Autor: Peter Sengelmann

Medwedjew kündigt ÖL-Rubel an

Eine bemerkenswerte Blindheit hat sich dieser Tage über die medialen Wahrnehmungsorgane des Westens gelegt: Die Rede des russischen Präsidenten Medwedjew an seine Nation – einen Tag nach der Wahl Barak Obamas zum neuen US-Präsidenten – wird in einer Weise zitiert, die nur Erstaunen hervorrufen kann: Von einer Aufstellung russischer „Atomraketen“ an der polnischen Grenze ist die Rede, von Provokation, von Kriegsdrohung. Auch der Vorschlag Medwedjews, die Amtszeit des russischen Präsidenten von vier auf sechs Jahre zu verlängern, ruft helle Empörung der westlichen Kommentatoren hervor und animiert Kremlastrologen aller Couleur zu Spekulationen, Medwedjew sei nur ein Strohmann, der Putins Wiederkehr vorbereiten solle.

Ankündigungen des russischen Präsidenten, die Mandate der Duma-Abgeordneten von vier auf fünf Jahre verlängern, die Staatsbürokratie dezentralisieren zu wollen, indem zukünftig die Gouverneure von Parteien vorgeschlagen, ein Rotationsverfahren für Parteivorsitzende eingeführt, die 7%-Klausel für die Wahl zum Parlament gelockert, NGOs in die gesetzgebenden Verfahren einbezogen werden, tauchen in dieser Berichterstattung nur noch am Rande auf.

Völlig übersehen werden Mewedjews Ankündigungen einer neuen Geldpolitik. Dankenswerterweise war das Fehlende in der Internetzeitung russland.ru nachzulesen. Hat der Präsident doch wörtlich gesagt, es müssten „nun praktische Schritte zur Verstärkung der Rolle des Rubels als einer der Währungen bei internationalen Verrechnungen unternommen und endlich mit dem Übergang zur Rubelverrechnung begonnen werden.“ Dies gelte insbesondere für den Export von Erdöl und Erdgas durch Gasprom. Und mit Blick auf die Spekulationskrise fügte er hinzu, die Unterbringung von neuen Emissionswertpapieren müsse “gerade in Rubeln und wünschenswerter Weise auf dem russischen Markt“ stimuliert werden. Das Endziel all dieser Prozesse sei, „den Rubel zu einer regionalen Währung zu machen.“ Auch andere sich entwickelnde Länder könnten in dieser Weise aktiv werden. Je mehr starke Finanzzentren in der Welt es gebe, desto sicherer werde die globale Finanzentwicklung sein.

Auch Medwedjews Position zum Krieg im Kaukasus sucht man vergebens in der Berichterstattung unserer Medien: „Wir werden im Kaukasus nicht zurückweichen“, hatte Medwedjew erklärt und – wieder mit Blick auf die weltweite Spekulationskrise – ergänzt, Russland, das „in der Zeit des Wachstums deutliche Vorteile“ gehabt habe, sei „bereit gemeinsam die jetzigen Schwierigkeiten anzugehen.“ Aber es sei auch notwendig „Mechanismen zu schaffen, die die fehlerhaften, egoistischen und mitunter auch einfach gefährlichen Entscheidungen einiger Mitglieder der Weltgemeinschaft blockierten.“

Auf einen Rüstungswettlauf werde Russland sich zwar nicht einlassen, schränkte Medwedjew ein. Die „Installation eines Raketenabwehrsystems in unmittelbarer Nähe zum russischen Territorium“ müsse Russland jedoch als „direkte Bedrohung verstehen und dies bei der Gestaltung unserer Verteidigung berücksichtigen.“

Wer diese Rede nur für „powerplay“ oder Propaganda hält oder aus ihr nur eine blinde Reaktion Russlands auf das Raketen-Programm der USA in Polen und Tschechien heraushört, die aus Reflexen unverbesserlicher kalter Krieger resultiere, dem sei in Erinnerung gerufen, dass Russland unter dem Stichwort der Multipolarität spätestens seit Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung Anfang 2007 in München beständig die Reform der europäischen wie auch der globalen Sicherheits- und Bündnissysteme anmahnt – allerdings nicht in der Bedeutung, wie man es seit der Spekulationskrise und nach der Wahl Obamas neuerdings auch von westlichen Politikern und Medien hört. Sie verstehen unter Multipolarität die Erneuerung der Führungsmacht der USA, die mit „stärkeren Anforderungen“ an ihre Bündnispartner einhergeht.

Das russische Verständnis der Multipolarität beinhaltet demgegenüber eine gleichberechtigte Kooperation der in der Welt herangewachsenen neuen Mächte; das sind im Kern zumindest die BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien, China, zudem die EU und die USA, im Weiteren auch die Staaten des arabisch-iranischen, tendenziell, versteht sich, auch des afrikanischen und Ozeanischen Raums. Im selben Sinne tritt Russland für eine Aktivierung der OSZE/KSZE, für eine Reform der UN, der WTO, des IWF und für eine Öffnung der G7 zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Beratungsgremium ein.

Die Abrüstung der NATO von einem globalen westlichen militärischen Interventionsbündnis zu einer regionalen Sicherheitsorganisation spielt in Russlands Anmahnungen einer neuen internationalen Ordnung angesichts der aggressiven NATO-Expansion rund um Russlands Grenzen eine besondere Rolle, versteht sich. Mit seinem jüngsten Eingreifen im Kaukasus, einschließlich der anschließenden Anerkennung der beiden de-facto-Staaten Abchasien und Süd-Ossetien hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht gewillt ist, eine weitere Expansion der NATO hinzunehmen.
Hinter den von Medwedjew vorgetragenen Vorschlägen und Forderungen steht keineswegs nur Luft, wie die Mehrheit der westlichen Beobachter nach wie vor zu glauben scheint. Immer lauter werden in den letzten Jahren, beschleunigt durch die schrittweise Einführung des Euro seit 1999, die Absichten der Öl und Gas exportierenden Staaten, die seit 1972/3 bestehende Koppelung der Öl- und Gaspreise an den Dollar zu lösen und stattdessen in Euro, Yen oder – seit ein paar Jahren geplant und nun offen ausgesprochen – auch in Rubel zu kassieren.

Bisher konnten die USA, deren Dollar-Stabilität und damit weltweite Vormachtstellung mit der Bindung des Ölpreises an den Dollar steht und fällt, eine solche Entwicklung verhindern. Das Schicksal Saddam Husseins, der als erster Öl gegen Euro verkaufen wollte, ist bekannt. Nach ihm plante der Iran eine internationale Ölbörse, die sich vom Dollar unabhängig machen sollte. Solche Pläne dürften die Spannungen zwischen Iran und USA wesentlich mit verursachen.

Mit der Entwicklung Gasproms zum führenden Unternehmen eines eurasischen Gas- und Ölverbundes in den letzten Jahren haben diese Bestrebungen zur Löslösung des Gas- und Öl-Geschäfts vom Petro-Dollar einen neuen, aktuellen Schub bekommen: Hinter Medwedjews Überlegungen zur Umstellung der Öl- und Gas-Verkäufe auf Rubel steht nämlich die bisher weitgehend unbemerkt gebliebene Tatsache, dass die seit 1991 betriebene „atlantische“ Ost-Expansion von US- und EU-Konzernen mit der von Gasprom betriebenen Entwicklung der Ost-See-Pipeline im Norden und einer spiegelbildlichen „South-Pipeline“ im Süden ihre vorläufige Grenze gefunden hat. Beide Gasprom-Projekte werden Europa, in Konkurrenz zu US- und EU-Plänen, mit russischem, bzw. über Russland geleitetem zentralasiatischen Gas versorgen.

Mit der Einbindung von EU-Staaten – Bulgarien, Serbien, Ungarn, Slowakei, Österreich – in Planung und konkrete Vorbereitung dieser Pipelines hat Gasprom die seit 1990/91 verfolgte Strategie der USA und ihr folgend der EU durchkreuzt, durch den Ausbau eines Ost-West-Transportkorridors kaukasisches und zentralasiatisches Gas und Öl unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols an Russland vorbei in den Welthandel einzuleiten. Zwar ist die BTC-Pipeline, benannt nach den Städten Baku, Tiblissi und Ceyhan an der türkischen Küste seit 2005 in Betrieb; durch sie wird Öl aus Azerbeidschan über Georgien an die Türkische Küste gepumpt. In Planung ist zudem die von der EU auf Betreiben der USA projektierte Nabucco-Pipeline, die Gas aus Zentralasien durch das Kaspische Meer ebenfalls über Georgien und die Türkei nach Bulgarien und von dort über Ungarn nach Österreich schaffen soll. Von dort aus soll das Gas dann über Europa verteilt werden. Mit „North-Stream“ und „South-Stream“ wird Gas jedoch nicht mehr allein über die Nabucco-Pipeline in den Handel gelangen, sondern auch über das russische Pipelinenetz. In den Ländern der EU werden die Anlagen streckenweise direkt parallel neben einander verlaufen.

Sowohl „North-Stream“ als auch „South-Stream“ sind trotz intensivsten Einsatzes der USA für die Entwicklung eines einheitlichen EU-Energiesicherheitskonzeptes durch Sonderverträge zwischen Gasprom und einzelnen EU-Staaten zustande gekommen. Mit Turkmenistan hat Russland 2008 langfristige Verträge abgeschlossen, die vorsehen, dass turkmenisches Gas (wieder) durch russische Leitungen und später, wenn sie fertig gestellt ist, in „South-Stream“ eingespeist werden soll. Die Verhandlungen dazu begannen vor dem Krieg um Süd-Ossetien; gleich danach wurden sie endgültig abgeschlossen. Die Verwirklichung der Nabucco-Pipeline, die über das Stadium der Planung noch nicht hinausgekommen ist, steht damit in den Sternen, denn ohne turkmenisches Gas ist sie nicht wirtschaftlich zu betreiben.. Aber auch der Betrieb der BTC ist gefährdet, seit Azerbeidschan bestrebt ist, sich vom Diktat des 1991 abgeschlossenen „Jahrhundertvertrages“, der westlichen Multis die alleinige Ausbeutung der Vorkommen garantierte, durch „Diversifizierzung“ seiner Lieferungen an unterschiedliche Abnehmer zu emanzipieren.

Kurz, seit die russische Regierung in den ersten Amtsjahren Putins Gasprom von einem Selbstbedienungsladen zu einem effektiv arbeitenden international agierenden Konzern reformierte, noch einmal verstärkt, nachdem sie 2004 das Yukos-Imperiums aufgelöst und die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder an sich gezogen hat, ist ein Patt zwischen USA/EU und Russland im Zugriff auf die fossilen Energien jenes Raumes entstanden, den US-Stratege Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion unter der Bezeichnung „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“ als neuen Einflussbereich der USA reklamiert hatte.

Bei klarem Verstand ließe diese Sachlage eigentlich nur eine Lösung zu, wenn es nicht zu weiteren militärischen Konfrontationen im Kaukasus kommen soll: die Förderung und die Verteilung der Gas- und Öl-Ressourcen dieses Raumes kooperativ statt nebeneinander oder gar gegeneinander zu betreiben, gestützt auf einen Rat der kaukasischen und zentralasiatischen Anrainer. Medwedjew hat eine klare Ansage gemacht, wie Russland sich die Zukunft des Ölgeschäfts vorstellt: als Kooperation gleichwertiger Partner. Jetzt sind die USA und die EU am Zug, ihr Teil dafür zu tun, die nach der Wahl Obamas viel beschworene „neue Ära“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Zitat des Tages – multipolar

Unter der Überschrift „Die Krise und ihre Folgen“, war im Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10.10.2008 Folgendes höchst Interessantes zu lesen:

„Das Epizentrum der Krise liegt in der Wall Street; dort könnte das Ende der finanziellen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten eingeläutet werden. Amerika ist militärisch geschwächt und geopolitisch ermüdet. Die Welt befindet sich im Übergang vom amerikanischen Hegemon zu einer multipolaren Ordnung. Die Rechnung für die Krise wird nicht an einem Tag, sondern über Jahre beglichen. Es wird eine globale Lastenverteilung geben. Amerikas Gläubiger haften mit. Das kommunistische China hat geschätzt 500 bis 600 Milliarden Dollar in der Krise verloren. Die Devisenreserven der Volksrepublik schrumpfen täglich. Kaum besser ergeht es Russland und den Golfstaaten, die ihre Erlöse aus Öl- und Gasgeschäften künftig nicht nur in Dollar anlegen wollen. Diese und viele andere Länder sind der Wall Street gefolgt und enttäuscht worden. Das bevorstehende Gipfeltreffen der G-7-Staten könnte das letzte seiner Art sein. Es ist an der zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden. Das Beben an den Finanzmärkten führt zu einer tektonischen Verschiebung der politischen Machtverhältnisse der Welt. Darin liegen Risiken, aber auch Chancen für Europa.“

Wow! Gestern noch Gegenstand der Hetze, des Hohns oder bestenfalls als russische Marotte belächelt, sieht sich das Unwort der „Multipolarität“ unversehens zum Stichwort einer neuen Ordnung erhoben. Und nicht nur das: Mit einem Mal scheint es auch „an der Zeit, Russland, China und andere Länder einzubinden.“ Was musste geschehen, damit eine seit zwanzig Jahren real stattfindende, aber beharrlich geleugnete Entwicklung der Diversifizierung, der Pluralisierung der Welt, der Entstehung neuer Zentren im globalen Geschehen plötzlich einen Ehrenplatz im Leitkommentar des konservativsten deutschen Blattes findet?

Bricht sich angesichts der Finanzkrise tatsächlich Bahn, was sich im Georgischen Krieg andeutete, aber noch nicht begriffen, sogar wütend bekämpft wurde? Dass nämlich die USA, die NATO, die Europäische Union nicht mehr allein über die Geschicke der Welt entscheiden? Dass es andere, neue Kriterien in den Beziehungen zwischen den Völkern geben könnte als die unilaterale Durchsetzung hegemonialer Interessen einer „einzigen Weltmacht“, wie die USA von ihrem wichtigsten Strategen, Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion getauft wurde? Kooperative, gleichberechtigte, auf friedliches Miteinander der Völker orientierte Beziehungen in einer gemeinsam gepflegten Welt.

Oder ist der Kommentar vielleicht gar nicht so zu verstehen? Ist mit „Einbindung“ vielleicht gar nicht Kooperation, Gleichberechtigung und friedliches Miteinander gemeint, sondern eben genau das, was Banker uns soeben weltweit vorführen – die Sozialisierung der Verluste, nachdem die Gewinne in Schwindel erregenden Höhen und brutalster jahrelang Weise privatisiert wurden? Soll „Einbindung“ diese Methode nun vielleicht nur in die Politik und auf die internationalen Beziehungen übertragen – Sanierung der USA auf Kosten der Welt, indem der „ermüdeten“ Weltmacht in Zukunft geholfen wird, die schwere Bürde der Weltherrschaft zu tragen? Barak Obamas Botschaft ging schon vor der Krise in diese Richtung.

Die Kritik, die Sbigniew Brzezinski in seinem neuesten Buch „Second Chance“ an Bush I, Clinton und Bush II (wie er sie aufzählt) vorbringt, endet mit dem Aufruf, die „Hybris“ der unilateralen Alleinherrschaft über die Welt hinter sich zu lassen und sich für Bündnispartner zu öffnen – jedoch ohne dabei den Anspruch auf Hegemonie zu hinterfragen, im Gegenteil, um ihn zu erneuern. Im selben Geiste führen Banker, Wirtschaftsbosse und herrschende Politik jetzt reihenweise vor, dass nicht etwa das „System“ die Ursache des Finanzcrashes sei, sondern Gier, Dummheit und Verantwortungslosigkeit einzelner Personen. Einzeltäter.

Mehr noch und wahrlich schon grotesk in seinen konkreten Formen der Darstellung: Um nur „das System“ nicht in Frage stellen zu müssen, verwandeln sich Ideologen und Praktiker des seit dem Ende der Sowjetunion propagierten und praktizierten Neo-Privatismus reihenweise in Fürsprecher eines neuen Etatismus: der Staat soll es richten. Aber wer, bitte sehr, ist heute „der Staat“? Der Staat ist heute mehr denn je nichts weiter als der „geschäftsführende Ausschuss“ des Kapitals. Das war er im „realen Sozialismus“, das ist er allen „Deregulierungen“ und selbst Mafianisierungen zum Trotz auch in der nach-sozialistischen Globalisierung und wird es bleiben – wenn nicht Wirtschaft und Gesellschaft endlich personell und institutionell getrennt werden.

Die Lösung liegt nicht darin, vom Neo-Liberalismus zum Staatsdirigismus zurückzupendeln, um wie Hamster im Käfig dann wieder zum Liberalismus zurückzukehren und so never ending wie eine Ratte immer wieder dasselbe Rad von Liberalismus zum Dirigismus zu durchlaufen. Die Aufgabe – und auch die Chance – besteht vielmehr darin einen Weg zu finden, der die zur Zeit bestehende Totalität eines mit der Wirtschaft undefinierbar verflochtenen sich selbst irgendwie regulierenden Staates, also einer Totalität, der die Gesellschaft in sich aufsaugt, differenziert, in eine Entflechtung von Wirtschaft, Staat und geistiger Lenkung überführt. Wirtschaft, Staat und Kultur im Sinne geistiger Orientierung müssen als drei voneinander unabhängige, gleichwertige Teile der Wirklichkeit miteinander kooperieren.

Nur so werden wir aus der bloßen Wiederholung des ewig gleichen Kreislaufes herauskommen. Das Gleiche Prinzip gilt auch für die globale Ordnung, bei der es auch nicht nur darum gehen kann, die bestehende Hegemonie eines Superimperiums USA, einer mit den USA verbundenen EU durch „Einbindungen“ Russlands, Chinas oder anderer zu stützen, was zweifellos auch geschehen muss, um schlimmste Abstürze zu verhüten. Es geht vielmehr darum eine kooperative Wechselwirkung voneinander unabhängiger, gleichberechtigter Integrationsräume und Kulturen herzustellen, die sich in gegenseitiger Hilfe verbinden, genauer, die schon vorhandenen Ansätze und Möglichkeiten dazu zuzulassen und zu fördern.
Es sei vielleicht noch ein Letztes angemerkt, um diese kleine Betrachtung, die nur eine Anregung sein kann, abzurunden: Der multipolaren Weltordnung und der skizzierten multisektoralen Organisation von Staat Wirtschaft und Kultur entspricht die Entwicklung eines multidimensionalen Menschen. Das sind Menschen, die sich nicht mehr allein durch Geburt, Blutsbande, Nation, vorgegebene Religionen oder Leitkulturen oder auch durch ihren Lohnberuf, sondern durch die freie Wahl ihrer Beziehungen zu anderen Menschen und Kulturen wie zu der von ihnen gewünschten Tätigkeit definieren.

Dies alles wäre der Umkreis des Wortes „Multipolar“, wenn man es nicht zur Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, sondern zu deren Transformation heranzieht. Die gegenwärtige Krise und ihre Folgen geben die Chance dazu.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Russland – Ende der Ohnmacht?

„Russlands außenpolitische Strategie besteht nach wie vor aus einer einzigen Idee: dem Panzer“. So war es in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15.08.2008 zu lesen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erschien eine Woche später unter dem Titelbild eines sowjetischen Panzers, der 1968 zur Niederschlagung der Proteste in Prag einfährt. Darunter der Kommentar „Déjà vue. Budapest 1956? Grosny 1999? Gori 2008?“ Im „Spiegel“ konnte man die gleichen Bilder sehen. In dieser Berichterstattung geht es nicht darum, was in der Nacht vom 7. auf den 8. August in Zchinwali geschah, das Massaker des Georgischen Militärs an der zivilen Bevölkerung einer schlafenden Stadt und die Folgen dieser Ereignisse. Hier geht es nur noch um die Frage, wie Russland darauf reagierte und welche, angeblich aggressiven Ziele es mit seinem Eingreifen verfolgte. Zeit also sich dieses Aspektes genauer anzunehmen.
„Der Plan war, die Schuld auf Russland zu schieben“, erklärte Michail Gorbatschow in einem Interview mit CCN am 18.8.2008. Die USA habe Georgien seit Jahren aufgerüstet. Aber statt eine „Militarisierung der Welt“ zu betreiben, sei es notwendig die „neuen Realitäten wahrzunehmen“, die eine Kooperation Russlands und den USA erforderten. „Die Vereinigten Staaten sollten nicht glauben, dass jedes Problem militärisch gelöst werden könne.“
Mit dieser Position folgt Gorbatschow, heute als Privatmann, der Grundlinie russischer Außenpolitik, die sich – bei allen Wandlungen und scharfen Widersprüchen im Detail wie im tschetschenischen Krieg – von seiner Zeit als letzter Parteisekretär der Sowjetunion bis zu Medwjedew durchzieht. Die Unterschiede liegen dabei weniger im Wollen, als im Können.
Gorbatschows neue Militärdoktrin propagierte ein kooperatives, multipolares Weltbild und damit verbunden eine weltweite Entmilitarisierung und Abrüstung. Das geschah in Abwendung von der Konfrontationslogik des Kalten Krieges und in Anlehnung an chinesische Vorstellungen.
Im Klima des „Neuen Denkens“ waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnaze, wie die Historikerin Susan Eisenhower berichtet, sogar gutgläubig genug, den Westmächten ihr mündlich gegebenes Versprechen abzunehmen, die NATO nicht über die deutsch-deutsche Grenze nach Osten auszuweiten zu wollen, wenn Russland sich aus Ost-Deutschland zurückzöge.
Schon Boris Jelzin jedoch sah sich mit dem Beginn der Ost-Erweiterung der NATO konfrontiert; sein Außenminister Kosyrew versuchte dem mit dem Eintritt Russlands in den NATO-Russland-Rat zu begegnen. Erfolglos, Ergebnis war eine zunehmende Westabhängigkeit Russlands. Nach dem Eingreifen der NATO in Jugoslawien intensivierte Jelzin daher Russlands Beziehungen zu China. Kosyrews Nachfolger Primakow verstärkte die Öffnung Russlands nach Süden und Osten. Das hieß: Rückgewinnung russischen Einflusses im Nahen Osten, Dreierallianz mit Indien und China, Union mit Weißrussland.
Mit dem Antritt Putins kehrte Russland voll und ganz zum Konzept der Multipolarität der 90er Jahre zurück, als Putin erklärte, er wolle ein staatlich erstarktes Russland wieder zum Integrationsknoten in Eurasien machen, ohne sich dabei von Europa oder den USA abwenden zu wollen. Ausdruck dieser Politik war die Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin 2002, die Russland als Militärmacht neu definierte, die Festigung der Beziehungen zur GUS, die weitere Intensivierung der Beziehungen zu China, die aktive Teilnahme in der Entwicklung der 2003 gegründeten „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ), der Ausbau des BRIC-Bündnisses (Brasilien, Russland, Indien, China). Gleichzeitig kooperierte Russland weiter mit der EU und den USA, wurde Mitglied der G7, die mit Russland zur G8 wurden, und betrieb Vorbereitungen für den Eintritt in die WTO. Leider gehörte auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als „Einmischung in seine innere Angelegenheiten“ verbat.
Die Ausweitung der NATO wie auch der EU, die nach der Einbeziehung Ost-Europas auch vor der Ukraine und den Staaten des Kaukasus nicht Halt machte, sowie die US-Aktivitäten zur Stationierung von Raketenabfangstationen in Polen und Tschechien veranlassten Wladimir Putin im Februar 2007 nach Abschluss der offenen Kriegshandlungen in Tschetschenien schließlich zu einem neuen Schritt. Auf der jährlichen Sicherheitstagung der NATO in München kritisierte er die Einkreisung Russlands durch NATO und US-Politik und die von den USA betriebene Militarisierung der internationalen Beziehungen und trug Russlands Vorstellungen einer kooperativen internationalen Ordnung als Alternative vor.
Die USA sowie die NATO-Staaten gaben sich schockiert, versuchten Putin als Aggressor, gar als Faschisten zu isolieren. Aus der SOZ, aus dem BRIC-Bündnis, aus dem arabischen Raum kam Beifall, selbst aus der EU kam verhaltene Zustimmung. Die Frage stellte sich nur, ob Russland die neue Rolle, die Putin reklamierte, auch tatsächlich ausfüllen könne.
Eine aktuelle Antwort darauf gab der russische Außenminister Lawrow, als er am 23. Januar 2008 im Pressezentrum des russischen Außenministeriums der internationalen Öffentlichkeit die neue außenpolitische Strategie Russlands vorstellte, die den „Forderungen der gegenwärtigen Etappe der Weltentwicklung“ entspreche. Das „Wesen dieser Etappe“, so Lawrow, sei „die sich objektiv entwickelnde Multipolarität“ und die „objektiv steigende Rolle der multilateralen Diplomatie.“ Davon, setzte er ausdrücklich hinzu, müsse er wohl niemanden erst überzeugen. Auf dieser Grundlage verfolge Russland eine Politik „des Pragmatismus, der Multivektoralität, der Bereitschaft mit allen zusammenzuarbeiten, die es wollen, und unsere nationalen Interessen fest, aber ohne Konfrontation zu verfolgen“. Russland trete für die „Festigung der kollektiven Rechtsgrundlagen in internationalen Angelegenheiten“ ein. Das entspreche auch den Anforderungen der Globalisierung.
Leider gebe es auch Rückgriffe auf Blockpolitik, auf ideologisiertes Herangehen, gebe es Versuche einer Region Konfrontationen aufzuzwingen und die Weltpolitik zu remilitarisieren – das alles gebe es. Er, Lawrow, sei jedoch tief überzeugt davon, dass dies der Grundentwicklung der internationalen Beziehungen zuwiderlaufe. Das Streben nach kollektivem Vorgehen, nach der Stütze auf das Völkerrecht liege den gegenwärtigen Aufgaben und Interessen der ganzen Menschheit näher. Russland, erklärte er, habe keinerlei feindliche Absichten gegenüber irgendeinem Land. „Wenn aber die Partner ein gemeinsames Vorgehen ablehnen, „so Lawrow, „dann werden wir natürlich eigene Entscheidungen treffen müssen, und dabei werden wir vor allen Dingen von unseren nationalen Interessen ausgehen und auch“, fügte er noch einmal sehr deutlich hinzu, „vom Völkerrecht.“
Dies alles mochte noch nach Wiederholung bekannter Absichten klingen, zumal mögliche Lehren aus dem tschetschenischen Krieg nicht erwähnt wurden. Ein neuer Ton war dennoch zu hören, als Lawrow seiner Erklärung hinzufügte, nach der Stabilisierung des Landes in den letzten acht Jahren unter Wladimir Putin, „haben wir jetzt erstmals in der Geschichte die Möglichkeit und die finanziellen Ressourcen, all diese Aufgaben parallel zu lösen und uns dabei auf den neuen Stand Russlands zu stützen, das die steigende Verantwortung in internationalen Angelegenheiten tragen kann.“
Mit dieser Erklärung war Russlands Anspruch angemeldet, die Wahrnehmung eigener Interessen mit seiner neuen Rolle als Impulsgeber einer multipolaren Ordnung effektiv anzutreten. Russlands Pluralität, seine Orientierung auf die innere Modernisierung, sein Wiedereintritt in seine Rolle als Großmacht Eurasiens, die nicht mehr integriert wird, sondern selbst integriert, bilden die Basis dieser Politik. Das gilt ebenso für Russlands Außenpolitik, die den Impuls internationaler Pluralität stärkt und auf geltendes Völkerrecht orientiert. Es gilt auch für Russlands neue Rolle auf dem globalen Finanzmarkt, für seine Beitrittsabsichten zur WTO, deren Regeln es im kooperativen Sinne zugleich verändern will.
Die Vorgänge im Kaukasus sind somit auch aus russischer Sicht das Signal für den Eintritt in eine neue Phase der internationalen Beziehungen. So nicht weiter, Herr Bush! Könnte man sie übersetzen. Hier beginnt Russland! Hier beginnt die Notwendigkeit von Absprachen, statt der weiteren Militarisierung internationaler Beziehungen. Hinter sein aktuelles Eingreifen im Kaukasus wird Russland nicht zurück gehen. Vor Veteranen erklärte der russische Präsident Medwjedew, jeder weitere „Versuch einer Brandstiftung“ werde von Russland in gleicher Weise beantwortet werden. In Zukunft, heißt das, werden die USA, wird die EU mit Russland als offensivem Vertreter einer anderen als der amerikanischen Weltordnung rechnen müssen und – das ist als vielleicht sogar als kleine Hoffnung hinzuzufügen – auch können.
Zugleich wird die Schwäche der USA wie auch der EU deutlich, die zwar Georgien aufrüsten konnten, einen offenen Krieg mit Russland jedoch unter keinen Umständen riskieren können und wollen – solange rationales Abwägen von Gewinn und Verlust das politische Handeln bestimmt. Zu erwarten sind allerdings weitere Nadelstiche im engeren und im weiteren Integrationsraum Russlands, um es zu einer aggressiven Wahrnehmung seiner Interessen zu provozieren wie zuvor in Tschetschenien und so seine Rolle als neuer Impulsgeber einer multipolaren Alternative zu desavouieren. Wie Russland mit dieser Herausforderung umzugehen imstande sein wird, wird sich zeigen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putins Jahresbotschaft: Ein „strategischer Fehler“?

