Anmerkungen zur aktuellen Diskussion um die NATO-Reform
und die Perspektiven der „Allianz gegen den Terror“
Die aktuelle Debatte um die engere „Einbindung“ Russlands in die NATO, ebenso wie die von Russland geduldete Militärpräsenz der USA in Zentralasien und neuerdings auch in Georgien lassen den Eindruck entstehen, als sei Russland inzwischen nicht nur zu einem Teil Europas, sondern des Westens überhaupt geworden. Aus der Umgebung des Weißen Hauses in Washington werden neue Schlagworte wie „Duopolarität“ u.ä. in Umlauf gebracht, welche die Vorstellung nahe legen, die USA und Russland könnten die Welt zukünftig unter sich aufteilen, Moskau als Verwalter der Weltressourcen und Washington als Garant der Weltsicherheit. Tatsächlich wird Russland von der NATO aber nicht mehr angeboten als die Verwandlung des seit 1997 bestehenden „19 + eins“-Beratergremiums der NATO in ein „Gremium der 20“. Dieses unterscheidet sich von der vorherigen Organisation des Russland-NATO-Rates im Prinzip nur durch den Namen wie durch die Sitz- und Tagesordnung, welche Russland die Möglichkeit geben soll, anstehende Themen „im offenen Gespräch“ mit zu erörtern, bevor die übrigen neunzehn Mitglieder sich festgelegt haben. Die Einführung der von Wladimir Putin – unter anderem bei seiner als historisch empfundenden Rede vor dem Deutschen Bundestag – geforderten Mitsprache an NATO-Entscheidungen ist mit dieser Reform nicht verbunden. Ein Veto-Recht, erklären NATO-Offizielle, nicht zuletzt deutsche Stellen, wachse Russland damit auf keinen Fall zu.
Die neue Debatte um Reformen der NATO ist aber Anlaß genug, sich die Rolle, welche Russland in den internationalen Beziehungen gegenwärtig einnimmt und in absehbarer Zukunft einnehmen kann, genauer anzuschauen.
Als Kernpunkt der heutigen Entwicklung ist dabei zunächst festzuhalten: Die gegenwärtige globale Krise, die sich in dem von Amerika geführten Krieg gegen den Terrorismus ausdrückt, ist eine Wachstumskrise. Sie markiert das Ende einer Zeit
der Hegemonie der westlich geprägten Zivilisation vor dem Hintergrund eines globalen Entwicklungsdruckes der früheren Kolonien, die heute in den Stand selbstständiger Staaten getreten sind und das Weltgeschehen mitgestalten wollen. Die Bedingungen für einen grundlegenden Wandel der nachkolonialen Verhältnisse sind herangewachsen und drängen nach Verwirklichung, das heißt, auf Beseitigung der nachkolonialen Ordnung, so wie seinerzeit die bürgerlichen Kräfte Frankreichs und davon ausgehend Europas auf eine Beseitigung der Feudalordnung drängten. Die Frage ist, heute nicht viel anders als damals, ob die herrschenden Kräfte diese Umwandlung zulassen oder ob sie versuchen, sie zu verhindern oder mit Gewalt zu unterdrücken.
Die aktuelle Entwicklung der Krise lässt sich bisher in zwei Phasen gliedern.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach die Krise am schwächsten Glied in der Kette der nach westlichem Muster entwickelten Industriestaaten aus. Dazu ist anzumerken: Natürlich war die Sowjetunion niemals, sowenig wie vorher oder nachher Russland, bloß ein Bestandteil Europas, der „europäischen Sicherheitsstruktur“ oder gar ein westliches Land, sowenig wie etwa Japan, obwohl nach westlichem Muster industrialisiert, heute ein westliches Land ist. Eher wäre Europa schon als Teil Russlands zu bezeichnen. Russland liegt zwischen Asien und Europa und definierte sich immer zwischen diesen beiden Polen. Das ist heute – aller Weltraumtechnik zum Trotz – nicht anders als vor tausend Jahren. Die Industrialisierung Russlands, insbesondere die Zwangsindustrialisierung nach der Oktoberrevolution von 19117 vollzog sich aber nach Vorgaben des europäisch-amerikanischen Industrialismus – als nachholende Industrialisierung unter sozialistischen Parolen, Staatskapitalismus sowjetischen Typs. Auch als Kolonialmacht war Russland Bestandteil der europäischen Geschichte, nicht zuletzt der daraus resultierenden Kriege, allerdings unterscheidet sich russischer Kolonialismus in wesentlichen Zügen vom zentraleuropäischen: Moskau kolonisierte territorial und integrativ statt maritim und aggressiv wie Europa und in dessen Fortsetzung Amerika. In Russland verband sich Asien mit Europa zu einem untrennbaren Ganzen, während im europäischen Kolonialraum ebenso wie im amerikanischen die Trennung zwischen Mutterland und Kolonie immer gewahrt blieb.
