Autor: Kai

Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russ. Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.05

Anfang des Jahres wechselte der russische Präsident die Pferde. Die neuen Leute hießen Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes, jetzt erster stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Die neue Mannschaft ist im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus an.
Die zurückliegende Privatisierung, daran sei erinnert, bestand bereits aus vier, genauer aus fünf Schüben:
1. Der „wilden Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog;
2. der „kleinen Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche begann; sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe;
3. die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994; sie war als Volksprivatisierung deklariert, welche das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte;
4. Die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Akltienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte.
Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Tatsache ist, daß die Privatisierung nicht das Ergebnis brachte, das sie bringen sollte. Jegor Gaidar mußte bereits wenige Monate nach seinem Antritt das Handtuch werfen. Die darüberhinaus durchgeführten Privatisierungsmaßnahmen führten nicht zu der in Ausssicht gestellten Entmonopolisierung, nicht zur Herausbildung des beschworenen freien Marktes konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht zu der erhofften Entlastung des Staatsbudgets.
Im Gegenteil, zum einen bildeten sich neue Monopole heraus. Sie sind wesentlich Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufgeteilt haben. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte.
Zum Zweiten etablierten sich Schattenwirtschaft und Mafia zum stabilisierenden Element und statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen zum einen und von Staatszuwendungen zum anderen abhängiger, sagen wir, Bereich von  Dienstleistungen.
Zum Ditten endete der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen nicht mit deren Ersetzung durch neue staatliche oder wenigstens private leistunsfähige Träger, sondern mit der katastrophalen Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
In dieser Bewertung waren sich auch so gegensätzliche Autoren in ihren Analysen einig wie Werner Gumpel, der „Rußland am Abgrund“ sieht und Roland Götz, der die neue Mannschaft mit Optimismus begrüßte und sich eine „Fortentwicklung der begonnenen Reformen“ wünschte.
Kein Wunder also, daß sich der Reformschub unter solchen bedingungen an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brach, der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten. Mit formaler Umbenennung taten sie der Privatisierung Genüge, im übrigen aber machten sie weiter wie bisher. Hier und dort ging die Verweigerung sogar bis zum Widerstand, das heißt, der bewußten Aufrechterhaltung oder gar Wiederherstellung der geschädigten oder wie Boris Kagarlitzki es nennt, korrumpierten kollektiven Strukturen.
Wenn jetzt die Privatisierung der „natürlichen Monopole“, die Auflösung von „Subventionsgemeinschaften“ und die „endgültige Entmonopolisierung“ in Ausssicht gestellt wird, dann heißt das praktisch nichts anderes, als daß eben jene nach wie vor bestehenden kollektiven Strukturen jetzt endgültig aufgelöst werden sollen. Nichts anderes verbirgt sich letztlich hinter den Privatisierungsabsichten von Konzernen wie „Gasprom“, den Energie-, Wasser- und Baumonopolen.
Nicht Entmonopolisierung steht im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollen die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr und diverse andere Dienstleistungen, die bisher in vielen Fällen noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für diese Art der Privatisierung steht der Name Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer solchen Politik Modellpolitik machte. Würde dies im großen Maßstab umgesetzt, während gleichzeitig die Produktion schrumpft, Löhne, Pensionen und soziale Unterstützungen nicht oder schlecht gezahlt werden, liefe dies auf eine soziale Explosion hinaus.
Mit der russischen Reform verhalte es sich wie mit der Operation eines Patienten, den man mitten in der Operation auf dem Tisch habe liegen lassen, erklärte mir Leonid Gossmann, psychologischer Berater von Tschubajs dazu im April `97 in Moskau. Jetzt komme es darauf an, die Operation schnell und zügig und noch wesentlich konsequenter durchzuführen als Jegor Gaidar es gemacht habe. Man denke auch daran, ihn wieder enger in die Politik einzubeziehen, wenn er wolle.
Im Westen wurde Zustimmung bis Erleichterung signalisiert. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Denver im Juni wurde der Regierungswechsel für Boris Jelzin zur „Eintrittskarte in die G-8“.  Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen lange eingeklagten „grundlegenden  Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Die russische Opposition kündigte Widerstand an. In landesweiten Streiks rief sie zum Protest gegen das neue Privatisierungsprogramm auf, forderte stattdessen eine konsequentere und gerechtere Steuerpolitik und die Einlösung der sozialen und bildungspolitischen Verpflichtungen seitens der Regierung.

Heute ist von Entmonopolisierung, von zweitem „Reformschub“, von endgültiger Transformation uam. nicht mehr die Rede. Die deutschen Wirtschaftsinstitute konstatierten in ihrem Bericht zur Russischen Wirtschaft stattdessen bereits im Mai `97 den Zusammenbruch des Investitionsmarktes.
Die „Nachrichten für den Außenhandel“, zuvor eher hoffnungsvoll, zitierten Anfang September zustimmend den jährlichen Länderreport der Bundesstelle für Außenhandelsinformationen (BfAI). Darin wurde Nullwachstum, weitere Schrumpfung des Bruttoinlandsproduktes und – als beunruhigender neuer Trend – sogar Stagnation der Importe konstatiert, insgesamt also ein düsteres Bild gezeichnet. ,
Um so mehr sind die neuen Geldmagnaten jetzt in den Blick gerückt, die den „Staat gekauft“ haben, die „großen Sieben“ („G-7)“, wie die deutsche Illustrierte „Stern“ sie kürzlich nannte.   „Die Welt“ sprach von einer „Handvoll Finanzclans“, die „das Land als Selbstbedienungsladen mißbraucht“ hätten.
Der neue Reformschub verwirklichte sich bis jetzt nur als „Krieg der Banken“ und in der öffentlichen Übernahme wesentlicher Regierungsposten durch Mitglieder dieser Clans und er endete zunächst einmal mit der Verdrängung eines von Ihnen, des ehemaligen Autohändlers Boris Beresowski, aus dem Kabinett. Die angekündigten neuen Reformen jedoch blieben auf halben Wege stecken. Das geht von der Steuerreform über die Haushaltsreform bis hin zum neuen Erlaß Boris Jelzins zur Verkaufbarkeit von Grund und Boden, die der Präsident damit nun schon zum sechsten Male seit 1991 erfolglos dekretierte.
Der angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus, bzw. verzehrt sich in lokalen, bzw. regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Die kürzlich nach öffentlichem Säbelrasseln zwischen dem Päsidenten und der Duma schnell beigelegte  Haushaltskrise erscheint sogar eher wie ein Gentlemen Agreement zwischen Teilen des Establishments.