Die Rede, die Wladimir Putin Ende April an die beiden Kammern des russischen Parlamentes hielt, sorgt weiter für außenpolitische Aufregung, obwohl sie sich vornehmlich innenpolitischen Themen Russlands widmet und eher ein Vermächtnis des scheidenden Präsidenten an seinen Nachfolger zu verstehen ist. Von „Neuer Eiszeit „ ist die Rede; Putin drohe dem Westen, konnte man in der FAZ lesen. NATO, ebenso wie EU-Spitzen drückten ihr „Bedauern“ aus, fordern Erklärungen von Russland, was gemeint sei. Dabei müsste man nur zitieren, was Putin gesagt hat, um Fragen danach, was er gemeint haben könnte, bereits beantwortet zu haben:
Putin drohte weder, noch rief er eine neue Eiszeit aus, er sprach nicht einmal eine Kündigung des Rüstungskontroll-Vertrages aus – er machte nur einen Vorschlag, nämlich die aus Sicht Russlands im Zusammenhang mit dem KSE-Vertrag entstandene neue Situation und die damit zusammenhängenden Probleme im Russland-NATO-Rat neu zu beraten. Erst für den Fall, dass keine Ergebnisse durch Verhandlungen erzielt werden könnten, schlägt Putin der zukünftigen russischen Regierung vor, darüber nachzudenken, ob Russland den Vertrag einseitig kündigen müsse. So kann aus dem Vorschlag eine Forderung werden, aber keine Drohung.
Betrachtet man Putins Begründung, dann erscheinen die Reaktionen von NATO, EU und der Mehrheit der westlichen Medien unverhältnismäßig: Der Vertrag sei zwischen NATO und Warschauer Pakt geschlossen worden, so Putin. Inzwischen existiere der Warschauer Pakt aber nicht mehr, dafür sei die NATO bis an die Grenzen Russlands vorgerückt. Russland habe die Bedingungen des Vertrages erfüllt. Fast alle schweren militärischen Waffen seien aus dem europäischen Teil Russlands zurückgezogen worden. Einige der neuen Mitglieder der NATO, so die Baltischen Staaten und die Slowakische Republik hätten den Vertrag dagegen bis heute nicht unterzeichnet. Mehr noch, jetzt planten NATO und USA Raketen in Polen und der tschechischen Republik aufzustellen, deren angeblicher Zweck, Europa vor Iranischem Terrorismus zu schützen für Russland nicht nachvollziehbar sei. Zudem müsse man die US-Abfangraketen als „Element des strategischen Waffensystems“ der USA begreifen, das auf diese Weise erstmals in Europa stationiert werde. Aus all dem ergebe sich eine neue Sicherheitslage nicht nur für Russland, sondern für Europa, die nicht nur in der NATO, sondern auch in der Organisation für Sicherheit- und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Kreise aller von diesen Fragen betroffenen Staaten gleichberechtigt beraten werden müsse.
„Worüber wir sprechen“ so Putin in einer auf seine konkreten Vorschläge folgenden Begründung, „ist eine Kultur der internationalen Beziehungen, die auf internationalem Recht beruht – ohne Versuche, Entwicklungsmodelle aufzuzwingen oder den natürlichen Gang des historischen Prozesses zu forcieren. Das macht die Demokratisierung des internationalen Lebens und einer neuen Ethik in den Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern besonders wichtig. Es erfordert ebenfalls die wirtschaftliche und humanitäre Kooperation zwischen Ländern.“
Mit diesen Positionen knüpft Putin an die Vorschläge an, die er schon bei der letzten sog. Sicherheitskonferenz der NATO in München vortrug: Die von den USA betriebene Militarisierung der der internationalen Beziehungen zu beenden und stattdessen in kooperative Verhandlung zu Abrüstung auf allen Ebenen einzutreten, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraums. Wieso die Konkretisierung dieser Positionen auf Verhandlungen zu einer Neufassung der KSE- und OSZE-Verträge „bedauerlich“ sind, was an ihnen geeignet ist, eine „Neue Eiszeit“ einzuleiten und was dergleichen mehr Bewertungen sind, ist schwer zu erkennen. Das gilt auch dann, wenn man richtig davon ausgeht, dass Wladimir Putin seine Vorschläge selbstverständlich nicht naiv wie ein Erstklässler, sondern unter Berücksichtigung und Ausnutzung der gegebenen globalen Kräfteverhältnisse, also auch mit der Absicht vorbringt, für Russland Boden damit zu gewinnen.
Selbstverständlich zielen seine Vorschläge auch auf eine Schwächung der „atlantischen Bindungen“, so wie die Pläne der USA, Raketen in Ost-Europa stationieren zu wollen, weniger auf einen Schutz Europas, als auf eine Störung der von den USA gefürchteten strategischen Beziehung zwischen EU und Russland zielen. Das sachliche Für und Wider wird ohnehin gesondert verhandelt.
Offensichtlicher Ausdruck des Erfolges der einen wie der anderen Seite bei diesem Ringen um Europa sind jedoch die Positionen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der die derzeitige Diskussion um das geplante US-Raketenschild „ebenso problematisch“ findet wie Putins Ankündigung den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte neu zu beraten, bzw. auszusetzen.
Ob Putins Auftritt dagegen, wie Alexander Rahr von der „Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik“ meint, „viel zu schroff“ und daher ein „strategischer Fehler“ gewesen sei, der Angela Merkel in eine peinliche Situation bringe, nachdem sie erst versucht habe, die Beziehungen zu Russland weiter auszubauen, ohne sich in Konfrontation zur Bush-Administration zu begeben, wird man bezweifeln dürfen. Die innenpolitische Schwerpunktsetzung, die der scheidende Präsident seinen Landsleuten mitgab, macht mehr als deutlich, dass Russland sich vom Westen nicht mehr gängeln lassen will, es aber auch nicht mehr muss. Damit wird der tiefere Hintergrund westlicher Beunruhigung sichtbar.
Seit 2000, so Putin im Blick zurück auf die „schweren Zeiten“ unter seinem soeben verstorbenen Vorgänger Boris Jelzin, habe sich die Situation Russlands zum Guten entwickelt. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. „Wir haben Geld“, so Putin schlicht. Es komme jetzt es nur darauf an, es richtig einzusetzen, um die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur des Landes gezielt zu entwickeln.
Nicht allen jedoch, so Putin weiter, gefalle die stabile Entwicklung des Landes. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. US-Freund Kasparow Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei. Ob Gesetze gegen den Extremismus das richtige Mittel zur Abwehr ausländischer Interventionen sind, soll hier offen bleiben. Putins Rede signalisiert, dass Russland selbstbewusst seinen eigenen Weg sucht. Für die Mehrheit westlicher Medien ist damit offenbar schon der Tatbestand der Aggression erfüllt.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Russland: Wohin ohne Putin?

Es ist Schaltzeit. In Russland wird die Uhr für die Zeit nach Putin gestellt, in den USA für die Zeit nach Bush. Aber anders als in den USA, aus deren Wahlkampf scharfe Signale die Welt erreichen, kommen aus der russischen Vorwahlzeit ruhige Töne, die auf einen bruchlosen Übergang von Putin zu seinem Nachfolger orientieren; 75% der russischen Bevölkerung würden es begrüßen, wenn gar nicht gewählt werden müsste und Wladimir Putin auch eine dritte Amtszeit über das Amt des Präsidenten ausübte.
Da Putin sich nun aber entschlossen hat, die russische Verfassung zu achten, die drei Amtszeiten hintereinander verbietet, und an seinerstatt einen Nachfolger vorschlägt, unter dessen Präsidentschaft er als Ministerpräsident weiter die Geschicke Russlands mit gestalten will, sind keinerlei Überraschungen zu erwarten. Die Wahl wird faktisch zu einem Plebiszit über einen abgesprochenen, ruhigen Machtwechsel.
Dazu passen die letzten Auftritte Putins, insbesondere vor dem Staatsrat Anfang Februar sowie seine letzte große Pressekonferenz vor mehr als 1300 russischen und ausländischen Medienvertretern, in denen er nicht nur Bilanz zog und strategische Aufgaben der Zukunft skizzierte, sondern Kritikern der Regierungspolitik versprach, sich um die von ihnen vorgebrachten Dinge kümmern zu wollen.
Schaut man nicht durch die Brille westlicher Voreingenommenheit, nimmt man ernst, was Putin erst dem Staatsrat, also dem Kabinett, den Spitzen der Politik und führenden Generälen, dann der nationalen und internationalen Öffentlichkeit mitzuteilen hatte, nämlich Orientierung auf die Stärkung der russischen Wirtschaft, die vor ausländischem Einfluss geschützt werden müsse, und Entwicklung einer neuen Sicherheitsstrategie, zu der Russland durch den Druck des Auslands gezwungen werde, dann wird klar, worum es beim russischen Machtwechsel geht: Um die Sicherung der in acht Jahren putinscher Präsidentschaft mühsam wieder hergestellte russische Staatlichkeit und Einheit des Landes.
Man erinnere sich: Bei Übernahme der Präsidentschaft im Jahre 2000 war das Land in Regionen, Bezirke und oligarchische Herrschaftsbereiche zerfallen. Jelzin war seit 1996 Präsident von Beresowskis Gnaden. Presse und Medien waren in den Händen der Oligarchen, die miteinander Krieg um die fettesten Stücke der Privatisierung des Gemeineigentums führten. Jelzins „Familie“ war in diese Machenschaften tief verwickelt. Mord aus wirtschaftlichen Gründen war an der Tagesordnung. Die Netze der sozialen Versorgung waren zerrissen. Steuern wurden ebenso wenig gezahlt wie Gehälter, Löhne, Renten. In Tschetschenien steigerte sich der Zerfall bis zum Terrorismus. Russen sahen ihr Land, auch außenpolitisch, auf den Stand eines Entwicklungslandes reduziert.
Mit Putins Übernahme der Präsidentschaft trat Russland in eine Phase der Wiederherstellung minimalster staatlicher Funktionen ein. Die Ankündigung, mit der er als Mr. Nobody antrat, lautete schlicht: Wiederaufbau staatlicher Autorität vom sozialen Netz bis hin zur Grenzsicherung gegenüber den aus der Sowjetunion ausgeschiedenen Nachfolgestaaten, den umkämpfen Grenzbereichen und Wiederherstellung eigener, souveräner Beziehungen Russlands im eurasischen und globalen Maßstab.
Es soll an dieser Stelle nicht weiter in Details gegangen werden. Man kann jedoch nicht oft genug an diese Tatsachen erinnern, denn allein sie erklären die ungeheure Zustimmung, die Wladimir Putin entgegen wuchs, als er 1999 mit dem Versprechen die Macht übernahm, eine „Diktatur des Gesetzes“ herzustellen, denn das bedeutete nichts anderes als ein Minimum an Sozialität in die russische Gesellschaft zurück zu bringen, die sich im freien Fall befand. Jetzt, nach acht Jahren, kann Putin feststellen: Wir haben es geschafft und verspricht es weiter schaffen zu wollen und man kann nur bestätigen: Trotz Krise gelang es Russland nicht nur zu überleben, sondern auch noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Diese Zustimmung hält bis heute an.
Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde. Schließlich ist es auch die Disziplinierung der Oligarchen, die sich in der Flucht des Medien-Eigentümers Wladimir Gussinskis nach Spanien, der grauen Eminenz der Jelzin-Ära, Boris Beresowskis nach England und der Verhaftung und Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowski niederschlug.
Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu sind: Neue Militärdoktrin seit 2002, die das vom damaligen Außenminister Kirijenko formulierte Credo der Jelzin-Ära beendete, dass Russland heute keine Verteidigungsarmee mehr brauche. Einen Wendepunkt markierte Putins Auftreten bei der Münchner NATO-Tagung 2006, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er es formulierte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es ein Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft. Diese Entwicklung wurde möglich durch eine, so könnte man es nennen, konsequent „opportunistische“ Politik Russlands zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten, die Russland in die Rolle eines Protagonisten einer multipolaren Welt brachte. Diese Rolle war Russland in den Jahren seit Putins Amtsübernahme in aller Stille zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wurde sie vor aller Augen benannt. Mit dem Besuch Putins in Teheran Ende 2007, die zeitgleich zu Konferenzen des Shanghaier Bündnisses wie auch der Anrainer des kaspischen Meeres stattfand, zeigte Russland den USA auch praktisch die rote Karte. Die Teilnehmer der kaspischen Konferenz – Kasachstan, Tadschikistan, Iran, Aserbeidschan, Russland – versicherten sich gegenseitig, keine unabgesprochene Gas- und Ölförderung durch das kaspische Meer und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Gebiet, die gegen eins der an der Konferenz beteiligten Länder gerichtet sei, zuzulassen. Das Shanghaier Bündnis der zentralasiatischen Staaten nahm den Iran demonstrativ als assoziiertes Mitglied in seine Runde auf. Putins Auftritte vor der Wahl stehen in dem Bemühen, Leitlinien vorzugeben, die ihm auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Präsidentenzielen erlauben als Ministerpräsident den jetzt verfolgten Kurs auf neuer Ebene fortzusetzen.
Wladimir Putin und Dimitrij Medwjedew scheinen sich auf eine Art Arbeitsteilung, um nicht zu sagen Doppelherrschaft geeinigt zu gaben, salopp gesagt, Putin für´s Grobe in der Außenpolitik – Medwjedew für´s Feine in der Innen¬ Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jedenfalls geben sie sich gegenwärtig den Anschein, wenn Medwjedew erklärt, sich zukünftig mehr auf die Wirtschaft und weniger auf außenpolitische Belange konzentrieren zu wollen, während Putin schon jetzt, noch wenige Wochen vor seinem Abtritt erklärt, er werde an der NATO-Sicherheitskonferenz in im April in Bukarest teilnehmen. Bei genauerem Hinsehen sind Medwjedews Absichten keineswegs fein, wenn er erklärt, er wolle für neue Impulse in der Sozialpolitik sorgen, indem er die jetzt mit sozialen Fragen beauftragte Bürokratie zugunsten privater mittelständischer unternehmerischer Initiative abbauen wolle. Das klingt gut, ist aber praktisch nur eine neue Verpackung für die schon einmal gescheiterten Absichten der russischen Regierung, kommunale Dienstleistungen zu monetarisieren. Putin andererseits erklärt trotz aller Interventionsversuche der USA und trotz Zuspitzung des Kosovo-Konfliktes, er Russland wolle auch in Zukunft freundschaftlich mit den USA kooperieren. Man darf gespannt sein zu welcher Seite hin sich diese Doppelherrschaft zukünftig auflösen wird.

Kai Ehlers

Wahlen in Russland – ein Mandat wofür?

Russland hat gewählt. Die von Putin angeführte Partei erhielt mit 63,5% der abgegebenen Stimmen, bei 60% Walbeteiligung, die absolute Mehrheit. Aber was war das? Eine Wahl? Oder vielleicht eher ein Referendum wie die russische Tageszeitung „Wedemosti“ fragt? Verlief die Wahl korrekt oder war sie ein gigantischer Betrug?

Die Bewertungen gehen so weit auseinander wie Russland groß ist. KP-Chef Szuganow spricht von gigantischer Fälschung und will Protest organisieren; ebenso Gari Kasparaow und die Liberalen. Sie beklagen „flächendeckende“ Beeinflussung, massive Einschüchterung und offene Wahlfälschungen und wollen damit vor Gericht ziehen. Die Regierungen der USA, der EU, die deutsche Bundesregierung fordern „Aufklärung“ von der russischen Regierung über „Unregelmäßigkeiten“ bei der Wahl, die demokratischen Standards nicht entsprochen habe. Vertreter der Shanghai-Organisation, der GUS-Staaten dagegen erklären demonstrativ, die Wahlen seien ordnungsgemäß und den Gesetzen entsprechend verlaufen.

Aus der OSZE hört man widersprüchliche Signale: Einerseits wird die Vermischung von Staat und Parteien beklagt, die nicht zuletzt durch Putins Kandidatur an der Spitze von „Einheitliches Russland“ zustande gekommen sei; dadurch seien die Wahlen „ungerecht“ gewesen. Andererseits bestätigte der Vizepräsident der OSZE Kiljunen, in einem Interview in Radio Moskau, die Wahlen seien „normal“ verlaufen. Wenn einige Wähler außerhalb der Walkabine ihre Stimme abgegeben hätten, dann müsse man sehen, dass dies eine „alte Tradition bei russischen Bürgern“ sei. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen; wer nicht dabei war, kann nur staunen über die Vielfalt der unterschiedlichen Wahrnehmungen. Am Besten fährt man mit dem neuen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, dem Parteilichkeit zugunsten Russlands kaum unterstellt werden kann: Er konstatiert, dass die Wahlen Putin gestärkt hätten „und unabhängig von unseren Einschränkungen, die die Wahlstandards angehen, ist das dennoch die Wahl der Russen. Ich sehe keinen Grund, warum wir sie in Zweifel ziehen sollten.“

In der Tat gibt es keinen Grund, diese Sicht in Zweifel zu ziehen: das Ergebnis der Wahl, wie man es auch dreht und wendet, ist ein eindeutiges Mandat für Wladimir Putin, der vor der Wahl erklärt hatte, einen Sieg der Partei „Einheitliches Russland“ werde er als moralische Berechtigung betrachten, im Staate weiterhin eine führende Funktion auszuüben.

Die Frage ist allein: Welche Funktion könnte das sein? Darüber wurde schon vor der Wahl heftig spekuliert, nachdem Putin klargestellt hatte, dass er keine dritte Amtszeit anstrebe. Auch jetzt wird weiter gerätselt. Wird er als Ministerpräsident antreten? Baut er sich auf dem Umweg über einen schwachen Präsidenten als Präsident in Spe auf? Wird er als Aufsichtsratsvorsitzender eines der großen russischen Monopole, Gazprom oder des geplanten Elektro-Energie-Verbundes einen ähnlichen Weg wie der deutsche Ex-Bundeskanzler Schröder gehen? Putin hat alle diese Optionen offen gehalten. Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Dumawahl zwar ein Vertrauensbeweis für ihn, aber sie ist zugleich mehr als nur eine Abstimmung über ihn selbst – sie ist die Abstimmung über ein System, nämlich über das System der von Putin restaurierten traditionellen russischen Struktur des zentralisierten Pluralismus, anders gesagt, über die russische Form von Demokratie, die zur Zeit unter dem Stichwort der „gelenkten Demokratie“ in Russland entwickelt wird.

Gleich welchen Kandidaten Putin selbst als Nachfolger im Präsidentenamt vorschlagen wird, gleich in welcher Funktion er selbst die von ihm reklamierte Führerschaft wahrnehmen wollen wird, jede dieser Entscheidungen steht unter der Vorgabe, die traditionelle Grundordnung Russlands, die er in acht Jahren seiner Amtszeit ansatzweise wiederherstellen konnte, weiter zu festigen. Mit dieser Dumawahl bekommt sie den Charakter eines Volksentscheides.

Die Kernfrage dabei ist nicht, ob und von wo aus Putin selbst diese Ordnung weiter vertritt, sondern in wessen Interesse sie zukünftig entwickelt wird. Putin hat es auf seinem Kurs der restaurativen Stabilisierung geschafft, die Herstellung optimaler Investitionsbedingungen für internationales und einheimisches Kapital mit einer sozialen Befriedungspolitik zu verbinden. Dabei halfen ihm die steigenden Ölpreise und eine Bevölkerung, die nach dem Absturz in der Jelzin Zeit für jede kleine Verbesserung des Lebensniveaus dankbar war. Jeder Nachfolger Putins wird sich daran messen lassen müssen.

Darüber hinaus steht nach der Wahl die Umsetzung all der schon beschlossenen, „Projekte“ der weiteren „Monetarisierung“ nach den Standards der WTO an, die nach den Massenprotesten von 2005 bis zur Wahl bisher zurückgestellt wurden. Dies dürfte auch ein Grund sein, warum sich die 63,5% Zustimmung für Putins Partei nur aus einer Beteiligung von 60 Prozent der russischen Wahlberechtigten herleiten. Der Rest, fest die Hälfte der Bevölkerung, wartet ab, was da kommt.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putin: Der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz?

Darf man so über Putin schreiben? Zugegeben, es gibt Gründe zu zögern, aber Tatsachen müssen Tatsachen bleiben, gerade wenn versucht wird sie zu vernebeln und zu verdrehen wie beispielsweise jetzt gerade wieder unter der Schlagzeile: „Wie Putin, Chavez und die Scheichs den Ölpreis hochtreiben“, unter der „Spiegel-online“ kürzlich über die steigenden Öl-Preise berichtete.
Tatsache ist, dass Wladimir Putin bis heute über ein „Rating“ zwischen 60 und 70% der Bevölkerung verfügt, dass die große Mehrheit der russischen Bevölkerung durch alle Schichten hindurch lieber ihn als irgendjemand anderen als nächsten Präsident sehen würde.
Tatsache ist, dass selbst Putins lauteste Gegner Gary Kasparow und Michail Kassianow – inzwischen getrennt voneinander, aber unisono – ihre Aufrufe zum Wahlboykott damit begründen, dass „unter den derzeitigen Bedingungen keine echte Oppositionspartei die Sieben-Prozent-Hürde überspringen“ könne, ihre Stimme also dem Kremllager zugeschlagen werde, „selbst wenn es keine Wahlfälschung geben sollte“, so Kassianow. (ebenfalls in Spiegel-online vom 9.11.2007)
Vertreter der neuen Linken, die sich um die Bewegung eines russischen Sozialforums sammelt, sind da wesentlich klarer, wenn sie wie der Globalisierungskritiker Boris Kagarlitzki z. B. konstatieren, dass Putin sich als erfolgreichster Herrscher Russlands betrachten könne, gegen den sich zur Zeit kein Protest der Bevölkerung entwickeln lasse, weil die Mehrheit ihre Interessen durch ihn vertreten sehe.
Tatsache ist, dass Putins außenpolitische Auftritte für ein starkes Russland, gegen die Kriegstreiberei der USA in München, in der Frage des Raketenstreites, des Kosovo, neuerdings auch sehr deutlich zum Iran den Kommentatoren der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ das widerwillige Eingeständnis entlockte, dass westliche Politiker der von diesen „Machtdemonstrationen“ ausgehenden Stabilisierung der Weltlage letztlich vielleicht gar noch Lob zollen könnten.
Als Boris Jelzin abtrat, exportierten die Oligarchen und andere Privatisierungshaie ihre Gewinne ins Ausland; Steuern, Löhne, Pensionen wurden nicht oder mit jahrelangen Verzögerungen bezahlt, die betrieblichen, kommunalen und staatlichen Sozialversorgungssysteme wurden aufgelöst. Putin hat es geschafft den weiteren Zerfall zu stoppen, das Chaos ansatzweise zu ordnen, dem Ausverkauf der Ressourcen eine staatlich kontrollierte Energiepolitik abzuringen. Die Wirtschaft stieg aus dem Keller der 98er Krise zu einem inzwischen stabilen Wachstum von ca. 6,5% jährlich auf. Russland befreite sich aus hoffnungsloser äußerer und innerer Verschuldung und defizitärem Budget; das aktuelle Budget hat sich gegenüber dem Jahr 2000 versechsfacht. Ein Stabilitätsfond für mögliche Krisenzeiten wurde eingerichtet, dessen Kapital von ca. 127 Milliarden heute nach weltweiten Anlagemöglichkeiten sucht. Die Währungsreserven der Zentralbank erreichten ein Volumen von 417 Milliarden. Die Arbeitslosigkeit sank; die Inflation konnte gestoppt werden etc. pp.
Auch das weitere Auseinanderdriften des nachsowjetischen Erbes wie auch der russischen Föderation selbst wurde gestoppt: Nach der brutalen Niederschlagung des tschetschenischen Separatismus herrscht in Tschetschenien heute weitgehende Waffenruhe. Präsident Kadyrow betreibt zwar eine aktive Ordnungspolitik, verbunden mit effektivem Wiederaufbau der zerstörten Städte im Sinne Moskaus, betreibt sie aber nicht mehr militärisch, sondern polizeilich. Die GUS ist soweit wieder an Russland herangerückt, dass vor wenigen Wochen ein Gipfeltreffen der Gus-Staaten, der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ und der „Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit“ in Duschanbé stattfinden konnte, die sich die weitere Integration des postsowjetischen Raumes zum Ziel nahm.
Parallel dazu setze ein Treffen der Anrainer das Kaspischen Meeres, einschließlich des Iran, nicht nur ein deutliches Zeichen dafür, in Fragen der Öl-Förderung des Raumes zukünftig kooperieren zu wollen, sondern versicherte sich vertraglich gegenseitig keiner fremden Macht zu gestatten von einem ihrer Territorien aus die anderen anzugreifen. Ein eindeutiges Signal an die NATO!
Der Kriegstreiberei der USA schließlich setzt Russland in zunehmendem Maße die Alternative einer kooperativen, multipolaren Orientierung entgegen, so mit dem Ausbau des Shanghaier Bündnisses, mit der Einbeziehung des Iran in dieses Bündnis und kürzlich erst mit dem Besuch Putins in Teheran, durch den Russland seinen Willen zu einer friedlichen Lösung des Iran-Konfliktes unmissverständlich demonstrierte.
All dies geschah unter einem äußerst schmucklosen, kaum als solches erkennbaren Programm, mit dem Wladimir Putin bei seinem Antritt im Jahr 2000 im Internet seine Ziele in drei Punkten erläuterte:
– Wiederherstellung eines starken Staates.
– Rückbesinnung auf die eigenen Fähigkeiten Russlands, statt den Westen zu kopieren.
– Russland wieder zum „Integrationsknoten“ Eurasiens zu machen.
Mehr war nicht nötig. Dieses karge Programm reichte dafür, dass Putin von der gebeutelten russischen Bevölkerung mit 70% zum Retter des Landes erhoben wurde. Die dafür notwendigen Kräfte wuchsen ihm, durch das Chaos der Jelzinschen Hinterlassenschaft bedingt, von allen Seiten aus blankem Überlebensdruck des Landes freiwillig zu. So unterstützt konnte der als Mr. Nobody herbeigerufene Putin, den die von der Macht scheidende „Familie“ Jelzins, insbesondere die hinter ihnen stehenden Oligarchen, glaubten lenken zu können, zum Vollstrecker der nachsowjetischen Transformation werden, die sich somit in einem Dreischritt vollzog, der für die Entwicklung der großen Krisen der russischen Geschichte typisch ist: Zerfall des im Moskauer Zentrum gebündelten Konsenses der eurasischen Eliten unter Gorbatschow bis zur vollständigen Desintegration des Staates, russisch SMUTA unter Jelzin, danach Wiederherstellung des Zentrums auf neuem technischen und organisatorischem Niveau. Putin, jung, keiner der zerstrittenen Eliten angehörig, ausgebildet durch den KGB und zudem in Geist und Technik asiatischen Kampfsportes zu Hause, war der richtige Mann zu rechten Zeit den Platz des restaurativen Modernisierers einzunehmen.
Alles gut also? Was lässt dann zögern? Die Gründe seien in aller Kürze benannt: Da ist erstens die Tatsache, dass Putins Erfolge ökonomisch auf dem Anstieg der Weltmarktpreise für Öl- und Gas beruhen. Mit stabilen Öl- und Gas-Preisen steht und fallen seine Möglichkeiten wirtschaftlicher Befriedung. Zweitens hat Putins Stabilität den Schönheitsfehler, den neuen Reichtum ungleich zu verteilen; ungeachtet der allgemeinen Steigerung des Lebensniveaus setzt sich die Differenzierung des Einkommens in der Bevölkerung fort. Drittens harren die bereits beschlossenen Pläne für die 2005 nach Protesten der Bevölkerung vorläufig gestoppte sog. Monetarisierung der Umsetzung durch die neue Regierungsmannschaft.
Monetarisierung heißt aber nicht nur einfach Verteuerung durch Angleichung an die durch die WTO vorgegebenen Preis-Standards, es bedeutet darüber hinaus gezielte Angriffe auf die traditionell gewachsenen Strukturen der Selbstversorgung und der in Russland sozial weit entwickelten Ebenen des Tausches, d.h., es geht um grundlegende Angriffe auf die Lebensweise und Lebenslage des Volkes.
Dies alles bedeutet: Es ist nicht klar, ob die Geister die Putin zur Stabilisierung rief, auch in Zukunft so gebannt werden können, dass sie der Bevölkerung nützen. Wenn nicht, dann stehen Russland schwere Zeiten bevor.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

