die neue Entwicklung so zusammen:

O-Ton 11: Oleg Babitsch,        1,54
Koordinator der Gewerkschaft „Saschita“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen, ausblneden

Übersetzer:
„Nu, skaschim tak,…
„Nun, sagen wir es so: Es ist keine sehr eindeutige Situation. Auf der einen Seite kann man in der Tat einen Niedergang der Arbeiterbewegung beobachten, das heißt, die Zahl der Aktionen hat sich gegenüber 1998 stark verringert. Das liegt daran, dass Lohnrückstände weitgehend gezahlt wurden; viele Unternehmen haben die Arbeit wieder aufgenommen; besonders deutlich wird das im sog. militärisch-industriellen-Komplex, das hat mit dem Krieg in Tschetschenien zu tun, mit der neuen Haltung unserer Regierung gegenüber der Armee. Dadurch ist Geld in diese Fabriken geflossen, Aufträge, die Arbeiter kamen in die Fabrik, bekamen ihren Lohn. Andererseits sind jedoch die Aktionen, die gegenwärtig stattfinden, bewusster. Das heißt, spontane Auftritte wurden weniger, aber die Aktionen wurden exakter, organisierter. Das wird sich weiter entwickeln. Darüber  hinaus kann man sagen, dass die Aktionen der Arbeiter immer öfter nicht nur einen organisierteren, sondern auch einen politischeren Charakter tragen. Wenn es früher hieß: `Nieder mit Jelzin!´, dann war das klar. Alle hatten ihn satt. Heute heißt es nicht `Nieder mit Putin!, sondern die Forderungen tragen bewussten antikapitalistischen Charakter. Die Belegschaften treten gegen ihren Eigentümer nicht  nur deswegen an, weil er den Lohn nicht zahlt, sondern weil sie verstehen, dass er sie ausraubt, dass er sich aneignet, was sie mit ihren Händen erarbeiten. Das ist aus meiner Sicht eine günstige Entwicklung.“
…na moi wsgljad.“

Erzähler:
Was den radikalen Gewerkschafter mit Hoffnung erfüllt, ist vor allem die große Zahl von Auseinandersetzungen die dort aufflackern, wo neue Eigentümer versuchen, die Betriebe in Besitz zu nehmen. Dies geschieht nicht nur in Moskau, sondern in verschiedensten Teilen des Landes:

O-Ton 12: Babitsch, Forts.    0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja magu…
„Ich kann einige ziemlich große Aktionen nennen: Das ist das Zellulose-Kombinat von Wyborg im Leningrader Bezirk, wo die Arbeiter den Betrieb besetzten und vom Staat forderten, den Betrieb zu verstaatlichen. Eine vergleichbare Aktion gab es in Nischninowgorod, ebenso in einer Kohlegrube im Kusbass, wo die Arbeiter forderten, den Betrieb zum Kollektivermögen zu erklären. Im Bezirk Astrachan gibt es Aktionen in einem Baubetrieb. Diese und ähnliche Aktionen gab es bereits und sie häufen sich.“
…bolsche i bolsche.“

Erzähler:
Die Meetings, die spontanen Streiks, die Besetzungen zur Verhinderung von Betriebsübernahmen durch Neu-Eigentümer bleiben nicht immer friedlich. Die Wyborger Rangeleien konnte man im Fernsehen beobachten, dort wurde erstmals geschossen; immer öfter gibt es Zusammenstöße mit der Spezialtruppe OMON; Verhaftungen von Betriebsaktivisten  häufen sich. In Astrachan gab es einen Toten. Oleg Babitsch macht sich wenig Illusionen:

O-Ton 13: Babitsch, Forts.        1,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My dumajem…
„Wir glauben, dass man schon in nächster Zeit beginnen wird nicht nur uns, sondern die Arbeiterbewegung insgesamt zu unterdrücken. Warum? Sagen wir so: Weil die wirtschaftliche Situation die Regierung zwingt, Auswege zu suchen. Seit den Ereignissen vom 17. August 1998, als der Preis für die Arbeitskraft in Russland um das Dreifache sank, er schon dem Preis der Arbeitskraft in Afrika oder Asien vergleichbar wird, ist das Einzige, was der russischen Regierung noch für die Sanierung der Investitionen fehlt, die politische Stabilität. Der ausländische Investor hat Angst, dass er investiert und die Belegschaften gehen in Streik, sperren die Straßen, besetzen die Betriebe. Deshalb ließ Putin schon letztes Jahr erklären: Wer sperrt, der sitzt. Ebenso wird es demnächst heißen: Wer streikt, der fliegt. Und genau aus diesem Grunde hat es die Regierung so eilig mit dem neuen Arbeitsgesetz. Mit ihm sind dann die Aktionen, die jetzt noch legal sind, die Rechte, die jetzt noch eingeklagt werden können, einfach nicht mehr möglich. Das wird uns zu radikaleren Aktionen treiben. Die Herrschenden werden darauf mit Verhaftungen der Aktivisten antworten. Das ist alles nichts, was uns überrascht.“
… udiwitelno.“

Erzähler:
Die Aktivisten von „Saschita“ sind nicht die einzigen, die eine solche Entwicklung erwarten. Ihnen zur Seite steht eine ganze Anzahl radikaler Gruppierungen, die seit 1998 wie die Pilze aus dem Boden schießen. Aber auch die„Föderation freier Gewerkschaften“, obwohl auf sozialpartnerschaftlichem Schmusekurs mit der Regierung, befürchtet das Schlimmste. Auch sie weisen die Vorschläge der Regierung für ein neues Arbeitsgesetz als unannehmbar zurück. Oleg Neterebski, stellvertretender Präsident der Moskauer Sektion der „Freien Gewerkschaften“ erklärt unmissverständlich:

O-Ton 14: Oleg Neterebski, stellv. Präsident     1,01
der „Moskauer freien Gewerkschaften“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To tscho predlagaetsja…
„Dem, was die Regierung der russischen Föderation vorschlägt, stehen wir strikt ablehnend gegenüber, denn es beinhaltet folgendes: Erstens hat man die ganzen letzten Jahre von Reform geredet, jetzt will man die Sanierung der Lage in einer Art vornehmen, die den arbeitenden Menschen alle die Rechte nehmen soll, die ihnen in dieser Zeitspanne gegeben wurden und die Gewerkschaft aus dem Prozess ausschließen. Arbeitsverträge sollen ohne Zustimmung der Gewerkschaft abgeschlossen werden. Können wir uns damit einverstanden erklären? Natürlich nicht. Was beinhaltet die vorgeschlagene Variante?  Ich, Arbeitgeber, mache den Vertrag nur mit dem Arbeiter, also habe ich auch das Recht, den Menschen ohne Zustimmung der Gewerkschaft hinauszuwerfen. Das macht den Arbeitgeber schlicht zum Diktator.“
…diktatorje sdjes.“

Erzähler:
Nach dem Entwurf der Regierung für ein neues Arbeitsgesetz, kurz Kodex der Arbeit genannt, der den noch immer gültigen sowjetischen Kodex ablösen soll, darf der Unternehmer zukünftig selbst bestimmen, mit wem er verhandeln will. Er soll nicht mehr an ein Verhandlungsgebot mit den überbetrieblichen Gewerkschaften gebunden seien. Die weitgefassten Rechte des sowjetischen Kodex sollen eingeschränkt werden, so etwa der Mutterschutz, die betriebliche Krankenversicherung, soziale und kulturelle Versorgungsansprüche usw. Die Unternehmer sollen ermächtigt werden, schwarze Listen zu führen, in denen sie detaillierte Persönlichkeitsprofile bis hin zu sexuellen Gewohnheiten festhalten dürfen. Entscheidend aber ist die beabsichtigte Ausdehnung des Arbeitsstages auf zwölf Stunden. Die „Föderation freier Gewerkschaften“, insbesondere ihr Moskauer Verband, betrachtet diesen Entwurf der Regierung als gezielten Angriff gegen die Politik der Sozialpartnerschaft, der sie sich verpflichtet fühlt:

O-Ton 15: Neterebski, Forts.          0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Prawokatije…
„Es ist eine Provokation – hier in Moskau haben wir heute vernünftige Regeln. Die Regierung weiß, dass sie die Gewerkschaften braucht und dass man sich lieber nicht mit ihr anlegt. Besser alles auf dem Wege der Absprachen regeln! Gut, es gibt Spannungen, bestimmte Bedingungen, die man einhalten muss – aber so erhält sich der soziale Friede! Wenn man jedoch immer nur die Schwerter kreuzen will, wie das der Entwurf der Regierung jetzt für Russland vorsieht, dann führt das zum Aufstand, heimlich oder offen, auf jeden Fall: Aufstand! Die Ziele, die man erreichen will, wird man so nicht erreichen, das zeigt die Geschichte. Anders läuft es nicht.“
… nje biwajet.“

Erzähler:
Alle gewerkschaftlichen Kräfte sind beunruhigt, Organisationen wie „Saschita“, weil sie Repressionen erwarten, die etablierten Funktionäre der „Föderation“, weil sie den sozialen Kompromiss in Frage gestellt sehen, den sie verfolgen. Aber nicht nur der Entwurf für den neuen Kodex ist Grund ihrer Unruhe. Die aktive Sozialpolitik der Regierung Putins beunruhigt sie ebenso, denn sie verfolgt das gleiche Ziel, wenn sie die gewerkschaftliche Verantwortung für die bisherige betrieblich getragene Sozialfürsorge durch ein System staatlicher Fonds ersetzen will. Wirtschaftsminister Hermann Gref verkündete es Anfang des Jahres in einem Grundsatzpapier, in einem Gesetz zur Sozial-Steuer wurde es von der Duma danach beschlossen: Ab sofort sollen die Sozialfonds für die medizinische, die soziale und die kulturelle Versorgung der Bevölkerung nicht mehr von den Betrieben direkt finanziert oder materiell unterhalten und von den Gewerkschaften als Mittler verwaltet werden; ab sofort soll jeder Mensch seine Sozialsteuern selbst von seinem Lohn an staatliche Sozialfonds abführen. Die Fonds sollen von Staatsbeamten verwaltet werden. Die Regierung verkauft das Gesetz als soziale Errungenschaft. Die Wirklichkeit sieht anders aus, meint Oleg Neterebski:

O-Ton 16: Neterebski, Forts.    0,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Byl dano obeschannije…
“Die Regierung hat versprochen, dass das Gesetz zu keiner Einschränkungen der sozialen Programme führen werde. Tatsächlich wurde schon jetzt die Finanzierung von Kindersportschulen liquidiert;  liquidiert wird die Ausgabe von Mitteln für die Erholung von Arbeitern und anderes mehr. Sie sagen das eine und tun das andere.“
…drogoje.“

Erzähler:
Hier müsse man klarstellen, so Oleg Neterebski ernst, was dem Ausländer nicht ohne weiteres verständlich sein könne: In der Sowjetunion wurde nur ein kleiner Teil der Arbeit in Geld entlohnt, andere, weitaus größere Teile der Arbeit wurden in Form der sozialen Fonds vergütet, aus denen die Menschen medizinische Versorgung für sich und die Familie, Urlaub, Kindergärten, Jugendlager usw. bis hin zum kostenfreien Begräbnis beziehen konnten – scheinbar kostenlos, betont Neterebski, aber eben nur scheinbar, denn diese Sozialfonds wurden ja vom Ertrag ihrer Arbeit aus dem Betriebsvermögen getragen. „So ein System hatten wir früher“ schließt Oleg Neterebski, „jetzt fällt das alles auseinander“:

O-Ton 17: Neterebski. Forts.    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas faktitschiski…
„Nach der sowjetischen Zeit sind die Einkommen rasant gefallen, aber es blieben die sozialen Fonds, die der Mensch, wie arm auch immer, noch nutzen konnte. Durch die jetzige Entscheidung werden diese Fonds praktisch beseitigt, aber das Einkommen bleibt so niedrig wie zuvor. Wenn das wenige Geld, das wegen geringer Löhne in die staatlichen Fonds  kommt, auch noch für andere Dinge ausgegeben wird, etwa für die Bewältigung solcher Katastrophen wie des Unterganges der Kursk, des Brandes  im Moskauer Fernsehturm „Ostankino“ – so etwas haben wir mit dem Pensionsfond leider bereits erlebt – dann bedeutet das, dass diejenigen, die das Geld erarbeitet haben, es nicht mehr nutzen können. Das ist alles.“
… eta swjo.“