Dies alles läßt den Eindruck entstehen, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Wer in diesem Jahr durchs Land fuhr, erlebte eine Bevölkerung, die sich sogar über die bevorstehende Geldreform nicht mehr aufregen kann. Bei Straßenbefragungen, die ich im Spätsommer in Nowosibirsk, Belowo  und Kemerowo (Kusbass) durchführte, überwogen Antworten wie „Drei Nullen mehr oder weniger – wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“ – das ist – neben dem offiziell ausgeübten Beruf – das „kleine Busyness“, die zweite, oft sogar dritte schwarz ausgeführte Arbeit und die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Wenn man also von Normalisierung spricht, was ist dann ihr Inhalt? Die endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie die Regierungsseite behauptet? Der endgültige Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung des Korporativismus, wie Grigori Jawlinski es nennt?
Es ist Zeit, die neu entstandene Wirklichkeit auch strukturell einer bilanzierenden Analyse zu unterziehen.
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich – Zahlen sind schwer zu nennen – zu mehr als der Hälfte als Barter- Tausch und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft bisher nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze wie Öl, Gas, Wald, Buntmetallen und anderem lebt, die im Raubbauverfahren versilbert bzw. in schweizer und andere internationale Obligationen verwandelt werden.
Mafia? Ja, es gibt die kriminellen „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russ. Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen durchdrungen, als wäre das völlig normal. Soziologen und Politologen, Meinungsforscher und Parteifunktionäre, Opposition, sogar Boris Jelzin selbst sprechen heute gleichermaßen und ohne Scheu von krimineller Privatisierung, krimineller Gesellschaft und krimineller Regierung.
Aber die Mafia ist dennoch nicht alles: Es gibt auch legale Strukturen eines neuen Busyness, es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes, es gibt kontrollierte Staatsbetriebe, es gibt regionale kommunale Wirtschaftseinheiten – allerdings arbeiten diese Kräfte nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen  wildem Kapitalismus und Mafia.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika , Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“  nannte. In einem Aufsatz zur Schattenwirtschaft in der Zeischrift „Osteuropa“ erscheint dieser Tatbestand als „bürokratisch-korporatives Clanregime“.
Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus, die russische, die nachsowjetische Variante des Kapitalismus. Basis sind aber nicht etwa Inkonsequenzen der Reformer, wie immer wieder vorgebracht wird, sondern vor allem die – tief in der russischen Geschichte – verwurzelten Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie vielmehr bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurden sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
Einige Ideologen vergleichen den russischen Koporativismus mit dem italienischen zur Zeit Mussolinis oder gar mit den Vollsgemeinschaftstrukturen des deutschen Faschismus. Damit läßt sich die Notwendigkeit weiterer Privatisierungen dringlich begründen; der historischen Wirklichkeit halten diese Vergleiche jedoch nicht stand. Vergleichbar ist die Übertragung vor- und außerindustrieller Gemeinschaftsformen auf die entstehende Industriegesellschaft.
Darüberhinaus ist aber vor allem anderen festzuhalten: Mussolini und noch mehr die Nazis versuchten solche Strukturen künstlich zu schaffen und mit Gewalt zur Volksgemeinschaft zu überhöhen. In Rußland versucht man, genau andersherum, die gegebenen korporativen Strukturen mit Gewalt zu zerschlagen – und dies nicht erst seit Gaidar: Jegor Gaidars Kreuzzug gegen den Kollektivismus war nur der bisher letzte in einer langen Reihe von Alexander II. über Pjotr Stolypin, von Josef Stalin bis heute.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen.
Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Saslawskajas eine Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Die Stichworte für das, was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, lauten vielmehr: Pluralismus der oligarschischen Klüngel statt Markt und Demokratie;  regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen; Wiedererstarken gemeineigentümlicher Wirtschaftselemente.
Ein Beispiel dafür ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die Stadt Moskau ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.     Ein anderes, scheinbar entgegensgesetztes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt.
So wie in Italien, erst recht aber in Deutschland korporative Strukturen seinerzeit nur mit Gewalt zu etablieren waren, so wären sie in Rußland heute – genau umgekehrt – nur mit Gewalt zu zerschlagen.
Anders gesagt: Eine Widerholung historischer Abläufe ist nicht angesagt. Wir haben es mit einer historisch neuen und bisher einmaligen Konstellation zu tun: Nicht gewaltsame Kollektivierungsstrategien des bekannten mussolinischen oder auch NS-Typs sind zu befürchten. Zu fürchten ist vielmehr – paradox, aber wahr – der neuerliche Versuch der Auflösung bereits vorhandener, gewachsener korporativer Strukturen, denn dies könnte nur, das zeigt der erreichte Stand in Rußland, unter Einsatz rohester Gewalt geschehen.

Veröffentlicht in:  „Blätter für deutsche ind internationale Politik

Auszug aus meinem mongolischen Tagebuch

Auszug aus meinem mongolischen Tagebuch

29.August 1997
Heut ist mir aufgefallen, was hinter dem mongolischen Vorhang zum Vorschein kommt – sehr einfach, so einfach, daß ich es vorher schlichtweg übersehen habe: die nomadische Lebensweise selbst und soweit es das westliche Massenbewußtsein betrifft, die Angst der siedelnden Welt vor, und die Sehnsucht nach dieser Lebensweise.
Interessant, was Herr Erdenzogt zur Frage der Allgemeingültigkeit, bzw. Besonderheit des mongolischen (bzw. altazischen) Nomadismus vorbringt: eben die Tatsache, daß die Mongolei von ihren natürlichen Voraussetzungen her ein besonderer Raum ist, der besondere Tierhaltungs- und Bewegungsregeln hervorgebracht hat, die in anderen nomadischen Zivilisationen nicht entwickelt wurden – weder in der arabischen, noch in der afrikanischen, amerikanischen oder australischen Welt – eben jene Besonderheiten der Kontinentalität etc. wie oben aufgezählt.
Ganbold wies noch daraufhin, daß ja auch die amerikanischen Viehzüchter bis heute nomadisieren – allerdings auf einem anderen technischen Niveau.
Insgesamt gehört zur Auseinandersetzung mit der zukünftigen Entwicklung der nomadischen (speziell mongolischen) Gesellschaft unbedingt die Tatsache, daß sich auf Grund der besonderen Voraussetzungen keine Infrastrukur, bzw. nur eine mäßige Infrastruktur (auf dem Lande und spiegelbildlich in der Stadt) herausgebildet hat, konkret: daß keine alte Technik, keine alten Wege und Verbindungen, kaum alte Fabriken die heutige Entwicklung stören. Daraus folgt die einmalige Situation, die nomadische Lebensweise unmittelbar mit neuester, d.h. konkret mobiler elektronischer und ökologischer Technik verbinden zu können – ganz genau besehehen, sogar zu müssen.
Hier verbinden sich die kritischen Anmerkungen des Ornitologen aus dem Biologischen Institut der Universität, der sich gegen die Verwandlung der Mongolei in ein Museum für ausländische ökologiehungrige Touristen wendet, mit den Vorstellungen von der nomadischen Lebensweise als universelle Ökologie zu einer in die Zukunft weisenden möglichen Alternative eines modernisierten Nomadentums.
Nicht die Rückkehr in eine heile vorindustrielle Welt ist angesagt, sondern die bewußte Aufnahme dieses Impulses zu einer einfachen Lebensweise auf höherem technischen Niveau. Klar ist aber, daß dabei die jetzige Form des sich selbst durch ständigen Warenausstoß und die Produktion von künstlich angeheiztem Konsum verwertenden Kapitalismus transformiert werden muß in eine Wirtschaftsform, die nach den vorhandenen Bedürfnissen produziert, statt Bedürfnisse künstlich zu wecken. Das bedeutet, daß diese Entwicklung nur in der Auseinandersetzung mit der jetzigen Form des sich ungesteuert selbst verwertenden Kapitalismus erreicht werden kann.
Wir haben es also mit einer anderen Art der Modernisierung zu tun als der, von der die westliche Welt gegenwärtig spricht, wenn sie sich – in ihrer Wachstumslogik befangen – immer neue Wellen technischer Erneuerung ausdenkt, die nur durch die Folge der Modelle begründet sind, statt durch ihre Eignung für diese nomadisierende Lebensweise.
Kriterium zukünftiger Modernisierung wäre unter solchen Perspektiven nicht das Wachstum, sondern die Eignung der technologischen Erneuerung und sonstigen Produktion für eine Lebensweise, die den Menschen ihre Beweglichkeit wiedergibt…
Hier ist jetzt zu definieren, was Beweglichkeit heißt: Tatsächliche Mobilität, wie sie der heutige Kapitalismus bereits als neues Phänomen spontan hervorbringt, die aber heute noch im Widerspruch zu den gegebenen Strukturen unserer aktuellen Gesellschaften steht? Oder (nur) virtuelle Mobilität, die sich auf der Basis drahtloser Kommunikation entwickelt? Oder eine Verbindung von beiden Elementen?
Das einfache Leben – streßfreier als die jetzige Einbunkerung in den Stau, in dem wir zur Zeit stecken, liegt also nicht hinter uns im Rückgriff auf vorindustrielle Zustände, sondern in der Modernisierung des Nomadentums, anders gesagt in der Anerkennung der spontanen Formen von Mobilität (des Kapitals, der Arbeitskäfte, des Tourismus) als Vorboten einer neuen Lebensweise, die dann aus einer Bedrohung, die sie jetzt zu sein scheint, zu einer gesellschaftlichen Bereicherung führen kann, wenn sie bewußt aufgenommen und von den Zwängen der Selbstverwertungs-Modernisierung befreit wird.
Dies verbindet sich jetzt mit der Thematik meines vierten Buches, nämlich den kooperativen Inseln von Naturalbeziehungen im globalen Netz. Die Beziehungen innerhalb dieser Inseln sind – ganz in dem Verständnis von Nomadentum als universeller Ökologie – im Wesen nomadischer Natur, ein engeres Verhältnis zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Mensch und Mensch.
Hier schließt sich der Kreis zu den traditionellen Formen und Werten der nomadischen Lebensweise.

