Autor: Peter Sengelmann

NATO-Raketen in Ost-Europa – für oder gegen die Europäische Union?

Erstaunliches geschieht auf der Bühne der globalen Politik: Die USA wollen, so erklären sie, die Europäische Union und sich selbst durch das Aufstellen neuer Abfangraketen in Polen und eines dazu gehörigen Radarleitsystems in Tschechien gegen Angriffe aus dem Iran und aus Nord-Korea schützen. Ab 2011 soll die Anlage einsatzbereit sein. Russland fühlt sich bedroht und protestiert; von Ferne grollt China. Die Regierungen Polens und Tschechiens dagegen wollen zustimmen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung beider Länder gegen die Stationierung ist.
Von der Gefahr eines neuen Wettrüstens ist die Rede, von einer drohenden Neuauflage des kalten Krieges, der die Welt gar in heiße Kriege ziehen könnte. Die deutsche Regierung wiegelt ab, Brüssel hält sich bedeckt. Die Reaktion ist verständlich, denn zwar bündeln sich mehrere Konfliktlinien in diesem Antrag der USA auf Stationierung von Raketen im ost-europäischen Raum in gefährlicher Weise, aber eines kann man mit Sicherheit ausschließen, nämlich, dass die Stationierung von NATO-Raketen in Polen und der tschechischen Republik das Ziel haben könnte, die EU vor möglichen Angriffen aus dem Iran oder Korea zu schützen, ganz zu schweigen von den USA. Ein einfacher Blick auf den Globus reicht, um dies zu verstehen, wenn man weiß, dass weder der Iran noch Korea über Raketen verfügen, welche die in Frage kommenden Strecken zu überwinden imstande wären. Das wird auch durch Erklärungen wie des CDU-Militärexperten von Klaeden nicht anders, Iran und Korea blieben ja sicherlich „nicht faul“ und daher müsse man damit rechnen, dass sie bis zur Fertigstellung der Anlagen 2011 zu einem Bau von Fernraketen in der Lage sein könnten. Diese Begründung wendet sich gegen sich selbst, denn so wie sich iranische, koreanische oder sonstige „Schurken“-Technik bis 2011 verändern kann, so kann es selbstverständlich auch eine NATO-eigene Anlage. Was heute technisch nicht möglich ist, kann es morgen sein. Alle Versicherungen Washingtons, die Raketen seien schon rein technisch nicht gegen Russland einsetzbar, sind damit von vornherein Makulatur – und jeder weiß es.
Worum also geht es, wenn es das öffentlich angegebene Ziel des Schutzes für die EU nur vorgetäuscht ist? Da wäre zunächst auf die langfristige Eigendynamik der US-Rüstung zu verweisen. Zwar nahmen die USA nach dem Ende des Kalten Krieges Abstand von der 1983 durch Ronald Reagan begründeten „strategischen Verteidigungsinitiative“ (SDI), im Volksmund Starwar-Programm genannt; in der Folge rüsteten sie jedoch nicht etwa ab, sie rüsteten lediglich um: Das Star-War-Programm wurde Schritt für Schritt in ein land- und seegestütztes System von Raketenbasen überführt, in das seit 1991 im Zuge der NATO-Erweiterung und der Umwidmung der NATO zu einer weltweit agierenden Organisation der „Friedenssicherung“ in zunehmendem Maße auch Länder des ehemaligen Warschauer Paktes, also der GUS wie auch Osteuropas einbezogen wurden. Erste Beschlüsse für dieses Programm wurden 1999 noch unter US-Präsident Clinton als „National Missile Defense Act“ vom US-Senat gefasst, von der Bush-Administration immer wieder, zuletzt 2006 noch einmal aktualisiert. Im Jahr 2015 sollen die weltweiten Stationierungen von Radarleitstationen abgeschlossen sein.
Parallel zu diesen Maßnahmen sagten sich die USA von allen wesentlichen internationalen Rüstungsbeschränkungen los, einschließlich des Atomwaffensperrvertrages.
Seit 1999 gehören Tschechien, Polen und Ungarn, seit 2004 Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Slowenien der NATO an, allerdings ohne Entscheidungsgewalt und ohne Bündnisverpflichtung. Der Ukraine, Moldawien, Georgien wurde die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, jedoch von der „Klärung ihrer Beziehungen zu Russland“ und ihren „strategischen Entscheidungen“ für den Westen abhängig gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist der US-Antrag an Polen und Tschechien, nun bitte Kooperationsbereitschaft zu zeigen, zwar ein neuer, aber kein überraschender Schritt.
In ein neues Stadium der Entwicklung kommen die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den USA: In der strategischen Konzeption der USA, wie sie von Sbigniew Brszezinski, Henry Kissinger und den Neo-konservativen Kräften hinter ihnen ausgearbeitet und von der Bush-Regierung umzusetzen versucht wurde, war Europa die Funktion eines “Brückenkopfes“ für die Beherrschung Euroasiens, insonderheit der Niederhaltung Russlands durch die USA zugedacht. Als zweiter Brückenkopf auf asiatischer Seite gilt Japan.
Der Fall des eisernen Vorhangs, die schrittweise Erweiterung der EU bis an die Grenzen Weißrusslands, Moldawiens und der Ukraine, die Entwicklung der „Strategischen Partnerschaft“ zwischen EU und Russland, die in den Jahren, besonders von Deutschland ausgehend, in eine immer enger werdende Energiepartnerschaft zu münden scheint, die Einführung des Euro, sowie die Entwicklung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft als eigener Block in der veränderten NATO haben das Kräfteverhältnis zwischen den USA und der EU soweit verschoben, daß die EU heute aus der Rolle des „Brückenkopfes“ herauszutreten beginnt. Der Euro tritt inzwischen in ernsthafte Konkurrenz zum Dollar als Öl-Währung; die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ist, obwohl immer noch mit der NATO verwoben, in eigenen, von der NATO unabhängigen Einsätzen aktiv. Aus US-Sicht ist diese Entwicklung eine ernste Bedrohung.
Gleichzeitig hat die EU mit der Erweiterung um die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes historische Konflikte geerbt, die ihre Beziehungen zu Russland belasten. Hier liegt eine potentielle Bruchstelle zwischen „altem“ und „neuem“ Europa, zwischen russlandfreundlicher und russlandfeindlicher, das heißt zwischen US-bezogener oder US-kritischer Politik. Sie wird noch verstärkt durch die politisch instabilen Pufferzonen zwischen Russland und der EU. Das gibt den USA die Möglichkeit, mit ihrem Antrag auf diese Bruchstelle einzuwirken und so auf diesem Umweg über die neuen EU-Länder Polen und Tschechien zu versuchen, die Europäische Union wieder stärker an sich zu ziehen, nachdem die Frontlinie zwischen EU und Russland, einschließlich der NATO seit Bildung des NATO-Russland-Rates zunehmend zu verwischen schien.
Russland hat diesen Charakter der neuesten US-Intervention erkannt, wie aus Wladimir Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung klar hervorgeht. Er weist die geplante Erweiterung der NATO-Stützpunkte nach Polen und in die tschechische Republik als Aggression der USA und nicht etwa der EU zurück, obwohl Russland durchaus genügend Anlaß zu machtpolitischen Allüren der EU hat und diese bei anderen Gelegenheiten durchaus auch vorbringt. Auch die Kritik an der NATO führt Putin wesentlich als Kritik an den USA, nicht der EU. Diese Schwerpunktsetzung seiner Rede demonstriert das fundamentale Interesse Russlands an der strategischen Partnerschaft mit der EU. Dabei geht es Russland entgegen allen anders lautenden Kommentaren nicht um eine Wiederholung historischer „Achsen“, sondern um die Entwicklung einer multilateralen und kooperativen Völkerordnung, die den heutigen Kräfteverhältnissen entspricht. Das erkennbare neue Selbstbewusstsein Russlands erklärt zugleich, wogegen sich die aktuelle Intervention der USA richtet.
Bleibt schließlich noch darauf hinzuweisen, was nur einen Monat vor dem Vorstoß der USA nach Polen und in die tschechische Republik in China geschah: Am 12.1.2007 wurde in Xichang im Südwesten des Landes eine Rakete gestartet, mit welcher der in ca. 860 Kilometer Höhe fliegende Satellit Fengyun.1C des chinesischen Wetterdienstes zerstört wurde. Der Abschuss war ein erfolgreicher Test. China ist damit nach der Einstellung von Versuchen mit „Satellitenkillern“, wie sie im Rahmen des SDI-Programms vorgenommen wurden und vergeblichen US-Ansätzen, solche Vehikel vom Boden aus zu steuern, das erste Land der Welt, das Satelliten vom Boden aus abschießen kann. Die USA fühlen sich herausgefordert. Die militärischen Satelliten der USA bewegen sich auf der gleichen Höhe wie der abgeschossene chinesische Wetter-Satellit. Als US-Präsident Bush 2006 seine neue Weltraumstrategie vorstellte, hatte er erklärt, man behalte sich das Recht völliger Handlungsfreiheit im All vor und werde dazu „gegnerischen Staaten“ den Zugangs ins All nötigenfalls verweigern, sofern nationale Interessen der USA bedroht würden. Mit dem Test hat China das von den USA beanspruchte Monopol auf Herrschaft im Weltraum gebrochen.
Angesichts des skizzierten Auftretens von Konkurrenten für die USA, vor dem Hintergrund ihrer sich abzeichnenden Niederlage im arabischen Raum, der immer offensichtlicher hervortretenden Krise des Dollars als Leitwährung für das Öl und des katastrophalen Imageverlustes der USA als globaler Leitkultur ist die Anfrage an die osteuropäischen Mitglieder der NATO Polen und Tschechien daher weniger als reale aktuelle Bedrohung Russlands zu werten, wenn auch als politische Provokation, mehr jedoch als der Versuch, Europa wieder enger an die USA zu binden, zumindest aber die Partnerschaft zwischen Russland und der EU zu erschweren, wenn nicht gar zu zerstören. Die tatsächliche Einrichtung der angekündigten Stützpunkte ist demgegenüber ganz offensichtlich verhandelbar, wie die Reise des US-Verteidigungsministers Robert Gates nach Moskau, wie die intensiven Verhandlungen im NATO-Russland-Rat, wie die emsigen Gespräche der europäischen Innen- und Verteidigungs-Minister zeigen. Dies alles geschieht nach der Rede Putins auf der NATO-Sicherheitskonferenz, in der er den US-Vorstoß zurückwies. Diese Gespräche werden geführt, obwohl seit zwei Wochen fast kein Tag ohne scharfe Erklärungen aus Washington und Moskau vergeht und auch wenn Moskau mit dem Ausstieg aus dem Vertrag über den Abbau von Mittelstreckenraketen droht, der 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnet wurde. Selbst wenn der Chef der russischen strategischen Raketentruppen, drohte, man werde die neuen US-Basen in osteuropäischen Ländern „ins Visier“ nehmen und jetzt von neuen Raketen die Rede ist, die eingerichtet würden, so steht dem Putins Aussage entgegen, man werde sich kein Wettrüsten aufzwingen lassen.
In dieselbe Richtung weisen die Debatten in Polen und der tschechischen Republik, in denen trotz Zusagen seitens der Regierungen noch lange nicht ausgemacht ist, ob die Länder dem US-Verlangen zustimmen werden oder nicht. Zuviel könnte auf dem Spiel stehen, heißt es in den Kritiken an den Regierungsverlautbarungen, wenn man sich zwischen die Frontlinien begebe. Die entscheidende Frage, um die es zur Zeit geht, lautet deshalb nicht, vielleicht man sollte besser sagen, noch nicht: Neuer Rüstungswettlauf, neuer „kalter Krieg“ ja oder nein, erst recht nicht Ausweitung des „Vierten Weltkriegs“ der USA auf eine heiße Konfrontation mit Russland oder China. Sie lautet vielmehr, dies aber mit aller Schärfe: Wo steht Europa heute im Kontext der neuen Weltmächte? Wo stellt es sich auf? Ist es bereit, weiter einen „Brückenkopf“ für die Aufrechterhaltung des US-Anspruchs auf globale Alleinherrschaft abzugeben oder emanzipiert es sich – gemeinsam mit den von Putin in seiner Rede genannten BRIC-Mächten, also Lateinamerika, Russland, Indien, China – auf dem Weg in eine Völkerordnung, die den neu herangewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht?

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland in die WTO: Durchbruch oder Einbruch?

Russland wird in den westlichen Medien zunehmend attackiert. Man fühlt sich immer öfter an Methoden des kalten Krieges erinnert, wenn von Putin als „Diktator“, von Russland als „Energiefaschismus“ geredet wird. Zugleich ist von „strategischem Bündnis mit Russland“ von „Energiepartnerschaft“ usw. die Rede. Der deutsche Außenminister Steinmeier spricht von einem „Zukunftsbündnis“ der EU mit Russland. Ende des Jahres 2006 gaben die USA Russland den Weg in die Welthandelsorganisation (WTO) frei. Was bedeutet das für die internationalen Beziehungen, was für Russland selbst?

Am 19.11.2006 unterzeichneten die USA und Russland am Rande des Asien-Pazifik-Forums (APEC) ein Abkommen für den russischen Beitritt zur Welthandelsorganisation. In dem bilateralen Abkommen sichert Russland die Senkung von Einfuhrzöllen auf Agrar- und Industrieprodukte aus den USA zu. Moskau verpflichtet sich, gegen Raubkopien vorzugehen. Umgekehrt will Russland von niedrigen Zöllen für die Ausfuhr seiner Exportgüter, Öl und Gas, profitieren. Der russische Wirtschaftsminister German Gref bezeichnete die Vereinbarung als einen „historischen“, einen „letzten Schritt“, der die „Rückkehr Russlands zu den Marktprinzipien der Weltwirtschaft bedeutet.“
Was immer German Gref unter „Rückkehr“ Russlands verstehen mag, so viel ist sicher: Mit dem Abkommen wurde ein entscheidendes Hindernis für den WTO-Beitritt Russlands überwunden. Seit 13 Jahren wird verhandelt; vornehmlich die USA hatten den Beitritt Russlands bisher blockiert. Äußerer Anlass waren die Forderungen der USA nach einem Schutz von Urheberrechten; Russland hatte Standards für amerikanische Fleischlieferungen verlangt, welche die USA nicht einhalten wollten. Jetzt scheint man sich einig geworden zu sein.
Ganz offen ist die Tür für Russlands Beitritt allerdings noch nicht. Seit der Wahlniederlage der Republikaner verfügen die Demokraten über die Mehrheit im US-Kongress. Die befürworten eine protektionistische Politik. Es könnte also noch zu einer Ablehnung der Initiative der Bush-Administration in den USA kommen. Ein Hindernis könnten auch Moskaus Konflikte mit Moldawien und Georgien sein. Russland hat Importe aus beiden Ländern drastisch eingeschränkt, was beide Länder als Sanktionen für ihre pro-westliche Politik begreifen. Zu allem Überfluss hat die russische Staatsduma wenige Tage nach der Unterzeichnung des russisch-amerikanischen Abkommens ein Gesetz verabschiedet, das dem russischen Präsidenten die Vollmacht gibt, internationale Wirtschaftssanktionen zu verhängen. Auch damit könne der WTO-Beitritt Russlands noch in Frage gestellt werden, so die russische Agentur „Ria Nowosti“ wenn durch dieses Gesetz Strafmaßnahmen ausgerechnet jetzt legitimiert würden, da Russland sich vorbereite, in den Weltmarkt einzusteigen, „dessen Grundlage gegenseitige Vorteile und Einvernehmen bilden, aber keinesfalls Druck.“
So ganz überraschend ist dieser Duma-Beschluss indes nicht: Noch Anfang des Jahres konnten sich die Vertreter der G8 in St. Petersburg nicht auf gemeinsame Standards einigen. Russland lehnte die vom Westen geforderte Liberalisierung des Energiemarktes ab. Auch für eine „Entmonopolisierung“ der russischen Telefongesellschaft, die Öffnung der Maschinenbauindustrie, die Streichung von Subventionen für die Landwirtschaft und andere Bereiche waren die Russen nicht zu haben. Aus dem gleichen Grund verweigert die Duma seit 1991 die Unterzeichnung der europäischen Energiecharta. Jetzt erklärte Wladimir Putin, die kommenden Verhandlungen würden zu Bedingungen geführt, die den Wirtschaftsinteressen Russlands voll Rechnung trügen. Das Ziel der Verhandlungen bestehe in der „ungehinderten Erschließung internationaler Märkte“ durch russische Erzeugnisse, in der zweckmäßigen Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung und im Erhalt der vollwertigen Vorteile aus der Integration in die Weltwirtschaft.“ (Ria Nowosti).
Was ist gemeint? Was verspricht Russland sich von der WTO? Was wird tatsächlich geschehen? In seiner Jahresansprache vor der Föderalversammlung vom 18.4.2002 erklärte Putin, man habe sich lange in der Illusion gewiegt, dass das Ende der Periode militärischer und politischer Konfrontation in der Welt Russland sozusagen automatisch den Weg zur Integration in des Weltwirtschaftssystem geöffnet habe, und „dass die Welt uns in wirtschaftlicher Hinsicht mit offenen Armen empfangen“ werde. Nun habe sich aber herausgestellt, dass die heutige Welt zugleich von „erbitterter Konkurrenz“ geprägt sei, von „Konkurrenz um die Märkte, um Investitionen, um politischen und wirtschaftlichen Einfluss.“ In diesem Kampf müsse Russland stark und wettbewerbsfähig sein. Niemand wolle Russland angreifen, aber es warte auch niemand auf Russland; Russland müsse sich seinen „Platz an der Sonne“ selber erkämpfen: „Wir müssen lernen, die Vorteile der neuen Situation der Weltwirtschaft auszunützen: Es ist offensichtlich, dass sich für Russland das Problem einer Wahl zwischen Eingliederung in den Weltwirtschaftsraum oder Nichteingliederung nicht stellt.“
Die WTO, so Putin weiter, „ist weder absolut gut noch absolut schlecht. Sie ist auch keine Belohnung für gute Führung. Die WTO ist ein Werkzeug. Derjenige wird stark, der mit ihr umgehen kann. Derjenige, der nicht mit ihr umgehen kann oder will, der sich weigert zu lernen, der sich lieber hinter protektionistischen Quoten und Zollvorschriften verbarrikadiert, wird verurteilt, vollständig verdammt, um strategisch zu sprechen. Unser Land ist noch vom Prozess der Regelformulierung für den Welthandel ‚ausgeschlossen’, dieses Welthandels, in dem wir bereits präsent sind, ohne dass es uns gestattet wird, die Regeln mitzubestimmen. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass unsere Wirtschaft sich nicht entwickelt und das unsere Wettbewerbsfähigkeit abnimmt.“ Es gehe also darum, „die WTO als Instrument zur Verteidigung nationaler Interessen Russlands auf den Weltmärkten“ zu nutzen, sich „neue eigene Nischen zu sichern“. Dafür müssten die „Staatsstrukturen gestärkt“, und „qualifiziertes Personal ausgebildet“ und eine „Plattform entwickelt“ werden, auf der Staat und Geschäftswelt das Pro und Contra zur WTO miteinander entwickeln könnten. Putins WTO-Programm endet mit den Worten: „Das Parlament wird eine große Arbeit auf sich nehmen müssen, um unsere Rechtsprechung mit den Normen der WTO in Einklang zu bringen. Die neue Fassung der Zollgesetze, die Gesetze, die die technischen Reglementierungen betreffen, Protektionsmaßnahmen, Antidumpingregelungen, Entschädigungen und die Rechte auf geistige Urheberschaft sind von äußerster Bedeutung. Wir können nicht mit verschränkten Armen verharren, wir müssen uns bewegen. Es versteht sich von selbst, dass die Führung die Konsultationen mit den Industriellen wie obligatorischerweise auch mit den Gewerkschaften fortsetzen müssen. Alle müssen sich an dem Prozess beteiligen und die Meinung aller muss berücksichtigt werden.“
Ein Gesetz zur Anpassung der russischen Rechtswirklichkeit an die WTO-Normen begleitet dieses präsidentiale Programm. Es wurde bereits 1991 verabschiedet; jetzt steht seine beschleunigte Umsetzung auf der russischen Tagesordnung, wenn der Beitritt tatsächlich vollzogen werden soll. Das würde bedeuten: Unterordnung Russlands unter das zentrale Ziel der WTO, die Liberalisierung des internationalen Handels, Unterordnung unter die Ziele ihrer Teilorganisationen GATT (Allgemeines Zoll- und Handeslabkommen), GATS (Regelungen für den Dienstleistungsverkehr), TRIPS (Regelungen zum Schutz des geistigen Eigentums) und TRIMS (Regelungen für handelsbezogene Direktinvestitionen). Alle vier Organisationen verfolgen besondere Aspekte der Liberalisierung: Von der 1948 durch 23 Industriestaaten gegründeten GATT übernahm die WTO bei ihrer Gründung 1993 die Grundprinzipien des Freihandels durch Abbau von Zöllen und Subventionen. Ausgenommen davon sollen solche Staaten sein, die wirtschaftlich dazu nicht in der Lage sind. Die GATS zielt auf Privatisierung von Dienstleistungen. In der Praxis führt das zu einer Umwandlung von staatlichen oder halbstaatlichen Versorgungs- und Bildungseinrichtungen in „Unternehmen“, das heißt konkret zum Abbau und zur Verteuerung von Leistungen. Ziel der TRIPS ist die Privatisierung geistigen Eigentums. In der politischen Realität führte das ua. dazu, daß Pharmakonzerne sich das Monopol auf Patente für die Produktion dringend benötigter Medikamente, Gentech-Firmen sich Patente für Saatgut sicherten uam. TRIMS schließlich setzt sich für das „Recht“ auf ungehinderte Direktinvestitionen ein. Aus all dem ergibt sich eine allgemeine globale Freihandels- und Privatisierungsoffensive. Im Streitfall wird ein WTO- Schlichtungsgremium aktiv, dem unterzuordnen die Mitglieder der WTO sich verpflichtet haben. 1993 gegründet, gehören der WTO heute 150 Mitglieder an; sie umfasst heute ca. 90% des Welthandelsvolumens. Russland ist nach Chinas Beitritt der letzte große Flächen- und Industriestaat, welcher der WTO noch nicht angehört.
Seit 2001 gibt es in der WTO eine Doha-Runde, benannt nach der Hauptstadt Katars. Ziel der Doha-Runde war es, die Probleme der sog. Entwicklungsländer im Rahmen der WTO zu berücksichtigen; 2006 platzte die Doha-Runde, weil die führenden Industriestaaten zwar freien Handel von allen Mitgliedern forderten, selbst aber entgegen der Satzung der WTO nicht bereit waren, auf die Forderungen dieser Länder nach Abbau der Subventionen und Schutzzölle einzugehen. Ein Sprecher der WTO musste nach der Konferenz 2006 einräumen, man sei „vielleicht zu langsam“ gewesen, habe „zu lange gebraucht“ bis man die „Sorgen der Entwicklungsländer angegangen“ sei. Bis heute wurde keine Einigung in der Angelegenheit erzielt.
Selbst neutrale Stimmen bewerten die Erfolge der WTO inzwischen kritisch. Die WTO habe bisher nicht den Nachweis erbracht, dass die radikale Liberalisierung tatsächlich Vorteile zeige, schreibt beispielsweise die FiFo, Webzeitung für Finanz- und Förderprogramme im Außenhandel mit dem Osten. Die „fortschreitende Liberalisierung“ werde nämlich von einer ebenso „fortschreitenden Reduzierung des wirtschaftlichen Wachstums“ begleitet: „Von 1980-1996 stieg nur in 33 von 130 Entwicklungsländern das Wachstum um mehr als 3% je Einwohner, während das BIP je Einwohner in 59 Staaten gesunken ist. Rund 1,6 Mrd. Menschen geht es 1998 in wirtschaftlicher Hinsicht schlechter als fünfzehn Jahre früher. Allgemein stellt die Weltbank in den Zeiten zunehmender Liberalisierung ein dramatisches Wachstum der Armut fest, allerdings mit Ausnahme von China und Indien.“ Ob Russland, muss man hinzufügen, nach einem WTO-Beitritt auch zu diesen Ausnahmen gehören wird, ist keineswegs ausgemacht.
Zunächst einmal ist festzuhalten: Schon im Vorfeld der jetzt geschlossenen Vereinbarungen hat Russland, WTO-Richtlinien folgend, seine subventionierten Gas- und Ölpreise für das „nahe Ausland“ in Richtung auf Weltmarktpreise angehoben. Nichts anderes ist der Kern des angeblichen „Gas-„ und „Ölkriegs“, der sich in der letzten Zeit zwischen Russland und seinen ehemaligen Republiken entwickelte. Das könnte man auf russischer Seite kurzfristig als Gewinn verstehen. Auf Dauer wird Russland sich jedoch erneut, diesmal unausweichlich, mit der Forderung der WTO und aller ihr angeschlossenen Organisationen nach Liberalisierung und Privatisierung des Energiemarktes konfrontiert sehen, die es bisher abgelehnt hat. Das geht bis hin zu EU-Energiecharta. Dem wird die Forderung nach Liberalisierung der Inlandspreise, also nach Aufhebung der Subventionen auf heimisches Gas und Öl für den Verbrauch im Inland auf dem Fuße folgen. Diese Entwicklung träfe die eigene Industrie, die auf billige Energie angewiesen ist; darüber hinaus würden solche Entscheidungen zu einer Explosion der bisher subventionierten kommunalen und privaten Heizkosten führen. Die wirtschaftlichen und die sozialen Probleme, die daraus in einem Land mit arktischer Kälte und kommunaler Gemeinschaftsheizung folgen, sind fundamental. Es ist schwer vorstellbar, das Russland diesen Weg ohne Schaden für seine Wirtschaft und für seine sozialen Strukturen gehen kann.
Ein Eintritt in die WTO hieße weiterhin, um nur dies noch zu nennen::
– beschleunigte Öffnung für Investitionen in Schlüsselindustrien; Rationalisierungen und Entlassungen werden die Folge sein.
– Öffnung des Marktes für Fleischimporte und andere agrarische Produkte. In Verbindung mit der Forderung nach Streichung von agrarischen Subventionen wird dies zu enormen Druck auf die Landwirtschaft führen, die den Billig-Importen nicht gewachsen sein wird.
– erneuter Anlauf der Regierung zur Kommerzialisierung von bisher immer noch unentgeltlich zur Verfügung stehenden kommunalen Leistungen sowie dem System der staatlichen Sonderzuwendungen, nachdem der letzte Versuch dieser Art im Jahr 2004 und 2005 am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist.
Kurz, wenn Russland sich den Forderungen der WTO nunmehr tatsächlich anschließen sollte, liefe das auf eine Unterwerfung seiner bisher trotz aller Modernisierungen noch halb-kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse unter das Diktat einer allgemeinen „Monetarisierung“ hinaus. Dabei entstünde das Paradoxon einer Privatisierung, welche die Bewegungsfreiheit der Menschen nicht erweitert, sondern einengt und tendenziell beseitigt, in dem es die traditionellen Strukturen der kommunalen und familiären Wirtschaft, also die einer eigenproduktiven Selbstversorgung der Bevölkerung, durch eine Fremdversorgung mit billigen Importen ablöste. Ergebnis: Lokale und regionale Wirtschaftsräume verödeten. Dass eine solche Entwicklung den allgemeinen Wohlstand der russischen Bevölkerung nicht förderte, liegt auf der Hand. Es ist sogar zu bezweifeln, ob sie den herrschenden russischen „Eliten“ den ersehnten „Platz an der Sonne“ einbrächte. Sicher dagegen ist, dass Russland auf diese Weise ins Regelwerk der herrschenden neo-liberalen Globalisierung eingebunden würde. Das mag auch den überraschenden Sinneswandel der scheidenden Bush-Administration erklären: Wenn es trotz aller Interventionen der letzten Jahre, ja Jahrzehnte nicht gelang, Russland politisch klein zu halten, so besteht mit einem WTO-Beitritt des Landes doch die Möglichkeit, den gefürchteten Konkurrenten wenigstens wirtschaftlich zu disziplinieren. Zur Erreichung dieses Zieles ist man sogar zu Zugeständnissen bereit, wie man es seinerzeit bei Aufnahme Russlands in den Europarat war, wenn es nur gelingt Russland unter Kontrolle zu bringen. In diesem Bestreben dürfte auch eine Portion echter Angst vor einem wirtschaftlich und politisch autarken Russland mitspielen; mit dem Eintritt Russlands in die WTO kann der Westen sich der Hoffnung hingeben, diese Autarkie
brechen zu können. Warum Russland sich darauf einlässt, hat seinen Grund möglicherweise darin, dass die von Putin benannte Illusion vom guten Westen bei Russlands Politikern trotz aller anders lautenden Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre immer noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt worden ist.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Kai Ehlers: „Russland: Aufbruch oder Umbruch?“. Pforte/Entwürfe, 2005

Was kommt nach Putin?

„Fürchtet Russland“, titelte kürzlich die deutsche „Financial Times“. „Ein Gespenst geht um in Europa: Die Russen kommen“, verkündete die „Welt“. Von „Rachelust russischer Agenten“ sprach die „Frankfurter Rundschau“ „Leichen pflastern seinen Weg“, schrieb die „taz“. Als „terroristisches Regime“ bezeichnete Cohn Bendit die russische Regierung. Ein Chor der Warner hat sich gefunden. Sie alle verbindet eines: Die Sorge vor einer weiteren Amtszeit des amtierenden russischen Präsidenten Wladimir Putin, der, so brachte es die „Financial Times“ auf den Punkt, Russland „zu einem autoritären Land … mit faschistischen Tendenzen“ gemacht habe, das nach dem Motto handle, „wofür Russlands autoritäre Regime in der Vergangenheit stets standen: Repression nach innen und Aggression nach außen.“

Solche Sorge will ernst genommen werden. Schauen wir also, wer Putin ist und wofür er steht: Wladimir Putin erschien zum Ende der Amtszeit des kränkelnden Boris Jelzin als „Mr. Nobody“ aus dem Nichts. Sein Amtsantritt ähnelte dem eines sehr viel älteren Vorgängers, nämlich dem des ersten Romanow nach der in Russland so genannten langjährigen Smuta, der verwirrten Zeit, die dem Ableben Iwan IV., des Schrecklichen im 16. Jahrhundert, genau 1584 folgte.

Smuta nennen die Russen die chaotischen Verhältnisse, die immer wieder aus dem Zerfall der russischen, d.h. letztlich der eurasischen Zentralmacht hervorgegangen sind, bevor eine neue Ordnung gefunden wurde. Eine Smuta war auch die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als der Zarismus zerfiel. Die jüngste Smuta, die zu einer politischen und sozialen Desintegration des eurasischen Raumes in bisher nicht gekanntem Maße führte, folgte auf den Zerfall der Sowjetunion 1990/91.

Der Verlauf der aktuellen Smuta erinnert in Vielem an die Zeit nach Iwan IV.: Wie der junge Romanow seinerzeit, so war auch Wladimir Putin das „Jüngelchen“, auf den die konkurrierenden „Eliten“ sich in dem Glauben einigen konnten, dass er keiner von ihnen gefährlich werden könne. Wie damals der junge Romanow so trat auch Putin ohne erkennbares Programm an, nur gepuscht und legitimiert durch den Segen von oben, in Putins Fall durch Jelzin und seine „Familie“. Der neue Mann sicherte der „Familie“ wie auch allen ihren regionalen wie lokalen Protegés zu, die Ergebnisse der Privatisierung, sprich der räuberischen Umverteilung des Volksvermögens nicht anzutasten – und hielt sich zunächst daran.
Aber ähnlich wie sich die Gönner des ersten Romanow seinerzeit getäuscht hatten, als der unbekannte 17jährige statt die Smuta weiter zuzulassen das Zarentum in neuer Stärke begründete, so erlebten auch die nach-sowjetischen „Eliten“ ihre Überraschung: Mr. Nobody erwies sich sehr bald als entschlossener Restaurator, der die von Jelzin inaugurierte Präsidialverfassung nutzte, um Schritt für Schritt die Handlungsfähigkeit des Zentrums wieder herzustellen.

Von Vielen gar nicht als Programm wahrgenommen, verkündete er per Internet seine Ziele: Wesentliche Bestandteile davon waren:
Eine autoritäre Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe eines starken Staates.
Das Anknüpfen an gewachsenen Strukturen, insbesondere der russischen Gemeinschaftstraditionen, statt der kritiklosen Übernahme westlicher Modelle.

Die Stärkung Russlands als Integrationsknoten Euroasiens
Werfen wir einen kurzen Blick zurück, was davon verwirklicht wurde, ohne uns an Details und einzelnen Unstimmigkeiten festzuhalten:
Russlands Verwaltung bekam mit den von Putin persönlich eingesetzten Gouverneurs-Kontrolleuren ein neues Rückgrat; die Privilegien der Regional- und Lokalmächte wurden soweit zurück geschnitten, dass die Gouverneure heute vom Präsidenten ernannt werden.

Die als Oligarchen bekannt gewordenen Privatisierungsgewinnler wurden zum Steuerzahlen verpflichtet. Mit der Zerschlagung des Yukos-Konzerns nahm die Regierung die wichtigsten Ressourcen Russlands wieder in staatliche Regie.
Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat einen aktiven Spielraum von rund 20 Milliarden Euro, der für Sonderausgaben zur Verfügung steht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet.

Russlands Rolle als Subjekt der Weltpolitik wurde wieder hergestellt, nachdem es unter Jelzin zum Anhängsel des westlicher Interessen geworden war. Eine empfindliche Einschränkung liegt allein in dem nach wie vor ungelösten Konflikt in Tschetschenien. Aus der wieder gewonnenen Stärke Russlands, insbesondere auf dem Energie-Sektor, erklärt sich die neuerliche anti-russische Propaganda..

Aber in einem hat Putin, neben dem Konflikt in Tschetschenien, bisher nicht erreicht, genauer gesagt, nicht getan, was er versprochen hat: in der Sozialpolitik. Mehr noch, die von seinen liberalen Beratern Gref und Co versuchte Einführung der sog. Monetarisierung des gesellschaftlichen Lebens ist als glatter Flop auf die Regierung zurückgefallen. Putin genießt zwar nach wie vor den Zuspruch von 60 – 70% der Bevölkerung, dies jedoch nicht wegen, sondern trotz der von ihm verfolgten sozialpolitischen Linie. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sieht in den Reformen zur sog. Monetarisierung der „Vergünstigungen“ wie auch der kommunalen und betrieblichen Formen der in der Sowjetzeit entwickelten nicht-monetären allgemeinen Grundversorgung keinen Fortschritt, sondern eine Verschlechterung ihrer Lage und fordert die Beibehaltung der bisherigen Regelungen. Ausdruck dieser Tatsache waren Demonstrationen von Rentnern, dann auch Studenten gegen das Ende 2004 beschlossene Sozial-Programm. Gegen die Monetarisierung von Wohnraum, von Gas-, Wasser-, Stromlieferungen und sonstiger in der Sowjetzeit bargeldloser öffentlicher Leistungen nahm der Protest die Form der stillen Verweigerung an, Motto: Wo kein Geld, da keine Zahlung, wo kein Kläger, da keine Klage. Die Reformen haben sich in diesen Kanälen verlaufen. Mit dem soeben beschlossenen Beitritt zur WTO will Russland jedoch einen erneuten Schritt in diese Richtung gehen. Das wird mit Sicherheit zu erheblichen neuen Unruhen führen.

