Autor: Peter Sengelmann

Einwanderungsland Sibirien?

Beispiel Irkutsk.

Irkutsk ist eine alte russische Kolonialstadt. Sie entstand aus der Zurückdrängung der Taren-Mongolen durch die Truppen des Moskauer Zaren im 17. Jahrhundert, genau 1661. Der Name Irkutsk selbst zeugt von dieser Geschichte. Er geht, so die Erinnerung von mongolischer Seite, auf das mongolische Hauptstadt der Burjätischen autonomen Republik, Ulan Ude, deren Name sich aus dem mongolischen Ulan-Ut herleitet. Das eine bezeichnet einen kräftigen männlichen, das andere einen offenen, weiten Ort. In beiden Orten, östlich und westlich des Baikal, sahen die Nomaden besondere Kräfte des Natur konzentriert. Die russische Geschichte weiß von dieser Namensentwicklung nichts zu berichten.
Bis in die Anfänge des Zwanzigsten Jahrhunderts war Irkutsk eine gemütliche Ansammlung von Holzhäusern am nördlichen Baikalsee. Mit der sowjetischen Entwicklung wurde das alte Zentrum von Industrieanlagen und Plattenbauten eingekreist. Heute ist auch Irkutsk eine der millonenstarken sibirischen Industrieagglomerationen – allerdings immer noch mit einem historischen Kern und malerisch gelegen am Angara, der aus dem Baikal nach Norden fließt, so daß die Stadt seit Jahren wachsenden Zulauf von Touristen aller Ländern hat.
Seit 1991 allerdings, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, das hört man von EinwohnerInnen, einheimischen Wissenschaftlern ebenso wie von Geschäftsleuten, verändere Irkutsk sein Gesicht zuehends: Man meint damit die azerbeidschanische Vorstadt, die ethnischen Mafias, vor allem aber den chinesischen Markt. Schanghai, heißt es, liegt heute im Zentrum unserer Stadt.
Seit der Öffnung der Grenzen 1991 wurde und wird Irkutsk zunehmend zu einem Ort der legalen, mehr aber noch der illegalen Einwanderung: Es sind Immigranten aus westlichen Teilen der ehemaligen Union, Armenier, Azerbeidschaner, Tschetschenen; es sind Immigranten aus den GUS-Ländern Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, auch aus den südlichen Teilen des sibirischen Rusland, Tuwa, Chakasien, Altai, vor allem aber sind es Chinesen, die zu Tausenden als Händler und Arbeitsimmigranten in die Stadt und in den Regierungsbezirk Irkutsk strömen.
Genaue Zahlen sind naturgemäß nicht bekannt. Die Zahl der legalen Einwanderer hält sich bei einigen zehntausend für Irkutsk in überschaubaren Grenzen, heißt es in der Gouvernementsverwaltung. Über die illegalen Zuwanderer, die von ethnischen Schlepperbanden ins Land geschleust werden, liegen keine Zahlen vor. Die weitaus größte Gruppe, so viel zeigt schon der Augenschein, stellen jedoch die Chinesen, die scharenweise und in wachsendem Masse ins Land kommen.
Genaue Angaben sind schon deswegen nicht möglich, weil die Mehrheit dieser Menschen unangemeldet in der Stadt und im Land Irkutsk lebt – wie auch in den angrenzenden Gebieten. Zudem ist – vornehmlich bei den chinesischen Immigraten – die Fluktuation sehr stark. Manche reisen – mit zeitlich begrenzten Visen von drei Monaten – mehrmals im Jahr ein und wieder aus; andere bleiben nach Ablauf der drei Monate illegal im Lande, wieder andere kommen völlig ohne legale Papiere oder benutzen die ihrer Verwandten. Die Verwaltung, des Chnesischen nicht mächtig, ist nicht in der Lage diese Vorgänge zu kontrollieren.
Vorsichtige Schätzungen gehen für den gesamten sibirischen und fern-östlichen Raum von gut einer Million chinesischer Immigranten aus. Andere, bemerkenswerter Weise, moskauer Angaben liegen bei sechs Millionen. So oder so: Der objektive Druck, den die 1,2 Milliarden starke chinesische Bevölkerung auf den mit 20 Millionen vergleichsweise unterbesiedelten sibirischen und fern-östlichen Raum ausübt, ist unübersehbar.
In der Bewertung dieser Entwicklung ist man vor Ort jedoch erstaunlich nüchtern: Prof. Djadlow von der historischen Fakultät der Stadt Irkutsk beispielsweise, Spezialist für die Entwicklung von Diasporen, insbesondere der chinesischen, deren Entstehung er seit Jahren mit mehreren Forschungsprojekten verfolgt, sieht keine aktuelle Bedrohung des russischen Lebensraumes durch die Immigration, auch nicht durch die chinesische. Er weist vielmehr auf die unterschiedlichen Phasen hin, welche die Immigration, insonderheit die chinesische, seit 1991 durchlaufen habe:
1991 bis 1993, so der Professor, habe die Immigration durch chinesische Kleinhändler Sibirien und den fernen Osten – vielleicht sogar Russland im großen Maßstabe – vor der totalen Katastrophe gerettet, als chinesische Billigstwaren die notdürftigsten Lebensbedürfnisse der russischen Bevölkerung deckten. Zwar habe sich inzwischen ein russischer Markt für gehobene und mittlere Ansprüche herausgebildet, auf dem – Geld vorausgesetzt – alles zu bekommen sei. Für die unteren sozialen Schichten sei der chinesische Billigmarkt jedoch auch heute noch überlebenswichtig.
Zum Zweiten, so der Professor weiter und liegt damit ganz auf der offiziellen Linie der Irkutsker Politik – würden dem russischen, speziell dem sibirisch-fernöstlichen Arbeitsmarkt durch die Immigration die notwendigen, ohne die Immigranten sonst fehlenden Arbeitskräfte zugeführt.
Ganz im Gegensatz nämlich zu den landläufigen, vor allem im Westen verbreiteten Klischés der wachsenden russischen Arbeitslosigkeit, so der Professor, sei der russische Arbeitsmarkt, vor allem der sibirisch-fern-östliche in gefährlichem Maße mit Menschen unterversorgt, die bereit seien, physische Arbeit zu leisten. Die einheimische Bevölkerung verweigere zu weiten Teilen den Einsatz bei physischer Arbeit, sie bewege sich lieber nach Westen, wende sich dem Kommerz, intellektuellen oder dienstleistenden Arbeiten zu. Die physischen Arbeiten würden zunehmend von Immigranten aus dem Süden und dem Osten übernommen – armenische, azerbeidschanische, tschetschenische Bauarbeiter seien heute die Regel, besonders aber die Chinesen, die durch die hohe Arbeitslosigkeit in ihrem Heimatland über die Grenzen getrieben würden und gezwungen seien, jegliche Arbeit anzunehmen, die sich biete.
Bisher, so der Professor – halte sich die ganze Entwicklung daher in Grenzen. Aktuelle Warnungen vor einer „gelben Gefahr“ hält er für Alarmismus. Bisher sei die Immigration weder für Irkutsk noch für andere sibirisch-fern-östliche Städte gefährlich, sondern immer noch nützlich, zumal Ansiedlung, Eigentumserwerb und Einbürgerung durch aktuelle Gesetze sehr erschwert würden. Für die Zukunft allerdings sieht nicht nur der Professor, sondern sehen auch staatliche Organe Probleme: Bei weiterer Zuwanderung von chinesischen Immigranten, ja, deren zu erwartender St eigerung, so befürchtet man, könnte das kulturelle Gleichgewicht der Stadt Irkutsk wie insgesamt Sibiriens verloren gehen, das sich bisher durch eine ausgewogene Vielfalt an Kulturen auszeichnete. In zehn oder fünfzehn Jahren könnte eine Situation entstehen, daß neben der sibirischen nur noch eine weitere Kultur existiere, die chinesische. In einer solchen kulturellen Doppelstruktur aber liege die große Gefahr von Prioritätskonflikten, die es bisher in Irkuts nicht gebe. Wie dieser Gefahr begegnet werden kann – darüber gibt es keinen politischen Konsens. Die Zeit werde es zeigen. Allein darin ist man sich einig.

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Ausflug nach China

Ulaanbaator,
Samstag, 24. August 2002

 

Von Ulaanbator ist es nur noch eine Tagestour, 600 km, mit der Bahn nach China. Ein Visum ist leicht besorgt: Zwei Stunden Schlange-Stehen vor der chinesischen Botschaft, dreißig Dollar – das ist alles, was an Hürden zu überwinden ist. So leicht ist das also?
Nein, so leicht ist es nicht. Nach dem leichten Auftakt folgt eine Hürde der nächsten: Es beginnt mit den Fahrkarten. Platzkarten für ein Coupé sind nicht zu bekommen. Es gibt nur noch Karten für die „offenen Waggons“. Selbst die erweisen sich als hoffnungslos überfüllt; die Fenster sind trotz glühender Hitze nicht zu öffnen. Auf sechs Plätze kommen acht Menschen. Schon vor der Abfahrt ist die wenige Kleidung, die man trotz der Hitze anstandshalber noch tragen muß, bereits durchgeschwitzt. Männer sitzen mit nacktem Oberkörper, Frauen fächeln sich Luft unter die Blusen.
Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt, wird an der weiter steigenden Hitze und den Staubwolken, die den Zug begleiten, klar: Der Weg führt von Ulaanbaator geradewegs durch die GOBI. Selbst nachts ist vor Hitze an Schlaf nicht zu denken.
Morgens früh um sechs erreicht der Zug den mongolischen Grenzort Saming Ud, was soviel heißt wie Grenztor oder Zolltor. Der Ort liegt mitten in der Wüste Gobi und ist das Tor der Mongolei nach China.
Saming Ud – das ist das Bahnhofsgebäude, darum herum ein paar eingezäunte Höfe mit Jurten. In Saming Ud endet die Fahrt des mongolischen Zuges. Jenseits der Grenze, schon auf chinesischem Staatsgebiet, liegt Ereen. Zwischen Saming Ud und Ereen müssen alle Passagiere umsteigen, um per Bahn, Bus oder in Jeeps die Grenze zu überqueren. Hektik entsteht. Jeder will der Erste sein. Auf der chinesischen Seite der Grenze staut sich die Kolonne mongolischer Jeeps, Busse; dann kommt auch noch der Zug. Alle stehen in glühender Hitze auf freier Steppe.
Mittags machen die chinesischen Grenzer zwei Stunden Pause. Nur chinesische Wagen werden durchgewunken. Antichinesische Ressentiments werden laut. Man schimpft über die schikanösen Kontrollen, über den Hochmut, über die Menschenfeindlichkeit der Chinesen, bei der der einzelne Mensch nicht zähle, über den „Gestank“, der aus der GOBI in die Mongolei hineinwehe. Überhaupt sei der „chinesische Geruch“ für Mongolen nicht aushaltbar. Man schwärmt von der schönen, freien Mongolei. Mentalitäten treffen hier aufeinander. Es ist offensichtlich, daß die Reisenden nur widerwillig die Grenze passieren. Warum tun sie es also? Warum nehmen so viele Menschen diese Fahrt durch die Gobi, die Hektik dieser Kontrollen auf sich? Und das, wie ich höre, jeden Tag?
Es geht um den Grenzhandel, erklären meine Begleiter. In Ereen kann man billig einkaufen. Die Hektik erkläre sich aus der Tatsache, daß diejenigen die besten Chancen hätten, die zuerst in Ereen ankämen.
Am späten Nachmittag, als wir selbst endlich Ereen erreichen, wird die ganze Szene mit einem Schlage klar: Die Stadt ist ein einziger Marktplatz. Anfang der 90er Jahre lebten in Ereen 6 – 7000 Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen; heute leben dort über 80.000, Tendenz steigend. Buchstäblich an jeder Ecke wird gebaut. Ereen lebt und wächst vom Grenzhandel mit der Mongolei.
Altes China – Fahrradrikschas und jämmerliche Armut barfüßiger und halbnackt herumlaufender Menschen, die in elenden, nicht kanalisierten stinkenden Hütten hausen – und modernste Architektur nach westlichem Muster prallen hier brutal aufeinander. Das Alte wird gnadenlos abgerissen, die Entstehung des Neuen kann man von Tag zu Tag beobachten. Meine mongolischen Begleiter sind fasziniert und abgestoßen zugleich von der Geschwindigkeit dieses Wachstums. „Sie verstehen zu bauen, die Chinesen“, sagen sie, „aber wenn wir sie ins Land holen, werden sie uns verschlucken.“
In Ereen, das begreift man innerhalb von wenigen Minuten, hört die westliche Welt auf. Keine russische, keine mongolische Verlängerung dieser Welt reicht bis in diesen Ort. Hier gelten nur noch zwei Werte: Der eine ist der gnadenlose Handel mit Billigware jeglicher Art, die hier aus allen Teilen Chinas angeliefert und von mongolischen Kleinhändlern im täglichen Grenzverkehr in die Mongolei und von dort nach Russland geschafft wird. Als Zwischenhändler und Vermittler nomadisieren die mongolischen Händler zwischen einem von Waren strotzenden China auf der einen und einem darbenden Russland auf der anderen Seite ihrer Staatsgrenze.
Das zweite, was in Ereen zählt, ist China: In Ereen wird nicht mehr Russisch gesprochen, auch nicht englisch, französich oder sonst eine westliche Sprache. Internationale Begriffe sind hier nicht bekannt. In Ereen wird Chinesisch gesprochen. Zahlen werden nicht an den Fingern abgezählt, sondern in Gesten dargestellt. Selbst Mongolisch ist kaum noch zu hören, obwohl Ereen auf den Handel mit den Mongolen angewiesen ist und zudem zur „Autonomen Republik der Inneren Mongolei“ gehört, die verfassungsgemäß über eine eigene Sprachhoheit verfügt.
In Ereen wird zudem weder russisch, noch mongolisch oder sonst irgendwie westlich gekocht und gegessen, in Ereen gibt es ausschließlich chinesische Küche. Unübersehbar ist in diesem Zusammenhang auch der Ursprung mongolischer Ressentiments: Wer jemals chinesischen Reisschnaps getrunken hat, gewinnt vielleicht eine Vorstellung von den Gerüchen, die von dieser Stadt ausgehen.
In Ereen kann es einem passieren, daß jemand lächelnd auf einen zukommt, prüfend den nackten Arm oder das Gesicht betastet, um sich ein Bild von der Andersartigkeit dieses wunderlichen Ausländers zu machen.
Kurz gesagt: In Ereen endet nicht nur sprachlich die westliche, die russische und schließlich die russisch-mongolische Welt, hier endet auch der Geltungsbereich westlicher Mentalität und Psychologie. Gleichzeitig entsteht hier eine Art von aggressivem industriellem Modernismus, die über den im Westen bekannte weit hinausgeht. In Ereen, so scheint es, entsteht die Welt neu.
Was in der Grenzstadt Ereen als Ausnahme erscheint, zeigt sich in der Provinzhauptstadt der Inneren Mongolei, ChuChot als Regel: Auch diese Stadt boomt; gnadenlos wird die Altstadt niedergerissen und durch moderne Wohnblocks ersetzt, um Raum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen, deren Zahl die 2,5 Millionen bald überschreitet.
Aber es ist nicht die mongolische Bevölkerung, die wächst, es sind vor allem aus dem Inneren Chinas hinzuziehende Chinesen. Nur noch 20% der Bevölkerung der ehemals mongolischen Stadt ChuChot sind Mongolen der Inneren Mongolei. Auch für ChuChot gilt: Chinas moderne Welt ist nicht westlich, auch nicht multikulturell, sie ist chinesisch. Wie lange die in China lebenden Minoritäten sich diesem Prozess beugen, ist eine offene Frage. Sie wird zur Zeit aber nur hinter verschlossenen Türen diskutiert. Zu groß ist, bei aller wirtschaftlichen Freiheit, die man für sich in Anspruch nimmt, die Angst vor möglichen Repressionen.

 

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Beobachtungen am Rande der zivilisierten Welt…

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

 

Ulaanbaator ist eine Reise wert. Das gilt insbesondere, wenn sich Mongolisten aus aller Welt dort treffen, um zu beraten, wie es mit der Modernisierung des Nomadentums weitergehen kann und welche Beziehung das nomadische Leben zukünftig neben oder im Prozess der Globalisierung der Zivilisation, sprich der Welt des industriellen Fortschritts einnehmen kann oder soll. In dieser Frage ist man, wie aus den Beiträgen und Gesprächen der über 400 Gäste des Kongresses hervorgeht, keineswegs einer Meinung. Die einen zitieren den englischen Staatstheoretiker Thoynbee, der dem Nomadentum zwar eine hohe Bedeutung für die Geschichte der Menschheit beimisst, der aber schon für das letzte Jahrhundert die Zeit gekommen sah, da nomadische Kultur generell in die moderne Zivilisation aufgehen werde.
Kurz gesagt: Die Zeit des Nomadisierens sei vorbei, so Thoynbee; was noch an nomadischen Kulturen existierte, allen voran die zentralasiatischen, im Besonderen die mongolische, betrachtete er als auslaufendes Modell, das der entstehenden städtisch-industriellen Zivilisation weichen müsse.
Töne a la Thoynbee hört man heute keineswegs nur von den Gästen aus dem Westen, aus Russland oder aus den Reihen der zahlreichen chinesischen Delegation. Auch von mongolischen Wissenschaftlern werden solche Positionen vertreten: Die Mongolei, fordern sie, müsse die nomadische Art der Viehwirtschaft durch systematisches Ranching ablösen, wenn sie auf dem globalen Markt bestehen und nicht zwischen den großen Nachbarn China und Russland als Rohstoff- oder Land-Reservoir verbraucht werden wolle.
Eine Modernisierung dieser Art entspräche im Übrigen auch den Vorgaben des IWF, der Weltbank und verschiedner Entwicklungsbanken, die über die Mongolei dasselbe Raster einer „effektiven Reformpolitik“ legen wie sie es über Russland oder irgendein anderes „Entwicklungsland“ gelegt haben – ungeachtet der Tatsache, ob die zugrundegelegten Erfolgsraster auf das jeweilige Land anwnedbar sind oder nicht. Mag man das in Russland noch für strittig halten – hier in der Mongolei ist offensichtlich, daß nicht nur nach-sowjetische, sondern insbesondere die bedingungen des nomadischen Lebens absolut nicht die Vorgaben des IWF erfüllen. „Aber“, so versuchte eine Teilnehmerin des Kongresses aus Holland die Politik des IWF zu erklären, „was ökonomisch effektiv ist, muß nicht immer sozial richtig sein.“ Unklar blieb, ob das als Kritik oder als Rechtfertigung des IWF zu verstehen sei.
Diesen Vertretern einer schroffen Modernisierung stehen naturgemäß ebenso schroffe Traditionalisten gegenüber, die nomadisches Leben, nachdem es durch die sowjetische Modernisierung und Zwangs-Urbanisierung bereits von 80% auf 30% der Bevölkerung reduziert war, heute in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen wollen. Dabei stellt sich natürlich sofort die Frage, wo die ursprüngliche Reinheit beginnt. Einige Mongolen gehen bis zu den Hunnen zurück. Andere belassen es bei den von Tschingis Chan überlieferten Regeln. Hier trifft sich ethnischer Traditionalismus mit einem neuen nationalen mongolischen Selbstbewusstsein: Ein ganzer Tag des siebentägigen Kongresses war dem offiziellen Gedenken an den 840 Geburtstag Chingis Chans gewidmet. Staatspräsident Nazagiln Bagabandi höchst persönlich und eine ganze Reihe weiterer Persönlichkeiten der Mongolei hielten an diesem Tag lange Reden zu Ehren des archaischen Reichsgründers, der neben der nomadischen Kultur das zweite identitätsstiftende Element für die heutige Mongolei abgibt.
Vertreter traditionalistischer Positionen sind nicht selten schon an ihrer Kleidung zu erkennen. In prächtigen Fest-Dels, den praktischen Umhängemänteln der Nomaden, in malerischen Spitzhüten und Stiefeln beleben sie – unter ihnen nicht wenige westliche Wahlnomaden – die ansonsten eher europäisch-konservative Kleiderordnung des Kongresses.
Seriöse Positionen, will sagen, zukunftsfähige Positionen, liegen zwischen diesen Polen. Die Mehrheit der Teilnehmer/innen des Kongresses ist auf dieser mittleren Linie zu finden: Etwas Drittes müsse entstehen, heißt es, einfach deshalb, weil es nicht anders gehe, weil die natürlichen Bedingungen keine Landwirtschaft des Siedlungstyps zuließen,
weil die nomadische Kultur für die mongolische Bevölkerung lebenserhaltend sei, weil die Mongolei zwischen den Siedler-Imperien China und Russland gar keine andere Wahl habe, als seine Andersartigkeit zu erhalten, wenn es nicht untergehen wolle, weil die Mongolei nicht an die Spitze der Globalisierung spurten könne, aber auch nicht in die Steinzeit zurückfallen dürfe.
Bleibt die Frage: Wie?
Nach zehn Jahren Schock-Privatisierung zeigen sich in der Mongolei ähnliche Phänomene wie in Russland: Aus dem Überschwang einer übertriebenen Privatisierung, die zu erheblichen sozialen Ungleichgewichten geführt, vor allem den Besitz an Tieren so ungleich verteilt hat, daß eine geregelte Beweidung der nicht-privatisierten und nach allgemeiner Übereinstimmung auch nicht privatisierbaren Steppen nicht möglich ist, setzt jetzt eine Etappe der Rückbesinnung auf kollektive Formen der Bewirtschaftung ein. Ansätze von Kooperativen bilden sich, in denen sich drei, vier oder fünf Hirten-Familien zusammentun, um die Steppen gemeinsam zu beweiden und die Weiterverarbeitung der tierischen Produkte und deren Verkauf sowie die Anschaffung der dafür notwendigen neuen Technik, Infrastruktur und sogar Ausbildung gemeinsam zu organisieren. Diese Entwicklung beginnt erst. Hier liegt die Perspektive einer Modernisierung des nomadischen Lebens ohne Liquidierung der nomadischen Kultur.

Ulaanbaator 7.8.2002

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Dritte Hauptstadt – Kasan

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

 

Moskau soll wieder das 3. Rom werden, das wünschen die einen, St. Peterburg wieder das Fenster zum Westen, so hoffen es die anderen. Der Einzug des gebürtigen St. Petersburgers Wladimir Putin in den Kreml verschärfte diese Konstellation zur Konkurrenz zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen Hauptstadt.
In Tatarstan, der automen Republik an der Wolga mit der stärksten ethnischen Minderheit, zudem islamisch, tritt noch ein drittes Element hinzu: Kasan, die Hauptstadt der Republik, sähen viele Tataren, selbst viele Russen Tatarstans gerne als dritte Hauptstadt des Landes. Sie soll den Osten mit dem Westen verbinden, die Tradition der „Goldenen Horde“, aus der das ehemalige Chanat Kasan hervorging, mit dem russischen und europäischen Westen. Kasan, kurz gesagt, versteht sich als das eigentliche euroasiatische Zentrum.
Der Präsident Tatarstans, Mentimer Schamijew orientiert seine Politik mehr als andere Republikpräsidenten an westlichen Reformvorgaben – und ließ den Aufbau von über 1000 Moscheen in den letzten zehn Jahren mit türkischer und arabischer Hilfe finanzieren. Der von der Staatsduma soeben freigegebene Handel mit landwirtschaftlich genutztem Boden zum Beispiel, wurde in Tatarstan bereits vor mehreren Jahren als eigenes Modell beschlossen – konnte allerdings wegen mangelnder Ausführungsbestimmungen nicht durchgeführt werden.
Tatarstan konnte sich unter Jelzin zum Vorreiter innerrussischer Souveränitätsbewegungen entwickeln. Wirtschaftlich, politisch und kulturell erkämpfte es sich Rechte, die ihm weitgehende Unabhängigkeit von Moskau gaben. Raschid Jakimow, politischer Berater des tatarischen Präsidenten, wurde Initiator einer Bewegung für den föderalen Aufbau. Unter seiner Initiative wurde Kasan als Sitz des Föderationssowjets vorgeschlagen.
Beim Vorschlag blieb es allerdings: Wladimir Putin hat es geschafft, Tatarstans neuen Sonderstatus weitgehend wieder einzuschränken. Heute muss Tatarstan seine wirtschaftlichen Überschüsse, besonders die aus seiner reichen Ölförderung, wieder an Moskau abführen; Präsident Schamijew musste sich öffentlich dem Moskauer Inlandgeheimdienst (FSB) und den von Putin eingesetzten, die Republiken übergreifenden Administratoren unterordnen.
„Eine unsinnige Maßnahme“, nennt Raschid Jakimow diese Entwicklung, „die neue Verwaltung hat keine Ahnung von den konkreten Problemen des Landes. Wenn es um ernste Fragen geht, muss der Kreml so oder so mit uns, der Landesregierung verhandeln. Ergebnis ist nur eine weitere Aufblähung der Bürokratie, welche die Entwicklung bremst.“ „Putinitza“, nennt Jakimow das neue Regime Putins mit einem Wortspiel, die reine Verwirrung.
Der letzte Akt dieses Stückes, gerade vor einem Monat gegeben, ist der Beschluss der Moskauer Staatsduma, dass hinfort in Russland nur noch eine Schrift erlaubt sei – kyrillisch, weil andernfalls, so die Begründung, die Sicherheit Russlands gefährdet sei. Raschid Jakimow gibt sich sarkastisch, als er von dieser neuesten Wendung berichtet. Aber faktisch ist damit der Plan Tatarstans, zur lateinischen Schrift überzugehen und sich somit für den außerrussischen islamisch-türkischen Raum zu öffnen,, gestoppt. Wladimir Putin hat vorerst sein Ziel erreicht, keinen Islamischen Stoßkeil im Herzen Russlands zu dulden, der den tschetschenischen Impuls weiter nach Russland hineintragen könnte.
Aller Tage Abend ist damit jedoch für die Freunde des Föderalismus noch nicht: Von einer dritten Hauptstadt Kasan, in der sich der Föderationssowjet niederlassen könnte, ist zur Zeit zwar nicht mehr die Rede. Dafür, so Raschid Jakimow, breite sich nun aber in der russischen Föderation das – ebenfalls aus der Denkschule Kasans stammende – Stichwort der Subsidiarität aus, das den föderalistischen Gedanken nur in anderer Form weiter transportiere.
Nicht so verhalten klingt das Echo auf Putins Rezentralisierung aus den Kreisen der „nationalen Bewegung Tatarstans“. Schon fast vergessene Träume einer Union der nicht-russischen Völker des Wolga-Uralraumes werden wieder wach. Von der Bildung eines Euroasiatischen Völkerbundes ist die Rede. Stark setzt man sich allerdings gegen Alexander Dugin ab, der Euroasien von China bis Europa, Schweden bis Indien unter der Führung Moskaus gegen Amerika vereinigen will. Man träumt vielmehr von drei Völkerbünden, einem kaukasischen, einem sibirischen und dem Wolga-Ural-Bund, die miteinander die Grundlage für eine föderative Ordnung Euroasiens bilden sollen, zu der auch das europäische Russland und die Länder der GUS gehören. Die Vereinigung der Völker des Wolga-Ural-Raumes würde nach diesen Vorstellungen die Tataren, die Tschuwaschen, die Baschkiren, die Utmurten, Moldawier und die Mari umfassen, eben jene Völker, die mit den Hunnen, später mit den Mongolen nach Westen gezogen und dort an der Wolga heimisch geworden sind. Von hier aus, heißt es, seien immer die entscheidenden Impulse zu Veränderungen in Russland ausgegangen. Als vereinigendes Band gilt die Zugehörigkeit der meisten dieser Völker zum Islam und – soweit das wie bei den Tschuwaschen nicht zutrifft – zum turk-tatarischen Sprachraum. Darüber hinaus handelt es sich bei der Mehrheit der Völker, einschließlich der sibirischen und kaukasischen um Angehörige ehemaliger, in einigen Fällen auch noch heute lebendiger nomadischer Kulturen.
Auch wenn klar ist, dass keines dieser größeren oder kleineren Völker heute außerhalb des russischen Zusammenhanges existieren könnte, auch nicht unter Führung eines unabhängigen Tatarstan, Wolga-stan oder wie immer, so ist doch klar, dass die Entwicklung der neuen russischen Staatlichkeit nicht an diesen Völkern vorbeigehen kann. Das gibt der offiziellen tatarischen Politik den Druck von unten, den sie braucht, um Moskau gegenüber zu bestehen und macht Tatarstan zum natürlichen Führer im Kampf um die Föderalisierung Russlands.