Kai Ehlers. Publizist,
www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78,
Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482
© Kai Ehlers, Abdruck gegen Honorar,
Kto: 1230/455980, BlZ: 20050550

Das mongolische Tagebuch

Das Tagebuch macht sich daran, den mongolischen Vorhang zu lüften, der die Geschichte der Beziehungen zwischen dem Osten und dem Westen bis heute verdeckt. Unter der Frage, wie das russische Imperium in den Völkerbewegungen des euroasiatischen Raumes entstand und was daraus folgt, nachdem die sowjetische Pyramide sich auflöste, beschreibt, kommentiert und analysiert es Schritt für Schritt den Weg von Rußland in die Mongolei und von dort ins Herz der euroasiatischen Unruhe.

Themenfelder:

  • Das tschuwaschische Epos von „Atil und Krimkilte“
  • Das „Silberne Rad der alten Tschuwaschen“ – Erinnerungen der nicht-russischen Wolgavölker an ihre Kämpfe mit den Mongolen und den Russen.
  • Sibirien und seine unerforschte vorgeschichtliche Kultur
  • Ursprung, Geschichte und Gegenwart der nomadischen Kultur und Zivilisation Zentralasiens, speziell der Mongolen.
  • Die vielen Gesichter der heutigen Mongolei.
  • Ein strategischer Knoten von globaler Bedeutung zwischen China, Rußland und dem hinteren Orient.
  • Impulse für eine ökologische Transformation des Kapitalismus
  • Ansätze für eine nicht-metapysische Naturgeistigkeit, die sich mit dem westlichen naturwissenschaftlichen Weltbild zu einem neuen Verständnis über Ort des Menschen im Kosmos verbinden kann.

Ich beabsichtige die Veröffentlichung der Reiseskizzen als Buch.Teile können schon jetzt ihren Dienst tun.

Sie leben nicht vom Lohn allein Aufriß der politisch-sozialen Lage Rußland im Frühssommer 1997

Vortext:
Rußland ist wieder in die Schlagzeilen gekommen. Millionen Menschen demonstrierten in der ersten Hälfte dieses Jahres für die Auszahlung ausstehender Löhne und für die Erhaltung sozialer Leistungen. Präsident Boris Jelzin berief neue Leute in die Regierung. Sie sollen die Reformen beschleunigen. Steht Rußland vor einer Zeit sozialer Unruhen?

O- Ton 1: Gesang in der Metro            (1,10)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach dem zweiten Absatz noch mal hochziehen, danach allmählich abblenden.

Erzähler:
Moskau, April `97, Stadt im Glanz. Das Netz der Metro hat sich zum Zentrum quirlenden Lebens entwickelt. In den Unterführungen jeder der über 150 Metrostationen drängen sich die Menschen an überfüllten Kiosken. Auf den Straßen setzt sich das Bild fort: neue Imbißbuden, Restaurants, Cafés laden zum Verweilen; Fassaden und Auslagen neueröffneter Ladenketten glitzern. Die Preise sind hoch, sie liegen auf westlichem Nivau. Aber die Menschen kaufen. Die Zeiten der leeren Auslagen in den Geschäften scheinen endgültig vorbei. Rundum wird gebaut, geputzt, renoviert. Und dies alles nicht mehr nur in der Innenstadt. Kaum zu glauben, daß noch vor wenigen Wochen Millionen Menschen im ganzen Lande dagegen protestierten, unter das Existenzminimum gedrückt zu werden. Staunend vernimmt man das allgemeine Lob für Bürgermeister Juri Lyschkow. Er beweise, heißt es, daß man in Rußland heute etwas erreichen könne – wenn man nur wolle. Staunend hört man auch, wie die Demonstrationen in den Regierungsetagen beurteilt werden.

Regie: Musik kurz hochziehen, danach allmählich abblenden

Erzähler:
Leonid Gossmann ist psychologischer Berater des nach den Protesten neu zum Ministerpräsidenten ernannten Anatoli Tschubajs. Er arbeitet in einem supermodernen Repräsentativbau, der halb von der Regierung, halb vom „Busyness“ genutzt wird. Auf die Frage, welche Bedeutung die Regierung den Demonstrationen beimesse, erklärt er im Brustton dessen, der offizielle Wahrheiten mitzuteilen hat:

O-Ton 2: Leonid Gossmann, Berater von Tschubajs    (0,16)
Regie: kurz stehen lassen, langsam abblenden

Übersetzer:
Oh, wi snaetje glja prawitesltwo, eta….
„Ach, wissen Sie, für die Regierung bedeutet das meines Wissen herzlich wenig, ehrlich gesagt. Nun, der Präsident meinte, das sei ein Signal, das muß er ja sagen; damit bringt er seine Wertschätzung dieses Problems zum Ausdruck. Tatsächlich war das Niveau der Proteste verblüffend niedriger als von den Organisatoren vorausgesagt.“

Erzähler:
Gefahren vermag Leonid Gossman in der neuen Situation nicht zu erkennen. Die Organisatoren der zurückliegenden Demonstrationen, die Gewerkschaften, sind für den Psychologen vom Dienst „schon organisch“ nicht in der Lage, irgendwelche revolutionären Aktivitäten zu organisieren, sie sind für ihn nicht mehr als als „genetische Zustimmer, Claqeure, Feiglinge, Bestochene und Diebe“. Auf die Frage, welche Konsequenzen die Regierung aus den Protesten zu ziehen gedenke, antwortet er:

O-Ton 3: Gossmann, Forts.                1,25
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:
„Nu, tje ludi, kotorie swasiwajetsja…
„Nun, die Leute, die mit dem liberalen Flügel um Ministerpräsident Tschubaijs, auch Gaidar zu tun haben, sind überzeugt davon, daß die Reformen nicht nur fortgesetzt, sondern beschleunigt werden müssen. Es ist ja alles viel zu langsam gelaufen. Das Land kam in die Situation, wie soll ich sagen, eines Kranken, bei dem die Opreration begonnen, aber nicht ausgeführt wurde. Das ist schlimmer, als wenn man nicht begonnen hätte. Deshalb muß man vollenden, was begonnen wurde. Das ist die allgemeine ideologische Priorität; was die wirtschaftlichen Dinge betrifft, so geht es darum, das auszuführen, was 1992 hätte ausgeführt werden müssen: die Strukturelle Perestroika.“

Erzähler:
Staatliche Förderung profitabler Unternehmen, Schließung unrentabler Betriebe, schroffe Sparpolitik im sozialen Bereich lautet das Programm, das Leoniod Gossmann jetzt als neue Regierungslinie skizziert. In einem Rückgriff auf das Gaidarsche Schockprogramm von 1992 sollen die nach wie vor bestehenden sozialen Verbindlichkeiten der großen Staatsbetriebe aufgelöst werden: Wohnungen, Strom, Gas, Wasser, Dienstleistungen und andere Vergütungen, die von der Mehrheit der Menschen immer noch ganz oder fast unentgeltlich direkt über die Betriebe bezogen werden, sollen in bezahlte Dienstleistungen umgewandelt und die Preise dafür freigegeben werden wie seinerzeit die Preise der Industrieprodukte. Der „Internationale Währungsfond“ fordert diesen Schritt schon lange von Boris Jelzin, wenn er weiter in den Genuß westlicher Kredite kommen wolle. Der Öffentlichkeit präsentiert die Regierung ihr Vorhaben als Offensive zur lange überfälligen Auflösung der „natürlichen Monopole“, die die Gesellschaft im Würgegriff hätten und mit ihren alten Strukturen den Reformen entgegenstünden. Zu diesen Monopolen zählen zum Beispiel „GAS-PROM“, die Hausmacht Ministerpräsident Tschenomyrdins im Erdöl und Ergassektor, aber auch der Elektroenergiekonzern, die Wasserwerke, das Bauwesen, die Bahn und noch einige andere dieser Art.