Nach sechseinhalb Jahren Putin ist damit eine Lage entstanden, die man als Spagat der russischen Führung, namentlich Putins zwischen neuer aktiver Rolle in der Welt des globalisierten Kapitalismus und nicht gelöstem Übergang zum Kapitalismus im Inneren kennzeichnen kann. Putin war der Mann, der diesen Spagat halten und entwickeln konnte. Ausdruck dieser Balance ist die Polarität seiner engsten vertrauten, Innenminister Sergej Iwanow als Vertreter der „Silowikis“, also der vom Geheimdienst durchsetzten konservativen „Staatler“ auf der einen , der eher wirtschaftsliberale Dimitrij Medwedjew auf der anderen Seite. Weder Iwanow noch Medwedjew jedoch wären in der Lage, die von Putin heute gehaltene Balance fortzuführen. Beide haben als Kandidaten für die Nachfolge Putins denn auch abgewinkt. Auch andere in der Debatte um die Kandidatur eines möglichen zukünftigen Präsidenten auftauchende Namen wie der KP-Führer Szuganow, der US-orientierte ehemalige Wirtschaftsminister Michael Kasjanow repräsentieren nur Teilkräfte. Das gilt erst recht für Personen wie den Schachweltmeister Gari Kasparow, der namens der Ultra-Liberalen antreten möchte, um „Schach dem Putin“ zu bieten, ganz zu schweigen von dem unvermeidlichen ewigen Provokateur Wladimir Schirinowski. Keine dieser Personen wird Putin ersetzen können: Mit dem Abtreten Putins wäre auch dessen „System“ der Balance beendet, es sei denn, es tauchte ein neues „Jüngelchen“ auf, das noch keiner kennt.
Überraschungen wie der bisher weithin unbekannte Alexander Gonskoi, Bürgermeister der nordrussischen Stadt Archangelsk, sind natürlich möglich, aber sechseinhalb Jahre putinscher Amtszeit waren nicht genug, um einen neuen Konsens v o n  u n t e n entstehen zu lassen, der die „Eliten“ Russlands, geschweige denn die Bevölkerung des Landes zuverlässig und dauerhaft auch ohne Autorität von oben verbinden könnte. Zu stark sind nach wie vor die Sonderinteressen, die von einer neuen Smuta profitieren würden. Zu stark sind andererseits die Kräfte, die genau dies mit Gewalt verhindern möchten.

Putin ist sich dieser zwiespältigen Lage offensichtlich sehr bewusst. Geradezu provokativ deutlich lehnte er daher im Spätsommer 2006 das Ansinnen aus den Reihen der Putin-treuen Partei „Einheitliches Russland“ ab, sich als „Retter der Nation“ für eine dritte Amtszeit zur Verfügung zu stellen. Er forderte stattdessen demonstrativ, der Entwicklung einer Opposition eine Tribüne zu geben. Mit der Bildung einer neuen Partei „Gerechtes Russland“, die der bisherigen Partei der Macht, wie „Einheitliches Russland“ kurz genant wird, Konkurrenz machen, im übrigen aber den von Putin eingeschlagenen Kurs unterstützen und auch in Zukunft verfolgen will, auch wenn Putin nicht mehr Präsident sein sollte, wurde jetzt ein Schritt in diese Richtung versucht. Ziel ist ein präsidial geführtes Zweiparteiensystem nach US-Vorbild. Ob dies gelingen kann, ist höchst fragwürdig. Der Westen täte daher besser daran, Putins Bemühungen um einen „Wunschnachfolger“ zu unterstützen, wenn ihm tatsächlich an einer weiteren Demokratisierung Russlands gelegen wäre, statt ihn als „Faschist“, „Diktator“ etc. und durch Aufbau einer inneren „Front“, die zu den „Errungenschaften“ Jelzins zurückkehren will, demontieren zu wollen. Eine solche Demontage Putins kann nur eine neue Smuta fördern oder deren gewaltsame Beendigung provozieren.

Kai Ehlers

Siehe zu diesem Thema:
Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch? Russland zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte/Entwürfe, 2005

Russland: Die Stockmann-Felder – Eskalation des Wahnsinns?

Das Problem der Stockmann- Felder, enthält drei sehr unterschiedliche Aspekte: Eine neue Runde in der Klima-Krise, eine neue Konstellation im „Great Game“ und schließlich eine weitere Stufe auf dem Weg in eine Neuauflage des kalten Krieges mit zeitgenössischen Mitteln. Zusammen bilden die drei Aspekte ein gefährliches Gemisch.
Die Rede ist von Gasfeldern vor Norwegen in der Barentssee, vor allem von den sog. Stockmann-Feldern. Sie allein sollen mindestens 3,4, nach neuesten Meldungen 4 und mehr Trillionen Kubikmeter Gas enthalten. Der Geologische Dienst der USA schätzt sie auf ein Viertel der noch unentdeckten Energiereserven der Welt. Die Vorkommen würden ausreichen, den Bedarf Deutschlands über dreißig Jahre zu decken, den der Welt ein Jahr lang. Die Felder werden seit etwa zehn Jahren erforscht, 2004 fasste Russland den Beschluss zu ihrer Erschließung; ab 2007 soll das erste Gas versuchsweise nach Europa strömen. Diese Entscheidung gab Gazprom im Oktober 2006 bekannt, nachdem bis dahin die USA als Hauptkunde des Projektes galt.
Der Reihe nach: Seit Jahren beunruhigen Klimaveränderungen die Welt. Augenfälligste Zeugin für den Klimawandel ist die Abschmelzung der Pole um jährlich zwei bis drei Prozent. Lediglich „peak oil“, die absehbare Grenze, an welcher der Bedarf an fossilen Brennstoffen die Vorkommen übersteigen wird, gab Umweltschützern bisher eine gewisse Hoffnung auf einen Umschwung in der Energiepolitik. Ausgerechnet von der Abschmelzung der Pole soll nun der Ausweg nahen! Das zurückweichende Eise, so hört man es aus Kreisen der Befürworter des Stockmann-Projektes, mache jetzt die Nutzung der bisher unter dem ewigen Eis verdeckten Gasvorkommen möglich, die vorher nur mit nicht bezahlbarem technischen Aufwand durchführbar gewesen sei. Mit den Stockmann-Feldern erhalte die Welt noch einmal einen Aufschub.
Dieser Argumentation muss man nichts hinzufügen, um sie als wahnhaft zu erkennen: die Krise der Energieversorgung wird nur verschoben, die Abschmelzung der Pole erhält einen weiteren Schub, das Nord-Meer wird in ein ökologischen Risikogebiet verwandelt. Dies alles spielt für die Betreiber des Mammutprojektes keine erkennbare Rolle.
Die Betreiber, das waren bis Ende Oktober 2006 der russische Gigant Gasprom, die norwegischen Unternehmen Statoil und Norsk, der französische Total-Konzern und die US-Konzerne Chevron und ConocoPhilips, seit Ende Oktober nur noch Gazprom. Damit sind wir beim zweiten Aspekt des Problems, der Aktualisierung des „Great Game“: Im April 2006 verkündete das damalige Projekt-Konsortium seine Absicht, im Laufe des Jahres die Gründung einer Betreibergesellschaft bekannt geben zu wollen. Noch bis zum Spätsommer des Jahres 2006 bestand die Option darin, eine internationale Betreibergesellschaft für die Ausbeutung des Feldes gründen zu wollen. Gazprom, das für sich 51% der Anteile der zukünftigen Gesellschaft beanspruchte suchte Teilhaber für die restlichen 49%. Die genannten Konzerne gehörten zum engsten Kreis der Bewerber; als Hauptabnehmer waren die USA im Gespräch. Geplant war, das Gas nicht über Pipelines, sondern über die Perfektionierung der neu entwickelten Technik der Gasverflüssigung per Schiff in die USA zu transportieren. Eine erste Versuchsanlage zur Gasverflüssigung, betrieben von der norwegischen Gesellschaft Statoil und der deutschen Firma Linde AG, sollte 2007 bei der nördlichsten Stadt Hammerfest ihren Probelauf aufnehmen.
Am 9.10.2006 verkündete Gazprom-Chef Alex Miller überraschend, der Konzern werde Ausbau und Ausbeutung ohne ausländische Hilfe in Angriff nehmen. Vorangegangen waren Auseinandersetzungen auf dem G8-Gipfel in St. Petersburg, dem sog. Energiegipfel im Frühjahr des Jahres, auf dem Putins Angebot, Russland zum Garanten einer globalen Energiesicherheit machen zu wollen mit den Forderungen der West-Mächte nach weiterer Liberalisierung der Ölmärkte zusammenprallte. Man ging mit schönen Worten über gemeinsame Verantwortung, jedoch ohne Ergebnis in der Sache auseinander. Vorangegangen waren auch Erklärungen von Gazprom, dass man die technischen Schwierigkeiten der Gewinnung des Gases aus den arktischen Feldern überschätzt habe. Es sei nicht nötig, das Gas zu verflüssigen, es könne auch über die geplante Ost-See-Pipeline befördert werden. Im Übrigen, so weiter Gazproms Begründungen, habe keiner der potentiellen Teilnehmer ausreichend hohe Angebote für die mögliche Teilhabe gemacht. Unter diesen Umständen sei es für Gazprom günstiger die Finanzierung des Projektes selbst aufzubringen und mit anderen Gesellschaften gegebenenfalls in Teilfragen zu kooperieren.
Schon beim Dreiertreffen mit Jaque Chirac und Angelika Merkel in Paris hatte Wladimir Putin überraschend angekündigt, dass Russland nicht die USA, sondern Europa als zukünftigen Kunden der Stockmann-Gase sehe. Beim Treffen mit Kanzlerin Merkel während der Dresdener „Deutsch-russischen Dialoges“ einen Tag nach Millers Erklärung trat Putin an die deutsche Kanzlerin mit dem Angebot heran, Deutschland zum europäischen Verteiler für die Stockmann-Gase zu machen, indem das Gas aus der Arktis über die geplante Ostsee-Pipeline nach Greifswald geleitet werde.
Politische Beobachter aus Norwegen merkten in der Webzeitung russland.ru richtig an, Gazprom gehe es bei dieser Rochade keineswegs nur um Geld, damit sei Gazprom als drittgrößter Energiekonzern der Welt ausreichend versorgt, sondern in erster Linie darum, einen Handel „Ware gegen Marktzugang und technisches Know how“ zu realisieren. Deutschland verfüge durch seine geographische Lage und seine Position innerhalb der EU über optimale Möglichkeiten, als Verteiler der russischen Gase zu fungieren. Ein Pakt zwischen Deutschland und Russland zur Lieferung der Stockmann-Gase und evtl. weiterer Funde schaffe eine attraktive win-win-Situation, der beide Seiten in eine stabile langfristige Partnerschaft gegenseitiger Verpflichtungen einbinde. Auch Norwegen habe Chancen, in das Projekt einbezogen zu werden, denn es verfüge über langjährige technische Kenntnisse, die für die weitere Erschließung und Förderung der der Vorkommen wichtig seien. Mit einer solchen Entwicklung, so Putin , sei die „Zukunft der Wirtschaft Europas auf Dauer absolut gesichert.“ Das Gleiche erhofft sich Gazprom, versteht sich, das in diesem Zukunftsbild nicht nur Ressourcen lieferte, sondern über seine deutschen Partner Wintershall und EON auch am Verkauf des Gases mitverdienen könnte.
Mit dieser Wendung der Dinge war nicht nur die potentiell internationale Betreibergesellschaft geplatzt; es hatte sich auch ein folgenschwerer Wechsel in der Priorität der russischen Energiepolitik vollzogen: Europäische Union, vertreten durch Deutschland, anstelle der USA. Mehr noch, die USA aus dem Stockmann-Deal zu kicken, so die bereits genannten Norwegischen Beobachter, sei wohl als eigentlicher Zweck der Gazprom-Rochade anzusehen. Stimmt, denn inzwischen wurde die Entscheidung dahin gehend relativiert, dass der Konzern wegen des Umfanges des Projektes selbstverständlich an Kooperationspartnern interessiert sei. Die Option einer Teilhaberschaft ausländischer Konzerne, insbesondere der US-amerikanischen, ist jedoch vorerst vom Tisch.
Dass die USA von dieser Wendung der Dinge nicht begeistert sind, liegt auf der Hand. Damit sind wir beim dritten Aspekt des Stockmann-Deals, den Ursachen für die seit Mitte Oktober 2006 durch die westlichen Medien geisternden Anti-Putin-Kampagne.
Um besser zu verstehen zu können, worum es geht, muss man sich vielleicht noch einmal an den Grundton erinnern, den der US-Stratege Zbigniew Brzezinski nach Beendigung des Kalten Krieges gegenüber Russland vorgab: Ausgehend vom Ende der Sowjetunion entwarf er in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den Euroasiatischen Kontinent und seine Ressourcen als Hauptaufgabe der USA. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine Grundthese. Daher müsse die US-Politik alles unternehmen, was ein erneutes Erstarken Russlands als Rivale in Eurasien verhindere.
Auf dieser Linie betrieben die USA, sekundiert durch eine halbherzige Politik der Europäischen Union ihre Minimierung und Einkreisung Russlands. Sie kauften sich in den russischen Energiemarkt ein, sie bauten neue Pipelines, sie trieben die NATO- und EU-Erweiterung voran und versuchten so, Russland von seinem früheren Monopol auf die eurasischen Öl- und Gas-Ressourcen zu trennen.
Mit der Verhaftung Chodorkowskis, der Zerschlagung des Yukos-Konzerns und der damit verbundenen Rückführung russischer Energiepolitik unter staatliche Kontrolle war diese Politik gescheitert. In dieser Situation legte Brzezinski nach. In der „Wallstreet“ vom 20. September 2004 veröffentlichte er einen Artikel über Wladimir Putin unter dem Titel „Moskaus Mussolini“, in dem er erklärte, Putin sei in Russland dabei, einen faschistischen Staat zu schaffen. Als Kritik am angeblich drohenden „Energiefaschismus“ Russlands fand dieser Tenor ein schrilles Echo in der Berichterstattung der deutschen Medien zu Chodorkowski, zum neuen NGO-Gesetz in Russland und anlässlich des russisch-ukrainischen Gasstreits.
Der Strategiewechsel Russlands in Sachen Stockmann-Feld von USA auf Europa hat eine neuerliche Auflage dieser Kampagne provoziert. „Angst vor Russland“ heißt es jetzt. Aus US-Sicht ist dieser Tenor konsequent. Die Stockmann-Felder geben Russland – im Verein mit den Europäern – einen weiteren Trumpf in die Hand, der die USA ins Abseits einer Abhängigkeit von, statt zu der erwünschten Vorherrschaft über Eurasien bringen könnte. Angesichts des Scheiterns ihrer IRAK-Politik verbietet sich für die USA jedoch jede offene Konfrontation mit Russland; da bleibt nur der Versuch, Putin politisch zu diskreditieren, zu isolieren und nach Möglichkeit innenpolitisch zu demontieren, um Russland auf diese Weise zu schwächen. Die bevorstehenden Wahlen zur Duma und zur Präsidentschaft in Russland geben dazu Gelegenheit.
Verblüffend dagegen ist der Auftritt der deutschen Politiker und Medien, die ebenso zum Medienangriff auf Putin blasen, obwohl er ihnen mit dem Stockmann-Projekt soeben das Geschenk des Jahrhunderts gemacht hat. Das kann nur noch als Übersprungshandlung verstanden werden, mit der man sich von dem Verdacht der Kumpanei reinwaschen möchte, denn sachlich hört und liest man keine Kritik an Putins Geschenk, weder am Ausbooten der USA noch an den ökologischen Konsequenzen des Projektes. Vielleicht möchte man auch Eigenständigkeit beweisen und sich gegen zu enge Umarmung durch Russland verwahren. Wie auch immer, die gegenwärtige Puten-Schelte ist wohl die verlogenste Kampagne, welcher sich europäischen, insbesondere die deutschen Medien sich seit Langem hingegeben haben.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe auch:
„Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung“, Pforte/Entwürfe

Angst vor Russland?

Putins Russland ist wieder in der Schlagzeilen. Die Ermordung Anna Politkowskajas brachte neben berechtigter Empörung und notwendiger Kritik schrille anti-russische Töne hervor. Mit Anna Politkowskaja sei „das andere, das moralische Russland endgültig gestorben“ schrieb Helge Donath beispielsweise in der taz. Statt Vertrauen in russische Stabilität herrsche zunehmend Angst der Wirtschaft vor einem Russland, das den Energiehahn zudrehe, wenn es kritsiert werde. Die „Frankfurter Rundschau“ erschien mit einem Bild, das den russischen Präsidenten in einer höchst unvorteilhaften Pose mit vorgeschobenem Kinn, bulligem Gesichtsausdruck und halbgeschlossener Faust zeigt. Schaut her, der Aggressor’, ist die Botschaft dieses Fotos. Bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden wurde Putin mit „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen. Ebenso in München. Was spielt sich ab, woher dieser neuerliche Schub an Russophobie?

Eine Erklärung findet man möglicherweise in der Art, wie Wladimir Putin bei seinem jetzigen Deutschlandbesuch in Dresden und München die „Furcht der Deutschen vor seinem Land …,dass im Westen immer häufiger als starker Investor auftritt,“ ( „Süddeutschen Zeitung“, 11.10) zu zerstreuen versuchte und in den Vorschlägen, die er dazu in Dresden machte: Er bot der Bundeskanzlerin Merkel – nach pflichtschuldigem Austausch offener Kritiken in der „Menschenrechtsfrage“, in dessen Verlauf beide den Mord an Frau Politkowskaja verurteilten – eine engere Zusammenarbeit in Energiefragen an. Er stellte Deutschland in Aussicht, als „Hauptkonsument“ und größter Verbraucher russischen Gases „zu einem großen europäischen Verteilerzentrum des russischen Gases“ zu werden – vorausgesetzt, die geplante Ostseepipeline werde zügig verwirklicht.

In dem Falle plane Russland auch das sog. Stockmann-Feld in der Barentsee zu erschließen und dessen Vorkommen anders als in der bisherigen Planung vorgesehen, nicht in die USA zu schaffen, sondern nach Europa, das heißt über Deutschland umzuleiten. Vorstellbar seien in diesem Falle, so Putin, zusätzliche Erdgaslieferungen nach Deutschland von jährlich 50 bis 55 Milliarden Kubikmeter Gas. Das werde das „energetische Gesicht Deutschlands“ verändern wie auch seine Position in europäischen Energieangelegenheiten in Europa stärken.

Frau Merkel, soeben gebeutelt durch den deutschen Energiedialog, zeigte sich erfreut. „Ich gehe für die deutsche Seite ganz fest davon aus, das dieses Projekt verwirklicht wird“, erklärte sie und ergänzte, nicht ohne Grund, das Projekt sei gegen niemanden gerichtet. Grund hat sie, denn es gab und gibt reichlich Unruhe über die neue Rolle Deutschlands in Europa, die sich hiermit abzeichnet und die Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Auch England, das von einem eigenen Zugang zum russischen Gas träumte, sah sich düpiert.

Die Ostseepipeline, daran sei erinnert, wurde im Dezember 2005 offiziell in Angriff genommen. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ ist Gerhard Schröder, Generaldirektor Matthias Warnig von der Dresdner Bank. Die Pipeline soll über 1200 km vom russischen Wyborg bis zum deutschen Greifswald verlegt werden. Von Greifswald aus kann das Gas nach Süden und nach Westen quer durch Europa und bis nach Großbritannien transportiert werden. Zunächst ist der Ausbau eines Stranges geplant. Er soll ab 2010 rund 27,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas transportieren. Ein zweiter Strang mit gleicher Kapazität soll später folgen. Der Bau soll 2008 beginnen.

Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet, fürchten auch unabsehbare ökologischen Folgen. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten. So wie jetzt Merkel, hatte seinerzeit Schröder auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“

Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten um das russische Gas wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.

Ein weiterer Aspekt dieses Vorgangs kann erhebliche Auswirkungen haben: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres 2005 sollte ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50. Inzwischen treten Russen immer massiver als potente Investoren an den unerwartetsten Stellen Europas auf wie beispielsweise Gazprom als Sponsor von „Schalke 04“.

Bei all dem wird nun allmählich der unter Wasser liegende Teil des Eisberges erkennbar, von dem offiziell nicht die Rede ist, der aber in den letzten Jahren, speziell seit dem Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine im letzten Jahr, eine immer größere Rolle spielt: Die Europäer beargwöhnen die Russen, sich zu einer auf ihre Energie-Ressourcen gestützten neuen Hegemonialmacht aufbauen zu wollen und sind bereit, das mit allen Mitteln der politischen Intervention zu verhindern; gleichzeitig versuchen sie Russland mit langfristigen Verträgen so an sich zu binden, daß die eigene europäische Abhängigkeit von russischem Gas durch die Abhängigkeit Russlands von seinen Lieferungen an Europa in der Waage gehalten wird. Aus dieser Doppelstrategie heraus bewegt sich Deutschland zwischen den Polen einer besonderen deutsch-russischen Energiepartnerschaft und dem US-amerikanischen Bemühen, Russland als Energie-Diktatur, gar potentiellen Energie-Faschismus international zu isolieren und von seinen früheren Energie-Monopolen zu trennen. Dabei ist die Angst, Russland könnte sich durch Verbindungen nach China, Japan, Indien und anderen Teilen Asiens von Europa unabhängig halten, ein stärker werdendes Motiv.

Deutlichster Ausdruck dieser doppelten Realität war der G8-Gipfel, der im Mai in St. Petersburg erstmals unter russischer Präsidentschaft stattfand. Russland hatte im Vorfeld angekündigt, sich als Garant einer globalen Energieordnung ins Spiel bringen zu wollen. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland hatten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vorgebracht und ihrerseits angekündigt, Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So galt das G8-Treffen allgemein als Energie-summit, von dem globale Entscheidungen, zumindest aber schwere Unstimmigkeiten und Konfrontationen erwartet wurden. Im Ergebnis allerdings verabschiedete der Gipfel einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben scheinen: Einerseits werden „offene und transparente Märkte“, werden „faire Investitionsbedingungen“, einschließlich „effektiven Rechtsschutzes“ vereinbart, andererseits verpflichten sich die G 8 zu den Zielen der „Energieeinsparuung, der Energieeffizien, der erneuerbaren Energien, des umweltschonenden Einsatzes von Energien.“

Zur Krönung heißt es dann auch noch: „Dem Zugang von umweltfreundlichen, erschwinglichen und verlässlichen Energiedienstleistungen als zentralem Aspekt der Armutsbekämpfung wird eine wichtige Bedeutung beigemessen.“ Angesichts solcher Verlautbarungen könnte man schon fast in ein dankbares utopisches Schwärmen verfallen, wenn man nicht wüsste, dass zugleich alle Mittel in Bewegung gesetzt werden, um Russland im Süden von seinen früheren Monopolen zu trennen, Iran von Russland und Russland von China. Hier ist wohl richtig, daran zu erinnern, dass die ermordete Anna Politkowskaja auch den Krieg in Tschetschenien als Kampf ums Öl charakterisierte. Die Janusköpfigkeit dieser Politik spiegelt sich in einer krassen Gesichtslosigkeit der herrschenden deutschen Ost-Politik wieder, die Russland kritiklos umwirbt und zugleich mit politischen Interventionismus zu „Menschenrechtsfragen“ traktiert. Die grellen Töne, mit denen auf den Mord an Anna Politkowskaja reagiert wird, sind, soweit sie über die Mordtat hinausgehen, ein Reflex dieser doppelbödigen Politik.

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Russland ohne Moral?

Gewaltig widerhallte das Echo der vier Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja, eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einer Woche in Moskau im Treppenhaus gleich neben ihrer Wohnung niedergestreckt wurde. Putin erklärte, wenn auch erst zwei Tage später und in einer Weise, in welche er die Bedeutung der Ermordeten herunter zu spielen versuchte, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um diese „Gräueltat“ aufklären zu lassen, denn der Mord schade Russland mehr als die Kritik, welche die Ermordete zuvor an der Regierung des Landes geübt habe. Ihre Veröffentlichungen seien ja nur in einem kleinen Kreis der Menschenrechtler bekannt geworden. Ungeachtet dieser Erklärung wurde Putin bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit wütendem „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen und in deutschen Medien las man Sätze wie: mit Politkowskaja sei auch „das moralische Russland endgültig gestorben“, Angst vor Russland breite sich aus usw.

Was entlädt sich hier? Wofür steht der brutale Mord, wofür die wütende Kritik? Eine Antwort darauf zu finden ist schwer.
Frau Politowskaja hatte so viele Feinde, dass sie nicht an einer Hand abzuzählen sind: Die russische Soldateska in Tschetschenien, die pro-russischen Banden des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow, von Moskau eingesetzter Ministerpräsident Tschetscheniens, die Entführer und Menschenhändler des illegalen Untergrundes in Tschetschenien, der russische Geheimdienst FSB, die kriminellen und menschenverachtenden Zustände in der Armee, die großen und die kleine Korruptionäre auf allen Ebenen der Politik, die russischen Nazis, die Angehörigen der sog. Sicherheitsdienste, die für die Massaker von Beslan 2004 und zwei Jahre zuvor im Theater Dubrowka verantwortlich waren. Russische Kommentatoren halten es sogar für möglich, dass politische Gegner Putins hinter dem Mord stehen könnten, die Putin selbst und seine Politik angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen in Misskredit bringen wollten.

Absurd, möchte man meinen, aber vollkommen abwegig sind selbst solche Spekulationen nicht: Das politische Klima in Russland ist aufgeheizt. Sechs Jahre autoritärer Modernisierung unter Putins Führung haben erkennbare Spuren hinterlassen: Einen übermächtigen Präsidenten, um ihn herum Korruption und konkurrierende Seilschaften, in der Bevölkerung extreme soziale Differenzierung, aufkeimenden Nationalismus und Rassismus und über all dem den verlogenen Frieden in Tschetschenien, der nach wie vor ein Krieg ist und das gesellschaftliche Klima Russlands vergiftet. Die Schüsse können daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen. Das ist fürwahr kein gutes Zeugnis für die Politik Wladimir Putins und die Geister, die er rief. Insoweit gibt es Grund genug für harte Kritik.

Was aber veranlasst deutsche Demonstranten zu „Mörder-Mörder“-Rufen gegenüber einem russischen Staatschef, bevor auch nur ansatzweise klar ist, aus welcher Richtung die Schüsse kamen und was treibt Kommentatoren deutscher Medien dazu, jetzt das Ende des „moralischen Russland“ zu beschwören? Ist es pure Empörung, die sich einfach Luft machen muss, zumal Putin erst zwei Tage nach dem Mord reagierte? Dann sollte man ähnliche Auftritte auch angesichts der Ermordung zweier deutscher Journalisten in Afghanistan erwarten, die fast zur gleichen Zeit um ihr Leben kamen. Die Beteuerung der afghanischen Regierung, die Tat habe keine politischen Hintergründe, ist nicht glaubhafter oder weniger glaubhaft als die Erklärung Putins, dass er den Mord an Frau Politkowskaja verurteile. Oder ist es Sorge um die Freiheit der Presse, die die Kritiker antreibt? Die ist zweifellos berechtigt, denn Frau Politkowskaja war nicht die erste Journalistin, die in Russland umgebracht wurde. In diesem Zusammenhang wäre allerdings mit dem Finger nicht nur auf Russland zu weisen. Vielleicht resultiert die Kritik aber auch aus enttäuschter Liebe, die nach dem Aufbruch unter Gorbatschow anderes von Russland erwartet hat und sich nun überflutet sieht vom Zynismus der neuen russischen Macht? Das wäre verständlich, aber dem wäre entgegen zu halten, dass mindestens 5000 Moskauer und Moskauerinnen am Begräbnis der Ermordeten teilnahmen. Das Ende der Moral scheint zumindest in Moskau also doch noch nicht erreicht zu sein. Darüber hinaus ist Moskau nicht Russland, die putinsche Alleinherrschaft ist keine Diktatur und die Herrschenden sind nicht das Volk.

Und was den Zynismus der neuen Macht angeht, so ist es zwar richtig und notwendig, den Finger auf diese Wunde zu legen, allerdings wäre da genauer hinzuschauen und wahrheitsgemäßer zu berichten, worum es eigentlich geht. Dies wäre die beste Ehre, die man der ermordeten Kritikerin erweisen könnte. Täte man dies, dann würde sehr schnell erkennbar, von welcher „Angst“ tatsächlich geredet werden muss, nämlich der Angst der deutschen Wirtschaft vor einem „Energie-Diktat“ eines starken Russland. Diese Angst bemühte sich Wladimir Putin in Dresden mit dem Angebot zu beruhigen, Deutschland könne zum „Verteilerzentrum für russisches Gas in Europa“ werden, wenn die geplante Gaspipeline durch die Ostsee zügig gebaut werde. Frau Merkel zeigte sich beruhigt und pflichtete ihm bei. Damit war man nach den unvermeidlichen Anmerkungen zur „Menschenrechtsfrage“ auf die Tagesordnung zurückgekommen. Eher hier endet die Moral als in Russland, scheint mir, und das keineswegs nur auf der russischen Seite, sondern ebenso auf der deutschen.

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Mord an Anna Politkowskaja: Ende des moralischen Russland?

Die Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja vor wenigen Wochen am helllichten Tages vor ihrer Moskauer Wohnungstür niedergestreckt wurde, erschütterten die internationale Öffentlichkeit. Der Mord provoziert alle, denen die Freiheit des Wortes über Profit- und Machtkungeleien geht.

Anna Politkowskaja war eine von denen, die sich nicht vor den Mächtigen beugte, die sich auch nicht auf Kommentare beschränkte, sondern die sich darum mühte, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen. Sie war die schärfste öffentliche Kritikerin Putins. Sie war ihm, davon darf man ausgehen, ein Dorn im Auge. Aber folgt daraus, dass er ihr Mörder ist, wie in unseren Medien frei spekuliert wird? Eine „Ikone des moralischen Russland“ wurde Anna Politkowskaja nach ihrem Tod genannt, eine „Instanz in einem Land, in dem sonst alles käuflich ist.“ Richtig. Aber ist mit ihrem Tod „das moralische Russland endgültig gestorben“, wie man auch lesen konnte? Und ist in Russland wirklich alles käuflich? Ein bisschen differenzierter hätte man es schon gern, nicht zuletzt gerade dann, wenn es um die Freiheit des Wortes geht.

Glaubt man der westlichen Presse und den von ihr zitierten russischen Gewährsleuten wie etwa der Moskauer Journalistin Elena Tregubowa, die nach dem Mord in mehreren westlichen Medien mit langen Interviews zu Wort kam, dann gibt es keine Zweifel, dass Wladimir Putin selbst, zumindest aber seine Helfer wie der Leiter der Präsidialverwaltung, Igor Setschin, oder der von Putin eingesetzte Ministerpräsident Tschetscheniens Ramsan Kadyrow die Urheber des Auftragsmordes waren, der an der unliebsamen Kritikerin verübt wurde. Einem Putin, so Frau Tregurow bei einem Spiegel-Gespräch, der den Krieg in Tschetschenien nicht beende, der Ukraine den Gashahn abgedreht habe, der eine rassistische Hetzjagd gegen Georgier im Lande durchführen lasse, sei so etwas ohne Weiteres zuzutrauen. Auf die Erfolge Putins zur Stabilisierung Russlands angesprochen, antwortet sie, Hitler habe auch mit den Autobahnen begonnen. Man wisse ja, was daraus geworden sei.

Vergeblich wiesen besonnenere Geister daraufhin, dass Anna Politkowskaja eine Vielzahl von Feinden hatte, angefangen bei tschetschenischen Banden, offiziellen wie inoffiziellen, über Korruptionäre auf hohen Ebenen der Gesellschaft bis hin zum Inlandgeheimdienst FSB oder selbst der Mafia oder im Ausland lebender Exilrussen, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus ein Interesse an ihrem Tod haben könnten.

Vergeblich erklärte Michail Gorbatschow auf einer Pressekonferenz westlicher Journalisten anlässlich des „Petersburger Dialogs“, dass Putin kein Interesse an einem solchen Mord haben könne, da dieses Verbrechen der Diskriminierung Russlands diene. Es nützte auch nichts, dass er sich ausdrücklich gegen Belehrungen und falsche Verdächtigungen von westlicher Seite verwahrte. Man bedenke, der dies vorbrachte, Gorbatschow, ist immerhin der Deutschen liebstes russisches Kind; als Privatmann ist er aktuell keinem Verdacht der politischen Parteinahme für Putins Regierung ausgesetzt; darüber hinaus hat er als Mitaktionär der Zeitung „Nowaja Gasjeta“ Anna Politkowskajas Engagement aktiv unterstützt; nach dem Mord hat er mit den anderen Aktionären der „Nowaja Gasjeta“ 25 Millionen Rubel (740.000 €) zur Aufklärung des Mordes ausgesetzt. Dies alles wird jedoch in der anschließenden Berichterstattung mit der Bemerkung beiseite gewischt, dass er als Koordinator des Petersburger Dialogs „von Putin eingesetzt“ worden sei.

Was übrig bleibt und der deutschen Leserschaft mitgeteilt wird, ist Gorbatschows Klage, dass mit dem Mord Russlands Demokratie geschädigt werde. Wer es genauer wissen möchte, muss Detailstudien an den unmittelbaren Quellen betreiben. Am Ende dieser Leiter empfangen Demonstranten den russischen Präsidenten bei seinem Besuch zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit „Mörder-Mörder“-Rufen. Die „Frankfurter Rundschau“ erscheint mit einem Bild als Titelaufmacher, das Putin in höchst unvorteilhafter Momentaufnahme mit vorgeschobenem Kinn in der Pose einer Bulldogge zeigt, während Frau Merkel lieblich lächelt. Schaut her, so die Botschaft dieses Bildes, was für ein Aggressor!
Angesichts einer solchen Berichterstattung ist die Frage nach der Moral, aller spontanen Empörung eingedenk, wohl von mehreren Seiten zu betrachten.

Beginnen wir, um keinen falschen Verdacht einer Parteinahme für Missstände in Russland aufkommen zu lassen, mit der russischen Seite. Diese Liste ist lang, zweifellos: Seit 1993 sind laut Statistik, die das von Oleg Panfilow geleitete Moskauer „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ jährlich herausgibt, 219 Journalisten in Russland zu Tode gekommen, 16 davon nachweislich in Ausübung ihres Berufes. Für weitere 20 konnte der direkte Zusammenhang nicht eindeutig nachgewiesen werden, gilt aber als sicher. Ein solcher Fall ist z.B. die Ermordung des in Moskau tätigen US-amerikanischen russisch-stämmigen Chefredakteurs der russischen Ausgabe des „Forbes-Magazins“, Paul Chlebnikow im Jahre 2004, der detailliert über den kriminellen Aufstieg der neuen Reichen in Russland informierte. Die weiter aufgeführten 183 Fälle sind solche, in denen Journalisten unter Umständen zu Tode kamen, die nicht direkt mit ihrer Arbeit zu tun hatten, in denen eine Verbindung zu dem Beruf der Betreffenden aber möglich ist.