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Von Moskau nach Tscheboksary

Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

Wo endet Europa? Wo beginnt Asien? Wohin wendet sich Russland nach zwei Jahren autoritärer Modernisierung unter Boris Jelzins Nachfolger Wladimir Putin? Wie orientiert sich Russland heute zwischen Asien und Europa? Welche Bedeutung kommt der Gründung einer euroasiatischen Partei zu, die im Mai den Besuch George W. Bushs in Moskau flankierte? Diesen Fragen gehe ich gegenwärtig in Russland nach. Die Reise führt von Moskau über Tscheboksary an der Wolga, Kasan, Nowosibirsk bis Ulaanbaator und an die russisch-chinesische Grenze.
Moskau, wo ich erste Zwischenstation mache, gibt auf diese Frage nur eine Antwort – die Antwort der Megametropole. Moskau ist nicht Russland. In Moskau stellt sich die Frage „Asien oder Europa“ zwar auch, aber hier klärt sie sich nicht: Moskau ist Zentrum, in Moskau halten sich die unterschiedlichen Einflüsse die Waage, Moskau ist eine Welt für sich, ein einziger Marktplatz heute, der eigenen Gesetzen gehorcht.
Dann aber am nächsten Tag Tscheboksary, die Hauptstadt der autonomen Republik Tschuwaschien an der mittleren Wolga: Auch hier ist die Modernisierung unübersehbar. Aus dem hässlichen Entlein einer mittleren sowjetischen Industriestadt, die noch vor wenigen Jahren an den Folgen der Krise zu ersticken drohte, ist ein geputzter Ort geworden, der sich anschickt, westliche Abenteuer-Touristen auf den Wolgasee zu locken, welcher aus der Aufstauung der Wolga hier in den letzten zehn Jahren entstanden ist. In den Straßen Tscheboksarys westliche Automarken, in den Geschäften westliche Preise, in den Büros Computer. Kurz, man darf sich auch in Tscheboksary an der Wolga als Westler wie zuhause fühlen. Es geht, wie es scheint, alles seinen kapitalistischen Gang. Putins autoritäre Modernisierung trägt ihre Früchte.
Aber dann ist da die Sache mit dem Bier: Bier ist Tschuwaschiens Nationalgetränk; Hopfen und Malz sind sein nationaler Reichtum. Über das ganze Land ziehen sich die großen Hopfenstaffagen. Nicht verwunderlich also, daß Bier überall angeboten wird. Doch das Ausmaß! Rundum Menschen mit der Flasche in der Hand, junge vor allem, viele Betrunkene.
Wer nach den Gründen dafür fragt, erfährt, dass die tschuwaschische Republik gewissermaßen im Biernotstand lebt. Die republikanische Verwaltung hat Bier zum nationalen Exportschlager in andere russische Republiken und ins Ausland machen wollen. Aber der Absatz stockt. Das Bier muss im Lande verbraucht werden. Der tschuwaschische Präsident selbst wirbt im Fernsehen für den nationalen Bierkonsum. Die Folgen sind unübersehbar. Die tschuwaschische, vor allem männliche Jugend säuft sich um ihre Gesundheit.
Wer ins „Tschuwaschische Kulturzentrum“ geht, wird mit weiteren nationalen Notständen konfrontiert, die sich nicht auf den nationalen Bierkonsum beschränken: Michael Juchma, vielfach prämiierter tschuwaschischer Volksschriftsteller, Leiter des Zentrums ist verzweifelt: Die „Bewegung der nationalen Wiedergeburt“, die unter Michael Gorbatschow mit großen Hoffnungen auf eine eigenständige Entwicklung des tschuwaschischen Volkes entstand, noch durch Jelzins Aufforderung an die Völker der Sowjetunion, sich so viel Souveränität zu nehmen, wie sie brauchen, verstärkt wurde, siecht unter dem Druck der von Wladimir Putin neuerlich ausgehenden Zentralisierung und damit verbundenen Russifizierung des Landes dahin. Das tschuwaschische Zentrum, seinerzeit von Perestroika-Demokraten gegründet, bettelt heute umsonst um Unterstützung. Die tschuwaschische Regierung gibt keinen Rubel; sie hat sich voll und ganz Wladimir Putins Kurs unterworfen.
Selbst die Türkei, die den turksprachigen Schriftsteller Michail Juchma als wichtigern Partner umwarb, lässt ihn heute gnadenlos abblitzen. Die Zeiten, in denen es opportun war, innerrussische Souveränitätsbewegungen von außen zu unterstützen, weil man sich davon Einfluss auf ein zerfallendes Russland versprechen konnte, scheinen für´s Erste vorbei. Heute finden sich Russland ebenso wie die Türkei im Bündnis gegen den internationalen Terrorismus. Das verpflichtet zur Zurückhaltung gegenüber innerrussischen, wie es dort heißt, „nationalen“ Souveränitätsbestrebungen.
Eher schon ist die Befürchtung von Michael Juchma und den Seinen berechtigt, dass sie demnächst Objekte des soeben von der russischen Staatsduma beschlossenen Gesetzes gegen Extremismus werden könnten, ohne dass sich von außen Proteste dagegen erheben. Formal mit dem notwendigen Vorgehen gegen rassistische Umtriebe von Nazi-Skinheads und offenen faschistischen Gruppen wie die der „Russischen Nationalen Einheit“ (RNE) begründet, lässt die Praxis der russischen Ordnungskräfte befürchten, dass die eigentlichen Adressaten die ethnischen Minderheiten selbst sein könnten, die angeblich durch das Gesetz geschützt werden sollen. Diese Sorgen haben nicht nur Vertreter der in die Isolation geratenen ethnischen Gruppen, die schon mehr als einmal in letzter Zeit vor den Inlandgeheimdienst FSB (den erneuerten KGB) vorgeladen wurden. Auch die sozial-liberale Partei „Jabloko“, die einzige oppositionelle Kraft in der Moskauer Staatsduma, lehnte eine Zustimmung zu dem neuen Gesetz mit Hinweis auf diese Vorgänge ab. Die einzige Hoffnung der ethnischen Minderheiten liegt darin, paradox wie immer wieder in Russland, dass auch dieses Gesetz nicht das Papier wert ist, auf dem es gedruckt ist, weil es vor Ort schlichtweg nicht befolgt werden könnte.

 

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Russlands Asienpolitik – „Achse der Stabilität“, statt „Achse des Bösen“.

Sechzehn Staaten Asiens und Nordafrikas trafen sich zum ersten Gipfel einer „Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien“ (CICA) am 4. Juni in Alma Ata: Aserbeidschan, Afghanistan, Ägypten, Israel, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgisien, China, Mongolei, Pakistan, Palästina, Russland, Tadschikistan, Türkei und Usbekistan. Ein stattliche Liste.
Nur ein paar Tage, später, am Wochenende des 8./9. Mai versammeln sich in St. Petersburg die Vertreter von fünf zentralasiatischen Staaten der Schanghaier Kooperation – Russland, China, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan – zur Unterzeichnung einer Schanghaier Charta, welche die bisher lose Kooperation auf eine vertragsrechtliche Basis stellen soll. Präsident Putin bezeichnete dies der chinesischen Zeitung „Guangming Ribao“ gegenüber als ein historisches Ereignis von größter Bedeutung. Sie sei, so Aussenminister Iwanow, das konkrete exekutive Pendant zur Beratungsrunde von Alma Ata und offen für weitere Partner, die aus den Beratungen die Bereitschaft zu konkreter Kooperation gewönnen.
Wenige Wochen zuvor, am 13. Mai, noch vor der Reise G.W. Bushs nach Europa, war der „Aussen- und Verteidungsministerrat der Teilnehmerstaaten über die kollektive Sicherheit der GUS“ zu einer Aktualisierung des Bündnisses in Moskau zusammengekommen. Man beschloss die Durchführung von Manövern der schon früher gebildeten gemeinsamen „Schnellen Aufmarschtruppen“ (KSAT). Sie sollen in Kirgisien zusammen mit dem Anti-Terrorzentrum durchgeführt werden.
Während westliche Medien von den Treffen nur zu berichten wissen, dass sie sich dem weltweiten Kampf gegen Terrorismus und damit den weltpolitischen Vorgaben der USA angeschlossen hätten, liegen all diese und noch weitere bilaterale oder nachgeordnete Aktivitäten doch voll und ganz auf der Linie der euroasiatischen Orientierung russischer Politik, mit der Wladimir Putin Anfang 2000 angetreten ist.
Russland sei ein „besonderer Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet“, hatte er selbst seinerzeit erklärt und es müsse seine Politik dementsprechend ausrichten.
Mit diesen Worten lässt Putin sich auch widerspruchslos von der neugegründeten Partei „Euroasia“ und ihrer seit anderthalb Jahren unter den Fittichen des Präsidialamtes herangewachsenen nationalistischen „Euroasiatischen Bewegung“ zitieren.
Im außenpolitischen Konzept (Volle komplizierte Bezeichnung: „Konzept für die Aussenpolitik der russischen Föderation, vom russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin am 28. Juli 2000 gebilligt“), das noch heute der Weltöffentlichkeit per Internet als gültige Doktrin angeboten wird, ist neben der Betonung der Wichtigkeit der Beziehungen Russlands zu Europa und zu den USA folgendes zur Asienpolitik zu lesen:
„Asien genießt eine beständig wachsende Bedeutung im Kontext der gesamten Außenpolitik der Russischen Föderation, die durch die direkte Zugehörigkeit Russlands zu dieser sich dynamisch entwickelnden Region bedingt ist und durch die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Aufschwungs in Sibirien und dem fernen Osten. Nachdruck wird gelegt werden auf die Teilnahme Russlands an den Hauptintegrationsstrukturen der asiatisch-pazifischen Region – dem Forum für Asiatisch-Pazifische Wirtschaftszusammenarbeit (APEC), dem Regionalen Sicherheitsforum des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und den fünf von Schanghai (Russland, China, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan), die auf Initiative Russlands und mit seiner aktiven Rolle geschaffen worden sind.“
Als Aufgaben werden ua. formuliert: freundschaftliche Beziehungen zu China und Indien als Elemente weltweiter Stabilität; Unterzeichnung eines Teststoppvertrages durch Indien und Pakistan; intensive Beziehungen zu Japan, Südostasien und zum Iran. Die allgemeine Verbesserung der Lage in Asien sei von fundamentaler Bedeutung für Russland. Und schon damals wird der Export von Terrorismus und Extremismus aus Afghanistan als „ernste Bedrohung der Südgrenze der GUS und Russlands“ bezeichnet und „Lösungen“ angekündigt. Von einem bloßen Einschwenken auf eine US-Linie nach dem 11.09.2001 kann vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein.
Im Vorfeld und während der Tagung von Alma Ata beantwortete Präsident Putin zudem die Frage von „Guangming Ribao“, ob sich seit dem Besuch G.W. Bushs in der russisch-chinesischen Partnerschaft etwas verändert habe, auch aktuell. Er glaube, dass die Situation, die sich gegenwärtig in der Welt herausgebildet habe, Russland und China „die Notwendigkeit der Vertiefung bilateraler Kontakte und ihre Ergebung auf das Niveau der strategischen Partnerschaft gerade diktierte.“ Als die Zeitung den russischen Präsidenten dafür lobt, dass er an die Stelle der „Achse des Bösen“ den Begriff einer „Achse der Stabilität“ in die internationale Diskussion eingeführt habe, antwortet Wladimir Putin, indem er zugleich auf die Kontinuität der multipolaren Orientierung seiner Politik verweist: „Ich denke, dass die `Achse der Stabilität´ eben solche führenden Länder der Welt, wie die Volksrepublik China, westeuropäische Länder und die Vereinigten Staaten bilden können.“
Und damit es gar kein Missverständnis gibt, versichert Wladimir Putin noch einmal:
„Selbst auf Grund unserer geopolitischen Lage (ein Teil des russischen Territoriums befindet sich im Osten, ein Teil – in Europa) betrieben wir immer eine ausgewogene Außenpolitik. Und in diesem Sinne bleibt die Außenpolitik Russlands traditionell. Wir beabsichtigen auch in der Zukunft unsere Beziehungen sowohl mit dem Osten, als auch mit dem Westen zu entwickeln. Und hier sind unsere Beziehungen zur Volksrepublik China von erstrangiger Bedeutung.“
Dem ist nur noch hinzuzufügen, dass die Konferenz von Alma Ata, auch wenn der pakistanische Präsident Pervez Musharaw und der indische Premier Atal Behari Vajpayee trotz Vermittlung Chinas und Russlands nicht miteinander reden wollten, dennoch ein politisches Faktum ist, das der Aufnahme Russlands als 20. Mitglied in einen NATO-Kooperations-Rat in seiner Bedeutung für die Entwicklung einer neuen stabilen Weltordnung in Nichts nachsteht.

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Russland: Partei „Eurasien“ gegründet Vom Think-Tank zur politischen Kraft?

Am 30. Mai, passend zum Besuch des US-Präsidenten in Moskau, fand dort auch die Gründung einer Partei „Eurasien“ statt. Gründer und Leiter der Partei ist Alexander Dugin, seinem Selbstverständnis nach „Geopolitiker“, der sich als Kontrapart zu den US-Strategen Brzezinski, Kissinger oder Huntington versteht.
Ende der achtziger, noch Anfang der neunziger Jahre war Alexander Dugin als extremer Nationalist, der vor Rückgriffen auf die deutsche „konservative Revolution“ und vor Lobreden auf Hitler als Vorbild für eine nationale Politik nicht zurückschreckte, marginalisiert. Er galt als dubioser Extremist, der in Missbrauch des klassischen Euroasiatismus schwüle national-bolschewsitische Mythen verbreite.
Inzwischen, als leicht erkennbarer Reflex auf die von Krise und Kriminalisierung begleitete Amerikanisierung der russischen Gesellschaft, ist Alexander Dugins anti-westlicher Fundamentalismus nicht nur in der russischen politischen Klasse hofffähig geworden, sondern kann sich auch auf eine weit verbreitete Ablehnung der aus dem Westen kommenden Liberalisierung und neuerdings auch auf russische Kritiken an der Globalisierung stützen.
So erfolgte die Gründung der Partei „Eurasia“ jetzt bereits auf der Basis der „Bewegung Euroasien“, die seit Mitte 2001 mit großzügiger finanzieller und organisatorischer Unterstützung des Putinschen Präsidialamtes und des kommunistischen Duma-Vorsitzenden Gennadij Selesnjow mit beachtlicher Dynamik im ganzen Lande Fuß fassen konnte. Und wie seinerzeit die „Eurasische Bewegung“, so findet auch die Partei „Eurasia“ jetzt offenbar Zuspruch von vielen Seiten und Unterstützung aus dem Präsidialamt: 204 Delegierte aus 59 Regionen Russlands nahmen – eigenen Angaben der Veranstalter zufolge – an der Gründung der Partei teil. Im Präsidium der Gründungsversammlung waren u.a. vertreten: Alexander Waraski, Abgeordneter der gesetzgebenden Versammlung Jekaterinenburgs, Dordschi Lama, Koordinator der Vereinigung der Buddhisten, Pater Johan Mirojubow, Abt der Rigaer Gemeinde der Altgläubigen, die Rabbiner Arie Koran und Sakris Astran und weitere orthodoxe Geistliche. Der Mufti Scheich Talgat Tadschuddin, Vertreter der zentralen Leitung der europäischen Muslime Russlands, begründete seine Teilnahme an der die Versammlung mit der Erklärung, die Welt brauche heute die Ideen des Euroasiatismus.
Mit Glückwunschreiben war unter anderem der Präsident des Präsidial-Amtes Alexander Woloschin präsent, ebenso wie der Staatsekretär der Abteilung, die Verbindungen zum Föderationssowjet und zu politischen Gruppen des Landes hält, W.C. Kurjanow. Glückwünsche übermittelte auch die Abteilung für die Innenpolitik des Präsidenten mit Schreiben ihrer Sekretäre Alexandra Kospopkina und B.J. Chintschigaschwili. Es fehlten auch nicht die Glückwünsche aus den Reihen der orthodoxen Kirche, des Islam, aus den Botschaften der GUS sowie einige Grußworte aus dem Ausland, wobei die Öffentlichkeit in diesen Fällen nicht erführ, von wem diese Glückwünsche konkret kamen.
In seiner programmatischen Rede, die vom außenpolitischen Kurs Russlands ausging, erklärte Alexander Dugin, kraft seiner historischen Kontinuität und seiner geopolitischen Potenz werde es Russland als großes Imperium wesentlich einfacher haben als regionalisiert und zerstückelt. Euroasiatismus müsse deshalb heute vor allem als Projekt begriffen werden: „Russland als mächtiges weltweites Imperium.“
Des weiteren deklarierte Alexander Dugin fünf Prinzipien der neuen Partei, die hier in ihrer originalen Form vorgestellt werden sollen, um deutlich zu machen, wie sehr sie in die heranwachsende Mentalität einer reformmüden Mehrheit der russischen Gesellschaft eingepasst sind:

– „Wissenschaftlicher Patriotismus“:
Unter dieser Rubrik heißt es:
„Russland kann kein regionales Imperium sein. Es gibt keine Wahl: entweder eine Rolle in der Weltpolitik oder Untergang. Aber Russland kann seine geopolitische Souveränität und seine strategische Unabhängigkeit nicht allein erhalten. Die historischen materiellen und ideologischen Quellen des Isolationismus sind erschöpft. Russland braucht ein System der Allianzen – als Achse – innen wie außen. Es geht um die Bildung eines einheitlichen strategischen Raumes, der Europa und Asien miteinander verbindet. Euroasiatismus – das ist immer Multipolarität in der inneren wie in der äußeren Politik.

– Soziale Orientierung:
Das ist euroasiatische Wirtschaft, das ist Kapitalismus mit nationaler Seele und sozialistischem Gesicht. Das ist die Wirtschaft des dritten Weges: Marktwirtschaft muss im Kontext einer nicht markorientierten Gesellschaft angelegt sein, einer Gesellschaft der Gerechtigkeit, der Solidarität, der Moral. Aber Moral und Spiritualität können die soziale Tragödie nicht mit ansehen, wie unserer Zeitgenossen zu „vernachlässigenswerten Opfern des Kapitalismus“ werden. Markt muss nach sozialen Bedürfnissen der Gerechtigkeit und unter dem Imperativ der nationalen Wiedergeburt organisiert werden.

– Euroasiatischer Regionalismus.
Euroasiatismus ist keine abstrakte Angelegenheit, sondern hat mit den lebendigen Räumen unseres Landes zu tun. Jeder Verwaltungsbezirk, jeder Kreis Russlands hat seine besonderen Merkmale. Unser riesiges Land bildet selbst einen ganzen Kontinent, eine ganze Welt. Euroasiatismus bemüht sich, diese nicht nur formal zu vereinen – Rede, Bevölkerungszahlen, Territorium, Umfang der Produktion usw. Jede Region ist besonders und das Herangehen an sie muss besonders sein. In einem zukünftigen großen Imperium muss jede Region ihre Vertretung, ihre Stimme im Zentrum haben.

– Traditionalismus
Heute ist für alle offensichtlich: Technischer Fortschritt und Effektivität der Wirtschaft – das ist das eine, aber moralischer Fortschritt ist das andere. Und dabei weigert sich unser Bewusstsein, das abscheuliche Bild der Unsitten und Sünden anzuerkennen, das sich an der Grenze der Jahrhunderte öffnet. Und keine neue Spiritualität, keine Moral, keine neue Religion entsteht unter diesen Bedingungen. Um dieser Ausweglosigkeit zu widerstehen müssen wir zurückkehren zu unseren spirituellen Wurzeln. Wir unterstreichen die Notwendigkeit der Hinwendung zu einem integralen Traditionalismus, zu den Grundlagen der Konfessionen – der Orthodoxie, des Islam, des Buddhismus, des Judentums. Unerschütterliche Echtheit, Grundlagen der Moral und der Spiritualität – die Basis der Erneuerung und der Wiedergeburt muss genau dort und nirgends anders gesucht werden.

– Euroasiatische Ethik
Wir glauben, dass die höchste Kategorie der Geschichte, der höchste Wert das Volk ist. Der Mensch ist Teil des Volkes, er ist ganz und gar durch es geschaffen, erzogen, organisiert. Sprache, Kultur, Lebensart ist hervorgebracht von dessen ethnischer Zugehörigkeit. Völker müssen sich erhalten, müssen sich frei entwickeln.“

Ungläubigen Westlern mögen diese Inhalte angesichts des Westkurses Wladimir Putins abseitig vorkommen. Man täusche sich nicht! Nicht nur das Präsidialamt unterstützt den Aufstieg Alexander Dugins. Widerspruchslos ließ Wladimir Putin selbst sich, ungeachtet seiner Westorientierung, ja, möglicherweise gerade deshalb, in den Schriften und bei Veranstaltungen der „Eurasischen Bewegung“ als Kronzeuge zitieren. „Die Dynamik, welche die euroasiatische Idee in sich trägt“, so wird er anlässlich eines Kongresses, den die Bewegung zur Frage „Islamische Drohung oder Bedrohung des Islam“ mit hochrangigen Vertretern des islamischen und orthodoxen Klerus wie auch des Präsidenten-Apparates durchführte“, aus dem Internet zitiert, „ist heute, da wir authentische gleichberechtigte Beziehungen mit Ländern befreundeter Staaten aufbauen, besonders wichtig. Auf diesem Wege müssen wir all das Beste bewahren, das in einer langjährigen Geschichte der Zivilisation sowohl des Ostens als auch des Westens zusammengetragen wurde. Russland hat sich immer als euroasiatisches Land gefühlt. Wir haben nie vergessen das ein grundlegender Teil unseres Territoriums sich in Asien befindet. Die Wahrheit ist, das muss man ehrlich sagen, dass wir dieses Vermögen nicht immer genutzt haben. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir zusammen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region von den Worten zur Tat schreiten – wir Wirtschaft entwickeln, politische und andere Verbindungen. Alle Voraussetzungen sind dafür in Russland gegeben.“ Eine seiner Reden in Kasachstan gipfelte in dem Satz: „Ist doch Russland ein ganz eigener Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.“ Wladimir Putin ist nicht Alexander Dugin, kann man dazu sagen, aber er lässt einen Think-Tank unter Dugins Führung gedeihen.
Auch gemäßigte Konservative, die keineswegs mit Wladimir Putin oder gar Alexander Dugin symthatisieren, müssen die Wirkung Alexander Dugins konstatieren. So Igor Tschubajs (Bruder des berüchtigten Anatoly Tschubajs, dem ehemaligen Chef-Privatisierer Russlands). Igor Tschubajs ist Professor für „Philosophie Russlands“ an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau, Initiator einer „Schule der Kontinuität“, die wie Dugin eine Besinnung Russlands auf seine eigene Geschichte fordert, dabei aber entschieden Abstand nimmt von krudem Anti-Westlertum.
Tschubajs, sieht die Begriffe der Anerkennung der historischen Kontinuität, des Anknüpfens an die Traditionen, der Erneuerung russischer Ethik, unter denen sich die von ihm initiierte „Schule der Kontinuität“ sammelt, von Alexander Dugins „Euroasiatischer Bewegung“ usurpiert. Er tröstet sich damit, dass „solche Gedanken eben offenbar in der Luft lägen, also könnten sie nicht falsch sein“. Dugins extremer Variante aber hat er im Grunde nichts entgegenzusetzen.
Mit beunruhigender Genugtuung konnten die Initiatoren der Partei „Euroasia“ darum konstatieren, die Gründung der Partei „Eurasia“ lege Zeugnis dafür ab, dass der „Euroasiatismus“, gemeint ist die nationalistische Radikalisierung des klassischen Euro-Asiatismus, den Rahmen der philosophischen Debatten verlassen habe und sich zur aktiven politischen Kraft herausbilde. Die Euroasiatische Idee, erklärten sie, könne zur „Grundlage der nationalen Idee eines Russlands des 21. Jahrhunderts“ werden. Sie könnten Recht haben, denn Russland ist nun einmal das Herzland zwischen Asien und Europa. Wenn es sich aber in der Duginschen Variante wiedererkennt, dann wird das einundzwanzigste ein sehr ungemütliches Jahrhundert.