O-Ton 4: TV, Musik, Ansage            (0,28)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Die Medien machen sich zum Sprecher der neuen Reformoffensive. Unisono präsentieren sie Boris Nemzow als Hoffnungsträger des Jahres, der seine in Nischninowgorod mit dieser Art von Privatisierung gewonnenen Erfahrungen nun auf das ganze Land übertragen soll. Nur so könne die Haushaltskrise überwunden, nur so könnten Löhne in Staatsbetrieben wieder bezahlt, könnten die sozialen Verpflichtungen des Staates eingelöst, die Armee befriedet, eine Arbeitslosenversicherung aufgebaut werden usw.
Die  Schulden von „Gas-Prom“ gegenüber dem Staat, kann Boris Nemzow im Fernsehen behaupten, seien höher als alle Schulden des Staates gegen Lehrer, Kindergärten etc. zusammen. Dann fährt er fort:

O-Ton 5:. Boris Nemzow im TV            (o,25)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Maja sadatscha stoit v schtom to,…
„Meine Aufgabe ist es, Schluß damit zu machen, daß diese großen Monopole das Land regieren. Mich wundert deshalb, wie die Frage von Gas-Prom in der Duma behandelt wurde…

Erzähler:
In der Statsduma, dem Parlament, war Widerspruch gegen die sozialen Folgen der geplanten neuen Privatisierungswelle laut geworden. Mit Boris Nemzows Angriff auf die Duma werden diejenigen gleich vorsorglich eingeführt, die man später als Schuldige belasten kann, wenn auch diese Offensive wieder nur zur einer Verschärfung der Krise führen sollte. Die Bevölkerung ist allerdings nicht mehr so leicht zu gewinnen. Zu viel wurde schon versprochen und nicht gehalten. Babuschka, die Rentnerin, die den Auftritt Boris Nemzows von ihrem Invalidenlager aus am Fernsehschirm verfolgt hat, traut weder dem neuen Kabibett noch dessen Gegenspielern in der staatlichen Duma.

O-Ton 6, Musik, Babuschka            (1,05)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
(stockend) „Keiner von denen, die da rummachen, kümmert sich um den Staat. Sie sind für niemanden nutze. Für niemand! Das sind Leute, die nichts tun, nichts schaffen, außer für die eigene Tasche. Sie reden nur; jeder hat nur seine eigene Sache im Sinn. Aber für unseren Staat ist es jetzt nötig, daß das Leben wieder in Ordnung gebracht wird.“

Erzähler:
360.000 Rubel bekommt die alte Frau im Monat. Das sind ca. 60 Dollar. Die werden immerhin bezahlt. „Hier in Moskau ist es besser“, erklärt Babuschka ihrem erstaunten Logiergast, „hier kriegen wir unser Geld.“ Aber ihre Tochter, die nicht in Moskau lebt, hat seit Monaten keinen Lohn mehr ausbezahlt bekommen. Ihr Sohn ist arbeitslos. Beide leben von der Pension ihrer Mutter. So ist es auch in anderen Familien. Verkehrte Welt, die Jungen leben von den alten, das Land von der Stadt. Mit zehn Dollar pro Nacht ist der ausländische Gast für diesen Monat und vielleicht noch für den nächsten die Überlebensquelle für diese Familie. Solche Tatsachen lassen sich durch Fernsehreden allein nicht verdrängen. „Die Worte der Politiker sind nur Kleingeld“, meint Babuschka.
… eto melotsch

Erzähler:
Aber nicht nicht nur Babuschka ist skeptisch. Staunend kann man vernehmen, daß das Stichwort von der „kriminellen Privatisierung“, das früher vor allem von Konservativen benutzt wurde, in der russischen Hauptsstadt inzwischen so zum Alltag gehört wie die Frage nach dem Befinden oder die nach dem Wetter. Jefim Berschin und sein Freund Kyrill Swetitschki, beide Redakteure der früher angesehenen, heute zu konservativen Positionen neigenden Zeitschrift, „Literaturnaja Gaseta“, gehören schon seit Jahren zu denen, die Ausverkauf und Kriminalisierung der Gesellschaft beklagen. Heute konstatieren sie nur noch sarkastisch:

O-Ton 7: Jefim Berschin, Kyrill Swetitschki, Redakteure      (1,07)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, am Ende hochziehen

Übersetzer:
„To est, perwi moment kaschdi…“
Anfangs, als alles anfing, da wurde jeden Tag geschossen, jeden Tag getötet, irgendjemand aufgehängt usw. Es ging um die Aufteilung der Einflußsphären. Jetzt ist das schon nicht mehr so, nur noch, wenn sich mal einer nicht unterordnen will. Im Kern werden die Dinge nicht mehr mit Pistolen entschieden. Die Mafiosi treffen sich auf dem Niveau der großen Leute im Restaurant, sie greifen zu einer guten Flasche und sprechen sich ab. Das bedeutet, die Mafia ist heute schon so sehr mit der Macht verflochten, sie stützt so sehr die gegenwärtige Ordnung, daß sie schon nicht mehr auf der Straße agieren muß. Die Polizei achtet nur noch darauf, die Mafia von der Straße zu holen, damit sie da nicht die Leute belästigen und die Menschen ihren Alltag ruhig leben können. Das ist für die Leute gut und für die Mafia ist es auch gut. Wenn man dir also sagt, daß du hier nicht auf die Straße gehen kannst, dann ist das Unsinn. Die Mafia braucht die Straße schon nicht mehr. “
… eta nje prawda

Erzähler:
Die reformorientierte Linke ist dazu übergegangen, öffentlich Alternativen zur „kriminellen Privatisierung“ zu thematisieren. Zu einem Vortrag über „Alternativen zur kriminellen Privatisierung“ im Haus der Wissenschaftler finden sich gut vierhundert Menschen ein. Vortragender ist Professor Sarasow, ein Wirtschaftswissenschaftler, der sich dem sozialdemokratischem Spektrum zurechnet. Dazu gehören auch Vereinigungen wie die „Stiftung Gorbatschow“ und ähnliche Kräfte, die sich weder der kommunistischen Linken noch den Radikalreformern verbunden fühlen. Viele von ihnen sind enttäuschte Reformer. Der Professor beginnt seinen Vortrag mit dem Hinweis, daß in der Geschichte bekanntlich nicht immer alles so komme wie geplant. So bei den Bolschewiki, die den Sozialismus wollten und den Stalinismus ernteten:

O-Ton 8: Professor Sarasow im Haus der Wissenschaftler    (1,14)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Beifall am Ende hochziehen, danach abblenden

Übersetzer:
Tosche samije tjeper…
„Dasselbe heute: Am Anfang der demokratischen Umwälzungen dachten wir, daß wir Markt und Demokratie aufbauen, eine effektivere Wirtschaft als die des Planes. Tatsächlich kam es ganz anders: die jetzige Wirtschaft ist weniger effektiv als die Planwirtschaft. Der Umfang der Waren, die die Bevölkerung erhält, sank um das Zweifache. Was muß man mehr sagen? Ja, wir forderten die freie Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie. Ja, wir forderten das private Unternehmertum! Aber wir forderten nicht den Zerfall des Staates und wir forderten nicht die Übergabe des Eigentums an die nomenklaturische Mafia. Aber genau so ist es gekommen. Und jetzt muß man begreifen: Von den anfänglichen Zielen sind wir heute weiter entfernt als vor fünf Jahren. Und wir sehen, daß wir nicht dahin gehen, wohin wir wollten. Darüber werde ich sprechen.
…letzte Worte, Beifall