Zu den Todesfällen kommen noch 16 Entführungen von Journalisten allein zwischen 2000 und 2006, 46 Durchsuchungen von Redaktionen, 158 Festnahmen; in 379 tätliche Angriffe. Auch wenn man dem Zentrum eine berufsbedingte Ultra-Akribie in der Zusammenstellung seiner Statistiken unterstellen darf, sprechen diese Listen eine klare Sprache. So verwundert es nicht, dass Russland auf der Weltrangliste, welche die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ zur Lage der Presse führt, bei insgesamt 167 Plätzen auf Rang 140 steht und mit Recht trug der im Juni 2006 in Moskau tagende „59. Weltkongress der Zeitungen“ dem Gastgeber Wladimir Putin – in aller diplomatischen Höflichkeit, versteht sich – eine klare Kritik an der Situation der Medien in Russland vor. Besonderer Gegenstand der Kritik war die „Athmosphäre der Vorsicht und Selbstzensur“, die in Russland in der Ära Putin entstanden sei. Eine besondere Frage des Kongresses richtete sich darauf, „warum immer mehr Zeitungen von staatlich kontrollierten Unternehmen aufgekauft würden.“ Hintergrund dieser Frage ist die Tatsache, dass der Kreml während Putins Amtszeit über die Gazprom-Tochter Gazprom-Media seine Kontrolle über die Fernsehmadien stark ausgebaut hat. Der Konzern ist heute Mehrheits-Eigner bei NTW, NTW-Plus, TNT, inzwischen auch bei dem bekannten Radiosender Echo Moskau, sowie zahlreichen Zeitungen, unter anderem auch der bekannten „Iswestija“. Das neueste Beispiel ist die Übernahme der Zeitung „Komersant“ durch den Kreml-nahen Unternehmer Alsher Usmanow und den darauf folgenden Rücktritt des bisherigen Chefredakteurs Borodulin. Russische Medienexperten befürchten, dass der Kreml im Vorfeld der Präsidentenwahlen von 2008 weitere Übernahmen dieser Art planen könnte.

Kritisch zu vermerken ist auch, dass die Arbeit für ausländische Journalisten erschwert wird, indem Arbeitserlaubnisse hin und wieder nicht verlängert, Akkreditierungen nur noch für halbe Jahre ausgestellt werden; frei über Tschetschenien zu berichten, ist auch für Ausländer nicht möglich.
Präsident Putin zeigte sich von der Kritik wenig beeindruckt. Er bekräftigte sein bei Gelegenheit immer wieder von ihm geäußertes Interesse an der Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft mit einer dazu gehörigen freien Presse und erklärte, es gebe heute in Russland 53.000 Publikationen, die man von staatswegen, selbst wenn man es wollte, nicht kontrollieren könnte. Die staatliche Beteiligung an diesen Unternehmen gehe eher zurück. Das Internet und andere elektronische Medien würden im übrigen überhaupt nicht kontrolliert.

Tatsache ist, dass nur 10% der russischen Zeitungen heute wirtschaftlich überlebensfähig sind, die restlichen sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Die überregionalen Fernsehstationen stehen faktisch unter zentraler staatlicher Kontrolle, die lokalen Sender haben eine gewisse Unabhängigkeit von Moskau, sind aber in der Regel von Zuwendungen der Provinzregierungen abhängig. Der Wahrheit näher als Putins Bild kommen daher vermutlich Aussagen wie die des Chefredakteurs der „russischen Newsweek“, der nach seinem Wechsel aus der Fernseh- in die Zeitungs-Arbeit in einem Interview mit der „WELT“ erklärte, er habe deswegen gewechselt, weil er wenigstens in den Printmedien schreiben könne, was er wolle. Untersuchungen russischer Medien-Kritiker relativieren auch dies noch, wenn sie erklären, dass Pressefreiheit in Russland nicht als Grundrecht wahrgenommen werde.

Aus Broschüren des „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen“, die russischen Journalisten als Ratgeber an die Hand gegeben werden, geht hervor, dass der Berufsstand des Journalisten in Russland sich erst entwickeln müsse, dass kaum ernsthaft recherchiert, dafür oft wild drauflos kommentiert werde. In dieser Bewertung stimmen die „Ratgeber“ des Zentrums mit der ermordeten Anna Politkowskaja überein, die ihre Kritik an der politischen Lethargie ihrer eigenen Zunft wie auch der Gesellschaft insgesamt wiederholt in ihren Artikeln ausgegossen hatte. Nicht Mangel an Pressefreiheit, soweit es die Printmedien betrifft, ist also bei genauer Betrachtung das Problem Russlands, sondern zum einen eine mangelnde Qualifikation der Journalisten und zum anderen die fehlende Transparenz und der mangelnde Mitgestaltungswille der Gesellschaft.

Laut einer Umfrage von „Newsweek Russia“ halten nur 9% der Bevölkerung die Massenmedien insgesamt für glaubwürdig und 70% hätten nichts dagegen, wenn die Pressefreiheit eingeschränkt würde – soweit die Medien, speziell auch die lokale und regionale Presse nicht Übermittler konkreter sachlich notwendiger Informationen sind. Diesen Stand gesellschaftlichen Bewusstseins wie die schwache Rolle der Medien selbst darf man zu recht beklagen und sich bemühen – wie die getötete Anna Politkowskaja – dies zu ändern. Russland in Bausch und Bogen als käuflich zu verurteilen, das „System Putin“ in die Ecke totalitärer Diktaturen zu rücken oder gar mit Hitler zu vergleichen ist dagegen wenig hilfreich.

Zu beklagen ist in diesem Zusammenhang denn auch eine West-Presse, die genau dieses tut. Welcher Vorgabe folgt die wütende Kritik an Putin, die ebenso wenig recherchiert, wie es der russischen Presse nachgesagt wird? Warum wird verschwiegen, dass Anna Politkowskaja nicht nur Putin, Kadyrow, die Korruption in Russland usw. kritisierte, sondern mit gleicher Schärfe die fehlende Moral des Westens anklagte? „Der Westen hat uns für dieses Gas verkauft“, schrieb sie etwa mit Blick auf die geplante Ostseepipeline: „Unsere Probleme wie in Tschetschenien interessieren niemanden. Alle wollen mit Putin gut Freund sein, wegen Gas und Erdöl.“ Wenn der Tod Anna Politkowskajas Anlass ist, über Moral der Medien nachzudenken, dann sollte das vielleicht doch in ihrem Sinne geschehen?

Zu fragen wäre dann, was schlimmer ist: russische Selbstzensur oder deutsche Konformität? Vielleicht auch andersherum: Russische Konformität oder deutsche Selbstzensur? Anna Politkowskajas Antwort darauf wäre vermutlich, dass die Wahrheit des Elends, die Würde und die Wünsche der einfachen Menschen nicht den angeblich großen Interessen geopfert werden dürfen. Von dieser Art des Journalismus ist die russische Medienwelt nicht weiter entfernt als die deutsche.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Von Kai Ehlers erschien soeben:
Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Verlag Pforte/Entwürfe
Zukunft der Jurte –Kulturkampf auch in der Mongolei?, Mankau-Verlag

Aktuelle Bücher zu Russland finden Sie unter: www.kai-ehlers.de

Schlüssel Russland?

Im Atomstreit mit dem Iran hat Russland dem Iran angeboten, die umstrittene Urananreicherung künftig in Russland vorzunehmen, um somit dem Verdacht zu entgehen, sein Atomprogramm diene der Herstellung der Atombombe. Iran zeigt sich offen für den Vorschlag, vorausgesetzt, weitere Staaten, insbesondere China würden in diese Abmachung einbezogen. China hat sich bisher nicht dazu geäußert, besteht aber auf einer diplomatischen Lösung des Konfliktes. Damit könnte die Eskalation zunächst einmal auf die Bahnen einer zivilen Konfliktlösung verwiesen sein.
Die westliche Diplomatie bemüht sich jedoch wieder einmal Russland – und auch China – „ins Boot zu holen“ oder wenn das nicht gelingt, auszugrenzen. US-Falke Mc Cain forderte auf der Münchner „NATO-Sicherheitstagung“ sofortige Sanktionen und erklärte, Russland verfolge eine Politik, die „sich mit unseren Interessen nicht verträgt.“ Er warf der russischen Führung eine „sowjetische Geisteshaltung“ vor und forderte die G7-Staaten auf, ihre Teilnahme an dem in St. Petersburg geplanten G7/G8-Gipfel zu überdenken.
Es geht offensichtlich um mehr als die Atomfrage, so wie es auch im Fall des IRAK um mehr als die Massenvernichtungswaffen ging. Das ist natürlich zunächst einmal das Ölgeschäft: Der IRAN verfügt über die drittgrößten fossilen Vorkommen und Reserven nach der OPEC und nach Russland. Der Kampf um die Energie-Rohstoffe wird durch das Hinzutreten Chinas, Indiens und anderer Newcomer, durch den steigenden Bedarf der alten Industrieländer und die zugleich sinkende Verfügbarkeit und die ausgehenden Reserven zum beherrschenden Thema der internationalen Politik. Die politischen Ereignisse der letzten Zeit sind davon geprägt: So die von der russischen Regierung erzwungene Widereingliederung des Öl-Multi YUKOS in den russischen Staatsverband; so der Krieg gegen den IRAK, so der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine, um nur die wichtigsten zu nennen. Auf dem G8-Gipfel sollen diese Fragen Hauptthema sein.
Über all dies hinaus hat die Auseinandersetzung inzwischen jedoch das Stadium des Streites um bloße Aufteilung des unmittelbaren Zugriffs auf die Öl- und Gasquellen bereits hinter sich gelassen. Inzwischen geht es um die Frage, ob die USA die Vorherrschaft des Dollar als Öl-Währung aufrechterhalten können. Kern der Sache ist die vom IRAN für März dieses Jahres angekündigte Absicht, eine asiatische Öl-Börse gründen zu wollen, an der Öl- und Gas nicht mehr in Dollar, sondern auch, sogar vornehmlich in Euro gehandelt werden sollen. Die Einführung dieser Börse würde bedeuten, dass der Dollar seine Funktion als Weltleitwährung verliert. Diese Funktion hat er nicht mehr auf Grund der Wirtschaftskraft der USA, vielmehr wird der wirtschaftliche Niedergang der USA dadurch verdeckt und aufgehalten, dass der Welthandel von Öl und Gas an den Dollar gebunden ist. So ist die Welt gezwungen, Dollarreserven zu halten, auch wenn der Dollar ständig und systematisch, das heißt durch Einsatz der Notenpresse, an Wert verliert.
Die Öl-Bindung des Dollar geht auf eine Abmachung zwischen Saudi-Arabien und den USA aus dem Jahre 1972/3 zurück, dem sich die OPEC anschloss. Spätestens seit Einführung des Euro aber rütteln sowohl Öl fördernde Länder als auch Abnehmerstaaten an dieser Vereinbarung, weil die Dollarbindung des Ölhandels sie zwingt Dollarreserven zu halten, die sie nur mit Verlust weitergeben können, was faktisch auf eine versteckte Abgabeordnung gegenüber den USA hinausläuft. Mit dem Erscheinen des Euro und der Stärkung des chinesischen YEN sind aber Alternativen zum Dollar sichtbar geworden, zumal die meisten Öl fördernden Länder intensivere Handelsbeziehungen mit Europa als mit den USA pflegen. Saddam Hussein war der Erste, der es wagte, den Schritt vom Öl-Dollar zum Öl-Euro faktisch zu vollziehen. Die Antwort der USA ließ nicht auf sich warten. Gleich nach der Intervention wurden das „oil for food“-Programm beendet und die auf Euro laufenden irakischen Konten wieder auf Dollar umgestellt: Von Stund an wurde wieder nur gegen Dollar verkauft. Damit war das Ziel des Irak-Krieges erreicht; George W. Bush konnte sich als Retter des US-Imperiums feiern lassen. Ein Exempel war statuiert.
Lange jedoch währte die Freude nicht: Die Yukos-Affäre endete nicht nur mit einer Wiederaneignung der russischen Ressourcen durch den russischen Staat in der Gestalt des Konzerns GASPROM. Kaum war YUKOS-Chef Chodorkowski rechtskräftig verurteilt, beschloss die russische Staatsduma, in Zukunft die Devisenreserven Russlands nicht mehr nur in Dollar anzulegen, sondern ab sofort zu 30% auch in Euro. In wenigen Jahren soll das Verhältnis auf 50:50% gebracht werden. Darüber hinaus ging Russland wieder zur traditionellen Golddeckung für seine eigene Währung über.
Auch in der OPEC wurde die Bindung des Dollar ans Öl brüchig. Es war Hugo Chavez, der 2002 die Öl fördernden Staaten der OPEC aufforderte, Öl an Entwicklungsländer nicht mehr gegen Dollar, sondern im Bartergeschäft, also im Tausch gegen Ware oder auch gegen Euro zu liefern.
Die skizzierten Entwicklungen bündeln sich in ökonomischen und politischen Bündnissen, die sich in letzter Zeit herausgebildet haben, so dem wirtschaftlichen Interessenverband BRIC, benannt nach seinen Mitgliedern Brasilien, Russland, Indien und China, so in der „Schanghai Gruppe“, die Russland, China, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan verbindet, dazu als „Beobachter“ Pakistan, Indien und Iran. Im Juli 2005 forderte das Bündnis in einem „Appell“ an die USA, dass sie einen Termin setzen sollten, wann sie sich aus Stützpunkten in diesen Ländern zurückzuziehen gedächten.
Aus dieser politischen Gemengelage heraus, deren Speerspitze die Einführung einer asiatischen Öl-Börse wäre, erklärt sich der Kompromissvorschlag Russlands, ebenso wie die hysterische Vorgehensweise der USA. Unklar bleibt, welche Rolle die Europäer sich zumessen wollen. Was Ihnen in dieser Situation am schlechtesten zu Gesicht steht, ist die Rolle des treuen Freundes der USA. Daran wird Frau Merkel zu knacken haben.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sehen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat. Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein, doch hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle ersetzt hat. Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Die für westliche Beobachter z.T. sehr fremden Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind hinlänglich bekannt; sie müssen hier nicht noch einmal erläutert werden.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um eine gigantische Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das gilt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender Kolonialismus“ und schließlich noch der „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.

All dies kann man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation in den „Aufbau des Sozialismus“, Stalin vollendete die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt. Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher kann keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit. Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums heute entgegenarbeitet. Das ist nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese aktuelle russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal vom Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Entstanden sind vielmehr neue Varianten des Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingegangen sind. Viele Analytiker sprechen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Tatjana Saslawskaja charakterisierte die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe.

Tatsache ist: Teile der heutigen russischen Wirtschaft funktionieren nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt.. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man spricht in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltet: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft liegt ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hat wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, hat für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“ geprägt. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgeht. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen.
In der aktuellen Grundkonstellation der gegenseitigen Ergänzung einer zurückgefahrenen Produktion einerseits und der Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft andererseits liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nicht. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend im Sinne neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern bewusst organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur ausgebeutet werden, sondern ihr Gebrauch kultiviert und gemeinschaftlich kontrolliert wird. Unter solchen Umständen bekommt der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin heißt Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin ist die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Die Rede ist von einem Entwicklungsland neuen Typs, das Ansätze für eine neu Wirtschafts- und Sozialordnung zeigt, die eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Das ist auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungs-strukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Hier kommen wir in den Bereich, in dem sich Fragen an die künftige Politik Wladimir Putins und seines Kommandos sowie an politische Klasse Russlands stellen: Sind sie bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?
In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelt sich seitdem ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Sollte die Regierung über diese Proteste hinweggehen oder sie gar niederschlagen wollen, kann das Ergebnis nur eine soziale Katastrophe sein, an deren Ende sich die Suche nach neuen Beziehungen zwischen Produktion und Selbstversorgung umso dringender wieder einstellen wird, allerdings vermutlich zu schlechteren Bedingungen. Es wäre zu wünschen, dass es ohne diese Umwege ginge.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

NGOs in Russland: Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten Jahres schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten.
Vehement protestierten über 1300 Organisationen. Der Menschenrechtsbeauftragte Lukin forderte die Duma auf, von weiteren Lesungen der Gesetzesvorlage abzusehen; ebenso der „Rat für gesellschaftliche Fragen“, der erst nach Beslan als Vermittler zwischen Regierung und zivilgesellschaftlichen Bewegungen geschaffen worden war. Selbstverständlich sorgen sich westliche Regierungen.
In der russischen Regierung sind die Meinungen geteilt, Finanz und Justizministerium tragen den Entwurf. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern, die vor der Duma gegen die Entwicklung eines „Polizeistaats Russland“ demonstrierte, wurde festgenommen; ihnen droht ein Verfahren wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“. Das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung jedoch ist gegen die Duma-Initiative. Präsident Putin verteidigte den Dumabeschluss: Politische Tätigkeit des Auslands in Russland, so Putin, müsse stärker kontrolliert werden, erklärte er. Von einer Aushöhlung der Zivilgesellschaft könne nicht die Rede sein. Er selbst werde dafür Sorge tragen. Politische Aktivitäten in Russland müssten für den Staat jedoch transparent sein, das gelte besonders für Finanzierung politischer Aktivitäten durch das Ausland, wenn sie über öffentliche Kanäle anderer Staaten laufe, „und wenn in unserem Land tätige Organisationen als Instrument der Außenpolitik anderer Staaten benutzt werden.“ Ungeachtet der öffentlichen Proteste und solcher putinscher Differenzierungen will die Duma die 2. und 3. Lesung jedoch am 9. Dezember durchführen; zum 1. Januar 2006 soll das Gesetz in Kraft treten.
Die „Heimlichkeit des Vorgehens“, die „Eile im Gesetzgebungsprozess und andere Begleitumstände“, meint Jens Siegert vom Moskauer Büro der Böllstiftung, erinnere an eine „Spezoperazija“, eine Geheimdienstoperation; im selben Zuge berichtet er allerdings, dass der Antrag von allen fünf in der Duma vertretenen Fraktionen gemeinsam eingebracht wurde. Ausgerechnet Abgeordnete der KP, hört man von anderer Seite, hätten besonders die geplanten Einschränkungen für ausländische, bzw. mit ausländischem Geld geförderte NGOs begrüßt.
Ähnlich widersprüchlich sieht es bei den tatsächlichen Änderungen aus, die das Gesetz bringen soll: Für die russischen NGOs, meint Siegert, werde es wohl „zusätzliche Arbeit“ und „erweiterte staatliche Kontrollmöglichkeiten“ bringen, „aber trotz allem nichts grundsätzlich Neues.“ In der Tat, der größte Teil der Bestimmungen findet sich in ähnlicher Form bereits in einer Reihe von Gesetzen, die während der Amtszeit Putins entstanden sind. So der Steuerkodex oder das Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus. Nach den geltenden steuerrechtlichen Bestimmungen muss sich nicht nur jeder Empfänger auf einer nationalen Liste als steuerabzugsberechtigt ausweisen, es muss auch jedes einzelne Projekt vom Geber her als Non-Profit unternehmen erfasst werden. Andernfalls sind auf alle Gelder 24% Steuern, zusätzlich lokaler Sondersteuern zu entrichten. Zusätzlich muss die Zustimmung der örtlichen Behörden eingeholt werden, die die örtliche Aktivität der NGOs als steuerlich unbedenklich anerkennen müssen.
Dem steht die Entwicklung von Bürgerinitiativen gegenüber, die sich in den letzten Jahren in Russland selbst entwickelt haben. Die erste Stiftung dieser Art wurde als „Fonds der örtlichen Gemeinschaft“ 1998 in Togliatti gegründet; 2004 gab es laut einer Studie des deutschen Maecenata-Institutes bereits fünfzehn dieser Initiativen in den verschiedensten Regionen der Föderation. Die „Fonds der örtlichen Gemeinschaft“, so das Institut, verstehen sich als „Stiftungen, die sich fördernd und operativ für das lokale Gemeinwohl einsetzen. Sie verfolgen einen breiten Stiftungszweck und betreiben einen langfristigen Vermögensaufbau. Sie sind in politischer, wirtschaftlicher und konfessioneller Hinsicht unabhängig und werden von einer Vielzahl und Vielfalt von Stiftern und Stifterinnen errichtet und getragen.“ Auch diese Stiftungen, so der Bericht, litten unter dem zunehmenden steuerrechtlichen Würgegriff; durch ihre „lokale und soziale Bezogenheit und ihren unmittelbar einsehbaren Nutzen wie auch durch die Vielfalt der in sie eingehenden lokalen, bzw. regionalen, d.h. also in großem Umfang auch russischen finanziellen und operativen Initiativen“ seien sie aber weniger gefährdet als die von zentralen und ausländischen Geldern abhängigen klassischen NGOs. Offen sei allerdings, was geschehen werde, wenn sich die Bürgersstiftungen politischen Fragen wie Aktivitäten zu Menschenrechten, zum Zivildienst, zum Presseschutz u.ä. zuwenden würden. Diese Anmerkung betraf vor allem die wachsende Zahl von Stiftungen, NGOs und Bewegungen, die aus Geldern der Stiftung „offenes Russland“, also seitens Yukos und seines Chefs Chodorkowski finanziert wurden.
Hier soll das neue Gesetz offenbar ansetzen: Neu wäre eine Aufteilung, da ist Siegbert zu folgen, zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er soeben aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken. Neu wäre zudem noch, dass bisher informell arbeitende Gruppen künftig verpflichtet werden sollen, spätestens ein halbes Jahr nach Beginn Ihrer Aktivitäten die Behörden von ihrer Existenz zu unterrichten, obwohl offen bleibt, wer in diesem Fall konkret meldepflichtig und juristisch verantwortlich sein soll.
Kurz, den russischen NGOs, einschließlich der nur wirtschaftlich orientierten, würde die selbstständige Tätigkeit weiter erschwert; das ist unbezweifelbar. Das erklärt die Opposition aus dem Wirtschaftsressort. Hauptadressat der geplanten Maßnahmen sind jedoch die ausländischen Organisationen. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein. Dies alles läuft auf ein Abwürgen ausländischer NGO-Einsätze hinaus. Auch da gibt es keine Zweifel. Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer NGO-Einsätze hinaus, sondern auf eine Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Seebeben an der Ostsee?

Seit Anfang Dezember ist die Welt mit einem Vorgang konfrontiert, der die vertrauten politischen Koordinaten nachhaltig verändern könnte: Der Bau einer Gas-Pipeline vom russischen Wyborg zum deutschen Greifswald quer durch die Ostsee wurde offiziell in Angriff genommen. Anwesend waren der neue deutsche Wirtschaftsminister Klos, der Chef des russischen Gas-Konzerns Miller Gasprom sowie weitere Vertreter der von Schröder und Putin eingeleiteten deutsch-russischen Energiepartnerschaft. Das Projekt wird zu 51% von Gasprom, zu je 24,5% von BASF und Ruhrgas/Wintershall getragen, die Dresdner Bank trägt 33% der Kosten per Kredit. Vorsitzender des Aufsichtsrat der „North european Gas Pipeline Company“ soll Gerhard Schröder werden, Generaldirektor wird Matthias Warnig von der Dresdner Bank.
Die Begleitumstände des Projektes sind außerordentlich, dies aber nicht wegen des Wechsels der deutschen Kanzlerschaft; der ändert nichts an der grundsätzlichen Haltung der deutschen Bundesregierung in Bezug auf das „Jahrhundertgeschäft“, wie die stolzen Verlautbarungen des neuen Wirtschaftsministers Klos zeigen. Auch in den Chor derer, die Schröder „Vetternwirtschaft“ und „Heuchelei“ vorhalten, muss man nicht einstimmen. Die Unterwerfung der Politik unter die Ökonomie ist heute Standard; der ist veränderungsbedürftig, aber da macht ein Ex-Kanzler Schröder keine Ausnahme. Im Unterschied zu anderen politischen Funktionsträgern tritt Schröder aber nicht in eine deutsche, westliche oder US-amerikanische, sondern in eine russisch dominierte Firma ein. Das macht den Vorwurf möglich, hier entwickle sich eine neue deutsch-russische Achse.
Damit sind wir bei der ersten Besonderheit dieses Vorgangs, die erhebliche Auswirkungen haben kann: Die Gas-Lieferungen des Ostsee Konsortiums sollen, wie man hört, in Euro abgerechnet werden. Das klingt harmlos, handelt es sich doch um ein deutsch-russisches Abkommen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass der Dollar bisher die Währung war, in der Öl- und Gasgeschäfte abgewickelt wurden, diese Funktion des Dollars in den letzten Jahren aber in zunehmendem Maße in Frage gestellt wird, ist der angekündigte Wechsel von strategischem Gewicht: Seit die USA im großen Deal um Yukos/Chodorkowski zurückstecken mussten, beginnt sich die Auseinandersetzung vom direkten Zugriff auf die Ressourcen auf ein andere Ebene zu verlagern: Gleich nach dem Prozess verkündete die russische Regierung, sie gedenke ab sofort ihre Währungsreserven vom Dollar tendenziell auf eine Parität von Dollar und Euro umzustellen. Schon Ende des Jahres soll ein Verhältnis von 60 Dollar zu 40 Euro erreicht sein, sehr bald 50 zu 50.
Der erste, der solch einen Schritt wagte, war Saddam Hussein. Dafür wurde er abgestraft. Nach der Invasion der USA in den IRAK wurde diese Entscheidung des IRAK rückgängig gemacht. Inzwischen haben aber weitere Länder entsprechende Absichten geäußert, unter anderem Venezuela, der Iran, sogar die Saudis lassen solche Absichten erkennen. Wenn jetzt ein deutsch-russisches Konsortium ebenfalls diesen Weg einschlägt, sind harsche Antworten seitens der USA absehbar. Man darf gespannt sein, wie Frau Merkel mit diesem Erbe ihres Vorgängers im Kanzleramt umgehen wird.
Die zweite Besonderheit des Ostsee-Vorganges liegt in der Kaltschnäuzigkeit, mit der das Geschäft zwischen Russland und Deutschland unter Umgehung der EU-Newcomer durchgezogen wurde. Polen, Letten, Litauer wie auch Estländer hatten gegen die Verlegung der Pipeline quer durch die Off-Shore-Bereiche der Ostsee protestiert. Sie sehen sich wirtschaftlich übergangen, benachteiligt, sogar durch mögliche Gas-Boykotte von Seiten Russland gefährdet. Politisch sehen sie sich an unselige Zeiten erinnert, in denen Polen wie auch die baltischen Staaten für die europäischen Mächte die Funktion eines „cordon sanitaire“ hatten, mit dem Frankreich, Deutschland und andere sich nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Einfluss der bolschewistischen Revolution schützen wollten. Auch die Gespenster des Hitler-Stalin-Paktes kamen wieder hervor, in dessen Verlauf Deutschland und Russland den polnischen und baltischen Raum als ihre Interessensphären untereinander aufgeteilt hatten.
Schröder, seinerzeit noch Bundeskanzler, hatte auf all diese Kritiken nur die Antwort: „Das Projekt richtet sich gegen niemanden.“ Tatsächlich richtet sich das Projekt nicht nur gegen Konkurrenten wie die USA, China oder auch Indien, sondern, wie man der kommentierenden Presse entnehmen kann, auch gegen „mögliche Erpressungsversuche“ durch Polen oder die baltischen Staaten. Das gilt selbstverständlich auch für die Ukraine oder Weißrussland, die bisher die hauptsächlichen Transferländer für russisches Gas nach Deutschland und Europa waren. Erfolgreicher ließ sich der Brandt-Bonus der Verständigung mit Polen und den baltischen Ländern
wohl nicht verspielen. Dem Anspruch einer demokratischen Entwicklung der EU dürfte das nicht gerade förderlich sein.
Nachhaltig wird die deutsch-russische Pipeline-Gemeinschaft schließlich weder im Sinne einer dauerhaften Lösung des fossilen Energieproblems, noch für die Entwicklung von weiterführenden Zukunftsperspektiven wirken: Die Pipeline durch die Ostsee erschließt keine neue Gasquelle; sie verteilt nur das vorhandene Gas anders. Sie entwickelt auch keine alternativen Energien, sondern verpulvert unvorstellbare Gelder, die besser für die Erforschung und Entwicklung alternativere Energiequellen eingesetzt würden.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Anmerkungen zum Grundeinkommen?

Der Gedanke eines bedingungslosen Grundeinkommens ist keine neue Erfindung. Schon unsere Vorfahren kannten es: Wer Mitglied des Clans, des Stammes, der Dorfgemeinschaft war, der war schon dadurch grundversorgt, allerdings nicht ohne die Verpflichtung, sich irgendwie nützlich in die Gemeinschaft einzubringen und sei es als Hirte für die auf der Almende gemeinschaftlich gehaltenen Tiere. Nur wer – aus welchen Gründen auch immer – für vogelfrei erklärt wurde, ging damit seiner Grundrechte auf Versorgung verlustig. Die Entwicklung der westlichen bürgerlichen Gesellschaft löste diese Grundordnung zugunsten einer privatrechtlichen Eigenversorgung auf, die den Einzelnen zum Schmied seines Glückes erklärte. Egoismus wurde als Triebkraft des Wirtschaftslebens definiert; das Streben nach persönlicher Bereicherung wurde zum herrschenden Prinzip.
Anders verlief die Geschichte in Russland. Dort wurde die ursprüngliche Grundversorgung der Almende nicht aufgelöst, sondern in der Entwicklung der gemeinwirtschaftlich organisierten Dorfgemeinschaften, in der der einzelne nicht Eigentums-, sondern Nutzungsrechte am Gemeinschaftsvermögen besitzt, zur Grundorganisation der zaristischen und nach deren Sturz der sowjetischen Gesellschaft: In der dorfgemeinschaftlich organisierten, zu Sowjetzeiten dann in der auf Sowchosen, Kolchosen, Betriebs- und Wissenschaftskollektiven aufgebauten Gesellschaft war das Prinzip des Grundeinkommens praktisch verwirklicht, nur lief es nicht über Geldauszahlungen seitens des Staates, sondern über die Grundversorgung, die als geldlose Vergütung auf der Grundlage der agrarischen oder wissenschaftlichen Betriebsfonds ausgegeben wurde. Über die Zugehörigkeit zu einem Betrieb oder auch einem Institut waren die Menschen grundversorgt, zeitweise auf niedrigem Niveau, aber niemand fiel durch dieses Netz.
Wesentlicher Bestandteil dieser Organisation war die familiäre Zusatzversorgung durch den eigenen Hofgarten im Rahmen der Sowchose oder Kolchose, war die eigene Datscha auf dem vom Betrieb gestellten und mit Infrastruktur versorgten Gelände, zumindest das eigene, persönlich bewirtschaftete Stück Land, auf dem man eine familiäre Zusatzwirtschaft für die Abdeckung von Grundbedürfnissen betreiben konnte. Dazu kam die Bereitstellung von Wasser, Strom und Gas, der Betrieb von Kindergärten, die Freizeitmöglichkeiten, der Kulturpalast, die medizinische Versorgung usw. Alles dies war nicht „umsonst“, wie es in der westlichen Diktion immer wieder heißt, sondern unentgeltlich, also vergütet auf der Grundlage der betrieblichen oder institutseigenen Fonds. Kurz, das wirtschaftliche Leben war rundum abgesichert. Niemand musste sich sorgen aus diesem sozialen Netz zu fallen, wie tief es auch zeitweilig und in einzelnen Fällen gehängt sein mochte. Eine andere Sache ist, dass diese aus langer russischer Tradition gewachsene Grundorganisation zur Sowjetzeit vom Staat usurpiert wurde, was bei anwachsenden Produktivkräften sowie wachsender persönlicher Qualifikation und damit verbundenem zunehmendem Freiheitsbedürfnis der Menschen zu der Explosion führen musste, die wir schließlich als Perestroika und als Auseinanderbrechen der Union erlebt haben.
Selbst in den USA war das Thema eines allgemeinen Grundeinkommens soweit herangereift, dass es Mitte der 60er bereits die Form von Kongressvorlagen annahm, bevor die ganze Bewegung für ein Grundeinkommen von der Politik Reagans beiseite gewischt wurde.
Heute erlebt der Gedanke einer allgemeinen Grundversorgung in den Zentren der Industriegesellschaft eine Neuauflage, weil offensichtlich wird, dass die bisherigen Sozialversicherungssysteme, weit entfernt davon, für die in die Krise gekommenen sowjetischen Verhältnisse eine lebensfähige Alternative zu bieten, selbst gewaltig ins Trudeln gekommen sind und weiter kommen: Die Ursache ist in beiden Fällen ein und dieselbe: Das Wachstum der Produktivkräfte, die Steigerung der Produktivität, verlangt mit Macht nach einer Veränderung der veralteten Produktionsverhältnisse, im Besonderen nach einer Veränderung der aus dem letzten Jahrhundert überkommenen Sozialsysteme, in denen die Wohlfahrtsleistungen der Gesellschaften unmittelbar an die Lohnarbeit gekoppelt waren: Der Anteil der zur unmittelbaren stofflichen Versorgung eines Menschen notwendigen Arbeit wird immer geringer während der Anteil frei verfügbarerer Arbeitskraft wächst, die für anderes als den bloßen Lebenserhalt eingesetzt werden kann. Hieraus folgt, dass immer weniger Menschen innerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses tätig sein müssen, um die gleiche oder gar höhere Produktivität zu erreichen. Die übrigen werden aus dem Produktionsprozess ausgestoßen und können, bzw. müssen sich anderen Tätigkeiten zuwenden. Die Abkoppelung der Kosten für eine Grundversorgung der Gesellschaft von der Lohnarbeit und die Einführung eines Grundeinkommens, das die Früchte der Produktivität unabhängig von der Lohnarbeit des Einzelnen, vielmehr abhängig von der Wertschöpfung in der Produktion selbst oder auch über den Konsum auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen verteilt, ist nur konsequent.
Anders gesagt: Was wir heute erleben, ist eine globale Wachstumskrise, die uns neue Möglichkeiten beschert: Ihr erstes Opfer, wenn man es so sagen will, war die festgefahrene Bürokratie der Sowjetunion, die unter dem Stichwort der notwendigen Intensivierung, der Befreiung von Initiative usw. von unten, aus der Peripherie gesprengt wurde. Jetzt ringt man in Russland um neue Formen zwischen den sowjetisierten Strukturen traditionellen gemeineigentümlichen Lebens und dem „kapitalistischen Weg“. Etwas Neues wird dabei heraus kommen, bei dem es mit Sicherheit nicht dabei bleibt, dass die staatliche Bevormundung zerschlagen und durch eine Hyperprivatisierung und Privatversorgung nach westlichem Muster ersetzt werden wird; es wird vielmehr, schon jetzt erkennbar, eine Kombination, eine Symbiose von Industriearbeit und Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung entstehen, die die Grundversorgung auf eine neue, freiwillige, selbst bestimmtere Stufe hebt.
Im Westen entwickelt sich die Wachstumskrise unter anderen Bedingungen: Hier sind die Strukturen traditioneller Grundversorgung, einschließlich der darin enthaltenen Strukturen der Selbstversorgung, so gut wie vernichtet. Die Grundversorgung ist als Arbeitslosengeld, Krankengeld, Sozialhilfe, Rente usw. vollkommen an den Staat übergegangen und dies im Unterschied zur russischen, bzw. sowjetischen Entwicklung nicht über Vergütung, die an unmittelbare Arbeit gekoppelt ist, sondern als individuelle Zuwendung vom Staat. Eine unmittelbare Beziehung der Empfänger oder Empfängerinnen von Sozialleistungen zu einer Gemeinschaft, aus deren Tätigkeit und aus deren Fonds sie ihre Leistungen erhalten, besteht nicht mehr. Das bedeutet, die Einführung eines Grundeinkommens, das den Menschen ohne Bedingungen von staatswegen ausgezahlt wird, entlässt die Menschen in eine Freiheit, die allein durch den Staat als Organisator definiert und kontrolliert wird. Hier sehe ich ein Problem, wenn die Einführung eines Grundeinkommens nicht mit der Entwicklung von neuen Gemeinschaftsstrukturen verbunden wird, die den Einzelnen davor schützen, zum manipulierbaren Objekt eines Staates zu werden, der nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich alle Kräfte der Gesellschaft auf sich konzentriert.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Grosny, Naltschik usw.?