 

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Wird Putin jetzt Amerikaner?

Unübersehbar! Die Sympthome putinscher Westorientierung häufen sich. Es begann mit dem Beitritt Russlands zur „Allianz gegen den Terror“ nach dem 11.09.2001. Es folgte Wladimir Putins Auftritt vor dem deutschen Bundestag im September, die aktive Unterstützung des amerikanischen Feldzugs gegen Bin Ladin und die Taliban, die milde Zur-Kenntnisnahme der Stationierung US-amerikanischer Truppen in Usbekistan, die Besänftigung russischer Militärs, die das US-Engagement in Georgien als Beeinträchtigung russischer Interessensphären kritisierten, die Gründung des reformierten NATO-Russland-Rates und schließlich die Verbrüderung mit dem US-Präsidenten bei dessen Europa-Tour vor wenigen Tagen, in deren Zug George und Wladimir nicht nur schnell zum DU fanden, sondern der US-Präsident Russland rundweg zum Bestandteil Groß-Europas, ja, einer gemeinsamen Zivilisation erklärte.
Wladimir Putin erwartet zukünftige Amerikanische Investitionen zur Unterstützung des von ihm betriebenen Modernisierungskurses. Optimisten in den amerikanischen Think-Tanks haben bereits das Stichwort der DUOpolarität ausgegeben, das eine russisch-amerikanische Welt vorsieht, in der eine führende Industriemacht USA und der führende Rohstofflieferant Russland sich die Weltherrschaft teilen und so gemeinsam für globale Stabilität sorgen.
Wladimir Putin wird nicht müde zu betonen, dass der von ihm verfolgte Westkurs voll und ganz im Interesse Russlands liege und von der russischen Bevölkerung auch so geteilt werde. Ganz so scheint das mit der Realität allerdings nicht überein zu stimmen: Umfragen, die in der Moskauer Bevölkerung zum Bush-Besuch durchgeführt wurden, ergaben, dass nur 29% der Befragten positive Erwartungen damit verbanden. Das Gleiche zur NATO: Die große Mehrheit der russischen Bevölkerung versteht die NATO-Erweiterung immer noch als feindliche Einkreisung Russlands. Innenpolitisch wächst das Unbehagen an Putins Modernisierungskurs, in dessen Zug von einer ihm hörigen Duma im Schnellverfahren zwar eine Reform nach der anderen verabschiedet wird. Sie sollen einen stabileren Rahmen für Investitionen schaffen. Da vielen dieser Gesetze aber, wie schon unter Putins Vorgängern, in der Eile die Ausführungsbestimmungen fehlen, bleiben sie im Gewirr der regionalen Kompetenzen stecken. Andere Reformen – wie das neue Arbeitsgesetz und die Landreform – rufen den Unwillen der davon existenziell betroffenen Bevölkerung hervor. Das schafft Zulauf für die Kommunisten als einziger effektiver Opposition. Jüngsten Umfragen zufolge könnte die KPRF mit 35 – 39% der Stimmen rechnen, wenn jetzt gewählt würde. In der letzten Wahl waren es 29%.
Vor diesem Hintergrund ist der jüngste Coup der auf Wladimir Putin orientierten Kräfte der DUMA zu sehen, die – unter Beteiligung des Vizechefs der Administration des Präsidenten Surkow – in einer staatsstreichartigen Manier der KPRF den Vorsitz über sieben der von ihnen bisher geführten Ausschüsse der Duma aufkündigten. Die KPRF, unterstützt von den Agrariern. gab daraufhin aus Protest auch die Vorsitze für die restlichen zwei Vorsitze auf und kündigte der Regierung für die Zukunft eine harte Opposition an. Der Beschluss
der Partei, das ein „Verbleiben von Mitgliedern der KPRF in Ämtern des Vorsitzenden der Staatsduma und Ausschussvorsitzenden unzweckmäßig sei“, führte allerdings zum Bruch mit dem Parteimitglied und Vorsitzenden der Duma, Gennadij Selesnjow sowie anderen, die es ablehnten, ihre Ämter niederzulegen. Sie wurden deswegen aus der Partei ausgeschlossen. Aber nicht Spaltung, sondern eher Profilierung wird das Ergebnis sein, welche die KPRF für den Widerstand gegen Wladimir Putins gegenwärtigen West-Kurs munitioniert. Im Strom dieses Widerstandes stehen auch die Kräfte, die mit Wladimir Putins Westkurs nicht einverstanden sind, allen voran – so paradox es manchem scheinen mag, Wladimir Putin selbst.
Man täusche sich nicht: Seit seinem Amtsantritt hat Russlands neuer Präsident immer wieder betont, dass Russland ein euro-asiatisches Land sei, ein, so Wladimir Putin wörtlich, „besonderer Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet“. Auf dieser Linie entwickelt er seit seinem Amtsantritt seine nach Westen, aber zugleich auch nach Osten orientierte Politik. Daran hat auch der 11.09.2001 nichts geändert: Er selbst lehnte es beim Bush-Besuch trotz allem ab, sich in einen Boykott gegenüber dem Iran und in Kriegsvorbereitungen gegenüber dem Irak ziehen zu lassen. Des weiteren stehen den neuesten Freundschaftsbekundungen für den Westen klare Signale für die Ost-Orientierung Russlands gegenüber: Während in Reikjawik der neue NATO-Rat beschlossen wurde, wurde in Moskau ein neues Militärbündnis Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Armeinen aus der Taufe gehoben, das den verschlissenen „Vertrag zur kollektiven Sicherheit“ von 1992 erneuerte. Im Juni soll ein Manöver des Bündnisses in Kirgisien und Kasachstan stattfinden.
Auch wirtschaftlich rückt die GUS wieder enger zusammen. Russland investiert unter Präsident Putin die lange vernachlässigten Beziehungen innerhalb der GUS. Fünf dieser Länder gründeten jetzt eine Wirtschaftsunion, die letztendlich in eine Freihandelszone nach Vorbild des europäischen Binnenmarktes münden soll.
Einen Tag nach dem Bush-Besuch hat zwar selbst China den neuen NATO-Rat als Beitrag zum Frieden begrüßt. Gleichzeitig kündigte der chinesische Sprecher aber an, dass der russische Außenminister Iwanow zu einem Besuch in China erwartet werde. Dabei soll es vor allem um Waffenlieferungen Russlands an China gehen. Außerdem steht die gemeinsame Haltung zur NATO auf der Tagesordnung. Die strategische Freundschaft mit dem Westen ist, wie man sieht – hier unmissverständlich demonstriert – in eine ebensolche Beziehung mit dem Osten, speziell China nach wie vor fest eingebunden.
Einen weiteren klaren Kontrapunkt setzte Wladimir Putin selber in den Verhandlungen um die Enklave Kaliningrad, in der er zukünftiges russisches Wohlverhalten gegenüber der EU-Erweiterung – und im Hintergrund auch NATO-Erweiterung – von Zugeständnissen der EU gegenüber Russland abhängig machte.
Das letzte Signal ist die Gründung einer „Euroasiatischen Partei“ des Selesjnow-Schützlings Alexander Dugin. Schon letztes Jahr hatte Dugin mit Hilfe des Präsidialamtes die „eurasiatische Bewegung“ gründen können, ein russisches Gegenstück zum amerikanischen Think-Tank der Huntingtons, Kissingers und Brzezinkis. Jetzt stand Wladimir Putins Präsidialamt Pate an der Wiege einer politischen Kraft, die für sich in Anspruch nimmt, der Kurs Russlands zwischen Europa und Asien, zwischen Sowjetismus und Markt und vor allem die Unzufriedenheit mit dem Identitätsverlust der russischen Gesellschaft zu repräsentieren. Diese Position schließt die KPRF ein, geht aber programmatisch und auch, was ihren potentiellen sozialen Einzugsbereich betrifft, weit über deren alt-sowjetische Kreise hinaus. Daran kann Wladimir Putin nicht vorbei – selbst wenn er es wollte.

 

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G.W. Bush in Moskau – strategische Streicheleinheiten für Wladimir Putin?

Amerikas zentrales geostrategisches Ziel in Europa lasse sich ganz einfach zusammenfassen, schreibt US-Alt-Stratege Zbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“. Durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft müsse der „Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, daß ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden“ könne, von dem aus sich eine „internationale Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten“ lasse.
Langfristig, fährt Brzezinski unter der Überschrift, „Das schwarze Loch“ fort, bleibe „dabei jedoch das Problem zu lösen, wie man Russlands Demokratisierung und wirtschaftliche Erholung unterstützen und dabei das erneute Entstehen eines eurasischen Imperiums vermeiden“ könne.
Nachdem er ein mögliches Bündnis zwischen Russland, China und dem Iran als „Dritte-Welt-Gruppierung“ klassifiziert hat, die außer „anti-hegemonialer Aggression“ nichts verbinde und bei der keines ihrer Mitglieder gewinnen könne, vor allem China seine „enormen Investitionszuflüsse aufs Spiel setzen“ würde, kommt er zu dem Schluß: „Russlands einzige geostrategische Option ist Europa. Und zwar nicht irgendein Europa, sondern das transatlantische Europa einer erweiterten EU und NATO“ – transatlantisch, das heißt: unter Führung der USA.
Damit sind die geostrategischen Optionen der USA beschrieben, denen auch G.W. Bush folgt: Sicherung der Weltherrschaft der USA durch die Kontrolle Euroasiens von den „Brückenköpfen“ Europa und Ostasien aus, das sind Japan, Korea, Taiwan. Nicht in allem war Alt-Stratege Brzezinski im letzten Jahr zufrieden mit seinem neuen Präsidenten. Dessen gegenwärtige Europa-Reise jedoch, die Paris, Berlin und Moskau demonstrativ auf einer Tour miteinander verbindet, ist ganz in Brzezinskis Sinne: Zunächst gilt es den Europäern klar zu machen, dass die USA nach wie vor „unverbrüchlich an ihrer Seite“ stehen, wenn es um die Durchsetzung der EU- und NATO-Osterweiterung geht, nachdem die Alleingänge der USA seit dem 11.9. 2001, einen gegenteiligen Eindruck bei ihren europäischen Partnern hinterließen. So gestärkt gilt es dann, die Russen davon zu überzeugen, dass sie ohne „Einbindung“ in die so gefestigte atlantisch-europäische „Sicherheitsarchitektur“, sprich NATO und EU, auf Dauer ein „Schwarze Loch“ zu bleiben drohen. Am vorläufigen Ende dieser Reise steht, wenn G.W. Bush alles richtig macht, was Amerikas neue Größe als „einzige übriggebliebene Weltmacht“ von ihm verlangt, dass Europäer wie Russen den von den USA bereits im Alleingang geplanten Krieg gegen den IRAK – wenn schon nicht direkt unterstützen – so doch mindestens tolerieren.
Manche Kommentatoren sprechen schon von einem neuen Typ amerikanischer Außenpolitik, für die das Bild „Nabe und Spreichen“ passend sei: Amerika die Nabe, Europa, Russland, China, Japan, Israel, Saudi Arabien usw. die Speichen, mit deren Hillfe Washington nach Belieben bilateral für Stabilität sorgen kann, ohne daß sich eine der „Regionalmächte“ oder eine Gruppe imstande wäre, die Vorherrschaft der USA in Frage zu stellen.
Aber so einfach regeln sich die Dinge vielleicht doch nicht: Bei den laufenden Verhandlungen über Abrüstung gab Washington jetzt zwar plötzlich seine harte Linie auf und stimmte einem bindenden Abkommen zur Reduzierung der strategischen Nuklearstreitkräfte zu, ganz so wie Wladimir Putin es gefordert hatte: Der Bestand soll von derzeit 6000 Sprengköpfen soll auf 1700 bis 2200 reduziert werden.
Das wird als großes Zugeständnis herausposaunt. Bei genauem Hinsehen ist das Abkommen jedoch eine Farce, denn eine Vernichtung der ausgemusterten Sprengköpfe ist nicht vorgesehen. Washingtons Pläne eines nationalen Raketenabwehrschirms sind nicht vom Tisch, ebenso wenig wie die von der USA beabsichtigte Entwicklung von Mini-Atombomben für den taktischen Einsatz.
US-Vize-Außenminster Armitage unterzeichnete mit Russland ein Anti-Terror-Abkommen, in dem die USA zusichern, dass die Präsenz ihres Militärs in Zentralasien nur von begrenzter Dauer sei. Das glaube, wer mag – niemand, der die geostrategischen Entwürfe Brzezinskis kennt und die Politik der USA seit dem Ende der Sowjetunion verfolgt hat, wird von einem freiwilligen Rückzug der Amerikaner ausgehen – schon gar nicht russische Militärs. Ebenso wenig wird Russland auf seine zentralasiatischen Optionen verzichten. Wenn Russland stillhält, dann aus der Erwägung, daß man zur Zeit schwach ist und sich die Amerikaner an ihrer Expansion überheben werden. Später wird man weitersehen. Zukünftige Konflikte sind programmiert.
Stark waren auch die Versprechungen, die man dem russischen Ministerpräsidenten Kassianow bei seiner letzten Visite in den USA machte: Unterstützung der russischen Beitrittswünsche zur Welthandelsorganisation (WTO), Investitionen von US-Kapital in Russland und vielleicht sogar Ölkäufe in Verbindung mit einer Regelung sowjetischer Altschulden. Einige US-Strategen scheinen zu glauben, sie könnten die notleidenden Russen kaufen. Festzuhalten ist aber, dass Wladimir Putin soeben eine Senkung der Ölpreise verordnet hat; das heißt, man ist gut im Geschäft. Zu beobachten ist auch, daß die Importzölle auf Stahl, mit denen die Regierung Bush ihre angeschlagene Wirtschaft zu stärken hofft, faktisch zu einer Ankurbelung der russischen Produktion führen. Das ist ein ähnlicher Effekt wie ihn 1998 der große russische Bankenkrach hatte, in dessen Gefolge sich – welches Wunder – der heimische Markt wieder entwickelte. Einfach weil es keine Kredite vom IWF mehr und keine Alternative gab.
Auch in Sachen NATO ist nicht alles so wie es scheint: Beim Gipfeltreffen in Rom am 28. Mai soll zwar der bisherige NATO-Russland-Rat durch einen neuen NATO-Kooperations-Rat ersetzt werden, in dem Russland zukünftig gleichberechtigtes Mitglied sein wird, ohne wie im NATO-Russland-Rat bisher nur mit fertigen Beschlüssen konfrontiert zu werden.
Von einem „Durchbruch“ zu einer „neuen Ära der Beziehungen“ ist die Rede; tatsächlich sollen interne Angelegenheiten weiterhin von der Beratung ausgenommen sein; eine „Rückholklausel“ erlaubt außerdem, Themen, zu denen keine Einigkeit erzielt werden kann, in das eigentliche Entscheidungsgremium, den NATO-Rat zurückzuholen.
Ein Vetorecht, das betonen amerikanische wie europäische NATO-Diplomaten, werde man Russland aber weder direkt noch indirekt zugestehen. Wenn´s ans Eingemachte geht, bleibt Russland nach wie vor außen vor.
NATO-Sprecher erklären den neuen Kooperations-Rat denn auch vor allem als ein Entgegenkommen des Bündnisses an den russischen Präsidenten. Dieser brauche bei seinem Militär vorzeigbare Gegenleistungen für die offene Haltung, die er dem Westen gegenüber in der „Allianz gegen den Terror“ einnehme und bei der von der NATO angestrebten und für den Herbst bevorstehenden zweiten Erweiterungsrunde der NATO. Kurz, alle Versicherungen der Westbindung Russlands und der atlantischen Treue Europas ändern nichts daran, dass Russland als euroasiatisches Herzland zwischen Europa und Asien steht, speziell China, so wie Europa seinen Platz zwischen Russland, China und Amerika finden muss. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Interessen sind auf Dauer nicht wegzukaufen und auch mit Worten nicht zu verdecken.

* Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Fischer Tb

 

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Kalte Füße bei der NATO?

Merkwürdig ist es schon, was da gegenwärtig aus NATO-Kreisen in die Öffentlichkeit dringt: Endlich hat man Russland so weit, dass es bereit ist, als zwanzigstes Mitglied ins Boot der NATO mit einzusteigen, da kommen Klagen aus Washington wie aus den europäischen Hauptstädten: Die Amerikaner befürchten eine Lähmung der Entscheidungsfähigkeit der NATO-Gremien, die Europäer, allen voran die Deutschen sehen die Gefahr, dass Moskau und Washington in einer Art, wie sie es nennen, Doppeldominanz die europäischen Mitglieder des Bündnisses erdrücken könnten. Kurz, die einen wie die anderen sehen den Wert des Bündnisses durch Russlands stärkere Einbindung schwinden.
Russlands Präsident Wladimir Putin dagegen erklärt nach wie vor unbeirrt, was er im März 2000 erstmalig im englischen BBC der Öffentlichkeit preisgab, nämlich, dass er sich eine Mitgliedschaft Russlands in der NATO sehr gut vorstellen könne, vorausgesetzt dies bedeute eine engere Anbindung seines Landes an Europa und – seit dem 11.9. 2001- eine gemeinsame Bekämpfung des Terrorismus.
Das neue Gremium, der NATO-Kooperations-Rat, der beim Gipfeltreffen am 28. Mai in Rom gegründet werden wird, soll sich u.a. mit dem Kampf gegen Terrorismus und der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen befassen. Russland soll in dem neuen Gremium in Zukunft all diese politischen Fragen als gleichberechtigtes Mitglied mit beraten können, ohne wie im NATO-Russland-Rat bisher nur mit fertigen Beschlüssen konfrontiert zu werden. Interne Angelegenheiten beider Seiten sollen allerdings weiterhin von der Beratung ausgenommen sein; eine „Rückholklausel“ erlaubt außerdem, Themen, zu denen keine Einigkeit erzielt werden kann, in das eigentliche Entscheidungsgremium, den NATO-Rat zurückzuholen. Ein Vetorecht, das betonen amerikanische wie europäische NATO-Diplomaten, werde man Russland weder direkt noch indirekt zugestehen.
Viel ändert sich also nicht gegenüber dem seit 1997 bestehenden NATO-Russland-Rat, der den Russen letztlich nur ein Informationsrecht zugestand; wenn´s ans Eingemachte geht, bleibt Russland nach wie vor außen vor. NATO-Sprecher erklären den neuen Kooperations-Rat denn auch vor allem als ein Entgegenkommen des Bündnisses an den russischen Präsidenten. Dieser brauche bei seinem Militär vorzeigbare Gegenleistungen für die offene Haltung, die er dem Westen gegenüber in der „Allianz gegen den Terror“ einnehme und bei der von der NATO angestrebten und für den Herbst bevorstehenden zweiten Erweiterungsrunde der NATO. In ihr ist eine Aufnahme der baltischen Staaten sowie evtl. Bulgariens, Rumäniens und der Slowakei vorgesehen, ohne dass Wladimir Putin intervenierte. Auch Kritik an NATO-Aktivitäten in Georgien wiegelte er ab. Dafür muss die NATO ihn honorieren.
Der russische Außenminister Igor Iwanow nannte den neuen NATO-Kooperations-Rat im staatlichen russischen Fernsehen schon „eine neue Stufe der Beziehungen beider Seiten“. Das ist zum einen natürlich eine taktische Argumentation gegenüber den konservativen, anti-westlichen Kräften in der Duma, in der Armee und in der Verwaltungsbürokratie, die Russland an den Westen ausverkauft und von der NATO eingekreist sehen. Diese Kräfte orientieren nach dem vorübergehenden Flirt Boris Jelzins mit der NATO Anfang der 90er heute auf eine Restauration Russlands als euroasiatische Zentralmacht, die ihre „natürlichen Einflusszonen“ im „nahen Ausland“ der GUS-Staaten, im Kaukasus ebenso wie in Ost-Europa wieder aufbauen müsse. Die NATO ist ihr Gegner. Diesen Kräften kann Wladimir Putin die neue Entwicklung als Anerkennung der wiedergewonnenen Stärke Russlands und als Schritt in Richtung einer möglichen Neutralisierung der NATO verkaufen.
Darüber hinaus gibt der „war against terrorism“, in dem die USA allen Weltmacht-Ansprüchen zum Trotz auf Hilfe der Weltgemeinschaft angewiesen sind, Russland – wie Wladimir Putins es offenbar sieht – die Chance, sich aus der Umklammerung der NATO zu befreien, indem es sich an der Transformation der NATO von einem atlantischen Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion zu einem euro-asiatischen Bündnis unter Einschluss Russlands beteiligt.
Nicht zu Unrecht hatte deshalb Zbigniew Brzezinski schon gleich nach dem 11.9. 2001 Alarm geschlagen. Wenige Tage vor dem Herbsttreffen der NATO-Außenminister sprach er sich seinerzeit im „Wallstreet Journal“ für eine sorgfältige Prüfung der Vorschläge für den neuen Kooperations-Rat aus. Die klare Trennungslinie zwischen einer im Einvernehmen der Bündnispartner getroffenen Entscheidung und gemeinsamen Beratungen oder Beschlüssen mit Russland dürfe nicht verwischt werden, warnte er, denn wenn Russland am Meinungsaustausch der NATO-Mitgliedsländer unmittelbar beteiligt sei, erhalte es die Möglichkeit, deren Differenzen gegeneinander auszuspielen, bevor in der NATO ein Konsens erreicht sei. Damit drohe die NATO zu einer Organisation wie die OSZE degradiert zu werden. Anders ausgedrückt und direkt auf Brzezinskis Schrift „Die einzige Weltmacht“ * zurückgegriffen, drohe die NATO damit ihre Funktion als westlicher Brückenkopf US-amerikanischer Vorherrschaft auf dem euro-asiatischen Kontinent einzubüßen, während Russland seinen Einfluss auf Europa stärken könne.
Weniger begründet erscheinen die europäischen Ängste, die eine amerikanisch-russische Dominanz in der zukünftigen NATO befürchten. US-amerikanische Geopolitik, die gegenwärtig voll auf die Kontrolle Euro-Asiens orientiert ist, und insbesondere auf das, was Brzezinski das „schwarze Loch Russland“ nennt, ist ohne Europa im Westen nicht denkbar, so wenig wie ohne Japan und Süd-Korea im Osten. Befürchtungen des deutschen Außenministers Joseph Fischer, die in diese Richtung gehen, sind wohl eher unter der Rubrik „Klappern gehört zum Handwerk“ zu verbuchen. Die neue Lage gibt eine gute Gelegenheit, die Europäer zu mehr Geschlossenheit aufzufordern – gegenüber Russland ebenso wie gegenüber den USA.

* Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Fischer Tb

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Im Russland Putins – kein Platz mehr für die Rechte?