25.9.2007 Die Wunder von Stammheim – Geschichte einer Verdrängung

Am Morgen des 18.10.1977 wurde die Welt durch die Nachricht überrascht, in der JVA Stuttgart-Stammheim seien die RAF Gefangenen Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend, Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt und Irmgard Möller durch Messerstiche schwer verletzt in ihren Zellen aufgefunden worden. Mord oder Selbstmord? Diese Fragen sind bis heute umstritten.
Mit dem Tod der prominenten Gefangenen ging die letzte große Befreiungsaktion der zweiten Generation der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) für die in den damaligen westdeutschen Gefängnissen einsitzende erste Generation ihrer Organisation zu Ende. Die Aktion hatte mit der Entführung von Hans Martin Schleyer, Präsident des Arbeitsgeberverbandes, am 5.9.1977 durch ein „Kommando Siegfried Hausner“ begonnen. Es forderte die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollten sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen. Die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt hatte darauf mit der Bildung eines überparteilichen „Großen Krisenstabs“ geantwortet, der eine Freilassung ablehnte, stattdessen eine absolute Nachrichtensperre sowie eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF verhängte und nur zum Schein auf Verhandlungen einging.
Zur Unterstützung der Forderung der Entführer hatte in der 5. Woche nach Schleyers Entführung ein palästinensisches „Kommando Matyr Halimeh“ die Landshut mit 91 Menschen an Bord gekapert. Am Dienstag, den 18.10.1977 kurz nach Mitternacht meldete der Deutschlandsfunk die „glückliche Befreiung“ der Geiseln der Landshut durch ein Kommando der GSG 9 in Mogadishu. Wenige Stunden später waren die Gefangenen tot, bzw. Irmgard Möller im Krankenhaus. Einen Tag später wurde Hans Martin Schleyer von seinen Entführern erschossen. Vier Wochen danach starb Ingrid Schubert, ebenfalls als RAF-Mitglied inhaftiert, in der JVA-Stadelheim durch Erhängen.
Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen lautete schon um 9,00 Uhr früh desselben Tages: Selbstmord, noch bevor die gerichtsmedizinischen Untersuchungen überhaupt eingeleitet waren. Ähnlich vier Wochen später beim Tod Ingrid Schuberts. Die internationale Presse schrieb: „Mord!“; die deutsche Presse übernahm weitgehend die offizielle Version. Nur eine Minderheit linker und autonomer Blätter sowie die Anwälte der Toten meldeten Zweifel gegenüber der offiziellen Selbstmord-These an, an ihrer Spitze der damalige RAF-Anwalt Otto Schily. Der „Arbeiterkampf“ des Kommunistischen Bunde begann unter der Schlagzeile: „Wir glauben nicht an Selbstmord“ mit einer minutiösen Auflistung der „Wunder von Stammheim“, das heißt, all der Widersprüche, Ungereimtheiten und blanken Erfindungen, die im Laufe der nächsten Tage, Wochen und Monate von BKA, Staatsanwaltschaft, Regierung und einer ihnen sklavisch folgenden Presse produziert wurden.


Die Wunder beginnen mit der Behandlung Irmgard Möllers, der einzigen Überlebenden der nächtlichen Geschehnisse: Irmgard Möller erklärte in ihrer Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Baden-württembergischen Landtages am 16.1.78, sie wisse nicht, was geschehen sei. Sie sei nachts von zwei Knallgeräuschen und einem Quietschen erwacht, dann aber mit einem eigenartigen „Rauschen im Kopf“ wieder eingeschlafen und erst wieder zu sich gekommen, als man ihr die Augenlieder aufgezogen habe. Auf keinen Fall habe sie Hand an sich selbst gelegt. Über Selbstmord hätten die Gefangenen nach dem angeblichen Freitod Ulrike Meinhofs im Sommer 76 zwar diskutiert; dabei hätten sie aber festgehalten, dass es sich um eine CIA-Methode handele, Morde als Selbstmorde darzustellen. Wörtlich sagte sie: „Keiner hatte die Absicht des Selbstmordes. Das widerspricht unserer Politik. Das letzte Mal über Selbstmord haben wir am 26.9., dem Beginn des Hungerstreiks gesprochen. Wir haben den Hungerstreik angefangen, obwohl uns bekannt war, dass er nicht so schnell öffentlich werden könne. Wir wollten dem Krisenstab signalisieren: Wir kämpfen!“
Es gab also Anhaltspunkte, denen eine kriminologische Untersuchung hätte nachgehen müssen. Irmgard Möllers Aussage wurde jedoch beiseite geschoben, u.a. mit dem Hinweis, der sich später auch in der Einstellungsverfügung der Staatsanwalt vom April 1978 wiederfand, es könne nicht stimmen, dass sie bewusstlos gewesen sei, denn der „erfahrene Sanitäter Soukop“, der sie als erster behandelt habe, habe bemerkt, wie sie bei dem Versuch ihr das Lid zu öffnen, die Augen zugekniffen habe. Damit war die Glaubwürdigkeit Irmgard Möllers, die ja ohnehin als parteiisch gelten musste, als Simulantin und Lügnerin vollkommen erledigt, aber es wurde auch deutlich, dass es in den Untersuchungen der Sonderkommission nicht um Aufklärung der Vorfälle, sondern um deren Einordnung in die offizielle Selbstmord-These ging: Nicht nachgegangen wurde der Frage, was es mit dem „Knallen“ und dem „Quietschen“, sowie dem „Rauschen“ in Irmgard Möllers Kopf auf sich gehabt haben könnte. Stattdessen hieß es, es sei mit Sicherheit auszuschließen, dass ihr oder den anderen Gefangenen Gifte oder Betäubungsmittel verabreicht worden sein könnten. Vor demselben Untersuchungsausschuss erklärte einer der internationalen ärztlichen Gutachter jedoch später, man habe zwar keine derartigen Spuren gefunden, aber auch nicht danach gesucht. Es gebe heute „so und so viele Gifte, dass man, wenn man nicht gerichtet auf ein bestimmtes Gift sucht, unter Umständen eines übersieht, vor allem die komplizierteren organischen Gifte. Nehmen Sie Digitalis oder nehmen Sie Insulin – wenn man darauf nicht gerichtet untersucht wird, wird man es nicht finden.“ (AK 123)
Nun, soll damit, dreißig Jahre nach Ereignissen von Stammheim, nicht die Behauptung aufgestellt werden, die Gefangenen seien betäubt und dann getötet worden. Diese Behauptungen wären nicht zu beweisen. Die Behandlung der Aussagen von Irmgard Möller zeigt aber, wie mit Spuren umgegangen wurde, die geeignet hätten sein können, die offizielle Selbstmord-These in Frage zu stellen.
Zweifel waren angebracht und ihnen hätte im Sinne der von der Bundesregierung versprochenen rückhaltlosen Aufklärung auch nachgegangen werden müssen.
Höchste Verwunderung musste ja die Tatsache hervorrufen, dass die Gefangenen Raspe und Baader sich mit eigenen Pistolen erschossen haben sollten. Wie waren die Pistolen in die Zellen der Gefangenen gekommen? Sie seien durch Besucher der JVA eingeschmuggelt worden, hieß es anfangs. Wie das, wenn Besucher sich bis auf die Haut filzen und mit Metalldetektoren abspüren lassen mussten, wenn während der Kontaktsperre überhaupt niemand mehr ohne Wissen des BKA den RAF-Trakt betreten konnte?
Die Waffen seien in Baaders Plattenspieler gefunden worden, hieß es dann. Wie das, wenn den Gefangenen doch alle Geräte abgenommen worden waren? Raspe soll seine Waffe hinter der Fussleiste versteckt haben. Eine dritte Waffe soll bei den ersten Aufräumungsarbeiten in den angrenzenden Zellen später sogar im Wandputz gefunden worden sein. Wie hätten die Gefangenen diese Waffen bei den täglichen Kontrollen, den vielfachen Verlegungen, die gleichbedeutend mit einer Totalrevision ihrer gesamten Habe waren, mit sich nehmen sollen?
Wie konnte Baader sich schließlich mit einer 18 cm langen Waffe am Hinterkopf einen schräg nach oben verlaufenden Schuß selbst ansetzen und dabei zwar Blut- an der einen Hand, aber keine Fingerabdrücke an der Waffe hinterlassen? Ähnlich bei Raspe: Wieso lag die Waffe nach einem aufgesetzten Schuß in die Schläfe in seiner rechten Hand und nicht – der Hand durch den Rückstoß entglitten – neben ihm? Wieso fanden sich auch auf seiner Pistole keine Fingerabdrücke? Haben Baader und Raspe die Pistolen nach Gebrauch noch gesäubert? Alles Fragen, denen nicht nachgegangen wurde. Nicht nachgegangen wurde auch der Frage, in welcher Reihenfolge die drei Projektile abgeschossen wurden, die in Baaders Zelle gefunden worden waren. Traf der erste Schuß seinen Kopf und wurde erst danach auf Bett und Decke geschossen, dann wäre das ein Hinweis darauf gewesen, dass jemand anderes als Baader die Waffe geführt haben müsste. Die ballistischen Untersuchungen zur Klärung dieser Frage wurden nicht vorgenommen. Unbeantwortet blieb auch die Frage, woher der Sand an Baaders Schuhen stammte, obwohl der bei der Obduktion anwesende Wiener Gerichtsmediziner Prof. Holczabek eine mineralogische Untersuchung der „Fremdkörper“ gefordert hatte. Sie wurde nicht durchgeführt.
Wenden wir uns schließlich noch Gudrun Ensslin zu: Wieso wurde sie nicht sofort aus der Schlinge geschnitten, als man sie auffand? Möglicherweise lebte sie noch? Stattdessen warteten Anstaltspersonal und Ärzte mehrere Stunden, bevor sie die Erhängte aus der Schlinge nahmen. Da konnte der Todeszeitpunkt schon nicht mehr genau festgestellt werden. Ähnliche Ungenauigkeiten, wenn man es so nennen und nicht von bewusster Vertuschung reden will, sind übrigens bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes von Baader und Raspe zu bemerken. Wieso riss die Schlinge sofort, als man die Erhängte abnahm, wieso nicht vorher? Wieso wurde der übliche Histamintest nicht vorgenommen, der zur Routine gehört, wenn es darum geht Selbsttötungen durch Erhängen nachzuweisen? Wieso wurden die Verletzungen an Gudruns Körper nur festgestellt, ihre Ursache aber nicht untersucht? Wo blieben die Briefe, die aus ihrer Zelle entfernt wurden? Was ist ihr Inhalt?
Kurz gesagt, Fragen über Fragen, die nicht, falsch oder zumindest irreführend beantwortet wurden. Spuren möglicher Fremdeinwirkung wurde, man ist versucht zu sagen, systematisch nicht nachgegangen. Stattdessen setzte der verantwortliche Justizminister von Badem-Würthemberg Benda zuerst den Leiter der JVA und den Sicherheitsbeauftragten ab, dann trat er selbst zurück. Sein Nachfolger Palm ordnete „an, „daß alle nicht tragenden Wände der Terroristenzellen in der Stammheimer Haftanstalt abgerissen werden. Ferner erhielt das Baukommando den Auftrag, alle Fußböden aufzureißen und den Putz von den tragenden Wänden zu stemmen“ (Hamburger Abendblatt, 11.11.77 zitiert nach „Arbeiterkampf 117)
Dies geschah, wie dem Datum der Pressemeldung zu entnehmen, bereits im November, nur drei Wochen nach der Todesnacht von Stammheim, lange bevor der parlamentarische Untersuchungsausschuß mit seiner Arbeit begonnen hatte. Und dies bedeutete, so kommentierte der „Arbeiterkampf“ damals, „die endgültige Pulverisierung der Umgebung, in der sich das Wunder von Stammheim ereignet hat. Hier wird man niemals mehr beweisen können, was wirklich in den Wänden usw. war – und wer es dort hinein gesteckt hat.“ Dem ist auch nach 30 Jahren nichts hinzuzufügen.
Statt Tatsachen nachzuspüren, wurde versucht die Selbstmordthese mit psychologischen Spekulationen zu untermauern. Die Gefangenen hätten mit ihrem „kollektiven Selbstmord“ ein „Fanal“, also ein Zeichen setzen wollen hieß es, dann aber auch, sie hätten sich aus Verzweiflung und Frust über die gescheiterte Befeiungsaktion umgebracht. Dass „Frust“ und „Fanal“ sich als Motivation gegenseitig ausschließen, störte die Urheber dieser Spekulationen nicht, ebenso wenig wie die Tatsache, dass eine Verabredung zur kollektiven Selbsttötung einer spontanen Verzweiflungstat widerspricht, zumal, das möchte ich besonders betonen, Martin Schleyer zu dem Zeitpunkt noch lebte, also gar nicht sicher war, ob die Aktion nicht noch eine andere Wendung nehmen könnte. Am Morgen des 18. war der hirnlose Reflex, aus dem heraus die Entführer Martin Schleyers ihr Opfer töteten, nicht voraus zu sehen.
Zusätzlich zu solchen Spekulationen wurden nach der Pulverisierung der Zellen weitere Wege gefunden, wie die Waffen in die Zellen gekommen sein sollten. Die Geschichte ist schnell erzählt: Nach der Ermordung Generalstaatsanwalt Bubacks am 7.4.1977, die gemeinhin als Auftakt des deutschen Herbstes gilt, übernahm am 1. Juli sein Nachfolger Kurt Rebmann die Leitung des Stammheimer Verfahrens. Er fand einen Kronzeugen, Volker Speitel, der bereit war gegen die RAF auszusagen. Von Speitel stammt die Idee, die Waffen seien, versteckt in Hohlräumen von Prozessakten, während des Prozesses den Gefangenen von ihren Anwälten übergeben worden. Speziell die Anwälte Arndt Müller und Achim Newerla wurden verdächtigt.
Mit dieser Geschichte zog Generalstaatsanwalt Rebmann am 12. Januar vor den Untersuchungsausschuß und in die Öffentlichkeit. Vier Tage später platzte die Geschichte, als die im Prozess eingesetzten Polizeibeamten vor dem Ausschuss aussagten, während des Prozesses sei jede Akte sondiert, per Hand von ihnen durchgeblättert worden und im Übrigen seien gerade Newerla und Müller „eigentlich nie“ im Verhandlungssaal, sondern immer nur unter den Zuschauern gewesen, hätten also gar keinen direkten Kontakt zu den Angeklagten gehabt.
Zur selben Zeit platze noch eine Bombe: Der Techniker des Sicherheitskommandos sagte vor dem Ausschuss aus, dass die Sicherheitsanlage des angeblich sichersten Gefängnisses der Welt keineswegs sicher gewesen war, sondern bei langsamen Bewegungen an den Wänden der Gängen entlang unterlaufen werden konnte, das hieß: Ein unbeobachteter Zugang zu den Zellen der Gefangenen über die Nottreppe war in der Todesnacht möglich.
Ungeachtet solcher Widersprüche wurde das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren, das zur Klärung der Todesursachen der Stammheimer Gefangenen eingeleitet worden war, im April mit der Begründung eingestellt, daß „die Gefangenen Baader, Ensslin und Raspe sich selbst getötet haben, die Gefangene Möller sich selbst verletzt hat und eine strafrechtlich relevante Beteiligung Dritter nicht vorliegt.“
Bleibt nur noch dies zu erwähnen: Nach dem Abschluss der Ermittlungen ging es gegen die Kritiker: Am 21.7.78 wurde u.a. gegen mich als damaligem presserechtlich Verantwortlichen des KB Anklage wegen Staatsverleumdung in mehreren Fällen erhoben. Als Ergebnis einer sich entwickelnden Solidaritätskampagne schlug ein französisches „Koordinationskomitees gegen die Repression“ die Bildung einer „Internationalen Untersuchungskomission über die Stammheimer ‚Selbstmorde’“ vor.
Angesichts des absehbaren, sich andeutenden öffentlichen, vor allem internationalen Interesses für den bevorstehenden Prozess schien es der Staatsanwaltschaft offensichtlich ratsamer das Verfahren vor Eröffnung des Prozesses aus formalen Gründen einzustellen.
Seither wird jegliche gerichtliche Neubefassung mit den nach wie vor offenen Fragen abgeschmettert: Als der „stern“ 2002 Beweise dafür vorlegte, dass die Geschichten des Kronzeugen Speitel konstruiert seien, sogar den begründeten Verdacht aussprach, Speitel könne im Dienste des VS gestanden haben, und somit die Frage, wie die Waffen in die Zellen gekommen seien, einer neuen Überprüfung unterzogen werden müsse, bekamen er vom Leiter der kriminalpolizeilichen „Sonderkommission Stammheim“ eine doppelte Antwort: erstens – die Kommission habe seiner Zeit „keine über den Selbstmord hinausgehenden Ermittlungsaufträge bekommen“ und zweitens: „Die Staatsanwaltschaft – die objektivste Behörde der Welt – hat das Verfahren eingestellt. Damit ist der Fall ein für allemal abgeschlossen, und damit basta.“ (Stern, 9.10.2002)
Dem kann man nur, ebenso kategorisch, entgegenstellen, daß die Fragen, was in der Nacht vom 17. auf den 18.10.1977 geschah, bis heute noch nicht geklärt sind und solange das so ist, sind Zweifel an der These des Selbstmordes berechtigt und notwendig .

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Putins Rochade

Überraschend, ohne vorhergehende Kritik an dem amtierenden Ministerpräsidenten Michail Fradkow, trat in der letzten Woche Russlands Regierung zurück. Russlands Präsident Putin ernannte umgehend Viktor Subkow zum neuen Ministerpräsidenten; die Duma stimmte der Ernennung innerhalb von zwei Tagen mit großer Mehrheit zu. Subkow selbst kündigte an, er werde sich hauptsächlich dem Kampf gegen Korruption wie der „Stärkung der sozialen Sphäre“ widmen. Einige Minister des früheren Kabinetts unter ihnen der Wirtschaftsliberale German Gref müssen mit Ablösungen rechnen.

Soweit so klar – und so unspektakulär könnte man sagen; jedenfalls entbehrte dieser Vorgang offenbar des Stoffes für die in letzter Zeit üblichen wilden Kritiken an Wladimir Putin, innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Lediglich die Kommunistische Partei beklagte eine mangelnde demokratische Kultur, die sich darin zeige, dass die Duma dem Wechsel in der Regierungsspitze ohne jegliche politische Debatte zugestimmt habe.
Im Gegenteil, russische wie auch nicht-russische Kommentare sind sich darin einig, dass Wladimir Putin ein optimaler Schachzug gelungen sei, um den im Herbst 2007 und Frühjahr 2008 bevorstehenden Machtübergang ruhig zu gestalten. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mag sogar nicht ausschließen, dass der Westen Putin für sein erfolgreiches Management der Nachfolge nach dem Motto, Stabilität habe Vorrang, am Ende sogar loben werde.

Diese Sicht, die auch dem allgemeinen Tenor der russischen Kommentare entspricht, stützt sich vor allem anderen auf die bisherige Tätigkeit des neuen Regierungschefs als Leiter der Finanzaufsichtsbehörde, deren wesentliche Aufgabe in den letzten Jahren darin bestand, die russischen Finanzflüsse wieder unter Kontrolle des Staates zu bringen, indem Kapitalflucht und Geldwäsche gestoppt und die Zahlung von Steuern erzwungen wurde. Man erinnere sich an Michail Chodorkowski. Subkow, wird vermutet, verfüge aus seiner Tätigkeit über genügend Wissen, um mögliche Störenfriede während und nach den Wahlen ruhig zu halten.
Auch diese Sicht entbehrt nicht einer gewissen Realität, denn aus den zurückliegenden Wahlkämpfen zu Duma- wie zu Präsidentenwahlen, aber auch aus Regionalwahlen ist bekannt, welche Rolle sog. „Kompromate“ für das Ausschalten von Konkurrenten, missliebigen Kandidaten oder auch ganzen Organisationen in Russland bisher gespielt haben. Daran waren sowohl Regierung wie auch die Kandidaten selbst beteiligt. Mit Subkow an der Spitze verfügt die Regierung nun über das Monopol an „Komprimaten.“

Das könnte einer Stabilisierung oben durchaus dienlich sein. Über diese offensichtlichen Tatsachen hinaus weiß jedoch niemand etwas Genaues; und so wird umso freier über den „Putin Plan der Machtübergabe“ spekuliert: Die einen glauben, Putin habe auf diese Weise den bisher als „Kronprinzen“ gehandelten, erst kürzlich beide zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannten, Sergej Iwanow und Sergej Medwedew einen „Dämpfer verpasst“, insofern sie nun durch das Hinzutreten von Subkow als möglicher weiterer Kandidat in die Reihe zurückgedrängt worden seien. Andere sehen vor allem Sergei Iwanow gestärkt. Das werde unter anderem daraus klar, dass Subkow als einen der Programmpunkte, für die er einstehen werde, auch die Stärkung der Rüstungsindustrie genannt habe, mehr noch aber durch die Politik der Stärke, die Putin in letzter Zeit bis hin zur Detonation einer „Vacuumbombe“ kurz vor dem Regierungswechsel demonstriert habe.

Dritte frischen die in letzter Zeit etwas farblos gewordene Spekulation wieder auf, dass Putin eine weitere Amtszeit anstrebe, nur jetzt nicht mehr direkt durch eine Verfassungsänderung vor den Wahlen, sondern durch die Inthronisierung eines Übergangskandidaten. Als ‚Präsident im Rentenalter’ könne der jetzt 66jährige Subkow in angemessener Zeit nach der Wahl abdanken und den Platz für ein Come-back Putins frei machen. Die russische Verfassung, die nur zwei Amtzeiten hintereinander erlaube, werde dann nicht mehr verletzt. Iwanow, Medwjedew und mögliche weitere Kandidaten werden in diese Sicht gleich mit eingeschlossen.

Eine Variante ist so gut möglich wie die anderen; entscheidend ist aber wohl nicht, ob ein Übergang von Putin zu Putin oder doch zu einem anderen Namen geschafft wird, sondern ob es Russland gelingt aus der Phase der putinschen Restauration in eine Entwicklung überzugehen, in der Russlands neu gewonnene Stärke sich in einer den Menschen zugewandten Sozialpolitik fortsetzt. Für diesen Schritt ist eine ruhige, zumindest formaldemokratisch korrekte Ablösung Putins bei den anstehenden Wahlen die unausweichliche Bedingung, unabhängig davon, ob, wo und wie er selbst in der Politik bleibt oder nicht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Gezielter Todesschuß – für wen?