Am 13.10. 2005 wurde die Stadt Naltschik in Südrussland Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen islamistischen Kämpfern und russischen Truppen; Es war der größte Zwischenfall seit der Katastrophe von Beslan, unterschied sich aber von den Ereignissen von Beslan in einem entscheidenden Punkt: Es gab keine Geiselnahme, sondern offene Kämpfe. 50 bis 80 Angreifer lieferten sich Gefechte mit ca. 1000 russischen Uniformierten, Ergebnis: 12 tote Zivilisten, 35 tote Uniformierte, die Angreifer fast aufgerieben. Russische Insider weisen darauf hin, dass die russischen Militärs vorher von dem bevorstehenden Überfall informiert waren, auch Truppen zusammengezogen hatten, aber von der Wucht des Angriffes überrascht waren, der an mehreren Stellen zugleich vorgetragen wurde. Der Angriff war offenbar gut vorbereitet; selbst Handys funktionierten nicht mehr.

Ein Sinn der Aktion nicht zu erkennen. Die Kommentare gehen in alle Richtungen. Die einen erklären, der islamistische Brand habe nach Inguschetien und Dagestan nunmehr auch die kleine Republik Kabardino-Balkarien erreicht. Andere, wie der Leiter des „Zentrums für Strategische Studien“ von Religion und Politik der modernen Welt“ wiegeln ab: Die Kämpfe in Naltschik seien „kein Aufstand von Extremisten, sondern Versuche der örtlichen Eliten, die mit den neuesten Ernennungen in der Republik unzufrieden seien, die Lage zu destabilisieren und auf diese Weise ihre Privilegien wieder zurückzubekommen, bzw. neue zu Erhalten“ (Russland.ru, 14.10.2005) Clanstruktur und extreme Armut seien der Nährboden für den islamischen Radikalismus. Während die Clans gegeneinander kämpften, würden Bombenexplosionen und Morde den Wahabiten zugeschoben. Amtsmissbrauch der moskautreuen „Silowiki“, also der Moskauer Zentralisten, beschere den Islamisten neue Anhänger, die zu den ungeheuerlichsten Terrorakten bereit seien.

Andere Kommentatoren konzentrieren sich schon seit längerem auf einen sich angeblich ausbreitenden „Kampf der Kulturen“ im gesamten Kaukasus. Tatsächlich häufen sich in letzter Zeit, speziell seit der blutigen Geiselnahme in Beslan, Berichte über Zusammenstöße zwischen Volks- und Religionsgruppen, die vorher jahrelang vielleicht nicht gerade freundschaftlich, aber doch ruhig miteinander gelebt haben.

Berichte dieser Art hört man nicht nur aus den Grenzgebieten, sondern auch aus den bisher eher ruhigen Gebieten Südrusslands. Der Tschetschenische Brand, würde das bedeuten, droht sich auf den ganzen Süden Russlands auszubreiten. Berichte über Proteste gegen die Sozialpolitik der russischen Regierung, die die bisherigen Fürsorgeprivilegien durch ein an westlichen Modellen orientiertes System antragspflichtiger Sozialhilfe ersetzen will, und Horrormeldungen von rassistischen Übergriffe aus den Metropolen St. Petersburg, Moskau und anderen Zentren, denen die Staatsmacht nichts entgegensetze, ergänzen dieses tiefschwarze Bild der gegenwärtigen russischen Entwicklung. Das Tschetschenische Geschwür, so einige Kommentatoren, habe die Gesellschaft erfasst. Der kollektive Wahnsinn mache sich breit. Meldungen wie die, das Komitee der „Mütter von Beslan“ habe sich einem Wunderheiler anvertraut, der verspreche, die Toten von Beslan wieder zu erwecken, und dieser Mann finde im Lande rasanten Zuspruch, gehe sogar daran, für die kommende Wahl eine oppositionelle Partei gründen zu wollen, füttern eine solche Sichtweise, nach welcher der tschetschenische Konflikt nur noch als Ausbruch fundamentalistischen Wahnsinns zu begreifen wäre, dem allein mit einem Gegenwahnsinn beizukommen sei.

Auf der anderen Seite stehen jene Kräfte, die den Wahnsinn mit Methode einzudämmen versuchen: am 27.11.2005 soll in Tschetschenien – wieder einmal – gewählt werden. Nach der Wahl soll eine Abgrenzung der Vollmachten zwischen dem Zentrum und der Republik erfolgen. Der derzeitige, nach Moskau orientierte Präsident Alu Alchanow, der dem 2004 ermordeten Vorgänger Kadyrow im Amt folgte, bemüht sich Zuversicht zu verbreiten: Schwere Straftaten, insbesondere Entführungen seien von 2004 auf 2005 um die Hälfte zurückgegangen. Der Leiter des zentralen tschetschenischen Wahlkomitees versprach „offene und ehrliche“ Wahlen und lud die EU zur Wahlbeobachtung ein; 38% der Bevölkerung seien laut neuesten Umfragen für die Wahl, die notwendigen 25% Wahlbeteiligung werde man auf jeden Fall erreichen. 291 Personen haben sich als Direktkandidaten beworben, unter ihnen u.a. auch drei Weggefährten des ersten Präsidenten Dudajew und seines Nachfolgers Machdow. Acht Parteien hatten sich bis Anfang November zur Teilnahme registrieren lassen, u.a. oppositionelle Kräfte wie die „Republikanische Partei“ Wladimir Ryschkows, oder auch „Unsere Wahl“ der radikalliberalen Irina Chakamada. EU-Diplomaten reisten soeben an; zu ihrem Besuchsprogramm gehörte eine Schule, eine Universität und die zentrale Walkommission. Danach trafen sie sich mit der republikanischen Führung.

Es scheint als habe sich die Lage allem täglichen terror zum trotz relativ stabilisieret: Die moskautreue tschetschenische Führung stellte Antrag in den Kreis der wirtschaftlichen Sonderzonen Russlands aufgenommen zu werden, die seit Mitte Juli in eingerichtet wurden. Mit einer Übernahme der Lizenz der Ölfirma Rosneft an die Firma Grosneftegas könnten die Wirtschaftsprobleme gelöst werden, so der Präsident Alu Alchanow: „Das tschetschenische Erdöl bringt jährliche Einnahmen in Höhe von rund 450 Millionen Euro, während Tschetscheniens Etat 300 Millionen Euro beträgt“, erklärte er. Im Jahr 2006 soll der Prozess der die Entschädigungszahlungen für verlorenen Wohnraum abgeschlossen werden. Bis zum 1. Dezember will man eine Liste des zerstörten Wohnraums erstellen. Laut Alchanow gibt es heute 130.000 Anträge auf Entschädigung. Alchanow teilte auch mit, dass bereits im ersten Quartal 2006 der Flugverkehr von Grosny nach Moskau wieder aufgenommen werde. Am 7.11.2005 soll ein Rockfestival unter dem Namen „Phönix, Wiederkehr zum Leben“ in der Stadt Gudermes stattfinden. Die EU versprach im April eine Wirtschaftshilfe von 22,6 Mio Euro. Die UNESCO stellte im Juli 2005 600.000 Dollar für Bildungsprojekte in Tschetschenien bereit.

Die russische Führung versucht Zeichen des guten Willens zu setzen. Erstmals gab ein russischer Regierungsbeamter, der Vorsitzende des pro-russischen tschetschenischen Staatsrates Taus Dschabrailow, die Zahl der Toten in der tschetschenischen Zivilbevölkerung mit 160.000 an, verschwieg auch die mehrere hunderttausend Menschen nicht, die in andere Gebiete geflohen sind und heute in der tschetschenischen Diaspora leben. Der Bombenterror gehöre inzwischen zum Alltag, aber offene Kämpfe gebe es kaum. Die Zahl der Kämpfer gab er mit 1000 an. Der Beauftragte des Kreml für den Kaukasus, Generalgouverneur Kosak, kritisierte seine Untergebenen mit der bemerkenswerten Vorhaltung, Banditen dürfe man nicht mit Methoden des Banditismus bekämpfen. Ein herausragendes Zeichen setzte die russische Regierung mit ihrer Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC), an der sie heute mit Beobachterstatus teilnimmt. Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“

Die Geiselnahme von Beslan ein Jahr später wurde, wie Vertreter des russischen Außenministerium anlässlich des bevorstehenden Jahrestages dieses Ereignisses im Jahre 2005 formulierten, zur „Wasserscheide“ im Prozess der Annäherung Russlands an die OIC, seitdem verstehe die islamische Welt Russlands Position in Tschetschenien besser und man strebe eine „schnellstmögliche gemeinsame politische Lösung“ an. , so u.a. bei einer Konferenz in Saratow im September dieses Jahres.

Wie immer man zur Politik Russlands in der Frage Tschetscheniens steht, auch wenn man die von der jetzt anstehenden Wahl eine ebensolche moskautreue Farce erwartet wie die bisherigen, auch wenn man wie viele russische Kommentatoren der Meinung ist, Wladimir Putin lasse diesen Krieg nur noch führen, weil er sich sonst als starker Mann selbst demontieren müsse, so ist doch eins offensichtlich: In der Hinwendung zur OIC wird in der Tat eine „Wasserscheide“ sichtbar und zwar nicht nur für die russische Innenpolitik, sondern darüber hinaus für die internationalen Beziehungen im großen Spiel der Neuordnung der heutigen globalen Kräfte. Parallel zur Annäherung Russlands an die Organisation Islamischer Staaten fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.

Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines United Energy Systems zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem von seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Von einer gemeinsamen Anti-Terror-Koalition ist spätestens keine Rede mehr, seit der US-Fernsehsenders ABC entgegen Protesten Moskaus im Mai 2005 ein Interview mit dem Terroristenführer Schamil, Bassajew ausgestrahlt hatte und das russische Außenministerium die Sendung als einen „klarer Fall von Beihilfe zur Terrorismus-Propaganda“ kritisierte. Die USA wiesen die Kritik als Eingriff in die Meinungsfreiheit zurück. Dass hier mit Maßstäben gemessen wird, die für die USA selbst nicht gelten, ist offensichtlich. Und klar ist auch, dass sich die Geister hier scheiden: Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland: Erneuerung á la Chodorkowski?

Michail Chodorkowski, für die einen ein Symbol des nach-sowjetischen Raubtier-Kapitalismus, für die anderen ein Märtyrer der Menschenrechte, hat sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort gemeldet. Bei aufmerksamem Lesen der russischen Presse kann man zugleich erfahren, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Veröffentlichung den jetzigen Präsidenten Russlands an: Putin stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus Yukos gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von Yukos zeige doch, dass eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Widereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.
Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen Yukos-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den Yukos-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus?
Man erinnere sich: Ein Jahr zuvor, schon in Haft, hatte Chodorkowski öffentlich mit dem Liberalismus der Jelzin-Ära abgerechnet: „Für viele, wenn auch nicht für alle Unternehmer, die in den neunziger Jahren ihr Vermögen gemacht haben, ist Russland nicht ihre Heimat, sondern ein unbeschränkter Jagdgrund“, schrieb Chodorkowski damals zum Erstaunen aller, die ihn als den effektivsten unter diesen Jägern erlebt hatten, „ihre Hauptinteressen und Lebensstrategien sind dabei mit dem Westen verknüpft. Für mich ist Russland meine Heimat. Hier möchte ich leben, arbeiten und sterben, und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und auf mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit, in Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber zu spät als nie.“
Nur ein Jahr später im September 2005 prognostizierte Chodorkowski für Russland eine linke Wende. Bei „ehrlichen Wahlen“, werde die Linke „unausweichlich“ gewinnen. Chodorkowski riet den oppositionellen Kräften von den Ultra-Liberalen bis hin zur vaterländischen Linken sich zu einer sozialdemokratischen Koalition unter Führung der KP zusammenzufinden. Angesichts der Umstände, unter denen Chodorkowski seine Positionen nunmehr konkretisiert, darf man annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.

 

 

Kai Ehlers

Organisation und Verteilung in der Grundeinkommensgesellschaft oder auch: Begriffe neu denken

Die Debatte um die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft hat eine neue Intensität erreicht. Dabei rückt die Forderung nach Einführung eines Grundeinkommens als mögliche Lösung des Problems zunehmend in den Vordergrund. Der Kongress, der im Oktober 2005 in Wien zu diesem Thema stattfand, hat Menschen aus verschiedenen Lagern zusammengeführt. Das wundert nicht, ist die Aktualität des Themas Grundeinkommen doch so offensichtlich wie die dahinter stehende Krise der Gesellschaft und die daraus resultierende aktuelle Regierungskrise . Auch zur ökonomischen Machbarkeit des Grundeinkommens und den aus seiner Einführung zu erhoffenden Impulse der Entbürokratisierung sind bereits reichlich Anstöße gegeben worden, nicht zuletzt der interessante Vorschlag, das benötigte Finanzvolumen aus einer einzigen, nämlich der Konsumsteuer zu gewinnen. Das muss an dieser Stelle nicht alles wiederholt werden Das Gleiche gilt für Kritiken, die die Forderungen nach einer Einführung des Grundeinkommens als „falschen Traum vom Schlaraffenland“ verwerfen. Ohne Umschweife kann dieser Text sich daher auf die Frage konzentrieren, unter welchen Umständen die Einführung eines Grundeinkommens einen Sinn hätte, wie eine Gesellschaft mit eingeführtem Grundeinkommen konkret aussehen könnte und wie dorthin zu gelangen wäre.

Konkret zu werden heißt natürlich nicht konkretistisch zu werden, deshalb sei trotz scheinbarer Klarheit doch noch Einiges vorausgeschickt: Armutsbekämpfung in der gegenwärtigen Situation des Sozial-Abbaus ist wichtig, unerlässlich und schon aus Gründen der Solidarität geboten, aber Armutsbekämpfung allein, selbst der Kampf für Umverteilung, wenn sie bei der bloßen Forderung nach gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums stehen bliebe, wäre dazu verurteilt, die Verhältnisse zu stabilisieren, die für die Krise ursächlich sind. Die Rede ist von der so genannten Wachstumsgesellschaft, die heute allseits als Ausweg aus der Krise beschworen wird, denn klar ist ja, dass sich hinter der Ideologie von der Wachstumsgesellschaft nichts anderes verbirgt als die ungebremste Selbstverwertung des Kapitals. In dieser Gesellschaft dient die Produktion nicht mehr der Befriedung von Bedürfnissen, sondern Bedürfnisse werden produziert, um die Selbstverwertung des Kapitals zu ermöglichen, während eine zunehmende Anzahl von Menschen als überflüssig aus dem Produktionsprozess und damit aus der Gesellschaft hinaus gedrängt werden. Der Staat, seit der französischen Revolution ohnehin mehr und mehr zum geschäftsführenden Ausschuss der Wirtschaft geworden, wird heute in zunehmenden Maße zum bloßen Handlanger dieses Prozesses. Das viel beschworene Wachstum, weit entfernt davon eine Lösung der Krise sein zu können, erweist sich als deren Quelle. Wir befinden uns in einer Wachstumskrise. Eine Überwindung dieser Krise, die zu einem zukunftsfähigen sozialen Organismus führen soll, resultiert daher nicht aus einer staatlich garantierten Grundsicherung allein, mag sie nun Mindestlohn, Bürgergeld oder bedingungsloses Grundeinkommen genannt werden. Eine zukunftsfähige Lösung muss die Diktatur der Selbstverwertung des Kapitals mit seiner Ideologie des Wachstums um des Wachstums willen grundsätzlich hinter sich lassen, wenn sie nicht zu einer allgemeinen Almosenzuteilung verkommen soll, die die bestehenden Verhältnisse fixiert, statt sie zu verändern. Eine soziale Struktur muss entstehen, die die Schere zwischen dem Anwachsen der Produktivität in der industriellen Produktion und einer relativ dazu sinkenden Zahl bezahlter Arbeitsplätze so organisiert, dass die frei werdenden Kapazitäten der Arbeit mehr und nicht weniger Freiheit und Lebensqualität bringen und zwar für die gesamte Gesellschaft nicht nur für einzelne ihrer Glieder. Eine solche Entwicklung aber geht über bloßes Wachstum, wie es von den herrschenden Kreisen heute gepredigt wird, hinaus; sie zielt auf Verhältnisse, in welcher Staat und Gesellschaft nicht mehr identisch sind mit einer Produktion, welche die materiellen Grundlagen und traditionellen Fähigkeiten zur Selbstversorgung zerstört und sie durch industrielle Produkte ersetzt, sondern in der auf dem Niveau des heutigen technologischen Standes eine neue Symbiose von Produktion und gemeinschaftlicher Selbstversorgung sowie deren Vermittlung miteinander entsteht und bewusst gefördert wird. Damit knüpft die heutige Entwicklung an vorindustriellen Verhältnissen an, die sie auf dem Niveau der technisch entwickelten Moderne wieder aufgreift. Generell gesprochen, verwirklicht sich darin die ökologische Orientierung unserer Zeit.
Konkret werden in der Frage der möglichen Einführung eines Grundeinkommens bedeutet deshalb zunächst einmal die Beziehung von Wirtschaft, Staat und geistiger Orientierung neu zu denken, zweitens bedeutet es, gezielt nach Keimen von Alternativen zu suchen und drittens mögliche Schritte jetzt und hier gemeinsam setzen.

Begriffe neu denken

Zunächst ein paar Klarstellungen zur Wirtschaft, die noch einmal benennen, was eigentlich schon längst bekannt ist, aber doch immer wieder übersehen wird: Die Krise der Lohnarbeit ist kein Betriebsunfall des Kapitalismus; Lohnarbeitslosigkeit ist dem Kapitalismus immanent; sie ist eine Bedingung seines Funktionierens, insofern die Lohnarbeitslosen als industrielle Reservearmee den Preis der Arbeitskraft als Ware drücken. Die neuere Entwicklung in Deutschland stellt zunächst nur diesen Normalzustand des Kapitalismus wieder her, der durch die deutsch-deutsche Ausnahmesituation verdeckt war. Darüber hinaus jedoch ist das aktuelle Ausmaß der Lohnarbeitskrise ein Signal dafür, dass die Entwicklung des Kapitalismus ein neues Stadium erreicht hat. Sie lässt erkennen, dass durch die Zunahme der Produktivität über die notwendige Arbeit hinaus frei verfügbare Arbeits-Potenzen entstehen, die für die soziale und moralische Entwicklung der Gesellschaft genutzt werden können – wenn die Lohnarbeitslosen nicht als Gefangene gehalten, sondern frei gelassen werden. Man mache sich doch noch einmal klar: Unsere deutsche Gesellschaft ist heute in der Lage, sich fünf, die statistisch versteckten mitgerechnet, sieben Millionen Lohnarbeitslose zu leisten, ohne dabei zusammenzubrechen, nicht gerechnet diejenigen, die ohnehin auf den Arbeitsämtern nicht erfasst sind wie Hausfrauen, Alte, Kinder usw. Das ist ein ungeheueres Potential, das der Gesellschaft in pflegerischer, sozialer und kultureller Weise zugute kommen, auch in den notwendigen ökologischen Umbau und in aktive internationale Projekte eingehen könnte, wenn die Gesellschaft, heute repräsentiert durch den Staat, bereit wäre, die Lohnarbeitslosen frei zu lassen. Die Forderung nach der Einrichtung eines Grundeinkommens für alle weist in die richtige Richtung; es muss aber klar gesagt werden, dass die damit verbundene Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf eine zwar tendenzielle, aber doch grundsätzliche Umwälzung der gesellschaftlichen Organisation hinausläuft. Darüber hinaus muss der Empfang eines Grundeinkommens mit einer Anbindung des Einzelnen an einen sozialen Körper gekoppelt sein, über die Grundabsicherung sich mit der nach wie vor notwendigen Lohnarbeit, mit den neu zu entwickelnden Elementen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und der Versorgung anderer in sozialer Verantwortung verbinden kann. Dafür braucht es eine andere soziale Grundorganisation als die heute herrschende.

Im Kern bedeutet das, den Staat neu zu denken: Dabei geht es nicht nur um weniger Staat, wie es sich bei Einführung eines Grundeinkommens aus dem Abbau der gegenwärtigen Reglementierung der sozial Bedürftigen, insbesondere der Lohnarbeitslosen, aus der Vereinfachung des Steuersystems usw. erwartungsgemäß ergeben könnte, vielmehr geht es um einen anderen Staat. Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft ist ja zugleich die Krise des Sozialstaates, der die Versorgung seiner Mitglieder nicht mehr garantieren kann, obwohl die Produktivität des Wirtschaftslebens es mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit erlauben würde; stattdessen wandelt sich der Staat zunehmend zum Instrument einer privilegierten Minderheit, die das Leben einer wachsenden Zahl von Menschen einschränkt, illegalisiert und sogar existenziell gefährdet. Statt eines Rückzuges des Staates, der durchaus zu begrüßen wäre, wenn es darum ginge, autoritäre Auswüchse des Fürsorgestaates bismarckscher, faschistischer oder auch sowjetischer Prägung weiter abzubauen, erleben wir den Ausbau des Staates zu einem sich tendenziell totalisierenden Sicherheitsstaat, der privilegierte Minderheiten vor dem Protest einer marginalisierten und unterprivilegierten Mehrheit im nationalen, im europäischen und globalen Rahmen schützen soll. Der Forderung nach einem allgemeinen Grundeinkommen muss daher der ergänzende Einsatz für einen Funktionswandel des Staates zur Seite stehen. Zu fordern ist eine Entstaatlichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, der Abbau repressiver Kontrollen, Dezentralisierung und Förderung von Selbstorganisation, Unterstützung von Selbstbestimmung und Selbstversorgung. Am Ende eines langen Weges kann so ein anderer Staat stehen, auch wenn die zur Zeit herrschenden Kräfte dies mit Gewalt zu verhindern trachten werden.

Damit sind wir beim dritten Element, das es neu zu denken gilt, dem ethischen Um- und Aufbruch: Die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft und die Krise des Sozialstaats verbinden sich in der Sinnkrise der modernen Gesellschaft, die sich daraus ergibt, dass viele traditionelle ethische Grundsätze keine Verbindlichkeit mehr haben und noch vorhandene ethische Schutzräume durch die Globalisierung der Kommunikation aufgerissen werden. Der aktuelle Terrorismus – antistaatlicher wie staatlicher – ist der schärfste Ausdruck dieser Entwicklung. Er fordert durch sein wütendes Bestehen auf Vorhandenem, herkömmlichen Traditionen wie herrschenden Verhältnissen, eine ethische Neubesinnung heraus, die von bisherigen Leitsätzen der Art: ‚Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst’ zu einem ‚Liebe Deinen Nächsten und die Welt um Dich herum wie Dich selbst’ fortschreitet. Das neue Verständnis entspricht dem Stand des heutigen globalen Bewusstseins von der Erde als lebendigem Teil der kosmischen Ordnung. Für die Einbeziehung solcher ethischer Fragestellungen in die Suche nach Alternativen muss man heute öffentlich eintreten, um die in der Erziehung, in der Bildung, in der Wissenschaft, ebenso wie in der Politik geltenden staatsideologischen Tabus und die heute übliche platte Ökonomisierung des Lebens aufzubrechen und den wirtschaftlichen sowie den staatlichen Kategorien die ethischen gleichberechtigt zur Seite zu stellen.

In der Konsequenz bedeutet dies alles, dass Wirtschaft, Staat und geistige Orientierung der Gesellschaft wie die des Einzelnen in eine neue Beziehung zueinander gebracht werden müssen. Es darf nicht einem dieser drei Elemente gesellschaftlichen Seins die Priorität vor den anderen beiden eingeräumt werden, bzw. weiter eingeräumt bleiben, wie es sich in unseren heutigen Gesellschaften darstellt, die entweder von der Wirtschaft oder vom Staat oder vom Klerus in hierarchischer, autoritärer, nicht selten diktatorischer Weise dominiert werden. Es muss vielmehr einer Entwicklung zum Durchbruch verholfen werden, in der die drei genannten Elemente in einen gleichberechtigten Austausch bei gegenseitiger Kontrolle kommen – wobei klar ist, dass keins der drei Elemente – Wirtschaft, Staat, geistige Orientierung – in reiner Form existiert. Elemente des einen sind immer auch in den anderen enthalten, aber es muss ein gesellschaftlicher Organismus angestrebt werden, in dem sich die drei Elemente in einem dynamischen Gleichgewicht halten.
Die Form, in der dieses Gleichgewicht an der Basis der Gesellschaft EINGEÜBT werden kann, ist die selbst gewählte Versorgungsgemeinschaft, in welcher industrielle Produktion und gemeinschaftliche Selbstversorgung, Lohnarbeit und frei bestimmte eigene Tätigkeit, Geld- und Tauschverkehr, individuelle und gemeinschaftliche Emanzipation auf dem Niveau der heutigen technischen Entwicklung eine Symbiose eingehen und sich im Konsens der Mitglieder der Gemeinschaft miteinander ausgleichen können. Die Versorgungsgemeinschaft schließt dabei alle bisher entwickelten Formen des Zusammenlebens ein und hebt sie auf die Ebene einer arbeitsteilig organisierten gemeinsamen Versorgungs- und Lebensbasis. Das schließt Beziehungen zwischen Stadt- und Landbewohnern mit ein, ebenso wie die pflegerischen, die kulturellen, die künstlerischen und die wissenschaftlichen Arbeiten, die unter solchen Umständen nicht mehr dem Lohndiktat allein und tendenziell überhaupt nicht mehr unterworfen sind, sondern in wachsendem Umfang aus der Kapazität frei verfügbarer Arbeitskraft einer Gemeinschaft entwickelt werden können. Form und Größe der Versorgungsgemeinschaften können sehr unterschiedlich sein; es gibt Unter- und Obergrenzen. Darüber ist gesondert zu reden. Letztlich sind sie experimentell zu ermitteln; das gilt auch für die Netzwerke, in denen die Gemeinschaften sich miteinander organisieren.

An den heutigen Staat ist die Forderung zu stellen, die Bildung solcher selbst gewählter Versorgungsgemeinschaften zu unterstützen, indem die Auszahlung des personengebundenen Grundeinkommens über die gemeinsame Ökonomie der Versorgungsgemeinschaften abgewickelt wird statt – wie jetzt – das Zusammenleben mit Partnerinnen oder Partnern, die Lohneinkommen haben, zum Grund eines Ausschlusses aus der sozialen Unterstützung zu machen und die Bürokratie zum Kontrolleur über die Einhaltung dieser Bestimmungen zu ermächtigen. Über die Forderung nach aktiver Unterstützung von Gemeinschaften kann auf eine schrittweise Verwandlung des Staates in Richtung seiner neuen Funktionen als Förderer eines Netzwerkes von kleinen und größeren Versorgungsgemeinschaften hingewirkt werden. Wer keiner Versorgungsgemeinschaft angehören möchte, muss sich selbst um die Auszahlung seines Grundeigentums kümmern. Niemand soll jedoch zur Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft gezwungen werden, nur weil er sonst vom Bezug eines Grundeinkommens ausgeschlossen wäre; es ist aber offensichtlich, dass eine Versorgungsgemeinschaft mit der Summe der Grundeinkommen aller ihrer Mitglieder wirtschaftlich und von der Lebensqualität her besser dasteht als eine Einzelperson.

Ergänzend zur finanziellen Form des Grundeinkommens wäre jedem Mitglied der Gesellschaft im Übrigen ein unkündbares Nutzungsrecht an Grund und Boden bei der Geburt mitzugeben, das gegen Grund und Boden an anderen Orten (in anderen Gemeinschaften oder zur Bildung von Gemeinschaften, auch Stadt-Land-Beziehungen) getauscht, aber nicht gegen Geld oder Ware veräußert werden kann. Einzelpersonen werden nie mehr Land zur Verfügung haben als ihr ursprüngliches Nutzungsrecht ihnen mitgibt; ihr Grundrecht befähigt sie zur Unterhaltung eines Stadtgartens oder einer gärtnerischen Parzelle auf dem Lande; landwirtschaftlich nutzbare Großflächen ergeben sich dann aus der Bildung von Gemeinschaften, wobei die Form der Gemeinschaft sehr variabel, auch ortsübergreifend (z.B. Stadt/Land) sein kann. Entscheidend ist allein, dass die Versorgungsgemeinschaft eine Symbiose aus Lohnarbeit und kollektiver Selbstversorgung herstellt, die sich im Rahmen der Gemeinschaft so ausgleichen, dass die entstehenden freien Kapazitäten den Einzelnen wie der Gemeinschaft zugute kommen.

Nach Keimen von Alternativen bewusst und gezielt suchen

Keime des oben skizzierten sozialen Organismus sind heute bereits allseits erkennbar. Sie können sich zu zukunftsfähigen Strukturen entwickeln, wenn der spontane Prozess bewusst ergriffen und gefördert wird. Mehrere Entwicklungsschübe sind bereits zu unterscheiden:
– In der ersten großen Krise nach dem 2. Weltkrieg (zwischen 1960 und 1970) entstanden neue kommunale Lebensformen im Zuge der aus den USA kommenden New age, danach in der europäischen APO- und Kommunebewegung. Nicht wenige der damaligen Kommunen haben physisch bis heute überlebt: ihr eigentliches historisches Ergebnis war aber vor allem der geistige Impuls für eine andere Lebensweise. Dies war interessanterweise nicht nur in im Westen so, sondern hatte seine Entsprechung auch im „sowjetischen Frühling“.
– In der zweiten Krise, die aus dem Zusammenbruch, besser gesagt, der Öffnung des sozialistischen Innenraums, noch genauer des sowjet-sozialistischen Fürsorgestaates resultierte, ging ein weiterer Impuls der Erneuerung für die globale Gemeinschaftsbildung aus. Widersprüchlich in sich selbst ging dieser Impuls zunächst als Liberalisierungs-, Individualisierungs- und Privatisierungsschub um die Welt und tut dies immer noch. In seinem Gefolge fördert er jedoch zunächst im russischen Raum, aber darüber hinaus überall in der Welt die Bildung von Überlebens- und Notgemeinschaften, die jenseits von Sozialismus oder Kapitalismus eine Symbiose von Produktion und Selbstversorgung herausbilden. Die heutige russische Entwicklung bietet die anschaulichsten Beispiele für diese Entwicklung.
– Inzwischen kommen wir in die dritte Phase, in der der Sozialstaat westlichen Typs in einen Sicherheitsstaat überzugehen droht, der die Welt aufteilt in die, die von ihm versorgt und die, die von ihm ausgegrenzt werden. (siehe Hartz IV, Nordafrika etc. pp.) Im Gegenzug entstehen Ansätze zu Not- und Überlebensgemeinschaften, die nach alternativen Wegen der Versorgung und des Zusammenlebens suchen.

Die drei genannten Bereiche sind historisch voneinander getrennt; die Trennung hat zu eingeschränkter Wahrnehmung der Generationen voneinander und auch der Gruppen innerhalb der Generationen geführt. In der Folge existieren Notgemeinschaften, Kommunen, Versorgungsgemeinschaften aus den drei Phasen und aus verschiedenen Gegenden und Ländern unverbunden neben- und nacheinander – in Deutschland, in Europa wie auch global. Zum Einen ist das Ausdruck ihres basisorientierten, informellen, nicht-staatlichen Charakters und insofern gut und richtig, weil es dem herkömmlichen Staatsverständnis eine plurale Realität der Selbstorganisation von neuen Gemeinschaften entgegensetzt, andererseits ist die neue soziale Realität, die sich in den Gemeinschaftsbildungen andeutet, als eine die Zukunft gestaltende Kraft noch nicht zum öffentlichen Bewusstsein gekommen. Dieser Schritt steht jetzt an; die aktuelle Krise fordert dazu auf.
Ein wesentliches Element aktueller Aktivitäten dürfte die bewusste Wahrnehmung der spontan sich entwickelnden Ansätze, deren gezielte Vernetzung miteinander und die Darstellung in der deutschen, der europäischen und darüber hinaus in der internationalen Öffentlichkeit sein. Die Debatte um die mögliche Einführung eines Grundeinkommens gewinnt in diesem Zusammenhang ihre Bedeutung. Ohne diesen Zusammenhang, der ja auch beinhaltet, dass bisherige Abhängigkeiten vom repressiven Fürsorgestaat in operativer Weise Schritt für Schritt durch selbst bestimmtes Handeln abgebaut werden, besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft durch die Einführung eines Grundeinkommen in eine Ansammlung von passiven Individuen zerfällt, die nur noch durch den Empfang der Staatsknete zusammengehalten werden. Das aber liefe auf eine Fortsetzung der jetzigen Verhältnisse unter wachsender staatlicher Kontrolle hinaus, in der sich wirtschaftliche, staatliche und politisch-ideologische Definitionsmacht, genereller gesprochen geistige Führung zu einem Monstrum der Herrschaft verbänden, hinter dem Orwells Großer Bruder als Zwerg zurückbliebe.

Eine besondere Rolle, dies sei zum Schluss noch einmal ausdrücklich betont, spielen die nach-sozialistischen, insbesondere die russischen Formen von Gemeinschaftsbildung, weil sie – im Maßstab eines ganzes Landes, genauer, der Hälfte der vorher systemgeteilten Welt – nicht mehr sozialistisch, aber auch nicht mehr kapitalistisch sind – sondern über diese Polarisierung hinausgehen. Dabei können sie zudem noch auf Gemeinschaftsstrukturen zurückgreifen, die über hunderte von Jahren gewachsen sind. In der daraus resultierenden Entwicklung zeigt sich die entstehende neue Symbiose von Industrieproduktion und modernen Formen der Selbstversorgung am klarsten; in ihr wird ein Zukunftspotential erkennbar, das sich in anderen Ländern erst andeutet, weil dort die Zerstörung der traditionellen Selbstversorgungsstrukturen weiter, teils bis zur fast vollständigen Vernichtung vorangeschritten ist.