Der 20. April 2002, der Tag an dem Adolf Hitler geboren wurde, war in diesem Jahr auch in Russland Anlass zur Sorge: Krawalle von Nazi-Skins waren zu befürchten. Kaukasier, Asiaten, abfällig unter „Tschornije“ subsumiert, Schwarze, „Nicht-Russen“, „Nicht-Weiße“, mussten Angst haben, an diesem Tag auf der Straße totgeschlagen zu werden, so wie es im letzten Jahr geschah. Organisationen wie die Kaukasische Gesellschaft und andere ethnische orientierte Kulturzentren forderten ihre Gemeinden auf, an diesem Tag die Straße zu meiden. Die Botschaften der GUS-Länder appellierten im Vorraum an die russische Regierung, dem rassistischen Spuk auf Russlands Straßen entgegenzuwirken. Wladimir Putin persönlich warnte kürzlich vor einem Anwachsen des Rassismus und kündigte die Vorlage eines Gesetz gegen den „Extremismus“ in der Duma an.
Aber die befürchteten Krawalle rechtsradikaler Skins und anderer nationalistischer, bzw. nazistischer Gruppierungen blieben dieses mal aus, offenbar eingeschüchtert von der massiven Polizeipräsenz in den Metropolen und an einigen Orten auch der erkennbaren Bereitschaft der Bevölkerung, dem rassistischen Spuk schlagkräftig entgegenzutreten. Eine generelle Auseinandersetzung mit dem grassierenden nationalistischen Chauvinismus sucht man vergebens. Tschetschenen und mit ihnen andere Kaukasier sind in der zur Zeit gesellschaftsfähigen Sprachregelung immer noch schlichte Betrüger, wenn nicht gleich Verbrecher und Terroristen.
Vorgänge wie diese werfen die Frage auf: Kann es in Russland einen Nationalismus neben Wladimir Putin geben? 1985, als Michail Gorbatschow den sowjetischen Juden als Ersten die Genehmigung zur Ausreise erteilte, 1989 als er der deutschen Einigung zustimmte, 1991 als Boris Jelzin die Sowjetunion auflöste – da schwappte eine Welle des Nationalismus und des Antisemitismus durch die russische Gesellschaft.
Bilder marschierender russischer Nazis schockierten die westliche Presse. Die „Pamjat“-Gruppen des Monarchisten und Antisemiten Dimitri Wassiljew, sehr bald auch die paramilitärisch organisierten, sich offen zum Faschismus bekennenden Banden der „Russischen nationalen Einheit“, RNE und eine Unzahl weiterer Gruppen schossen wie Pilze aus dem Boden. Auch der Rückzug Boris Jelzins vom ersten tschetschenischen Krieg 1996 trieb den nationalistischen Gruppen noch einmal Mitglieder zu. Über dreißig „Nationalpatriotische Organisationen“ listete das „antifaschistische Komitee“ Moskaus in seiner ersten, von der Moskauer Stadtduma finanzierten Veröffentlichung 1996 auf. Verantwortlich zeichnete Jefgeni Proschtschetschin, als Chef des Komitees zum Abgeordneten und Leiter der „Kommission gegen Extremismus“ gewählt.
Die meisten nationalistischen Gruppen blieben zahlenmäßig klein; die RNE dagegen zählte sich selbst in ihren Hochzeiten 1998/9 hunderttausend (100.000) Mitglieder zu; zehntausend (10.000) dürften es tatsächlich gewesen sein, hauptsächlich in den Metropolen St. Petersburg und Moskau, aber auch in größeren und mittleren Städten der Regionen.
In der letzten Veröffentlichung der „Antifaschistischen Komitees“, kurz vor den Duma-Wahlen im Oktober 1999 und den Präsidentwanhlen 2000 hat sich die Zahl der nationalistischen Gruppen auf über hundert erhöht, was allerdings mehr auf intensivere ideologische Aktivität und daher Differenzierung der Gruppen als zahlenmäßiges Wachstum der Szene zurückzuführen ist. Zudem hält das „Antifaschistische Komitee“ es zu dem Zeitpunkt für angezeigt, neben dem Nationalismus auch die ansteigende Xenophobie als Kriterium des wachsenden Radikalismus anzuführen und dabei nunmehr auch die Rolle der Kirche in ihrer Liste mit abzuhandeln. Popen der orthodoxen Kirche segnen nicht nur die Waffen russischen Soldaten in Tschetschenien, viele ihrer Vertreter sind auch direkt in rassistische, antisemitische und nationalistische Propaganda verstrickt.
Die RNE trat 1999 unter dem Deckmantel „Spas“, Rettung, sogar zu den Wahlen mit an. Die hakenkreuzähnlichen Symbole und Parolen der RNE gehörten in Städten wie Moskau und St. Petersburg zu der Zeit zum alltäglichen Stadtbild. Erst im letzten Moment wurde die „Spas“ von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen – aus wahltechnischen Gründen, nicht wegen ihrer politischen Inhalte.
Heute, zwei Jahre nach diesem Höhepunkt nationalistischer Aktivitäten ist von der RNE selbst in der Öffentlichkeit nicht mehr viel zu sehen. Auch von Seiten des „Antifaschistischen Komitees“ und der „Kommission gegen Extremismus“ ist öffentlich nicht mehr viel zu hören: Die letzte ihrer nach 1966 fast jedes halbe Jahr erscheinenden Broschüren haben sie im Jahr 1999 herausgegeben. Seitdem ist öffentliche Funkstille. Die Gesetzes-Vorschläge der Kommission liegen unverabschiedet in der Duma.
Was ist geschehen? Ist Nationalismus plötzlich keine Gefahr mehr in Russland? Jefgeni Proschtschetschin, nach wie vor Leiter des „antifaschistischen Moskauer Komitees“, aber kein Abgeordneter der Moskauer Stadtduma mehr, skizziert die neu entstandene Lage so: Die RNE hat sich nach ihrem gescheiterten Wahlabenteuer gespalten; Parteigründer und -führer Alexander Barkaschow wurde von der Mehrheit ausgeschlossen, die sich für einen Kurs der der Anpassung an das putinsche Regime entschied. Alexander Barkaschow setzte seinen Kurs in einer Gruppe namens „Wache Barkaschows“ fort. Im Ergebnis sind Auftritte und Parolen der RNE, die 1999 in Städten wie Moskau und St. Petersburg zum alltäglichen Stadtbild gehörten, weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Gleichzeitig, so Jefgeni Proschtschetschin, wächst die allgemeine Xenophobie, benutzt eine Reihe von Abgeordneten der Schirinowski-Partei und des rechten Flügels der KPRF die Strukturen der Staatsduma, um tonnenweise antisemitische, nationalistische bis offen faschistische Presse, Literatur, Lieder und einschlägige Videos im Lande, vor allem in den Armeeeinheiten zu verteilen.
Anstelle früherer offener RNE-Aktivitäten häufen sich, vor allem in Moskau, die Überfälle radikalisierter Skinheads auf nicht-ethnische Russen, vor allem Kaukasier. Einen der letzten Vorfälle dieser Art gab es Anfang November 2001, als ein Trupp von gut 300 Skinheads mit Knüppeln und Stahlruten bewaffnet drei Märkte in den äußeren Rändern Moskaus überfiel, wo die meist kaukasischen Händler zusammengeschlagen wurden. Ergebnis: Zwei Tote und mehr als zwanzig Schwerverletzte.
Ein halbes Jahr zuvor, zu „Führers Geburtstag“ am 20. April, hatten ebensolche Horden bei einem ähnlichen Überfall einen in Moskau heimischen Tschetschenen erstochen.
Die Gruppen rekrutieren sich aus radikalisierten Jugendbanden der Vorstädte, welche die Propaganda Wladimir Putins gegen tschetschenische Banditen und die des Moskauer Bürgermeisters Luschkow gegen die „Gesichter kaukasischen Ursprungs“ als Aufforderung verstehen, Russland von den „Schwarzärschen“ zu befreien und eine „Herrschaft der Weißen“ zu errichten.
Die Moskauer Polizei spricht von Fußballkrawallen. Augenzeugen berichten dagegen von RNE-Abzeichen auf den Skin-Westen. Auch andere Nazi-Gruppierungen wirken in die Szene hinein oder sind direkt mit ihr verwoben, wie kürzlich bekannt gewordene Enthüllungen einer Moskauer Journalistin erneut belegen. (siehe Kasten) Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, der nach den Bombenanschlägen auf Moskauer Hochhäuser vor zwei Jahren mit entsprechenden Verordnungen die Jagd auf die Kaukasier eröffnet hatte, hielt es nach den Vorgängen im November 2001 immerhin für nötig, von einer „gut vorbereiteten Aktion“ zu sprechen. Er forderte den Einsatz von mehr V-Leuten, um die Szene ruhig zu halten. Das ist in diesem Jahr offensichtlich gelungen. Ob das von Wladimir Putin angekündigte Gesetzt kommen wird – und wie es aussegen wird – ist dagegen offen.
Die entscheidende Entwicklung der letzten anderthalb Jahre liegt ohnehin nicht in den Skin-Krawallen, sondern im Aufsteigen der nationalen Rechten zu offiziellen Stichwortgebern der neo-imperialen Renaissance Russlands. Exemplarisch dafür ist die Karriere Alexander Dugins, der nur ein halbes Jahr nach der Wahl eine „Eurasische Bewegung“ gründete: Alexander Dugin, seinem Selbstverständnis nach „Geopolitiker“, der Russland als Führungsmacht im prinzipiellen Gegensatz zu den von Amerika geführten atlantischen Mächten definiert, galt zu Zeiten der Perestroika als marginalisierter national-bolschewistischer Extremist. Als Chefredakteur einer obskuren Zeitschrift namens „Elemente“ entwickelte er seine kruden Theorien einer mystischen Mission Russlands, das sich als Fortsetzung eines „Dritten Rom“ gegenüber dem zersetzenden Westen behaupten müsse, um die Welt zu retten. Seine Theorien fußen u.a. auf Arbeiten der deutschen „konservativen Revolution“ der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts, den ideologischen Wegbereitern Hitlers. Dugins strategische Vision ist eine deutsch-russische Achse, an der die euro-asiatische und davon ausgehend die ganze Welt genesen könne. Hitler kritisiert er nur deswegen, weil er die strategisch falsche Entscheidung getroffen habe, Stalin zu bekämpfen, statt mit ihm zusammen den Westen, speziell die USA zu unterwerfen.
Für seine Theorien instrumentalisiert Alexander Dugin zudem die Vorstellungen der sowjetischen „Euro-Asiatiker“, die in den 30er Jahren die Vision von Russland als einer christlich-sozialistischen Ordnungsmacht des euro-asiatischen Kontinents entwickelt hatten. In Dugins Neuauflage schrumpfen die Theorien der klassischen Euro-Asiatiker allerdings zu einer reinen neo-imperialen, zudem noch antisemitisch durchsetzten Ideologie.
In den ersten Jahren der Ära Jelzin gehörte Alexander Dugin zur national-bolschewistischen Opposition, war er Autor in der Zeitung „Djen“, der Tag (nach 1993 „Sawtra, der Morgen) des ewigen Oppositionärs, „National-Patrioten“ und Antisemiten Alexander Prochanow. Über „Sawtra“, die meistgelesene Wochenzeitung des national-patriotischen Lagers, agitierte er aktiv gegen den liberalen Kurs Boris Jelzins sowie generell gegen den globalen Neo-Liberalismus. 1993 gehörte Alexander Dugin zu den „Verteidigern des weißen Hauses“, die Boris Jelzin von Panzern zusammenschießen ließ.
Gegen Ende der Jelzin-Zeit hatte Alexander Dugin sich zu einem der wichtigen Berater des kommunistischen Duma-Präsidenten Selesnjow heraufgearbeitet. Als Wladimir Putin gewählt wurde, sah Alexander Dugin auch seine Stunde gekommen. Er begrüßte Putins Kriegskurs als richtigen Schritt zur Wiederherstellung des Imperiums: nur ein halbes Jahr später war die „Euroasiatische Bewegung“ gegründet. Sie verfügt in Moskau heute über ein herrschaftlich ausgestattetes Büro, das heißt, über offizielle Gelder, und über Regionalgruppen im ganzen Land.
In den wenigen Monaten ihres Bestehens organisierte die „Bewegung“, unterstützt vom Präsidialamt Putins und der Staatsduma zusammen mit hochrangigen Vertretern der Kirche, ebenso des Islam eine Konferenz zum Islam, welche u.a. die Teilung Tschetscheniens als Lösung des tschetschenischen Problems propagierte. Verständigungslinie zwischen tschetschenischen und russischen Teilnehmern dabei war: das Bündnis euroasiatischer, von Russland geführter Partner gegen fremde atlantische, das heißt westliche, amerikanische Kräfte.
Weitere Konferenzen dieser Art zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen fanden in den Regionen statt. Unter dem Label des „Euroasiatismus“ arbeitet Alexander Dugin erfolgreich daran, einen Focus für eine neo-imperiale Orientierung Russlands herauszubilden, der sich als Gegenstück zum Think-Tank der USA und seiner Strategen Brseszinski, Kissinger, Huntington und anderen versteht. Dem Schlagwort vom „Kampf der Kulturen“ setzt Alexander Dugin das von der „Synthese der Kulturen“ entgegen, der „Globalisierung“ die Kritik am Neo-Liberalismus und die Propagierung der „nationalen Vielfalt unter einem euroasiatischen Dach“.
Dies alles ist auf dem Hintergrund möglich, dass Russland sich geografisch wie historisch tatsächlich zwischen Asien und Europa definiert, dass Wladimir Putin, anders als zuvor Michail Gorbatschow und auch noch Boris Jelzin, eine Politik zwischen Asien und Europa zu entwickeln versucht und dass sich eine weltweite Kritik an der neo-liberalistischen Globalisierung, insonderheit der USA entwickelt.
Unter Ausnutzung dieser Tatsachen hat Alexander Dugins unermüdliche Propaganda alle Aussichten, für das putinsche, ggflls. auch für das nach- putinsche Russland zu einem ideologischen Treibsatz zu werden, in dem der imperiale Explosivstoff in einem scheinbar ungefährlichen Gemisch aus Kritik an der Globalisierung und Eintreten für eine multipolare und sogar multikulturelle Welt versteckt wird.

(aus einem Artikel von Uli Heyden, Moskau)

Unter Experten steht lange fest, dass hinter der jugendlichen Skinhead-Gewalt Erwachsene stehen. Einer der Ideologen der Moskauer Skinheads, der Vorsitzende der Volksnationalen Partei, Aleksandr Sucharewskij, verglich die Skinhead-Bewegung in einem Interview gegenüber dem Fernsehsender NTW, mit der Reaktion eines kranken Organismus. Die Bewegung zeige, dass die Gesellschaft noch gesund sei. Sucharewskij träumt von einer „weißen Revolution“, der Deportation „aller Zugezogenen“ und einer Konföderation der „arischen“ Staaten Russland, Deutschland und Dänemark.
Auf Sucharewskij´s Skinhead-Partei liegt ein schwerer Verdacht. Alles spricht dafür, dass die Volksnationale Partei die Pogrome gegen von Kaukasiern geführte Freiluftmärkte, bei denen es zu mehreren Toten kam, organisierte. Eine Reporterin der auflagenstarken Tageszeitung „Moskowkij Komsomolez“ wollte es genau wissen und beantragte die Mitgliedschaft in der Partei. Ihr Bericht schlug wie eine Bombe ein. Im Parteibüro wird sie von dem jungen Aktivisten Salasar „aufgeklärt“. „Die Neger, die in Moskau herumlaufen, beleidigen mein ästhetisches Gefühl. Man muss sie schlagen, damit sie verstehen, wer der Herr im Haus ist. Wenn Du einen schlägst – machst Du zehn anderen Angst. Wir brauchen einen Krieg. Er läuft schon, nur wird davon nicht gesprochen. Die Polizei verschweigt solche Fälle. Manchmal kommt ein Fall an die Öffentlichkeit. Man will die Nazmen (nationalen Minderheiten, Red.) nicht verängstigen. Aber wir prügeln und werden weiter prügeln.“
Mit Photos belegte die Reporterin, dass die jungen Skinheads zweimal in der Woche vor den Toren der Hauptstadt auf einem Trainingsgelände der OMON-Spezialeinheiten von Behörden-Mitarbeitern im Nahkampf ausgebildet werden. Zur Zeit werden die Vorwürfe der Journalistin, die sich auf eine längere Auslandsreise begeben hat, von der Generalstaatsanwaltschaft geprüft.

 

 

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Wladimir Putins autoritäre Modernisierung

Russland ist wieder da! Seit dem großen Finanzkrach von 1998 nimmt das Land keine Kredite mehr vom Internationalen Währungsfonds (IWF) entgegen; im April erklärte Russland seine Absicht, nunmehr an die Begleichung seiner Auslandschulden zu gehen; in der NATO möchte der russische Präsident Russland als 20stes Mitglied sehen, statt weiterhin den ungeliebten Partner des NATO-Rates abzugeben. Endlich, so Wladimir Putin, habe der Westen nicht nur die Notwendigkeit des Krieges in Tschetschenien erkannt, sondern daraus für seinen eigenen weltweiten Kampf gegen den Terrorismus gelernt.
Alles nur äußere Fassade, während sich die innere Krise weiter ins Land frisst? Außen Hui und innen Pfui? Nein, so ist es nicht: Wladimir Putin ist auch innenpolitisch nicht ohne Erfolge: Er hat im ersten Jahr seiner Präsidentschaft für eine wahre Reformflut gesorgt: eine Steuerreform, eine Gerichtsreform, die Ablösung des alten sowjetischen Arbeitsrechtes, die Verabschiedung der immer wieder verschobenen Reformen im Agrarbereich, ein Bündel von Verordnungen zur Entmonopolisierung, die Beschleunigung der lange geplanten Heeresreform. Alle Vorlagen, die von Putins Stab vorgelegt wurden, wurden von einer willigen Duma beschlossen; einen nennenswerten Widerstand dagegen gibt es nicht.
Zwar grummeln die Militärs, denen Wladimir Putins offene Flanke gegenüber der NATO und besonders gegenüber dem amerikanischen Aufmarsch in den zentralasiatischen GUS-Staaten nicht gefällt. Auch die Modernisierung der russischen Armee, sprich deren Verkleinerung und Umwandlung in eine hochtechnisierte Berufsarmee, geht vielen an das, was sie für ihre nationale Substanz halten. Eine praktikable Alternative hat jedoch niemand vorgebracht.
Ähnliches gilt für die russischen Unternehmer: Zwar mussten sich die offensichtlichsten Privatisierungs-Gewinnler wie Wladimir Gussinski, wie Boris Beresowski und andere Günstlinge des Perestroika-Vollstreckers Boris Jelzin aus der Politik zurückziehen; Wladimir Gussinski verlor dabei sein Medien-Imperium, Boris Beresowski seinen unmittelbaren Einfluss auf die Politik; Rem Wecherew von GASPROM musste die Alleinherrschaft über den Gas-Giganten abgeben. Wladimir Gussinski und Boris Beresowski verließen sogar das Land. Aber andere Oligarchen traten an ihre Stelle, die ebenso in der Tradition des Geldzarentums organisiert sind wie die Gussinskis und Beresowskis, etwa Abram Abramowitsch oder die Chefs der LUKOIL. Lew Wecherew musste den Konzern zudem nicht verlassen; er rückte nur vom Direktor auf den Posten des Aufsichtsratsvorsitzenden.
GASPROM ist nicht aufgelöst, es hat auch seine Politik der Beeinflussung des Kreml nicht geändert; das Gleiche gilt für die Oligarchen. Es ist Wladimir Putin lediglich – aber immerhin – gelungen, die alten Monopolisten ebenso wie die neuen Oligarchen der von ihm verfolgten Linie eines starken Russland zu verpflichten. Der Kitt, mit dem er das vollbrachte, war der Krieg in Tschetschenien. Das Vorgehen GASPROMS gegen den Gussinski-Sender NTW, danach das der LUKOIL gegen den NTW-Nachfolger TW-6, durch welches Wladimir Putin eine staatserhaltende Medienpolitik erzwang, sprechen für sich. Es hat sich nichts Prinzipielles geändert; das neue russische Unternehmertum ist lediglich dabei, sich mit dem Staat zu arrangieren.
Im russischen Verband der Unternehmer (MARP) wird die Politik Wladimir Putins begrüßt. Der Jelzinsche Liberalismus, der von einer Selbstregulierung des Marktes ausging, ist aus Sicht der Direktoren, ebenso wie aus jener der neuen Unternehmer absolut out: Mit Genugtuung hat man in Unternehmerkreisen Wladimir Putins Slogan von der „Diktatur der Gesetze“ und seine ersten Schritte in diese Richtung aufgenommen. Das betrifft zunächst einmal die politische Zentralisierung und hier wiederum erst einmal die Einsetzung der sieben landesweit und jeweils über die Grenzen mehrerer Gouvernements hinaus agierenden Administratoren, die dem Präsidenten direkt unterstellt sind. Sie sorgen, so Juri Bernadski, Direktor des MARP in Nowosibirsk, endlich wieder für einen einheitlichen Entwicklungsrahmen der vorher in alle Himmelsrichtungen auseinanderfallenden Regionen des Landes. „Putin“, so Juri Bernadski, „ist eine Hilfe für das russische Unternehmertum, das endlich wieder eine Grundlage für Entscheidungen erhält.“ Auch wenn die zentrale Gesetzgebung häufig vor Ort nicht umgesetzt werde, wie dies in Russland Tradition sei, häufig auch einfach die notwendigen Ausführungsbestimmungen fehlten, weise die von Präsident Putin eingeschlagene Linie doch in Richtung der Überwindung des – wie Bernadski es nennt – rechtsstaatlichen Nihilismus, der sich unter Boris Jelzin breitgemacht habe.
„Überwindung des rechtsfreien Raums“ ist die wichtigste Vokabel, die Russlands Unternehmer heute gebrauchen. Anders als manche Beobachter oder Beobachterinnen aus dem Westen erwarteten, sehen sich die lokalen Betriebsfürsten und Machthaber durch Wladimir Putins neue Ordnung keineswegs eingeengt, sondern befreit. Beispielhaft dafür ist die Versammlung der „Sibirischen Übereinkunft“, eines Gremiums halboffizieller Führungsgestalten aus Wirtschaft und Regionalpolitik: Diese inoffizielle Vereinigung sibirischer Industrieller und Politiker versteht die Wiederherstellung einer einheitlichen staatlichen Ordnung, wie Wladimir Putin sie anstrebt, als Voraussetzungen für die, wie es der Direktor der Organisation ausdrückt, „Globalisierung Sibiriens als Ressourcenraum.“ Mehr noch, von den vier Dutzend Vertretern der zwölf sibirischen Gebiete wird, ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst nur eine inoffizielle, wie sie sagen, aber nicht illegitime Funktion ausüben, nicht weniger, sondern mehr zentrale Regelung erwartet.
Wenn es Wladimir Putin gelänge, das Vertrauen in den Rechtsraum Russlands wiederherzustellen, der mit der Union zerfallen sei, so Viktor Altuchow, Sekretär der „Sibirischen Übereinkunft“, dann könne Russland in drei bis fünf Jahren seine Krise überwunden haben. Ähnliches kann man selbst in Tatarstan, Tschuwaschien oder in anderen autonomen Republiken hören, die doch im übrigen großen Wert auf ihre Eigenständigkeit legen. Auch die wenigen kleinen Unternehmer, die in der wilden Zeit der Jelzinschen Privatisierung nur mit Mühe Fuß fassen konnten, begrüßen Putins neue Ordnung. Sie gibt ihnen größere Existenzsicherheit.
Wladimir Putin selbst kommt solchen Vorstellungen entgegen, wenn er für die zweite Amtshälfte seiner Präsidentschaft weitere Maßnahmen ankündigt, etwa ein Anti-Korruptionsgesetz, Maßnahmen zur Zollvereinheitlichung, Neue Standardisierungs- und Urkundenrechte, Steuergesetze für den Kleinhandel und eine Reform der Stromversorgung, das heißt, deren Entstaatlichung und Umwandlung in zu bezahlende Leistung. Dies alles zöge, so pragmatisch, ja banal die Maßnahmen klingen, tiefgehende Strukturveränderungen nach sich.
Nicht alle Direktoren jedoch, nicht alle neuen Unternehmer teilen die offiziellen Positionen des Unternehmerverbandes oder solcher Vereinigungen wie der „Sibirischen Übereinkunft“ – ohne dass man sie deshalb gleich dem Lager der Sowjet-Veteranen zuschlagen müsste.
Niemand bezweifelt die relative Stabilisierung des Staatshaushaltes, die sich seit 1998 beobachten lässt, niemand bestreitet den gesetzgeberischen Fleiß der Duma. Vielen aber ist die Geschwindigkeit suspekt, mit der das geschieht. Andrej Betz beispielweise, Direktor der Maschinenfabrik „Stankosib“ in Nowosibirsk sieht durch Wladimir Putins Rezentralisierung vor allem neue Bürokraten „wie Pilze aus dem Boden“ schießen. Wladimir Putin, meint Direktor Betz, habe keine grundsätzlichen Neuerungen gebracht, er habe nur einfach Glück gehabt, Glück dass die Krise von 1998 das spekulative Kapital zerschlagen habe, so dass die heimische Industrie anstelle der nicht mehr bezahlbaren Importe mit eigenen Produkten einspringen musste und sich so ein Stück weit entwickelte.
Glück habe Putin auch, dass die Öl-Preise auf dem Weltmarkt so hoch seien, dass von den Einnahmen aus dem Verkauf dieser Ressourcen der Löwenanteil des Budgets getragen und die soziale Unzufriedenheit durch Zuwendungen an Rentner und Studenten und durch Zahlung eines Teils der in staatlichen Betrieben jahrelang ausstehenden Lohnzahlen ein bisschen aufgefangen werden konnte. Im Grunde aber habe Wladimir Putin nach wie vor kein Programm und die sozialen Leistungen des Staates seien langfristig ohne Wirkung: Die von der Programmkommission des Präsidentenapparates um German Gref vorgeschlagenen Reformen der Betriebs- und Kommunalstrukturen seien steckengeblieben, das bedeute, die alten betrieblich organisierten Versorgungsstrukturen griffen nicht mehr, die an ihrer Stelle deklarierten staatlichen funktionierten nicht. Die Erhöhung der Pensionen sei ideologisch gut für Putins Rating, faktisch aber lächerlich, da sie von der Inflation mehr als aufgefressen werde. Die angekündigten Reformen der Industrie und der großen Wirtschaftsstrukturen, der sog. natürlichen Monopole, wie die Entflechtung von GASPROM, des Energiekonzerns RAOUES, der Eisenbahn MSG usw., würden nicht durchgeführt; eine wirkliche Entwicklung der Industrie finde nicht statt. Russland lebe nach wie vor einfach nur von dem Speck, den es in der Sowjetzeit angelegt habe und von seinem natürlichen Reichtum.
Mit dieser Kritik befindet sich Andrej Betz in bekannter Gesellschaft. Ende April veröffentliche Poul M. Thompson, Repräsentant des IWF in Moskau, einen Aufsatz zu den Reform-Erwartungen, die der Fonds für die Zukunft Russlands hat. Darin werden die Ansätze Wladimir Putins freundlich gelobt, dann aber die „nach wie vor beispiellos aufdringliche Rolle“ der Bürokratie und des Staates als das Hauptproblem bezeichnet, das einer weiteren Entwicklung Russlands entgegenstehe. Nötig sei die Dezentralisierung der großen Monopole, die Liberalisierung des Handels, vor allem aber der Abbau staatlicher Subventionen, das heißt der Abbau von nicht effektiven Arbeitsplätzen bei besserer Bezahlung derer, die bleiben.
Hier werden die Grenzen der putinschen Modernisierungslinie sichtbar: Was Russlands Unternehmer, was auch der IWF als Schritt in die richtige Richtung loben, dem nun der zweite und dritte zu folgen habe, ist für die Mehrheit der Belegschaften in den Betrieben, für die Einwohnerschaft der Kommunen, für die Bevölkerung der Dörfer eine existenzielle Bedrohung: Die Steuerreform begünstig die Reichen, die Reform der Sozialversicherung führt in der Tat zur Auflösung der bisherigen betrieblichen Versorgungsstrukturen, ohne sie durch funktionierende staatliche Leistungen ersetzen zu können, die Reform der kommunalen Strukturen liquidiert die unentgeltlichen sozialen und infrastruktuellen Leistungen, die bisher aus der Einheit von Betrieb und kommunaler Struktur getragen wurden. Ab sofort soll Wohnung, Gas, Wasser, Strom, Müllabfuhr usw. usf. bezahlt werden – aber ohne, dass der Lohn dafür ausreicht. Die Privatisierung von Grund und Boden, nach den zahllosen vergeblichen Anläufen, die Boris Jelzin unternahm, nun auch von der Duma tatsächlich beschlossen, öffnet der agrarfremden Spekulation mit Grund und Boden die Tür – für die Landbevölkerung bringt sie nichts.
Die Neufassung des Arbeitsgesetzes schließlich, des alten sowjetischen „Kodex der Arbeit“ , kann, hört man die Gewerkschaften, letztlich nur das Ergebnis haben, der arbeitenden Bevölkerung bisher gewährte Versorgungsrechte zu beschneiden, die Gewerkschaften zu entmachten und durch Beschränkung der Rechte in den Betrieben die Legitimation für die Unterdrückung möglicher Proteste zu geben.
Dieser Kurs, darin sind sich Unternehmer wie gewerkschaftliche Seite einig, kann nur so lange ohne große soziale Proteste verfolgt werden, solange die Preise für Öl und auch die anderen natürlichen Reichtümer Russlands wie Gas, Wald, Edelmetalle usw. ihre hohe Bewertung auf dem Weltmarkt behalten. Das kann lange dauern – und Russland ist reich an Ressourcen; das ist die optimistische Variante. Was dagegen geschehen könnte, wenn die Preise purzeln, ist eine nicht zu beantwortende Frage.