Mit den „klassischen Mitteln der Polizei“, erklärte der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble im Juli diesen Jahres, sei die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht mehr zu meistern. Die Möglichkeit des „gezielten Todesschusses“ müsse daher im Grundgesetz verankert werden. Eine kleine Welle offizieller Empörung antwortete diesem Vorstoß; wogegen richtet sich die Empörung? Gegen die Legitimierung des Todesschussses? Wohl kaum; der gezielte Todesschuß wurde 1973 als „finaler Rettungsschuß“ im Zuge des sog. Musterentwurfes für ein neues Polizeigesetz in die deutsche Rechtsprechung eingeführt. Zwölf der 16 Bundesländer haben die Regelung seitdem in ihren Landespolizeigesetzen verankert. Die Unantastbarkeit des Lebens, die Notrechtsklausel, die Verhältnismäßigkeit der Mittel sind längst durch geltendes Polizeirecht relativiert, ganz zu schweigen von der Praxis.
Erinnern wir uns: Der Musterentwurf war Bestandteil des „Programms Innere Sicherheit“ mit dem die SPD-Bundesregierung 1971 auf die außerparlamentarische Opposition (APO) der Jahre 1966 bis 70 und die daraus folgende Entwicklung einer neuen ebenfalls außerparlamentarischen bundesrepublikanischen Linken antwortete. Entgegen der Märchen, die heute vielfach über diese Zeit erzählt werden, war es aber nicht die „Rote Armee Fraktion“ (RAF), auf welche die Aufrüstung des Staates antwortete, die RAF war vielmehr eine Antwort – wenn auch eine ungeeignete – auf die Verwandlung der kriegsmüden und neudemokratischen west-deutschen Nachkriegsordnung in eine „wehrhafte Demokratie“.
„Startschuß“ der neuen Polizeipraktiken war die Erschießung Benno Ohnesorgs bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin 1967. Dem Polizeischützen Kurras wurde „putativ Notwehr“ bestätigt. Im Zuge der APO-Proteste und der einsetzenden Fahndungen nach der RAF stieg die Zahl polizeilicher „Notwehr“-Situationen drastisch an. 1971 wurden Petra Schelm und Georg von Rauch auf der Straße gestellt und erschossen. Weitere Tote im Zuge der RAF-Fahndungen folgten. Das soll hier nicht weiter aufgelistet werden. Die Verfolgung der RAF war nur die Spitze des Eisbergs; allein 1971 starben außerdem 18 Menschen durch Polizeikugeln, bis 1978 waren es über 80 erschossene Menschen.
Ein markantes Zeichen für die damaligen Vorgänge in der Republik war die Erschießung des Bankräubers Georg Rammelmayr und seiner Geisel Ingrid Reppel im August 1971 in München. Dieser Vorfall glich einer öffentlichen Hinrichtung: Als Rammelmayr, die Waffe auf seine Geisel gerichtet, von der Bank zu einem bereitgestellten Fluchtauto ging, eröffneten Scharfschützen der Polizei das Feuer auf die beiden. Rammelmyr schoß zurück. Bei dem Feuergefecht wurden mehr als 200 Schüsse abgegeben; das Fluchtauto wurde buchstäblich durchsiebt. Hunderte von Schaulustigen waren anwesend; alles wurde direkt im Fernsehen übertragen. Von einem Urteil gegen die Scharfschützen wurde nichts bekannt. Zu den Konsequenzen, die aus dem Überfall gezogen werden müssten zählte der damalige Münchner Polizeipräsident Schreiber eine Intensivierung von Spezialtrupps und eine Überarbeitung der Polizeigesetze, bei denen zu fragen sei, ob sie Masseneinsätzen noch gerecht würden. (FAZ,, 12.8.71) Ingrid Reppel wäre nicht getötet worden“ schrieb die Welt (7.8.71), „wenn die Anordnung an die Scharfschützen gelautet hätte, den Gangster zu erschießen.“
Drei Jahre später wurde ein vergleichbarer Fall in Hamburg, der Überfall einer Commerzbankfiliale durch den Columbianer Emilio Gonzales vom „Mobilen Einsatz Kommando (MEK) durch gezielte Erschießung des Geiselnehmers beendet. Die Tötung geschah auf Weisung. „Viel Lob für Hamburg“ und „Glückliches Hamburg“ lauteten die offiziellen Reaktionen.
Neben den getöteten RAF-Verdächtigen, neben Fällen wie Rammelmayr oder Gonzales werden in den Jahren von 1971 bis 78, in dem Zeitraum, der in einer Materialsammlung des „Kommunistischen Bundes“ (1) zur Vorlage beim „Russel-Tribunal gegen Repression der BRD“ dokumentiert wurde, auch einfache Kriminelle, Verkehrsssünder oder jugendliche „Ruhestörer“ in wachsendem Maße Opfer polizeilicher Schießwut.
Greifen wir zwei heraus:
Am 1.3. 1972 wurde der Lehrling Richard Epple von polizeilichem Maschinengewehrfeuer in seinem PKW getötet. Er war der Besatzung eines Streifenwagens aufgefallen, weil ein Rücklicht seines Wagens nicht brannte. Die Aufforderung zu halten brachte ihn in Panik. Er flüchtete, weil er ohne Führerschein unterwegs war. Er raste durch Tübingen, überfuhr mehrfach rote Ampeln, durchbrach eine Polizeisprerre. Polizeimeister H.J. Geigis schoß das ganze Magazin seiner MP auf das flüchtende Auto leer, wobei er nicht auf Einzelfeuer einstellte; dreizehn Schüsse trafen das Auto und „zersiebten“ den Jungen. Die Strafanzeige der Familie Epple und der Initiative „Schutzbund für Staatsbürgerrechte“ wurde abgewiesen.
Die ganze Reihe ähnlicher Fälle soll hier nicht weiter aufgezählt werden. Als besonders exemplarisch sei nur noch die Erschießung des 14jährigen Peter Lichtenberg am 6.2.1977 erwähnt. Er wurde getötet, nachdem Anwohner die Polizei benachrichtigt hatten, weil Jugendliche in einer Neubauruine nebenan lautstark feierten. Die anrückende Polizei schoß auf den unbewaffneten Jungen. Dieser Vorfall ging unter der Frage, die der sterbende Junge noch gestellt hatte: „Darf man denn auf Kinder schießen?“ breit durch die Presse. Für ein Verfahren gegen den Todesschützen bestand nach Aussage des Oberlandesgerichtes dennoch „kein Anlass“.
Mehr als 142 Fälle unmittelbarer Gewaltanwendung durch die Polizei oder verwandte Staatsorgane mit 154 Toten wurden dem Russell-Tribunal für den Zeitraum 1970 bis 1978 vorgelegt, davon 14 im Zusammenhang mit der RAF, 51 einfache Kriminelle, 13 Verkehrssünder, 18 Tote bei Verfolgungsfahrten, die restlichen Opfer wurden, so die Dokumentation, erschlagen, erwürgt, in Arrestzellen tot aufgefunden, von Polizeiwagen überfahren usw. In einigen Fällen konnte Gewaltanwendung seitens der Polizei oder anderer Staatsorgane nicht nachgewiesen, habe aber auf Grund vergleichbarer Fälle der Zeit als wahrscheinlich angenommen werden müssen.
Strafen gegen die jeweils beteiligten Beamten wurden nicht ausgesprochen. Wo es wegen öffentlicher Proteste geboten schien, wurde, solange der „finale Todesschuß“ noch nicht legitimiert war, wie im Fall Kurras auf „Notwehr, „putativ Notwehr, oder wie im Fall Peter Lichtenbergs auf „bedauerlichen Irrtum“ erkannt. Kritiker der Vorfälle wurden diffamiert wie der Müncher Staranwalt Bossi, der anlässlich der Erschießung des Jugendlichen Wiesneth, ebenfalls Opfer einer Verkehrskontrolle, erklärt hatte, jeder könne der Nächste sein. Bossi wurde aus dem Müncher Polizeipräsidium als „unwürdig“ für den Beruf eines Anwaltes bezeichnet. Weniger prominente Kritiker wurden wegen Beamtenbeleidigung oder gar Staatsverleumdung verfolgt. In der juristischen Debatte um die Legalisierung des Todesschusses kamen zudem Töne auf, die an die Nazizeit erinnerten. So erklärte ein V. Winterfeldt in der „Juristischen Wochenzeitschrift“ 42/3, “daß der Träger unantastbarer Würde nur ein Individuum sein kann, dessen personale Existenz die Grundwerte staatlicher Ordnung achtet.“ Seit Übernahme der Legitimation aus dem Musterentwurf ist von Verfahren überhaupt nichts mehr zu hören.
Wenn Wolfgang Schäuble heute erklärt, mit dem „klassischen Instrumentarium“ der Polizei sei der Terrorismus nicht mehr zu meistern und nach der Legitimation des „gezielten Todesschusses“ ruft, dann kann das angesichts der tatsächlich erreichten Legitimation des Gezielten Todesschusses nur bedeuten, dass er über die „klassische“ polizeiliche, d.h. zivile Legitimation hinaus dessen Legitimation für alle „Sicherheitsorgane“ erreichen will. Das würde bedeuten auch der Bundeswehr die Möglichkeit zu Todesschüssen zu geben, wenn sie, wie Schäuble bekanntlich ebenfalls fordert, in Zukunft auch im Inneren eingesetzt werden soll. Im Unterschied zur Polizei, die trotz allem immer noch die Hürde der zivilen, individuellen Entscheidung nehmen muss, wäre der Todesschuss dann weisungsgebunden, Befehlssache im Interesse einer Freiheit, die bekanntlich heute am Hindukusch verteidigt wird. Es ist eben so, wie auch Kanzlerin Merkel es sagte: „Wir müssen Sicherheit heute ganz neu denken.“

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(1) Antifaschistische Russel-Reihe 4, „Jeder kann der nächste sein“, Dokumentation der polizeilichen Todesschüsse seit 1971 und ihre Legitimation, Antifaschismus Kommission des KB, Reents Vlg, 1978

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Notizen über mich selbst „Gesättigt und versorgt träumten wir von einer konsumfreien Welt“,

in: Alles schien möglich, 60 Sechziger über die 60ziger Jagre und was aus ihnen wurde., Der grüne Zweig 252, Herausgegeben von Werner Pieper.

Wenn ich gebeten werde zu erzählen, wie es damals – in den 60ern – war, komme ich immer in Verlegenheit: Womit beginnen? Es gibt so viele Türen, durch die man gehen kann. Es gibt so viele Arten, wie man erzählen kann. Soll ich mit den Träumen beginnen? Vielleicht besser mit dem Zorn? Oder einfach nur erzählen, wie mein Leben in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und dem dreißigsten Lebensjahr ausgesehen hat? Das alles liegt lange zurück und ist doch gegenwärtig. Was damals Träume waren, das sind auch heute noch Träume, nämlich die nach einer gerechteren und wärmeren Gesellschaft, nach Gemeinschaft, die frei lässt und zugleich beflügelt, nach Schönheit statt Krieg. Aber heute weiß ich, wie teuer unsere Träume erkauft werden müssen und der Zorn hat sich immer noch nicht gelegt. Der Traum ist eine Funktion des Zorns, Traum und Zorn bedingen einander, ohne Traum kein Zorn, aber ohne Zorn bleiben auch die Träume gestaltlos. Wenn ich nun mit dem Zorn beginne, dann muss ich weit ausholen, um meinen damaligen Zustand von dem meines heute sechzehnjährigen Sohnes und dem meiner zwanzigjährigen Tochter zu unterscheiden. Sie sind heute genau so zornig, wie ich es damals war. Vieles ist identisch, obwohl die Welt sich seitdem um fünfzig Jahre gedreht hat. Oft weiß ich nicht, ob wir damals mehr Grund hatten zornig zu sein, als wir es heute haben – wenn ich mich zu dem „wir“ noch dazu zählen darf.
Bei mir war es damals der Zorn über eine Umgebung, die sich nicht einmischen wollte, die sich heraushalten wollte, die sich verstecken und ihre Vergangenheit verleugnen, aber auch keine Verantwortung für die Gegenwart übernehmen wollte. Von meiner Mutter erfuhr ich nichts über die Kriegsjahre und die Zeit der Nazis. Die Vergangenheit war nur ein großes schwarzes Loch. Da war kein Vater, keine Geschichte, kein Staat, mit dem ich mich identifizieren konnte. Als ich, sechzehnjährig, durch England trampte, musste ich Fragen beantworten, auf die mich vorher niemand vorbereitet hatte. Kisia, die junge polnisch-stämmige Engländerin, die ich in Cambridge kennen lernte, während ich unter einem der imposanten Portale Schutz vor dem englischen Regen suchte, erklärte mir ihre Sympathie mit der Feststellung, ich sei, obwohl Deutscher, nicht so „pig-headed“, wie sie es von einem Deutschen erwartet hätte. Später, in der Provence, musste man sich vom „cochon“ emanzipieren.
Wie soll ich sagen? Goethe oder Hitler? Die Deutschen ein Dichtervolk oder Verbrecher? Hatte die Geschichte 1945 neu begonnen oder war nur ein Schleier darüber gezogen worden, unter dem alles weiter ging wie zuvor? Wie oft bin ich in meinem Leben gefragt worden, welchen Vorbildern ich folgte? Ich konnte nie eine Antwort darauf geben. Schon gar nicht damals. Es gab keine Vorbilder, keine Idole und auch keine Ideale. Was es gab, waren die quälenden Pole: Hitler und Goethe, Kulturvolk und Nazis, abgemildert allein durch die Mittelmäßigkeit, mit denen beide in der Schule behandelt wurden.
Der Spießer Höss, KZ-Kommandant von Auschwitz, tagsüber lässt er Juden vergasen, nach Feierabend; um fünf Uhr nachmittags; erwartet ihn seine Frau im trauten Heim, das auf dem Gelände des KZs errichtet ist, zur Hausmusik und zu Lesungen deutscher Dichter. War das meine Kultur?
Es gab nur mich – und keine Antworten.
Ich lebte damals in einer Kleinstadt von 10.000 Einwohnern bei Osnabrück. Melle. Schöne Gegend. Satte Menschen. Neugebautes Gymnasium, an dem es ordentlich zuging. Mein Protest äußerte sich in der Weigerung, mir die Haare auf Kragenlänge schneiden zu lassen; zum Outfit gehörte ein Snowcoat aus dem US-American-Stock, direkt aus Vietnam importiert. Ich ging barfuss in die Schule, soweit die Witterung es erlaubte. Was es außer den mittelmäßigen Mitteilungen über Goethe und Hitler noch Interessantes zu hören, zu lesen und zu tun gab, musste ich mir selbst organisieren: Schulsprecher, Schulzeitung, private AGs zu literarischen, philosophischen und politischen Fragen. Gute Bürger riefen mir, in dem Versuch mich zu beschimpfen, „Jesus, Jesus“ nach, was lästig war, weil ich mit Jesus rein gar nichts am Hut hatte. Mich interessierte asiatisches Denken. Stundenlang lief ich allein durch Felder, Wiesen und Wälder, um den Gespenstern des Vietnam-Krieges zu entkommen. Es gelang mir nicht. Die Berichte über Folter holten mich mitten im Wald ein. Ich erinnere mich besonders an einen Bericht, in dem geschildert wurde, wie GIs ihre Gefangenen mit Stecknadeln quälten, die sie ihnen unter die Fingernägel trieben. Ich konnte diese Bilder nicht loswerden. Je länger der Krieg dauerte, um so stärker besetzten sie meine Vorstellungen.
Man musste etwas tun. Aber was? Aktionen der Selbstorganisation als Schulsprecher, wie gesagt, überregionale Schülertreffen, Texte und Gedichte in der selbst herausgegebenen Schulzeitung, in der letzten Schulklasse ein heftig geschriebener, nie veröffentlichter Roman über „Holzen und die Männer daneben“; das war meine Auseinandersetzung mit dem deutschen Spießer, der geschehen ließ, was geschah. Schließlich die Abrechnung mit all dem in der Abschlussrede zum Abitur – und dann nichts wie weg aus dem provinziellen Muff. Endlich Freiheit! Endlich Welt! Endlich Leben! Frankreich, Italien. Dann das Erwachen an der Uni: Ende der Freiheit. Ende der Welt. Ende des Lebens. Der Muff von tausend Jahren unter den Talaren! Unerträgliche Frontal-Vorlesungen statt geistiger Auseinandersetzung. Selbst in der Publizistik und in den politischen Wissenschaften, auf die ich auszuweichen versuchte, nur trockene Dogmatik. Als Ausweg bot sich die Literatur. In kleinen Kreisen lasen junge Dichter sich ihre Werke vor. Ich hielt auch das nicht lange durch; auch diese Treffen erschienen mir schal: Literatur um der Literatur willen, kein Inhalt, keine Identität, keine Antworten auf die Frage wohin. Mir erschien das nicht besser als der Konsum um des Konsums willen, den unsere Eltern uns vorlebten. Gut, man verstand es: Die Eltern waren die Generation des Wiederaufbaus, sie mussten die Wunden des Krieges ausheilen. Die Narben waren hässlich, sie zeigten sie nicht gern. Aber so weitermachen? Selber so werden? Nein. Es war unvermeidlich aus diesem Butterpanzer auszubrechen. Wir wollten die Narben sehen und die noch offenen Wunden verbinden – jedoch, und dieses ist wichtig und ich wiederhole es bei jeder sich bietenden Gelegenheit, es war auch möglich. Die Zukunft war offen. Aufbruch war angesagt. Gemeinsam war man stark. Von Arbeitsplatzmangel, von „no future“, von saurem Regen, Ozonloch, schwarzem, weil verrußtem Schnee, Aids, Vogelgrippe usw. keine Rede. Die Warnungen des „Club of Rome“, die heute allgegenwärtige ökologische Bedrängnis war noch nicht ins Bewusstsein der Gesellschaft eingedrungen. Mehr noch: Die Naturbegeisterung meiner Mutter: Wandern, Reformhaus, FKK, sofern ich sie unter den chaotischen Zuständen unseres zerrissenen Familienlebens direkt erleben konnte, war mir suspekt; sie ließ Vorstellungen an Pionier-Romantik der Nazis in mir hochsteigen. Zu Unrecht, wie ich heute weiß, denn meine Mutter war nie von diesen Organisationen erfasst, aber zu dicht lagen die Nazi-Nebel noch auf allem, was mit Blut und mit Boden auch nur entfernt zu tun haben konnte. Selbst der „Monte Veritas“, das Wahrzeichen der Lebensreformbewegung der zwanziger Jahre und der Wandervogelbewegung, schimmerte nur als braune Silhouette durch diesen Dunst. Erst sehr viel später traten seine ursprünglichen Konturen für mich aus den düsteren Nebeln hervor.
Unter all diesen Umständen entschied ich mich, mein Studium abzubrechen und in die polit-journalistische Praxis zu gehen. Das war kein Abbruch für mich, es war die konsequente Verwirklichung einer Perspektive: Ich wollte die Welt neu erleben und durch das Leben neu gestalten. Es war eine Orientierung auf die Praxis, auf das Jetzt und Hier. Viele junge Leute trafen damals solche Entscheidungen; manche sind später reumütig in den Universitätsbetrieb und in die Institutionen zurückgekehrt. Sei´s drum. Das ändert nichts an dem Bewusstsein, eine offene Zukunft vor sich zu haben, mit dem die Generation damals aufbrach, um die Gesellschaft umzustülpen. Zwei Slogans erfassten die ganze Bewegung: „Kampf dem Konsumterror“ war der eine, „Vogliamo tuto i subito!“, wir wollen alles und zwar jetzt, der andere. Hintergrund war der Aufbruch Deutschlands aus seiner Nachkriegsgeschichte, der heute selbst Konservative, die uns damals als Gammler, Chaoten usw. beschimpften, dazu veranlasst, sich als Achtundsechziger zu bezeichnen.
Es gibt so viel zu erzählen für den, der sich erinnert. Vielleicht sollte ich ein bisschen strukturieren? Da ist der Wechsel von meinem ersten Studienplatz in Göttingen nach Berlin. Eine individuelle Entscheidung meiner Biografie, versteht sich, aber wohl doch symptomatisch für die Zeit. Ich wollte, wie schon angedeutet, der literarischen Gemütlichkeit des akademischen Ghettos entkommen, obwohl mir das Gartenhäuschen, in dem ich damals für 30 DM monatlich oberhalb der Stadt am Hang wohnen konnte, viele gute, intensive Stunden, viel Zeit für Liebe und Inspirationen, für Geschichten, Gedichte und den Entwurf eines weiteren, später von mir vernichteten Romanes gönnte. Doch der Druck des Muffs und der Zug nach Veränderung war stärker! Berlin war die Herausforderung. Berlin kochte. Frontstadt zwischen Ost und West. Anlaufstelle für Unangepasste, für Studenten, die dem Wehrdienst entkommen wollten, für innovative Intelligenz und eine unüberschaubare „Szene“ bekannter und unbekannter, erfolgreicher wie gescheiterter Künstler, die sich unter den Sonderbedingungen der Stadt ansammeln konnte. Kreuzberg – ein Synonym für einen sozialen Hochofen ohnegleichen. Ich stürzte mich mitten hinein – mehr in Kreuzberg als an der Universität. In Kreuzberger Trümmerwohnungen bildeten wir erste Kommunen. Möbel lieferte die Stadt aus ihren Altbeständen. Wer sich die Mühe machte zu Sperrmülltagen an den richtigen Orten zu sein, konnte ganze Etagen mit ausgesuchtestem Mobiliar ausstatten, wahlweise antik oder auch modern. Ein besonderes Problem der Stadt war zu der Zeit die hohe Zahl der Rentner und Rentnerinnen, die starben, ohne Verwandte zu hinterlassen. Wir kauften uns einen klapprigen alten VW-Kleinbus und boten uns zum Ausräumen verlassener Wohnungen an. Davon konnten wir zeitweilig existieren, Dann kamen sehr schnell die professionellen Händler.
In Kreuzberg lebten wir direkt an der Mauer, Schlesisches Tor, fünfter Hinterhof. Romantisch? Ja, aber sehr rau – immer jedoch getragen durch die gemeinsame Bewegung, die als Athmosphäre des Aufbruchs, des Savoir-Vivre, des Bohème etc. eine Kraft ausströmte, in der zu leben gut war. Einfache Lust am Dasein. Nachts jobbte ich in Kreuzberger Künstlerkneipen – tagsüber versuchte ich es doch noch einmal mit dem Studium. Aber ehrlich gesagt: Das Leben – und auch das Schreiben – war interessanter.
Noch interessanter wurde die Politik. Da war der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der an der Ecke Kurfüstendamm / Joachimstalerstr. ein leer stehendes Eckhaus zum Zentrum umfunktioniert hatte. Hier wurden in dichtem Qualm der Pfeifen und Zigaretten die Theorien der anti-autoritären Studentenrevolte geboren. Rudi Dutschke war die führende Gestalt. Für mich war die Happening-Kultur der Kommune I interessanter, deren Anti-Spießer-Aktionen auch vor der politischen Kultur des SDS nicht haltmachten. Nicht weniger interessant war die Kommune 2, die sich selbst zum Objekt pädagogischer Experimente machte. Gruppen wie diese bildeten den Körper, schafften die emotionalen Impulse, zu dem der SDS die Theorien lieferte. Eine unabgesprochene, spontane Arbeitsteilung war das, welche die Akteure mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zusammenführte.
Es war eine offene Szene, in der sich Spitzel wie Peter Urbach unerkannt tummeln konnten. Peter war Mädchen für alles, hatte immer alles zur Hand, was gebraucht wurde, war bei jeder kitzligen Aktion mit dabei. Ganz anders, aber ebenso rührig, der später bekannt gewordene Andreas Baader, der sich abenteuernd durch diese Szene bewegte. Ich selbst hielt es für richtig, mit einem Freund zusammen die große Vietnam-Demo, zu der 30.000 Menschen in Berlin zusammenkamen, von einem Hotelfenster aus mit einem Lautsprecher-Happening in Bewegung zu versetzen, indem wir schrilles Sirenengeheul auf den unten vorbeiziehenden Zug der Demonstranten niedergehen ließen.
Aber schließlich erwischte mich die Klaustrophobie – persönlich wie auch politisch. Meine persönlichen Verhältnisse wurden eng. Kein Geld. Beziehungsknatsch. Die KI wechselte vom provozierenden Polit-Happening zur Strategie der Subkultur, als sie eine alte Fabrikhalle mietete, in deren Etage sie vor allem anderen ein gewaltiges gemeinsames Matratzenlager einrichtete. War die „Zweierbeziehung“ schon vorher prinzipiell in Frage gestellt, so wurde sie nun praktisch behindert. Rainer Kunzelmanns Babyphon wachte über verdächtige Aktivitäten. Real liefen die Dinge anders als in der Ideologie: Rainer Langhans verliebte sich in das Fotomodell Uschi Obermeier aus München. Uschi zog in die Kommune. Es kam zu heftigen Spannungen um Kunzelmanns Kontrollen. Für mich deutete sich hier der Irrweg eines Gemeinschaftsterrors an, den ich nicht mitgehen wollte. Rainer Langhans erklärte mir daraufhin, ich hätte eben nicht das rechte Verständnis für das mythische Erlebnis der Kollektivität.
Hatte ich in der Tat nicht. Mir wurde klar: Für mich war mein ganzes Leben geprägt von der Suche nach neuen Gemeinschaftsformen. Ich suchte nach neuen Wegen ihrer Verwirklichung, aber der Weg, den die KI mit ihrem Subkulturzentrum eingeschlagen hatte, war dabei sich in den einer Zwangsgemeinschaft verkehren, in der ihre Mitglieder sich gegenseitig mit ihren uneingelösten Ansprüchen terrorisieren mussten. Ähnliche Symptome zeigten sich an der KII, in der die überzogenen Ansprüche an die Ent-Konditionierung der vorgegebenen sexuellen Sozialisationen, sprich der Gewohnheiten, Liebe in Zweierbeziehungen, Ehe und Familie zu erleben, ebenfalls zu unerträglichen psychischen Spannungen führte Die bekamen auch dadurch keinen Modellcharakter, dass sie als höchst interessanter Erfahrungsbericht, der tiefe Einblicke in die herrschenden Strukturen unserer Gesellschaft vermittelt, in Form eines Buches herausgesetzt wurden. Auch das politische Klima in der Stadt wurde eng: Bei Demonstrationen, auf denen die Interessen der Arbeiterschaft auf den Plakaten mitgeführt wurden, schütteten uns die Frauen der Kollegen kübelweise Wasser aus den oberen Stockwerken auf die Kopfe. Auf die Dauer zeichnete sich eine Überhitzung des Klimas bei gleichzeitigem Leerlauf der Aktionen ab, die in eine Sackgasse zu führen drohte – und wie wir heute wissen, mit dem Mordversuch an Rudi Dutschke sowie der Bildung der RAF auch geführt hat. So nicht, war mein vorläufiges Fazit. Ich verließ daher Berlin, um mit Freunden in Hamburg eine Künstler-Polit-Kommune zu gründen, die freier angegangen werden sollte. Freundschaft als Basis. Wir nannten uns „Ablassgesellschaft“. Darin lag der sinnige Bezug auf Tetzel, der seinerzeit mit dem Spruch „Wenn die Münze im Beutel klingt, die Seele in den Himmel springt“ als Retter der Kirche durch die Lande zog. Auch wir verstanden uns als „Retter“, wenn auch nicht der Kirche, so doch der durch Konsum, stickige Sexualmoral und Krieg gefährdeten Gesellschaft. Unser Programm war die Umstülpung aller Werte durch radikale Selbstexperimente, provozierende Einzel- und Gruppen-Happenings sowie Eingriffe in die gesellschafts-politische Debatte. Die Droge, Haschisch, LSD samt der dazu gehörigen Botschaft des Amerikaners Timothy Leary, der durch LSD zu einem neuen Bewusstsein und einer neuen Gesellschaft kommen wollte, gehörten dazu, waren Bestandteil unseres Alltags. Gemeinsames Eigentum und freie Liebe waren Gebot und selbstverständlich auch das, was die Öffentlichkeit von uns wahrnahm. Geile „shootings“ gestellter Orgien besserten unsere Kasse auf; tatsächlich hat so etwas nie stattgefunden.
Die Realität lief auch hier wieder anders: Die sehr intensiven Selbsterfahrungen, die aus den individuellen und gemeinschaftlich inszenierten Tabubrüchen anfänglich resultierten, verkehrten sich nach einiger Zeit in nicht erfüllbare gegenseitige Ansprüche: Der Anspruch auf freie Liebe wurde zum Druck, besonders für die Frauen; der Anspruch auf gemeinsames Eigentum verwandelte sich unter dem Motto des Kampfes gegen den Konsumterror auf äußerst paradoxe Weise in eine Diffamierung derer, die es für nötig hielten Geld zu verdienen. Der Anspruch auf Bewusstseinserweiterung durch „Stoff“ wurde für viele zur Dröhnung. Die Teilnahme am politischen Diskurs reduzierte sich auf eine Selbstdarstellung der Gruppe und ihre personelle Ausdehnung. Dies allerdings immerhin! Die „Ablassgesellschaft“ wurde Zentrum kulturpolitischer Provokationen in Hamburg, verband sich mit vergleichbaren Gruppen in anderen Städten, u. a. der KI in Berlin, der „Haifischkommune“ in München. In Hamburg selbst kam es zu Zellteilungen, die sich als Teil einer beginnenden „Kommunebewegung“ begriffen. Letztlich wiederholte sich aber der Vorgang, an dem schon KI und KII gescheitert waren: Überhöhte Ansprüche an „vogliamo tuto i subito“ verkehrten die anfängliche Befreiung in zwanghafte Beziehungen, die tendenziell terroristische Züge anzunehmen begannen.
Der Ausweg führte in eine Spaltung der Bewegung: Allen gemeinsam war die Einsicht, dass tatsächliche Veränderungen nicht stellvertretend, sondern nur durch eine Veränderung der gesamten Gesellschaft, insbesondere auch ihrer arbeitende Schichten erreicht werden könnten. Einige zogen daraus die Konsequenz, den sog. „langen Marsches durch die Institutíonen“ anzutreten, andere, so ich, fanden sich unversehens in der „neuen Kommunistischen Bewegung“. Das will ich hier nicht weiter ausführen; darüber wäre ein andermal zu reden.
Eine dritte Strömung, repräsentiert durch die jetzt entstehende Drogenselbsthilfe „Release“, ging den Weg des verstärkten subkulturellen Engagements. Alle drei Strömungen bildeten extrem voneinander getrennte Szenen, die lange Jahre unverbunden nebeneinander existierten. Heute sind sie vermischt.
Es gibt noch viele, sehr interessante Details zu erzählen. Ich möchte nun aber, nachdem ich so lange über den Zorn gesprochen habe, noch einmal auf die Träume zurückkommen: Wo stehen wir heute? Wir träumten damals, gesättigt und versorgt, von einer konsumfreien Welt. Der freie Flug einer kollektiven Meditation mit Hilfe von Hasch, LSD, Reisen nach Indien, Tibet und Nepal schien möglich. Heute wissen wir, dass die Landung für viele sehr hart war: die „neue kommunistische Begegnung“ musste sich an der Krise des Sowjet-Sozialismus messen und reduzieren lassen; der lange Marsch durch die Institutionen endet vorläufig in der Zustimmung der Grünen zu Militäreinsätzen in Afghanistan und anderswo, ja nicht nur in der Zustimmung, sondern in Forderungen danach, weil Freiheit und Demokratie dort verteidigt werden müsse. Die Haschisch- und LSD-Euphorie endete für viele in der Selbsthilfe von „Release“, aber als „Release“ sich anschickte, Drogen zu legalisieren, um sie handhabbar zu machen, wurde die Organisation zerschlagen. Heute ist wieder jeder und jede individuell mit der Welt konfrontiert, mehr noch, die zunehmende Lohnarbeitslosigkeit wirft immer mehr Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen. Diese Entwicklung lässt alte Träume mit frischer Kraft aufs Neue entstehen. Geschichte entwickelt sich wie alles, so scheint es, in Wellen. Wir befinden uns im Tal der Entsolidarisierung; vor uns bildet sich allmählich eine nächste Welle, die individuelle Freiheit und Gemeinschaft auf neue Weise verbinden könnte. Dies jedenfalls ist der Traum, für dessen Verwirklichung wir uns heute einsetzen können.