Erzähler:
Ob die etablierten Gewerkschaften der Sowjetunion, auch deren Nachfolger seit 1991, also die „Föderation der freien Gewerkschaften“, immer die uneigennützigsten Verwalter der Sozialfonds waren, darf mit Recht bezweifelt werden, nicht von ungefähr kommen solche Gruppierungen wie „Saschita“ auf, die den Bürokratismus und die Vetternwirtschaft der inzwischen schon wieder etablierten Gewerkschaft kritisieren.  Tatsache ist aber, dass die etablierten Gewerkschaften im Verein mit den Betriebsführungen bis heute die einzigen Garanten der sozialen Versorgung der Bevölkerung sind.
Die Verstaatlichung der Sozialfonds kann ihre Rolle nicht ersetzen, jedenfalls nicht durch einen Beschluss von heute auf morgen.
Boris Kagarlitzky, einer der scharfzüngigeren Analytiker der nachsowjetischen Generation, bringt diese Tatsache auf den einfachen Punkt:

O-Ton 18: Boris Kagarlitzky, Analytiker    1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W´prinzipje charoschaja idea…
„Im Prinzip ist eine einheitliche Sozial-Steuer ja eine gute Idee: Einheitliche Verwaltung, Möglichkeiten des Manövrierens mit den Mitteln, Möglichkeiten des Ausgleichs usw. Aber unter den praktischen Bedingungen ihrer Realisierung im heutigen Russland läuft das auf eine schlichte Liquidierung der sozialen Fonds durch den Staat hinaus. Man darf die Dinge ja nicht abstrakt anschauen, sondern muss sehen, was heute die russische Bürokratie ist. Ich würde die Idee der einheitlichen Sozial-Steuern ja unterschreiben – aber bei einer anderen herrschenden Macht. Heut muss man sagen: Solange es noch die Öl-Dollar gibt, wird es für Kanonen und Butter und auch noch zu viel Papier für die Bürokraten reichen. Bleiben die Öldollar aber aus, besteht die Wahl für Russland nicht einmal zwischen Kanonen und Butter, sondern zwischen Kanonen und Butter auf der einen und Bürokraten auf der anderen, denn die Bürokraten verschlingen mehr als die Militärs jemals können.“
…ne bila.“

Erzähler:
Dies alles wäre, täglicher Not der arbeitenden Bevölkerung zum Trotz, doch nur von begrenzter Bedeutung, wenn es allein um die aktuellen Verteilungskämpfe ginge, die in gehöriger Gründlichkeit, aber doch gemächlich über die nächsten Jahre ausgetragen werden könnten. Am Horizont werden jedoch Wolken sichtbar, welche die Übergangszeit des gegenwärtigen Putinschen Wunders erheblich verkürzen könnten. Der Öl-Preis ist nicht stabil. Wenn er stürzt, bricht auch der Puffer weg, der zur Zeit den sozialen Frieden erhält. Technische Katastrophen wie der Brand des Moskauer Fernsehturms „Ostankino“  im August 2000 oder der Untergang der Kursk im selben Monat lassen das Stichwort der „technogenen Katastrophe“ aufkommen, die eintreten könnte, wenn in die Modernisierung der industriellen Infrastruktur nicht schleunigst investiert wird. Deren Verfallsdatum wird von russischen Experten auf das Jahr 2004 datiert. Schließlich ist noch das allerwichtigste Problem Russlands, gewissermaßen seine Schicksalsfrage ungelöst: die Situation auf dem Lande. Hier, das musste selbst Ministerpräsident Kassjanow vor seinen Berliner Zuhörern einräumen, ist von Wachstum immer noch nicht die Rede und hier bestimmen Bartergeschäfte die Wirtschaft noch immer zu mindestens sechzig Prozent. Russland, heißt dies alles, ist nach der Zeit der schnellen Umverteilung des Volksvermögens nun in die Phase der inneren Polarisierung eingetreten. Wie diese verläuft und wie lange sie sich hinzieht, ist von Faktoren abhängig, die nicht zu kalkulieren sind. Das ist Wladimir Putins Chance und seine Bürde.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de