 

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Jiang Zemin und Putin – Deutschlands neue Rolle

Die öffentlich bekannt gewordenen Ergebnisse der soeben abgeschlossenen Staatsbesuche des russischen wie des chinesischen Präsidenten in Deutschland sind schnell zusammengefasst: Wladimir Putin verließ Deutschland in der Gewissheit, Russlands Schulden um mehrere Millionen verringert zu haben. Mit 500 Millionen Euro, die Russland an Deutschland zahlen wird, statt der bisher geforderten 6,4 Milliarden Transferrubel, berechnet als 6,5 Millairden Dollar, wurde dieses leidige Thema abgelegt. Dazu wurden langfristige wirtschaftliche Vereinbarungen in der Höhe von 150 Millionen Euro getroffen. Im übrigen mühte man sich, möglichst wenig Themen zu berühren, die das Bild einer deutsch-russischen Freundschaft trüben könnten. Im TV demonstrierten Gerhard Schröder und Wladimir Putin eine deutsch-russische Freundschaft von geradezu penetranter Intimität. Da war die Frage des Moderators nach den Vorgängen in Tschetschenien nur noch Staffage für Wladimir Putins Rechtfertigung des Krieges als anti-terroristischer Freundschaftsdienst für den Westen und den Weltfrieden.
Mit Jiang Zemin waren die Inszenierungen etwas schwieriger. Er musste mit aktiven Protesten von Amnesty, von tibetischen und uigurischen Exilorganisationen und Kritik wegen der Verfolgung der Falun Gong Anhänger rechnen. Die Bundesregierung indes wusste ihm diese Proteste vom Leibe zu halten. Aber auch er konnte im Ergebnis mit satten Ergebnissen weiterreisen – nicht nur der Verlängerung der Vertrages mit dem VW-Werk in Wolfsburg, sondern auch weiteren langfristigen Wirtschaftsverträgen.
Business as usual, könnte man denken und es bei dem Ärger über die freche Mischung aus Geheimverhandlungen und öffentlicher Kumpelei belassen. Es werden in dieser Mischung aber Elemente erkennbar, die aufhorchen lassen: Eine „strategische Freundschaft“ mit seinem Freund Putin beschwor Gerhard Schröder und die enorme strategische Bedeutung des Wirtschaftsraums Russland. Der so angesprochene Putin erinnerte gar an „Rapallo“. Worauf bezieht man sich da? Rapallo war doch das Bündnis zwischen dem Kriegsverlierer Weimar und dem Kriegsverlierer Deutschland, mit dem sie sich gegenseitig aus der Isolation durch die damaligen Siegermächte halfen. Gegen wen schließt man sich jetzt zusammen?
Für Jiang Zemin war Deutschland zwar die erste Station, aber erst die weiteren Stationen seiner Reise offenbaren den ganzen strategischen Sinn dieses Besuches: Sie heißen Libyen, Tunesien, Nigeria, Iran. Alle diese Länder finden sich entweder direkt auf Amerikas Liste der Schurkenstaaten oder stehen doch zumindest dem globalen Hegemonie-Anspruch der USA entgegen. Im Falle Iraks stimmen die Deutschen und ihr chinesischer Gast darin überein, dass die Rechte eines souveränen Staates nicht angetastet werden dürfen. Darin sind sie auch mit Wladimir Putin einig. Offensichtlich wird die Spitze dieser Politik, wenn Jiang Zemin der Bundesregierung verspricht, sich bei der UNO für eine Aufnahme Deutschlands in den Sicherheitsrat einzusetzen.: Deutschland als Widerpart eines amerikanischen Globalanspruches – diese Politik Berlins wird den übrigen Europäern vielleicht, den US-Amerikanern aber ganz sicher nicht gefallen.

 

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Aktiengesellschaft „IRMEN“ Ausnahme oder Beispiel für einen neuen Weg der Mischwirtschaft?

Im tiefen Sibirien, anderthalb Autostunden von der sibirischen Metropole Nowosibirsk nach Süden, liegt am Ufer des zum Obschen Meer gestauten Ob die geschlossene Aktiengesellschaft (AOST) IRMEN.
Sie gilt nicht nur als erfolgreichstes Agrarkombinat der Region von Nowosibirsk, ja Russlands; sie gilt darüber hinaus als Musterbetrieb für einen erfolgreichen Weg zwischen früheren sozialistischem und heutigen marktwirtschaftlichem Management und neuen Formen der Kooperation zwischen Stadt und Land, agrarischer und industrieller Wirtschaft.
Die Aktiengesellschaft „Irmen“ ging aus der vormaligen Kolchose „Bolschewik“ hervor, schon zu Sowjetzeiten ein Musterbetrieb. Ihr Chef Juri Fjodorowitsch Bugakow, war vor Perestroika und ist heute als guter Hausherr über Sibirien hinaus bekannt. Die ehemalige Kolchose ist heute als geschlossene Aktiengesellschaft organisiert. Die Gemeinde „Irmen“ umfasst ca. 3500 Menschen in zwölf Dörfern, frühere Einzel-Kolchosen, auf einem Gebiet von 23 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche und 18 Hektar Weideland. Die Felder liefern einen Ertrag von 35 – 50 Zentner Korn pro Hektar je nach Niederschlag. Auf der Hälfte des Weidelandes wird Heu geerntet. Die Gesellschaft hält 6500 Köpfe Großvieh, davon 2300 Milchkühe, die täglich 156 Tonnen Milch abgeben. Dazu kommen 3000 Schweine, sowie eine ausgedehnte Pelztierzucht und Wildtierpflege, die aus Abfällen im eigenen nahen Wald unterhalten wird.
„Irmen“ ist nicht einfach ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, erklärt Direktor Bugakow, es ist ein Kombinat mit vielen verschiedenen Arbeitszweigen. „Wir produzieren jeden Tag 46 Tonnen Milch. Wir verarbeiten sie hier bei uns. Wir haben eine schwedische Anlage zur Weiterverarbeitung der Milch. Wir stellen heute 12 verschiedene Milchprodukte her – Jogurt, Smjetana, Quark, Kefir, sogar Kumis. (alkoholisierte Stutenmilch – K.E.) Wir verkaufen das in Nowosibirsk. Wir verarbeiten aber auch eine große Menge Fleisch weiter. Wir stellen Mehl her und verkaufen es. Und um nichts wegzuwerfen halten wir auch noch die wilden Tiere. Wir haben auch unsere eigene Ziegelei. Sie stellt sieben Millionen Ziegel im Jahr her. Wir bauen damit selbst und verkaufen obendrei zu günstigen Bedingungen in die Umgebung. Das heißt, alles was wir produzieren, verarbeiten wir auch selbst weiter. Über die Weiterverarbeitung hinaus haben wir eine eigene kleine Produktion und unsere Handelsabteilung. Wir unterhalten dreizehn Geschäfte – einen Laden hier vor Ort, einen im Bezirkszentrum Ordinsk und ein sehr gutes Geschäft in Nowosibirsk. Da haben wir viel Geld investiert, das ist mächtig, schön, mitten im Zentrum von Nowosibirsk, ein Teil unserer Wirtschaft. Es heißt auch „Irmen“, direkt am Zentralen Markt. So also ist es: Produktion, Weiterverarbeitung und Handel, das heißt, wir lösen alles selbst. Das ist ein Komplex.“
So weit, so unspektakulär, könnte man meinen. Dies alles könnte auch die bloße Konservierung Widerholung der Kolchosstrukturen unter hartem Kommando, erkauft durch schwere Entbehrung der Bevölkerung sein. So ist es aber keineswegs, im Gegenteil: Der Erfolg von „Irmen“ liegt nicht in harter Überausbeutung; das ist offensichtlich, wenn man das Hauptgelände betritt, mit den Menschen in den Betrieben der AO, mit den Bewohnern in den Dörfern spricht, selbst denen, die nur im Ort wohnen und nicht in der AO arbeiten. Auch die gibt es. Wer „Irmen“ betritt findet sich in einer wohlhabenden, selbstbestimmten, mit sich selbst im Reinen befindlichen, für Außenstehende sichtlich attraktiven Produktions- und Lebens-Gemeinschaft. Das Geheimnis dieses Wohlstandes liegt, wie man im Gespräch mit Direktor Bugakow, mit Beschäftigten der Betriebe und Anwohnern der Orte erfahren kann in einer günstigen Kombination von wirtschaftlicher Interessiertheit, Tradition und Modernisierung, garantierter Privatheit und paternalistischer Führung.
Das Kontrollpaket von 51% liegt in der Hand von Juri Bugakow, die restlichen 49% sind auf fünfzig Mitaktionäre verteilt. Direktor Bugakow lässt sich seine Dividende jedoch nicht auszahlen; er hat einen Vertrag unterschrieben, daß die ihm zustehende Summe für die Modernisierung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur von „Irmen“ eingesetzt wird. Die Mehrheit der übrigen Aktienbesitzer folgen seinem Beispiel. Sie können das, weil das Lohnniveau in „Irmen“ vergleichsweise hoch liegt.
Perestroika, meint Bugakow, habe prinzipiell nicht viel verändert: Arbeiten müsse man immer noch. Die Umwandlung von „Irmen“ in eine AOST habe aber spürbar zu einer größeren Interessiertheit der früheren Kolchosmitglieder an den Arbeitsergebnissen geführt – bei den einen als Besitzer von Aktien, denen am Ende des Jahres seit Jahren steigende Dividenden ausgezahlt würden, bei den anderen als Bezieher von Löhnen, die sie in die Lage versetzen sich einen steigenden Lebensstandard zu leisten.
„Irmen“, auf diese Feststellung legt Chef Bugakow besonderen Wert, existiert ohne staatliche Subventionen und ohne Kredite; in“Irmen“, das betont er noch einmal gesondert, dulde er keine Bartergeschäfte, wie sie sonst in weiten Teilen des Landes als Folge der Krise heute üblich seien. „Das gibt es bei uns einfach nicht!“ Es werde im privaten Verkehr der Einwohner von „Irmen“ so wenig zugelassen, wie er sich für den Gesamtbetrieb auf Bartergeschäfte mit der Industrie, mit Öl-, Gas, Treibstoff-, Saat- oder sonstigen Lieferanten einlasse. „Barter“ so Bugakow, „macht auch den ehrlichsten Menschen zum Gauner. Es bringt nur Verwirrung. Bei uns gibt es nur klaren Geldverkehr. Wir haben genügend flüssiges Kapital“, so Juri Bugakow, „um uns selbst zu finanzieren.“ Kredite von 245%, wie sie heute verlangt würden, seien ihm einfach zu teuer. So komme man nie auf einen grünen Zweig.
So scharf Juri Bugakow hier die Prinzipien des Marktes betont, so bewusst setzt er andererseits auf die Nutzung der gewachsenen Traditionen. Die AOST „Irmen“ ist nicht nur kollektiver Arbeitgeber, sie übernimmt auch – bewusst entgegen dem Trend einer allgemeinen kommunalen Verwahrlosung – Kosten und Verantwortung für Erhalt und Ausbau der versorgungswirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur der Orte.
In Juri Bugakows eigener Schilderung klingt das so: Die Wohnungen sind mit allem kommunalen Komfort ausgestattet. Da gibt es Gas, da gibt es ständig heißes Wasser, da gibt es kaltes Wasser, schlicht, es gibt allen kommunalen Komfort, den es geben muss. Darüber hinaus gibt es in diesen Dörfern eigene Gärten, eigene kleine Landstücke. Man hat dort außer dem allgemeinen Einkommen die Möglichkeit ein ergänzendes Einkommen aus der eigenen Wirtschaft beziehen. Darauf können wir zur Zeit nicht verzichten.“
Was er zunächst als Mangel formuliert, entpuppt sich bei näherem Nachfragen als bewusst angewandtes Prinzip: Es gehe nicht um den Garten, erklärt er, es gehe überhaupt um „persönliche Wirtschaft“, um „ergänzendes Einkommen“. „Da gibt es außer dem Garten auch noch die Tierhaltung: Kühe, Schweine, Hühner usw. Warum? Nun in den letzten Jahren haben sich die Bedürfnisse der Menschen rasant erhöht. Früher war es so, dass man nur sehr wenig Geld verdiente und für das wenige auch noch wenig kaufen konnte. Es gab weniger gute Dinge, weniger Importware oder es gab sie überhaupt nicht. Jetzt gibt es in unseren Läden alles. Hier am Ort und auch in Nowosibirsk nur siebzig Kilometer von hier. Alle haben natürlich ein eigenes Auto und hat man kein Problem, mal eben nach Nowosibirsk zu fahren. Das ist Maximum eine Stunde und du bist im besten Geschäft von Nowosibirsk. Seit die Möglichkeit besteht zu kaufen, was man möchte, haben sich auch die Ansprüche erhöht: Heute hat man ein Auto, morgen will man zwei haben; man hat es heute gut zu Hause, man will es noch besser haben; der Nachbar ist irgendwohin gefahren, um sich zu erholen, da will man auch hin. Man hat es auch nötig sich zu erholen. Für all das braucht man Geld. Zunächst hat das die Arbeit generell stimuliert in unserer kollektiven Wirtschaft: Es gibt die Möglichkeit Geld auszugeben – also wuchs das Bedürfnis mehr zu verdienen. Und so gibt es heute Leute bei uns, die wirklich sehr gut verdienen. Das sind die Mechaniker, die das Korn auf den Feldern ernten, das sind die Beschäftigten, die tierische Produkte und Fleisch produzieren. Weniger verdienen diejenigen im Dienstleistungsbereich, welche die ganze Wirtschaft versorgen. Warum bekommen die weniger? Das machen wir bewusst so: Diejenigen, welche auf dem Feld arbeiten, haben weniger Zeit, sich mit der persönlichen Wirtschaft zu befassen. Auch jene, die mit den Tier- und Fleischprodukten zu tun haben, haben wenig Zeit dafür. Aber die, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, ihre geregelte Tageszeit haben, haben zwar ein geringeres Einkommen, aber sie haben die Möglichkeit, sich noch mit der eigenen Wirtschaft zu befassen. Sie haben zwei, drei Kühe, Schweine, Hühner – und nicht nur für die eigene Familie, sondern auch, um sie zu realisieren, um sie zu verkaufen. Sie haben es dabei nicht einmal nötig, zum Markt zu gehen, da wir eine eigene Weiterverarbeitung hier in unserer Gesellschaft haben, wir stellen fünfunddreißig verschiedene Fleischprodukte her von der Grundversorgung bis zu Delikatessprodukten. Das heißt, man zieht sein Tier auf, bringt es her, kriegt sein Geld und weitere Fragen gibt es nicht. Das ist also wirklich sehr bequem. Das ist die Antwort, warum wir heute die eigene Wirtschaft zusätzlich zur kollektiven halten.“
Es ergibt sich eine Symbiose, zwischen den kollektiven Strukturen der Wirtschaft und der eigenen Subsistenzwirtschaft, in der die eine Seite die andere die andere nicht nur stützt, sondern überhaupt möglich macht. Was als Notlösung begann, wird zum Modell. Als Vorsitzender der Bezirksagrarkommission ist Juri Bugakow anerkannter Berater in der Region: Zusammen mit der Regionalen Agrarkomission von Nowosibirsk, hat er ein Netz sogenannter Basiswirtschaften entwickelt, in dem die Erfahrungen mit der Organisationsform von „Irmen“ weitergegeben werden. An einem Betrieb pro Bezirk werden die Erfahrungen von „Irmen“ für die anderen Wirtschaftseinheiten des Bezirks demonstriert. In Versammlungen werden die Ergebnisse beraten, wer Hilfe braucht, kann Unterstützung bekommen. „Es geht nur langsam“, meint Juri Bugakow“, „aber hier und da kommt`s“. Zusammen mit der Vereinigung „Sibirische Übereinkunft“, welche offizielle und inoffizielle Machtträger aller sibirischen Regionen vertritt, und dem Russischen Unternehmerverband., der MARP, versucht man zudem, die agrarisch orientierten Basiswirtschaften mit örtlichen Industrien zu „Komplexwirtschaften“ zusammenzuführen. Auch hierbei wird an alten Vorstellungen aus der Sowjetzeit mit marktwirtschaftlichen Methoden angeknüpft.
In der „Moskauer Schule für Wirtschaft und Soziales“, geleitet von dem auch in Manchester lehrenden Wirtschafts-Professor Teodor Schanin, hat man für diese Form der Wirtschaft den Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ geprägt. Damit ist eine Wirtschaft gemeint, die weder einem dirigistischen noch einem liberalistischen, weder einem sozialistischen noch einem kapitalistischen Modell folgt, sondern sich in einer lebendigen Symbiose zwischen diesen Polen, eben extrapolar entwickelt. Juri Bugakows „Irmen“ ist das beste, ein wohlhabendes Beispiel für die Richtigkeit dieser Analyse. Aber es ist nicht das einzige. In anderen Teilen Russlands kann man inzwischen vergleichbare Strukturen beobachten. Nicht alle stehen ökonomisch auf dem hohen Niveau wie „Irmen“; manche liegen sogar im Elend. Die innere Struktur, die sich nach zehn Jahren Krise allmählich herausbildet, ist jedoch die gleiche. Es ist der Versuch, kollektive Bewirtschaftungsformen mit Formen der unmittelbaren persönlichen Substenzwirtschaft von einem Notbehelf, der sie in den ersten Jahren der Krise waren, in Richtung eines produktiven Auswegs aus der Krise zu entwickeln.

 

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Apropos Terror: Ein Friedenspreis für Memorial und vielerlei Maß

Der „Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte“ ging soeben an die russische Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte „Memorial“. In seiner Laudatio in Köln, dem ehemaligen Wohnsitz des verstorbenen Lew Kopelew, würdigte der deutsche Bundespräsident Johannes Rau „Memorial“ als „wichtigsten Pionier der demokratischen Entwicklung Russlands“. „Memorial“ erhalte den Preis für die Aufarbeitung des Stalinismus und die Wahrung der Menschenrechte, fügte das Lew-Kopelew-Forum hinzu.
Bravo, kann man da sagen! „Memorial“ hat die Anerkennung mehr als verdient und was die Aufarbeitung des Stalinismus betrifft, so sind auch die Motive der Förderung klar. Aber was ist mit dem Einsatz für die Menschenrechte gemeint? Muss man das so verstehen, dass der deutsche Bundespräsident „Memorial“ für deren Kritik am Krieg in Tschetschenien auszeichnet? Immerhin ist „Memorial“ nahezu die einzige organisierte Kraft, die dem Wüten der putinschen Soldateska in Tschetschenien öffentlich bis heute entgegentritt, nachdem auch das Ausland auf Wladimir Putins Linie eingeschwenkt ist – vor einem halben Jahr Bundeskanzler Schröder, der Wladimir Putin versprach, den tschetschenischen Krieg zukünftig „differenzierter“ betrachten zu wollen, soeben Washington, das sein Propagandaradio „Radio Liberty“ anwies, auf die geplante Eröffnung einer „Kaukasischen Welle“ zu verzichten. In tschetschenischer Sprache sollte darin über die kaukasische Front berichtet werden.
Nein, so muss man es nicht verstehen: Das machte Wladimir Putin bei einem Besuch klar, den er soeben parallel zur der Preisverleihung an „Memorial“ bei Bundeskanzler Schröder in Berlin absolvierte. Der russische Präsident machte deutlich, dass der Krieg in Tschetschenien bis zum Ende fortgesetzt werden müsse, dass „Banditen, mit der Waffe in der Hand, die sich nicht ergeben wollten, vernichtet“ würden. Er sprach ohne Unterscheidung von „Terroristen“ und „Separatisten“, die aus denselben Quellen finanziert würden wie al Quaida; es handle sich um eine „terroristische Banditen-Internationale.“ So wie in Afghanistan Opfer unter der Zivilbevölkerung Folge einer Notmaßnahme seien, an der nicht die Amerikaner die Schuld trügen, so auch In Tschetschenien: „Die Lage bei uns in Tschetschenien“, so Putin, „ist absolut die Gleiche.“
Absolut die gleiche ist sie ja, wie man glauben soll, auch in Palästina, wo Ariel Scharon seine Massaker gegen die Palästinensische Bevölkerung mit exakt den gleichen Worten rechtfertigt wie Wladimir Puten die Übergriffe in Tschetschenien und George W. Bush zuvor seinen weltweiten „Krieg gegen den Terror“. In Palästina jedoch machen sich Wladimir Putin und Gerhard Schröder zu Anwälten des Friedens. Putins Außenminister appelliert an Scharon, das „Blutvergießen sofort zu beenden“; der deutsche Bundeskanzler macht sich gar für eine militärische Lösung des Konfliktes durch Eingriffe von außen stark. Bei einer Ausweitung des Krieges gegen den Irak, so Wladimir Putin und Gerhard Schröder unisono, höre die Einigkeit mit den USA ganz auf. Wer will da noch Böses über die Herren denken, außer dass sie selbst nicht mehr wissen, wovon sie reden.

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Russland wieder Supermacht oder Protagonist einer neuen multipolaren Ordnung?

Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die NATO-Reform
und die Perspektiven der „Allianz gegen den Terror“

Die aktuelle Debatte um die engere „Einbindung“ Russlands in die NATO, ebenso wie die von Russland geduldete Militärpräsenz der USA in Zentralasien und neuerdings auch in Georgien lassen den Eindruck entstehen, als sei Russland inzwischen nicht nur zu einem Teil Europas, sondern des Westens überhaupt geworden. Aus der Umgebung des Weißen Hauses in Washington werden neue Schlagworte wie „Duopolarität“ u.ä. in Umlauf gebracht, welche die Vorstellung nahe legen, die USA und Russland könnten die Welt zukünftig unter sich aufteilen, Moskau als Verwalter der Weltressourcen und Washington als Garant der Weltsicherheit. Tatsächlich wird Russland von der NATO aber nicht mehr angeboten als die Verwandlung des seit 1997 bestehenden „19 + eins“-Beratergremiums der NATO in ein „Gremium der 20“. Dieses unterscheidet sich von der vorherigen Organisation des Russland-NATO-Rates im Prinzip nur durch den Namen wie durch die Sitz- und Tagesordnung, welche Russland die Möglichkeit geben soll, anstehende Themen „im offenen Gespräch“ mit zu erörtern, bevor die übrigen neunzehn Mitglieder sich festgelegt haben. Die Einführung der von Wladimir Putin – unter anderem bei seiner als historisch empfundenden Rede vor dem Deutschen Bundestag – geforderten Mitsprache an NATO-Entscheidungen ist mit dieser Reform nicht verbunden. Ein Veto-Recht, erklären NATO-Offizielle, nicht zuletzt deutsche Stellen, wachse Russland damit auf keinen Fall zu.
Die neue Debatte um Reformen der NATO ist aber Anlaß genug, sich die Rolle, welche Russland in den internationalen Beziehungen gegenwärtig einnimmt und in absehbarer Zukunft einnehmen kann, genauer anzuschauen.
Als Kernpunkt der heutigen Entwicklung ist dabei zunächst festzuhalten: Die gegenwärtige globale Krise, die sich in dem von Amerika geführten Krieg gegen den Terrorismus ausdrückt, ist eine Wachstumskrise. Sie markiert das Ende einer Zeit
der Hegemonie der westlich geprägten Zivilisation vor dem Hintergrund eines globalen Entwicklungsdruckes der früheren Kolonien, die heute in den Stand selbstständiger Staaten getreten sind und das Weltgeschehen mitgestalten wollen. Die Bedingungen für einen grundlegenden Wandel der nachkolonialen Verhältnisse sind herangewachsen und drängen nach Verwirklichung, das heißt, auf Beseitigung der nachkolonialen Ordnung, so wie seinerzeit die bürgerlichen Kräfte Frankreichs und davon ausgehend Europas auf eine Beseitigung der Feudalordnung drängten. Die Frage ist, heute nicht viel anders als damals, ob die herrschenden Kräfte diese Umwandlung zulassen oder ob sie versuchen, sie zu verhindern oder mit Gewalt zu unterdrücken.
Die aktuelle Entwicklung der Krise lässt sich bisher in zwei Phasen gliedern.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach die Krise am schwächsten Glied in der Kette der nach westlichem Muster entwickelten Industriestaaten aus. Dazu ist anzumerken: Natürlich war die Sowjetunion niemals, sowenig wie vorher oder nachher Russland, bloß ein Bestandteil Europas, der „europäischen Sicherheitsstruktur“ oder gar ein westliches Land, sowenig wie etwa Japan, obwohl nach westlichem Muster industrialisiert, heute ein westliches Land ist. Eher wäre Europa schon als Teil Russlands zu bezeichnen. Russland liegt zwischen Asien und Europa und definierte sich immer zwischen diesen beiden Polen. Das ist heute – aller Weltraumtechnik zum Trotz – nicht anders als vor tausend Jahren. Die Industrialisierung Russlands, insbesondere die Zwangsindustrialisierung nach der Oktoberrevolution von 19117 vollzog sich aber nach Vorgaben des europäisch-amerikanischen Industrialismus – als nachholende Industrialisierung unter sozialistischen Parolen, Staatskapitalismus sowjetischen Typs. Auch als Kolonialmacht war Russland Bestandteil der europäischen Geschichte, nicht zuletzt der daraus resultierenden Kriege, allerdings unterscheidet sich russischer Kolonialismus in wesentlichen Zügen vom zentraleuropäischen: Moskau kolonisierte territorial und integrativ statt maritim und aggressiv wie Europa und in dessen Fortsetzung Amerika. In Russland verband sich Asien mit Europa zu einem untrennbaren Ganzen, während im europäischen Kolonialraum ebenso wie im amerikanischen die Trennung zwischen Mutterland und Kolonie immer gewahrt blieb.
Was auf russischem Boden so entstand, ist ein Industriegigant nach dem Muster des wissenschaftlich-technischen Weltbild des Westens – auf asiatischem Boden (was Marx seinerzeit die „asiatische Produktionsweise“ nannte). Seit Mitte der siebziger wurde deutlich, daß dieser Gigant die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit erreicht hatte – wirtschaftlich und politisch. Die Tonnenwirtschaft und -ideologie der sowjetischen Schnell- und Zwangs-Industrialisierung kam mit Eintreten der Computerrevolution an ihre die Grenzen, wo der Übergang zur qualifizierten intensiven Produktion zwingend wurde; politisch markiert das Desaster von Afghanistan das Ende der russisch-sowjetischen Expansion. Weiter war der ohnehin schon überzentralisierte Ballon nicht aufzublasen. Im Prinzip waren es somit keine speziell „sozialistischen“ Probleme, an denen die Krise ausbrach, es war die Notwendigkeit, von expansiven Entwicklungsmodellen zu intensiven, qualitativen überzugehen. Der sozialistische Überbau hat diese Probleme lediglich zugespitzt. Die sowjetische Nomenklatura, Michail Gorbatschow, erkannte die Unumgänglichkeit dieser Tatsachen und ließ sich auf einen Transformationsprozess ein. Der Slogan von der gewachsenen Bedeutung des „Faktors Mensch“ gehört hierhin. Dezentralisierung, Demokratisierung, Befreiung der persönlichen Initiative sind die Stichworte, an deren Umsetzung das Land seitdem laboriert.
Mehr als fünfzehn Jahre galt angesichts dieser Entwicklung erst die Sowjetunion, in der Folge dann Russland als der „kranke Mann“ des Globus. Der Westen gefiel sich in der Rolle des Arztes, der Rezepte verschreibt: Die neo-liberale Gewaltkur, die Boris Jelzin zusammen mit dem IWF, der Weltbank usw. seinem eigenen Lande, die internationale Konzerne unter Führung der USA nach dem Zusammenbruch des Sowjetischen Weltsystems nun auch den übrigen Völkern in Form der sog. Globalisierung aufdrängten, erwies sich selbst als Krankheit, welche die USA als die Führungsmacht dieses Prozesses in den letzten Jahren zunehmend selbst in die Krise brachte. Der Wahlkampf zwischen George W. Busch und Al Gore stand bereits vollkommen im Schatten dieser Krise. Die Politik, die Busch vor dem 11. 9.2001 betrieb, Zinssenkung, außenpolitischer Protektionismus, Rückzug Amerikas aus internationalen Verpflichtungen, war bereits blankes, wenn auch hilfloses Krisenmanagement. Gleich nach dem 11.9.2001 ist die US-Administration zu einer global angelegten Notstandsbewirtschaftung und Politik übergegangen. Ca. 450 Milliarden für den Verteidigungshaushalt, Zurückfahren der Sozialpolitik und die Schutzzölle für die US-Stahlindustrie sprechen für sich. Einen günstigeren Anlaß für diese Politik als den Anschlag auf das World Trade Center vom 11.9. 2001 hätte niemand erfinden können.
Man beachte aber den Unterschied: Anders als die Sowjets, die auf die wirtschaftliche Krise und die Niederlage in Afghanistan mit der Überführung der expansiven in eine intensive Entwicklung ihrer Gesellschaft antworteten, nutzten die US-Amerikaner die Gelegenheit zu weiterer Expansion: Von der „allein übriggebliebenen Weltmacht“ schritten sie voran zum Anspruch auf die globale Führungsmacht, die ihren Einfluß nunmehr in das einzige von ihr bis dahin noch nicht beherrschte Gebiet, nach Zentralasien, ausdehnt und der gesamten Welt, sofern sie nicht die US-amerikanische Politik unterstützt oder zumindest duldet, den Krieg erklärt. Damit ist die Krise, die am schwächsten Glied losbrach, nunmehr erkennbar auf die ganze heutige, westlich geprägte und beherrschte, Industriegesellschaft übergegangen. Anders als sie es verstehen, haben George W. Busch und seine Verbündeten recht: Es ist die Krise der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die von den Abfallprodukten ihrer eigenen Dynamik, Globalisierung genannt, eingeholt wird.
Es scheint, als ob die USA in dieser Situation die ganze Welt unterwerfen; ihr Aufstieg zum Gipfel der einzigen Weltmacht, welche die übrige Welt unter ihre Bedingungen zwingt, ist jedoch schon die Voraussetzung ihres Abstieges: Die „Allianz gegen den Terror“ ist auf begrenzten Interessen-Identitäten begründet. Sicher, Russland ist interessiert, unter dem Deckmantel der Allianz seinen Einfluss in Zentralasien wieder herzustellen, womöglich gar noch auszuweiten und auch China in die Schranken zu weisen, dessen Bevölkerung sibirisches Gebiet zu überschwemmen beginnt. Aber die Amerikaner holen in Afghanistan die Kohlen aus dem Feuer, das die Russen anschließend mit humanitärer Hilfe, Waffenlieferungen, Angeboten zum Wiederuafbau uä. zu löschen anbieten. Besser könnten die Russen die Wunden, die ihnen Afghanistan seinerzeit geschlagen hat, nicht heilen.
Ähnliches gilt für den Kaukasus und für die GUS-Länder: Eine bedingte Präsenz der Amerikaner im Kampf gegen örtliche „Terroristen“ schafft Russland Manövrierspielraum für zivile und wirtschaftliche Aktivitäten in diesen Gebieten, in denen sie als Kolonisatoren verhasst sind zugleich aber gebraucht werden. Und wenn die Amerikaner sich an den Tschetschenen in Georgien die Finger verbrennen, brauchen es die Russen nicht mehr zu tun. Das ist für Moskau allemal überschaubarer als die bis dahin vom Kreml beklagte klammheimliche Unterstützung kaukasischer Separatisten durch die CIA.
Langfristig allerdings dürfte das Kalkül, dass Russland und die USA sich dem Raum „duopolar“ teilen könnten, auf Sand gebaut sein: Da ist zunächst China, da ist Indien, da ist der Iran, da sind die Interessen der zentralasiatischen GUS-Länder, die sich zwischen den Giganten einen neuen Lebensraum aufbauen wollen. Deutlich drückt sich das in dem Zusammenwachsen der Shanghai-Gruppe, dem regionalen Bündnis zwischen Russland, China, Indien und der Mehrheit der GUS-Stasten, seit Mitte der 90er aus, in dessen Verlauf diese Staaten sich unter aufmerksamen Interesse weiterer Anrainerstaaten und gestützt durch Europa um einen gemeinsamen Aufbau eines zentralasiatischen Wirtschafts- und Lebensraumes bemühen.
Zwar ist China wie Russland daran interessiert, unter dem Mantel der „Allianz“ separatistische Bestrebungen im Westen des chinesischen Staatsgebietes niederzuschlagen. Noch wichtiger als amerikanisches Stillehalten aber ist den Chinesen die Ausweitung ihres Einflusses nach Sibirien und in den zentralasiatischen Raum. In diesem Spiel ist die Niederschlagung der moslemitischen Uiguren nur ein Zug. Wichtiger ist der Bau von Trassen, Bahnen und Pipelines, die den zentralasiatischen Raum und den indischen Subkontinent für China öffnen. Ähnliches gilt für die lange nördliche Grenze mit Russland, über die China in den sibirischen Raum drängt. Hier könnten die USA sich Hoffnung machen, als lachender Dritter Nutzen aus einem Konflikt zwischen China und Russland zu ziehen. Tatsache ist aber, dass Russland und China langfristig eher auf eine Abstimmung ihrer Interessen in Zentralasien und Sibirien als auf Unterstützung der USA angewiesen sind.
Kommt hinzu, daß die USA kaum Interesse zeigen, in die infrastrukturelle und kulturelle Entwicklung des zentralasiatischen Raumes zu investieren. Ihr Interesse liegt in der Ausbeutung der Ressourcen und in der strategischen Besetzung des Raumes durch einen oder mehrere militärische Brückenköpfe. Nicht Entwicklung und kooperative Beziehungen, sondern Beherrschung und wirtschaftliche Ausbeutung des Raumes ist Ziel der US- Expansion. Hier liegt auch der Dissens zwischen den USA und den Europäern begründet, der neuerdings wieder deutlicher hervortritt. Kurz gesagt: Europa hat ein konkretes wirtschaftliches Interesse an der durchgängigen und nachhaltigen Entwicklung des euroasiatischen Zentralraumes als Teil seiner eigenen geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität. Die USA haben dieses Interesse nicht. Sie sind an schnellen Gewinnen, leicht zu beziehenden Ressourcen interessiert. Nur das strategische Interesse, China und Russland in Schach zuhalten, könnte die USA und Europa verbinden. Aber selbst hier verfolgen die Europäer, durch infrastrukturelle Großraumgestaltung mit den Russen und Chinesen verbunden, andere Konzepte als die Amerikaner.
Wären noch Indien, Iran, Pakistan, also, der gesamte indische Subkontinent zu erwähnen, alles Länder, die ihrerseits starkes Interesse an der eigenständigen Entwicklung des zentralasiatischen Raumes zeigen, von der sie sich eigene Entfaltungsmöglichkeiten und ein größeres Gewicht gegenüber den industriellen Zentren des „Westens“ versprechen.
Kurz gesagt, die gegenwärtige „Allianz gegen den Terror“ deckt nur die vordergründigsten und kurzfristigsten gemeinsamen Ziele von ansonsten diametral zueinander stehenden Interessen ab, deren Unterschiede sich in sehr unterschiedlichen strategischen Konzepten niederschlagen. Hier noch einmal in Kürze:

– die Konzeption einer monopolaren Welt unter Führung der USA. In dieser Konzeption, auch wenn jetzt vorübergehend als „Allianz gegen den Terror“ deklariert, dürfte über die Ablehnung des Konzepts der multipolaren Welt hinaus die Stoßrichtung gegen China das stärkste Motiv sein.
– die Restauration einer bipolaren Welt unter Führung der USA als maritime Kolonialmacht auf der einen und Russlands als Führungsmacht des euroasiatischen Kontinents einschließlich Chinas und Europas auf der anderen. Solche Konzeptionen werden zurzeit von russischen Nationalisten entwickelt. Sie liefen, wenn realisiert, auf eine heiße Wiederholung des kalten Krieges hinaus.
– eine „dupolare“ Konstellation, in der sich Russland und die USA gegen die „asiatische Gefahr“, speziell China arbeitsteilig zusammentun. Dabei soll Russland die Versorgung der USA mit Ressourcen, die USA die Weltsicherheit garantieren. Diese Konzeption geht an den Interessen Russlands als euro-asiatische Zentralmacht sowie an denen der gesamten südlichen Halbkugel des Globus vorbei.
– Das Chaos wechselnder bilateraler Beziehungen.

Jenseits all dieser Vorstellungen hat China am Rande der bi-polaren Systemteilung des kalten Krieges, in der es seit der Spaltung der kommunistischen Welt von 1964 weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörte, die Strategie einer multipolaren Weltordnung entwickelt. Mit Eintreten der Perestroika übernahm Michail Gorbatschow diese Orientierung auch für Russland. 1997 legten Russland und China der UNO ein entsprechendes Papier zur Entwicklung der Weltordnung vor. Die wichtigsten ehemaligen Kolonien, allen voran die des euro-asiatischen Großraumes wie Indien, Iran, Pakistan fordern heute eine solche Ordnung, deren potentielle Träger, außer China und Russland, sie und weitere der neu herangewachsenen Länder der ehemaligen „3. Welt“ selbst sind.
Unter Wladimir Putin hat Russland zwar viele Aspekte des von Michail Gorbatschow seinerzeit propagierten „Neuen Denkens“ im Zuge einer autoritären Restauration relativiert – nicht aber die Ausrichtung der Außenpolitik an den Grundzügen der multipolaren Strategie. Auch wenn es bei den Auftritten Wladimir Putins im Westen heut manchmal so scheint, als ob der russische Präsident ein Deutscher oder Amerikaner werden wolle, so sollte doch niemand übersehen, dass derselbe Wladimir Putin China, Korea, auch Indien, dem Irak und dem Iran mit derselben Geste gegenübertritt: In Deutschland ist Wladimir Putin Bewohner des europäischen, in China des asiatischen Hauses; für Indien, den Iran, Irak usf. ist er der beste Nachbar des euroasiatischen Subkontinents. Das ist kein falsches Spiel Wladimir Putins, das ist Ausdruck der realen Rolle, die Russland in der Welt hat, heute wie immer schon in seiner Geschichte, die sich zwischen Asien und Europa, zwischen Eismehr und indischem Subkontinent, zwischen Ost-Rom, mongolisch-chinesischem Großreich und westlichem Abendland entwickelt hat und als deren Folge der russische Raum auch nach dem Verlust der GUS-Staaten immer noch von mehr als 150 Völkern bewohnt wird. In seiner offenen euro-asiatischen Zentrallage ist Russland heute so etwas wie der natürliche Motor einer multipolaren politischen Orientierung. Es ist das mehr noch als China, das zwar auch ein Vielvölkerstaat ist, der sich aber in der Abgeschiedenheit einer pazifischen Randlage des euroasiatischen Kontinentes entwickelte. Russland dagegen ist offen nach allen Seiten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Position Europas: Kann man Russland als natürlichen Motor einer multipolaren Orientierung des Lebens betrachten, so Europa, das aus einer Vielzahl von Stämmen, Völkern und Nationen in einer langen Geschichte der Kriege nun als multinationale Union heranwächst, als konzeptionelles Modell. Als Träger kooperativer Vielfalt können beide, Russland als natürlicher Motor, Europa als konzeptionelles Modell, noch besser beide gemeinsam, am besten mit China zusammen, Impulsgeber für eine kooperative Neuordnung der Beziehungen zwischen den Völkern werden – wenn sie nicht beide, sei es einzeln oder in der Widerholung unseliger Achsenbildungen, in den Versuch abgleiten, die angeschlagene Hegemonialordnung mit Gewalt gegen die anstehenden Veränderungen, dann auch gegen China, zu halten.
Die Versuchung dazu ist groß, denn die Krise ist nicht nur eine politische, die durch Kabinettskompromisse an grünen Tischen entschieden werden könnte, sondern eine soziale: Der weitgehend verdrängte Klassenkampf kehrt aus den ehemaligen Kolonien in die Metropolen zurück. Es fehlt nur noch der organisierende Impuls. Zur Zeit flackert die Unzufriedenheit mit einer ungerechten globalen Ordnung in hilflosem Terrorismus auf, auf Dauer aber ist sie weder aufzukaufen, noch, wo das nicht gelingt, als bloßer Terrorismus zu denunzieren, schon gar nicht mit Gewalt zu unterdrücken, wie die USA es gegenwärtig versuchen. Sie ist aber auch nicht durch verbale Bekundungen zur „Bekämpfung der Armut in der Welt“ wegzureden, wie man es von europäischer Seite, insonderheit von der deutschen Bundesregierung zurzeit hört – der Kampf gegen die Armut muss als konkrete, langfristig angelegte Entwicklungsförderung auch gegen die kurzatmigen Ziele und technizistische Politik der USA durchgesetzt werden, die daran so gut wie kaum ein Interesse haben.
Die Auseinandersetzung um diese Fragen wird auch unsere eigene Situation hier in Europa transformieren, wird zur Rückkehr sozialer Auseinandersetzung in unseren Alltag führen, zu einer Polarisierung zwischen denen, die die Privilegien gegen den Ansturm aus den ehemaligen Kolonien in einer Festung Europa verteidigen und jenen, die sich als Partner in den weltweiten Kampf gegen Armut, sprich die Entwicklung kooperativer Beziehungen zwischen den Metropolen und den heranwachsenden Völkern einbringen wollen.
Die Welt, die so entsteht, das darf man anfügen, wird nicht mehr die Welt sein, in der die Forderungen aus den Tagen der französischen Revolution nach „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ auf Freiheit ODER Gleichheit verkürzt wurden, in der Freiheit zur Freiheit der Ausbeutung und Gleichheit zu Gleichmacherei verkam. Gleichheit und Freiheit werden in lebendiger Kooperation durch Hilfe zum gegenseitigen Nutzen verbunden werden, die aus der Einsicht kommt, das Überleben und Entwicklung heute nur noch in gegenseitiger Unterstützung möglich ist, oder es wird weder Freiheit noch Gleichheit mehr geben. Der dritte, bisher unterentwickelte Impuls der französischen Revolution, die Brüderlichkeit, erreicht so den Globus – vorausgesetzt, er wir nicht erstickt. Der Förderung dieses Impulses muss daher alles Bemühen gelten. Das ist die Moral einer anderen Globalisierung.

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Im Russland Putins – kein Platz mehr für die Rechte?