Kai Ehlers

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Kai Ehlers

Raketenstreit: Wille zur Hoffnung

Am 30. und 31. Juli sollen in Washington neue Zeichen im Raketenstreit gesetzt werden. Amerikaner und Russen wollen verhandeln. Moskau rechnet mit einem »positiven Ergebnis«. Was immer das sein könnte – schön wär´s. Man möchte es glauben; allen voran offenbar die russische Delegation. Zwar hat Präsident Putin, nachdem der US-Senat die Stationierung in Osteuropa jüngst zum staatspolitischen Ziel erhoben hat, mit einem Erlass reagiert, der die Aussetzung des KSE-Vertrages vorsieht, falls die USA nicht einlenken sollten. Aber der stellvertretende russische Außenminister Kisljak, der nun auch Verhandlungsleiter in Washington sein wird, teilte der Öffentlichkeit zugleich mit, man schlage die »Tür zum Dialog« nicht zu.

Nun ist es also so weit? Skepsis ist angebracht. Handelt es sich doch nicht nur um die Beseitigung eines Ausrutschers einer ungehobelten US-Diplomatie nach dem aus Zeiten des Kalten Krieges bekannten Motto »Erst entscheiden, dann verhandeln«, und auch nicht nur um die Mäßigung polnischer Eskalateure, die ihr eigenes Süppchen auf der US-Flamme kochen wollen. Nein, der aktuelle Raketen-Vorstoß der USA nach Osteuropa ist nur die Speerspitze einer lange geschmiedeten Waffe zur Herstellung konkurrenzloser US-amerikanischer Überlegenheit auf dem Gebiet konventioneller und nuklearer Rüstung.

Von Trumans »Eindämmungspolitik« nach dem Zweiten Weltkrieg über die Kuba-Krise in den 60ern, Reagans »Reich des Bösen« und Clintons Entwurf einer »nationalen Raketenabwehr« von 1999 bis zu dem von George W. Bush nach dem 11. September 2001 eröffneten »Krieg gegen den Terror« zieht sich die Strategie der Einkreisung Russlands als roter Faden durch die US-Politik.
Strategen wie Zbigniew Brzezinski oder Henry Kissinger haben als Ziel die Aufgabe benannt, den Zugriff auf Eurasiens Ressourcen-Reichtum und die globale US-Hegemonie durch Niederhaltung möglicher Konkurrenten – allen voran Russlands – langfristig zu sichern. Die Kündigung des ABM-Vertrages durch George W. Bush ist Ausdruck dieser Entwicklung. Durch sie wurde die Politik des strategischen Gleichgewichts zwischen Russland und den USA provokativ beendet. Aber Bush ist nur Vollstrecker. Sein Nachfolger oder seine Nachfolgerin könnte geschmeidiger sein; eine prinzipielle Wende der US-Politik ist jedoch nicht zu erwarten.

Die geplanten Raketenabwehr-Stationen der USA in Osteuropa sind mit der Aufforderung an die EU verbunden, sich dieser Strategie zu unterwerfen. Die bislang verweigerte Ratifizierung des KSE-Vertrags durch USA und EU und der Bruch der NATO-Zusagen, sich nicht nach Osteuropa auszudehnen, ergänzen dieses Bild. Die Raketenpläne der USA in Osteuropa sind nur ein letzter Schritt in einer langen Reihe gebrochener Versprechen der NATO. Hatte diese doch ebenso zugesichert, Osteuropa von ihrem Nuklearpotential frei zu halten. Die Raketen, die nun dort stationiert werden sollen, sind aber Bestandteil der nuklearen Erstschlagsstrategie der USA. Sie machen Europa zu ihrem Vorhof und bedrohen Russland. Die US-Pläne müssten nicht verhandelt, sondern strikt zurückgewiesen werden – von Russland und der EU gemeinsam. Russland ist gewillt, auf solche Einsicht zu hoffen.

Kai Ehlers

Unbewältigte Geschichte – aufgerüstete Normalität. Mord an Jürgen Ponto, Stammheim, „Deutscher Herbst“

Dreißig Jahre ist es her, doch eher verdrängt als bewältigt: Am 30. Juli 1977 wird Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in seiner Wohnung von einem RAF-Kommando erschossen. Beteiligt sind Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und als Fahrer des Fluchtwagens Peter-Jürgen Book. Am Tag darauf bekennt sich eine „Befreiungsbewegung Aktion Roter Morgen“ zu der Tat. Sie nennt Ponto einen dieser „Typen, die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten.“

Der Kritik an diesem Mord begegnet die RAF mit der Erklärung, man habe Ponto entführen wollen, um die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern zu erzwingen und Geldmittel zu besorgen. Als Ponto sich gewehrt habe, sei er im Handgemenge getroffen worden. Später erklärte Susanne Albrecht, Ponto sei ohne Widerstand zu leisten erschossen worden. Diese Variation übernahm auch das Gericht, das Susanne Albrecht zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Welche Erzählung über den Tathergang am Ende stimmt, muss offen bleiben. Die Öffentlichkeit, auch die Linke, reagierte mit Entsetzen, insbesondere angesichts der Kaltschnäuzigkeit, mit der Susanne Albrecht als damalige Freundin des Hauses Ponto die Türöffnerin für das Überfallkommando abgab.

Jürgen Ponto war das zweite Opfer der „Offensive 77“ der RAF. Am Anfang stand Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der am 7. April 1977 beim Halt an einer Ampel in Karlsruhe von einem Motorrad aus erschossen wurde. Drei weitere Insassen des PKW starben mit ihm. In dem darauf folgenden Bekennerschreiben wurde Buback für die in der Haft umgekommenen RAF-Mitlieder Holger Meins, Ulrike Meinhof sowie den bei der Erstürmung der Stockholmer Botschaft getöteten Siegfried Hausner verantwortlich gemacht. Anwälte inhaftierter RAF-Mitglieder erklärten öffentlich, dass sie in „tiefster Empörung und Abscheu den sinnlosen den brutalen Mord verurteilen.“

Einige Wochen nach der Ermordung Pontos bereitet ein RAF-Kommando einen Angriff auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vor, indem sie eine selbst gebastelte Raketenwerfer-Anlage in einem Privathaus gegenüber dem Gebäude der Anwaltschaft installiert. Der Anschlag schlägt fehl, weil die Zündung versagt; ein Erfolg hätte katastrophale Folgen gehabt.

Mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer am 5.9.1977 beginnt das, was als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte der BRD eingehen wird. Schleyers Konvoi wird in Köln auf offener Straße gestoppt, seine Begleitmannschaft erschossen, er selber entführt. Ein „Kommando Siegfried Hausner“ fordert ultimativ die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollen, sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen.
Im Gegenzug bildet die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt einen überparteilichen „Großen Krisenstab“. Dieser verhängt eine absolute Nachrichtensperre, eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF und leitet eine bundesweite Fahndungsaktion ein. Auf die Forderungen der Entführer allerdings wird nur zum Schein eingegangen. Fünf Wochen nach Schleyers Entführung, am 13. Oktober 1977, wird eine Maschine der Lufthansa, die Landshut, mit 91 Menschen an Bord von einem palästinensischen „Kommando Matyr Halimeh“ gekapert. Auf dem Irrflug der Landshut zu einem möglichen Landeplatz wird der Flugkapitän Jürgen Schumann erschossen. Nach fünf Tagen landet die Maschine in Somalia. Hier wird sie von einem GSG-9 Sonderkommando in der Nacht vom 17. auf den 18.9. gestürmt, drei der Entführer werden erschossen, die Geiseln befreit.

Am Morgen danach, also am 18.9., werden Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt, Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend und Irmgard Möller durch Messerstiche verletzt im Stammheimer Gefängnis aufgefunden. Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen folgt umgehend: Selbstmord. Einen Tag später geht bei der französischen Tageszeitung Liberation ein Schreiben ein, in dem die RAF mitteilt, dass man „nach 43 Tagen Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“ habe. Die Polizei findet den Leichnam Schleyers im Kofferraum eines PKW im Elsaß; der Entführte ist durch Genickschuss getötet worden.

In diesen Tagen erreichte die schon lange medial geschürte Lynchstimmung gegenüber den inhaftierten RAF-Mitgliedern ihren Höhepunkt. Die durch den neuen Straftatbestand der Unterstützung der terroristischen Vereinigung eingeschüchterte linke und linksliberale Szene beeilt sich Distanzierungsgesten von der RAF abzugeben. Schon im März hatte der Staatsschutz nach § 88a StGB zum Beispiel gegen die Mitglieder des Verbandes des linken Buchhandels wegen „verfassungsfeindlicher Befürwortung von Straftaten“ ermittelt. Nach dem so genannten Mescalero-Nachruf auf Siegfried Buback in der Göttinger Studentenzeitung fand im Mai in Göttingen eine Großrazzia in allen verdächtigen Einrichtungen und Wohnungen statt. Und zum Auftakt der Aktion „Wasserschlag“ wurden am 17./18. Oktober in Berlin 38 Büros, Buchhandlungen und Wohnungen durchsucht.

In dieser Situation wagten nur noch wenige Medien Zweifel an der Selbstmordthese der Behörden vorzubringen. Der Arbeiterkampf des in Norddeutschland aktiven Kommunistischen Bundes beispielsweise kritisierte zwar die Handlungsweise der RAF, insbesondere die Geiselnahme Unbeteiligter in der Landshut, als „verbrecherisch“, forderte aber zugleich die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Umstände, die zum Tod beziehungsweise zur Verletzung der Stammheimer Gefangenen geführt hatten. Mit dem Verdacht, die Gefangenen könnten ermordet worden sein, stand die marginalisierte Linke nicht allein, führende europäische Tageszeitungen teilten die Forderung, die Vorkommnisse ist Stammheim zu untersuchen.

Eine solche Kommission wurde nie eingesetzt, vielmehr ist eine Aufklärung der Ereignisse durch den sofortigen Umbau des Stammheimer Hochsicherheitstrakts bewusst verhindert worden. Bis heute muss daher offen bleiben, ob die Gefangenen sich zum Freitod miteinander verabredet haben, wie die Bundesanwaltschaft es erscheinen ließ, oder ob sie von interessierter Seite umgebracht wurden. Irmgard Möller bestreitet bis heute eine solche Verabredung, andere RAF-Mitglieder, unter anderem Susanne Albrecht, behaupten, es habe den Plan gegeben, mit dem eigenen Tod ein letztes Fanal gegen den Staat zu setzen, falls die Landshut-Aktion scheitern sollte.
Der „Deutsche Herbst“ veränderte die Gesellschaft der BRD auf eine Weise, die 25 Jahre später der um Objektivität bemühte Diplomand Christoph Bahn in seiner Abschlussarbeit als „Aufrüstung der Normalität“, die zur „chronischen Bedrohung der Freiheit werden“ kann, zusammengefasst hat. Diese Aufrüstung beinhaltete ein Bündel juristischer und administrativer Maßnahmen, die den Boden vorbereiteten nicht nur für die heutige internationale Terrorabwehr, sondern auch für die mögliche Bespitzelung der eigenen Bevölkerung.

Zunächst wurde mit der Einsetzung des Krisenstabs faktisch die verfassungsmäßige Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt. Der schon erwähnte § 88a StGB, damals als „Maulkorbparagraph“ angeprangert, war auf Kriminalisierung der Linken angelegt. Er untergrub die politische Diskussionskultur und bereitete die Bevölkerung auf den „großen Lauschangriff“ späterer Jahre vor. Mit §129a StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) wurde die Strafverfolgung vor die eigentliche Tat verlagert; zahlreiche Strafrechtsänderungen höhlten die Meinungsfreiheit und die Rechte der Verteidigung und der Inhaftierten aus. Die RAF-Attentate lieferten dem Staat den Vorwand, Polizei und Geheimdienste aufzurüsten und in neue, durch das Grundgesetz nicht gedeckte Kommandostrukturen zu überführen. Die bei der Entführung der Landshut eingesetzte GSG 9 etwa entbehrte jeglicher verfassungsmäßigen Grundlage. Mogadischu war das Aufmarschfeld, auf dem der „finale Todesschuss“ legitimiert und exekutiert wurde.

Unter dem Stichwort des Kampfes gegen die „organisierte Kriminalität“ wurden diese Strukturen und Maßnahmen in den auf den „Deutschen Herbst“ folgenden Jahren weiter ausgebaut. Seit dem 9.11. 2001 ist der „permanente Ausnahmezustand“ zum Alltag eines Staates geworden, der sich inzwischen als präventiver Sicherheitsstaat begreift, und längst ist der „Deutsche Herbst“ dabei in einen europäischen überzugehen, wie etwa die Zusammenarbeit europäischer Sonderpolizei-Einheiten in der sog. „Atlas-Gruppe“ seit 2002 sowie die Bildung einen EU-Grenzschutzeinheit „Frontex“ nach dem Muster der deutschen GSG 9 zeigt; von den kürzlich laut gewordenen ministeriellen Fantasien, potenzielle Terroristen vorsorglich zu töten, einmal ganz abgesehen.

Kai Ehlers

Raketenstreit: Was will Putin?

Der G8-Gipfel vom Anfang Juni brachte neben einigen unverbindlichen Harmoniebezeugungen in Sachen Klimaschutz, Afrikahilfe und anderem eine für alle Seiten verblüffende Wendung: Störenfried Wladimir Putin, auf dessen Abwehr der US-amerikanischen Raketenpläne sich die politische Berichterstattung im Vorweg des Gipfels bereits eingeschossen hatte, überraschte George W. Bush während des Gipfels mit dem Vorschlag, Russland und die USA könnten alternativ zu Standorten in Polen und Tschechien einen gemeinsamen Stützpunkt in Aserbeidschan aufbauen. Ein gemeinsamer Raketenstützpunkt in Aserbeidschan sei effektiver, so Putin, weil näher am Ort möglicher Raketen-Startplätze, er sei flexibler, weil nicht sofort in eine unbekannte Entwicklung hinein investiert werden müsse, sondern der schon vorhandene Standort aufgerüstet werden könne, wenn es sich als notwendig erweise und schließlich könne von dort aus das gesamte Europa und nicht nur, wie von Polen oder Tschechien aus, ein Teil Europas gesichert werden.
George W. Bush war, trotz diverser Vorgespräche so überrascht, dass es bei ihm – auch noch nach Tagen – nur zum Kommentar: „interessanter Vorschlag“ reichte; die Europäer zeigen sich entspannt durch Putins „Rückkehr zur Verständigung“, von der Sache her gibt man sich skeptisch, ob die in Aussicht genommene aserbeidschanische Basis „nicht zu nah an den Schurkenstaaten“ liege, wie Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer kommentierte. In den deutschen Medien herrscht der Tenor vor, Putins Vorschlag sei eine Finte, mit der er vom schlechten Image Russlands ablenken wolle.
Aber nein, Putins Vorschlag ist keine Finte, sowenig wie sein Auftritt vor der NATO-Konferenz vor ein paar Monaten eine Aggression war: Vor dem Hintergrund der Grundorientierung Putins, Russland stabilisieren und die Selbstachtung des Landes als Subjekt des Weltgeschehens, konkret als Faktor der Integration Eurasiens wieder herstellen zu wollen und zum Impulsgeber einer multipolaren neuen Weltordnung zu machen, ist der Vorschlag als ernst gemeinter Zug zu begreifen, der darauf zielt:
– die konkrete Bedrohung Russlands minimieren,
– die Spaltung des Bündnisses zwischen EU und Russland durch einen zwischen ihnen entstehenden US-Einflussgürtel zu verhindern,
– die Ernsthaftigkeit der US-Begründung überprüfbar zu machen, nach der die Raketen dem Schutz Europas dienen sollen
– und schließlich einen innenpolitischen Wegweiser für eine über Putins Amtszeit hinausweisende strategische Orientierung aufzustellen, die lautet: Internationale Kooperation auf Augenhöhe, statt Unterordnung unter eine globale US-Hegemonie.
Zur Frage der tatsächlichen Bedrohung erschien Anfang Mai ein Artikel in der russischen Zeitschrift „Iswestija“, früher Flaggschiff der Parteipresse, soeben von Gazprom übernommen, in dem unter der Überschrift: „Raketenschutzschild: maskiert als Schutz, aufgebaut für den Überfall“, die Lage aus Sicht des russischen Militärs geschildert wird. Danach haben die USA bereits jetzt eine Situation geschaffen, dass sie über seegestützte „Tomahawk“-Abfangraketen „praktisch jeden Ort Russlands vom Atlantik, vom Nordmeer und vom Pazifik aus innerhalb von Sekunden erreichen können.“ (siehe Schaubild) Die Vorverlagerung der Abschußmöglichkeiten wäre eine zusätzliche Verdichtung und zeitliche Verkürzung dieses US-Netzes auf Vorabinformation, die aus der Radarüberwachung zu beziehen wären.
Putins Alternative, in Aserbeidschan eine gemeinsame Raketenabwehr zu betreiben, ändert nach diesen Angaben also nichts Wesentliches an den technischen Voraussetzungen der militärischen sog. Sicherheitslage, die wären von einem polnisch-tschechischen Standort aus die gleichen wie von Aserbeidschan aus. Dabei ginge es im Wesentlichen um gegenseitige informationelle Transparenz. Die politischen Bedingungen der Kooperation sind jedoch in beiden Fällen vollkommen anders: Der Aufbau von US-Raketenstationen in Polen und Tschechien, selbst wenn es in Kooperation mit Russland geschähe, liefe darauf hinaus, US-Präsenz in den anti-russischen Problemstreifen zwischen EU und Russland zu holen und einen Dauerkonflikt zwischen EU und Russland zu institutionalisieren; in Aserbeidschan dagegen befände man sich gewissermaßen auf neutralem Gelände und zudem unmittelbar vor den Toren der Kräfte, die es nach übereinstimmenden Positionen von USA, Russland und EU im Zaum zu halten gilt. Für diese Sicht spricht auch, dass Aserbeidschans Präsident Alijew keine Probleme mit einer solchen Nutzung der schon bestehenden russischen Station Cabla sieht.
Damit rückt der dritte Aspekt ins Licht, der in Putins Vorschlag liegt: An der Reaktion auf seinen Vorschlag kann sich zeigen, wie ernst die Begründung der US-Amerikaner zu nehmen ist, dass es bei der Aufstellung der Raketen um einen Schutz Europas vor Bedrohungen aus den „Schurkenländern“ gehe: In einem Stützpunkt Cabla in Aserbeidschan wäre eine Abwehr möglicher Raketengefahren aus dem „Schurkenbereich“ nicht nur schneller und sicherer, weil näher am Ort möglicher für gefährlich gehaltener Abschussrampen, sie beträfe nicht nur das ganze Europa und wäre auch – wie Putin ausdrücklich hervorhebt – weit im Vorfeld möglich, sie wäre als Projekt globaler Sicherheit auch gemeinsam von den USA, Russland und der EU, statt in Konkurrenz und in Konfrontation zueinander praktizierbar.
Dies alles bedeutet, Putin versucht, die technische Bedrohung, die darin besteht, dass die USA heute in der Lage sind, Russlands atomares strategisches Antwort-Potential praktisch auszuschalten, durch eine politische Lösung einzumanteln.
Ob die USA sich darauf einlassen – ist eine andere Frage, über die die Welt bald genauer bescheid wissen wird, Aber dann ist auch klar, welchen Zielen die US-Raketenaufrüstung tatsächlich dienen soll.
So gesehen ist Putins Vorschlag für einen gemeinsam betriebenen Raketenstützpunkt in Aserbeidschan – auch dieses wieder zusammen mit dem Auftritt vor der Nato-Tragung in München zu sehen – ein Vermächtnis an seinen Nachfolger, wer immer er sei, konsequent an einer Politik zur Entwicklung einer multipolaren Ordnung festzuhalten, die auf Kooperation und Kräfteausgleich, statt auf Unterordnung unter die Weltherrschaft der USA oder Wettrüsten und militärische Konfrontation setzt.
In die gleiche Richtung zielt Putins Auftritt auf dem russischen Wirtschaftsforum in St. Petersburg einen Tag nach Heiligendamm, von dem Putin zwei sich ergänzende Botschaften aussandte, die von der westlichen Presse flugs als „doppelte Signale“ gekennzeichnet wurden: Er bekräftigte Russlands Interesse, sich der WTO anzuschließen und deren Regeln unterzuordnen, kritisierte aber zugleich den Protektionismus der westlichen Gründerstaaten der WTO; er lud globales Kapital zu Investitionen in Russland ein, insbesondere in den Energiesektor, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Russland Öl und Gas in der Verfügungsgewalt von Roßneft und Gazprom, den beiden halbstaatlichen Energiegiganten behalten werde.
Angesichts all dieser Auftritte Putins kann man nur wiederholen, dass die Welt in Zukunft mit einem selbstbewussten Russland zu rechnen hat, auch wenn es militärisch nicht an die USA heranreicht.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

Russland: Weltmacht auf Rohstoffen (Anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm)

Devisen aus dem Gas- und Ölgeschäft waren bereits für die Sowjetunion ein festes Grundeinkommen. Öl und Gas überquerten die Gräben des Kalten Krieges ohne Unterbrechung. Die Auflösung der UdSSR ließ diese Brücke einbrechen. Die Einnahmen sanken auf 20% ihres Umfanges. Die Privatisierung der Öl- und Gasförderung leitete auch die wenigen Einnahmen noch an den Kassen des Staates vorbei in private Taschen und wurde von dort ins Ausland transferiert. Russland wurde zum Objekt westlicher Interessen.
Diese Phase der nachsowjetischen Transformation endete in der Krise von 1998. Die Krise bildet zugleich den ersten Wendepunkt in der Geschichte des neuen Russland, insofern es sich entschloss zukünftig auf Kredite des IWF und der Weltbank zu verzichten und auf eigene Kräfte zu setzen.
Die Verhaftung des Öl-Oligarchen Michail Chodorkowski 2003 markiert die entscheidende Fortsetzung dieser Politik: Unter Putin übernahm der Staat wieder die Kontrolle über die fossilen Ressourcen des Landes. Heute fließen die Steuern aus dem Gas- und Öl-Export wieder in die Staatskasse. Das Staatsbudget hat sich seit 2000 versechsfacht. Ein Stabilitätsfons, der 2004 für die Ölmilliarden eingerichtet wurde, ist inzwischen auf 108 Milliarden angewachsen. Daneben hat Russland 356 Milliarden $ in Gold- und Devisenreserven angesammelt. Russisches Kapital sucht Anlagemöglichkeiten im Ausland. Aus dem Kreditnehmer ist ein Kreditgeber geworden.
Der „Fall Chodorkowski“ markiert zugleich einen Wandel in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Für die USA war die Verhaftung Chodorkowskis eine Niederlage ihres Versuches, sich die russischen Ressourcen unter Umgehung des russischen Staates verfügbar zu machen. US-Hauptstratege Sbigniew Brzezinski, nach dessen Vorstellungen diese US-Politik entwickelt worden war, warnte daraufhin prompt vor einem russischen „Energiefaschismus“, der die Welt erpressen wolle. Der „Gasstreit“ zwischen Russland und der Ukraine gab dem weitere Nahrung. Als Russland sich erbot, das G8-Treffen als „Energiegipfel“ zu organisieren, auf dem weitreichende Vereinbarungen für eine zukünftige Energieordnung getroffen werden könnten, stellte der Westen dem die Forderungen nach Liberalisierung der Energiemärkte entgegen. Konfrontationen schienen vorprogrammiert. Im Ergebnis verabschiedete man eine Erklärung zur „Globalen Energiesicherheit“, die sich in Floskeln zur „Wichtigkeit offener und transparenter Märkte“ erschöpfte. Die vorher heiß diskutierte internationale „Energiecharta“, die u.a. eine Liberalisierung der Energiemärkte fordert, wurde weder von Russland noch von den USA unterzeichnet.
Umso klarer treten seitdem die weiteren Konfliktlinien hervor: EU und Russland suchen eigene Wege der „Annäherung durch Verflechtung“: Am 8. September 2005 wird der Bau der Ostsee-Pipeline im Beisein von Gerhard Schröder und Wladimir Putin sanktioniert, wenig später bietet Putin Deutschland an, zum zentralen Verteiler der Gaslieferungen aus den noch zu erschließenden Stockmannfeldern in der Barentssee zu werden, eine Option, die man bis dahin den Amerikanern vorbehalten hatte. Auf der Insel Sachalin werden von Russland Öl- und Gasförderprojekte der Konzerne Shell, Mitsui und Mitsubishi in Frage gestellt, deren Hauptabnehmer ab 2008 Japan, Korea und die USA sein sollten. Anfang 2006 äußert Putin seine Sympathie für eine „GAS-Opec“ aus Russland, Iran und Turkmenistan, zusammen 60% der Weltgasvorkommen, 30% davon russisch, noch ohne die vermuteten Vorkommen in der Barentsee und in Sibirien. Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) im Juni 2006 schlägt Putin die Gründung eines „SCO Energieclubs“ vor. Er würde 20% der Gas- und 50% der Ölvorkommen der Welt kontrollieren. Die Rote Karte, die Putin den Raketenplänen der USA bei der NATO-Tagung in München Anfang des Jahres wie auch in seiner jüngsten Rede an die Nation entgegenhielt, spricht von einem Russland, das wieder Subjekt der Geschichte sein will. An diesem Russland führt kein Weg mehr vorbei.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

EU in Nöten: Menschenrechte und polnisches Fleisch – oder was geschah in Samara?