Erzähler:
Die Alternative, die der Professor vorträgt, lautet „Renationalisierung“. Unmißverständlich fordert er eine Wiederverstaatlichung der Wirtschaft, und zwar je eher, desto besser. Durch den Zusammenschluß von unten müsse dem Raub von oben entgegengetreten werden. Das, erklärt er, sei der einzige Weg, um dem volkommenen wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch entgegenzuarbeiten, den die Regierung jetzt auch noch zu beschleunigen drohe. Das Auditorium debattiert mehrere Stunden. Fragen und Ergänzungen gibt es viel, Widerspruch kaum.
In den offiziellen Kreisen der wissenschaftlichen Analytik ist es nicht sehr viel anders. Typisch für die Zerrissenheit, in die die reformwilligen Intellektuellen Rußlands heute gekommen sind, ist Tatjana Saslawskaja. Als Kopf der sogenannten Nowosibirsker Schule war sie einst Vordenkerin der Perestroika. Heute ist als die Große alte Dame der neuen russischen Sozialwissenschaften Co-Rektorin am „Internationalen Zentrum für Sozialwissenschaften“, das Strategien für die Regierung ausarbeitet, und Leitererin der „Moskauer Hochschule für Sozialwissenschaften“. Sie ist also eine Person, die wissen sollte, wohin das Schiff steuert. Direkt befragt, was sie von den Ansichten Professor Samarows halte, beklagt auch sie die kriminelle Privatisierung, dazu die allgemeine Kriminalisierung der Gesellschaft, und, was das Schlimmste sei, die „kriminelle Macht“. Dies ist für sie das erschreckendste Ergebnis der Perestroika. Aber was tun? In der Antwort darauf entwischt ihr ein Eingeständnis, das sie zugleich wieder zurückzuholen versucht:

O-Ton 9: Tatjana Saslawskaja            (0,47)
Regie: kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzerin:
„Renationalisazia…
„Was die Renationalisierung betrifft: Ehrlich gesagt, mit dem Herzen würde ich sie begrüßen! Denn wirklich haben Banmditen das Gemeineigentum an sich gerissen! Aber mir scheint, sie ist nicht real. Erstens befindet sich ein großer Teil des Eigentums bereits im Ausland. Zweitens ist nicht bekannt, bei wem welche Gelder liegen und von wem man es zurückholen müßte. Entscheidend aber ist, daß dadurch ein Bürgerkrieg entstehen könnte. Die Clans würden sich gegenseitig bekämpfen. Wessen Gesetze sollten da gelten? Das läuft nur auf einen Kampf der einen kriminellen Struktur gegen die andere hinaus. Das ist einfach hoffnungslos.“
…prosta besnadjoschno.

Erzähler:
Das Herz schlägt für den sozialistischen Weg, der Kopf diktiert den marktwirtschaftlichen; die Wirklichkeit wiederum ist eine unberechenbare Gesellschaft, in der alles möglich ist. Der einzige Ausweg, den Rußlands bekannteste wissenschaftliche Vorkämpferin der Perestroika aus dem Dilemma sieht, lautet: Bloß nicht an das labile Gleichgewicht rühren! Andere sehen genau in diesem Gleichgewicht Rußlands Chance. Als pluralistische Balance unterschiedlicher Oligarchien, zwischen denen der Präsident des Landes lavieren könne, beschreibt Dimitri Diskin, ein jüngerer Wissenschaftler, das von Frau Saslawskaja beklagte Dilemma. Diskin ist am  „Institut für Volkswirtschaft“ als Spezialist für Fragen der Transformation und für die Entwicklung von Eliten tätig. Er stimmt der allgemeinen Charakterisierung der aktuellen russischen Verhältnise als krimineller zu. Ihm geht es aber um mehr. Um zu verstehen, was heute in Rußland vor sich gehe, reiche es nicht, nur von Markt zu sprechen. Diskin fordert dazu auf, tiefer in die historisch gewachsene Sozialstruktur Rußlands hineinschaun. Sie bringe ganz eigene Entwicklungen hervor. Ob Rußland sich auf dem Wege zum Kapitalismus befinde?

O-Ton 10: Dimitri Diskin, Transofrmationswissenschaftler        (1,05)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Was aber noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende. Geld im Kriegsgeschäft war wichtig, um Aufträge zu bekommen. Geld in der Leichtindustrie war etwas völlig anderes. Geld in der Hand des Volkes war noch etwas anderes. Bargeld war wieder etwas anderes. Viele verschiedene Gelder gab es. Auch heute gibt es in der Wirtschaft ganz unterschiedliche Gelder: Geld, das dir zum Beispiel von Budget aus zusteht, ist kein Geld, bevor es nicht bei dir angekommen ist. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird usw., dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt.“

Erzähler: Auch heute, so Diskin, lebe man in Rußland nicht vom Geld allein. Man fahre fort mit dem Austausch von Dienstleistungen, von Naturalprodukten; mit Bartergeschäften; man lebe von Gärten und Höfen. In dieser Tatsache sieht Diskin den Grund für eine soziale Stabilität, die auch durch die aktuelle Krise, die wesentlich eine Geldkrise sei, nicht zu erschüttern sei. Im Gegenteil, nach der Wahl 1996 hat sich der Einschätzung Dimitri Diskins folgend gerade auf Basis der Tatsache, daß die Menschen nach wie vor nicht vom Geld allein leben, soetwas wie eine politische Stabilität hergestellt:

O-Ton 11: Diskin 2Forts.                 (1,03)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Prinzipalno waschno, schto…:
„Es ist von prinzipieller Wichtigkeit, daß sich nach den Wahlen die politischen Konstruktion der russischen Föderation geändert hat. Früher waren die Gouverneure ernannt, jetzt sind sie gewählt. In diesem Sinne ist die staatliche Organisation demokratischer geworden. Zweitens hat sich der politische Status der kommunistischen Partei in entscheidendem Maße geändert. Sie hat die Verfassung anerkannt, sie führt den Dialog mit der Regierung, sie stimmte dem Budget zu, sie ist Stütze der regionalen Bürokratien, sie dient jungen Oppositionellen als Karriereleiter. Wenn sie vorher eine totale Oppositionspartei war, so ist sie jetzt ein Teil des Establishments.“
…tschast establischmenta.“

Erzähler:
Im „Zentralen Institut für Meinungsforschung“ wird aus Stabilität sogar Normalität. Nicht ohne allerdings ebenfalls einen Ausflug über die Kriminalität gemacht zu haben, faßt Professor Juri Levada, der Leiter des Instituts die politischen Lage nach den Demonstrationen zu einem gänzlich undramatischen, fast melancholischen Bild zusammen:

O-Ton 12: Juri Lewada                (1,08)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, nitschewo ossobije nje bilo…:
„Es war nichts Besonderes. Es gab Artikel, Aufzeichnungen, verschiedene Berichte darüber. Aber die Regierung ängstigte sich. Sie schüchterte die Leute ein und das auf sehr unkluge Weise, finde ich, indem sie polizeiliche Macht demonstrierte. Es kam zwar nicht zu Einsätzen, aber es war nicht nötig einzuschüchtern. Es ist doch so, daß unsere Opposition keinerlei Verbindungen mit der Massenbewegung hat. Unsere Kommunisten sind nicht mit den Gewerkschaften verbunden und unsere Gewerkschaften sind generell folgsam. Sie beschränken sich auf kleine Forderungen, reine Mildtätigkeiten, genau besehen. Und die Leute glaubten im Vorfeld nicht, daß diese Aktivitäten irgendeinen Sinn haben könnten. Deshalb haben nur wenige Leute teilgenommen, ohne irgendwelche Schärfen. Es zeigte sich einfach eine allgemeine Hilflosigkeit – der Macht, der Opposition und des Volkes.“
… oppositii i naroda.“

Erzähler:
Dem neuen Anlauf der erneuerten Regierung gibt Prof. Lewada, obwohl er gern möchte, keine Chance, ebensowenig den polternden Schimpfkannonaden des Präsidenten, der mit lauten Worten verurteilt, was Ergebnis seiner eigenen Politik ist: ein gesellschaftliches Klima, in der nur noch der eigene Vorteil zählt. Der Professort hofft allein auf einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung, der es der Regierung erlauben könnte, wenigstens die gegebene Balance für eine Zeit aufrechthalten. Wie lange? Dazu will er keine Prognose wagen.