Konkrete Schritte

Zum Abschluss vor allem eins: Die Entwicklung der oben skizzierten Gesellschaft ist kein einmaliger gewaltsamer Akt der Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse nach dem Muster früherer Revolutionen. Ein solcher Akt würde nur die Vorzeichen vor den weiter bestehenden Grundverhältnissen ändern. Die Entwicklung vollzieht sich vielmehr als Ergebnis eines grundsätzlichen kulturellen Umdenkens und konkreter Schritte an der Basis des alltäglichen Lebens. Wahrnehmung der spontanen Ansätze zu Alternativen, Learning by doing, Erweiterung der Voraussetzungen durch die Praxis, ständige Überprüfung der Entwicklung durch systematische Analyse des Erreichten bezeichnen dabei die Hauptlinie, an der die Entwicklung sich notwendigerweise ausrichten muss. Im Vordergrund muss dabei die Kritik des Wachstumsdiktats und die sachliche Beweisführung stehen, dass andere als die zur Zeit üblichen Wege der Versorgung und der Organisation des Lebens auf Grundlage der heute gegebenen Produktivität unserer technisch-industriellen Zivilisation möglich sind. Marxistisch gesprochen ist nachzuweisen, dass der erreichte Stand der Entwicklung der Produktivkräfte andere als die bisher geltenden Produktionsverhältnisse nicht nur ermöglicht, sondern sogar fordert; man muss ihnen nur zum Leben verhelfen, dann werden Entwicklungen möglich, die unter der Fessel der alten Verhältnisse undenkbar schienen. Das gilt vor allem für die neue Symbiose von Produktion und Selbstversorgung und die damit verbundene Weiterentwicklung der Beziehungen von Wirtschaft, Staat und geistiger Orientierung des Einzelnen in der Gesellschaft.
Unbedingter Bestandteil dieser Orientierung ist daher, im eigenen Handeln die Entflechtung, wie auch die gegenseitige Befruchtung und Kontrolle von Wirtschaft, Staat und geistiger Führung experimentell anzulegen, auszuprobieren und vorzuleben, das heißt, sich selbst auf allen Ebenen, auf denen sich Möglichkeiten dazu bieten, zu Versorgungsgemeinschaften der unterschiedlichsten Art zusammenzufinden, die Symbiose von Lohnarbeit und gemeinschaftlicher Selbstversorgung aktiv zu entwickeln, die entstehenden Gemeinschaften zu vernetzen und Förderungen für die Entwicklung von Gemeinschaften aus den jetzigen staatlichen Strukturen einzuholen.
Die Forderung nach Einführung eines Grundeinkommen muss zudem mit einer unmissverständlichen Kampagne gegen die Illegalisierung der Lohnarbeitslosen verbunden, die Einführung einer ökologisch orientierten Gemeinschaftsethik als Unterrichtsfach in Schulen, Universitäten und sonstigen Bildungsstätten gefordert und gefördert werden. Ignoranz, Diffamierungen, Behinderungen, Störungen, Gegenmaßnahmen, aktive und auch gewaltsame Versuche der Unterbindung der skizzierten Entwicklung seitens der Nutznießer der gegenwärtigen Verhältnisse werden nicht ausbleiben. Antworten darauf müssen, soweit irgend möglich, aus der ethischen Orientierung, durch sachliche, sprich ökonomisch vorführbare Überzeugung und durch die Demonstration von Lebensqualität gegeben werden, die sich aus einer anderen, ökologisch orientierten Organisation des Lebens ergibt, wenn diese andere Organisation glaubhaft werden und die Zahl der Opfer auf dem Weg dorthin so niedrig wie möglich gehalten werden soll. Es gibt noch viel, was konkretisiert werden muss, aber das muss einem nächsten mal überlassen bleiben, wenn einiges schon wieder klarer geworden ist.

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Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung – Gespräche und Impressionen
Verlag Pforte, 100 Seiten, erscheint im April 2005, Preis: 9,50 €

Erotik des Informellen –
Impulse für eine andere Globalisierung
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Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation
Alternativen für eine andere Welt, „edition 8“/ Zürich, ISBN 3-85990-049-8 192 Seiten, Preis: 17 Euro

Kai Ehlers
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Weiterungen zur Frage des Grundeinkommens

Anmerkungen zu einem Text von Katja Kipping und Ronald Blaschke (in Sozialismus Heft 10/2005)

Vielen Dank an Katja Kipping und Ronald Blaschke für ihre Klarstellungen in dem Artikel: „Und es geht doch um… Das Gespenst des Grundeinkommens.“ Was sie gegen die Positionen von Jörg Schindler und Kolja Möller vorbringen, scheint mir weitgehend klar zu sein. Die Debatte um ein „Ende der Arbeit“ ist zwar nicht ganz „selbst erfunden“, wie sie sagen, man findet immer wieder verkürzte Positionen, die schlicht vom Ende der Arbeit sprechen. Es geht aber natürlich nicht um ein Ende der Arbeit, sondern um ein Ende der Lohnarbeit, wie wir sie heute kennen. Das machen sie dankenswerter Weise sehr klar. Angenehme Klarheit schafft auch ihr Rekurs auf die Definition der Arbeit durch Karl Marx, aus der die Differenzierung von Arbeit als stofflichem Austausch mit der Natur und als immateriellem Anteil der Arbeit, die „free activity“ und schließlich die einfache Tatsache hervorgeht, daß der Sinn der Arbeit letztlich darin besteht, den stofflichen Anteil der notwendigen, oft sinnentleerten Arbeit gegenüber der freiwilligen, sinnvollen, auf kulturelle Entwicklung gerichteten so weit wie möglich zu reduzieren, so wie es Götz Werner in seinem Interview in der Stuttgarter Zeitung vom 2.7.2005 aus der Sicht einer Unternehmers paradox, aber klar formulierte, als er sagte, „Aufgabe der Wirtschaft (sei) es, die Menschen von der Arbeit zu befreien.“ Klar ist, daß auch er hier den Teil des stofflichen Austausches, also, die heute übliche Lohnarbeit meint.

Aus all diesen Voraussetzungen folgt, auch darin ist Katja Kipping und Ronald Blasche zuzustimmen, daß eine emanzipatorische Reformpolitik unbedingt in die Richtung einer Reduktion der notwendigen Arbeit, in Richtung auf eine weitgehende Befreiung aller Individuen von der fremdbestimmten Lohn-/Erwerbsarbeit und auf ein Recht aller auf free activity zielt – natürlich, wie sie schreiben, auf der Grundlage des unbedingten Rechts auf die Teilhabe am materiellen gesellschaftlichen Reichtum. Alles klar – die Produktivität wächst, die Zahl der benötigten Arbeitskräfte sinkt, wie Jeremy Rifkin es formuliert; anders gesagt, eine abnehmende Zahl von Lohnarbeitsplätzen kann eine wachsende Zahl von Menschen versorgen.

Zu ergänzen ist dabei natürlich, um keine Nebenfronten aufzumachen, zugleich aber schon hier auf ein bisher im Rahmen der Debatte um das Grundeinkommen meiner Kenntnis nach nicht erörtertes Problem aufmerksam zu machen, daß die Zahl der Arbeitskräfte relativ zur steigenden Produktivität fällt, nicht etwa absolut. Angesichts der exponentialen Zuwachsrate der Weltbevölkerung nimmt die Zahl der Lohnarbeiter weiterhin absolut zu. Die Tatsache, dass ein Lohnarbeits-, man könnte auch sagen Maschinenplatz, eine wachsende Zahl von Menschen versorgen kann, ist eine ebenso absolute Tatsache. Ob. wann, unter welchen Bedingungen und mit welchem Ergebnis es soweit kommt, daß die Produktivität auch das absolute Wachstum der Zahl der Lohnarbeiter übersteigt, wo sich also Produktivität und Wachstum der Weltbevölkerung absolut überschneiden, ist aber bisher nicht absehbar. Aus dieser Unsicherheit resultieren eine Reihe von Fragen, die später noch erörtert werden sollen.

Richtig ist, dass das Märchen von der Vollbeschäftigung nur eine Illusion ist, sie war eine vorübergehende Ausnahmerscheinung des geteilten Deutschland. Dabei müssen West- und Ost-Deutschland noch einer gesonderten Betrachtung unterzogen werden, denn im Westen bricht eine andere Illusion zusammen als im Osten. Nach Beendigung der Sondersituation aber treten die Grundgesetze kapitalistischer Entwicklung auch in Deutschland wieder in Erscheinung und dies auf Grund der vorherigen Sondersituation mit besonderter Schärfe: Jetzt müssen Lohnarbeit und soziale Versorgung neu organisiert werden, so dass weniger Lohnarbeit auf mehr Menschen verteilt wird, anders gesagt, so dass der einzelne Mensch mit weniger Lohnarbeit trotzdem versorgt ist und Zeit gewinnt für andere, freiere Formen der Arbeit als die des unmittelbaren Stoffwechsels mit der Natur.

Das Stichwort: staatlich garantiertes Grundeinkommen ist eine logische Konsequenz aus dieser Entwicklung. Entsprechend hoch ist die Zustimmung, die dieser Gedanke zur Zeit findet. Aber reicht der Ruf nach staatlicher Versorgung? Ökonomisch gesehen, bedeutet die beschriebene Entwicklung ja erst einmal nicht mehr als ein Fortschreiten vom individuellen zum kollektiven Lohnarbeiter, wenn man den stofflichen Arbeitsprozess betrachtet, der an einem Werkzeug, bei weiterer Entwicklung einer Maschine nicht von einem, sondern von zwei, drei oder noch mehr Menschen durchgeführt wird. Das bedeutet, mehrere Menschen, deren Arbeitskraft in die Produktivität einer Maschine eingeht, können sich das Produkt, bzw. den Gewinn aus dem Produkt teilen, um daraus ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Sicht schließt Management, Verwaltung und Verkauf mit ein, deren Anteil am Zustandekommen des Endgewinns anteilig gerechnet werden muss. Es wird also ein Verteiler gebraucht, der diese gemeinschaftliche, aber in sich trotzdem nach Arbeitseinsatz, Qualifikation usw, dennoch differenzierte kollektive Lohnarbeit gerecht unter die Leute bringt. Ist „der Staat“, der Steuern einzieht und dann gleichermaßen an alle auszahlt, das einzige denkbare Modell? Wer ist der Staat? Wird der Staat mit diesem Modell nicht in eine Position derAllmacht gehoben?

Mir scheint, die Frage des Grundeigentums kann nicht erörtert werden. ohne auch die Frage des Staates neu aufzuwerfen. Gebraucht wird eine Organisation des zukünftigen Wirtschaftslebens, die die Menschen nicht nur tendenziell unabhängiger von der Lohnsklaverei macht, sondern zugleich auch von seiner Abhängigkeit durch den Staat. In den bisherigen Vorschlägen zum staatlich garantierten Grundeinkommen wird argumentiert, dass diese Grundregelung zu einem Abbau der bisher bestehenden aufgeblähten sozialfürsorgerischen Bürokratie, des fiskalischen Apparates etc. pp. führe. Das ist nicht von der Hand zu weisen und mit Sicherheit ein begrüßenswerter Effekt einer solchen möglichen Regelung, es bleibt aber die Gefahr, daß „der Staat“ über das Machtmonopol hinaus auch noch das Monopol als wirtschaftlicher Volksversorger erhält. Wer kann einen solchen Moloch noch kontrollieren?

Was geschieht, wenn das Grundeinkommen des Staates (sei es aus Einkommenssteuern, Konsum- oder sonstigen Steuern) nicht ausreicht? Wer bestimmt die Höhe des Grundeinkommens? Was geschieht, wenn der Staat das Grundeinkommen für alle nicht auszahlen kann?
Wer das Leztere für eine nur hypothetische theoretische Frage hält, erinnere sich bitte an die weiter vorne getroffene Feststellung, dass die Produktivität heute zwar relativ zur Zahl der Lohnarbeiter wächst, aber nicht absolut. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass eine Grundannahme im Modell der staatlich garantierten Grundeinkommens, wie es bisher vorliegt, nicht ausreichend durchdacht und überprüft worden ist, nämlich die Tatsache, dass die Versorgung der wachsenden Zahl der Weltbevölkerung aller steigenden Produktivität zum Trotz nicht gewährleistet sein könnte, ja, grundsätzlicher, dass die Werte, an denen das Wachstum der Produktivität bei uns heute gemessen wird, nicht zukunftsfähig sein könnten.

Die Hochrechnung der gegenwärtigen Produktivität – wie Jeremy Rifkin sie z.B. vornimmt – geht von der stillschweigenden Prämisse aus, dass die heute übliche Art der Produktion sich in die Zukunft hinein fortsetzt. Angesichts sich ankündigender globaler Überproduktionskrisen, Verheizung der natürlichen Ressourcen und Zerstörung der Selbstversorgungsfähigkeiten der Menschen und Völker, der damit verbundenen ökologischen Einbrüche und eines explodierenden Wachstums der Weltbevölkerung ist dies aber, schlicht gesagt, sehr unwahrscheinlich. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass wir zu neuen, reduzierten Formen der Produktion, zu sozialen, statt bloß ökonomischen Formen des Wachstums, zu neuen Beziehungen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kommen müssen und werden. Industrieproduktion und Selbstversorgung müssen ein neues Bündnis miteinander eingehen, global, regional, lokal, damit die Menschen überleben und neue Formen des Zusammenlebens entwickeln können.

Dies alles, was ich hier nur andeuten will, geht in die Frage ein, wie die industrielle Arbeit in Zukunft organisiert wird und wie ihre Produkte verteilt werden können. Zu einem grundsätzlich neuen Schritt in der Organisation der Arbeit gehört ein ebenso grundsätzlich neuer Schritt in der Organisation des Zusammenlebens, anders gesagt, es geht nicht nur um eine Emanzipation vom stofflichen Zwang der Ökonomie, sondern auch vom Staat als dessen Repräsentant. So wie die Lohnarbeit sich zur Arbeit hin emanzipiert, so muss der Staat von einem patriarchalen Fürsorgestaat zu einem Förderer der Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung entwickelt werden. Der Impuls, der aus der Krise der Lohnarbeitsgesellschaft hervorgeht, das Leben gemeinschaftlich zu organisieren, darf nicht auf eine Aufblähung des Staates, sondern muss in die Förderung von neuen Gemeinschaftsformen gelenkt werden, welche die notwendige Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung von der Basis der Gesellschaft her bestimmen. Meinetwegen kann man auch sagen; die wirtschaftlichen Voraussetzungen erlauben einen Entwicklungsschub in Richtung direkter Demokratie; erstrebenswert ist die Entstehung von Versorgungsgemeinschaften unterschiedlichster Art, die Lohnarbeit, Selbstversorgung und Fremdversorgung zusammenführen und in sich ausgleichen.

Nur in solchen Strukturen, das sei schließlich noch angefügt, lässt sich das Problem der unterschiedlichen Interessen an der Arbeit, banaler, das Problem des Faulen und des Fleißigen lösen, das immer wieder als Argument gegen die Einführung des Grundeinkommens vorgebracht wird: In der Versorgungsgemeinschaft, wo Lohnarbeit, Selbstversorgung und Fremdversorgung im Konsens miteinander organisiert und ausgeglichen werden können, kommt zum bloß finanziellen Anreiz, die eine oder andere Arbeit zu übernehmen, der soziale hinzu. Er ergibt sich aus der inneren Dynamik der jeweiligen Gemeinschaft. Damit wird sie zu dem sozialen Körper, in dem sich die Minimierung der Lohnarbeit mit der Maximierung freier, selbst bestimmter Arbeit und sozialer Verantwortung verbinden kann. Ansätze zu einer solchen Entwicklung sind in den nach-sowjetischen Ländern zu erkennen, insbesondere in Russland, wo ein Weg jenseits der alten sowjetischen, aber auch über die westlichen Formen des Kapitalismus hinaus gesucht wird. Deutschland spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, weil in ihm ehemals sowjetische und heutige westliche Strukturen direkt aufeinander prallen, woraus sich eine besondere Schärfe der System- Problematik ergibt, eine besondere Notwendigkeit., aber auch eine besondere Chance zu einer Lösung zu finden.

Unterm Strich formuliert: Die Propagierung eines staatlich garantierten Grundeinkommens halte ich dann für sinnvoll, wenn sie verbunden wird mit einer Abkehr von der Vorstellung eines allmächtigen Fürsorgestaates und stattdessen aktiver Förderung von Gemeinschaftsstrukturen, die die dringend notwendige Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung als Grundlage eines neuen Verständnisses von Gesellschaft organisieren.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Aus der Not eine Tugend machen. Exemplarische Entwicklungsimpulse aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus

Die Tatsachen sind schon tausende Male benannt: Idee und Praxis des auf Lohnarbeit aufgebauten Sozialstaates befinden sich in einer existenziellen Krise. Widerstand gegen materielle und geistige Verelendung ist notwendig. Alternativen müssen her. Aber welche? Vor allem: Wie sieht die soziale Form aus, in der sie entwickelt werden können? Alle immanenten Auswege sind verstellt: Die Verteidigung des Sozialstaats durch traditionelle gewerkschaftliche Lohn- und Tarifkämpfe führt nur tiefer in die Krise der Lohnarbeitsordnung, wenn dabei, wie es geschieht, die Lohnarbeitslosen ausgegrenzt oder gar illegalisiert werden, sei es im eigenen Lande, sei es im globalen Maßstab. Das Glücksversprechen der modernen Industriegesellschaft, wie es nach dem Offenbarungseid der sowjet-sozialistischen Utopie von der „einzig verbliebenen Weltmacht“ und ihren Parteigängerinnen im Namen des Kapitalismus noch einmal in die Welt hinausposaunt wurde, ist für viele nicht einlösbar. Stattdessen entwickelt sich eine weltweite soziale Differenzierung, traditionell formuliert: eine neue Klassenbildung, die über jene Teilung von Kapital und Arbeit hinausgeht, die von Karl Marx und Friedrich Engels im kommunistischen Manifest als letzte zu erwartende Klassenteilung der Geschichte definiert wurde.

Heute zeichnet sich eine neue Klassenlinie zwischen Verwaltern und Inhaberinnen von Arbeitsplätzen auf der einen, und Menschen, die aus der Lohnarbeit abgedrängt werden auf der anderen Seite ab. Millionen Menschen, die von einem wuchernden, nur auf Selbstvermehrung orientierten Kapital auf diese Weise marginalisiert werden, haben keine andere Wahl, als sich vom Staat versorgen zu lassen. Das wird für sie in dem Maße zur existenziellen Bedrohung, als auch die nationalen Staaten auf Grund der globalen Konzentration des Kapitals immer weniger eigene Mittel zur Verfügung haben. Wollen die Menschen weder von den Sparprogrammen ihrer Staaten niedergehalten werden, noch verelenden oder verhungern, dann haben sie nur eine Alternative: aus der Not der Marginalisierung eine Tugend zu machen, das heißt, sich in Ergänzung zur oder gänzlich unabhängig von der Lohnarbeit die notwendigen Bedingungen für eine eigene Versorgung selbst neu zu schaffen. Dies gilt für die materiellen Mittel des Lebens ebenso wie für die generelle Lebensperspektive.

Sich unabhängig von der Lohnarbeit und dem heute daran gekoppelten sozialen Versorgungs-System zu machen, bedeutet aber, aus dem herrschenden Paradigma der Lohnarbeits-Gesellschaft, das heißt, aus dem Kreislauf von Produktion für mehr Produktion, Geld für mehr Geld, Haben für mehr Haben auszusteigen, neue Formen der Arbeitsteilung, neue Beziehungen von produktiver und nicht-produktiver Arbeit, genauer, von Arbeit als Teil der industriellen Produktion und Arbeit außerhalb davon, von Produktion und Konsumtion, also prinzipiell neue Versorgungsstrukturen zu entwickeln. Es bedeutet neben einer ethischen Neuorientierung schließlich auch, die sozialen Strukturen zu entwickeln, in denen sich eine allseitige Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten verwirklichen lässt. Ohne den Aufbau solcher Strukturen werden mögliche Perspektiven bis in alle Ewigkeit nur unverwirklichte Möglichkeiten bleiben.

Der Charakter der Krise

Ein Aufbruch zu dieser Reise setzt allerdings die Einsicht in den finalen Charakter der heutigen Krise, und damit in die Unvermeidlichkeit des grundlegenden Umbruchs der heutigen Verhältnisse voraus, der daran deutlich wird, wie die Organisation der Grundversorgung der Menschen mit Lebensmitteln sich im Laufe der Geschichte von einem Aufbruch mit unendlichen Möglichkeiten zu einer die Existenz der Menschheit in Frage stellenden globalen Krise entwickelte. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich drei wesentliche Phasen dieses Prozesses skizzieren, in dessen dritte wir gerade eintreten:

Da ist erstens die Phase unterschiedlichster Formen der individuellen oder auch der gemeinschaftlichen Selbstversorgung, die sich über Jahrtausende herausgebildet haben. Beschaffung von Lebensmitteln und Lebenszweck, Produktion und Konsumtion standen in den Gesellschaften dieser Phase noch in einem engen Zusammenhang. Auch heute gibt es solche Gesellschaften noch; ihre Existenz ist jedoch durch die weltweite Industrialisierung bedroht.

Da ist zweitens die Phase der Entwicklung der industriellen Lohnarbeit seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Ergebnis der Fremdversorgung der Lohnarbeitenden, die als solche keine eigenbestimmte Beziehung mehr zu ihren Produkten haben, in dem Maße, wie jene Produkte zunehmend nicht mehr der Versorgung, sondern allein der Erhaltung und Steigerung der Produktion dienen.

Da ist drittens die Krise der Lohnarbeitsordnung, wie wir sie heute erleben, also die Verwandlung der Lohnarbeit in Beteiligungsgehälter derer, die in einer sich konzentrierenden Produktion (noch) Beschäftigung finden, bei gleichzeitiger Zurückdrängung einer lohnarbeitslosen Mehrheit der Weltbevölkerung in die Selbstversorgung – dies aber geschieht, nachdem die früheren Grundlagen und die traditionelle Vielfalt der Selbstversorgung weitgehend zerstört sind, materiell wie auch mental.

Was wir heute erleben, eröffnet also nicht etwa einen Weg zurück in eine vor-industrielle bäuerliche, nomadische, handwerkliche oder irgendwie naturhafte Romantik, sondern zwingt uns voran auf den Weg einer Symbiose von entwickelter industrieller Groß-Produktion und Selbstversorgung im individuellen wie im kommunalen Bereich. Symbiose bedeutet dabei nicht etwa Verschmelzung, sondern gemeinsame Existenz durch gegenseitiges Aufeinander-Angewiesen-Sein, durch wechselseitige Ergänzung und Unterstützung auf Basis von Gegenseitigkeit.

Die skizzierte Entwicklung war begleitet von einer schrittweisen Entfremdung der Menschen vom Bauerntum, vom nomadischen Leben, vom Handwerk, von der individuellen und lokal begrenzten Nutzung von Naturenergien wie der von Tieren, wie Wind, Wasser usw. Der Übergang von der Pferdestärke zur Dampfmaschine, zur Elektrizität, zur Automobilisierung und neuerdings zur Computerisierung beschleunigte diesen Prozess. Er führte zu einer Teilung der Gesellschaft in atomisierte Arbeitsprozesse und zu einer Reduzierung des Menschen auf seine Arbeitskraft als Ware. Dies alles ist schon zu Beginn dieser Entwicklung von Marx, Engels und anderen ausreichend analysiert worden. Wir können und müssen dem heute allerdings die Erkenntnis hinzufügen, wie dies geschah; nämlich durch den ersatzlosen Raubbau, durch schlichte Verbrennung der fossilen Rohstoffe Kohle, Öl, Gas, während die sich selbst versorgenden unmittelbar Produzierenden gleichzeitig in von der Basis der Selbstversorgung vollkommen losgelöste Konsumierende von industrieller Massenware verwandelt und diese Basis zerstört wurde. Ergebnis dieser Entwicklung ist die tendenzielle Vernichtung aller natürlichen Versorgungsgrundlagen der Menschheit.

Ihr aktueller Stand ist die Aussicht auf eine Krise der fossilen Energieversorgung, die sich aus dem absehbaren Ende abbaufähiger Öl-, Gas- und Kohlevorkommen in ca. 30 bis 40 Jahren wie auch durch die Aufheizung der Atmosphäre durch vom Menschen produzierte Treibhaus-Gase ergibt. Diese Krise verlangt kategorisch nach einem Übergang zu alternativen Wegen der Energieversorgung. Das Vordringen zu einer Nutzung von erneuerbaren Naturenergien auf zeitgemäßer technischer Basis ist heute eine Überlebensfrage der Menschheit. Das entscheidende Stichwort dafür ist seit der Klimakonvention von Rio de Janeiro 1992 gegeben. Es lautet: „solare Revolution“.

Der Begriff der „solaren Revolution“ lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf die sozialen Strukturen, die mit den zuvor skizzierten Phasen der Versorgungsgeschichte verbunden sind, insofern die Nutzung von solaren Energien dezentrale Strukturen der individuellen und kommunalen Eigenversorgung mit Energie auf dem Niveau der heutigen technischen Entwicklung nach sich zieht.

Für die Phase der Selbstversorgung sind das die Dorfgemeinschaft, die Allmende und die nomadische Zeltgemeinschaft, allerdings auch die frühe städtische Kommune, wo die Verbindung der Menschen untereinander im Wesentlichen noch durch Gemeineigentum und unmittelbaren Tausch und erst in Ansätzen durch Geld vermittelt ist.

Für die zweite Phase der so genannten Moderne ist die bestimmende Sozialstruktur der Markt der industriellen Massenproduktion, auf dem die Lohnarbeiter/innen und Gehaltsempfänger/innen als individuelle Käufer/innen einem anonymen Verkäufer gegenüberstehen, ohne direkte Beziehungen mit ihm oder miteinander einzugehen.

Unter dem Druck einer wachsenden Lohnarbeitslosigkeit zeichnet sich heute schließlich die Entstehung von Versorgungsgemeinschaften ab, deren Lebensprinzip die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung, von geldvermitteltem Markt und unmittelbarem Tausch ist.

Kurz gesagt: Die so genannte industrielle Revolution mit ihrer Teilung der Gesellschaft in Kapital und Arbeit erweist sich als eine Übergangserscheinung, die im Zuge ihrer Entwicklung die Grundlagen der Selbstversorgung ebenso wie die fossilen Ressourcen einem vernichtenden Verbrauch zuführte und dies zur Zeit noch weiter beschleunigt. Diese Feststellungen gelten für den „Kapitalismus“ ebenso wie für den „Sozialismus“. Diese Entwicklung steigert sich in einer Spirale der puren Selbstverwertung des Kapitals, das am Ende auch die in diesen Prozess hineingezogenen Arbeitskräfte wieder in die Selbstversorgung zurückschickt; allerdings nachdem es diese aller eigenen Versorgungsmöglichkeiten und -kenntnisse beraubt und die natürlichen Ressourcen vernichtet hat. In dieser Lage vermögen die solcherart auf sich selbst Reduzierten jedoch nicht mehr zu existieren – es sei denn, sie können auf traditionelle Erfahrungen und noch bestehende soziale Strukturen jenseits eines vom Geld regulierten Marktes zurückgreifen, um sich in Anknüpfung daran auf dem Niveau der heutigen wissenschaftlich-technischen Entwicklung neue Möglichkeiten der Selbstversorgung zu eröffnen.

Was auf diese Weise entsteht, muss sich von der jetzt herrschenden Gesellschaftsordnung notwendigerweise prinzipiell unterscheiden. Die Natur kann in ihr nicht Gegenstand hemmungslosen, vernichtenden Verbrauchs sein, sondern muss zur Partnerin werden, um deren ständige Erneuerung die Menschen sich im eigenen Interesse bemühen müssen; Arbeit kann darin nicht nur der für einen Lohnempfang notwendige Verkauf von genormten und verkrüppelten Teiltätigkeiten sein, sondern muss die variable Entfaltung der gesamten Schaffenskraft der Menschen bedeuten. Dass dies nicht nur eine andere Arbeits- und Sozialordnung als die jetzt herrschende, sondern auch prinzipiell andere ethische Kategorien beinhaltet, versteht sich – fast – von selbst. Erich Fromm forderte bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts den Übergang von einer Gesellschaft des „Habens“ zu einer des „Seins“. „Sein statt Haben“ lautete die von ihm entwickelte ethische Linie für eine über den Industrialismus hinausweisende Gesellschaft. In der rauen Wirklichkeit der heutigen Umwälzungen könnte sich das noch etwas realitätsferne „Haben oder Sein“ auch in einer leichter realisierbaren Form, nämlich als ein „Haben durch Sein“ verwirklichen.

Die Voraussetzungen für eine solche, sprechen wir es aus: ökologische Annäherung an die Versorgungsprobleme der Menschheit sind im Schoße der industriellen Gesellschaft herangereift, ähnlich wie seinerzeit das Proletariat im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft herangereift war. Die wachsende Zahl unversorgter Menschen lässt einen existenziellen Druck zur Entwicklung von Selbsthilfe entstehen, lokal und global. Er mündet in Resignation oder hilflosen Terrorismus, wo er keine Organisationsmöglichkeiten findet. Wo er sie aber findet, und sich mit den Ideen einer ökologisch orientierten Versorgung verbinden kann, entstehen Impulse für eine gesellschaftliche Erneuerung, die über das bisherige „Kapitalismus oder Sozialismus“ hinausweisen. Das gilt für die westliche ebenso wie für die sowjetische Variante der Industriegesellschaft und ihre ehemaligen Einflussgebiete. Die sowjetische Variante, die den Anspruch erhob, eine Alternative zum Kapitalismus zu sein, praktisch aber dessen staatskapitalistisches Spiegelbild wurde, hinterlässt in der heutigen Krise des Industrialismus jedoch neben dem bloßen Einschwenken auf den Kapitalismus auch noch einen zukunftsweisenden Impuls, nämlich eine Hinwendung zur Selbstversorgung auf breiter Front.

Das Beispiel und die Rolle Russlands

Am Beispiel des nach-sowjetischen Russland kann die soziale Struktur, die sich in der heutigen Übergangssituation zeigt, besonders deutlich beobachtet und studiert werden. Das Ende der Sowjetunion hat ja nicht nur die sozialen und politischen Strukturen des eigenen Landes aufgebrochen und eine Situation von „nicht mehr sozialistisch, aber noch nicht kapitalistisch“ hinterlassen, wie es häufig skizziert wird, sondern es hat die Stagnation der bi-polaren Ordnung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg eingestellt hatte, insgesamt beendet. Das Ende des sowjetischen Modells zieht eine generelle Neubewertung des Sozialen, des Sozial-Demokratischen, des Sozialistischen überall in der Welt, eine neue Organisation der Arbeitsteilung, eine Erneuerung der Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft nach sich; schließlich, aber nicht zuletzt ergibt sich aus ihm auch ein mächtiger Impuls für eine neuerliche Hinwendung zu einem Leben aus der Selbstversorgung und für einen neuen Umgang mit den natürlichen Reichtümern der Erde. Das gilt für Russland selbst, aber auch darüber hinaus. Aufs Ganze gesehen aktualisierte und konkretisierte die Auflösung der Sowjetunion die schon 1972 vom Club of Rome vorgelegten Erkenntnisse über die „Grenzen des Wachstums“, deren allgemeine Wahrnehmung in den Jahren zuvor noch an den Grenzen der Systemkonkurrenz hängen geblieben war.

Aber weshalb soll gerade das transformationskranke Russland beispielhaft für die heutige Übergangssituation, ja gar für sich möglicherweise entwickelnde Alternativen sein? Die Antwort auf diese Frage ist so einfach, dass sie oft übersehen wird: weil in Russland die Utopie des wissenschaftlich-technisch planbaren Fortschritts einer egalitären Gesellschaft in der Gestalt des autoritären Fürsorgestaates ins höchste Extrem getrieben wurde – und dort am tiefsten stürzte.

Hinzu kommt, dass der Versuch, die nach-sowjetische russische Krise durch die Einführung des Kapitalismus zu heilen, nach wenigen chaotischen Jahren eingestellt werden musste. An der unheilbar krisenhaften, das heißt, nicht nach westlichen Modellen kapitalisierbaren nach-sowjetischen Entwicklung wurde deutlich, dass Kapitalismus keine Alternative zum Sowjetismus ist, sondern nur die andere Seite desselben Industrialismus, der sich seinerseits in der Krise befindet, und dass es ebenso wenig „den“ Kapitalismus gibt, wie es „den“ Sozialismus gab.

Auf diese Weise tritt drittens die Transformation unserer heutigen globalen Gesellschaft in Russland besonders deutlich, besonders schroff, in starken Polaritäten und mit enormer Geschwindigkeit zutage, sodass die sozialen Mischformen, die daraus hervorgehen, unmittelbar im Zustand des Entstehens beobachtet, analysiert und als Erfahrung andernorts genutzt werden können. Dabei gibt es Rückfälle ebenso wie mögliche Alternativen. Russland ist unfreiwilliger Pionier der weltweit anstehenden sozialen Neuorientierung. Für die russischen Menschen ist dies streckenweise mehr als unangenehm. Russische Nationalistinnen und Nationalisten sprechen deshalb auch davon, es werde „wieder einmal auf dem Rücken Russlands experimentiert“. Nur wissen sie den Leiter des Experimentes nicht zu nennen. Tatsache ist vielmehr, dass der Konflikt zwischen industrieller Wachstumsgesellschaft und einem ökologisch ausgeglichenen Leben von und mit den natürlichen Reichtümern der Erde in Russland am schärfsten ausgetragen wird, weil sich hier die hoch gefahrene Industrialisierung und eine ebenso hoch entwickelte Selbstversorgung, verbunden mit einer über Jahrhunderte gewachsenen Gewöhnung an die Unerschöpflichkeit natürlicher Ressourcen des Landes, für deren Nutzung es anscheinend keiner besonderen industriellen Anstrengung bedarf, in extremer Polarität gegenüberstehen. Bis zur Oktoberrevolution von 1917 war die Mehrheit der Bevölkerung, also ca. 80% der russischen Menschen, in gemeinwirtschaftlichen Dorfgemeinden organisiert. Sie lebten von dem, was ihnen nach Abgaben an ihre Herrschaften bzw. seit der Bauernbefreiung von 1861 abzüglich der Zinsleistungen an Banken und individuelle Geldverleiher aus der ergänzenden Familienwirtschaft blieb. Die stürmische Industrialisierung Russlands in den Jahren von der Bauernbefreiung 1861 bis zu den Revolutionen von 1905 und 1917, die danach einsetzende, teils mit militärischen Mitteln durchgesetzte Zwangsindustrialisierung, die dabei vollzogene Verwandlung der bäuerlichen Gemeinschaften in industrielle Agrar-Kollektive und die Ausweitung der kollektiven Arbeitsorganisation auf die entstehenden Produktionsbetriebe führten zwar zu extremen Konflikten zwischen diesen traditionellen Formen der Selbstversorgung und dem Anspruch auf Durchsetzung der industriellen Lohnarbeit als Norm. Doch dies alles geschah, ohne die soziale Grundstruktur der Dorfgemeinschaft, also die Gemeinwirtschaft mitsamt ihrer familienwirtschaftlichen Ergänzung aufzuheben. Im Gegenteil: Hofgarten ebenso wie Datscha, also ein Stück Land, das den Städtern als Schrebergarten und den Dorfbewohner/innen zur eigenproduktiven Zusatz-Versorgung hinter dem von ihnen bewohnten Haus zur Verfügung stand, entwickelten sich unter dem Zwang der staatlichen Kollektivierung zum individuellen und familiären Ventil gegenüber dem wirtschaftlichen und politischen Druck von oben. Im Hofgarten wie auf der Datscha hatte man sein eigenes Reich, jedenfalls einen Ansatz dazu. Alle Versuche der sowjetischen Führung, den „Anarchismus“ der so genannten ergänzenden Familienwirtschaft unter Kontrolle zu bekommen, schlugen letztlich fehl: Hofgarten und Datscha waren der private Fluchtweg aus der kollektiven Bewirtschaftung der Sowjetunion, materiell wie ideell. Man war öffentlich arm, privat aber gut versorgt. Schwieg man in der Öffentlichkeit, so blühte in den Familienküchen und der Datscha eine „zweite Kultur der Kommunikation“. Nicht zuletzt aus den Hofgärten, den Datschen und den mit ihnen verbundenen Küchen speiste sich jene soziale Dynamik, die in den 1970er und 1980er Jahren eine Perestroika, das heißt die von Gorbatschow eingeleitete Befreiung persönlicher Initiative möglich machte.