Was auf russischem Boden so entstand, ist ein Industriegigant nach dem Muster des wissenschaftlich-technischen Weltbild des Westens – auf asiatischem Boden (was Marx seinerzeit die „asiatische Produktionsweise“ nannte). Seit Mitte der siebziger wurde deutlich, daß dieser Gigant die Grenzen seiner Expansionsfähigkeit erreicht hatte – wirtschaftlich und politisch. Die Tonnenwirtschaft und -ideologie der sowjetischen Schnell- und Zwangs-Industrialisierung kam mit Eintreten der Computerrevolution an ihre die Grenzen, wo der Übergang zur qualifizierten intensiven Produktion zwingend wurde; politisch markiert das Desaster von Afghanistan das Ende der russisch-sowjetischen Expansion. Weiter war der ohnehin schon überzentralisierte Ballon nicht aufzublasen. Im Prinzip waren es somit keine speziell „sozialistischen“ Probleme, an denen die Krise ausbrach, es war die Notwendigkeit, von expansiven Entwicklungsmodellen zu intensiven, qualitativen überzugehen. Der sozialistische Überbau hat diese Probleme lediglich zugespitzt. Die sowjetische Nomenklatura, Michail Gorbatschow, erkannte die Unumgänglichkeit dieser Tatsachen und ließ sich auf einen Transformationsprozess ein. Der Slogan von der gewachsenen Bedeutung des „Faktors Mensch“ gehört hierhin. Dezentralisierung, Demokratisierung, Befreiung der persönlichen Initiative sind die Stichworte, an deren Umsetzung das Land seitdem laboriert.
Mehr als fünfzehn Jahre galt angesichts dieser Entwicklung erst die Sowjetunion, in der Folge dann Russland als der „kranke Mann“ des Globus. Der Westen gefiel sich in der Rolle des Arztes, der Rezepte verschreibt: Die neo-liberale Gewaltkur, die Boris Jelzin zusammen mit dem IWF, der Weltbank usw. seinem eigenen Lande, die internationale Konzerne unter Führung der USA nach dem Zusammenbruch des Sowjetischen Weltsystems nun auch den übrigen Völkern in Form der sog. Globalisierung aufdrängten, erwies sich selbst als Krankheit, welche die USA als die Führungsmacht dieses Prozesses in den letzten Jahren zunehmend selbst in die Krise brachte. Der Wahlkampf zwischen George W. Busch und Al Gore stand bereits vollkommen im Schatten dieser Krise. Die Politik, die Busch vor dem 11. 9.2001 betrieb, Zinssenkung, außenpolitischer Protektionismus, Rückzug Amerikas aus internationalen Verpflichtungen, war bereits blankes, wenn auch hilfloses Krisenmanagement. Gleich nach dem 11.9.2001 ist die US-Administration zu einer global angelegten Notstandsbewirtschaftung und Politik übergegangen. Ca. 450 Milliarden für den Verteidigungshaushalt, Zurückfahren der Sozialpolitik und die Schutzzölle für die US-Stahlindustrie sprechen für sich. Einen günstigeren Anlaß für diese Politik als den Anschlag auf das World Trade Center vom 11.9. 2001 hätte niemand erfinden können.
Man beachte aber den Unterschied: Anders als die Sowjets, die auf die wirtschaftliche Krise und die Niederlage in Afghanistan mit der Überführung der expansiven in eine intensive Entwicklung ihrer Gesellschaft antworteten, nutzten die US-Amerikaner die Gelegenheit zu weiterer Expansion: Von der „allein übriggebliebenen Weltmacht“ schritten sie voran zum Anspruch auf die globale Führungsmacht, die ihren Einfluß nunmehr in das einzige von ihr bis dahin noch nicht beherrschte Gebiet, nach Zentralasien, ausdehnt und der gesamten Welt, sofern sie nicht die US-amerikanische Politik unterstützt oder zumindest duldet, den Krieg erklärt. Damit ist die Krise, die am schwächsten Glied losbrach, nunmehr erkennbar auf die ganze heutige, westlich geprägte und beherrschte, Industriegesellschaft übergegangen. Anders als sie es verstehen, haben George W. Busch und seine Verbündeten recht: Es ist die Krise der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die von den Abfallprodukten ihrer eigenen Dynamik, Globalisierung genannt, eingeholt wird.