O-Ton 13: Metro                 (020)
Regie: allmählich während der letzten Worte kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler: Im Gewerkschaftsbüro gegenüber dem „Weißen Haus“ will man von Hilflosigkeit nichts hören. Auf die Frage, ob sie die Demonstrationen als Erfolg betrachten, antwortet Michail Nagaitzew, Vorsitzender der „freien Gewerkschaften Moskaus“:

O-Ton 14: Michail Nagaitzew, Gewerkschafter    (0,37)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Ja, dumaju da…
„Ich denke ja. Die Gewerkschaften haben einfach eine neue Qualität erreicht. Wenn du bedenkst, daß man früher im Fernsehen überhaupt nichts gezeigt hat, so wurde über diese Aktion in Rußland ebenso wie im Ausland überall sehr gut berichtet. Unsere Losung war: Eine Neue Regierung – und wir haben eine neue Regierung! Schmackow, unser Vorsitzender, wurde nach den Aktionen vom 25. März zum Beispiel von der Internationalen Bank für Wiederaufbau und vom Internationalen Währungsfonds zu einem Vortrag über die sozial-ökonomische Situation in Rußland eingeladen.“

Erzähler: Einen korrumpierten Kapitalismus mit kriminellen Strukturen habe Rußland erhalten. Das findet auch Michail Nagaitzew. Etwas Katastrophales kann er darin aber nicht sehen:

O-Ton 15: Nagaitzew, Forts.            (0,54)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja i profsojus…
„Ich selbst und auch die Gewerkschaft, wir denken nicht, daß die Situation katastrophal ist. So denkt Szuganow, das meinte auch Goworuchin mit seinem Film `So kann man nicht leben.´ Aber Goworuchin sagte das unter der sowjetischen Macht. Da war es in der Tat unmöglich so so leben. Heute denke ich absolut nicht, daß die Situation katastrophal ist. Nach den Demonstrationen im März haben alle gesehen, unter anderem in Deutschland, auf allen Radiostationen überall in der Welt, was hier in Rußland vor sich geht. Eine Woche danach fand in Moskau eine Konferenz statt, wo die Frage der sozialen Partnerschaft erörtert wurde. Wir, die Moskauer Föderation, alle Chefs der Administration der Kreise und der umgebenden Republik und sowie die Arbeitgeber versammelten sich. Zwei Tage beratschlagten wir über die Situation. Auf Demonstrationen kannst du ja nichts entscheiden. Wir haben schon im vorigen Jahr eine solche Sozialpartnerschaft vereinbart. Ich denke, daß das ziemlich seriös ist. Der Grundgedanke, mit dem wir in die Verhandlung gehen, lautet: Für sozialen Frieden, muß man bezahlen!“
…nuschno platits.“

Erzähler: Die Arbeitgeber selbstverständlich, konkretisiert Michail Nagaitzew. Was er darunter versteht, wird in der Position deutlich, die er zur Privatisierung bezieht:

O-Ton 16: Nagaitzew, Forts.            (1,00)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, danach abblenden, unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Für mich ist Privatisierung zum Schimpfwort geworden. Ich denke, das ist unsere offizielle Position, daß wir – die Gewerkschaft – das Recht auf Reproduktion der Arbeitskraft privatisieren sollten. Das ist es, womit ich mich jeden Tag befasse.“

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler: Unter der sowjetischen Macht, erklärt Michail Nagaitzew, erhielten die Arbeiter 19/20% Lohn vom Mehrwert, mit der kostenlosen sozialen Versorgung kletterte der Anteil auf 30 bis 35%. Heute ist das Niveau des ausgezahlten Anteils am Mehrwert erhalten geblieben, aber der Staat hat sich aus seinen sozialen Verpflichtungen herausgezogen. Wörtlich fährt Nagaitzew fort:

Übersetzer: „Deshalb sagen wir dem Staat jetzt: Wir sind bereit, euch von dem Problem zu entlasten. Aber dann gebt den Leuten, wenn sie zum Beispiel eine Million Rubel verdienen, noch eine Million drauf, damit sie nicht auf der Straße stehen und demonstrieren; die können wir selbst austeilen, Fonds einrichten für Rente, für Arbeitslosenhilfe, für Versicherung usw. – aber ihr laßt die Finger von den Fonds!“
… i ni troga eti fondi.

Erzähler:
So wie Moskau insgesamt, so glänzt der Sekretär der Moskauer freien Gewerkschaften mit Zahlen über Moskaus niedrigen Arbeitslosenstand, über die hohe Zahl mittlerer Betriebe, über die nach wie vor in Betrieb befindlichen Kindergärten usw. Radikalen Forderungen von Gennadi Szuganow, dem Chef der KP Rußlands und Alexander Lebed, dem bekannten Ordnungspolitiker durch die Organisation der Proteste das politische Wasser abgegraben zu haben, erfüllt ihn mit besonderer Befriedigung.
Was aber passiert, wenn die Sozialpartnerschaft nicht funktioniert und wenn man über die Grenzen Moskaus hinausschaut, das beschreibt Andre Kolganow. Er ist Professor für Wirtschaft an der Moskkauer Universität, war lange Zeit führendes Mitglied der gewerkschaftsoppositionellen „Partei der Arbeit“ und als Ratgeber in den „freien Gewerkschaften“ tätig. Heute ist er deren imtimster Kritiker.
Auch Prof. Kolganow hält das heutige russische Wirtschaftssystem nicht für Kapitalismus, auch er hebt die Tatsache hervor, daß man in Rußland nicht vom Lohn allein lebe, sondern von naturalen und sozialen Bezügen, die die Betriebe tragen. Dann aber hält er es für nötig einzuschränken:

O-Ton 17: Prof. Kolganow                (1,05)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Seitschas paschlui usche…:
„Jetzt ist das leider fast nicht mehr so. Schon 1992 und 1993 befanden sich viele Unternehmen in einer schwierigen finanziellen Lage. Sie schafften es aber immer noch, Wohnungen für ihre Arbeiter zu bauen, Kindern zu niedrigen Preisen Sommerurlaub zu ermöglichen usw. Inzwischen gibt es diese Möglichkeiten kaum noch. Wenn es keinen Lohn gibt, dann heißt das heute, es gibt gar nichts. Moskau ist eine Ausnahme, Hierhin  fließen 80% des Budgets. Hier wird gezahlt. Hier will man keine Unruhe. Insgesamt haben wir jetzt aber Erscheinungen, die denen des Kriegskommunismus während des Bürgerkriegs sehr vergleichbar sind, also wie 1918, 1919, 1920, als man den Arbeitern die Produkte gab, die ihr Betrieb herstellte. Eine Fabrik, die Geschirr herstellt, bezahlt mit Geschirr. Die Arbeiter müssen das Geschirrr verkaufen, um Geld für ihre Existenz zu erhalten. Das ist vor allem in den Regionen und den kleineren Städten so. Das kannst du sogar auf den wilden Märkten Moskaus beobachten, wo sie Geschirr verkaufen oder sonst irgendetwas, was bei ihnen gerade produziert wird.“.
…ilu eschtscho schto to.