Glaubt man der Presse, dann hat sich bei dem deutsch-russischen Gipfeltreffen in Samara ein „Neuer Realismus“ hergestellt. Andere Meldungen sprechen von „schwerer Krise“ zwischen EU und Russland. Kritisiert wird ein „imperiales“, „arrogantes“ Auftreten Wladimir Putins, der die EU zu spalten versuche und die Menschenrechte verletze. Die Eu-Politik müsse sich darauf einstellen. Andererseits verstehe man ihn, so wird die deutsche Delegation zitiert, weil er „neues Selbstbewusstsein“ demonstriere und sich im Übrigen angesichts der der bevorstehenden Wahlen auf die innere Entwicklung des Landes konzentrieren müsse, um ein Rückfall in das Chaos der Jelzinschen Zeit zu verhindern.
Soviel Kritik bei gleichzeitigem Verständnis gab es lange nicht in der Russland-Berichterstattung. Was geschah also in Samara? Ging es wirklich darum, Putin eine Lehrstunde im Demonstrationsrecht zu geben? Wohl kaum, denn es scheint, dass Putin die Lektionen, was Demokratie für westliche Staaten bedeutet, bereits bestens gelernt hat: Davon zeugt jedenfalls seine Antwort, präventive Maßnahmen gegen potentielle Demonstranten seien doch allgemein üblich und würden ja auch in Deutschland aktuell im Vorfeld des G8-Treffens in Heiligendamm praktiziert. Also, man hat sich gegenseitig nichts vorzuwerfen. Frau Merkels „Kritik“ erweist sich als schlichte PR-Maßnahme, die für sie allerdings eher zu einem Bumerang werden könnte.
Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, wovon die Kritik ablenken sollte. Und da kommt man schnell an den Kern, denn schon im Vorfeld hatte Frau Merkel den russischen Gastgebern gegenüber ausdrücklich klarstellen lassen, dass sie nicht als Vertreterin eines Landes, sondern als Vertreterin der gesamten EU nach Samara komme. Aus Brüssel verlautete ebenfalls im Vorfeld, man habe keine großen Erwartungen an das Treffen, dennoch sei es wichtig, mit den Russen zu sprechen: „Die Botschaft der Europäer muss sein, dass sie sich von Moskau nicht auseinander dividieren lassen,“ forderte der für 2009 designierte Ratspräsident der EU, Sloweniens Ministerpräsident Jansa, EU-Kommissionspräsident José Barrorso erklärte nach dem Treffen, Putin habe „gemerkt, dass die europäische Einheit nicht zu knacken“ sei.
Wo so deutlich die Einheit beschworen wird, tut man gut, nach der Realität der Differenzen Ausschau zu halten.
Tatsächlich kann von Einheit in der Russlandpolitik der EU nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Seit mehr als einem Jahr blockiert Polen die Aufnahme von Gesprächen zwischen der EU und Russland zur Verlängerung des zwischen ihnen bestehenden Kooperations- und Partnerschaftsabkommens, mit einem Veto, solange Russland das Einfuhrverbot polnischer Fleischlieferungen nicht aufhebe. Der Vertrag läuft Ende 2007 ab. Russland begründet das Verbot mit mangelnder Qualität des Fleisches. Wladimir Putin betrachtet die Frage als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Russland und Polen, die die generellen Beziehungen zwischen Russland und EU nicht berühre. Frau Merkel, unterstützt durch Borroso erklärte, die polnischen Lieferungen entsprächen den EU-Standards und diese lägen auf höchstem Niveau.
Eine Einigung war bisher nicht möglich. Die polnische Blockade führte jetzt dazu, dass Putin und Merkel sich nur darauf verständigen konnten, den laufenden Vertrag um ein Jahr zu verlängern. Statt den Vertrag zu erneuern, wurden eine Reihe von Einzelmaßnahmen beschlossen wie Erleichterung der Visaregelung, Verbesserung des rechtlichen Schutzes von Investitionen und ähnliches.
Aber geht es wirklich nur um polnisches Fleisch? Nein, die Fleischfrage ist nur ein Detail. Hinter dem mit der Fleisch-Frage begründeten Veto steht zunächst auch noch die weitergehende Forderung Polens, Russland müsse die internationale Energiecharta unterzeichnen. Das würde bedeuten, das russische Energie-Monopol zugunsten polnischer Beteiligungen zu lockern oder ganz aufzulösen. Polen ging so weit in dieser Frage Sanktionen gegen Russland zu fordern. Dem polnischen Veto könnte sehr bald ein weiteres folgen, das die litauische Regierung für den Fall angekündigt hat, dass die Öllieferungen nicht sofort wieder aufgenommen würden, die Russland Ende 2005 mit der Begründung, die Leitungen sei beschädigt, gestoppt hatte. Litauen bringt diese Maßnahme Russlands damit in Verbindung, dass der Verkauf einer litauischen Raffinerie an das polnische Unternehmen PKN Orlen statt an eine russische Firma erfolgte und spricht von einer russischen Strafmaßnahme.
Polen und Litauer fühlen sich durch die EU in dieser Frage nicht genügend unterstützt. Sie sehen sich durch den Vertrag zwischen Deutschland und Russland zum Bau der Ostseepipeline, welche die baltischen Länder und Polen ausdrücklich umgeht, wie auch durch das Angebot Russlands, die Gas-Vorkommen der Stockmannfelder direkt nach Deutschland als Verteiler zu leiten, vielmehr ausgegrenzt und bedroht. Umso dankbarer wurden die Erklärungen der USA, insbesondere des US-Vizepräsidenten Dick Cheney aufgegriffen, der Russland 2005 vorwarf, Öl und Gas zur Erpressung und Einschüchterung seiner Nachbarstaaten einzusetzen und Rückendeckung aus Washington versprach.
Gegenstand der Auseinandersetzung waren in Samara auch die Konflikte um die Entfernung eines noch aus sowjetischer Zeit stammenden antifaschistischen Kriegerdenkmals in Tallin durch die estnische Regierung; ein Toter ist in diesem Zusammenhang zu beklagen. Gegenstand war des Weiteren natürlich der US-Vorstoß, in Polen und der tschechischen Republik Raketen aufstellen zu wollen. Auch in diesen Fragen stehen alte und neue EU-Länder auf gegensätzlichen Positionen. Das gilt auch, wenn Kommissionspräsident Barroso zu glätten versucht, idem er erklärt, die EU würdige die Leistungen und Opfer Russlands im Kampf gegen den Faschismus, aber jedes EU-Land sei selbstverständlich souverän in seinen Entscheidungen. Für Russland ist dieses Sowohl-als-Auch nicht akzeptabel. Ähnliches gilt für die Raketenpläne der USA, die Russland nach wie vor als überflüssige Aggression begreift, erst recht, wenn Polens Regierung damit droht, sich gegen mögliche Aufrüstungs-Reaktionen der Russen mit der Aufstellung eigener Raketen schützen zu wollen.
Die Summe dieser Widersprüche führte wenige Tage vor dem Russland-EU-Gipfel in Samara zu einem heftigen Streit innerhalb der EU über deren zukünftige Russlandpolitik, als die Botschafter der EU-Staaten sich in Brüssel trafen, um das Treffen in Samara vorzubereiten. Die drei baltischen Staaten sprachen sich in drastischer Weise für eine „Denkpause“ im Ringen um die Erneuerung des Abkommens aus, indem Polen sein Veto bekräftigte, Litauen eines ankündigte und Estland erklärte, ebenfalls über ein Veto nachdenken zu wollen.
Schwere Konflikte deuten sich an, die noch weit über die aktuellen Anlässe hinausgehen: Die alten EU-Mitglieder suchen den Dialog mit Russland unter dem Stichwort „Wandel durch Verflechtung“. Polen, Litauen und Estland sehen sich, durch gute Beziehungen zwischen Russland und den alten EU-Staaten, insbesondere Deutschland bedroht. So warf die polnische Außenministerin Fotyga der deutschen Rats-Präsidentschaft vor, die speziellen Sorgen von Polen und Balten nicht angemessen zu berücksichtigen. Die verlangen deshalb, die bisherige Linie der EU-Russland-Politik zu verlassen.
Die Konflikte konkretisieren sich zudem noch auf die Auseinandersetzung um den durch die „Berliner Erklärung“ angekündigten Grundlagenvertrag, der bis zu den Europawahlen 2009 durchgebracht sein soll. Die polnische Regierung lehnt die in dem Entwurf vorgesehene Beschlussregel ab, die das Gewicht der neuen EU-Länder im Verhältnis zu den alten stark mindern könnte. Die Mehrheit der der EU-Mitgliedsländer lehnt erneute Debatten um diese Frage ab.
Kurz gesagt, der Sloweniens Ministerpräsident Jansa, hat allen Grund, die Einheit der EU zu beschwören, denn alle Zeichen stehen auf Sturm. Objektiv bilden die Neu-Mitglieder der EU, ebenso wie die der EU vorgelagerten Nicht-Mitglieder Weißrussland, die Ukraine und Moldawien, sowie die kaukasischen Staaten, einen sich von der Ostsee bis zum schwarzen Meer hinziehenden cordon sanitaire zwischen den Integrationsräumen Russlands und der Europäischen Union, der im Tauziehen zwischen USA, EU und Russland hin und her gerissen zu werden droht. Einer stabilen Ordnung in diesem Teil der Welt wäre es vermutlich dienlicher, wenn dieser Kordon sich in einen Streifen der Neutralität verwandelte.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

Wer und was Ist in Russland heute Opposition?

In den letzten Wochen war viel von der Opposition in Russland die Rede. Gemeint war in der Regel der „Marsch der Unzufriedenen“ mit Gary Kasparow an der Spitze und Boris Beresowski zur Seite, der von seinem Londoner Exil aus zum gewaltsamen Sturz des „Regimes“ aufrief. Aber ist dies „die“ russische Opposition? Sicher nicht. Wer von der Opposition in Russland sprechen will, muss mehr in den Blick nehmen.
Da wäre zunächst zwischen Opposition innerhalb der „Eliten“ und jener aus der Bevölkerung zu unterscheiden: Über Differenzen im Kreml dringt wenig nach außen: schlechte Zeiten für Kremlastrologen. Aber anlässlich der Aufrufe Beresowskis zum Umsturz ließ Außenminister Sergej Lawrow immerhin die Sorge erkennen, gestörte Wahlen könnten dazu führen, dass die noch nicht gefestigten russischen Eliten wieder auf Sonderinteressen wie zu Jelzins Zeiten zurückfallen könnten. Das gelte es zu vermeiden.
Seine Sorge ist berechtigt, ist doch die Disziplinierung der Gebietsfürsten wie auch die der Oligarchen durch die putinsche Administration noch sehr jungen Datums. Der „Fall Chodorkowski“ ist weder juristisch noch politisch abgeschlossen. Gerade eben laufen noch Auktionen des Yukos-Rest-Vermögens. Zwar findet sich die Mehrheit der Oligarchen angesichts der Verurteilung ihres Kollegen Chodorkowski inzwischen bereit, Steuern auf ihre Gewinne zu zahlen. Die von Wladimir Putin angeregte und soeben von der Duma für das Jahr 2008 beschlossene „Steueramnestie“, die es möglich machen soll, im Verlaufe des Jahres 2008 illegale Gewinne nachträglich zu einem minimalen Steuersatz zu legalisieren, zeigt jedoch, wie akut diese Fragen noch stehen.
Ähnliches gilt für Gouverneure, Bürgermeister und örtliche Organe der Selbstorganisation, mit denen die Kreml-Administration trotz der inzwischen bestehenden Regelung, dass Gouverneure vom Präsidenten ernannt werden, nach wie vor im beständigen Tauziehen liegt. Wie aktuell auch diese Problematik ist, zeigen Putins ausführliche Ausführungen zu bevorstehenden Erweiterungen regionaler und örtlicher Kompetenzen in seiner soeben gehaltenen Rede an die Nation, denen die Tatsache gegenübersteht, dass die Justiz, unterstützt durch den Inlandgeheimdienst FSB, mit dem Vorwurf des „Amtsmissbrauches“ und der Korruption in zunehmendem Maße gegen unbotmäßige Bürgermeister vorgeht.
Bei all dem ist schwer zu erkennen, in welche Richtung diese Auseinandersetzungen gehen, ob zu mehr regionaler und privatwirtschaftlicher Kompetenz, wie Putin es in seiner Botschaft ankündigte oder zu wachsender Kontrolle durch den FSB. Sicher ist jedoch, dass hier ein Oppositionspotential liegt, welches von Putin und seinen Leuten höchstes taktisches Geschick erfordert, wenn es sich während der Wahlen und vor allem danach nicht zu einer erneuten Desintegration der russischen Staatlichkeit auswachsen soll.
Die oppositionellen Bewegungen in der Bevölkerung sind ebenfalls zu differenzieren: Da ist zunächst die systemimmanente Opposition der Parteien, die zur Wahl antreten: Ihre Zahl wird sich nach den Reformen des Wahlrechtes stark reduzieren; 2003 waren es 23 Parteien, russische Medien erwarten jetzt eine Verringerung um mehr als die Hälfte. Von ihnen werden es, so die Prognosen, vier in die neue Duma schaffen.
Es wären dies ihrer Größe nach: Die Partei „Einiges Russland“, also die sog. Putin-Partei; sie wurde 2003 mit 37,1% der Wählerstimmen die stärkste Kraft. Weiter die regierungskritische „Kommunistische Partei Russlands“ (2003: 12,7%), sodann die „Liberal-demokratische Partei“ des National-Populisten Wladimir Schirinowski (2003: 11,6%). Neu hinzu tritt die Partei „Gerechtes Russland“, die 2006 mit Geburtshilfe der Kreml-Administration aus der Partei „Rodina“ (2003: 9,1%) hervorging. Die genannten Parteien sind jene, die aus den Regionalwahlen der Jahre 2005 und 2006 gestärkt hervorgingen. Als chancenlos dagegen gelten die beiden bekannten liberalen Parteien „Jabloko“ und „Union rechter Kräfte“.
Alle vier genannten Parteien, in dieser Frage nicht anders als „Jabloko“ und die „Union rechter Kräfte“ sind staatsloyal. „Einiges Russland“, ebenso wie die Partei Schirinowskis können zudem als Stützen Putinscher Politik betrachtet werden. Die neue Partei „Gerechtes Russland“ versteht sich als putinfreundliche linke Alternative zur „Partei der Macht“. Ihre wesentliche Funktion sahen ihre kreml-nahen Initiatoren im Vorfeld der kommenden Wahlen 2006 darin, die KP als einzige parlamentarische Opposition einzuschränken und zugleich weitere tendenziell linke Kräfte wie die relativ starke „Partei der Pensionäre“ sowie der „Partei des Lebens“ ins parlamentarische Geschen einzubinden. Tatsächlich schränkt die neue Partei auch den Spielraum von „Einiges Russland“ ein, wie die Regionalwahlen zeigten.
Im Ergebnis werden in der Duma aller Voraussicht nach drei regierungsfreundliche Parteien, die sich programmatisch wenig, sondern eher in der von ihnen vertretenen Lobby unterscheiden, einer regierungs- und sozialkritischen KP gegenüberstehen.
Das liberale Lager ist durch den Niedergang von „Jabloko“ und der „Union rechter Kräfte“ praktisch auf den Status einer Bewegung reduziert worden. Eine Einigung zwischen den Resten der eher links-reformerisch orientierten „Jabloko“ und der neo-liberalen „Union rechter Kräfte“ kam nicht zustande. Die Gründung des „Komitee 2008: Freie Wahlen“ beim G8-Gipfel 2006 durch Gary Kasparow, dem sich auch extrem rechte Kräfte anschlossen, trug mit ihren radikalistischen Positionen zur weiteren Zersplitterung der liberalen Szene bei. Mit dem „Marsch der Unzufriedenen“ 2007, von dem aus praktisch zum Wahlboykott und Sturz Putins aufgerufen wird, eskaliert die Mischung aus Resten liberaler Bewegung und aktionistischer Kritik des „Putinismus“ zu einer außerparlamentarischen Bewegung der direkten Aktion, die durch keine andere Perspektive als den Sturz Putins miteinander verbunden ist.
Der 1. Mai 2007 hat gezeigt, dass es über die Parteien und auch über den „Marsch der Unzufriedenen“ hinaus einen breiten Boden für spontane soziale Proteste gibt, der sich zurzeit im Rahmen gewerkschaftlicher Forderungen nach Lohnerhöhungen und Kampf um soziale Leistungen hält. Mit den zu erwartenden sozialen Folgen des WTO-Beitritts kann dieser Protest schnell wieder zu Höhen aufflammen, wie sie von den Protesten gegen die „Monetarisierung“ im Jahre 2005 erreicht wurden.
Solange die Einnahmen aus dem Öl- und Gas-Geschäft das russische Staatsbudget weiterhin füllen, ist eine Radikalisierung dieser Proteste und deren Verschmelzung mit den radikalen außerparlamentarischen Aktionen allerdings nicht zu erwarten. Eher wird sich die Tendenz zur Wahlenthaltung fortsetzen, welche die Wahlen zur Duma, wie zuvor schon die Regionalwahlen, mehr zu einem Thermometer der politischen Stimmung im Lande macht, das den politischen Akteuren eine Korrektur ihrer politischen Ausrichtung, vielleicht auch nur deren geschicktere Vermittlung ermöglicht, als zu einer Entscheidung für eine aktive Politik. Über aktive Politik wird erst in der danach folgenden Wahl eines neuen Präsidenten entschieden.

Kai Ehlers
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Putins Schwerpunkte: Anmerkungen zu seiner Jahresbotschaft an die Nation.

Am Donnerstag der letzten Aprilwoche, wegen der Begräbnisfeierlichkeiten für Boris Jelzin um einen Tag verschoben, lud Wladimir Putin zur Jahresbotschaft in den Kreml. Versammelt waren Duma-Abgeordnete, Mitglieder des Föderationsrates, alle Minister, die Spitzen der Justiz, der Wahlkommission, des Rechnungshofes, die Mitglieder des Staatsrates und die Führer der größeren Konfessionen. Anwesend waren auch die Mitglieder der Gesellschaftskammer, die als Hüterin der Presse- und der Meinungsfreiheit agiert. Es war Putins letzte Rede an die Nation. Die nächste Rede werde, so der Noch-Präsident, ein anderes Staatsoberhaupt halten, da seine Dienstzeit zu Ende gehe. Damit ist allen Spekulationen über eine mögliche dritte Amtszeit Putins endgültig ein Riegel vorgeschoben.

Putins trat, entgegen anderslautender Kommentare, klar und moderat auf, konzentrierte sich auf innenpolitische Fragen. Er eröffnete mit einer Schweigeminute für Jelzin, erinnerte an dessen Verdienste, kam dann jedoch zügig auf die heutige Situation, die sich gegenüber den „schweren Zeiten“ unter Jelzin zum Guten entwickelt habe. Das Realeinkommen der Bevölkerung habe sich seit dem Jahre 2000 verdoppelt, der Staatshaushalt versechsfacht, die Wirtschaft zeige stabiles Wachstum. Aber man stehe dennoch erst am Anfang einer „lange währenden Wiedergeburt des Landes“, habe noch viel zu tun, politisch wie auch sozial. Die „geistig-seelische Einheit des Volkes, sowie die uns vereinenden moralischen Werte“, betonte Putin, seien daher ein „ebenso wichtiger Faktor der Entwicklung wie die politische und die ökonomische Stabilität.“
Bei manchen ausländischen Zuhörern rief diese Einleitung den Verdacht hervor, Putin wolle sich für den Rest seiner Amtszeit an den aktuellen Widersprüchen vorbei stehlen, indem er die „nationale Karte“ ausspiele. Der moralische Einstieg war jedoch nur der Leitfaden, an dem entlang Putin seine strategischen Schwerpunkte setzte.
Die wichtigsten seien hier kurz vorgestellt:
Die zurückliegenden Korrekturen der Wahlverfahren trügen dazu bei, so Putin, die Wahlen demokratischer zu machen, sie von störenden „ungünstigen Methoden“ zu entschlacken. In der zukünftigen Duma werde es dadurch stärkere Oppositionskräfte der „Fraktionen“ geben.
Ob die hinter diesen Ausführungen stehende Hoffnung Putins aufgeht, ein stabiles Parteiensystem, vielleicht gar Zweiparteienwahlsystem nach US-Muster von oben initiieren zu können, werden die Wahlergebnisse zeigen.
Nicht allen gefalle die stabile Entwicklung des Landes, so Putin weiter. Es häuften sich daher die Versuche, im Interesse ausländischer Geldgeber in die russische Innenpolitik zu intervenieren. Daher müsse die Auseinandersetzung mit dem Extremismus „unausweichlich verschärft“ werden.
Nicht ausgesprochen, aber gemeint sind die Aktivitäten von Boris Beresowski und Gary Kasparow in der gegenwärtigen Vorwahlsituation. Beresowski ruft von London aus zum gewaltsamen Sturz Putins auf, weil Wahlen, wie er meint, keinen Sinn machten. Er rühmt sich, die „Opposition“ auf allen Ebenen, auch im Kreml selbst zu finanzieren. Kasparow erklärt im Lande, der Machtwechsel müsse auf der Straße erkämpft werden, weil über Wahlen nichts zu ändern sei.
Beresowski war graue Eminenz der oligarchischen Herrschaft während der Zeit Jelzins; seit seiner Flucht vor Verfolgung wegen Steuerhinterziehung usw. betreibt er von London aus, gestützt auf die exportierten Milliarden, seine Rückkehr an die Macht. Kasparow, der von westlichen Medien als „Führer der russischen Opposition“ herausgestellt wird, ist aktives Mitglied des „National Security Advisory Council“ (NSAC) in Washington, einer Neben-Organisation des „US-Centers for Security Policy.“ Diese Organisation ist einer der aktivsten „Think-Tanks“ der US-Neo-Konservativen. Das sind jene US-Kräfte, die ihre Aufgabe darin sehen, weltweit „bunte Revolutionen“ zu exportieren. Man darf sich wundern, wie verhalten, ohne Namen und Länder zu nennen, Wladimir Putin über all diese Aktivitäten spricht; ob Extremistengesetze allerdings das richtige Mittel gegen interventionistische Provokationen sind, wird man bezweifeln müssen.
Eine wichtige Rolle für die zukünftige Entwicklung des Landes, so Putin weiter, spiele die Entwicklung bürgerlicher, ziviler Vereinigungen. Im letzten Jahr habe sich die Zahl gesellschaftlicher Vereinigungen und der Einsatz von Freiwilligen erhöht, die sich am gesellschaftlichen Aufbau in Russland beteiligten. In demselben Zeitraum seien auch wichtige Vollmachten an örtliche Verwaltungsorgane abgegeben worden, so im Städtebau, im Wald-, Boden- und Wasserwesen, im Tierschutz und in allgemeinen Beschäftigungsfragen der Bevölkerung. Ergänzend dazu sei zudem ein neues Gesetz der örtlichen Selbstverwaltung in Kraft getreten. Er hoffe, dass dies alles zur Entwicklung von Basiskräften beitrage, die Russland dringend brauche.
Nach sieben Jahren putinscher Re-Zentralisierung, in deren Verlauf die Wahl örtlicher Selbstverwaltungsorgane bis hinauf zu den Gouverneuren der Provinzen durch Ernennungen seitens des Präsidenten, bzw. seines präsidialen Verwaltungsapparates ersetzt wurden, wäre dies ein bemerkenswerter neuer Akzent in der russischen Politik. Zu bezweifeln ist allerdings auch hier wieder, ob dies von oben her zu verwirklichen sein kann.
Es stellt sich zudem die weitere Frage, in welchem Verhältnis die von Putin angegebene Entwicklung russischer nicht-staatlicher Vereinigungen zur Verschärfung der Zulassungs-Bedingungen für die Tätigkeit von NGOs steht. Tatsache ist, dass die Aktivität nicht-staatlicher Organisationen durch die gegenwärtige Gesetzeslage nicht nur für ausländische Organisationen, sondern allgemein sehr erschwert worden ist und, sollte nunmehr Extremismus im oben genannten Sinne schärfer verfolgt werden, auch noch weiter erschwert werden wird. Für eine freie Entfaltung von Basisaktivitäten auf kommunaler Ebene ist das mit Sicherheit Gift, auch wenn sie nicht ausländisch, sondern einheimisch sind. Insofern muss man befürchten, dass diese Hoffnungen Wladimir Putins, wenn man denn bereit ist sie ernst zunehmen, Hoffnungen bleiben.
Bleibt noch der außenpolitische Aspekt, der in den westlichen Medien besondere Beachtung fand, obwohl er in Putins Rede eher am Rande auftaucht: Putin beklagt, die EU halte die Verträge der KSE über konventionelle Streitkräfte in Europa nicht ein. Deshalb will er die Verträge zu erneuter Verhandlung in den NATO-Russland-Rat einbringen. Sollte dies nicht akzeptiert werden, dann werde Russland einen einseitigen Ausstieg aus den Verträgen in Erwägung ziehen.
Für westliche Medien ist damit der Tatbestand putinscher Aggression erfüllt. Tatsächlich kündigt Putin nur an, dass Russland über Fragen der Rüstung offene Verhandlungen fordert. Damit knüpft er an den Vorschlägen an, die er kürzlich auf der NATO-Sicherheitskonferenz vortrug: Ende der von den USA betriebenen Militarisierung internationaler Beziehungen, stattdessen Eintritt in Verhandlungen zu Abrüstung auf allen Ebenen, einschließlich der Entmilitarisierung des Weltraumes.