Kann es einen Nationalismus neben Wladimir Putin geben?
1985, als Michail Gorbatschow den sowjetischen Juden als Ersten die Genehmigung zur Ausreise erteilte, 1989 als er der deutschen Einigung zustimme, 1991 als Boris Jelzin die Sowjetunion auflöste – da schwappte eine Welle des Nationalismus und des Antisemitismus durch die russische Gesellschaft.
Bilder marschierender russischer Nazis schockierten die westliche Presse. Die „Pamjat“-Gruppen des Monarchisten und Antisemiten Dimitri Wassiljew, sehr bald auch die paramilitärisch organisierten, sich offen zum Faschismus bekennenden Banden der „Russischen nationalen Einheit“ , RNE und eine Unzahl weiterer Gruppen schossen wie Pilze aus dem Boden. Auch der Rückzug Jelzins vom ersten tschetschenischen Krieg 1996 trieb den nationalistischen Gruppen noch einmal Mitglieder zu. Über dreißig „Nationalpatriotische Organisationen“ listete das „antifaschistische Komitee“ Moskaus in seiner ersten, von der Moskauer Stadtduma finanzierten Veröffentlichung 1996 auf. Verantwortlich zeichnete Jefgeni Proschtschetschin, als Chef des Komitees zum Abgeordneten und Leiter der „Kommission gegen Extremismus“ gewählt.
Die meisten nationalistischen Gruppen blieben zahlenmäßig klein; die RNE dagegen zählte sich selbst in ihren Hochzeiten 1998/9 hunderttausend (100.000) Mitglieder zu; zehntausend (10.000) dürften es tatsächlich gewesen sein, hauptsächlich in den Metropolen St. Petersburg und Moskau, aber auch in größeren und mittleren Städten der Regionen.
In der letzten Veröffentlichung der „Antifaschistischen Komitees“, kurz vor den Duma-Wahlen im Oktober 1999 und den Präsidentwanhlen 2000 hat sich die Zahl der nationalistischen Gruppen auf über hundert erhöht, was allerdings mehr auf intensivere ideologische Aktivität und daher Differenzierung der Gruppen als zahlenmäßiges Wachstum der Szene zurückzuführen ist. Zudem hält das „Antifaschistische Komitee“ es zu dem Zeitpunkt für angezeigt, neben dem Nationalismus auch die ansteigende Xenophobie als Kriterium des wachsenden Radikalismus anzuführen und dabei nunmehr auch die Rolle der Kirche in ihrer Liste mit abzuhandeln. Popen der orthodoxen Kirche segnen nicht nur die Waffen russischen Soldaten in Tschetschenien, viele ihrer Vertreter sind auch direkt in rassistische, antisemitische und nationalistische Propaganda verstrickt.
Die RNE trat 1999 unter dem Deckmantel „Spas“, Rettung, sogar zu den Wahlen mit an. Die hakenkreuzähnlichen Symbole und Parolen der RNE gehörten in Städten wie Moskau und St. Petersburg zu der Zeit zum alltäglichen Stadtbild. Erst im letzten Moment wurde die „Spas“ von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen – aus wahltechnischen Gründen, nicht wegen ihrer politischen Inhalte.
Heute, zwei Jahre nach diesem Höhepunkt nationalistischer Aktivitäten ist von der RNE in der Öffentlichkeit nicht mehr viel zu sehen. Auch von antifaschistischer Seite ist öffentlich nichts mehr zu hören: Das „Antifaschistische Komitee“ und die „Kommission gegen Extremismus“ haben die letzte ihrer nach 1966 fast jedes halbe Jahr erscheinenden Broschüren 1999 herausgegeben. Die antifaschistischen Gesetzes-Projekte der Kommission liegen unverabschiedet in der Duma.
Was ist geschehen? Ist Nationalismus plötzlich keine Gefahr mehr in Russland?
Jefgeni Proschtschetschin, nach wie vor Leiter des „antifaschistischen Moskauer Komitees“, aber kein Abgeordneter der Moskauer Stadtduma mehr, skizziert die neu entstandene Lage so:
Die RNE hat sich nach ihrem gescheiterten Wahlabenteuer gespalten. Parteigründer und -führer Alexander Barkaschow wurde von der Mehrheit ausgeschlossen, die sich für einen Kurs der der Anpassung an das putinsche Regime entschied. Alexander Barkaschow setzte seinen Kurs in einer Gruppe namens „Wache Barkaschows“ fort. Im Ergebnis sind Auftritte und Parolen der RNE, die 1999 in Städten wie Moskau und St. Petersburg zum alltäglichen Stadtbild gehörten, weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden.
Gleichzeitig, so Jefgeni Proschtschetschin, wächst die allgemeine Xenophobie, benutzt eine Reihe von Abgeordneten der Schirinowski-Partei und des rechten Flügels der KPRF die Strukturen der Staatsduma, um tonnenweise antisemitische, nationalistische bis offen faschistische Presse, Literatur, Lieder und einschlägige Videos im Lande, vor allem in den Armeeeinheiten zu verteilen.
Anstelle früherer offener RNE-Aktivitäten häufen sich, vor allem in Moskau, die Überfälle radikalisierter Skinheads auf nicht-ethnische Russen, vor allem Kaukasier. Einen der letzten Vorfälle dieser Art gab es Anfang November 2001, als ein Trupp von gut 300 Skinheads mit Knüppeln und Stahlruten bewaffnet drei Märkte in den äußeren Rändern Moskaus überfiel, wo die meist kaukasischen Händler zusammengeschlagen wurden. Ergebnis: Zwei Tote und mehr als zwanzig Schwerverletzte.
Ein halbes Jahr zuvor, zu „Führers Geburtstag“ am 20. April, hatten ebensolche Horden bei einem ähnlichen Überfall einen in Moskau heimischen Tschetschenen erstochen.
Die Gruppen rekrutieren sich aus radikalisierten Jugendbanden der Vorstädte, welche die Propaganda Wladimir Putins gegen tschetschenische Banditen und die des Moskauer Bürgermeisters Luschkow gegen die „Gesichter kaukasischen Ursprungs“ als Aufforderung verstehen, Russland von den „Schwarzärschen“ zu befreien und eine „Herrschaft der Weißen“ zu errichten.
Die Moskauer Polizei spricht von Fußballkrawallen. Augenzeugen berichten dagegen von RNE-Abzeichen auf den Skin-Westen. Bürgermeister Juri Luschkow, der nach den Bombenanschlägen auf Moskauer Hochhäuser vor zwei Jahren mit entsprechenden Verordnungen die Jagd auf die Kaukasier eröffnet hatte, hielt es immerhin für nötig, von einer „gut vorbereiteten Aktion“ zu sprechen. Er forderte den Einsatz von mehr V-Leuten, um die Szene ruhig zu halten.
Die entscheidende Entwicklung der letzten anderthalb Jahre aber liegt im Aufsteigen der nationalen Rechten zu offiziellen Stichwortgebern der neo-imperialen Renaissance Russlands. Exemplarisch dafür ist die Karriere Alexander Dugins, der nur ein halbes Jahr nach der Wahl eine „Eurasische Bewegung“ gründete: Alexander Dugin, seinem Selbstverständnis nach „Geopolitiker“, der Russland als Führungsmacht im prinzipiellen Gegensatz zu den von Amerika geführten atlantischen Mächten definiert, galt zu Zeiten der Perestroika als marginalisierter national-bolschewistischer Extremist. Als Chefredakteur einer obskuren Zeitschrift namens „Elemente“ entwickelte er seine kruden Theorien einer mystischen Mission Russlands, das sich als Fortsetzung eines „Dritten Rom“ gegenüber dem zersetzenden Westen behaupten müsse, um die Welt zu retten. Seine Theorien fußen u.a. auf Arbeiten der deutschen „konservativen Revolution“ der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts, den ideologischen Wegbereitern Hitlers. Dugins strategische Vision ist eine deutsch-russische Achse, an der die euro-asiatische und davon ausgehend die ganze Welt genesen könne. Hitler kritisiert er nur deswegen, weil er die strategisch falsche Entscheidung getroffen habe, Stalin zu bekämpfen, statt mit ihm zusammen den Westen, speziell die USA zu unterwerfen.
Für seine Theorien instrumentalisiert Alexander Dugin zudem die Vorstellungen der sowjetischen „Euro-Asiatiker“, die in den 30er Jahren die Vision von Russland als einer christlich-sozialistischen Ordnungsmacht des euro-asiatischen Kontinents entwickelt hatten. In Dugins Neuauflage schrumpfen die Theorien der klassischen Euro-Asiatiker allerdings zu einer reinen neo-imperialen, zudem noch antisemitisch durchsetzten Ideologie.
In den ersten Jahren der Ära Jelzin gehörte Alexander Dugin zur national-bolschewistischen Opposition, war er Autor in der Zeitung „Djen“, der Tag (nach 1993 „Sawtra, der Morgen) des ewigen Oppositionärs, „National-Patrioten“ und Antisemiten Alexander Prochanow. Über „Sawtra“, die meistgelesene Wochenzeitung des national-patriotischen Lagers, agitierte er aktiv gegen den liberalen Kurs Boris Jelzins sowie generell gegen den globalen Neo-Liberalismus. 1993 gehörte Alexander Dugin zu den „Verteidigern des weißen Hauses“, die Boris Jelzin von Panzern zusammenschießen ließ.
Gegen Ende der Jelzin-Zeit hatte Alexander Dugin sich zu einem der wichtigen Berater des kommunistischen Duma-Präsidenten Selesnjow heraufgearbeitet. Als Wladimir Putin gewählt wurde, sah Alexander Dugin auch seine Stunde gekommen. Er begrüßte Putins Kriegskurs als richtigen Schritt zur Wiederherstellung des Imperiums: nur ein halbes Jahr später war die „Euroasiatische Bewegung“ gegründet. Sie verfügt in Moskau heute über ein herrschaftlich ausgestattetes Büro, das heißt, über offizielle Gelder, und über Regionalgruppen im ganzen Land.
In den wenigen Monaten ihres Bestehens organisierte die „Bewegung“, unterstützt vom Präsidialamt Putins und der Staatsduma zusammen mit hochrangigen Vertretern der Kirche, ebenso des Islam eine Konferenz zum Islam, welche u.a. die Teilung Tschetscheniens als Lösung des tschetschenischen Problems propagierte. Verständigungslinie zwischen tschetschenischen und russischen Teilnehmern dabei war: das Bündnis euroasiatischer, von Russland geführter Partner gegen fremde atlantische, das heißt westliche, amerikanische Kräfte.
Weitere Konferenzen dieser Art zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen fanden in den Regionen statt. Unter dem Label des „Euroasiatismus“ arbeitet Alexander Dugin erfolgreich daran, einen Focus für eine neo-imperiale Orientierung Russlands herauszubilden, der sich als Gegenstück zum Think-Tank der USA und seiner Strategen Brseszinski, Kissinger, Huntington und anderen versteht. Dem Schlagwort vom „Kampf der Kulturen“ setzt Alexander Dugin das von der „Synthese der Kulturen“ entgegen, der „Globalisierung“ die Kritik am Neo-Liberalismus und die Propagierung der „nationalen Vielfalt unter einem euroasiatischen Dach“.
Dies alles ist auf dem Hintergrund möglich, dass Russland sich geografisch wie historisch tatsächlich zwischen Asien und Europa definiert, dass Wladimir Putin, anders als zuvor Michail Gorbatschow und auch noch Boris Jelzin, eine Politik zwischen Asien und Europa zu entwickeln versucht und dass sich eine weltweite Kritik an der neo-liberalistischen Globalisierung, insonderheit der USA entwickelt.
Unter Ausnutzung dieser Tatsachen hat Alexander Dugins unermüdliche Propaganda alle Aussichten, für das putinsche, ggflls. auch für das nach- putinsche Russland zu einem ideologischen Treibsatz zu werden, in dem der imperiale Explosivstoff in einem scheinbar ungefährlichen Gemisch aus Kritik an der Globalisierung und Eintreten für eine multipolare Welt versteckt wird.


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Das Ende von TW-6 Putins erster sichtbarer Fehler?

Wladimir Putin, Meister asiatischer Kampfkunst, hat sich der Auseinandersetzung mit seinen innenpolitischen Gegnern bis vor kurzem keine erkennbaren Fehler erlaubt: herauslocken, täuschen, drohen, ausweichen, lächeln – das waren die Manöver, die ihn von einem Mr. Nobody zum Führer der autoritären Modernisierung aufsteigen ließen, welche gegenwärtig Russland bestimmt.
Den letzten Erfolg dieser Art erzielte der Präsident im Juni letzten Jahres, als er den zum Symbol des Widerstands gegen die von ihm betriebene Politik gewordenen Fernsehsender NTW nahezu widerstandslos auf die Matte legte, ohne selbst dabei das Gesicht verziehen zu müssen.
Dieses Mal, bei der kürzlich von Putins Minister für Information, Michail Lesin, vorgenommenen Abschaltung des letzten verbliebenen Privatsenders im TV-Bereich, TW-6, wohin sich die geschasste Mannschaft von NTW geflüchtet hatte, könnte er selbst zum ersten Mal auf die Matte gehen, zumindest aber einen Gesichtsverlust als fairer Kämpfer erleiden, dem es angeblich nur um den Rechtsstaat gehe.
Das Prozedere war zwar das Gleiche wie seinerzeit beim NTW: Wirtschaftliche Gründe mussten herhalten, um einen Gerichtsbeschluss gegen den Sender zu erwirken. Wie sich vor einem halben Jahr der halbstaatliche Gas-Gigant GAZPROM fand, um dieses Interesse an NTW zu exekutieren, so fand sich dieses mal die mit dem Kreml politisch auf Du stehende LUKOIL. Wie sich Wladimir Putin seinerzeit für die Unabhängigkeit von NTW aussprach, ja, dessen ausgezeichnete Arbeit lobte, so lobte er auch jetzt die Mannschaft von TW-6 – nur leider, so Wladimir Putin, könne er den Gerichten nicht in den Arm fallen.
Hatte dieses Manöver im Falle von NTW noch die Tatsachen für sich, dass NTW-Eigentümer Wladimir Gussinski effektiv die von GAZPROM geforderten Kredite nicht zurück zahlen konnte, so trifft die Begründung von LUKOIL, TW-6 häufe nur Schulden an, und müsse daher geschlossen werden, einen Sender, der unter der neuen Leitung der ehemaligen NTW-Redaktion eben gerade erkennbar in Gewinnzonen steuerte: TW-6, bis dahin ein Jugendsender, wurde seit dem Einstieg der NTW-Mannschaft konsequent umgestaltet. Seit September lag der Schwerpunkt auf Nachrichten, analytischen Sendungen, Talk zu gesellschaftlichen Fragen und aktuelleren Fernsehfilmen. Damit konnte TW-6 seinen Marktanteil seit Mai 2001 verdoppeln.
Mit einer russischen Variante von „Big Brother“ kam der Sender jetzt sogar auf einen Marktanteil von 30%. Hauptanteilseigner Wladimir Beresowki konnte sich bereits Hoffnungen hingeben, den Sender zu einer eigenen Einnahmequelle zu machen, statt ihn wie bisher alle seine Medien-Unternehmen finanzieren zu müssen. Der Erfolgsrausch um TW-6 geht soweit, dass die Betreiber des aktuell laufenden „Big Brother“- Projektes trotz der Schließung des Senders entschieden weiterzumachen, bis TW-6, so ihre Hoffnung, bei den für den 27. März dieses Jahres anstehenden Neuausschreibungen der Sende-Lizenz als Zusammenschluss der Journalisten unter dem Namen „OOO-TW.6“ wieder auferstehe.
Der Vorgang ist ernst: Erstmalig kann sich die Staatsmacht nicht mehr hinter wirtschaftlichen Fragen, nicht mehr hinter einer öffentlichkeitswirksamen Bestrafung von kriminellen Gewinnern der Privatisierung wie noch im Falle NTW, hinter dem notwenigen Kampf gegen Korruption und dergl. verstecken; die Schließung des soeben prosperierenden TW-6 ist eindeutig ein politisch motivierter Akt, der dessen wirtschaftlichen Erfolg sogar aus politischen Motiven untergräbt, und wird entsprechend wahrgenommen.
Hinter dem Lächeln Wladimir Putins wird die Offensive, hinter der von ihm angekündigten „Diktatur der Gesetze“ werden die Gesetze der Diktatur erkennbar. Es ist keine klassische Diktatur, nicht einmal offene Zensur. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob Begriffe wie „Diktatur“ oder „Faschismus“, die jetzt von einigen russischen, mit Vorliebe aber in ausländischen Blättern vorgebracht werden, die Realität des heutigen Russland treffen.
Schon von Pressefreiheit zu sprechen, wenn es um Russland gehe, so Alexei Simonow vom Moskauer „Fond zum Schutz von Glasnost“, müsse man als Irreführung bezeichnen. Solange TV-Sender, Rundfunk oder Presse in Russland sich nicht durch eigene Arbeit finanzierten, sondern von Sponsoren, seien es Firmen, sei es der Staat, unterhalten würden, könne nur von Pluralismus abhängiger Redaktionen die Rede sein. Nicht „Einschränkung von Pressefreiheit“, so Alexej Simonow, sondern „käuflicher Journalismus“, der zu privaten Zwecken missbraucht werde, sei daher Russlands Problem. „Verteidigung von Pressefreiheit“, so Simonow, das heiße in Russland heute in erster Linie Erhöhung journalistischer Professionalität bis zur Schaffung wirtschaftlicher Selbstständigkeit der Sender, Verlage und Redaktionen.
Diese Einschätzung formulierte Russlands bekanntester Glasnost-Schützer am Ende der Ära Jelzin. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, worin das Wesen der Putinschen Pressepolitik liegt: Sie zielt nicht darauf, eine freie Presse abhängig zu machen, sondern darauf, das Gewicht der vorhandenen Abhängigkeiten zugunsten der zentralen Staatsmacht neu zu verteilen.
Wesentliche Elemente dieser Neuverteilung der Anhängigkeiten waren seit Mitte 1999:
· Schaffung eines Konsenses des „starken Staates für ein starkes Russland“ durch den Beginn des 2. Krieges gegen Tschetschenien.
· Einrichtung einer Informations-Leitzentrale nach NATO/Kosovo-Vorbild zum Tschetschenien-Krieg, einschließlich einer speziellen PR-Abteilung unter Michail Jastreschembskij im Präsidialamt.
· Verabschiedung neuer Informationsleitlinien in der neuen Militär- und Sicherheitsdoktrin, sowie weiterer nachgeordneter Leitsätze wie der „patriotischen Bildungsreform“ und anderen, denen zufolge Veröffentlichungen, die dem Interesse des Landes zuwiderlaufen, mit Strafe bedroht werden.
· Einsatz von Justiz-, Steuer- und Lizenzbehörden, um wirtschaftlichen Druck auf Sender, Verlage und Redaktionen zu machen – bis hin zu den Fällen NTW und TW-6
· Exemplarische Einschüchterung am Beispiel Andrej Babizkis und anderer; maskierte Durchsuchungen von Redaktionen, berufsschädigende Anklagen gegen Redakteure.

Ganz zu schweigen ist dabei von der Tatsache, dass allein im Jahre 2001 vierunddreißig russische Journalisten in Ausübung ihres Berufes ihr Leben ließen.
Gleichzeitig sucht Wladimir Putin das direkte Gespräch: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit, im Januar 2001, lud er zweiunddreißig hochrangige Vertreter von Presse, Fernsehen und Funk ein und erklärte ihnen, dass die Freiheit der Presse eines der wichtigsten Ziele der letzten zehn Jahre gewesen sei und auch zukünftig bleibe. Er kritisiert einzelne polizeiliche Übergriffe und verspricht, dass die Rechte der Presse nicht eingeschränkt werden sollen. Hohe Priorität räumt er der „Schaffung eines einheitlichen Informationsraumes“ ein, weil nur damit die Integrität des Landes gewährleistet werden könne.
Wladimir Putin gibt Interviews für CNN, ist im TV präsent, er stellt sich einer Internet-Konferenz, in der er Fragen aus der Bevölkerung beantwortet; sein Präsidialamt unterhält über Leute wie Gleb Pawlowski und dessen „Fond für effektive Politik“ eine Vielzahl von Internetseiten mit Informationen, Diskussionen und Hintergrundanalysen zur Regierungspolitik – Pluralismus, allerdings alles aus einem Hause.
Ergebnis all dessen ist keine Diktatur, auch nicht nach der Übernahme von NTW, der Schließung der zur Wladimir Gussinkis Media-Most gehörenden Presseorgane „Sewodnja“ und „Itogi“, Ergebnis ist eine weitgehende Selbstzensur der russischen Journalisten auf Basis eines Konsens, bei dem die „russischen Interessen“, kurz, die von Wladimir Putin betriebene autoritäre Modernisierung, im Mittelpunkt stehen.
Auch ist TW-6 beileibe nicht die letzte oppositionelle Stimme in Russland, wie es in westlichen Blättern jetzt anklingt, es ist nur der letzte privat finanzierte Sender im TV-Bereich und der letzte mit privaten Wachstumschancen. Im Hörfunk gibt es noch das „Radio Moskau“ und mit ihm eine ganze Reihe kleinerer regionaler und lokaler unabhängiger Rundfunkanstalten. Außerdem gibt es eine Reihe unabhängigrer, das heißt privat finanzierter Zeitungen, auch wenn die nur eine beschränkte Leserschaft haben.
Das wichtigste Ergebnis der Putinschen Pressepolitik der letzten zwei Jahre aber, der Konsens zur Selbstzensur,
wird mit der Schließung von TW-6 erstmals offen durchbrochen. Das wird Folgen haben. Zwar blieben öffentliche Proteste wie noch im Vorjahr im Fall NTW, als mindestens 10.000 Menschen in Moskau und viele auch in kleineren Orten auf die Straße gingen, weitgehend aus. Die haben allerdings selbst die NTW-Macher kaum interessiert. Wichtiger ist, dass aus dem Apparat selbst jetzt Kritiken laut werden, ebenso aus dem Ausland. Diese Kritiken treffen sich mit Kritiken an der Kriegsführung in Tschetschenien, die das Lagezentrum Jastreschembskis soeben öffentlich eingestehen musste. Folgerichtig versprach Informationsminister Michail Lesin, dass sich TW-6 an der Ausschreibung im März beteiligen dürfe. Das Spiel ist also noch offen, genauer gesagt, wieder eröffnet. Ob dabei Pressefreiheit im westlichen Sinne herauskommt, darf bezweifelt werden: Immerhin müssen die Antragsteller für die Erlangung einer neuen Lizenz 1,13 Millionen Euro und ein überzeugendes Sendekonzept hinlegen. Wie sie das machen wollen, ohne sich erneut in die Abhängigkeit von einem Sponsor a la Wladimir Gussinki, Boris Beresowski oder auch eines ausländischen Gönners zu begeben, ist kaum zu erkennen.

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Tschetschenien – nur noch Banditen?

Seit Anfang Januar gibt es in Tschetschenien, so der russische Generalstabschef Kwaschnin keine Rebelleneinheiten mehr, sondern nur noch versprengte Banditen.
Diese Meldung geht gleich doppelt an den Tatsachen vorbei: Erstens erließ der Innenminister Ruschailo gleich zu Beginn des Krieges im August 1999 den internen Befehl 541: Den Tschetschenen seien harte Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen, ihre polizeiliche Anmeldung einzuschränken oder zu verhindern, ihre Wohnungen und Firmen zu kontrollieren, ihnen keine Reisepässe auszustellen und sie selbst festzunehmen und auf die Reviere des Innenministeriums einzuliefern. Dieser Befehl ist bis heute in Kraft und er bedeutet nichts anderes, als das der Krieg nicht gegen Banditen, sondern gegen die Bevölkerung geführt wird. Er trifft vor allem die Flüchtlinge, die sich in der tschetschenischen Diaspora in anderen Teilen Russlands ansiedeln wollen.
Zum Zweiten ist die markige Siegesmeldung Anatloij Kwaschnins die Neuauflage einer Meldung vom Anfang letzten Jahres, die auch dadurch nicht glaubhafter wird, daß er sie wiederholt: Tatsächlich verging seit dieser Meldung, in deren Folge die Kriegführung von der Armee auf den Inlands-Geheimdienst FSB überging, nicht eine Woche ohne Zwischenfälle – Überfälle, Anschläge, nächtliche Schießereien, Angriffe von Guerillaeinheiten in Stärken von zwei-, dreihundert Mann mit vielen Toten auf beiden Seiten – und als Antwort immer wieder „Strafaktionen“ von russischer Seite, ohne dass das russische Militär tatsächlich Herr der Lage geworden wäre.
Im Oktober 2001 führte Achmad Kadyrow, der Vorsitzende der von Russland gestützten Regierung, eine „Restrukturierung“ seines Verwaltungsapparates mit der Begründung durch, seine Verwaltung sei mit dem „Banditentum“ nicht fertig geworden. Das war nicht anderes als das Eingeständnis, dass es nicht gelungen war, „Banditen“ von der Bevölkerung zu trennen.
Anfang September 2002 musste die Informationsabteilung des russischen Präsidenten bekannt geben, dass in diesem Nicht-Krieg seit August 1999 bis zu dem Zeitpunkt der Bekanntgabe im September 3.483 Angehörige der russischen Streitkräfte gefallen seien und 1.661 verwundet wurden. Die Zahl der getöteten tschetschenischen Kämpfer wird mit 11.000 beziffert. Die Zahlen der eigenen Opfer sind dabei stark nach unten korrigiert. Die später an ihren Verwundungen Verstorbenen z. B. sind nicht unter den Todesopfern nicht mit aufgeführt. Über die zivilen Opfer gibt es überhaupt keine Angaben.
In richtiger Einschätzung ihrer Schwäche streckte die russische Führung daher im Spätsommer des Jahres 2001 Fühler für geheime Verhandlungen aus. Der 11. September 2001 nahm dieser Annäherung offenbar die Notwendigkeit. Ein Treffen zwischen Viktor Kasanzew, dem Bevollmächtigten des Präsidenten für Südrussland, und Achmed Sakajew, einem Vertreter des tschetschenischen Präsidenten Mschadow, fand zwar im Oktober 2001 noch statt, blieb aber ohne Ergebnis einer Entspannung.
Stattdessen hat sich die Spirale von Widerstand und „Strafaktionen“ im Schatten der Anti-Terror-Kampagne der USA seither zu erneuter Höhe hochgedreht: Nachdem am 16.09.2001, unmittelbar nach Wladimir Putins Beitritt zur „Allianz des Terrors“, Gruppen tschetschenischer Guerillakämpfer in Stärke von mehreren hundert Mann überraschend die Städte Gudermes, Argun und Noshaj-Jurt, angeblich schon lange „befriedetes“ Gebiet, angegriffen hatten, wurden bei darauf folgenden „Strafaktionen“ 400 Personen festgenommen.
Nur einen Tag später, am 17.09.2001, wurde ein Militär-Hubschrauber bei der Landung auf dem Flugblatz von Chankala bei Grosny abgeschossen. Die Insassen, drei Besatzungsmitglieder und zehn Passagiere, darunter Generalmajor Anatolij Posnjakow, der stellvertretende Leiter der Operativen Hauptverwaltung des Generalstabs, wurden getötet.
Seitdem reißem die „Säuberungen“ nicht mehr ab. In ihrem Verlauf wurden nach offiziellen russischen Angaben im Dezember letzten Jahres dreiundsiebzig, im Januar dieses Jahres noch einmal fünfundzwanzig „tschetschenische Kämpfer“ getötet und jeweils ca. zwanzig verhaftet.
Die tatsächliche Zahl der Opfer liegt Angaben von Beobachtern der Organisation zur Verteidigung der Menschrechte, „Memorial“, zufolge weit höher: Allein im Dorf Zozin-Jurt in der Nähe Arguns soll es über hundert Todesopfer gegeben haben. Die Berichte machen zudem deutlich, welche Art von „Kämpfern“ die Opfer waren:“ Der 37-j ährigen Mussa Ismailow etwa war der Mulla von Zozin-Jurt. Seine Ehefrau Malika war Augenzeugin, wie die Soldaten ihren Mann fortschleppten. Später durfte sie dessen Leiche abholen, dies aber erst nachdem sie 1000 Rubel, umgerechnet 33 Dollar bezahlt und ein Papier unterschrieben hatte, in dem sie bestätigte, dass der tote Mussa Ismailow ein tschetschenischer „Bojewik“, also Kämpfer gewesen sei.
Die Zeugin „Memorials“ berichtete weiter von Jungen Männern, denen die Geschlechtsorgane abgeschnitten wurden; einem 72-jährigen wurde mit dem Messer `Prosit Neujahr´ in die Haut geritzt.“ Vielfach ließen die betrunkenen Soldaten sich dafür bezahlen, dieses oder jenes Haus nicht zu `säubern´. Für 5000 bis 7000 Rubel seien sie bereit, auf die Durchsuchung zu verzichten.
Laut „Memorial“ haben die russischen Einheiten nicht nur eine Lizenz zum straflosen Töten, sondern auch zum Plündern: Einem Schreiner in Zozin Yurt stahlen die „Säuberer“ Schleif- und Bohrmaschinen und beschlagnahmten seine PKWs. Er fand sie ausgebrannt am Rande des Dorfes wieder. In einem anderen Haus ließen die Soldaten 3000 Rubel mitgehen. Eine beinlose Invalidin wurde aus dem Rollstuhl gestoßen und ihre Ersparnisse von 10.000 Rubeln geraubt. Einige Frauen wurden offenbar vergewaltigt, rund achtzig festgenommene Männer in einem „Filtrationspunkt am Dorfrand geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert.
Aus anderen Orten Rund um Argun werden ähnliche Gräueltaten berichtet.
Angesichts dieser Vorgänge haben sich jetzt selbst Achmad Kadyrow, Moskaus Staathalter in Grosny, sowie der Chef der vom Kreml gestützten Regierung, Stanislw Iljawos von Moskau distanziert. Kadyrow beklagte Übergriffe in den Dörfern Sernowodsk und Assinowski, wo bei den „Säuberungen“ Schulen und Krankenhäuser vollständig ausgeraubt worden seien, während „nicht ein einziger Terrorist aufgegriffen oder Waffen gefunden“ worden seien. Die angebliche antiterroristische Aktion, so Kadyrow, richtige sich eindeutig „gegen die friedliche Bevölkerung und nicht gegen Banditen“.
Selbst der amtierende Befehlshaber der russischen Streitkräfte in Tschetschenien, General Wladimir Moltenskoj, hielt es für nötig, sich für die „schweren Verbrechen an der Zivilbevölkerung und die Gesetzesbrüche“ zu entschuldigen, nachdem er Meldungen darüber zunächst als „phantastische Erfindungen“ abgetan hatte, ebenso Präsidentensprecher Jastremschkij, der zunächst von einer „erfolgreichen Operation“ geschwärmt hatte, inzwischen aber „Verfehlungen“ einräumt. Er gab die Unterlagen über das Wüten der Soldateska inoffiziell sogar an den Beauftragten für Menschenrechte, Wladimir Kalamow, weiter.
Der hat allerdings keinerlei Eingriffssmöglichkeiten, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft: Von 302 Strafverfahren gegen russische Soldaten in Tschetschenien, so Oleg Orlow, der Chef von „Memorial“ sind 212 wegen „Mangel an Beweisen“ im Sande verlaufen. Das wird sich solange nicht ändern, wie Russlands Präsident Wladimir Putin das Vorgehen der Soldateska im Einverständnis mit seinen westlichen Allianzpartnern deckt.