Erzähler:
Seit Jahren gehe das nun schon so, räumt er ein, jetzt aber komme eine qualitative Grenze in Sicht: Die Privatisierung, die jetzt noch mal angeschoben werden solle, werde am Widerstand der Monopole scheitern, bestensfalls den Zerfall und die individuelle Bereicherung beschleunigen, keinesfalls aber Geld für Investitionen freisetzen. Die Produktion werde weiter absinken, die Landwirtschaft befinde sich schon jetzt in tödlicher Lage:
O-Ton 18: Kolganow, Forts.             (1,09)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Oni mogut prodalschatsja…
„Man kann natürlich noch weiter die Ressourcen verkaufen und damit die Bevölkerung ernähren. Das trägt zur Zeit! Wie lange das noch geht, ist jedoch ungewiß. Beim Öl etwa läuft auch so ein Prozess der beständigen Einschränkung der Produktion. Sehr wenig Mittel werden in die Modernisierung, noch weniger in geologische Erkundungen gesteckt. Im Gasbereich ist es etwas besser; die Kohle ist schon ganz und gar vernichtet; andere Bereiche, etwa die Forstwirtschaft liegen ebenfalls am Boden. Die Konjunktur auf dem Weltmarkt hat sich für sie verschlechtert und seither sind sie in eine schwierige Lage gekommen. Dasselbe gilt für die Produktion von schwarzen Metallen. Die Maschinen  veralten, die Zahl der Unfälle steigt. Noch funktioniert die Eisenbahn, noch arbeitet das Elektrizizätsnetz, die Heizung der Häuser, das Telefonnetz. Insgesamt hält sich die Wirtschaft auf dem, was früher produziert worden ist. Genau läßt sich nicht sagen, wie lange unser technisches System sich ohne Erneuerung noch hält.“
…bes technischteskowo obnowlenije.“

Erzähler:
Für die Zukunft sieht Professor Kolganow drei mögliche Varianten: den Weg Pinotchets, den asiatischen Weg wie in China oder Korea, als autoritäre, vermutlich sogar blutige Lösungen seien beide Wege aber nicht , oder eine völlige Änderung des jetzigen Kurses in Richtung auf Wiedereinbeziehung der traditionellen korporativen und kollektiven Strukturen des Landes. Prioritäten sieht er für keine der Lösungen. Alles ist möglich:

O-Ton 19: Kolganow, Forts.            (0,47)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna est u…
„Natürlich besteht bei einigen das Verlangen, die eiserne Faust einzusetzen, um ihre Ziele durchzusetzen. Aber es sieht so aus, als ob heute die reale Möglichkeit für soetwas nicht besteht. Das heißt nicht, daß sie nicht in der Zukunft auftritt. Alles hängt aber davon ab, bis zu welchem Grad sich die ökonomische und soziale Krise im Lande entwickelt. Wenn sie bis zur vollkommnenen Desorganisation der Wirtschaft voranschreitet, dann ist alles möglich; wenn sie irgendwie angehalten werden kann, ich rede gar nicht von Wachstum oder so, dann ist nichts Schlimmes zu erwarten.“
…sabiti budut proschodits.

Erzähler: Die Gründe für Prof. Kolganows Gleichmut liegen wie bei Dimitri Diskin und allen anderen nicht im wirtschaftlichen, sondern im politischen Bereich: Er verweist auf die demoralisierte Armee, auf konkurrierende Sicherheitsdienste, auf eine Polizei, die sich von einer kriminellen Regierung mißbraucht fühlt. Das Wichtigste aber sei die Bevölkerung, die nicht bereit sei, sich aus den kollektiven Strukturen zu lösen. Darüberhinaus gebe keine Führer, die eine für eine Mehrheit glaubhafte Alternative zur Regierung formulieren könnten.

O-Ton 20: Pressekonferenz Szuganow        (1,03)
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Atmo Saal, Szuganow spricht…
Als lege sie es darauf an, ihre Angepaßtheit vor aller Augen zu bestätigen, lud die Kommunistische Partei Gennadi Szuganows im April erstmals in ihrer Geschichte per offizieller Pressekonferenz öffentlich zu ihrem bevorstehenden Parteitag ein. Mit Fragen der Parteidemokratie werde man sich befassen, erklärt Szuganow leidenschaftslos. Nichts Sensationelles sei zu erwarten, bekräftigen seine Sekundaten.
Auf die Frage aus der Versammlung, wie die Partei auf die Ankündigung einer neuen Schockwelle seitens der Regierung zu reagieren gedenke, hebt der Parteivorsitzende zunächst mit starken Worten an:

O-Ton 21: Pressekonferenz, Forts.        (1,08)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Szuganow spricht…
Heute habe man es mit dem Versuch zu tun, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Zerstörung Rußlands zuende zu bringen, sagt er. Nachdem er in den nächsten Sätzen Regierung und Gewerkschaften in einem Atemzug als „Taschenträger des internationalen Kapitals“ hingestellt hat, kommt er dann nur noch dahin, seine Hoffnung zu äußern, daß die neue Gruppe der Radikalreformer sich die Zähne ausbeißen möge. Eine nochmalige – ungeduldige – Nachfrage aus dem Saal, welche Maßnahmen die Partei dagegen zu ergreifen gedenke, wiegelt er unwillig mit dem Hinweis ab, man werde sich aller bekannten legalen Mittel bedienen…
…Spassibo, Athmo

Erzähler:
Nicht viel anders im Stabsquartier von Alexander Lebeds und der von ihm gegründeten „Russischen republikanischen Volkspartei“. Wer harte Töne gegen die Regierung erwartet hätte, sähe sich enttäuscht. Nur mit friedlichen Mitteln und über geduldige Öffentlichkeitsarbeit wolle man eine Dritte Kraft, eine gesetzliche Ordnung aufbauen, versichert der Sekretär ein um das andere Mal. Selbst provokatives Nachfragen, wer diese Ordnung durchsetzen solle, wenn die Regierung es nicht wolle, entlockt ihm nicht mehr als die immer noch überaus sanfte Erklärung:

O-Ton 22: Pressebüro von A. Lebed        (0,25)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, snaetje, ne chotjat…
„Was heißt hier: nicht wollen? Man muß eine verläßliche exekutive Vertikale aufbauen, eine normale, mit einer Mannschaft von Leuten, die das Bewußtsein vereint: jeder an seinem Platz. Das ist klar. Dann wird dieser Mechanismus es tatsächlich schaffen die Leute dahin zu bringen nach dem Gesetz zu leben. Wenn du die Gesetze verletzt und wenn das bewiesen wird, dann wirst Du eben zur Verantwortung gezogen.“
…verzieht die Worte

Erzähler:
Am Klarsten brachte ein dritter Opponent die Situation auf den Punkt: Martin Schakkum, einer der in der Präsidentenwahl abgeschlagenen Konkurrenten Boris Jelzins. Mit Versatzstücken aus Sozialismus, Staatstreue und einer gehörigen Portion Eigenliebe leitet er ein „Institut für Reform“. Es beschäftigt sich mit der Ausbildung von Regierungs- und Verwaltungskadern. 1991 stellte es einen großen Teil der von Boris Jelzin neu eingesetzten Adminsitration. Auch viele der heutigen höheren Beamte stammen aus Schakkums „Denkfabrik“, wie er das Institut nennt. Beide Hände reichen ihm nicht, um sie aufzuzählen. Inzwischen aber, so Schakkum, arbeite das Institut nur noch „für die Zeit danach“. Der Regierung sei nicht mehr zu helfen. Ob er gegebenenfalles auch bereit sei, Lebed oder Suganow zu unterstützen? Aber klar, antwortet er, warum nicht?

O-Ton 23: Martin Schakkum            (1,07)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
…jesli on gatow provodits
„Heute geht es um die Frage der Rettung Rußlands, wenn die Politik im Rahmen eines vernüftigen Korridors liegt, obwohl – ich bin praktisch zu allem bereit. Wie soll ich sagen? Der Korridor der Möglichkeiten für eine neue Macht ist so eng, heute besteht die Abhängigkeit vom Westen und die eigenen Reserven Rußlands sind so klein, daß man nicht jede Politik machen kann. Wenn jemand hier einen Kriegskommunismus will oder einen totalitären Staat, dann lassen sie das einfach nicht zu. Sie drehen einfach den Hahn ab, die Bevölkerung Rußlands verhungert und die Macht wird auf der Stelle hinweggefegt. Aber nicht nur das: Darüberhinaus müssen die Führer oder ihre Mannschaften heute diese Gesamtheitlichkeit besitzen, diese mobilisierende Idee. In dem heutigen Rußland, nach all den schrecklichen Verwüstungugen, den blutigen Ausschreitungen und Ausplünderungen, die wir hinter uns haben, muß man für eine gewisse Zeit mit einem mobilisierenden Regime arbeiten.“
…mobilisationem regime.“

Erzähler:

Die mobilisierende Idee ist für Martin Schakkum gleichbedeutend mit der Wiederherstellung eines würdigen Lebens in einem postindustriellen Zeitalter. Was das genau heißt und worin sich diese Vorstellungen von denen der Regierung effektiv unterscheiden, bleibt offen. Sicher ist nur, daß die Einheit des früheren russischen Imperiums irgendwie dazugehört. Daß die Auftritte Gennadi Szuganows, Alexander Lebeds, ebenso wie die Martin Schakkums und ähnlicher politischer Figuren nur die freundlichen Töne eines dahinter möglicherweise aufsteigenden Ungewitters sind, wird unüberhörbar, sobald man auf die Straße hinaustritt.