 

Kai Ehlers
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Boris Jelzin – Lebensdaten eines Staatsanarchisten

De mortiis nihil nisi bene – über die Toten nichts als nur Gutes. Das haben wir in der Schule gelernt, gleich ob Russen, Deutsche oder Europäer. An diese Traditionen wollen wir uns halten, auch Boris Jelzin gegenüber, der am 23. April aus dem Leben schied. Wir halten uns daran, auch wenn er im Schatten, den sein Nachfolger Putin inzwischen wirft, in letzter Zeit nur noch schwer zu erkennen war, ja., für manche seiner Landsleute inzwischen vom Helden der von vielen so genannten demokratischen Revolution der 90er Jahre zum Inbegriff des Chaos geworden ist, das man lieber vergessen möchte.
Aber der der Aufstieg Jelzins vom Bauernjungen aus dem Dorf Butka im Bezirk Swerdlowsk der russischen Provinz zum Präsidenten des nachsowjetischen Russland ist aus der Geschichte des Übergangs von der Sowjetunion zum heutigen Russland ebenso wenig wegzudenken wie die amerikanische Story des Tellerwäschers, der zum Millionär aufstieg, nur dass Jelzin die Teller, die ihn an die Spitze führten, nicht wusch, sondern zerschlug.
Wenn irgendjemand das russische Sprichwort: „Der russische Muschik spannt lange an, aber wenn er losfährt, dann fährt er rasant“ verkörpert, dann Boris Jelzin. Und mehr noch, auf ihn trifft auch die Fortsetzung des Sprichwortes zu, die häufig vergessen wird, die aber doch wesentlich zum Verständnis dessen ist, warum viele Menschen in Russland selbst wie auch im Ausland, den „Bären Jelzin“ als einen typischen Russen erlebten. Dieser Zusatz, von Menschen, die ihr Land durchaus lieben bisweilen hinzugesetzt, lautet: Und wenn er dann rast, dann ist es ihm meisten gleich wohin, Hauptsache es bewegt sich.
Gemächlich sehen wir den kleinen Jelzin vom Bauernjungen aus Butka in der Provinz bei Swerdlowsk zum Baulöwen der Region aufsteigen, Stalin überleben, nach dessen Tod 1961 in die Partei eintreten, sich unter Chruschtschow, dann unter Breschnew ebenso gemächlich als Bezirkssekretär der Partei etablieren. Erst nachdem Michail Gorbatschow ihn 1985 aus der Provinz nach in die Moskauer Parteispitze holt, 54jährig, legt Boris Jelzin los.
Schon ein Jahr später, auf dem 27. Parteitag der KPdSU 196, hat Jelzin dazu angesetzt, den vorsichtigen Gorbatschow zu überholen. 1990 hat er seinen Gönner, der seinen Umsturzeifer zu bremsen versucht, bereits hinter sich gelassen. Als Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland gibt er demonstrativ seinen Austritt aus der Partei bekannt. Kurz darauf schafft er sämtliche Privilegien für Führungskader in seinem Machtbereich ab.
Ein letzter Versuch Gorbatschows, Jelzin in sein behutsames Reformtempo durch die Erarbeitung eines gemeinsamen Reformplanes für die nächsten Jahre einzubinden, scheitert 1990, als Jelzin für die sofortige Verwirklichung des „100 Tage-Programms“ plädiert, das die Kommission vorlegte. Statt mit Gorbatschow einen Kompromiss zu suchen, ließ Jelzin sich mit dem Programm nach Harvard einladen, um sich von dort Bestätigung und Unterstützung zu holen. Gorbatschow warb in London vergeblich um Unterstützung für langfristige, allmähliche Reformen.
Damit war der Bruch zwischen beiden perfekt. Der Machtverfall Gorbatschows, später als sog. Putschversuch der kommunistischen Alt-Kader bezeichnet, war vorprogrammiert. Mit seinem Aufruf zur Beschleunigung der Reformen, manifestiert in den von ihm ausgegebenen Slogans: „Nehmt Euch so viel Souveränität, wie ihr braucht“ und „Bereichert Euch“, konnte Jelzin sich als neuer starker Mann etablieren, der dem Putsch Einhalt gebot.
Alles Weitere lief im Galopp: Auflösung der Union, Ablösung Gorbatschows, Umsetzung der „Schocktherapie“ als Regierungsprogramm, das die Bevölkerung ins Elend stürzte und eine Schattenregierung aus IWF, Weltbank und russischen Privatisierungsgewinnlern entstehen ließ.
Hoch ist Boris Jelzin bei aller Überstürztheit indes anzurechnen, dass er den Übergang ohne Blutvergießen und ohne Säuberungen inszenierte. Das Verdienst dafür wird auch durch den späteren chaotischen Verlauf seiner Reformpolitik nicht geschmälert. Blut wurde erst vergossen, als Jelzin gezwungen war, die von ihm gerufenen Geister der Anarchie wieder einzugrenzen: 1993 Panzereinsatz gegen die Duma, 1994 Einmarsch in Tschetschenien, darüber hinaus immer wieder aufflackernde Kriege in Randgebieten wie Moldau, Abchasien, Südossetien, Berg Karabach usw. Nicht alles, heißt das, was Jelzin als Präsident tat, gereicht ihm zur Ehre. Er war Zerstörer einer sklerotisierten Ordnung. das wollen wir hier nicht weiter aufzählen; er war auch Verwalter einer großen Unordnung, sicher kein Demokrat westlichen Zuschnitts, aber ein Mensch, der sich von Spontaneität und Freiheitswillen leiten ließ.
Als genial werden seine Landsleute seinen letzten Schachzug in Erinnerung behalten und vermutlich in die Geschichtsbücher übernehmen wollen: Die Einführung eines unbekannten Mannes Namens, Putin, in das Zentrum der Macht, von dem Jelzin sich und seiner „Familie“, also dem Hofstaat seiner Verwandten, Ratgeber und reich gewordenen Günstlinge lebenslange Immunität zusichern ließ. Dies war gleichbedeutend mit einer Immunitätserklärung für die Generation der Umstürzler und damit Chance für die Einleitung einer relativen Stabilität. Auch hier gelang Jelzin ein bruchloser Übergang ohne Liquidation. Es ist zu hoffen, dass es dieses Erbe Jelzins ist, das weiter wirkt, wenn Russland jetzt wieder einen Machtwechsel zu bewältigen hat, und nicht die andere, chaotische Seite, die sein alter Mitkämpfer Boris Beresowski jetzt erneut zu aktivieren versucht, wenn er zum gewaltsamen Sturz Putins aufruft.

 

Kai Ehlers
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Sturm im Wasserglas – oder Russland in Aufruhr?

Aufruhr in St. Petersburg und in Moskau. Aus der Provinz herbei gekarrte Polizei-Spezialeinheiten prügeln nicht genehmigte Demonstrationen der radikalen Opposition nieder. Man braucht nicht viel, um dieses Vorgehen der russischen Behörden falsch zu finden.
Nicht verwunderlich ist ebenso, dass die Moskauer und St. Petersburger Polizeieinsätze den „entschiedenen Protest“ westlicher Politiker hervorriefen und die westlichen Medien zu Skandalberichten veranlassten, die in Forderungen danach gipfeln, die deutsch-russische Partnerschaft zu überdenken, da Russland nicht mehr zur „westlichen Wertegemeinschaft“ zähle.
Unabweisbar sind auch die Vergleiche, die einem einfallen, wenn man als politisch aktiver deutscher Staatsbürger die Beschreibungen des russischen Einsatzes liest: weiträumige Absperrungen, Durchsuchungen im Vorfeld, doppelt so viel Polizei wie Demonstranten, in den Seitenstraßen gepanzerte Einsatzfahrzeuge und Fahrzeuge für den Abtransport von Gefangenen, Polizisten in Helm und schusssicheren Westen, die Kessel bilden und auf abziehende Demonstranten und Passanten prügeln.
Auch die offiziellen Verlautbarungen, alles sei „rechtmäßig“ verlaufen, klingen hierzulande vertraut und der gegenwärtige Hauptakteur der Proteste, der ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow, wird nach vorübergehender Festnahme in Moskau gerade so rechtzeitig wieder auf freien Fuß gesetzt, dass er seinen Zug zur St. Petersburger Kundgebung nicht mehr erreicht. Gegen die 200 Festgenommenen wurden Strafverfahren eingeleitet. Soweit, so normal, könnte man sagen, Zivilgesellschaft: Russland ist – ganz im Gegensatz zur westlichen medialen Empörung – in der „europäischen Wertegemeinschaft“ angekommen, die da heißt: Wer an einer nicht genehmigten Demonstration teilnimmt, muss mit Prügeln rechnen.
Eine andere Frage ist, warum die russischen Behörden diese Demonstrationen verbieten. Warum lässt man diese 1000 „Andersdenkenden“, Ultra-Liberale, National-Bolschwisten, Menschrechtler, Anarchisten und sonstige, die kein politisches Programm, sondern nur ihr Hass auf Putin verbindet, nicht durch Moskau oder durch St. Petersburg marschieren? Was hat das putinsche Russland von diesem zusammengewürfelten Haufen zu befürchten? Haben die Regionalwahlen nicht eben gerade eine überwältigende Mehrheit für die Politik Putins gebracht? Hat Putin nicht durch seinen klare Auskunft, keine dritte Amtszeit zu wollen, den Weg für ruhige Wahlen freigemacht? Hat er nicht vor der NATO in München soeben außenpolitisch gepunktet? Liegt sein Rating nicht immer noch bei 70 %?
Eine erste Antwort ist in den Provokationen des im Londoner Exil lebenden Oligarchen Boris Beresowski zu finden, der seine schon vor einem halben Jahr einmal geäußerte Absicht, das „Regime Putin“ mit Gewalt stürzen zu wollen, wenige Tage vor den jetzigen Vorgängen im Londoner „The Guardian“ wiederholte. Putin habe ein totalitäres Regime errichtet und es gebe keine Möglichkeit, es durch Wahlen zu verändern. Er stehe im Kontakt mit Mitgliedern der russischen Führung, denen er finanzielle Unterstützung angeboten habe. In Russland sei dies der einzige Weg um Veränderungen zu erreichen.
Auch wenn nicht nachweisbar ist, dass der „Marsch der Unzufriedenen“ von Beresowski finanziert wird, so ist doch nicht verwunderlich, dass die russische Regierung Kasparows Leitlinie, Demokratie könne und müsse auf der Straße erkämpft werden, als das Passstück zu Beresowskis Aufruf versteht. Das Problem liegt allerdings weniger bei Kasparow, als in der nach wie vor noch nicht stabilisierten russischen „Elite“: Nach acht Jahren Putin ist die offene Herrschaft der Oligarchie, die sich unter Jelzin gebildet hatte und deren führender Kopf Beresowski war, zwar gebrochen, aber es ist noch keine verlässliche Loyalität gegenüber dem neuen russischen Staat gewachsen. Der bevorstehende Machtwechsel ist für die neue russische Staatlichkeit daher eine äußerst kritische Situation.
Eine zweite Antwort liegt in den sozialpolitischen Aufgaben, die eine nach-putinsche Administration zu erfüllen haben wird, wenn sie Ernst machen will mit dem kürzlich beschlossenen WTO-Beitritt Russlands. Nach den Richtlinien der WTO wird die kommende Regierung tiefe Einschnitte in die sozial-politische Souveränität Russlands vorantreiben müssen.
Das betrifft zum einen den russischen Energiemarkt, der nach diesen Vorgaben liberalisiert werden müsste, im Außen- wie auch im Binnenhandel. Für den Außenhandel könnte das zu Russlands Nutzen geschehen, solange die Energiekonzerne, ein wichter Teil der „Elite“, sich in die staatliche Politik einbinden lassen. Im Binnenhandel käme die Aufhebung der Subventionen jedoch einer offenen Katastrophe gleich, da sowohl die Industrie als auch die kommunale Versorgung auf Vorzugspreise für Gas und Öl aufgebaut ist und für den kommunalen Bereich sogar gilt, das erst Zähler installiert werden müssten, bevor die Gaslieferungen und – preise privatisiert werden könnten. Man möge sich vorstellen, was das für ein Land bedeutet, das ein kollektives Verteilungssystem aufgebaut hat.
Angleichungen an die von der WTO geforderten Normen der Deregulierung und Kommerzialisierung der Dienstleistungen haben schon im Vorfeld des WTO-Eintritts in den Jahren 2005 und 2006 zu breitesten Protesten geführt. Die Regierung musste zurückrudern. Der Nachfolger Putins wird in dieses Erbe eintreten müssen. Ob er bremst oder Gas gibt, bleibt sich in einem gleich: er wird es entweder mit Druck aus der Bevölkerung oder von WTO, IWF, Weltbank, EU usw. zu tun bekommen.
Der Umgang mit den aktuellen Protesten lässt befürchten, dass Putin, allen Schmähungen als angeblicher Diktator zum trotz, die Lage nicht im Griff hat und dass die jetzigen Zusammenstöße die Vorboten weiterer Eskalationen sind.

 

Kai Ehlers
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Berliner Erklärung: Pfeifen im Raketenwalde?

Beeindruckend, was da in Berlin am Wochenende von den siebenundzwanzig Mitgliedern der Europäischen Union unterschrieben wurde: „Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir leben heute miteinander, wie es nie zuvor möglich war. Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint.“
Wunderbar! Was für ein großes Wir! Das weckt Erinnerungen und soll es wohl auch. Die Formulierungen erinnern an die deutsch-deutsche Wiedervereinigung, die ja auch eine europäische Wiedervereinigung wurde. „Wir sind das Volk“ hieß es damals, als die Menschen für die Öffnung der DDR demonstrierten. Es war der Wille des DDR-Volkes, der sich in einer gewaltlosen Revolution von unten so artikulierte. Und es entsprach mit Sicherheit auch dem Willen der Mehrheit der Menschen Europas, insbesondere auch der östlichen Länder Europas, dass mit der deutschen auch die europäische Teilung fiel. Aber wer sind „Wir“ heute?
Sind damit die Franzosen gemeint, die vor zwei Jahren den Verfassungsvertrag per Referendum ablehnten? Oder die Niederländer, die das Gleiche taten? Oder ist die polnische Regierung gemeint, die Bedenken gegen den Verfassungsvertrag vorgebracht hatte? Und was ist mit uns „Bürgern und Bürgerinnen“? Wurden wir gefragt? Ich wurde jedenfalls nicht gefragt, ob ich dieser Erklärung zustimmen möchte; ebenso wenig der von mir gewählte Abgeordnete im deutschen Parlament. Das Gleiche gilt für andere nationale Parlamente im Rahmen der EU. Auch das Europäische Parlament in Brüssel hat den Text vor seiner Unterzeichnung nicht zu Gesicht bekommen. Nicht einmal die nationalen Regierungen der siebenundzwanzig Mitgliedsländer waren in die Erarbeitung der Erklärung einbezogen. Anerkennend schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ dazu: „Dass es bei allen Bekenntnissen zu Transparenz und Bürgernähe gelingt ,Diskretion zu wahren, zeigt die Tatsache, dass der gesamte Wortlaut der Berliner Erklärung – in ihrem letzten Entwurf – erst am Freitag bekannt geworden ist.“
In der Tat, „Diskretion“ ist das am klarsten hervorstechende Merkmal im Entstehungsprozess der „Berliner Erklärung“. Die Diskretion steht im umgekehrten Verhältnis zur dem beschworenen Wir. Der Wille des EU-Volkes ist in diese Erklärung nicht eingegangen. Mehr noch, die Beschwörung des großen Wir erscheint wie das Pfeifen im Walde, wenn man bedenkt, wie uneins die Reaktionen aus der EU auf den Vorstoß der US-Amerikaner sind, in Osteuropa und dem Kaukasus Raketen aufstellen zu wollen. Von Einigkeit auch auf Führungsebene keine Spur! Die Ratspräsidenten der EU und deutsche Kanzlerin Angela Merkel warnt vor „Alleingängen“ und will die Amerikaner auf eine Debatte in der NATO verpflichten. Die polnische und die tschechische Republik folgen dagegen mit ihrer Zustimmung zu den US-Plänen ihren eigenen nationalen Interessen, ganz zu schweigen von der seitens der EU auf Abstand gehaltenen Ukraine, die eine Chance sieht, sich wenigstens für die USA unentbehrlich zu machen. Hinzuzufügen ist, dass die Zustimmung zu den US-Plänen von den Bevölkerungen der genannten Länder nicht geteilt wird. Selbst die deutsche Regierung, obwohl zur Zeit mit der Ratspräsidentschaft der EU betraut, zeigt sich uneins: Der deutsche Außenminister, SPD, warnt vor Wettrüsten und Alleingängen; der deutsche Verteidigungsminister, CDU, möchte die EU in die US-Planung einordnen. Kurz, von einheitlicher Strategie kann so wenig die Rede sein wie von der in der „Berliner Erklärung“ beschworenen „Offenheit“. Die Erklärung ist vielmehr der offensichtliche Versuch, die Strategie- und Legitimationskrise der EU-Bürokratie mit populistischen Floskeln zu überspielen. Anders gesagt: An einer Befragung der Einwohnerinnen und Einwohner der europäischen Staaten zu der am Schluss der „Berliner Erklärung“ in Aussicht gestellten Erarbeitung „gemeinsame(r) Grundlagen“, die ja auf nichts anderes als einen erneuten Anlauf zu einer EU-Verfassung hinausläuft, wird wohl kein Weg vorbei führen können.

Kai Ehlers
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Kritische Solidarität in Memoriam Anna Politkowskaja

Zum 20.3.2007 ruft die Peter-Weiß-Stiftung für Kunst und Politik, Berlin unter dem Stichwort zweiter „Jahrestag der politischen Lüge“ zu einer weltweiten Lesung in Memoriam Anna Politkowskaja auf. Rund fünfzig Organisationen folgen dem Aufruf allein in Deutschland, darüber hinaus etliche Dutzend im Ausland. Es sollen Texte aus dem Buch Anna Politkowskajas: „Tschetschenien, die Wahrheit über den Krieg“ verlesen werden. Literaten wie Elfriede Jelinek und andere werden gesonderte Lesungen durchführen. Ziel der Veranstaltungen ist, so die Peter-Weiß-Stiftung, an diesem zweiten „Jahrestag der politischen Lüge“ deutlich zu machen, dass die politische Lüge nach wie vor „zum Instrumentarium bestimmter politischer Formationen“ gehöre und diese Lüge einer weltweiten „Kritik zu unterziehen“.
Der erste „Tag der politischen Lüge“ war von der Stiftung ein Jahr zuvor aus Anlass des dritten Jahrestages des Einmarsches der US-Truppen in den Irak ausgerufen worden. Er wurde mit Lesungen von Eliot Weinbergers „Was ich hörte vom Irak“ ebenso weltweit begangen wie das aktuelle Memoriam zu Anna Politkowskaja jetzt.
Die Peter-Weiß-Stiftung ist eine hochangesehene Adresse. 1988 gegründet, war sie Trägerin des großen Peter-Weiß-Kongresses in Hamburg und einer Thomas Bernhard-Ausstellung in Berlin, Sie ist Trägerin des jährlichen Literaturfestivals in Berlin. Mit ihrer Kampagne zum „Tag der politischenLüge“ hat sie eine Protestwelle in Gang gesetzt, der sich niemand entziehen kann, der oder die es ernst meint mit dem Anspruch auf Entwicklung zivilisierter und demokratischer Umgangsformen zwischen den Völkern und innerhalb der eigenen Gesellschaft. Krieg ist Krieg und wird auch dann keine Friedensaktion, wenn er von einer Weltmacht dazu ernannt wird. Das war die Botschaft des letzten Jahres. Politischer Mord an einer kritischen Journalistin ist Mord und darf nicht als Kollateralschaden des politischen Alltags heruntergespielt werden. Folter ist Folter, ob im Irak oder in Tschetschenien, und unter keinen Umständen zu akzeptieren. Das sind ebenso klare Wahrheiten.
Die Fakten, die hierzu im Vorjahr zum Irak vorgebracht wurden, jetzt zu Tschetschenien, sprechen eine unabweisbare Sprache. Auch wenn die „Rebellen“ in Tschetschenien inzwischen bis auf ca. 200 Kämpfer die Waffen gestreckt haben, auch wenn der umstrittene Miliz-Führer Ramsan Kadyrow von Wladimir Putin kürzlich zum zivilen Präsidenten der tschetschenischen Teilrepublik geadelt wurde, auch wenn der Flugverkehr zwischen Grosny und Moskau jetzt wieder aufgenommen wurde und die UNO entschieden hat, ihr Büro in Grosny wieder zu eröffnen und selbst wenn die aktuellste Konferenz zu Menschenrechten in Tschetschenien Anfang des Jahres 2007 wieder in Grosny statt in London oder Paris durchgeführt werden konnte, so sind doch Not, Elend, Krankheiten und Arbeitslosigkeit nach wie vor Alltag in Tschetschenien. Dazu kommen immer wieder aufflackernde Kämpfe und im Gegenzug Repression, gelegentliche „Säuberungen“, Folter in Gefängnissen und Lagern sowie andere Gräuel. Bedrückende Einzelheiten dazu sind u.a. in dem letzten Bericht der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ nachzulesen. Er beginnt mit den Worten: „Die Menschenrechtssituation hat sich im Lauf des vergangenen Jahres nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich ein Trend aus 2005 fortgesetzt, der Konflikt blieb nicht auf Tschetschenien beschränkt, sondern breitete sich landesweit aus.“ (GfbV, 29.1.2007) Hierauf mit den Lesungen weltweit aufmerksam zu machen und die Zustände im Südkaukasus auf diese Weise in das Licht der Welt-Öffentlichkeit zu stellen, ist ein großes Verdienst dieser Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung.
In der Gleichstellung des US-Einmarsches in den IRAK mit dem Mord an Anna Politkowskaja, die sich aus der Parallelität der vorjährigen und der jetzigen Kampagne der Stiftung ergibt, liegt jedoch auch ein Problem, das ebenso wenig übergangen werden darf. Der Mord an der dezidierten Putin-Kritikerin Anna Politkowskaja wird von vielen, selbst ehrlich empörten und gutwilligen Demokraten, umstandslos der russischen Regierung, dem russischen Geheimdienst oder gar dem russischen Präsidenten persönlich angelastet, obwohl dieser sich, wenn auch ungeschickt und taktlos, eindeutig davon distanziert und rückhaltlose Aufklärung angekündigt hat. Formulierungen wie „Putin Mörder“, „Putin Diktator“, „faschistisches Russland“ konnte man in der Folge des Mordes an Anna Politkowskaja immer häufiger lesen. Es besteht erkennbar die Gefahr, dass ihr Tod politisch instrumentalisiert wird, um daran Ängste vor Russland zu schüren. Dieser Gefahr kann nur mit der Frage: Cui bono? Wer hat den Nutzen? begegnet werden.
Der Einmarsch in den Irak war ein klarer imperialer Akt, auch wenn er jetzt chaotisch endet und sich gegen seine Urheber zu wenden beginnt. Aber was war und was ist der tschetschenische Krieg? Da fällt eine Antwort schon wesentlich schwerer. Sicher ist nur eines: Der Beginn des Krieges war Ausdruck des imperialen Zerfalls der Sowjetunion, der von Jelzin befohlene Einmarsch war keine strategische Offensive, sondern die blinde Reaktion einer taumelnden russischen Führung. Die Folge war ein sich im Selbstlauf eskalierendes Chaos, das Russland von Anfang an geschadet hat. Der tschetschenische Krieg ist der mit falschen Mitteln unternommene und gescheiterte Versuch einer Schadensbegrenzung, nachdem Boris Jelzin 1991 mit den beiden Parolen „Bereichert Euch“ und „Nehmt Euch so viel Souveränität wie ihr könnt“ den zögernden Michail Gorbatschow beiseite geschoben hatte. Jelzin konnte die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen. Stattdessen breitete sich das Chaos des tschetschenischen Krieges zu einem Geschwür der sozialen Desintegration aus, das die russische Gesellschaft bis heute vergiftet.
Dies ist der Hintergrund, vor dem zu fragen ist, wem Anna Politkowskajas Tod nützte. Ganz sicher nützte er nicht der russischen Führung. Sie konnte durch den Mord an dieser im Westen bereits vor ihrem Tod schon fast zur Ikone des Widerstandes gegen Putin gewordenen Anklägerin nur Boden verlieren, politisch wie auch kulturell. Und sie hat ihn verloren, wie die zunehmende Russophobie zeigt. Was diesen Punkt betrifft, sollte man wohl aufhorchen, wenn Michail Gorbatschow und andere keineswegs putin-hörige russische Persönlichkeiten die Putin-Schelte, die in den westlichen Medien nach dem Mord einsetzte, als Kampagne zurückweisen und ihrerseits auf Aufklärung setzen.
Ob und wann dieses gelingt, ist eine andere Frage. Anna Politkowskaja kritisierte ja nicht nur Putin, nicht nur den Terror russischer Soldateska, prorussischer tschetschenischer Milizen, des russischen Geheimdienstes, wildernder anonym agierender russischer Spezialtruppen ebenso wie tschetschenischer Banden, sie kritisierte auch die korrupten Militärs, russische und tschetschenische, skrupellose Oligarchen wie auch verkommene Bürokraten, bei denen die ohnehin geringen Moskauer Aufbaugelder für Tschetschenien versickern. Spuren, die zu ihren Mördern oder gar deren Auftraggebern führen könnten, gibt es daher so viele, wie sie Artikel geschrieben hat.
Anna Politkowskaja kritisierte auch ihre eigenen Landsleute, deren politische Apathie sie verurteilte. Der Westen stand ebenfalls in ihrer Kritik. Sie hielt ihm vor, dass er „die tschetschenische Bevölkerung für Öl und für strategische Interessen“ verkaufe, indem er das Chaos verschweige. Recht hat sie mit beiden Kritiken, denn längst betrachtet die russische Bevölkerung den tschetschenischen Krieg nicht mehr als den ihren. In Bezug auf den Westen muss man ein bisschen deutlicher werden: Schon lange könnte man sehen, wenn man es wollte, dass auf dem Rücken der tschetschenischen Bevölkerung wie auch der angrenzenden Republiken Inguschetien und Dagestan ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Kaukasus ausgetragen wird. Mehr und mehr schließt er auch die inzwischen nicht mehr zu Russland gehörigen kaukasischen Nachbarn, Azerbeidschan, Georgiern bis hin zur Ukraine mit ein. In diesem Krieg fällt Russland die Rolle zu, sich gegen verdeckte Interventionen zu wehren, die geeignet sind seine südliche Flanke zu destabilisieren. Nachweise für diese Interventionen können, nicht anders als zu den Hintergründen des Mordes an Anna Politkowskaja, ebenfalls nur über die Frage: Cui bono? Wem nützt es? geführt werden. Dabei ist die Frage nach dem Nutznießer der Interventionen klarer zu beantworten als die nach denen des Mordes: Eine Destabilisierung des Kaukasus nützt weder Russland, noch den kaukasischen Völkern, sondern allein denen, die hier ihre globalstrategischen Interessen durchsetzen wollen. Dazu lese man noch einmal Sbigniew Brzezinski, „Die einzige Weltmacht“, oder höre sich die Reden aus dem neo-konservativen Lager der gegenwärtigen US-Regierung an. Hier schließt sich der Kreis zur vorjährigen Kampagne der Peter-Weiß-Stiftung, die der Intervention der US-Truppen in den Irak galt.
Wie aktuell die Konfliktlinie im Kaukasus ist, machen die kürzlich erklärten Absichten der USA unmissverständlich klar, Mittelstreckenraketen zunächst in Polen und Tschechien, dann aber auch im Kaukasus aufstellen zu wollen, wo sie angeblich Europa und die USA gegen Angriffe des Iran oder Korea oder sonstiger „Schurkenstaaten“ schützen sollen. Diese Begründung ist so offensichtlich vorgeschoben, dass innerhalb der EU offene Kritik laut wird. Russland kann das nur als einen weiteren Schritt der Einkreisung verstehen. Ein Ende der Unruhen in Tschetschenien und Umgebung ist solange nicht abzusehen, wie diese geopolitische Konfliktlinie aufrechterhalten wird.
Mit Recht prangerte Anna Politkowskaja die Methoden an, mit denen Russland den Krieg führt und wie der Kreml über eine vom Geheimdienst gelenkte Verwaltung Ruhe und Ordnung in der tschetschenischen Teilrepublik herzustellen versucht. Da wird, soweit man erkennen kann, in grober Weise mit Zuckerbrot und Peitsche hantiert, gelenkte Wahlen und eine vom Kreml gestützte Tschetschenisierung der Verwaltung auf der einen Seite, Verweigerung von Personaldokumenten für zurückkehrende Flüchtlinge, Repression für Unangepasste, Strafaktionen gegen den nach wie vor schwelenden Widerstand auf der anderen. Wenn man dies aufzeigt, darf man jedoch auch nicht verschweigen, dass die westlichen Interventionen im kaukasischen Raum einer Entspannung in Tschetschenien und den angrenzenden Republiken direkt entgegenarbeiten. Eine Verteidigung der Menschenrechte, heißt das, die der politischen Lüge so entgegenwirkt, wie es sich die Peter-Weiß-Stiftung von ihrer Kampagne verspricht, beginnt nicht erst in Tschetschenien; sie kann auch nicht auf Kritik an Moskau, konkret seinen jetzigen Präsidenten beschränkt bleiben; sie beginnt dort, wo jeglicher Interventionspolitik, die lokale Bevölkerungen zur Geisel strategischer Interessen macht, im Ursprung entgegengewirkt wird.

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Darin diverse Bücher zu Russland.

US-Raketen auch im Kaukasus: Unter den US-Schirm kriechen oder nicht?