Es scheint, als ob die USA in dieser Situation die ganze Welt unterwerfen; ihr Aufstieg zum Gipfel der einzigen Weltmacht, welche die übrige Welt unter ihre Bedingungen zwingt, ist jedoch schon die Voraussetzung ihres Abstieges: Die „Allianz gegen den Terror“ ist auf begrenzten Interessen-Identitäten begründet. Sicher, Russland ist interessiert, unter dem Deckmantel der Allianz seinen Einfluss in Zentralasien wieder herzustellen, womöglich gar noch auszuweiten und auch China in die Schranken zu weisen, dessen Bevölkerung sibirisches Gebiet zu überschwemmen beginnt. Aber die Amerikaner holen in Afghanistan die Kohlen aus dem Feuer, das die Russen anschließend mit humanitärer Hilfe, Waffenlieferungen, Angeboten zum Wiederuafbau uä. zu löschen anbieten. Besser könnten die Russen die Wunden, die ihnen Afghanistan seinerzeit geschlagen hat, nicht heilen.
Ähnliches gilt für den Kaukasus und für die GUS-Länder: Eine bedingte Präsenz der Amerikaner im Kampf gegen örtliche „Terroristen“ schafft Russland Manövrierspielraum für zivile und wirtschaftliche Aktivitäten in diesen Gebieten, in denen sie als Kolonisatoren verhasst sind zugleich aber gebraucht werden. Und wenn die Amerikaner sich an den Tschetschenen in Georgien die Finger verbrennen, brauchen es die Russen nicht mehr zu tun. Das ist für Moskau allemal überschaubarer als die bis dahin vom Kreml beklagte klammheimliche Unterstützung kaukasischer Separatisten durch die CIA.
Langfristig allerdings dürfte das Kalkül, dass Russland und die USA sich dem Raum „duopolar“ teilen könnten, auf Sand gebaut sein: Da ist zunächst China, da ist Indien, da ist der Iran, da sind die Interessen der zentralasiatischen GUS-Länder, die sich zwischen den Giganten einen neuen Lebensraum aufbauen wollen. Deutlich drückt sich das in dem Zusammenwachsen der Shanghai-Gruppe, dem regionalen Bündnis zwischen Russland, China, Indien und der Mehrheit der GUS-Stasten, seit Mitte der 90er aus, in dessen Verlauf diese Staaten sich unter aufmerksamen Interesse weiterer Anrainerstaaten und gestützt durch Europa um einen gemeinsamen Aufbau eines zentralasiatischen Wirtschafts- und Lebensraumes bemühen.
Zwar ist China wie Russland daran interessiert, unter dem Mantel der „Allianz“ separatistische Bestrebungen im Westen des chinesischen Staatsgebietes niederzuschlagen. Noch wichtiger als amerikanisches Stillehalten aber ist den Chinesen die Ausweitung ihres Einflusses nach Sibirien und in den zentralasiatischen Raum. In diesem Spiel ist die Niederschlagung der moslemitischen Uiguren nur ein Zug. Wichtiger ist der Bau von Trassen, Bahnen und Pipelines, die den zentralasiatischen Raum und den indischen Subkontinent für China öffnen. Ähnliches gilt für die lange nördliche Grenze mit Russland, über die China in den sibirischen Raum drängt. Hier könnten die USA sich Hoffnung machen, als lachender Dritter Nutzen aus einem Konflikt zwischen China und Russland zu ziehen. Tatsache ist aber, dass Russland und China langfristig eher auf eine Abstimmung ihrer Interessen in Zentralasien und Sibirien als auf Unterstützung der USA angewiesen sind.