Auch in der industriell organisierten Sowchose , ja selbst in den großen Industrie-Betrieben blieb die Lohnarbeit immer einem System direkter Vergütung untergeordnet. Die sowjetischen Gemeinschaftsbetriebe (Sowchosen ebenso wie große und kleine Industriebetriebe) bildeten eine Pyramide kollektiver Wirtschaft, in der der Geldverkehr nur einen Bruchteil des Wirtschaftsablaufes bestimmte. Der größte Anteil des Wirtschaftslebens einschließlich der Vergütung von innerhalb der Betriebstore geleisteten Arbeiten blieb – einem Eisberg im Wasser ähnlich – unterhalb der Geldgrenze: Die in Familienverbänden lebenden Mitglieder einer Sowchose, Kolchose oder auch eines Industriebetriebes erhielten Hof (im Dorf), Wohnung (in der Stadt), Garten oder Datscha, Heizung, Gas, Wasser, Straßennetz und andere infrastrukturelle Leistungen, soziale Versorgung, Kindergarten, kulturelle Aktivitäten, Begräbnis etc. aus dem Vergütungsfonds des Betriebes, in dem sie ihre Arbeitskraft einsetzten. Der Betrieb war das Zentrum des sozialen Lebens. Sie erhielten die Leistungen aber nicht etwa „umsonst“; dieses Wort spiegelt nur das westliche, von der Geldwirtschaft geprägte Unverständnis für die Organisation des Lebens in der Sowjetunion. Die Menschen erhielten ihren Anteil am Wirtschaftsergebnis nur eben nicht in Geld, sondern vielmehr in Sach- und Versorgungsleistungen. Nur ein geringer Teil wurde auch in Geldform abgegolten. Ältere bzw. junge Mitglieder der Familie, die nicht in Lohnarbeit standen, konnten ihre Kräfte – soweit nicht durch öffentliche Aufgaben beansprucht – der privaten Zusatzversorgung widmen; das bedeutete Arbeit im Hofgarten, auf der Datscha oder im Rahmen diverser Nebentätigkeiten. Bei der Auflösung der Sowjetunion und beim Versuch der Privatisierung der sowjetischen Lebens- und Wirtschaftsstrukturen blieben daher die unterschiedlichsten Formen von privater Nebenwirtschaft als Ansätze für eine sich breit entwickelnde Subsistenzwirtschaft zurück. Nicht etwa eine private Bauernschaft, wie von den russischen Reformern und ihren westlichen Beratern 1990/91 erträumt, kein Volk von Kleinkapitalistinnen und -kapitalisten, wie von ihnen versprochen, waren das entscheidende Ergebnis der Privatisierung, sondern – abgesehen von der Verteilung der Großbetriebe unter wenige Oligarchen – eine boomende, das ganze Land erfassende Hof-, Datschen- und Kleinstgartenkultur, die bis heute gut 60% des Nahrungsbedarfs der russischen Bevölkerung deckt.

Warum Russland nicht verhungert

Angesichts der existenziellen Krise der nach-sowjetischen Transformation, die nach den Absichten der Radikal-Reformer seit 1991 zunächst keinen Stein der alten Gesellschaft auf dem anderen lassen, sondern die Wirtschaft durch Liquidierung der kollektiven Strukturen effektivieren sollte, stellte sich den Auslandsbeobachterinnen und -beobachtern die Frage, wieso die russische Gesellschaft angesichts der durch die Reformen entstandenen Desorganisation der Wirtschaft nicht im allgemeinen Chaos versank und keine Hungerkatastrophen ausbrachen.

Der Grund für diese erstaunliche Überlebensfähigkeit der russischen Gesellschaft liegt eben in der besonderen Geschichte und der Aktualität ihrer Gemeinschaftsstrukturen: der traditionellen gemeinwirtschaftlich organisierten Bauerngemeinschaft (russisch: Obschtschina; im Deutschen der Allmende vergleichbar). Vom Zarismus wurde sie über Jahrhunderte als Grundeinheit der Reichsorganisation aufgebaut, besaß aber zugleich das Recht der Selbstverwaltung. Trotz wiederholter Versuche, diese Strukturen zugunsten privater Bauernwirtschaften aufzulösen, hat sich die traditionelle russische Bauerngemeinschaft über die Oktobberrevolution von 1917 hinaus erhalten. Mehr noch: Durch die Oktoberrevolution, endgültig dann durch Stalin, wurde die Obschtschina zur Grundeinheit der sowjetischen Arbeits-, Lebens- und Staatsorganisation. Heute feiert sie als geschlossene Aktiengesellschaft, als Genossenschaft oder auch ohne besonderes Organisationsstatut ihre Wiederentstehung als marktorientierte Versorgungsgemeinschaft. Diese Gemeinschaften sind – wie einst die traditionelle Obschtschina und später die Sowchose – auch heute nur zu einem kleinen Teil, sozusagen lediglich an ihrer Spitze, mit der allgemeinen Geldwirtschaft verbunden. Der größte Teil der Wirtschaft vollzieht sich als selbstorganisierter, unmittelbarer Austausch von Arbeit und Vergütung innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft; mitunter sogar zwischen den Gemeinschaften. Obwohl die Gemeinschaften in ihren Spitzen in der Regel über Geldverkehr verbunden sind, kommt es doch auch hier recht häufig zu produktgebundenen Austauschbeziehungen.

Keineswegs alle ehemaligen agrarischen oder industriellen Arbeitskollektive haben die Privatisierung in dieser Weise überstanden. Es mag ein Drittel sein, das auf diese Weise nicht nur funktioniert, sondern ihren Mitgliedern ein ausreichend akzeptables Leben sichert; ein weiteres Drittel kränkelt halb desorganisiert, halb individualisiert vor sich hin, der Rest ist gänzlich aufgelöst und versinkt im unorganisierten „Sich-Irgendwie-Durchschlagen“. Doch selbst dieses „Sich-Irgendwie-Durchschlagen“ folgt noch den gleichen Gesetzen der Gemeinschafts-Tradition. Denn das Überleben von Familien und anderer Gemeinschaften beruht auch in diesen Fällen auf Gegenseitigkeit, auf Tauschbeziehungen zwischen Land- und Stadtbewohnern. Diese – im Fall funktionierender Aktiengesellschaften gut, im Fall der bankrottierenden oder gänzlich aufgelösten Kollektive und Betriebe schlecht bis gar nicht organisierte – Form der Selbstversorgung ist die Basis des Überlebens für eine Bevölkerung, deren Geldkreislauf (der Produktion, Lohn und Konsum umfasst) nicht in der im Westen bekannten Weise entwickelt ist, anders gesagt: innerhalb derer die Struktur der Lohnarbeitsgesellschaft nur nominell entwickelt wurde.

Die herrschende westliche und die am westlichen Fortschrittsverständnis orientierte russische Politökonomie – sogar in ihrer sowjetischen Ausprägung – konnte diese Tatsache bisher nur als Rückständigkeit begreifen. Die russische Politik hatte ja in den zurückliegenden beiden Jahrhunderten die westliche Entwicklung in immer neuen Modernisierungsschüben einzuholen versucht. Den letzten großen Versuch dieser Art machten die Bolschewiki und der darauf folgende sowjetische Staat. Faktisch ist der Umstand, dass Russland die gemeinwirtschaftlich organisierte Vergütungswirtschaft, auf deren Basis die Sowjetunion dann die betriebszentrierte Gemeinschafts- und Planwirtschaft entwickelte, aber keineswegs nur eine Frage der Rückständigkeit, sondern Ausdruck eines anderen historischen Entwicklungsweges. In dessen Verlauf wurde die Allmende nicht aufgelöst, sondern über mehrere Wandlungsstufen zum Zentrum des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens entwickelt. Hieraus resultiert sowohl die Krassheit wie auch der exemplarische Charakter der heutigen russischen Krise. Denn diese gewachsenen Gemeinschaftsstrukturen können weder bruchlos noch vollständig in eine Marktwirtschaft westlichen Typs umgewandelt werden, auf dem die Menschen im Wesentlichen nur noch über das Geld miteinander verbunden wären. Angesichts der weltweiten Krise des Industrialismus stellt sich zudem die dringende Frage, ob eine Umwandlung in „pure Marktwirtschaft“ überhaupt wünschenswert wäre.

Über mehrere Jahre entzogen sich die heute neu entstehenden sozialen Mischformen der polit-ökonomischen Definition. Lange Zeit galten sie allenfalls als Notbehelfe, die sich normalisieren würden, wenn die Krise vorbei sei, wobei unter „Normalisierung“ das Einschwenken auf den westlichen Weg einer „entwickelten kapitalistischen Gesellschaft“ verstanden wurde und von vielen auch noch immer so verstanden wird. Rund zwanzig Jahre nach den ersten Maßnahmen Gorbatschows von 1984/1985 haben sich inzwischen jedoch familiäre wie auch größere Notgemeinschaften als Dauereinrichtungen etabliert und Teile der Produktion stabilisiert. Es gibt mittlerweile auch Ansätze, diese Entwicklung begrifflich zu erfassen. Einen solchen Ansatz verfolgt etwa Theodor Schanin, Professor der Ökonomie in Manchester und Rektor einer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau, der für die in Russland zu beobachtenden Lebensformen den Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ geprägt hat. Extrapolar bedeutet schlicht, dass sich die Definition dieser Wirtschaftsweise den gängigen Alternativstellungen von „Sozialismus oder Kapitalismus“ und von „Liberalismus oder Dirigismus“ entzieht. Kern der Betrachtungen Theodor Schanins ist die Familienwirtschaft, die sich im Rahmen einer mehr oder weniger großen Gemeinschaft, in einer Mischung von Geld- und Tauschwirtschaft und in Ergänzung zur Großproduktion vollzieht. Alexander Nikulin , Leiter von Forschungsprogrammen der genannten „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“, konkretisiert die heute zu beobachtenden sozialen Strukturen begrifflich als eine Symbiose zwischen dem Großen und dem Kleinen, zwischen der Gemeinschaftsproduktion und der individuellen Familienwirtschaft. Sie stützen und ergänzen sich gegenseitig, indem die Gemeinschaftsproduktion den Rahmen für die Familienwirtschaft abgibt und die Subsistenzproduktion der Familienwirtschaft die Gemeinschaftswirtschaft von überflüssigem Geldverkehr entlastet.

Neue Arbeitsteilung:
Von der Familie zur selbst gewählten Gemeinschaft

Die wichtige Rolle der Familie in der Vermittlung zwischen Eigenversorgung und kollektiver bzw. industrieller Produktion wirft die Frage nach dem zukünftigen Charakter der Familie, nach einer neuen Arbeitsteilung zwischen Alten und Jungen, zwischen Kopf- und Handarbeiterinnen, insbesondere aber natürlich zwischen Männern und Frauen auf. Von ihrer Entwicklung hängt letztlich ab, ob die bisherigen Verhältnisse sich restaurieren, gar verfestigen oder tatsächlich tief greifend verändern können.

Erste Elemente einer neuen Entwicklung können wir heute erkennen. Die äußeren Anzeichen erscheinen eher banal: Der Eintritt der Frauen in die industrielle Produktion als Ergebnis des Ersten und des Zweiten Weltkrieges hat sie zwischen Herd und Arbeitsplatz gestellt. Das führte zu einer nachhaltigen Lockerung traditioneller Familienstrukturen, insbesondere jener der familiären Eigenversorgung und der traditionellen Frauenrolle darin. Heute schicken sich die Frauen an, die Männer in ihrer Rolle als Familienernährer abzulösen, oder jedenfalls mit ihnen gleich zu ziehen.

Nicht von ungefähr stoßen diese von den Industrieländern des Westens ausgehenden Lebensformen in traditionellen Gesellschaften und auch in traditionell orientierten Gesellschaftsschichten jener Industrieländer, in denen der Lebensunterhalt der Familien trotz aller Tendenzen zu einer Durchkapitalisierung der Gesellschaft noch zu größeren Teilen aus der Selbstversorgung gewonnen wird, auf Ablehnung. Es ist aber unübersehbar, dass die Veränderung der Familienstrukturen in Richtung auf offene Lebens- und Versorgungsgemeinschaften auch diese sozialen Schichten erreicht hat. Das geschah zunächst in der wenig erfreulichen Form einer Vernichtung der traditionellen Basis der Selbstversorgung durch Einführung billiger industrieller Produkte und Herstellung von Lohnabhängigkeit, was zunächst in den heutigen Industrieländern geschah, später aber in wachsendem Maße auch durch Export in die so genannten Entwicklungsländer. Männer und zunehmend auch Frauen zogen in die Städte, um dort Arbeit zu suchen. Ergebnis war die Zerstörung der traditionellen Familienstrukturen, die nicht zuletzt auf der in aller Regel von den Frauen getragenen Subsistenztätigkeit begründet waren.

Eine halbe Emanzipation könnte man diesen Vorgang nennen, der mehr und mehr Frauen in die industrielle Produktion zog, sie aber gleichzeitig der sozio-ökonomischen Basis beraubte, die ihnen ihr traditioneller Platz in der Familie gegeben hatte. Die jetzige Situation unterscheidet sich, wie gezeigt, diametral von der Ausgangslage jener halben Emanzipation: Inzwischen sind die Strukturen, Ressourcen und Kenntnisse der früheren Selbstversorgungswirtschaft weitgehend zerstört. Im Prozess der Neubewertung der Arbeit und einer Neuorganisation der Arbeitsteilung, der heute im globalen Maßstab stattfindet, wird die auf halbem Wege stecken gebliebene Emanzipation gewaltsam zurückgeführt, indem die Menschen – vor allem die Frauen – wieder in die Selbstversorgung gedrückt werden, ohne dass deren Basis wiederhergestellt wäre. Die Alternative dazu lautet: Die halbe Emanzipation muss sich zu einer ganzen entwickeln. Das würde nichts anderes bedeuten, als den Bereich der Selbstversorgung bewusst neu zu entwickeln, dies aber nicht auf Basis der ehemaligen Rollenverteilung, sondern ausgehend von jener Stellung der Frau, die sie durch die Industrialisierung erhalten hat.

Das ist keine Utopie, sondern harte Realität. Denn für jene Art von Arbeit, welche die Industrie und Wirtschaft heute zunehmend anbietet – Feinmechanik, Elektronik, Computertechnologie, chemische und biologische Produktion, Technologie der Kommunikation usw. – sind häufig so genannte weibliche Fähigkeiten gefordert, sodass es auch die Frauen sein können, die den Lohn in die Familie bringen. Statistische Angaben, wonach die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit Kindern sich in Deutschland auf über 50% gesteigert hat , und Modelle einer „doppelten Berufskarriere“ oder Formen von gemeinsamer Teilzeitarbeit bzw. „Job-Sharing“ an die Stelle der klassischen Arbeitsteilung von berufstätigem Mann und kinderbetreuender Frau treten , belegen diese Entwicklung. Im Zuge der weiteren Intensivierung industrieller Produktion und der Minimalisierung von Industrieprodukten wird diese Tendenz noch zunehmen. Dass „weibliche“ Fähigkeiten gefordert sind, heißt nicht unbedingt, dass allein Frauen diese Tätigkeiten ausführen müssen. Es bedeutet aber zum einen, dass sie es können und zum anderen, dass die Männer solche Fähigkeiten entwickeln müssen, wenn sie auf gleichem beruflichem Niveau wie bisher bleiben wollen.

Für die Familie – in welcher Form auch immer – bedeutet die heutige Situation, dass erstens nicht mehr alle arbeitsfähigen Familienmitglieder auch Lohnempfänger sind, dass zweitens im Zweifelsfall nicht unbedingt die Männer der Familie die Ernährer sind, und dass drittens innerhalb der Familie in gemeinsamer Beratung entschieden werden muss und auch entschieden werden kann, wer am effektivsten den Part der Lohnarbeit übernimmt, wer sich um die Eigenversorgung kümmert, wie lange diese interne Regelung erhalten bleibt, ob man sich ablöst, wechseln kann. Sie führt zur Frage, in welchem Verhältnis und in welchen Rhythmen Lohnarbeit und Arbeit für die Eigenversorgung bzw. für die soziale und kulturelle Gestaltung in der jeweils gegebenen Lebensgemeinschaft aufgeteilt werden.

Historisch gesehen bedeutet das, dass die am Privateigentum organisierte patriarchale Familie, in welcher der Mann als Eigentümer oder Lohnempfänger das Haupt der Familie war, in eine gemeineigentümlich organisierte übergehen wird. In ihr haben Männer keine Vorrechte auf Grund der bestehenden Eigentums- bzw. Einkommensverhältnisse, sondern müssen sich mit den Frauen je nach ihren Lebensumständen absprechen. Eine solche Gemeinschaft sprengt zwangsläufig auch den Rahmen der heute üblichen Kleinfamilie. Sie organisiert sich vielmehr als selbst gewählte Versorgungsgemeinschaft. Man könnte sie auch als Wahlfamilie bezeichnen.

In Russland, wo die traditionellen Gemeinschaftsstrukturen heute so radikal in Frage gestellt werden, dass kein Stein auf dem anderen bleibt, und wo sich die Familie in nur einem Jahrhundert von der traditionellen Großfamilie über die radikale Emanzipation der „freien Liebe“ zur Dogmatisierung der Kleinfamilie als Zelle des Staates bis zur Wiedergeburt der Großfamilie in Gestalt der jetzigen Not- und Versorgungsgemeinschaften entwickelte, lässt sich der Wandel, dem die Familie heute weltweit unterworfen ist, besonders gut beobachten. Denn auch dieser Wandel vollzieht sich dort in extremen Formen und sozusagen im Schnellkurs.

Russlands Sonderrolle beendet?

Man könnte meinen, mit dem Ende der Sowjetunion sei die Sonderrolle Russlands ausgespielt und alles könne nun seinen „kapitalistischen Weg“ gehen, auf dem auch Russland sich einfinden werde, „wie alle zivilisierten Staaten“. Der Einwand liegt nahe, ist üblich und verständlich, nur hält er der geschichtlichen Dialektik nicht stand: Zweifellos wird Russland selbst wohl noch lange mit einer Dynamik der Individualisierung konfrontiert sein, denn trotz der heute dort entstehenden Mischformen ist die während der letzten siebzig Jahre mit Gewalt erzwungene Verstaatlichung und die damit einhergehende Diskreditierung der kollektiven Traditionen nicht einfach abzuschütteln. Ebenso zweifellos aber bringen die westlichen Gesellschaften durch ihre schon seit langem fortschreitende ökonomische Atomisierung und soziale Anonymisierung eine aktuelle wirtschaftliche Notwendigkeit und ein tiefes kulturelles wie mentales Bedürfnis nach Zusammenschluss, nach gegenseitiger Hilfe der aus dem Produktionsprozess Ausgestoßenen, das heißt nach Wiederanschluss an einen gemeinschaftlichen Prozess der Herstellung der Lebensgrundlagen hervor. Der globale Privatisierungsschub, der dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie dem Zerfall der westlichen linken und im weiteren Sinne sozialdemokratischen Bewegungen folgte, verstärkt diese Tendenz. Gleichzeitig entfiel der immerhin über mehrere Generationen bestehende Zwang zur Abgrenzung vom sowjetischen Modell. Dies alles führte in den letzten Jahren in ehemals dem globalen „Westen“ zugeordneten Gesellschaften zu einem Boom von Gemeinschaftsbildungen der vielfältigsten Art. Diese Entwicklung hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht.

Auch die Gegenbewegungen in Russland selbst sind sehr komplexer Natur: Während von Staats wegen ein Privatisierungskurs gefahren wird, äußert sich in der sozio-ökonomischen Substanz von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine an die kollektiven Traditionen gebundene Resistenz gegen dessen praktische Konsequenzen, die faktisch zu einer Stabilisierung gemeinwirtschaftlicher Strukturen führt. Ganz abgesehen davon, dass das russische Budget heute zu 60% aus den Einnahmen der endlichen Rohstoffe Gas und Öl resultiert und die Ernährung der Bevölkerung, wie schon erwähnt, zu ebenfalls 60% auf der regenerativen familiären Zusatzwirtschaft basiert. Diese Tatsachen lassen erkennen, wohin Russland sich – ungeachtet des ideologischen Drangs nach westlichen Formen der Modernisierung – auf Dauer bewegt.

Zweifellos ist dieser zeitliche Übergangsbereich nicht auf den geografischen Raum der ehemaligen Sowjetunion beschränkt und sicherlich vollzieht sich dieser Prozess nicht geradlinig. Keineswegs sind alle sozio-ökonomischen Zwischenformen, die wir in Russland oder anderswo heute entstehen sehen, gleich auch gelungene Zukunftsentwürfe. Es wird viele Experimente und manche Irrwege geben, die lediglich Altes wieder aufwärmen und über kurz oder lang verworfen werden. Man muss schon sehr genau hinschauen, um zukunftsfähige Gemeinschafts-Ansätze von vorübergehenden Gelegenheitszusammenschlüssen, bloßen Ellbogen-Vereinigungen oder gar rechten Pressure-Groups unterscheiden zu können.

Der Spielraum der Versorgungsgemeinschaft

„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, lautet die Essenz in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Ich denke, Emanzipation von der Lohnarbeitsgesellschaft ist da erreicht, wo dieser Satz ohne Diskriminierung ausgesprochen und auch gelebt werden darf. Den Raum dafür muss die Versorgungsgemeinschaft schaffen.

Letztlich ist die Krise der Lohnarbeitsgesellschaft als Chance zu begreifen, endlich zu einem Zusammenleben zu gelangen, wie nicht nur Schiller es sich erträumt hat. Ansätze, Möglichkeiten und lebendige Beispiele gibt es allerorten. Dies ist mit der Aufforderung gemeint, aus der Not eine Tugend zu machen. Heute geht es nicht mehr darum, neue Utopien zu formulieren, sondern zu konkretisieren, was lange schon als notwendig erkannt ist, und die vielen Ansätze, die es zu dessen Verwirklichung bereits gibt, ins öffentliche Bewusstsein zu heben. Um auch jene aufzurütteln, die den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben und denen Mut zu machen, die glauben, sie könnten nichts ändern, weil sie allein stünden. Dieser Weg ist – wie Elmar Altvater richtig formuliert hat – kein „Sturm auf den Winterpalast“ , er ist vielmehr ein lang andauernder Prozess der kulturellen Umbewertung und Umwälzung. Dazu gibt es aber keine Alternative. Der Gewinn liegt in einer unmittelbaren Erhöhung der Lebensqualität, jedenfalls sofern man darunter etwas anderes versteht, als einen sich selbst auf immer höherer Stufenleiter reproduzierenden Konsum, nämlich Freude am eigenen Leben und an der Lebensfreude anderer.

Erscheint als Buch
Herausgegeben von Attac Österreich im Herbst 2005

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Zurück zum Sozialismus? Nein, vorwärts zum sozialen Staat

Die Wahl zum deutschen Bundestag 2005 hat eine historische Zäsur sichtbar werden lassen, die sich lange vorbereitet hatte. Dem entfesselten Kapitalismus, der sich seit der Auflösung der Sowjetunion im Namen der Globalisierung natürliche und menschliche Ressourcen in brutalster Weise unterwirft, ist in Deutschland ein Stoppschild entgegengestellt worden, das seine Vertreter nicht ohne Folgen überfahren können. Das gilt für die Vertreter des Kapitals selbst, für unser Land, für die EU und über sie hinaus.

Die Entstehung einer linken Opposition jenseits der SPD ist nicht der erste und nicht der einzige Versuch, der Brutalität des von den Fesseln seines sowjetischen Gegners befreiten Kapitalismus entgegenzuwirken, aber der für uns sichtbarste. Vorher gab es stille Widerstände in den Ländern der Sowjetunion selbst, deren Bevölkerung sich zu großen Teilen der einfachen Übernahme des westlichen Systems verweigerte und dies auch weiterhin tut; es gab den Widerstand der islamischen Welt, die sich gegen die westliche Technokratie wehrt bis hin zu deren terroristischen Ausläufern, die zum Kreuzzug gegen den Westen aufrufen, es gab die französische Abstimmung gegen die EU-Verfassung, der sich gegen eine imperiale Ausrichtung der EU richtete; in Deutschland gab es Bewegungen gegen den Rückwärtsgang in der AKW-Frage, gegen Privatisierungen von Kommunal-Eigentum, gegen Sozialabbau, aber es blieben isolierte Bewegungen, die immer noch als ständische Interessengruppen (Gewerkschaften, Greenpeace, Attac, Verbraucherproteste etc.), als Randgruppen mit Partikularinteressen oder wie die PDS als Stimme frustrierter Verlierer abgetan werden konnten. Jetzt sind die Rinnsale dieser Kritik, die bisher einzeln flossen, erstmals seit dem Ende der Sowjetunion zu einem oppositionellen Fluss zusammengekommen, der nicht mehr übersehen werden kann.

Das bürgerliche Lager ist nicht willens, die neue Opposition zu akzeptieren, sondern grenzt sie aus, während man selber nach neuen Koalitionen sucht, mit denen die linke Opposition aus dem politischen Spiel gehalten werden kann. Unterm Strich bedeutet das, dass die Rechtsentwicklung, die unter der Decke sozialdemokratischer Politik in den letzten Jahren stattfand, ebenso wie die dagegen gewachsene Opposition nunmehr offen zutage tritt. Was ist der Kern der Entwicklung?

1. Der nach-kommunistische, nach-sowjetische Konsens des vereinigten Deutschland ist geplatzt, die verdrängte soziale Frage, einschließlich ihrer definierten sozialistischen Perspektive kehrt auf neuem Niveau in die Gesellschaft und in die Politik zurück.
2. Die Nicht-Beachtung der sozialen Frage wie auch genereller sozialistischer Perspektiven verwandelt sich in dem Moment in Ausgrenzung, in dem die linke Opposition auf Augenhöhe auftaucht und Gleichbehandlung verlangt, das heißt, sie führt über die Aufkündigung des anti-sozialistischen Tabus hinaus zu einem Bruch des demokratischen Konsenses der BRD.
3. Die Ausgrenzung bedient sich des einfachen Tricks, die neue Opposition als Ewiggestrige zu diffamieren, die zum „Sozialismus“, gemeint, dem autoritären Sozialstaat sowjetischer Prägung zurückkehren wollen. Sie bedient sich dabei der Tatsache, dass große Teile der linken Opposition, besonders ihre gewerkschaftlichen Kräfte, nicht nur zur Verteidigung des Sozialstaates klassischer Prägung, also des paternalistischen Fürsorgestaates aufrufen, sondern mit ihrem Einsatz für staatliche Grundversorgung, Bürgergeld usw. dessen weiteren Ausbau fordern, bevor sie das klassische sozialdemokratische Verständnis vom Sozialstaat einer erkennbaren Kritik unterzogen zu haben.
4. In dem Bemühen um Ausgrenzung der neu entstandenen linken Opposition sind sich alle bürgerlichen Kräfte – von der CSU über die CDU, die SPD, bis zur FDP und den GRÜNEN – ohne Abstriche einig und es spielt nur eine untergeordnete Rolle, in welcher Koalition sie sich zusammenfinden werden – sie wird sich immer gegen die linke Opposition richten.
5. Eine schnelle Integration der neuen linken Opposition in die SPD oder in irgendeine wie auch immer geartete Koalition ist nicht zu erwarten; ihre Entstehung ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines Gärungsprozesses, der schon vor dem Ende der Sowjetunion einsetze, mit deren Ende beschleunigt wurde und seitdem mit zunehmender Dringlichkeit seinen Ausdruck suchte.

Wenn die linke Opposition sich jetzt allerdings in ihrer Argumentation auf die Verteidigung und den weiteren Ausbau des Sozialstaates beschränkt, ohne sich von dem Modell des autoritären Sozialstaats Bismarckscher Prägung abgesetzt und ein neues Verständnis eines sozial agierenden Staates öffentlich entwickelt zu haben, sich wenigstens erkennbar um dessen Entwicklung zu bemühen, kann die Ausgrenzung der linken Kritiker als Ewiggestrige bei der Mehrheit der Bevölkerung verfangen. Bei den einen wird die Forderung nach der Verteidigung des Sozialstaates alte Erwartungshaltungen der staatlichen Fürsorgementalität bedienen, denen der nationale Staat aber angesichts seiner neuen Rolle in einem globalisierenden Kapital nicht mehr nachkommen kann, auf der anderen Seite wird er den bürgerlichen Gegnern eben dadurch doppelte Munition der Art liefern, dass die „Ewiggestrigen“ mit ihrer „Rückorientierung auf Rezepte von Gestern“ und „nicht einhaltbaren Versprechungen“ den Fortschritt aufhielten. Die Linke, besser gesagt, die Kritiker und Kritikerinnen der neo-liberalen Expansions- und Wachstumspolitik und der daraus folgenden sozialen Missstände, haben dann eine Zukunft, wenn sie den Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit auffangen und in der Kritik am autoritären Modell des Sozialstaates stattdessen ein neues Staatsverständnis entwickeln, das den Übergang aus der Lohnarbeitsgesellschaft in neue soziale Strukturen und damit die Entwicklung von Lebensperspektiven zulässt, die über die kriselnde Industriegesellschaft hinausführen.

Im Zentrum dieser Orientierung steht eine neue Rolle von Staat und Familie für die Organisation der Versorgung und des Zusammenlebens der Menschen. Statt individuell dem Diktat der Lohnarbeit ausgesetzt zu sein, sei es auf der Seite des Überausgebeuteten, sei es auf der Seite dessen, der keine Lohnarbeit findet, wird es in Zukunft den kollektiven Lohnarbeiter geben, der innerhalb seiner sozialen Struktur Lohnarbeit und neue Formen der Selbstversorgung auszugleichen imstande ist. Der kollektive Lohnarbeiter führt notwendigerweise zu einer neuen Form der Familie, in der sowohl die traditionelle Großfamilie als auch die heute übliche Kleinfamilie wie ebenso die Single-Bewegung in einer neuen selbstgewählten Gemeinschaftsform aufgehoben werden, deren Zusammenhalt nicht mehr allein von Blutsbanden hergeleitet ist wie die traditionelle Familie, die aber auch nicht von partiellen ökonomischen Interessen bestimmt ist wie eine GmbH oder sonstige heute übliche ökonomische Organisationsformen, sondern die sich um die existenzielle Grundversorgung des selbstgewählten Kollektivs herum bildet, das auf diese Weise geburtsbestimmte und selbstgewählte Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbindet.

Historische Ansätze zu solchen sozialen Strukturen, praktisch wie denkerisch, hat es immer wieder gegeben: das sind zum einen die klassischen Formen der russischen Bauerngemeinschaft, der Òbschtschina, in der Sowjetzeit übergegangen in Sowchose und Kolchose, in denen sich durch die Jahrhunderte eine andere Gemeinschaftsform entwickelt hat als im Westen. Das sind nomadische Weidegemeinschaften, die seit Jahrtausenden als Wahlkollektive auf verwandtschaftlicher Basis gebildet wurden und immer noch werden, das sind aktuelle diverse Lebens-Gemeinschaften, die sich unter dem Druck der Verhältnisse in Deutschland, in Europa, ja weltweit in den letzten Jahren gebildet haben und sich weiter bilden. In ihnen hat sich die neue Zeit bereits real angekündigt.

Nicht zurück zum Sozialismus also, sondern vorwärts zu einer Überwindung des entfesselten Kapitalismus, den man angesichts seiner krisenhaften Entwicklung, der erkennbaren Lohnarbeits- und Versorgungskrise vielleicht sogar besser einen gefesselten Kapitalismus nennen sollte, lautet der Ruf, unter den die Entwicklung von Alternativen heute gestellt werden muss, vorwärts zu neuen Formen des menschlichen Zusammenlebens und der Beziehung der Menschen zur Natur. Dazu gehört auch, den Ruf „Zurück zur Natur“ durch die Aufforderung zu ersetzen, auf heutigem technischen, wissenschaftlichem und ethischem Niveau aufs Neue voran zur Natur zu gehen.

Die Zukunft liegt in einer Überwindung des autoritären Fürsorgestaates Bismarckscher- wie auch sowjetischer Prägung, in der Entwicklung von individueller Eigenverantwortung in der selbstgewählten Gemeinschaft; eine Entstaatlichung ist also zu fordern – aber dies nicht in dem Sinne, dass der Staat, wie er jetzt ist, sich aus der sozialen Verantwortung zieht, sondern indem der Staat zur gezielten Förderung von kollektiven Versorgungsstrukturen veranlasst wird, in deren Rahmen die Menschen Lohnarbeit und Selbstversorgung, die durch die Folgen der Lohnarbeitskrise heute wieder neu gemischt werden, miteinander ausgleichen können.

Wenn der Staat diese Aufgabe übernimmt, wächst er in die Funktion hinein, die er in Zukunft haben sollte, nämlich den Rechts-Verkehr zwischen den Versorgungsgemeinschaften zu regeln, während Wirtschaft und geistiges Leben davon unabhängige Organisationsformen finden, so dass dieser den Verkehr regelnde Staat, eine unabhängige Wirtschaft und ein ebenso unabhängiges geistiges Leben sich gegenseitig kontrollieren; die soziale Grundeinheit, auf deren Basis das geschieht, wird die genannte Versorgungsgemeinschaft sein. Ansätze für eine solche Entwicklung sind heute erkennbar, nicht zuletzt in den Ländern, die nach dem Ende des Sowjet-Sozialismus nicht einfach zum Kapitalismus übergehen konnten wie Russland. Aber auch Deutschland trägt das sozialistische Erbe, insonderheit nach der deutsch-deutschen Vereinigung, in einer Weise in sich, die ihm die Chancen gibt, Avantgarde eines Impulses für eine neue soziale Ordnung zu werden. Der Weg dahin muss Schritt für Schritt gefunden werden. Gewaltenteilung, das sei klar gesagt, muss es auch bei dieser Reise geben, aber sie muss nicht innerhalb des Staates verbleiben, sondern die staatliche Organisation muss selbst ein Teil davon sein, so wie Körper, Geist und Seele sich gegenseitig ergänzen und kontrollieren. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution folgt dem gleichen Gedanken. Es ist Zeit ihn zu verwirklichen.

 

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland-Politik der EU: Vorne lächeln, hinten zündeln.

Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes wurde allenthalben Frieden und Partnerschaft beschworen. US-Präsident Bush, ebenso wie Gerhard Schröder eilten zur Siegesfreier nach Moskau. Die Siegesparade auf dem roten Platz stand demonstrativ unter dem Zeichen der Versöhnung. Der russische Präsident Putin durfte vom Roten Platz aus unwidersprochen der Opfer gedenken, die die sowjetische Bevölkerung für die Befreiung Europas vom Faschismus brachte und die Verdienste hervorheben, welche die Sowjetunion an der Niederschlagung des Faschismus hatte. Es war eine erhebende Feier, die nur den kleinen Schönheitsfehler hatte, dass die Moskau Bevölkerung dafür die Innenstadt räumen musste.