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Putins humanitäre Hilfe

Will man den Worten trauen, die der Welt zur Zeit von Politikern mitgeteilt werden, so schickt sich Russlands Präsident Wladimir Putin soeben an, Amerika humanitäre Hilfe bei der Bewältigung ihrer aktuellen Krise leisten zu wollen. Was für ein Salto!
Eben noch waren es die US-Amerikaner, die Russland aus humanitären Gründen mit Krediten und den Segnungen des „american way of life“ versorgten; eben noch war es die NATO, die aus denselben Gründen erst Serbien bombardierte und dann den Balkan besetzte. Jetzt schickt Russland sich an, seine westlichen Lehrmeister in Sachen „humanitärer Hilfe“ weit zu überholen.
Sprechen wir nicht davon, wie schnell Wladimir Putin die Sprache jener Welt gelernt hat, die der deutsche Bundeskanzler die zivilisierte nennt. Wladimir Putin sagt „humanitär“ und meint sein eigenes Eintreten dafür, dass die GUS-Länder Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan amerikanischen Kampfflugzeugen Überflugrechte für deren geplante Einsätze in Afghanistan einräumen.
Er sagt humanitär und meint die Lieferung von Waffen und Kriegsgerät von Seiten Russlands an die afghanische Nordallianz, die damit in den Krieg gegen die Taliban ziehen.
Er sagt humanitär und meint die neuerliche Ausweitung des russischen Einflusses im zentralasiatischen Raum.
Dies alles ist auffallend genug. Zu sprechen ist aber vor allem von der Wende im Verhältnis zwischen den USA und Russland, die sich hinter diesen Worten verbirgt: Die Formulierung von der „humanitären Hilfe“, die man den Amerikanern zu leisten bereit sei, beinhaltet ja nicht nur Informationshilfe, nicht nur Öffnung des zentralasiatischen Luftraumes seitens der GUS, nicht nur verstärkte Waffenlieferung an die Nordallianz und nicht nur stärkere Präsenz Russlands im zentralasiatischen Raum – sie bedeutet auch, dass mehr als eben diese „humanitäre Hilfe“ von Russland nicht zu erwarten ist.
Man erinnere sich, dass Außenminister Iwanow noch vor wenigen Tagen erklärte, dass Russland unter keinen Umständen direkten militärischen Beistand für die USA leisten werde. Ranghohe russische Militärs stellen sich entschieden gegen militärische Verwicklungen Russlands in Afghanistan. Sie haben die Lektion der gescheiterten sowjetischen Besetzung nicht vergessen.
Wladimir Putin selbst erklärte in einem Atemzug mit dem Angebot „humanitärer Hilfe“, dass es keine direkte militärische Unterstützung eines amerikanischen Krieges geben werde. Sein Versprechen auf „humanitäre Hilfe“ an Amerika heißt, so verstanden, letztlich nicht mehr und nicht weniger, als dass Russland die USA nicht stören wird, einen Krieg zu führen, der sie nur schwächen kann. Mehr noch, sollten die USA, verleitet durch Wladimir Putins Zugeständnisse und die breite „Allianz gegen den Terror“, derer sie sich zur Zeit erfreuen, tatsächlich die Dummheit besitzen, in Afghanistan einzumarschieren, kann Russland aus dieser Situation nur gestärkt hervorgehen: Es hat die Chance, den Makel des Aggressors und der Destabilisierung in Zentralasien an die USA zu übergeben, während es selbst als stabilisierende Macht in dem Gebiet auftreten kann. Darüber hinaus kann es von den USA für seine Hilfe noch Gegenleistungen erwarten. Im Gespräch sind bereits ein möglicher Schuldenerlass, ein Verzicht der USA auf Kritik am tschetschenischen Krieg, eine Rückverlegung der Linie der NATO-Osterweiterung uam. Die Tage der Alleinherrschaft der „einzig verbliebenen Supermacht“ jedenfalls sind gezählt. Das ist die Botschaft, die Wladimir Putin soeben auch dem Deutschen Bundestag überbrachte.

Kai Ehlers

Aus gegebenem Anlass: Alternativen entwickeln

Die Ereignisse seit dem 11.9.2001 geben nicht nur der Weltpolik neue Impulse, sie verlangen von jedem Einzelnen neue Entscheidungen. Es reicht nicht für oder gegen Terror zu sein, für oder gegen militärische Reaktionen der USA und ihrer Verbündeten: Über berechtigtes Mitleidens für die Opfer des Terrors, wie auch des jetzt einsetzenden Gegenterrors hinaus, stellt sich die Frage nach Alternativen. Die können nur in der Herausbildung einer neuen Weltordnung liegen, die aus einer gerechteren, auch effektiveren, Sozialordnung, Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensweise hervorgeht.
Voraussetzungen für eine solche Entwicklung haben sich längst herausgebildet. Sie sind das Ergebnis zweier Weltkriege und wuchsen heran, während die Welt in zwei Systempole geteilt war. Nach dem Ende des kalten Krieges treten sie nun klar hervor: Sie zielen auf eine multipolare Weltordnung unterschiedlicher Kulturen, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme. Die unipolare Ordnung, in der die USA nach dem Ende der Sowjetunion und ihres sozialen Modells als „einzig übriggebliebene Supermacht“ das gesamte Geschehen auf dem Globus mit ihrem Verständnis von Globalisierung bestimmten, war nur eine Übergangserscheinung,
Von einem Motor des industriellen Fortschritts durch Entwicklung des Weltmarktes, heute Globalisierung genannt, ist die USA dabei, sich zu einer Bremse zu wandeln, die zudem zunehmend mit Gewalt betätigt wird und entsprechende Gegengewalt hervorruft. Das ist der Kern des Konflikts, der sich in den Anschlägen vom 11.9.2001, ebenso wie in der militärischen Antwort der USA und ihrer westlichen Verbündeten auf diesen Terror Luft gemacht hat und weiter machen wird, wenn nicht eine andere Politik eingeschlagen wird, die den herangereiften Verhältnissen zum Durchbruch verhilft.
Alternativen zu entwickeln bedeutet daher, die Aufmerksamkeit auf diesen globalen Wachstumsprozess zu lenken, der im Wesen ein Prozess der Entkolonialisierung und der weltweiten Emanzipation bisher unterentwickelter und unterdrückter Nationen und Völker und ihrer Lebens- und Wirtschaftsweisen ist. Es bedeutet sich zu bemühen, die Ansätze neuer sozialer und politischer Strukturen herauszuarbeiten, welche Alleingültigkeit des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells in Frage stellen, sie praktisch zu fördern und den theoretischen Dialog mit ihnen aufzunehmen.
Eine solche öffentliche Debatte muss notwendigerweise, man kann auch sagen, sie kann glücklicherweise, an den soeben gemachten Erfahrungen der nachsowjetischen Entwicklung ansetzen, in deren Verlauf der westlich geprägte Kapitalismus sich immerhin anschickte, das sowjet-sozialistische Modell auf Dauer und für alle Zeiten abzulösen, dies aber – wie inzwischen offensichtlich – nicht kann.
Am deutlichsten zeigt sich das heute natürlich im Stammland des sozialistischen Modells selbst, in Russland also, sowie in den Ländern der GUS und jenen in Ländern, die im zurückliegenden Jahrhundert unter sowjetischem Einfluss standen.
In Russland entstehen heute, nach zehn (bis 15) Jahren einer forcierten Privatisierung Wirtschafts- und Lebensformen, die nicht mehr sowjet-sozialistisch, aber auch nicht liberal kapitalistisch sind. Vielmehr bilden sich die unterschiedlichsten Mischformen von industrieller Produktionsweise und kollektiver bis familiärer Selbstversorgungsstrukturen heraus, die sich gegenseitig stützen und durchdringen. Die so entstehenden Lebensformen sind in vielen Fällen durch die Not, vom nackten Überlebensinteresse diktiert, sind eine Antwort auf die Krise. Das ist klar. Darüber hinaus sind sie jedoch, in der Art und Weise wie sie entstehen, auch Ausdruck einer historisch gewachsenen und kulturell bedingten Lebensweise. Die Kombination von beidem lässt soziale Strukturen entstehen, die über die Krise und über den westlichen Modellkapitalismus hinaus Bestand haben werden.
Ähnliche Erscheinungen sind in der GUS oder in Ländern der ehemaligen Einflusszone der Sowjetunion zu beobachten, darüber hinaus auch in Ländern der früher so genannten Dritten Welt und – was noch bemerkenswerter ist – selbst in der Metropole des westlichen Kapitalismus, den USA. In deren Städten entstehen vielfältige Mischformen zwischen Staatskapitalismus und kommunitärer Selbstversorgung. Die Vielfalt und die Zunahme dieser Erscheinungen im Zuge der voranschreitenden Globalisierung lässt erkennen, dass es sich hierbei um eine breite, vielgestaltige tatsächliche Entwicklung handelt, nicht um ausgedachte Utopien oder Fantasien.

Kai Ehlers

Sind wir alle Terroristen? Alternativen entwickeln

„Wer nicht für Amerika ist, ist für den Terror“ – das ist die zentrale Botschaft, die George W. Bushs in seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress am 20. September der Welt mitteilte.
Im Übrigen bekräftigte er die Anschuldigungen gegen Usama Bin Laden. Beweise legte der Redner nicht vor. Wie auch? Ohne Gerichtsverhandlung wird es keine Beweise geben. Und von Gerichtsverhandlung ist gegenwärtig keine Rede. Stattdessen bekräftigte George W. Bush, dass Amerika sich auf einen langen Krieg einzustellen habe.
Er werde sich von bisherigen Einsätzen der USA unterscheiden, deren Ziele, klar gewesen seien, die kurz gewesen seien, bei denen keine Bodentruppen eingesetzt und der Tod von amerikanischen Soldaten nicht riskiert worden sei. George W. Bush nennt den Irak, er nennt den Einsatz auf dem Kosovo dafür als Beispiel – Vietnam nennt er nicht.
Von den Taliban wird die Auslieferung Usama bin Ladens gefordert. Das ist – gemessen an den Äußerungen der US-Regierung in den letzten Tagen und der Weigerung der Taliban, der Aufforderung nachzukommen – praktisch eine Kriegserklärung an die Taliban – ohne dass bisher ein klares Ultimatum ausgesprochen worden wäre.
Im Vorgehen der US-Regierung wiederholt sich hier ein Zug, der schon die Terror-Attacke ausgezeichnet hatte, nämlich die Anonymität eines Krieges, in dem die Bevölkerung nur noch manipuliertes Opfer geheimer oder geheimdienstlicher Aktionen und Manipulationen ist. Der durch die Medien inszenierte Krieg, der sich schon im Irak zeigte, der sich dann im Kosovo wie auch jetzt in Tschetschenien zur vollen Stärke entfaltete, erreicht jetzt noch eine neue Stufe, nämlich die aktive, vorwegnehmende Einstimmung der Welt-Bevölkerung auf einen unerklärten Krieg, das heißt die Organisation einer ideologischen Blankovollmacht seitens der Bevölkerung für einen Geheimdienstkrieg, wie George W. Bush ankündigt, von mindestens zehn Jahren Dauer. Das ist kein Journalismus mehr – das sind die Anfänge des Orwellschen Wahrheitsministeriums im globalen Maßstabe
„Wer nicht für Amerika ist, ist für den Terror!“ Auf diesen Satz könnte man in derselben Grobschlächtigkeit antworten: Wer gegen den Terror ist, muss gegen Amerika sein: Amerika hat sich über Jahrzehnte und dies in eskalierender Weise den Zorn, den Hass und schließlich den todesverachtenden Vernichtungswillen der Menschen zugezogen, die unter seinem Anspruch auf Weltherrschaft in auswegloses Elend gebracht wurden und weiter werden. Die Stationen dieser Entwicklung heißen: Hiroshima, Nagasaki, Vietnam, Panama. Chile, Irak, Kosovo und andere mehr, weniger bekannte mehr. Dazu kommt der Druck, den die USA auf Russland, China und den Rest der sog. 3. Welt ausüben. Die Globalisierung des Kapitals unter amerikanischer Führung hat die Globalisierung des Terrors folgerichtig hervorgebracht und wird sie weiter hervorbringen, wenn Amerika und die mit ihm wirtschaftlich und politisch verbündeten Industriemächte ihre Politik nicht ändern . Wer gegen den Terror ist, der muss auch gegen die Verhältnisse sein, die diesen Terror hervorgebracht haben und hervorbringen. Das beinhaltet auch für Amerika zu sein, aber für ein Amerika, das sich in die multipolare Völkergemeinschaft eingliedert, die sich als Ergebnis einer über zwei Weltkriege herangewachsenen Entkolonialisierung abzeichnet.
Unterscheidungen in Freunde Amerikas und Sympathisanten des Terrors sind – allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz – nur dazu geeignet, eine Polarisierung zu schaffen, welche die Systemkonfrontation des 20. Jahrhunderts nunmehr durch eine Konfrontation der Kulturen ersetzt, die letztlich auf einen Krieg zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung hinausläuft.
Wenn es in diesem Konflikt nicht zu weiteren unabsehbaren Eskalationen auf beiden Seiten kommen soll, dann reicht es heute nicht, die Terroristen strafrechtlich oder militärisch zu bekämpfen, das ist nötig, denn für Terror, Krieg und Mord kann es keine klammheimliche Freude geben, Es reichen auch keine präventiven Eindämmungs- oder Konfliktstrategien, weder innenpolitisch, noch global, solange sie die Ursachen nicht beseitigen, die den Hass hervorbringen. Es müssen effektive soziale und politische Alternativen zur gegenwärtigen Form der Globalisierung, sprich Ausbreitung der Herrschaft einer globalen Minderheit unter der Führung einer Weltmacht, der USA, entwickelt werden. Diese Alternativen fließen in der Anerkennung der multipolaren Weltordnung zusammen, die sich herausgebildet hat. Sie basiert auf kultureller und sozialer Symbiose, das heißt einer Wirtschafts- und Lebensweise, die den Austausches im Interesse gegenseitigen Nutzens zwischen verschiedenen kulturell gewachsenen Formen des Wirtschaftens und Lebens, zwischen industriellen und ökologischen, zwischen kollektiven und individuellen zur Grundlage einer für alle gleichermaßen überlebenswichtigen ökologischen Stabilität macht.

Kai Ehlers

Amerikanischer Krieg oder multipolare Weltordnung?

Amerikas Präsident erklärte den Krieg. Es soll ein langer Krieg gegen den Terrorismus und seine Helfer werden, um weitere Anschläge wie die auf das World Trade Center und das Pentagon vom 11.9.2001 ein für allemal zu verhindern. Es gehe nicht darum, so der stellvertretende Verteidigungsminister der USA, Paul Wolfowitz, einzelne Personen zu bestrafen, sondern Staaten und Systeme „auszuschalten“, die den Terrorismus unterstützten.
Vierundreißig solcher Staaten hat Amerika ins Visier genommen, allen voran die arabischen Staaten Iran, Irak, Syrien, Libyen, Sudan, Jemen und als Zentrum des „Bösen“ die Taliban, weil sie den Hauptbeschuldigten Osama bin Laden beherbergten. Dazu kommen noch Kuba, Korea und alle, die nicht bereit sind, sich mit der amerikanischen Kriegserklärung zu solidarisieren.
Es verwundert nicht, dass sich die NATO und all jene Staaten, die sich dem Westen zugehörig fühlen oder ihm – wie die Staaten Osteuropas – angehören möchten, auf die Seite Amerikas stellen, zumindest erst einmal verbal. Mit logischer Konsequenz mutiert eine Supermacht, die nach Vorherrschaft strebt, in Reden und Medien innerhalb weniger Tage zur „einzigen verbliebenen Weltmacht“, zum Zentrum und Botschafter der Zivilisation. Wer an anderes erinnert, wird ausgegrenzt.

Nachdenklich aber stimmen die Solidaritätsadressen der russischen und der chinesischen Regierungen: Über Nacht wurden die USA auch in den offiziellen Verlautbarungen aus Moskau und Peking vom Störenfried einer sich herausbildenden multipolaren Ordnung zum strategischen Partner.

Dies alles macht den Eindruck als ob jetzt, gut ein Jahrzehnt nach dem Ende der Sowjetunion, endgültig das amerikanische Zeitalter anbreche. Aber dieses Bild täuscht: In Wirklichkeit signalisieren die Anschläge nicht den endgültigen Sieg der „einzig verbliebenen Weltmacht“, sondern deren einsetzende Entthronung:
Schon seit längerem hat die „Supermacht“ USA sich überhoben und befindet sich auf einem strategischen Rückzug aus ihrer Rolle als selbsternannter Garant der Menschenrechte, bei gleichzeitiger Verschärfung militärischer Konfrontation an globalen Konfliktpunkten. Der neue Präsident George W. Bush ist die Verkörperung dieser Entwicklung: Die Amerikanisierung Russlands erwies sich als kostenspieliger Fehlschlag – Busch kürzte die Kredite.

Die NATO-Erweiterung, einschließlich des NATO-Einsatzes auf dem Balkan droht zu einer Stärkung Europas auf Kosten der USA zu führen – Busch verlangt schnellere Erfolge und stärkeres Engagement von den Europäern. Die strategische Partnerschaft mit China erwies sich als Entwicklungshilfe für einen strategischen Konkurrenten – die Neueinstufung Chinas vom strategischen Partner zum strategischen Konkurrenten war die erste Amtshandlung George W. Bushs. Busch gab die Vermittlerrolle im Naost-Konflikt auf und intensivierte stattdessen den Druck auf die arabischen und andere „Schurkenstaaten“. Zeitgleich zogen die USA sich aus internationalen Verpflichtungen der UNO, der UNESCO und ähnlicher Organisationen zurück. Der Kündigung des Klimavertrages ist nur der krasseste Ausdruck dieser Politik.
Die Zerstörung des WTC-Symbols und der Angriff auf das Pentagon mitten im Herzen der „einzig verbliebenen Supermacht“ lässt diesen lange gewachsenen Tatbestand urplötzlich ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit treten. Wenn die Europäer, noch mehr aber wenn Russen und wenn Chinesen der angeschlagenen Supermacht jetzt Hilfe beim Aufspüren der Terroristen versprechen, so tun sie das – ungeachtet aller diplomatischen Floskelei – allesamt unter einer Bedingung, nämlich dass sie von den USA konsultiert werden.

Aus Sicht der USA ist dies eine Zumutung, der sie sich in den letzten Jahren zunehmend entzogen haben. Jetzt befinden sie sich jedoch in einem Dilemma: Binden sie sich an Konsultationen, dann ist das ein Eingeständnis ihrer Schwäche, das die Positionen ihrer wichtigsten globalen Konkurrenten Europa, Russland, China nachhaltig stärkt, von anderen Mächten in diesem Zusammenhang erst einmal zu schweigen. Binden die USA sich nicht an die Konsultationen, verspielen sie den Kredit, den ihnen eben diese Konkurrenten jetzt noch zu geben bereit sind. Im schlimmeren Falle ziehen sie diese Mächte in einen Krieg, in dem deren Interessen und die der USA nicht nur nicht übereinstimmen, sondern einander entgegengesetzt sind.

China als potentieller Führer des aufstrebenden asiatischen Raumes unterhält praktisch mit allen Staaten, die seit Jahren auf der US-Liste der „Schurkenstaaten“ stehen, wirtschaftliche und politische Beziehungen. Just am Tage des Anschlags berichtete die pakistanische Presse sogar über Verhandlungen zu einem Handelsabkommen zwischen China und den Taliban.
Im zentralasiatischen Raum verfolgt China eine eigene Politik mit den muslimisch geprägten zentralasiatischen Staaten, um sie über Wirtschafts- Zoll-und Sicherheitsverträge an den asiatischen Raum zu binden.

Für Russland gilt Vergleichbares, mehr noch, gerade unter dem Präsidenten Putin hat die Ausrichtung der russischen Politik nach Süden und Osten eine starke Wiederbelebung erfahren: Nicht nur versucht Moskau seinen Einfluß in der GUS wieder geltend zu machen, es unterhält auch mit eben jenen Staaten, die sich auf den „Schurkenliste“ der USA wieder finden, dazu auch in zunehmendem Maße mit China, schon längere Zeit enge politische Verbindungen und agiert neuerdings auch zunehmend wieder als potenter Waffenlieferant. Die in letzter Zeit oft besprochene relative Stabilisierung Russlands ist abgesehen von den ÖL-Dollars, die das Staatsbudget zu einem Drittel füllen, auch ein Ergebnis dieses wieder gewachsenen russischen Rüstungexports.
Noch komplizierter wird es, wenn wir uns dem von den USA angepeilten Konfliktzentrum Afghanistan nähern.

Zwar erklärte Wladimir Putin seine Bereitschaft, die USA bei der Bekämpfung des von Taliban gedeckten Osama bin Laden zu unterstützen. Dies Interesse ist insoweit real, als Moskau die Taliban und Bin Laden beschuldigt, die radikalen tschetschenischen Kämpfer mit Personal und Waffen zu beliefern. Hier aber hören die Gemeinsamkeiten zwischen Moskau und Washington bereits auf, denn erstens sind die materiellen Interessen Russlands und der USA , vor allem Öl, in der kaukasischen und kaspischen Region einander diametral entgegengesetzt und zweitens kann Russland im Unterschied zu den USA keinerlei Interesse an einer Destabilisierung des kaukasischen und zentralasiatischen Raumes haben.
Destabilisierung aber droht, wenn Russland und die USA, die bis 1988 einen blutigen Stellvertreterkrieg auf dem Rücken der Afghanen austrugen, nunmehr in einer gemeinsamen Militäraktion gegen die talibanische Regierung vorgingen. Die Taliban müssten ihren Nachbarn nicht erst den „heiligen Krieg“ für den Fall einer solchen Unterstützung der Amerikaner androhen – eine Eskalation der Konflikte in dem Raum wird auch ohne Zutun der Taliban die Folge einer solchen Aktion. Sie werden aber auf jeden Fall die Früchte der Verzweiflung radikalisierter Menschen ernten.

Was Tschetschenien anbetrifft, so gibt es starke Anzeichen dafür, dass die russische Regierung nach einem Ausweg sucht, der ebenfalls nicht geeignet ist, mit den Amerikanern eine Front zu bilden. Im Gegenteil: Neuerdings kommen politische Konzepte zur Lösung des tschetschenischen Problems in die russische Diskussion, die aus der ideologischen Küche der sich selbst so nennenden neo-eoroasiatischen Bewegung stammen. Deren Wortführer, Alexander Dugin, definiert Russland nicht nur als Macht zwischen Asien und Europa, was ja richtig ist und bei vielen RussinnEn, die nach neuer Identität suchen, heute in den Vordergrund rückt, sondern er definiert Weltpolitik als grundsätzliche Konfrontation zwischen dem territorial-euro-asiatischen und dem maritim-atlantischen Block, kurz gefasst, zwischen Russland als potentiellem Führer des euroasioatischen und den USA als Führungsmacht des atlantischen Blocks.

Neuerdings findet Alexander Dugin, der zu Perestroikazeiten als nationalistischer Extremist galt, nicht nur offene Ohren in Russlands neuen Eliten, er avancierte auch zum Berater und Organisator von politischen Kongressen im Dunstkreis Wladimir Putins. Die von ihm gegründete „Euro-asiatische Bewegung“ ist dabei, sich mit Staatsmitteln im Land zu verbreiten.
Nach Dugins Lesart, so im Mai dieses Jahres auf einem von der Regierung offiziell getragenen Kongreß über Probleme des Islam in Russland diskutiert, sind russische Muslime, insonderheit die tschetschenische Bevölkerung nicht als Gegner zu bekämpfen, sondern als Partner in eine euroasiatische Front gegen Amerika einzubeziehen. Es versteht sich, dass diese Linie, die zunehmend Anhänger im Umfeld Wladimir Putins zu finden scheint, mit einer militärischen Unterstützung amerikanischer Vergeltungsmaßnahmen gegen „die“ Taliban nur schwer zu vereinen wäre.

So wird es auch niemanden verwundern, dass der russische Außenminister Iwanow ebenso wie ranghohe russische Generale eindeutig erklärt haben, eine militärische Unterstützung der USA komme nicht in Frage. Ähnliche Verlautbarungen sind auch aus China zu hören. Aber selbst die von der NATO verpflichteten Europäer, allen voran die Franzosen und die Deutschen, sind nicht bereit, sich von den USA in einen Krieg ziehen zu lassen, der ihnen nicht nützt.

Dies alles bedeutet, dass der amerikanische Krieg, wenn er denn stattfindet, nicht zu einer Stärkung der USA, sondern zu deren weiterer Schwächung führen wird. Am Horizont dieser Schwächung erscheint eine multipolare Weltordnung getragen von China, Russland, Europa, der arabischen Welt und weiteren Machtzentren, in welcher die USA nicht mehr die „einzig verbliebene Weltmacht“. sondern eine Macht unter mehreren sind. Besser wäre es, den Weg dorthin, da er doch unvermeidlich ist, nicht militärisch, sondern politisch zu gehen.

Kai Ehlers