Kommt hinzu, daß die USA kaum Interesse zeigen, in die infrastrukturelle und kulturelle Entwicklung des zentralasiatischen Raumes zu investieren. Ihr Interesse liegt in der Ausbeutung der Ressourcen und in der strategischen Besetzung des Raumes durch einen oder mehrere militärische Brückenköpfe. Nicht Entwicklung und kooperative Beziehungen, sondern Beherrschung und wirtschaftliche Ausbeutung des Raumes ist Ziel der US- Expansion. Hier liegt auch der Dissens zwischen den USA und den Europäern begründet, der neuerdings wieder deutlicher hervortritt. Kurz gesagt: Europa hat ein konkretes wirtschaftliches Interesse an der durchgängigen und nachhaltigen Entwicklung des euroasiatischen Zentralraumes als Teil seiner eigenen geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität. Die USA haben dieses Interesse nicht. Sie sind an schnellen Gewinnen, leicht zu beziehenden Ressourcen interessiert. Nur das strategische Interesse, China und Russland in Schach zuhalten, könnte die USA und Europa verbinden. Aber selbst hier verfolgen die Europäer, durch infrastrukturelle Großraumgestaltung mit den Russen und Chinesen verbunden, andere Konzepte als die Amerikaner.
Wären noch Indien, Iran, Pakistan, also, der gesamte indische Subkontinent zu erwähnen, alles Länder, die ihrerseits starkes Interesse an der eigenständigen Entwicklung des zentralasiatischen Raumes zeigen, von der sie sich eigene Entfaltungsmöglichkeiten und ein größeres Gewicht gegenüber den industriellen Zentren des „Westens“ versprechen.
Kurz gesagt, die gegenwärtige „Allianz gegen den Terror“ deckt nur die vordergründigsten und kurzfristigsten gemeinsamen Ziele von ansonsten diametral zueinander stehenden Interessen ab, deren Unterschiede sich in sehr unterschiedlichen strategischen Konzepten niederschlagen. Hier noch einmal in Kürze:
– die Konzeption einer monopolaren Welt unter Führung der USA. In dieser Konzeption, auch wenn jetzt vorübergehend als „Allianz gegen den Terror“ deklariert, dürfte über die Ablehnung des Konzepts der multipolaren Welt hinaus die Stoßrichtung gegen China das stärkste Motiv sein.
– die Restauration einer bipolaren Welt unter Führung der USA als maritime Kolonialmacht auf der einen und Russlands als Führungsmacht des euroasiatischen Kontinents einschließlich Chinas und Europas auf der anderen. Solche Konzeptionen werden zurzeit von russischen Nationalisten entwickelt. Sie liefen, wenn realisiert, auf eine heiße Wiederholung des kalten Krieges hinaus.
– eine „dupolare“ Konstellation, in der sich Russland und die USA gegen die „asiatische Gefahr“, speziell China arbeitsteilig zusammentun. Dabei soll Russland die Versorgung der USA mit Ressourcen, die USA die Weltsicherheit garantieren. Diese Konzeption geht an den Interessen Russlands als euro-asiatische Zentralmacht sowie an denen der gesamten südlichen Halbkugel des Globus vorbei.
– Das Chaos wechselnder bilateraler Beziehungen.
Jenseits all dieser Vorstellungen hat China am Rande der bi-polaren Systemteilung des kalten Krieges, in der es seit der Spaltung der kommunistischen Welt von 1964 weder zum kapitalistischen, noch zum sowjetischen Lager gehörte, die Strategie einer multipolaren Weltordnung entwickelt. Mit Eintreten der Perestroika übernahm Michail Gorbatschow diese Orientierung auch für Russland. 1997 legten Russland und China der UNO ein entsprechendes Papier zur Entwicklung der Weltordnung vor. Die wichtigsten ehemaligen Kolonien, allen voran die des euro-asiatischen Großraumes wie Indien, Iran, Pakistan fordern heute eine solche Ordnung, deren potentielle Träger, außer China und Russland, sie und weitere der neu herangewachsenen Länder der ehemaligen „3. Welt“ selbst sind.