Auf dem anschließenden EU-Russland-Gipfel in Moskau setzte sich diese Linie fort: langfristige Zusammenarbeit, sogar gemeinsame Konfliktlösungen im Kaukasus wurden verkündet. Deutsche Medien wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konstatierten die „einfache Erkenntnis“, dass man einander brauche. Besonders deutlich zeige sich die gegenseitige Abhängigkeit in der Energiefrage: Russland besitze große Energiereserven an Öl und Gas, ohne die die Energieversorgung der EU langfristig nicht gesichert werden könne. Andererseits sei Russlands Aufschwung in den letzten Jahren fast ausschließlich von dem Rohstoffexport nach Europa getragen worden. In den Wochen zuvor hatte Russlands Präsident schon erklärt, er wolle die Zusammenarbeit Russlands mit der NATO verstärken, sogar die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, also den Zusammenschluss von zentralasiatischen GUS-Staaten und Russland in Verbindung mit dem NATO-Rusland-Rat bringen.

Bei so viel Einigkeit könnte man die kleinen Unstimmigkeiten, die diese Demonstrationen des guten Willens begleiteten, fast übersehen, wenn – ja, wenn sie nicht so penetrant hervorstechen würden wie der Besuch George W. Bushs in Lettland, wo er einen Tag vor seiner Teilnahme an der Moskauer Siegesfeier betonte, dass Amerika niemals die „Besetzung und kommunistische Unterdrückung“ der Balten vergessen werde. Er hob Litauen, Estland und Lettland als Symbole dafür hervor, dass die Liebe zur Freiheit stärker sei als der Wille eines Imperiums und ließ es sich schließlich nicht nehmen zu prophezeien, dass auch Russland von der Verbreitung demokratischer Werte profitieren werde.

Provokativer konnte die Antwort auf Putins wenige Tage zuvor bei seiner Rede an die Nation getroffene Feststellung, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei, nicht ausfallen.

Nicht weniger penetrant war der Auftritt der frisch gekürten US-Außenministerin Condoleeza Rice, die im Vorfeld des Bush-Besuches in Vilnius die Weißrussische Bevölkerung dazu aufrief, bei der nächsten Wahl im kommenden Jahr gegen Lukaschenko aufzubegehren. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Azerbeidschan, Georgien und der Ukraine ist das ein unverhüllter Aufruf zum Umsturz in Weißrussland selbst und zur Fortsetzung der gegen Moskaus Einfluss gerichteten sog. demokratischen Revolutionen vor den Grenzen Russlands.

Das bemerkenswerteste Ereignis in dieser Reihe allerdings war ein Gipfel-Treffen der sog. GUAM-Staaten im moldauischen Chisinau nur wenige Tage vor den großen Einigkeitsfeiern. Auf diesem Treffen beschlossen die Anwesenden, dieses bisher eher unbedeutende Spaltprodukt der G.U.S. zu einem Instrument aufzuwerten, das in Zukunft die Interessen seiner Mitglieder gegenüber Moskau stärker zur Geltung bringen solle. Bei ihrer Gründung 1996/7 gehörten der GUAM die Staaten Georgien, Ukraine, Azerbeidschan und Moldawien an, 1999 kann nominell noch Usbekistan dazu. Seinen Namen erhielt das Bündnis von den Anfangsbuchstaben dieser Staaten. Die GUAM beschränkte sich faktisch auf die Bildung eines Transportkorridors für Azerbeidschanisches Öl und auf die Beteiligung am Geschäft mit diesem Öl. Jetzt wurde die Zurückkämpfung des „von Russland unterstützten Separatismus“ zum gemeinsamen Ziel erklärt.

Von Seiten Juschtschenkos, des neuen ukrainischen Präsidenten, besteht seit seiner Wahl sogar das Angebot, die russischen Friedenstruppen in den georgischen Krisengebieten Abchasien und Südossetien durch ukrainische zu ersetzen. Offensichtlich strebt die Ukraine eine Ordnungsfunktion in dem Gebiet an, mit der sie Russland ersetzen will. Die Abchasen und Süd-Osseten, die Russland als Schutzmacht für ihre Autonomie begreifen, protestierten umgehend.

Zur Stabilisierung des Kaukasus trägt ein solches Angebot der Ukraine mit Sicherheit nicht bei; im Gegenteil, es ermutigt Versuche der georgischen Regierung, die Konflikte um die autonomen Gebiete Süd-Ossetien und Abchasien aggressiv anzugehen. Beredt ist in diesem Zusammenhang eine der Öffentlichkeit weitgehend verborgen gebliebene Initiative des Europarates in Strassburg, der sich Anfang Februar dieses Jahres veranlasst sah, die Machtfülle des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili zu kritisieren. Der Rat bemängelte die fehlende Unabhängigkeit der Justiz, prangerte die nicht funktionierende Gewaltenteilung an und wies auf eine praktisch nicht vorhandene Opposition hin. Das Straßburger Abgeordnetenhaus forderte von Tiflis die Einrichtung einer zweiten Parlamentskammer in den Regionen, gemeint sind vor allem Südossetien und Abchasien, und ermahnte die georgische Regierung, bei der Lösung der Konflikte nicht auf Gewalt, sondern auf friedliche Lösungen zu setzen. Aus diesem Grunde wurde das „Überwachungsverfahren“ gegenüber Georgien erst einmal bis zum Herbst 2005 verlängert – wobei hier nicht untersucht werden soll, auf welcher Basis und mit welchem Recht der Straßburger Europarat ein „Überwachungsverfahren“ gegenüber Georgien unterhält. Es ist aber sicher eine gesonderte Untersuchung wert.

Man könnte diese Vorstöße der Ukraine, Georgiens wie auch die Wiederbelebung der GUAM insgesamt getrost als Ereignisse am Rande vorbei ziehen lassen, wenn nicht auf dem GUAM-Gipfel erstmalig auch interessante ausländische Gäste vertreten gewesen und darüber hinaus direkte Signale in Richtung Weißrusslands ausgesandt worden wären. Besonders erwähnenswert sind unter den Anwesenden über den rumänischen Staatspräsidenten Basesku hinaus vor allem der litauische Staatspräsident Adamkus, der OSZE-Generaldirektor Kubis und – last not least – eine namentlich nicht genannte Regierungsdelegation aus Washington. Aus Chisinau kam zudem der Vorschlag, das Bündnis umzubenennen und offen zu halten für weitere Mitglieder. Von dem georgischen Präsidenten Saakaschwili wird in diesem Zusammenhang der Satz zitiert: „Wir haben unsere Feinde in Georgien, der Ukraine und Kirgistan besiegt. Und wir haben doch ein Land auf unserer Liste.“ Es bedarf keiner weiteren Interpretation, dass mit diesem Hinweis Weißrussland gemeint ist und wie man sich die möglichen Interventionen vorzustellen hat.

Man habe sich bemüht, hieß es aus Chisinau, nicht anti-russisch zu erscheinen. Nichts desto weniger wird das neue Selbstverständnis der GUAM mit den unmissverständlichen Worten beschrieben, es bilde sich ein Gegenlager zu der auf einem Status-quo- mit Russland dahindümpelnden G.U.S. unter der Führung Georgiens, der Ukraine und Moldawiens heraus. Die neue GUAM werde, so der georgische Präsident Saakaschwili, „zu einer Organisation demokratischer Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetuinion.“

Mit diesem Gipfel, durchgeführt unter Beteiligung von US-Offiziellen, schließt sich der Kreis zum baltischen Auftritt von Condoleeza Rice und US-Präsident George W. Bush: Entgegen allem anderen Anschein ist US-Politik nach wie vor auf die Einkreisung und Eindämmung Russlands gerichtet, wie es in der Reihe der blumigen und farbigen „Revolutionen“ von Aszerbeidschan über Georgien, die Ukraine bis hin zu dem etwas verunglückten Einsatz „westlicher Beobachter“ in Kirgisien angelegt ist. Mit der Rede, die er gleich nach den Feierlichkeiten des 9. Mai in Tiflis hielt, bekräftigte George W. Bush diesen Willen der USA ein weiteres Mal. Die nächsten Züge in diesem Spiel, gedeckt durch die Unterstützung aus den GUAM-Staaten. sind auf Moldawien, Weißrussland und Kaliningrad gerichtet, Die Strategie dieses Spieles, von Vordenkern wie Brzezinksi ausformuliert, in der Russland nach wie vor als Gegner verstanden wird, der klein gehalten werden müsse, soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden. Sie sind inzwischen hinreichend bekannt. Zu bemerken ist nur, dass die Bush-Regierung sich mit Condoleeza Rice ein neues Gesicht für die nächste Spielrunde zugelegt hat, lächelnd, auf Unterlaufen der Kritik an der US-Politik angelegt, im Kern jedoch nicht weniger aggressiv. Es bleibt abzuwarten, ob irgendjemand sich davon täuschen lässt.

Aber wie erklärt sich die Beteiligung des OSZE-Generaldirektors Kubis an diesem Treffen? Wie verträgt sich seine Teilnahme an dem Unternehmen in Chisinau mit dem erklärten und soeben noch einmal bekräftigten Willen der EU zur strategischen Partnerschaft mit Russland? Könnte es sein, dass die EU über keine einheitliche Strategie gegenüber Russland, bzw. gegenüber den Staaten des ehemaligen sowjetischen Raumes verfügt?

Aus aktuellen Verlautbarungen der EU ist dazu keine Aufklärung zu gewinnen. Das zwingt den Blick auf Grundsatzstudien zur EU-Strategie: Dem sog. „Greenpaper zur Versorgungssicherheit der EU“ von 2002 ist zu entnehmen, dass die EU ein Groß-Europa unter strategischem Einschluss von Russland anstrebt. Einzelne Stimmen im EU-Konzert wie der tschechische Präsident Vaclaf Klaus beziehen sogar Kasachstan mit ein. Diese Strategie, wenn sie denn verwirklicht werden soll, beinhaltet eine Opposition gegenüber den US-Bestrebungen, russisches Öl und russisches Gas aus dem sibirisch-zentral-asiatischen und kaukasischen Raum aus Russland abzuziehen, genauer, Russlands Verfügungsgewalt zu entziehen und sich auf dem Weg über die Türkei direkt zuzuführen.

Die von Gerhard Schröder und Wladimir Putin gerade jetzt so demonstrativ vorgetragene deutsch-russische Freundschaft, ebenso wie der soeben in Moskau durchgeführte EU-Russland-Gipfel liegen auf dieser Linie „gemeinsamer Interessen“. Sie beinhalten eine Stabilisierung Russlands als integrierender Faktor des euroasiatischen Raumes und unersetzbarer Energie-Lieferant, ja, mehr noch, als Retter Europas aus absehbarer zukünftiger Energieknappheit. Das europäische Öl-Gas-Konsortium INOGATE (die Abkürzung steht für: Interstate Oil and Gas Transport to Europa) gibt in ihren im März 2004 vorgelegten umfangreichen strategischen Studien dieser Orientierung der EU-Aussenpolitik den Vorzug vor einer anderen, die in derselben Studie die „imperiale Variante“ genannt wird, erklärt aber zugleich, dass sie sich unter dem Druck sehe, dieser von den USA ausgehenden „imperialen Variante“ folgen zu müssen, sofern die USA durch ihre militärische Interventionspolitik globale Prioritäten setzten.
Einen weiteren Hinweis auf die europäische Strategie gegenüber Russland, dem Kaukasus und Zentralasien liefern die technischen Entwicklungsprogramme der Europäischen Union, die unter dem Kürzel TACIS (Technical Assistance for the Commonwealth on Independent States) laufen. Besonders zu erwähnen ist hier das TRACECA-Programm (Transport Corridor Europe Caucasus Central Asia) dessen Hauptzweck darin besteht, einen Transport-Korridor für Ressourcen aller Art, vor allem aber für Öl und Gas von Europa nach Asien zu entwickeln, der die bisherigen auf Moskau zentrierten Transportwege Euroasiens durch Querverbindungen zwischen Osten und Westen unter dem sog. Bauch Russlands hindurch unterläuft. Neue Pipelines, Neue Bahnlinien, neue Ost-West-Trassen, neue Häfen am kaspischen und schwarzen Meer sollen die eingefahrenen Transportwege, die bisher über Moskau nach Europa führten, ersetzen. Mitglieder dieses TRACECA-Programms sind alle zentralasiatischen und kaukasischen Staaten, einschließlich der Türkei und Chinas.

Es liegt auf der Hand, dass Russland kein Mitglied ist – dies aber nicht nur aus eigenem Verzicht heraus, sondern auch deswegen, weil die Mitgliedsländer von TRACECA sich ausdrücklich gegen eine Mitgliedschaft Russlands ausgesprochen haben. Dass die Programme von TRACECA und INOGATE nicht zusammen passen, ist offensichtlich, wird von ihren Vertretern neuerdings auch öffentlich beklagt; sie fordern eine einheitliche Strategie der Europäischen Union in der Energiepolitik. Mit der Herstellung der neuen Nachbarschaftsverhältnisse zu den Staaten im Vorfeld Russlands als Folge der Erweiterung der Europäischen Union hat diese Auseinandersetzung eine neue Schärfe gewonnen. Der unscheinbare Gipfel in Chisinau ist ein Ausdruck davon.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

Umsturz in Kirgisien: Keine Rosen, keine Tulpen..

Das Muster des Umsturzes in Kirgisien schien das Gleiche zu sein wie zuvor in Georgien und danach in der Ukraine: OSZE-Beobachter erklären einen ersten Wahldurchgang der Parlamentswahlen vom 27. Februar für nicht fair, einen zweiten kritisiert die EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner als Manipulation, die kirgisische Opposition sieht sich gestärkt.
Aber dann läuft alles ein bisschen anders als nach dem erprobten Schema: Keine wochenlangen Demonstrationen einer friedlichen Opposition, keine mit westlicher Unterstützung lange aufgebauten Führer, stattdessen Sturz des Präsidenten Akajew innerhalb eines Tages durch eine außer Kontrolle geratene plündernde Menge, keine pro oder contra Eingriffe vom Ausland, keine erkennbaren diplomatischen Spannungen zwischen den Hauptkontrahenten der Weltpolitik in diesem Raum, vielmehr beruhigende Worte von allen Seiten: Präsident Putin sichert der neuen Übergangsregierung seine Unterstützung zu, während er dem gestürzten Präsidenten Akajew gleichzeitig Asyl gewährt, die USA lässt durch ihre neue Außenministerin Rice erklären, man hoffe auf eine baldige Beruhigung der Lage, der gegenwärtige Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und slowenische Außenminister Dimitrij Rupel ruft die Konfliktparteien zur Mäßigung und zum Dialog auf. Der deutsche Außenminister zeigt sich „besorgt“. Nur zart erhebt sich dazwischen eine milde Zurechtweisung von Seiten des russischen Außenministeriums an die Adresse der OSZE, ihre Wahlbeobachter hätten zur Entstehung der Unruhen beigetragen.

Wieso wird dieses Mal nicht gezündelt wie vorher in Georgien oder in der Ukraine? Ist Kirgisien ein so unbedeutender Stein auf dem eurasischen Schachbrett? Es könnte so scheinen. Als eines der ärmsten Länder, zudem ohne bedeutende eigene Öl- oder Gasvorkommen ist Kirgisien zweifellos nur ein Bauer im eurasischen Spiel – in seiner Lage an der chinesischen Grenze und seiner Nachbarschaft zu Tadschikistan und Afghanistan und den übrigen zentral-asiatischen Staaten aber offenbar doch ein Bauer in strategischer Position. US-Vordenker Zbigniew Brzezinksi zählte Kirgisien zu den Ländern des „ethnischen Hexenkessels“ des von ihm so genannten „eurasischen Balkans“, deren innere Instabilität das „Verlangen ihrer mächtigeren und von Großmachtphantasien getriebenen Nachbarn“ wecke, „diese Situation auszuschlachten.“ Gemeint sind Russland und China.
Vor dem Hintergrund der Öl- und Gasressourcen des Gesamtraumes formulierte er das amerikanische Interesse so: „Die USA sind zwar weit weg, haben aber starkes Interesse an der Erhaltung eines geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Eurasien.“
Und noch klarer: „Amerikas primäres Interesse muss folglich sein, mit dafür zu sorgen, dass keine einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und dass die Weltgemeinschaft ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr hat.“

Für Russland gehört der GUS-Raum zu seinen „außenpolitischen Prioritäten“. „Im GUS-Raum, erklärte Außenminister Lawrow „leben Millionen unserer Landsleute. Da sind unsere Lebensinteressen im Bereich der Wirtschaft, Verteidigung, Sicherheit konzentriert.“
Kirgisien war in diesem Raum bis zum heutigen Zeitpunkt Russlands uneingeschränkter Partner. Die russische Minderheit, die im Übrigen mehrheitlich die Regierung Akajews unterstützte, stellt in Kirgisien 12% der Bevölkerung. Russisch war von Akajew zur zweiten Amtsprache erhoben worden. Kirgisien ist in die zentralasiatische Bündnisstrategie Russlands neben Kasachstan am engsten eingebunden: Es ist Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, zu der außerdem Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien, Russland und Tadschikistan gehören; eine Zollunion dieser Länder ist geplant. Kirgisen ist Mitglied der Schanghaier Organisation für Kooperation, der neben Russland und China sämtliche mittelasiatischen Staaten angehören und es hat den Vertrag über kollektive Sicherheit unterschrieben, zu dem Armenien, Weißrussland, Kasachstan und Tadschikistan gehören.

Russland wie auch die USA unterhalten heute gleichermaßen Militärbasen in Kirgisien; 10% des nationalen Budgets Kirgisiens werden nach Schätzungen von Wirtschaftsbeobachtern durch Einnahmen aus dem Betrieb der russischen und amerikanischen Basen finanziert. Die Russen betreiben neben einer Luftwaffenbasis in Kant, ein Testgelände für Torpedos am Gebirgssee Issyk-Kul und eine Messstation, die weltweit Atomtests registriert. Für die USA ist der Militärstützpunkt Manas in Kirgisien neben ihren Basen in Usbekistan einer der wichtigsten Stützpunkte für ihre Einsätze in Afghanistan. Von Manas aus, wo inzwischen über 2.000 Soldaten stationiert sind, werden die Truppen in Afghanistan versorgt.
Für China wie für die EU ist Kirgisien wichtiger Teil des Transport-Korridors am Bauch Russlands, bestehend aus neuen Pipelines für Öl und Gas, neuen Trassen und Bahnanlagen, die den Westen und den Osten quer durch Zentralasien und den Kaukasus unter Umgehung Russlands verbinden sollen. Die zentralen strategischen Bemühungen der EU wie auch Chinas sind seit 1992/3 auf diese Projekte gerichtet, mit denen sie ihre jeweilige Energieversorgung sichern wollen.

Was auf diese Weise in Kirgisien entstand, kann man nicht anders als ein geopolitisches Patt bezeichnen. Wichtiger als eine „demokratische Revolution“ ist für die „global player“ unter solchen Umständen offensichtlich, die Stabilität des Raumes und das dort zur Zeit herrschende Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten und einen Dominoeffekt auf die übrigen zentralasiatischen autoritären Regime zu verhindern. Insbesondere geht es ihnen auch um die Unterbindung islamistischer Bewegungen. Von Förderung der Demokratie oder gar einer demokratischen Revolution ist jedenfalls nicht die Rede. Das war vor dem Sturz von Akajew so, als sich die „internationale Gemeinschaft“ mit Kritiken an dem autoritären Charakter des Akajew-Regimes zurückhielt und ihn zur Niederhaltung der islamistischen Hisb-ut-Tahir errmutigte; das wird auch jetzt vermutlich nicht anders sein.

Bleibt schließlich nur noch anzumerken, dass Kirgisien auch Mitglied des Antiterroristische Zentrum der GUS ist, das nach dem 11.9.2001 geschaffen wurde. In ihm laufen die Interessen aller Großmächte, die an dem eurasischen Spiel beteiligt sind, trotz aller Differenzen soweit zusammen, dass sie an Unruhen in diesem Gebiet der Welt zur Zeit nicht interessiert sind.

Kai Ehlers
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Jukos-Versteigerung – wem gehört Russland und wer benutzt Chodorkowski?

Am Wochenende wurde der russische Öl-Konzern Yukos zwangsversteigert, genauer sein ertragreichster Teil Yuganskneftgas. Er wurde für ca. sieben Milliarden Euro von einer bisher unbekannten Baikal Finance Group übernommen.
Große Bewegungen sind diesem Ereignis vorhergegangen: Die russische Regierung erklärte, so die Steuerschulden des Konzerns eintreiben zu müssen. US-Gerichte dagegen hatten die Versteigerung auf Antrag von US-amerikanischen Jukos-Eignern mit einem Verbot belegt, das sie mit „Gläubigerschutz“ und „Rechtssicherheit“ begründeten. Westlichen Großbanken, welche die Transaktion durch Kredite ermöglichen wollten, hatten sie im Falle ihrer Teilnahme an der Aktion mit Sanktionen gedroht. Unter diesen Banken befand sich die Deutsche und die Dresdener Bank, dazu die französiche BNP und Credite agricole, die niederländische ABN Amro und JP Morgan aus den USA.
Die Banken wichen vor dem US-Druck zurück; die russische Regierung musste ihrer Staatsbank Sondergenehmigungen zuweisen, um einem potentiellen Bieter die notwendigen Kredite für den Kauf zur Verfügung stellen zu können. Der hat sich nun offenbar in Gestalt der Baikal-Gruppe gefunden.
Derweil sitzt der ehemalige Chef von Yukos, Chodorkowski, weiter in Haft. Von dort aus ließ er erklären, er könne die Konzernleitung von Yukos nicht dafür verurteilen, dass sie sich an ein amerikanisches Gericht gewandt hätte, um die Zwangsversteigerung verbieten zulassen. Das sei sie ihrer persönlichen Reputation vor den Aktionären schuldig, nachdem sie alles andere versucht hätte, den Konzern vor dem Ruin zu retten. Er könne auch die Exekutive verstehen, erklärt Chodorkowski sibyllinisch, nicht allerdings die Machthaber des Landes, die den Konzern und damit den Aktienmarkt zu einem Zeitpunkt beachtlicher wirtschaftlicher Bedingungen zerstörten hätten.
Wie vor Monaten das Drama in Beslan, wie vor wenigen Wochen die Vorgänge in der Ukraine waren auch die Ereignisse um Yukos wieder von Wellen der Empörung über den russischen Präsidenten Putin begleitet, der in einer „konzertierte Aktion“ von Staatsorganen und Steuerbehören nicht nur die demokratische Entwicklung Russlands zurückdrehe, sondern nun auch dazu übergehe, privates Unternehmertum zu zerschlagen und erneut sowjetische Verhältnisse herstellen wolle.
Die russischen Liberalen richteten über den „Allrussischen Bürger-Kongress“ einen Appell an „Amnesty international“, Michail Chodorkowski als politischen Gefangenen einzustufen. Die deutschen GRÜNEN, unterstützt von der Heinrich-Böll-Stiftung, forderten die russische Regierung in einem offenen Brief auf, im Prozess gegen Michail Chodorkowski rechtstaatliche Prinzipien einzuhalten und „wie überall auf der Welt üblich“ von der Unschuldvermutung des Angeklagten auszugehen. Sechsundvierzig Unterschriften europäischer Politiker/innen brachten sie dafür zusammen – neben drei US-Amerikanischen Neo-Konservativen unter ihnen ausgerechnet Robert Kagan, einer der bekanntesten US-Scharfmacher. Am Wochenende traf man sich auf Einladung der Böll-Stiftung in geschlossener Gesellschaft zu einer Solidaritätsveranstaltung für Michail Chodorkowski in Berlin.
Auf der anderen Seite stehen scharfe Erklärungen des russischen Außenministers Lawrow, der den US-Richterspruch als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands“ zurückwies. Er gab der Vermutung Ausdruck, jemand wolle die Stimmung anheizen und versicherte, die Lösung des Falles Yukos werde „ausschließlich nach russischen Gesetzen“ geregelt. Ein Sprecher von Gasprom bezeichnete die Auslassungen der US-Gerichte als Schmutzkampagne gegen den russischen staatlichen Multi und andere mögliche Bieter.
Was spielt sich ab? Was sind die Nachrichten hinter den Nachrichten, die man wissen sollte? Erinnern wir uns:
Yukos entstand wie viele andere der oligarchischen Unternehmen Russlands Mitte der Neunziger Jahre aus den Zwängen der schnellen Privatisierung, aus der Ungeduld und Not der russischen Reformer, die a) den Systemwandel unumgänglich machen wollten, b) die leere Staatskasse auffüllen mussten, c) ihre Betriebe aber trotz allem lieber an russische Käufer als an Ausländer abgeben wollten. Auf diese Weise kamen die späteren Oligarchen zu Dumpingpreisen und unter undurchsichtigen bis kriminellen Umständen an die Verfügung über das frühere Volksvermögen und an Nutzungsrechte für Öl-, Gas- und sonstigen Ressourcen und das alles, ohne dafür steuerlich einstehen zu müssen.
Yukos wurde zum größten innerrussischen Monopolisten, der Staat und Regierung seine Bedingungen diktieren konnte, aber dabei blieb es nicht: Michail Chodorkowski setzte auch dazu an, große Teile des Konzerns an den größten westlichen Öl-Multi Exxon zu verkaufen; von bis zu 40% war die Rede. Auch ein zweiter Öl-Riese, die Chevron Texaco Corporation war im Gespräch. Vordem Hintergrund weiterer US-Beteiligungen an anderen Gruppen hätte bedeutet, dass russisches Öl und Gas nicht nur in privaten Händen gelegen hätte,
was sich für die russische Regierung bereits als Problem erwiesen hatte, sondern auf dem Umweg über Yukos tendenziell unter den Zugriff von US-Firmen zu kommen drohte.
Schließlich, in Fortsetzung dieser Linie, führte die Verhaftung Chodorkowskis im Jahre 2003 und seine lang andauernde Inhaftierung dazu, dass nahezu sämtliche Führungsposten des Konzerns von Managern mit US-amerikanischen Pässen besetzt wurden nd der Konzern praktisch von den USA aus geführt wurde, obwohl nur 15% der Aktien in amerikanischem Besitz sind. Diese Leute waren es jetzt auch, die amerikanische Gerichte angerufen haben.
Die US-Richterinnen, sowohl die Konkurs- wie auch die prüfende Bezirks-Richterin, die sich anmaßten, eine von der russischen Regierung verfügte Zwangsvollstreckung zu verbieten, sind also nicht etwa nur durchgeknallte oder geltungssüchtige US-Provinzfiguren. Ihr Spruch ist vielmehr Ausdruck einer systematischen US-Politik, die versucht, ihre Hand auf russisches Öl und Gas zu legen und dabei zugleich den Europäern den privilegierten Zugriff zu verwehren.
Man muss dabei nicht einmal in die Untiefen der neokonservativen Lobby einsteigen, wie es der britische Journalist John Laughland versucht, der die personellen Verbindungen zwischen der „Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden“, die von Yukos zur Finanzierung von NGOs in Russland gegründet wurde, und bekannten Neokonservativen der USA und Englands nachzuzeichnen versucht. Es reicht darauf hinzuweisen, dass Exxon und andere US-dominierte Konzerne nach wie vor kaufbereit sind und es reicht, daran zu erinnern, dass und nicht zuletzt wie die USA versuchen, sich weltweit den Zugriff auf die Ölressourcen zu sichern, um die Preise für sich niedrig zu halten.
Seitdem der Versuch, dies durch eine schnelle Kolonisierung des IRAK zu erreichen, nicht gelang, der Ölpreis stattdessen ins Unermessliche stieg, tritt nunmehr die zweite Option der USA in den Vordergrund, nämlich, die Kontrolle der russischen Ölquellen. Das sind über die kaukasischen hinaus insbesondere auch die noch nicht erschlossenen sibirischen Felder. Entsprechende Studien wurden vom CIA in seinem Report „Global Trends 2015“ im April 2004 veröffentlicht.
Interessant dürfte in diesem Zusammenhang die Mitteilung John Laughlands sein, dass ausgerechnet Michail Chodorkowski ihn in einem Gespräch im September 2002 darauf aufmerksam gemacht habe, es bestehe die Gefahr, dass die USA, wenn sie die Kontrolle über die Irakischen Ölfelder bekämen, den Preis auf zwölf Dollar für den Barrel drücken könnten und das dies die russische Öl-Industrie und schließlich Russland selbst zerstören würde.
Die unerwartete Verlauf des Irak-Krieges hat dazu geführt, dass diese Befürchtungen Chodorkowskis nicht eintrafen, in dem Verlauf des Krieges liegt aber auch der Grund für die neue Anti-Putinsche Politik, die seitdem von Washington aus gefahren wird. Auf dieser strategischen Linie ist auch Chodorkowski nur noch ein Ball, der hin und her gespielt wird.
Vor diesem Hintergrund fragt man sich, welcher Teufel die Europäerinnen und Europäer reitet, bzw. welche Erwartung diejenigen haben, die sich vor den Karren dieser US-Politik spannen lassen, indem sie einen „offenen Brief“ nach dem anderen unterzeichnen, indem sie für einen russischen Oligarchen noch dann eine „Unschuldvermutung“ einklagen, nachdem dieser selbst schon längst öffentlich erklärt hat, sich schuldig gemacht zu haben und selbst auf Wiedergutmachung durch Rückzahlungen an Staat und Aktionäre drängt. Geht es überhaupt noch um Chodorkowski? Oder ist er auch in dieser Solidaritätskampagne nur Spielball? Unternehmen anderer Branchen fühlen sich jedenfalls durch die Verhaftung Chodorkowskis in keiner Weise behindert. Eher das Gegenteil: Zeitungen wie „Ost-West-Contact“ und anderen Plattformen des Marktes ist entnehmen, dass man in Unternehmenskreisen den Fall Chodorkowski eher als Verbesserung des „Rechtsstandards, auch für Oligarchen“ betrachtet. So war es von Andrea von Knoop Ende November dieses Jahres zu hören, der Chefin des „Verbandes der deutschen Wirtschaft in Russland“, wofür sie prompt den „Orden der Freundschaft“ von Putin verliehen bekam. Eine Kampagne für Menschenrechte, Demokratie und Zivilgesellschaft, so scheint es, muss offenbar mehr leisten als nur Unschuldvermutungen für einen Oligarchen zu fordern.

Kai Ehlers

Überrascht von Putins Offenheit?

Konkrete Beschlüsse über eine kaukasische Krisen-Versammlung, über russische Truppenabzüge aus Tschetschenien, Rücknahme von NATO-Posten in Aserbeidschan, Georgien oder der Ukraine, gar über die Einrichtung einer UN-Schutz- oder Entwicklungszone in Tschetschenien wird man vergeblich auf dem Kommuniqué der deutsch-russischen Verhandlungen suchen.
Und doch ist die Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis zu verstehen, die sich überrascht von Putins Offenheit zeigte. Putins demonstrativ erklärte Bereitschaft, die „Berliner Vorschläge für ein deutsch-russisches Dialogprojekt zur Stabilisierung des Kaukasus“ als Grundlage für eine gemeinsame Kaukasus-Politik zu übernehmen, insbesondere dass tschetschenische Problem sowie die Entwicklung in der Ukraine gemeinsam angehen zu wollen, ist ein Signal, das aufhorchen lässt.
Aufhorchen werden vor allem die USA, von denen die Krisenherde im Kaukasus in letzter Zeit – um es vorsichtig auszudrücken – zunehmend benutzt werden, eine anti-putinsche Linie durchzusetzen, deren Ziel offensichtlich ist, Russland auf einen Lieferanten von Öl, Gas und anderen Ressourcen zu reduzieren und dies möglichst zu Preisen, die sie diktieren,. Der zunehmend außer russischer Kontrolle geratende Krieg in Tschetschenien, die „Revolution“ in Georgien, danach in der Ukraine, die unüberhörbaren Drohungen, dass auch in Weißrussland keine Diktatur geduldet werden dürfe, schließlich der Versuch, der USA, die Yukos-Affäre zu einer Angelegenheit amerikanischer Gerichtsbarkeit zu erklären, alle diese Vorgänge haben die russische Führung offenbar davon überzeugt, dass sie sich Bündnispartner in Europa muss. Wer liegt da näher als Deutschland? Deutschland hängt zu 40% von russischen Gas-Lieferungen ab; die Versorgungslinien führen von Azerbeidschan durch Tschetschenien und durch die Ukraine. Deutschland will privilegierte Pipelines nach Norden in die Ostsee zusammen mit Russland bauen. Die deutsche Wirtschaft verspricht sich von Russland den expandierenden Markt, der ihr zuhause wegschrumpft. Diese Aufzählung lässt sich fortsetzen. Vor diesem Hintergrund kommt Putins Offenheit überraschend, ist aber nur folgerichtig, wenn er der weiteren US-Umklammerung entkommen möchte. Man darf gespannt sein, welche Antwort dazu aus Washington kommt. Dass eine kommt, und zwar kräftig, dürfte sicher sein.

Kai Ehlers

Russland: Ein Entwicklungsland neuen Typs? Eine Betrachtung zu Russlands Wachstumskräften

Seit zwanzig Jahren befindet sich Russland in der Krise.
Von Europa wird es als kranker Mann der Globalisierung wahrgenommen. Wie seinerzeit Oswald Spengler vom „Untergang des Abendlandes“ sprechen manche Leute in und außerhalb Russlands heute gern vom „Untergang Russlands“, wobei unklar bleibt, was damit gemeint ist: das sowjetische Russland, das zaristische, das gegenwärtige – oder überhaupt Russland? Ich möchte dem die Beobachtung entgegensetzen, dass in Russland neue Kräfte entstehen, dass die russische Krise als Wachstumskrise zu verstehen ist und Russland die Chance hat, zum Impulsgeber von Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft zu werden, die über die aktuelle Krisenbewältigung in Russland und auch über Russland hinaus Bedeutung haben.

Beginnen wir mit den Fakten:
Die nackten Daten sind natürlich bedrückend:
26% der russischen Bevölkerung leben heute unter dem Existenzminimum , die demografische Entwicklung ist rückläufig; von 1990 bis heute hat Russland trotz Zuwanderung aus früheren sowjetischen Siedlungsgebieten 4,7 Millionen Menschen verloren; bis zum Jahr 2015 wird ein weiterer Rückgang der Bevölkerung um 8,5 Millionen Menschen erwartet. Städte, ganze Regionen schrumpfen (im Gegensatz zu Moskau und einigen wenigen Metropolen, in die jene Menschen drängen, die vor der Armut flüchten); die Bevölkerung lebt zu 60% von der Datscha, dem Hofgarten oder dem eigenen Feldstückchen vor der Stadt. Das Staatsbudget stützt sich im Wesentlichen auf die Einnahmen aus dem Export der natürlichen Ressourcen Öl, Gas, Holz usw.: Deindustrialisierung, Dequalifizierung, Depopularisierung, Demoralisierung und Atomisierung sind die Schlagworte für diese Entwicklung.

Sie entspricht den Prognosen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) bei Einsetzen der Perestroika vorbrachte; ja, genauer, sie entspricht den Zielen, die der IWF Ende der 80er Jahre für eine Gesundung der seiner Ansicht nach aufgeblähten Sowjet-Wirtschaft vorgab: Schrumpfung lautete das entscheidende Stichwort in dem Bericht, den der IWF und die Weltbank 1989 anfertigten und den sie 1991 gemeinsam vorlegten. Der Bericht war die Grundlage, auf der Jegor Gaidar und Boris Jelzin 1991 ihre Strategie der „Schocktherapie“ aufbauten. Teile des IWF-Berichtes gingen wörtlich in das Privatisierungsprogramm der Regierung Gaidars ein. Kern des Programms war die Entkollektivierung, insofern IWF und Gaidar die Sowjet- und Kolchosstruktur der Produktion wie der Agrarwirtschaft Russlands als Haupthindernis einer effektiven Produktionsentwicklung betrachteten. Damit knüpften sie zugleich an den Positionen Pjotr Stolypins vom Anfang des Jahrhunderts an. Die Ergebnisse der Gaidarschen Gewaltkur brachten jedoch, wie die Zahlen zeigen, das Gegenteil des Erhofften: Russland, könnte man sagen und viele sagen es, ist auf den Stand eines Entwicklungslandes zurückgefallen.