Nach Polen und der tschechischen Republik wollen die USA nun auch den Kaukasus als Basis für die Aufstellung von Mittelstrecken-Raketen nutzen. Einen bestimmten Ort nannte US-Generalleutnant Henry Obering, der diese Absicht in Brüssel Anfang Februar bekanntgab, allerdings nicht. So wie zuvor schon die Anfragen der USA an Polen und die tschechische Republik, so sorgte auch dieser Vorstoß der USA jetzt für Konflikte. Azerbeidschan, Georgien, von den Russen als Adressat der US-Pläne vermutet, dementierten umgehend. Nicht so die Türkei. Ins Spiel gebracht wurde darüber hinaus aber auch die Ukraine, nachdem der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko wenige Tage zuvor erklärt hatte, für die europäische Sicherheit sei eine Raketenabwehr unabdingbar. Jutschtschenkos Gegenspieler, Viktor Januwitsch, erwiderte daraufhin, eine Beteiligung der Ukraine an dem US-Raketen-Abwehr-Schild stehe nicht zur Debatte.
Unberührt von dieser Verwirrung wie auch der Kritik der EU-Partner und der erneuten russischen Proteste, die Einkreisung, Ausspähung und effektive Beeinträchtigung der Sicherheit ihres Landes fürchten, heißt es von Seiten der USA erneut, die Raketen richteten sich nicht gegen Russland, sondern gegen Iran, Korea oder sonstige mögliche „Schurkenstaaten“. Im übrigen handele es sich bei den geplanten Raketen nicht um Offensiv-, sondern um Defensivwaffen. Die Früherkennung diene allein dem Schutz vor atomarer Bedrohung der USA, Europas und, Kooperation vorausgesetzt, sogar Russlands.
Man ist versucht zu lachen angesichts solcher Begründungen, aber leider gibt es überhaupt keine Veranlassung zur Heiterkeit, denn die Aufstellung der Raketen ist allen öffentlichen Beschönigungen zum Trotz alles andere als defensiv. Sie sind vielmehr der aktuelle Ausdruck einer seit dem Ende des Kalten Krieges seitens der USA betriebenen strategischen Umorientierung vom Gleichgewicht des Schreckens durch atomar bestückte Langstreckenraketen auf die Erreichung einer atomaren Erstschlagkapazität durch ein Netz von Mittelstreckenraketen. Die Raketen sollen in einem konventionellen Präventivschlag einen möglichen atomar bewaffneten Gegner so umfassend angreifen, dass er keine Gelegenheit mehr zum Einsatz seiner atomaren Abwehr findet. Folgerichtig bezeichnet der Direktor des Raketenabwehrprogramms der Luftwaffe, US-Oberst Robert Bowman, das Netz der Raketenabwehr als das „Verbindungsglied zum Erstschlag“. So nachzulesen u.a. bei William Engdahl in einem Aufsatz zu Putins Rede vor der NATO-Sicherheitstagung.
Schaut man sich die Lokalisierung der Basen an, die wie ein Ring um Russland gelegt sind, so bedarf es keiner langen Erklärung, gegen wen sie gerichtet sind. Schlag auf Schlag wurden seit Auflösung der Blockkonfrontation die neuen US-Basen implementiert: 1999, nach einer der neuen Lage gewidmeten gewissen Schamfrist, Camp Bondsteel an der Grenze zwischen Kosovo und Macedonien, Einsatzradius mittlerer Osten, Kaspisches Meer, Russland. In den Jahren darauf Stützpunkte in Ungarn, Bosnien, Albanien, Macedonien, später Bulgarien; 2001 in Afghanistan, Einsatzraum neben China, Iran, mittlerer Osten wieder Russland. Die NATO-Erweiterung nach Ost-Europa, in den Kaukasus und nach Zentralasien hinein ist Teil dieser Strategie. Weitere Stützpunkte in Kirgistan, Usbekistan, Pakistan kamen hinzu, unmittelbarer Einsatzraum wieder Russland. Mit Japan wurde 2007 ein Kooperationsvertrag zur Raketen-Abwehr abgeschlossen. Einsatzraum China, aber auch Russland. Japan gilt den USA als Brückenkopf nach Euroasien. Nachdem in Alaska bereits US-Radarstationen von den USA errichtet wurden, die den Norden Russlands ausspähen, fürchten russische Militärs jetzt, dass in Zukunft auch der Süden Russlands ausgespäht werden soll.
Im Zentrum dieses gewaltigen Netzes liegt nicht Korea, nicht der Iran, nicht einmal hauptsächlich China, sondern unübersehbar Russland. Russland ist die einzige Macht, die, gestützt auf ihre atomare Bewaffnung sowie auf ihre potentielle Autarkie als Herzland des rohstoffreichen Eurasiens und allen Schwächen ihrer Transformationskrise zum Trotz dem Weltherrschaftsanspruch der USA bisher nicht untergeordnet ist.
Die aktuellen Vorstöße zur Stationierung von Raketen in Ost-Europa und in der Ukraine wären geeignet den Ring um Russland endgültig zu schließen. Dass sie gerade jetzt bekannt gegeben werden, mag man zum einen der Torschlusspanik der angeschlagenen Bush-Administration zuschreiben, die vor ihrem Ausscheiden noch einmal zu punkten versucht. Aber man täusche sich nicht. Auch über W. George Bush hinaus bleibt die militärische Einkreisung Russlands die zentrale strategische Option der US-Politik. Sie zieht sich von Trumans „Containment“ nach dem zweiten Weltkrieg, über die Kuba-Krise in den 60ern, über Reagans „Reich des Bösen“ und Clintons Entwurf der „Missile defense act“ von 1999 bis zu dem von Bush nach dem 9.11.2001 eröffneten „Krieg gegen den Terror“ als roter Faden durch die US-Politik. Strategen wie Sbigniew Brzezinski oder Henry Kissinger haben als Ziel der US-Politik unmissverständlich die Aufgabe benannt, den Zugriff auf Eurasiens Reichtum an Ressourcen und die globale US-Hegemonie durch Niederhaltung möglicher Konkurrenten, vor allen anderen Russlands langfristig zu sichern. Man muss dafür an dieser Stelle nicht weiter in die Einzelheiten gehen. Der US-Antrag auf Stationierung von Raketen-Abwehr-Stationen an Polen, die tschechische Republik und jetzt die kaukasischen Staaten ist eine eindeutige Aufforderung der USA an die EU wie an diese zwischen EU und Russland liegenden Pufferstaaten, sich dieser Strategie zu unterwerfen.
Entsprechend aufgescheucht reagiert man in der EU, allen voran in Deutschland. Außenminister Steinmeier kritisiert die US-Vorstöße, SPD-Vorsitzender Kurt Beck stellt sich offen gegen die US-Pläne, Frau Künast von den Grünen kritisiert die Bundeskanzlerin, dass sie in ihrer Eigenschaft als Ratsvorsitzende der EU die US-Pläne nicht zurückgewiesen habe. Sogar die FDP fordert Bündnisgespräche, die Russland mit einbeziehen sollen, anstelle von Alleingängen. Der deutsche Verteidigungsminister Franz Josef Jung dagegen möchte am liebsten in den amerikanischen Schirm hineinkriechen.
Die klarste Antwort auf die US-Offensive kam bisher von Russland. Selbst Boris Jeltsin, obwohl in den meisten Fragen wie Wachs in den Händen des Westens, ließ eine atomare Entwaffnung Russlands nicht zu. Putin führt, gestützt auf eine Bevölkerung, die sich vom Westen, insbesondere den USA nicht weiter bevormunden lassen will, seit seinem Amtsantritt 2000 eine Doppelstrategie der Kooperations- und Gesprächsbereitschaft mit NATO, EU und „Antiterror Allianz“ auf der einen und einer Modernisierung der russischen Atomstreitmacht auf der anderen Seite durch. Eine erkennbare Neuorientierung Russland begann mit dem NATO-Einsatz in Jugoslawien 1999. Im Mai 2003, nachdem G.W. Bush den Raketen-Abwehr-Vertrag einseitig gekündigt hatte, in Afghanistan einmarschiert war und Bagdad bombardiert hatte, erklärte Putin dann öffentlich, dass Russland seine atomare Abschreckung so modernisieren müsse, das sie Russland langfristig zu schützen imstande sei. Im Dezember 2006 ergänzte er, die strategische Balance aufrechtzuerhalten, bedeute für Russland, die Fähigkeit zu entwickeln, „jeden beliebigen Gegner zu neutralisieren, gleich welche modern Waffen er besitzen möge.“
Diese Botschaft war unmissverständlich an die Adresse der USA gerichtet. Ihr materieller Ausdruck war unter anderem die Entwicklung eines neuen russischen Raketentyps, Topol-M, der beim Verfolgen der Ziele die Richtung ändern kann. Im Ergebnis konnte Putin auf der NATO-Sicherheitskonferenz am Februar 2007 in Antwort auf die Stationierungs-Offensive der USA in aller Bestimmtheit erklären, Russland werde sich in ein Wettrüsten nicht hineinziehen zu lassen. Es sei technisch in der Lage jeder Bedrohung angemessen, aber asymmetrisch zu begegnen. Stattdessen forderte Putin die USA auf, im Sinne einer Deeskalation weltweiter Konflikte mit den übrigen Weltmächten zu kooperieren und kündigte an, Russland werde eine Initiative zur Beendigung und weltweiten Ächtung der Militarisierung des Weltraumes vorlegen. Europäer wie auch die Länder im Übergangsraum zwischen Russland und der EU sind durch diese Entwicklung aufgefordert sich zu entscheiden, ob sie mit unter den US-Raketenschirm kriechen oder mit Russland, China und anderen neuen Mächten zusammen eine Kraft aufbauen wollen, die den USA Einhalt gebieten können.

Kai Ehlers
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Darin diverse Bücher zu Russland.

Wahlen in Russland: Putin auf der Zielgeraden?

Wieder einmal erweist Wladimir Putin sich als wahrer Meister des asiatischen Kampfsports, der Gegner nicht frontal angeht, sondern, wenn möglich, ins Leere stoßen lässt: Als er bei der jährlichen Pressekonferenz Anfang Februar 2007, an der 1232 Medienvertreter und –vertreterinnen teilnahmen, gefragt wurde, welches sein Wunschkandidat für die kommenden Wahlen in Russland sei, antwortete er, es werde „keinen ausgewählten Nachfolger“ geben, sondern „Kandidaten“. Im Übrigen hätten die Behörden die Aufgabe, für einen demokratischen Charakter der Wahlen zu sorgen. Darüber hinaus, setzte Putin hinzu, werde er sich allerdings seine Rechte als Bürger Russlands nicht nehmen lassen, beizeiten deutlich zu machen, welcher der Kandidaten ihm besonders zusage.
Auf derselben Pressekonferenz bekannte Putin sich zu der Verpflichtung des Staates Journalisten vor Verfolgung zu schützen. Die „Verfolgung von Journalisten, in unserem Land wie auch in anderen“ erklärte er, sei „eines der gravierendsten Probleme und wir erkennen den Grad unserer Verantwortung dafür an.“ Putin erinnerte in diesem Zusammenhang an Frau Politkowskaja, deren Ermordung er verurteilte, sowie den ebenfalls ermordeten Redakteur der Zeitung Forbes, Paul Klebnikow, der zuvor im Zuge einer Recherche nach den reichsten Russen umgebracht worden war. Klebnikow sei für ein demokratisches Russland gestorben, so Putin. Verantwortung für den Tod des Agenten Litwinenko dagegen wies Putin zurück.
Damit hat der russische Präsident allen bisherigen Spekulationen einer von ihm möglicherweise gewollten dritten Amtszeit, einer möglichen autoritären Inthronisierung eines von ihm abhängigen Nachfolgers oder gar der Errichtung einer Geheimdienst-Diktatur und dergleichen vorerst den Boden entzogen und die letzte Runde seiner Amtszeit so eingeleitet, das eine ruhige Machtübergabe möglich wird. Putin braucht die Ruhe, um die von ihm erreichte Restauration des russischen Staates und der russischen Wirtschaft zu stabilisieren; jede Unruhe wäre für Russland in dieser Situation ein Rückfall. Ob diese Ruhe der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen förderlich ist, wie Putin es selbst sieht oder auch sehen machen möchte, ist eine andere Frage, die mit einem einfachen ja oder nein nicht zu beantwortet ist. Konzentrieren wir uns also auf die Tatsachen:
Da wäre zunächst auf die dreifache Staffelung der russischen Wahlen hinzuweisen. Der allgemein für entscheidend gehaltenen Wahl für einen neuen Präsidenten am 2. März 2008 gehen die Wahlen zur Staatsduma am 2. Dezember 2007 voraus. Beiden Wahlgängen vorgelagert sind die Wahlen zu regionalen Selbstverwaltungsorganen und regionalen Parlamenten, die bereits im Verlauf des Jahres 2006 stattfanden. Die Regionalwahlen werden, obwohl weit vorgelagert, als Testlauf und Experimentierfeld für die Dumawahl und diese wiederum als Start für die Wahl des Präsidenten verstanden.
Das offensichtlichste Ergebnis der Regionalwahlen war ein durchgängiger Sieg der Partei „Einiges Russland“, die als sog. Partei der Macht in alle regionalen Parlamente mit Mehrheit einziehen konnte. In einigen Regionen gewann sie sogar die absolute Mehrheit. (27% – 55%) Zweitstärkste Kraft wurden die Kommunisten der KPRF mit Stärken zwischen 9% und 18%. An dritter Stelle folgte die Partei des ewigen Politclowns Wladimir Schirinowski; sie schrammte allerdings vielerorts gerade an den 5%-Hürden entlang. Achtungserfolge erzielte die „Partei der Pensionäre“ in drei Regionen.
Vollkommen außen vor dagegen blieben die sog. liberalen prowestlichen Parteien, Jabloko, Union rechter Kräfte und andere, die weder einzeln noch in Bündnissen miteinander in auch nur eins der Regionalparlamente einziehen konnten. Bemerkenswert ist die geringe Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen. Der Schnitt lag bei 40%, in Kaliningrad 36% waren es, in Nischni Nowgorod sogar nur 32%. Von den Wählern und Wählerinnen, die zur Wahl gingen, kreuzten im Schnitt zudem noch 6% – 9% „Gegen alle“ als ihre Option an. Dazu trug u.a. auch die Tatsache bei, dass verschiedene Parteien wegen „Verstößen gegen wahlrechtliche Bestimmungen“ nicht zur Wahl zugelassen wurden. Solche Ausschlüsse trafen zumeist national-patriotische und „extremistische“ Parteien, die man offenbar zunehmend aus dem Parteienspektrum auszugrenzen bemüht ist.
Unterm Strich zeigen die Regionalwahlen, dass die Spaltung zwischen herrschender sog. Elite und Bevölkerung sich vertieft: Auf der einen Seite stabilisieren, genauer vertikalisieren sich nun auch die politischen Vertretungsorgane unter Vorherrschaft der Partei der Macht, d.h. der politischen Zentrale, nachdem Putin in der ersteh Hälfte seiner Amtszeit zunächst die Verwaltung restauriert und danach die Oligarchen diszipliniert hat. Auf der anderen Seite kehrt sich die Bevölkerung in wachsendem Maße in passivem Protest von der derzeitigen politischen „Elite“ ab, auch wenn – oder auch gerade weil – keine Alternative zu Putins Politik erkennbar ist.
Mit einer ganzen Reihe von Änderungen des Wahlgesetzes versucht die herrschende Administration schon seit den Wahlen 2004, insbesondere aber seit Beendigung der Regionalwahlen in diesen Prozess hineinzuwirken, wobei nicht klar ist, ob sie ihm entgegenarbeiten oder ihn fördern will. Mit dem Argument, die Übergangsperiode sei nun vorbei, wurde zunächst, noch 2004, die Wahl von Direktkandidaten für die kommende Wahl zur Staatsduma abgeschafft; stattdessen werden die Abgeordneten in Zukunft ausschließlich über Parteilisten in die Duma geschickt. Im November 2006 wurde auch die Direktwahl für Regionalchefs beseitigt.
Ebenfalls im November 2006 wurde die Wahl-Variante “Gegen alle“ endgültig gestrichen, gleichzeitig die Hürde für die Wahl einer Partei ins Parlament von 5% auf 7% angehoben. Seit Dezember 2006 gibt es zudem keine Mindestgrenze mehr für die Wahlbeteiligung. Bis dahin waren Regionalwahlen nur dann gültig, wenn mindestens 20% der Wähler sich beteiligt hatten, für die Staatsduma galten 25%, für die Präsidentenwahlen 50% als Mindestgrenze. Beschlossen wurden außerdem Ausschlussgründe gegen Kandidaten und Parteien wegen Extremismus; Personen, die wegen Schwerverbrechen angeklagt wurden, dürfen nicht mehr an den Wahlen teilnehmen.
Neu gefasst wurde auch das Parteiengesetz: Von den 35 im Jahre 2006 offiziell registrierten Parteien sind danach nur noch 19 zugelassen – insofern sie die neuen Kriterien erfüllen, das heißt, über 50.000 Mitglieder oder eine Parteipräsenz von mindesten 500 Mitgliedern in allen Regionen nachweisen können.
Reform und Repression halten sich in diesen neuen Bestimmungen eine unausgeglichene Waage: Die Direktmandate zum Einfallstor der Käuflichkeit in der Duma geworden. Die Vielzahl der Parteien war mehr als verwirrend, insbesondere wenn – wie häufig – die Programme sich kaum voneinander unterschieden. Die Mindestgrenze der Wahlbeteiligung birgt die Gefahr, dass Wahlen durch Boykott ungültig gemacht werden. Ansätze dazu hat es in der kurzen Geschichte der neuen russischen Gesellschaft bereits gegeben. Eine größere Überschaubarkeit und Zuverlässigkeit der Partei- und Parlamentsorgane herzustellen ist daher durchaus ein sinnvolles Anliegen der russischen Wahlplaner: Mehrere der kleineren Parteien sind bereits dazu übergegangen, sich zusammenzuschließen. Einen Versuch ist es auch sicher wert, dem Wildwuchs käuflicher Parlamentarier durch die Bindung an Parteien Grenzen zu setzen. Andererseits geht die Bodenhaftung der Abgeordneten verloren und die Zusammenschlüsse der kleinen Parteien zu größeren werden von den Zulassungsbehörden als Neugründungen betrachtet; die Parteien müssen also das Risiko einer neue Registrierung durchlaufen, wenn sie sich zusammenschließen. Im Endeffekt werden dabei kleinere politische Gruppierungen auf der Strecke bleiben.
Ob dies alles am Ende tatsächlich einer politischen Aktivierung der Bevölkerung dienlich ist, wird sich beweisen müssen. Die Dumawahlen werden durch die neuen Wahlgesetze jedenfalls einschneidend reglementiert. Von den 19 Parteien, die jetzt übrig bleiben, haben nur drei oder vier die Chance über die neue 7% Hürde zu kommen: Einiges Russland, die neu gegründete Partei der Gerechtigkeit, die KPRF und vielleicht Schirinowskis LDPR. Wo sie für den aktuellen Wahlkampf ihre programmatischen Unterschiede setzen werden, ist noch nicht klar. Außenpolitisch wird es um die Stellung Russlands zum Westen und zu Europa, insbesondere auch in der Energiepolitik gehen müssen; innenpolitisch um die Frage, wie man zu der von Putin und der Regierung eingeleiteten „Monetarisierung“ steht, die der beabsichtigte WTO-Beitritt fordert. Da wird man in den nächsten Monaten nach Unterschieden suchen müssen. Die Grundfrage jedoch, an der man Flagge zeigen muss, ist sehr einfach: Für oder gegen eine Kontinuität der von Putin betrieben Politik der autoritären Modernisierung. Die Entscheidung über Russlands weiteren Weg fokussiert sich unter solchen Umständen auf den dritten Wahlgang, die Wahl des zukünftigen Präsidenten. Auch hier heißt die Frage aber eigentlich nur: Fortsetzung der Putinschen Politik oder nicht? An dieser Frage werden sich auch die zukünftigen Kandidaten ausrichten müssen. Putin kann dann zum Ausklang des Wahljahres seinen Zuschlag an den ihm geeignet scheinenden Kandidaten geben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass der so Ausgezeichnete dann zum neuen Präsidenten Russlands gewählt werden wird.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Siehe auch:
„Kai Ehlers, „Aufbruch oder Umbruch. Zwischen alter Macht und neuer Ordnung“, Pforte/Entwürfe

Kalter Krieg oder frischer Wind? Putin vor der Münchner Sicherheitskonferenz

Recht hat er, aber hat er auch die Macht? So könnte man die überwiegende Mehrheit der Reaktionen auf den Auftritt des russischen Präsidenten vor der alljährlichen NATO-„Sicherheitskonferenz“ in München vom 10./11. Februar zusammenfassen, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er sagte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es eine Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft.
Endlich, möchte man sagen!

Schockierend, meinen andere. Dabei sind die Tatsachen, die Putin vortrug nicht unbedingt neu: Die monopolare Welt, die nach dem Kalten Krieg „vorgeschlagen“ worden sei, sei nicht zustande gekommen. Der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein. Amerikanische Werte würden anderen Staaten übergestülpt; die USA hätten ihre Grenzen fast in jeder Hinsicht überschritten: Militärisches Abenteurertum, ausufernde militärische Gewalt und Missachtung des Völkerrechtes hätten die Welt gefährlicher gemacht. Die Politik der USA heize das nukleare Wettrüsten an. Niemand fühle sich mehr sicher.
Neu ist lediglich Russlands kategorischer Protest gegen aktuelle NATO-Pläne, in Polen und Tschechien neue Stationen für ein europäisches Raketenabwehrsystem zu bauen.
Auch die Alternative, die Putin für das von Kanzlerin Merkel in ihrer Eintrittsrede zur Konferenz mehrfach geforderte „Zusammenrücken“, nannte, bei der sie einer weltweit agierenden NATO, der EU und dem atlantischem Bündnis eine „aufbauende“ Rolle zuschrieb, war im Kern nicht neu, nämlich die Einbindung der USA in das Konzept einer multipolaren und kooperativen Weltordnung. Das Gleiche gilt für Putins Feststellung, dass in einer solchen Ordnung nicht eine Macht allein, sondern einzig die Völkergemeinschaft, die UNO, den Einsatz von Gewalt legitimieren könne.
Neu allerdings ist das Selbstbewusstsein, mit dem Russland diese Sicht dem NATO-Bündnis vorträgt. Das mag für viele, die Russland, speziell auch Putins Politik in den Jahren seit Auflösung der Sowjetunion nur als opportunistisches Taumeln zwischen Ost und West, China und Europa usw. gesehen haben, eine überraschende Wendung sein. Tatsächlich ist Russland seit dem Amtsantritt Putins Schritt für Schritt, systematisch und erfolgreich den Weg der Wiederherstellung gegangen. Als Putin im Jahre 2000 antrat, war das Land am tiefsten Punkt seiner Selbstachtung, Zerfall seiner Staatlichkeit und Wirtschaft angekommen. Sieben Jahre Putin haben gereicht, um Russlands Selbstbewusstsein soweit wieder herzustellen, dass das Land seine historische Rolle als integrierender Faktor zwischen Asien und Europa heute in neuer Weise zu übernehmen in der Lage und bereit ist – nämlich als Impulsgeber und stabilisierender Faktor einer kooperativ organisierten Weltordnung zu wirken, die durch die aggressive Hegemonialpolitik der USA zunehmend gefährdet ist. In diesem Sinne ist Russland schon seit längerem eine heimliche Vermittlerrolle zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wird sie vor aller Augen benannt. Was Russland in die Entwicklung einer neuen Weltordnung einbringt, ist seine historische Erfahrung des Vielvölkerpluralismus, an die das heutige Russland anknüpft. Im Austausch und Kooperation mit westlichem Verständnis von Demokratie, können daraus neue Kräfte erwachsen.
Die Rede des russischen Präsidenten schafft keine neuen Tatsachen – sie ist jedoch Ausdruck einer gewandelten Wirklichkeit: Sie zeigt zum einen, dass dem US-Anspruch auf Alleinherrschaft inzwischen Grenzen erwachsen sind. Russland ist nicht mehr der hilflose Spielball westlicher, insbesondere US-amerikanischer Interessen, der es unter Jelzins Präsidentschaft geworden war: Russische Staatlichkeit, russische Wirtschaft, russisches Selbstbewusstsein ist als Ergebnis der autoritären Modernisierung unter Putins Führung wiederhergestellt, ohne dabei im Sowjetverhältnisse zurückzufallen. Seine Energie-Ressourcen geben Russland eine explodierende Finanzkraft. Mit Russland muss wieder gerechnet werden. Eine weitere Ausdehnung der NATO – ohne Rücksprache und ohne Einbeziehung Russlands – wird Moskau nicht hinnehmen.
Neben den beiden alten Supermächten, die sich heute in neuer Weise gegenüberstehen, sind zudem eine Reihe neuer Machtzentren entstanden. Das beginnt mit der EU, die ihre Bündnisoptionen nicht mehr nur atlantisch definiert. Dazu kommen die neuen Mächte China, Indien, Iran und die Entwicklung der südamerikanischen Staaten, die zu gleichgewichtigen Partnern in der globalen Wirtschaft und Politik herangewachsen sind. Sie sind weder klein zu halten noch aus dem Weg zu bomben, sondern müssen als Mitspieler im „global play“ bei Strafe des gemeinsamen Untergangs als Partner auf Augenhöhe akzeptiert werden. Ihre gleichberechtigte Einbeziehung in die WTO, in die G8, aber auch die UN, selbst die Verwandlung der NATO in ein weltweites Militärbündnis ist unvermeidlich, wenn diese Institutionen nicht zu Instrumenten eines neuen kalten, tendenziell gar heißen Krieges der zur Zeit noch herrschenden Industrieländer gegen den Rest der Welt werden sollen.
Das scheinen auch die westlichen Politiker zu verstehen: Der neue Verteidigungsminister der USA, Robert Gates, der bei seinem Amtsantritt die Forderungen nach weiterer Aufrüstung mit der Unberechenbarkeit Russlands und Chinas begründete, erklärte nach der Putin-Rede, ein Kalter Krieg sei genug gewesen und ließ sich vom russischen Verteidigungsminister Iwanow zu Abrüstungsgesprächen nach Moskau einladen.
Der NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zeigte sich zwar „enttäuscht“ von Russland; zugleich will man sich beim nächsten Treffen des NATO-Russland-Rates in Sevilla jedoch darüber verständigen, wie die militärtechnische Zusammenarbeit zwischen Russland und der NATO weiter gefestigt werden könne.
Die deutschen Politiker können Putins Kritik am Alleingang Russlands in ihrer Mehrheit sogar „verstehen“. Kanzlerin Merkel sicherte Präsident Putin nach seiner Rede noch einmal ausdrücklich die deutsche Bereitschaft zum Dialog zu.
All dies macht deutlich, dass Putins Auftritt nicht die Rache eines Beleidigten ist, der „austeilt, nachdem er viel einstecken musste“, nicht als Provokation, auch nicht als Imageaufwertung für den bevorstehenden russischen Wahlkampf zu verstehen ist, wie manche Kommentatoren meinen, obwohl der innenpolitische Zuspruch nicht übersehen werden sollte. Putin fordert vielmehr nicht weniger als den Eintritt in eine neue Runde der internationalen Kooperation, die den neu gewachsenen globalen Kräfteverhältnissen entspricht. Wenn allerdings eine Zeitung wie die deutsche FAZ die zurückhaltenden Reaktionen der USA, der EU, insbesondere aber der deutschen Politiker in die Nähe eines Appeasement und damit Putin in die Nähe Hitlers rückt, dann wird deutlich, wie viel noch für die Verwirklichung einer solchen Perspektive getan werden muss.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Weiteres zum Thema:
Kai Ehlers: „Russland: Aufbruch oder Umbruch?“. Pforte/Entwürfe, 2005
Außerdem: www.kai-ehlers.de