Unter Wladimir Putin hat Russland zwar viele Aspekte des von Michail Gorbatschow seinerzeit propagierten „Neuen Denkens“ im Zuge einer autoritären Restauration relativiert – nicht aber die Ausrichtung der Außenpolitik an den Grundzügen der multipolaren Strategie. Auch wenn es bei den Auftritten Wladimir Putins im Westen heut manchmal so scheint, als ob der russische Präsident ein Deutscher oder Amerikaner werden wolle, so sollte doch niemand übersehen, dass derselbe Wladimir Putin China, Korea, auch Indien, dem Irak und dem Iran mit derselben Geste gegenübertritt: In Deutschland ist Wladimir Putin Bewohner des europäischen, in China des asiatischen Hauses; für Indien, den Iran, Irak usf. ist er der beste Nachbar des euroasiatischen Subkontinents. Das ist kein falsches Spiel Wladimir Putins, das ist Ausdruck der realen Rolle, die Russland in der Welt hat, heute wie immer schon in seiner Geschichte, die sich zwischen Asien und Europa, zwischen Eismehr und indischem Subkontinent, zwischen Ost-Rom, mongolisch-chinesischem Großreich und westlichem Abendland entwickelt hat und als deren Folge der russische Raum auch nach dem Verlust der GUS-Staaten immer noch von mehr als 150 Völkern bewohnt wird. In seiner offenen euro-asiatischen Zentrallage ist Russland heute so etwas wie der natürliche Motor einer multipolaren politischen Orientierung. Es ist das mehr noch als China, das zwar auch ein Vielvölkerstaat ist, der sich aber in der Abgeschiedenheit einer pazifischen Randlage des euroasiatischen Kontinentes entwickelte. Russland dagegen ist offen nach allen Seiten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Position Europas: Kann man Russland als natürlichen Motor einer multipolaren Orientierung des Lebens betrachten, so Europa, das aus einer Vielzahl von Stämmen, Völkern und Nationen in einer langen Geschichte der Kriege nun als multinationale Union heranwächst, als konzeptionelles Modell. Als Träger kooperativer Vielfalt können beide, Russland als natürlicher Motor, Europa als konzeptionelles Modell, noch besser beide gemeinsam, am besten mit China zusammen, Impulsgeber für eine kooperative Neuordnung der Beziehungen zwischen den Völkern werden – wenn sie nicht beide, sei es einzeln oder in der Widerholung unseliger Achsenbildungen, in den Versuch abgleiten, die angeschlagene Hegemonialordnung mit Gewalt gegen die anstehenden Veränderungen, dann auch gegen China, zu halten.
Die Versuchung dazu ist groß, denn die Krise ist nicht nur eine politische, die durch Kabinettskompromisse an grünen Tischen entschieden werden könnte, sondern eine soziale: Der weitgehend verdrängte Klassenkampf kehrt aus den ehemaligen Kolonien in die Metropolen zurück. Es fehlt nur noch der organisierende Impuls. Zur Zeit flackert die Unzufriedenheit mit einer ungerechten globalen Ordnung in hilflosem Terrorismus auf, auf Dauer aber ist sie weder aufzukaufen, noch, wo das nicht gelingt, als bloßer Terrorismus zu denunzieren, schon gar nicht mit Gewalt zu unterdrücken, wie die USA es gegenwärtig versuchen. Sie ist aber auch nicht durch verbale Bekundungen zur „Bekämpfung der Armut in der Welt“ wegzureden, wie man es von europäischer Seite, insonderheit von der deutschen Bundesregierung zurzeit hört – der Kampf gegen die Armut muss als konkrete, langfristig angelegte Entwicklungsförderung auch gegen die kurzatmigen Ziele und technizistische Politik der USA durchgesetzt werden, die daran so gut wie kaum ein Interesse haben.
Die Auseinandersetzung um diese Fragen wird auch unsere eigene Situation hier in Europa transformieren, wird zur Rückkehr sozialer Auseinandersetzung in unseren Alltag führen, zu einer Polarisierung zwischen denen, die die Privilegien gegen den Ansturm aus den ehemaligen Kolonien in einer Festung Europa verteidigen und jenen, die sich als Partner in den weltweiten Kampf gegen Armut, sprich die Entwicklung kooperativer Beziehungen zwischen den Metropolen und den heranwachsenden Völkern einbringen wollen.
Die Welt, die so entsteht, das darf man anfügen, wird nicht mehr die Welt sein, in der die Forderungen aus den Tagen der französischen Revolution nach „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ auf Freiheit ODER Gleichheit verkürzt wurden, in der Freiheit zur Freiheit der Ausbeutung und Gleichheit zu Gleichmacherei verkam. Gleichheit und Freiheit werden in lebendiger Kooperation durch Hilfe zum gegenseitigen Nutzen verbunden werden, die aus der Einsicht kommt, das Überleben und Entwicklung heute nur noch in gegenseitiger Unterstützung möglich ist, oder es wird weder Freiheit noch Gleichheit mehr geben. Der dritte, bisher unterentwickelte Impuls der französischen Revolution, die Brüderlichkeit, erreicht so den Globus – vorausgesetzt, er wir nicht erstickt. Der Förderung dieses Impulses muss daher alles Bemühen gelten. Das ist die Moral einer anderen Globalisierung.
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