Und dennoch: Trotz scharfer Versorgungsengpässe Ende der achtziger und Anfang der 90er, trotz der Schießereien am Weißen Haus `93 und selbst, wenn man den Krieg in Tschetschenien bedenkt, führte die Krise bisher zu keiner Hungerkatastrophe, das Land verfiel nicht in einen Bürgerkrieg und es nahm keine Zuflucht zu neuen imperialen Abenteuern. Schritt für Schritt ging es stattdessen den schweren Weg der Transformation. Unter Gorbatschow, wenn ich daran erinnern darf, bedeutete das: Rückzug aus Afghanistan als äußeres Zeichen für die Beendigung der expansiven Phase Russlands, Grenze des quantitativen Wachstums, Stichwort: Intensivierung statt Tonnenideologie. Unter Jelzin bedeutete es: Imitation westlicher Modelle, insonderheit der neo-liberalen Wachstumsideologie; faktisch führte dieser Weg zur unkontrollierten Ausplünderung des Landes durch einheimische und ausländische Privatisierer. Unter Putin heißt es heute: Rückbesinnung auf die eigene Kraft, die – bei aller notwendigen Kritik an dem autoritären Führungsstil des jüngsten Präsidenten und berechtigten Warnungen vor dessen möglichen Folgen – in den Jahren seit seinem Amtsantritt zu erkennen ist.

Rückbesinnung auf die eigene Kraft – damit meine ich nicht etwa, um es unmissverständlich zu sagen, die Wiederkehr von Expansionismus, diktatorischem Zentralismus, Militarismus und dergleichen als angeblich für Russland nicht anders mögliche Existenzweisen von Staat und Gesellschaft – nein, damit meine ich die Rückbesinnung auf die historisch gewachsenen Überlebenskräfte der russischen Bevölkerung, allgemein gesprochen, die gemeinschaftliche Selbstversorgung auf der Basis der Naturreichtümer und der reichen Geschichte des Landes. Diese Strukturen konnten sich, aller Erwartung zum Trotz, in den ersten Jahren der Präsidentschaft Putins erholen.

Die wichtigsten Aspekte des russischen Reichtums und seiner Kraftreserven möchte ich kurz benennen:

– Die geografische Weite Russlands
– Seine natürlichen Ressourcen an Land und Bodenschätzen
– Seine ethnische, d.h. auch genetische Vielfalt
– Seine historischen Wurzeln aus drei Kulturkreisen: Wikinger, Hunnen/Mongolen, Byzantiner, die sich auf dem Boden der slawischen Bauerngesellschaft zu einer geschichtsbildenden eigenen Kultur verbunden haben.
– Seine starke Bauernschaft
– Die historische Dynamik als Integrationsknoten zwischen Asien und Europa
– Die besonderen sozial-ökonomischen Strukturen des russischen Raumes, die sich aus der Wechselwirkung zwischen all diesen Elementen entwickelten: Die Dualität von höfischem Zentralismus zum einen und Dorf zum anderen in der Zeit des Zarismus; die zentral gesteuerte Industrialisierung in enger Verbindung mit Selbstversorgung auf Grundlage der agrarischen Gemeinschaftsstrukturen in der Zeit nach der Revolution.

Im Modernisierungstaumel der Reformer Ende der 80er, besonders Anfang der 90er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts wurden diese Voraussetzungen missachtet, die Reichtümer vergeudet, zerstört und reduziert. Unter Boris Jelzin wurde wieder einmal eine Phase der nachholenden Imitation eingeleitet, in der Russland sich ausschließlich auf den Westen orientierte: Russlands Rolle als Integrationsknoten wurde aufgegeben, seine Ressourcen der privaten Ausbeutung übereignet und, was das Wichtigste ist, die kollektive Lebens- und Arbeitsorganisation als rückschrittlich und uneffektiv angegriffen und bis an die Grenze der Zerstörung der Produktion und besonders auch der agrarischen Grundlagen des Landes desorganisiert.
Darin glich die Phase der „Schocktherapie“ und das sich daran anschließende Chaos früheren Phasen der Modernisierung, die immer mit einer Auflösung der gewachsenen Gemeinschaftsstrukturen und Einführung westlicher Lebensnormen begannen. Ich denke hier an die Zwangs-Modernisierung Peters I., im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, an die Bauernbefreiung durch Alexander II., 1862, an die Stolypinschen Reformen vor dem ersten Weltkrieg, an die Zwangsindustrialisierung der Bauern mit anschließender Kollektivierung durch Stalin. Alle diese Ansätze endeten nach einer vorübergehenden Krise stets mit erneuter Formierung der historisch gewachsenen Strukturen, das heißt, sowohl der dörflichen und regionalen Gemeinschaften als auch des Moskauer Zentralismus.
Der Grund ist klar und wird selbst von Kritikern dieser Strukturen immer wieder bestätigt: Die Grundorganisation der russischen Gesellschaft und des russischen Staatswesens, das heißt, allmächtiges Zentrum auf der einen, sich selbst versorgendes, selbstverwaltetes Dorf auf der anderen, hat sich allen einseitigen Fehlentwicklungen zum Trotz (Despotie des Zentrums oder Anarchie des Dorfes) als die für diesen geografischen Raum und diese ethnische und kulturelle Vielfalt optimale Form des Lebens und in Zeiten der Bedrohung auch des Überlebens herausgebildet. Sie hat sich in einer mehr als tausendjährigen Geschichte in die sozioökonomische Struktur des russischen Raumes materiell und mental eingeschrieben. Die viel beschworene russische Selbstgenügsamkeit hat hier ihre Wurzeln. Sie resultiert aus der Möglichkeit, auf der Basis gemeinschaftlicher Selbstversorgung schwerste Krisen relativ lange zu überstehen – und sei es auf dem niedrigsten Niveau einer jahrelangen Smuta.

Nicht anders war es jetzt bei dem neuesten Modernisierungsanlauf: Zwar wurde das Volksvermögen privatisiert, zwar wurden die Sowchosen- und Kolchosen zu Aktiengemeinschaften erklärt, zwar folgten gut 400.000 Familien anfangs dem Ruf, eine private Bauernwirtschaft zu gründen, eine produzierende Mittelschicht entstand daraus jedoch ebenso wenig wie ein privat wirtschaftendes Bauerntum, vielmehr eine Differenzierung in wenige Reiche, die sich den Zugriff auf die nationalen Reichtümer sicherten, und eine faktisch enteignete, desorganisierte und verarmende Mehrheit der Bevölkerung.
Im Westen, wo die Grundlagen der Selbstversorgung durch die Industrialisierung längst zerstört sind, wäre eine solche Entwicklung gleichbedeutend mit einer Katastrophe. In Russland konnte sich die verarmende Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Datschen und Gärten zurückziehen – in der dörflichen Gemeinschaft, in der Datschenge-meinschaft und selbst in der desolaten Form der individuellen Versorgung zerstörter und verfallener Sowchosen, Kolchosen oder Dörfer. So überlebten die Menschen die Versorgungskrise Ende der 80er und Mitte der 90er Jahre und so leben sie bis heute, indem sie die ausbleibenden oder bis heute dürftigen Löhne, Gehälter, Stipendien und Pensionen mit den Produkten ihrer Selbstversorgung kompensieren. Nicht anders als Wirtschaft und Staat insgesamt, die nur durch die hohen Preise für Öl, Gas, Wald usw. überleben. In diesem Zustand kann die russische Wirtschaft und Gesellschaft zwar keine Effektivität im Sinne der heute geltenden neo-liberalen Wachstumskriterien entwickeln, aber sie kann sehr lange überleben, länger jedenfalls als das die westlichen Ökonomien könnten, die bei Ausbleiben industriell gefertigter Lebensmittel oder beim Wegfall von Zulieferungen aus agrarischen Ländern sehr schnell zusammenbrechen würden.
Von der Minderheit der gut Verdienenden bis Superreichen muss man in diesem Zusammenhang nicht reden. Sie bilden nur die bekannte Ausnahme zur Regel, zumal sie in vielen Fällen nur aus den Überschüssen leben, die sie aus dem Export der Ressourcen erzielen.

In dieser aktuellen Grundkonstellation der gegenseitigen Ergänzung einer zurückgefahrenen Produktion einerseits und der Natural-, bzw. Selbstversorgung andererseits liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Nicht Marktwirtschaft, wie von den Reformern in Ost und West erwartet, ist an die Stelle der früheren sowjetischen Planwirtschaft getreten, sondern etwas Neues, bisher noch Unbekanntes, noch nicht ausreichend Untersuchtes, eine Mischung, eine Synthese, welche die bisherigen Polaritäten von Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, von Kapitalismus oder Sozialismus, Industrieproduktion oder Selbstversorgung hinter sich lässt: Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nicht. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also notwendigerweise auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend im Sinne neo-liberaler Wachstumsorientierung, födernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.
Voraussetzung für die Weiterentwicklung der entstandenen Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, sondern die Selbstversorgung bewusst organisiert und gefördert wird, die Ressourcen nicht nur ausgebeutet werden, sondern ihr Gebrauch kultiviert und gemeinschaftlich kontrolliert wird. Unter solchen Umständen bekommt der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung. Darin bedeutet Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin ist die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Die Rede ist von einem Entwicklungsland neuen Typs, das Ansätze für eine Wirtschafts- und Sozialordnung von morgen zeigt, deren Entwicklung nicht nur für Russland, sondern für die Welt insgesamt von Bedeutung ist.

In Russlands Reichtum, in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt aber auch seine große Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.
Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, aus meiner Sicht, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert.

Hier kommen wir in den Bereich, in dem sich Fragen an die künftige Politik Wladimir Putins und seines Kommandos sowie an die sog. russische Elite stellen: Sind sie bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?
In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein Kommando sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Wenn dies tatsächlich so durchgezogen wird, wie es nach den Wahlen 2004 begonnen wurde, sind schwere innere Konflikte für Russland unvermeidbar, denn dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Das Ergebnis dieser Versuche, davon bin ich überzeugt, kann nur eine soziale Katastrophe sein, an deren Ende sich die Suche nach neuen Beziehungen zwischen Produktion und Selbstversorgung umso dringender einstellt als jetzt, allerdings vermutlich zu schlechteren Bedingungen. Ich würde mir wünschen, dass es ohne diese Umwege ginge.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Dieser Text basiert auf einem Referat für ein Seminar in der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ am 4./5.2004 in Moskau unter dem Thema: „Russland wohin?“ Das Seminar wurde von der Rosa Luxemburg Stiftung unterstützt.

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Aktuelle Veröffentlichungen des Autors zum Thema sind:
· „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;
· „Wofür steht Russland? Wohin geht es? – Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk? Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands. Modelle einer anderen Modernisierung. Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland. – Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme vom Sommer 2004 in der Reihe „Themenhefte“, Nr. 15/16, September 2004, zu beziehen über den Autor: info@kai-ehlers.de
· Im Februar 2005 erscheint der Dialogband: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs“ im Verlag Entwürfe Pforte

 

  Kai Ehlers. Publizist,

Nach Beslan: Russlands Medienwächter: Mit oder ohne Putin?

Die Katastrophe von Beslan brachte an den Tag, was Russlands Medienwächter schon lange beklagen: Die Medien des Landes waren nicht in der Lage, die Ereignisse angemessen zu erfassen. Die lange eingefahrene Mischung aus Selbstzensur und bürokratischer Behinderung ließ nicht nur ein regierungsfrommes, sondern ein falsches, ja, provokativ verlogenes Bild der Vorgänge entstehen, das nicht unwesentlich zur Katastrophe mit beigetragen hat. Erst Wochen nach den Ereignissen bekommt es aus einzelnen Berichten, die unabhängig voneinander hier und dort auftauchen, allmählich Konturen. Vier Aktionsfelder, die natürlich ineinander greifen, sind dabei zu unterscheiden:
Das Erste: Kreml und örtliche Machthaber waren offensichtlich an einer Transparenz ihrer Entscheidungen nicht interessiert. Ein Lagezentrum, das die Öffentlichkeit mit überprüfbaren Informationen versorgt hätte, wurde nicht eingerichtet. Stattdessen wurde systematische Desinformation durch Verschweigen und Verfälschen betrieben. Dies Verhalten war nicht überraschend; es entspricht der Linie, die mit dem „Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus“ von 1998, der „Antiterroristische Konvention“ nach dem Anschlag auf Moskauer Theater 2002 und den „Bestimmungen über die innere Sicherheit“ von 2003 eingeschlagen wurde, wonach jede Berichterstattung, die der Inneren Sicherheit Russlands schaden könnte, von den Staatsorganen unterbunden werden kann.
Die zentralen Medien, wesentlich die Fernsehanstalten, aber auch die größeren Zeitungen, seit langem auf die Linie eines starken Russland eingeschworen, hielten sich an das vom Kreml ausgehende Schweigen. Das ist das Zweite. Das Schweigen zu brechen und die Öffentlichkeit zu informieren übernahmen die kleineren Zeitungen, Radiosender und das Internet. Die Entlassung des Chefredakteurs der „Neuen Iswestija“ gehört in diesen Zusammenhang. Auch diese Vorgänge kamen für aufmerksame Beobachter nicht überraschend.
Eine neue Qualität erreicht die Medienpolitik des Kreml allerdings, das ist das Dritte, mit der direkten Behinderung der Berichterstattung, nicht zuletzt eben dieser Medien, die den staatlichen Organen bisher die Mühe der direkten Intervention nicht wert waren. Die Reihe der Vorkommnisse ist lang: Der bekannte Kriegsreporter von Radio Liberty, Andrej Babitzky wurde am Flughafen unter fadenscheinigen Vorwänden festgehalten. Die Reporterin der Nowaja Gasjeta, Anna Politkowskaja, wurde von Unbekannten auf dem Anflug nach Beslan vergiftet. Eine Gruppe ausländischer Journalisten, von der polnischen Zeitung „Gasjeta Wyborcza“, von „Liberation“ und „Guardian“ wurden am Flughafen von Mineralniy Wodi über mehrere Stunden festgehalten, durchsucht und verhört. Nach dem Sturm auf die Schule am 3.September, wurden Kassetten von TV-Teams des ZDF, der ARD, des amerikanischen APTV und des georgischen Rustavi-2 konfisziert. Die georgischen Journalisten Nana Lezhava und ihr Kameramann Levan Tetladze wurden am 4.9. wegen illegalen Überschreiten der Grenze festgenommen, obwohl ein Abkommen besteht, dass im grenznahen Gebiet eine Grenzüberschreitung für zehn Tage ermöglicht. Erst am 8.9. wurden sie freigelassen. Noch am 6.9. wurde der Leiter des arabischen Büros des arabischen Satellitenprogramms AL Arabia , Amr Abdul Hamid am Flughafen von Mineralny Wodi festgenommen, weil angeblich Patronen für eine Kalschnikow in seinem Gepäck gefunden wurden. Und noch am 7. September wurde ein nord-ossetisches TV-Team des Landes verwiesen.
Viele Journalisten sahen sich willkürlichen Passkontrollen, Kontrollen der Akkreditierungen, vorübergehenden Festnahmen ausgesetzt. Der Korrespondent der Moscow Times“ wurde in ein Dorf in Nord-Ossetien verbracht. Bei all diesen Aktivitäten scheute sich der Geheimdienst FSB nicht, neben verdeckten Aktionen wie im Fall Babitskys oder Politkowskajas offen in Erscheinung zu treten.
Eine neue Erfahrung machten die in Beslan anwesenden Journalisten schließlich, viertens, auch mit der Reaktion der lokalen Bevölkerung: Verbittert durch die falsche bis fehlende Berichterstattung, insbesondere durch die falsche Angabe zur Zahl der Geiseln, die die Geiselnehmer provozierte und wesentlich zur Verschärfung der Lage beitrug, verprügelten örtliche Anwohner mehrere Journalisten, so den Moskauer Korrespondenten der Komsomolskaja Prawda, den sie direkt verantwortlich machten für falsche Angaben, so Kollegen der polnischen Gazjeta Wybcza, so das russische Fernseh-Team TVTs. Auch ein französischer Journalist und ein schwedischer Kameramann wurden geschlagen; den Mitgliedern des russischen Ren-TV wurden die Kassetten von Zivilisten weggenommen. Diese Aktionen mischten sich ununterscheidbar mit den verdeckten Einsätzen der diversen Sonderkommandos. „Niemand weiß, wer sie waren“, schrieb „Moskowski Komsomelez“ anschließend über die militanten Zivilisten.
In den westlichen Medien erschien dies alles unter dem Stichwort der Einschränkung der Pressefreiheit durch Wladimir Putin und seinen Stab. So unübersehbar und nötig zu kritisieren die Einschränkungen der Pressefreiheit in und um Beslan sind, geht es doch um mehr: Solche Maßnahmen von oben durchzuführen setzt ja die Fähigkeit zur praktischen Durchsetzung eines politischen Willens voraus; es ist aber, wenn man es recht betrachtet, viel schlimmer: Die Prügelszenen ebenso wie die willkürlichen Schikanen, die Behinderungen, die Verhaftungen durch Spezialagenten an Flughäfen oder auch in Beslan und Umgebung selbst sind Ausdruck einer aus dem Ruder laufenden gesellschaftlichen Ordnung – Willkür, Chaos, Ohnmacht der Staatsorgane auf der einen, vorauseilender Gehorsam zur Erhaltung der Staatsräson auf der anderen Seite.
Selbst die Absetzung des Chefredakteurs der „Neuen Iswestija“ ist kein einfacher Fall der Zensur. Es habe Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, erklärte Raf Schakirow, ob es journalistisch zulässig sei, Bilder der Kinder von Beslan über die ganze Seite der Zeitung zu vergrößern, wie er es veranlasst habe. Der Verleger habe dies als „zu emotionalisierend“ abgelehnt. Tatsächlich, so Schakirow selbstkritisch, sei das ja auch sehr unüblich im Journalismus. Von direktem Eingreifen des Kreml ist bei ihm nicht die Rede.
So kommt ein Bericht der OECD zu dem interessanten Urteil, die Pressefreiheit sei „erhalten geblieben“, aber „einige beunruhigende Entwicklungen zwischen Regierung und den Medien“ hätten die Aufmerksamkeit örtlicher und internationaler Experten und Menschenrechtler erregt, nämlich: „Eine dreifache Glaubwürdigkeitslücke hat sich aufgetan zwischen der Regierung und den Medien, zwischen den Medien und den Bürgern, und zwischen der Regierung und der Bevölkerung.“ Darin liege ein ernsthafter Rückschlag für die Demokratie.
Damit ist das Wesentliche benannt; anders formuliert: Der übermächtige Präsident Russlands hat keine Rückkoppelung zur Bevölkerung mehr, weder durch eine politische Opposition, noch durch die Presse noch durch Stimmen aus der Bevölkerung selbst. Die Medien – weit entfernt davon vierte Macht im Staate zu sein – sind nicht einmal mehr Vermittler. Die Funktion des Vermittlers hat an ihrer Stelle der FSB übernommen.
Dies ist, verfolgt man die Analysen der russischen Medienwächter, nicht über Nacht so gekommen, es ist in den letzten Jahren herangewachsen; mit der triumphalen Wiederwahl Putins im März 2004 wurde es besiegelt, mit Beslan wurde es offensichtlich. Die martialischen Ankündigungen Wladimir Putins und seines Stabes nach den Ereignissen von Beslan von mehr Befugnissen des Zentrums, insonderheit auch der Organe des FSB, sind nicht geeignet, diese Situation zu ändern, sie lassen sie nur umso deutlicher hervortreten.

Das Echo der russischen Gesellschaft auf diese Situation ist geteilt. Beispielhaft dafür sind die Positionen der beiden wichtigsten NGOs, die sich heute um die Freiheit der Presse kümmern. Entstanden aus einem gemeinsamen Ansatz, dem „Fond zum Schutze von Glasnost“, der sich seit 1991 aktiv für die Entwicklung der Pressefreiheit in Russland einsetzte, stehen sich der immer noch bestehende „Fonds“ und das aus ihm vor vier Jahren abgespaltene „Zentrum für extremen Journalismus“ heute mit unterschiedlichen Ansätzen gegenüber. Obwohl beide das gleiche Ziel angeben – eine freie Presse in einer selbstbestimmten Bürgergesellschaft, obwohl beide sich mit den gleichen Fragen in der gleichen Form befassen – Berichte zur Lage der Presse, Monitoring, Herausgabe von periodischen Berichten, Rechtshilfe, Ausbildung – unterscheiden sie sich doch inzwischen in einem: Kooperation mit dem Staatapparat oder Hilfe zur Selbsthilfe? Mit oder ohne, wenn nicht gar gegen Putin? In dieser Polarität stehen sie zugleich exemplarisch für Zerrissenheit hunderter anderer NGOs die gegenwärtig in Russland tätig sind, wie generell der gesamten Gesellschaft.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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Gespräch mit Oleg Panfilow,
Zentrum für extremen Journalismus:
Hilfe zur Selbsthilfe

Stagnation wie nach zehn Jahren Breschnejew kennzeichnet nach Ansicht von Oleg Panfilow die nach der Wiederwahl Putins entstandene Lage. Chauvinismus und Rassismus breite sich im Lande aus, fürchtet er. Die zentralen elektronischen Medien befänden sich zu 100% in den Händen des Staates, die Presse zu 87%, vor allem in den Regionen sei die Lage katastrophal. Dort gebe es für Journalisten überhaupt keinen Schutz, nicht einmal den der ausländischen Botschaften. Lediglich das Internet sei noch unkontrolliert, allerdings nur, solange es aus wirtschaftlichen und sprachlichen Gründen nur von einem sehr eingegrenzten Kreis nutzbar und daher für die Macht vernachlässigenswert sei.

Kai Ehlers: Was tun Sie in dieser Situation?

Oleg Panfilow: Wir haben uns von der Methode losgesagt, die in anderen Rechtsschutzorganisationen besteht, wo die Journalisten aufgefordert werden, anzurufen, wenn es bei ihnen Probleme gibt, und wo die Organisation dann antwortet: Wir werden Dich beschützen. Wir denken dagegen, dass mit diesen ersten Konflikten die Journalisten selbst sich auseinandersetzen können. Das heißt, wenn es bei ihnen einen Gerichtsfall gibt oder auch sonst kleinere Konflikte. Wir meinen, man muss diese Journalisten unterrichten, sie lehren, wie sie sich selbst schützen, sich selbst helfen können. Wenn der Konflikt dann ernst wird und die Journalisten sich selbst nicht mehr helfen können, dann sind wir dran. Dann befassen wir uns vor aller Augen mit dem Skandal. Aber solange russische Journalisten mit den in Russland bestehenden Gesetzen ihre Rechte selbst verteidigen können, bringen wir ihnen bei, wie man das macht. Das tun wir, damit Russland sich allmählich in eine bürgerliche Gesellschaft verwandelt.

Kai Ehlers: Sie agitieren?

Oleg Panfilow: Nein, wir selbst nicht. Wir unterrichten nur. Nun, manchmal helfen wir, wenn Journalisten nicht wissen, wie sie es anstellen sollen zu protestieren, dann sagen wir so und so. Aktivität der Gesellschaft beginnt da, wo man seinen Kollegen beibringt, dass man nicht schweigen muss. Wir haben ja nicht die Absicht, Nichtstuer zu erziehen. Wenn ein Journalist, der Probleme hat, die Möglichkeit hat, eine Erklärung an die Staatsanwaltschaft zu schreiben, vor Gericht zu gehen, dann soll er das machen. Warum sollte das das Zentrum für extremen Journalismus für ihn tun? Die Journalisten haben doch das volle Recht, das selber zu tun und sie sollten es tun. Wenn wir das für sie tun, wird es niemals eine bürgerliche Gesellschaft geben, das wird eine bürgerliche Gesellschaft auf dem Territorium von zwanzig Quadratmetern.

Förderungen, erklärt Oleg Panfilow noch, nehme das Zentrum im Interesse seiner Unabhängigkeit weder vom russischen Staat noch von der russischen Wirtschaft entgegen. Man bemühe sich stattdessen um Gelder amerikanischer Fonds und in letzter Zeit der deutschen Botschaft.

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Gespräch mit Ruslan Gorewoi,
Fonds zum Schutze von Glasnost:
Man muss kooperieren

Ruslan Gorewoi, Vize-Direktor im „Fonds zum Schutz von Glasnost“, charakterisiert die für die Medien entstandene Lage mit den Worten, die Situation werde sich nicht verschlechtern, „weil sie sich schon gar nicht mehr verschlechtern kann.“ Sie könne sich nur noch verbessern. Wesentliche Ansätze sieht Ruslan Gorewoi in den Regionen, in denen sich trotz des Moskauer Drucks Medienvielfalt halte; insbesondere das Internet werde in den nächsten Jahren einen Boom in den Regionen erleben. Zu dieser Verbesserung, gerade in den Regionen, wolle der Fonds durch die neue Ausrichtung beitragen, die er in den letzten zwei, drei Jahren entwickelt habe.

Ruslan Gorewoi: Die Stiftung hat ihr Gesicht in den letzten Jahren direkt seinen Auftraggebern und dem Wohle der Journalisten zugewandt. Die Programme der Stiftung sind direkt darauf ausgerichtet, den Journalisten zu helfen, in der gegenwärtigen Zeit zu überleben, sie helfen ihnen sich zu stabilisieren und juristische und moralische Unterstützung zu bekommen. Bei uns ist ein juristischer Dienst tätig, der den Journalisten direkt bei Gerichtssachen hilft, der begleitet die juristischen Angelegenheiten. Es gibt einen Dienst für Monitoring, der sämtliche Konflikte in ganz Russland sammelt.
Wir haben in den letzten zwei Jahren unsere Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft stabilisiert, wir übermitteln ihnen unsere Ergebnisse und erhalten ihre Beschlüsse, ihre Mitarbeiter gehen unseren, sagen wir, Spannungspunkten nach, manchmal unternehmen wir auch gemeinsame Missionen mit ihnen. Außerdem gibt es bei unseren Korrespondentenstellen spezielle Missionen für die Stiftung zum Schutz von Glasnost, wenn z.B. Mitarbeiter des Fonds mit analytisch-informatorischen Vorträgen auftreten, diese Vorträge übergeben wir natürlich auch der Presse und der Staatsanwaltschat. Und auf dieser Grundlage führen wir verschiedene gemeinsame Aktionen durch.
Auf der anderen Seite müssen wir unanhängig bleiben von der Macht; deshalb entfernen wir uns davon, Förderung von ihr anzunehmen. Wir bemühen uns stattdessen um Förderung aus den Kreisen unserer russischen Wirtschaft, wie es mit JUKOS war. Außerdem genießen wir seit langem die Unterstützung des amerikanischen Fonds Mac Arthur und neuerdings auch der Ford-Stiftung. Wir werden unsere Arbeit weiter strukturieren und mit der Ford-Stiftung in den nächsten Jahren arbeiten.

Zur Situation den Regionen erklärt er:

Ruslan Gorewoi: Im Zentrum gibt es keine Opposition, in den Regionen aber sehr wohl. Die Sache ist so: Wir sprechen von einem einheitlichen Russland, ja? Von einem zentralen Russland. Aber häufig gehen in den Regionen die Kommunisten mit Jabloko zusammen. Können Sie sich vorstellen wie in Moskau Jawlinski und Suganow zusammen auftreten? Nein, kann man nicht. In den Regionen ist das normal. Der politische Kampf, den wir im Zentrum beobachten, besser gesagt, die politische Stille, die wir hier haben, ist in den Regionen nicht vorhanden, das ist dort nicht real, denn dort gibt es Vertreter unterschiedlicher finanzieller Gruppen, sogar in Tatarstan, wo die Situation vollkommen blockiert erschien. Trotzdem kommen immer wieder Leute, die Politik machen wollen. Und so oder so machen sie sie auch. Und Opposition? Nun, ich kann natürlich sagen, es gibt ein Dutzend Republiken, in denen keine Opposition existiert, wo sie niedergedrückt ist und unwirksam. Aber selbst in Kalmückien gibt es eine SPS (die ultraliberale Union rechter Kräfte – K.E.), die dort eine Zeitung verbreitet. Also, es verbietet sich zu sagen, dass alles überall niedergeschlagen sei, es ist nur ein einem sehr schlechten Zustand. Nehmen Sie das Beispiel eines deutschen Autos: Kaufen Sie einen zehn Jahre alten Mercedes; der ist natürlich problematisch, da und dort funktioniert irgendetwas nicht, aber es ist doch immer noch ein Mercedes. So ist es mit der russischen Presse: Alles schlecht, aber noch fährt sie.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Kein starker Staat – keine gemeinsame Front

Putins Kriegserklärung gegen den internationalen Terrorismus ist nicht, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint: Sie ist kein Akt der Stärke, weder innen-, noch außenpolitisch. Sie ist Ausdruck einer gefährlichen Schwäche Russlands, das sich auf den verzweifelten Alleingang eines isolationistischen Weges begibt.
In seiner TV-Rede zu Beslan, deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Die Umsetzung dieser Forderung – präventive Mobilisierung gegen „den“ Terrorismus, Abschaffung der Wahl der Gouverneure, Abschaffung des Mehrheitswahlrechts, das neben den Parteivertretern bisher, die inzwischen mehrheitlich auf Putin-Linie sind, immer noch unabhängige Kadidaten in die Duma brachte, weitere Einschränkung der Freizügigkeit, mehr Vollmachten für den FSB (KGB) usw., lässt allerdings noch weniger innere Entwicklung zu als bisher. Der bloß bürokratische Würgegriff, in dessen Rahmen sich Putins autoritäre Herrschaft bisher trotz zunehmender Durchsetzung durch Geheimdienstkader noch niederschlug, wandelt sich zum offenen geheimdienstlichen, der die Gesellschaft an der Basis zu ersticken droht: Die von Putin beabsichtigten Maßnahmen für einen starken Staat schaffen keine Bürgergesellschaft, nicht einmal eine von oben organisierte, sie verhindern sie und schwächen die Innovationskraft der russischen Gesellschaft auf Dauer. Die von Putin in Aussicht gestellte Kommission, in der Bürger die Arbeit der Geheimdienste kontrollieren sollen, ist angesichts der gleichzeitigen massiven Einschränkung der Rechte im Lande ein Hohn. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus versetzt die russische Gesellschaft ideologisch in den Kriegszustand, der angesichts der zugleich wachsenden antiwestlichen Ressentiments faktisch auf einen isolationistischen nationalistischen Kurs hinausläuft. Die Einfrierung der Bankkonten von Jukos, die im Schatten der Beslan-Erschütterung durchgezogen wurde, als die Öffentlichkeit davon keine Kenntnis nahm, ergänzt diesen Kurs auf wirtschaftlichen, bzw. strukturpolitischem Gebiet. Die Einschränkung der Arbeit westlich finanzierter und orientierter NGOs, die nach der Erklärung Putins, man werde jeder kleinsten Unterstützung des Terrors nachgehen, zu erwarten ist, transportiert ihn in den russischen Alltag. Nationalisten wie der berüchtigte Geostratege Alexander Dugin, die seit langem einen schärferen nationalen Kurs fordern, frohlocken.
Mit der Kriegserklärung gegenüber dem internationalen Terrorismus ist der tschetschenische Konflikt über die Dimension eines inneren Konfliktes, als den Putin ihn immer behandeln und ersticken wollte, endgültig hinausgewachsen.
Tatsache ist natürlich, dass dieser Konflikt nie eine bloß innere Angelegenheit von Russland war, insofern ein Kolonialkrieg eben kein „innerer Konflikt“ ist. Selbst rechtlich war die Situation nach der Deklaration der Unabhängigkeit von Seiten Dudajews usw. nicht eindeutig, zumal Tschetschenien – anders als andere „nationale“ Republiken wie etwa Tatarstan oder andere Wolgarepubliken nicht innerhalb des russischen Territoriums, sondern am Rande liegt.
Russland kann aber „Hilfen“ vom Westen, speziell von Seiten der USA in der Tschetschenienfrage nicht zulassen, weil dies vor dem Hintergrund der strategischen Konkurrenz um die Vorherrschaft im Kaukasus geschieht. Es gibt keine gemeinsame Front: Die Brzezinski Doktrin, nach der die USA Weltmacht Nr. 1. sind, welche jetzt auch Eurasien kontrollieren müsse, indem die russische Vorherrschaft untergraben und destabilisiert wird, ist heute herrschende Linie der US-Politik. Brzezinski rühmt sich öffentlich, maßgeblich verantwortlich gewesen zu sein für den von den USA unterstützten afghanischen Djihad gegen die Sowjetunion. Heute ist er Vorsitzender des 1999 gegründeten „American Committee for Peace in Chechnya“. Und man betrachte die aktuelle Situation: Der einzige Nutznießer von Unruhen im Kaukasus sind die USA, der einzige, dem die Tragödie von Beslan nützt, ist der Wahlkämpfer George W. Bush.
Vor diesem Hintergrund kommen aktuelle Reaktionen der deutschen Politik, ruppig vorgetragen durch Kanzler Schröder, in bedenkliche Falten gelegt durch Außenminister Fischer – also, keine Kritik an der Tschetschenienlinie Putins, gemeinsame Präventionslinie gegen den Internationalen Terrorismus mit der Begründung, man habe gemeinsame strategische Ziele, eine Destabilisierung des Kaukasus sei weder für Russland noch für Deutschland von Interesse – einer strategischen Frontbildung gleich, die nichts Gutes erwarten lässt.
Einziger Ausweg aus dieser Lage sind Verhandlungen mit dem ehemals legitim gewählten Präsidenten Tschetscheniens, Maschadow, der nur so aus seiner Zwangsgemeinschaft mit Leuten wie dem Terroristen Bassajew und anderen gelöst werden kann. Mit beteiligt werden müssen andere Kaukaus-Anrainer und direkte Nachbarn, die ein Interesse daran haben, der Destabilisierung des Kaukasus Einhalt zu gebieten und stattdessen einen kontrollierbaren Rechtsraum herzustellen, der von einem transparenten internationalen Übergangsgremium garantiert wird. Das wäre kein Protektorat von irgendjemand – Russland, USA, Türkei u. ä. – das wäre eine Schutz.- und Entwicklungszone unter UN-Aufsicht. Das hieße: Blauhelmpräsenz statt unilateraler Truppenaufmärsche.
Eine solche Entwicklung schlösse „innenpolitische“ Gesten Wladimir Putins wie die volle Rehabilitierung der tschetschenischen Bevölkerung, die Entschuldigung für einen fast vollzogenen Genozid ebenso mit ein wie die öffentliche und vertragliche Distanzierung aller Beteiligten von gewaltsamen Formen der Konfliktlösungen im Kaukasus. Wenn dies versucht würde, könnte die Chance bestehen, das tschetschenische Geschwür nicht zum Ausgangspunkt eines eurasischen Krieges werden zu lassen. Wenn stattdessen ideologisch und militärisch aufgerüstet, der autoritäre Präventionsstaat national und international, zum Glaubenssatz erhoben werden, darf man sich bereits Gedanken darüber machen, was nach Putin kommt.

Kai Ehlers
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