O-Ton 23: Metro und Roter Platz             (1,53)
Regie: kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, am Ende allmählich, noch einmal frei stehen lassen, dann abblenden

Erzähler:
Ein junger Mann, dem Anschein nach kaum aus der Pubertät heraus, spricht vor einem Haufen Unzufriedener am Platz der Revolution. Er agitiert im Namen der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“. Er beschuldigt den Führrer der KP Rußlands, Gennadi Szuganow, des Verrats. Die wütenden Tiraden des jungen Mannes, ebenso wie die seiner Nachredner lassen den Haß erahnen, der in die Mobilisierungen eingehen könnte, wenn es den Gewerkschaften und selbst noch der Kommunistischen Partei, Alexander Lebed oder Männern wie Martin Schakkum nicht mehr gelingen könnte, die Folgen einer neuen Schockwelle mit ihren Integrationsmechanismen aufzufangen.

Regie: Während des Schlußkommentars hochziehen und dann allmählich ausblenden.

Herausforderung Russland: Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft?

Eine Bilanz zur Privatisierung

Das Buch zeichnet die Phasen der Privatisierung in der Sowjetunion und Russland nach und zieht eine erste Bilanz. Es zeigt, dass das „westliche Modell“ keine Alternative zu den kollektiven Strukturen russischen Lebens ist und dass der Zusammenbruch des sowjetischen Systems im Kern nur benutzt wird, um den globalen Abbau des Sozialstaates zu legitimieren.  Hauptgegenstand der Analyse ist die Geschichte und die Aktualität der speziellen russischen Gemeinschaftsstrukturen, bekannt als russische Bauerngemeinschaft, Obschtschina..  Die Tradition der Obschtschina befindet sich heute in einem Umbruch, der prinzipielle Bedeutung für die Suche nach neuen Wegen zwischen Zwangsgemeinschaft oder Hyperindividualismus hat, die weit über Russlands Grenzen hinausgeht.

Schmetterling-Verlag, Stuttgart, 1997, ISBN 3-89657-070-6, Preis: 15,80 €

Landreform in Rußland – gescheitert oder modifiziert? (Kurzfassung)

Vorspann:

In Rußland läuft nicht alles so, wie die  Befürworter einer schnellen Reform sich das 1991 gedacht haben. Das gilt vor allem für die Landreform. Die Mißernte des Jahres 1995 war die bisher sichtbarste Warnung. Mit einem Erlaß, der den privaten Landbesitz gestatten soll, machte Boris Jelzin diese Frage im Präsidentenwahlkampf 1996 erneut zum Thema, nachdem die Duma alle früheren Gesetzesakte zur Agrarfrage immer wieder annulliert hatte. Geht es nun wirklich zur Sache? Kai Ehlers zeichnet die Entwicklung seit 1991 nach.

O-Ton 1: Akkordeon auf dem Roten Platz     (045)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler:    Oktober 1992: Tag der Revolution. Die Opposition  sammelt sich zum Marsch auf den Roten Platz. Die Auseinandersetzung um die „Schocktherapie“ der Regierung hat den ersten Höhepunkt erreicht. Im Mittelpunkt steht die ungelöste Bodenfrage. Gegner und Befürworter einer Verfassungsreform, die privaten Landbesitz erlaubt, stehen sich hart gegenüber:

O-Ton 2: Agitator auf dem Roten Platz (…“pri sowjetski wlast“) (055)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach dem Stichwort „Präsident“ noch kurz stehen lassen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:   „Ein Präsident, der Land zum Gegenstand von Schacher macht, verletzt die Verfassung. Kauf und Verkauf von Land ist ein Verbrechen.“

Erzähler:    Bis Ende 1993 will die Regierung alle Kolchosen und Sowchosen in Aktiengesellschaften umwandelt haben. 400.000 private Höfe sollen bis dahin gegründet sein. Grundstücke für Gartennutzung werden umsonst vergeben.  Öffentliche Aufgaben, für die die Dorfgemeinschaften bisher zuständig waren, gehen an die „neue Macht“.
Ende 1992 ist die Mehrzahl der Sowchosen und Kolchosen tatsächlich als Aktiengesellschaft registriert. Für viele blieb die Umbenennung allerdings ein formaler Akt. Hören wir Fjodor Soloteika. Er ist 1992 Vorsitzender der Agrarverwaltung im Bezirk Bolotnoje nahe Nowosibirsk. Damit ist er verantwortlich für die Privatisierung von mehr als 150 Betrieben seines Bezirkes:

O-Ton 3:  Fjodor Soloteika in Bolotnoje       (… Ja tschitaju) (047)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:     „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute  besser vorzubereiten. Offen gesagt, wir haben jetzt zwar schon zwei Aktiengesellschaften eingerichtet, aber viel haben wir da nicht erreicht. Die Leute verstehen das nicht richtig. Ihre Beziehung zur Arbeit ist wie früher. Der Arbeiter sieht nicht, daß das jetzt sein Anteil ist. Er sieht nicht, daß er jetzt Herr ist auf dem Land. Meiner Meinung nach geht das alles zu schnell. Aber was soll man sagen? Anordnung ist Anordnung, die muß man befolgen.“

Erzähler:    „Morskoje“ war eine der ersten Sowchosen, die sich registrieren ließ. Früher eine Mustersowchose gilt sie jetzt als Muster einer Aktiengesellschaft. Sioe hat sogar einen rechenschaftsbericht über ihre Erfahrungen veröffentlicht. Doch ausgerechnet hier prangt über dem Eingang zum Verwaltungsbäude nach wie vor die aus der Sowjetzeit stammende Parole: „Das Leben – ein ökonomisches Experiment!“ und unmißverständlich erklärt der junge Direktor:

O-Ton 4: In der Sowchose Morskoje    (Experiment, Experiment…) (020)

Regie: Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:    „Ja, es ist ein Experiment, sonst nichts. Jede neue Form der Bewirtschaftung ist für uns ein Experiment. Das schließt das Erproben neuer Gesellschaftsformen mit ein, egal welche. Jetzt probieren wir es eben so.“

Erzähler:     In „Morskoje“ wird noch ein weiteres Problem der Privatisierung sichtbar – die soziale Differenzierung: Der frühere Direktor verließ die Sowchose mit seinem Anteil als Erster; es folgten leitende Angestellte, dann qualifizierten Facharbeiter. Dazu kamen noch Städter mit Geld. Die Rest-Sowchose, jetzt AG, blieb für die Versorgung der verbleibenden Mehrheit, gut 1500 Menschen, verantwortlich.
Der Herbst werde zeigen, meint der junge Direktor knapp, ob das neue Experiment etwas bringe. Wenn nicht, werde man es beenden.

O-Ton 5: Privatbauer  (…Hunde, „prochaditje“) (030)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler;      Die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt haben. Der Traktor vor der Tür und der Hund im Hof weisen den Weg zum Privatbauern. Bauer Gorbatski ist stolz auf seine Leistung. Auf die Frage, ob er sich als Bauer fühle, wehrt er jedoch ab:

O-Ton 6: Privatbauer, Forts.  (… Da, Fermer, Lachen) (037)

Regie: Bis zum Lachen stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:   „Naja, Bauer! Bis zum Bauern ist noch weit. Bauer bist Du dann, wenn alles irgendwie zusammenläuft. Jetzt quälen wir uns erst einmal ab.“

Erzähler:   Er klagt über Probleme mit dem Saattrockner. An den kommt er erst heran, wenn das Sowchos-Getreide schon durch ist. Ähnliche Probleme gibt es mit der Verarbeitung der Rüben, dem Transport seiner Milch. Für alles muß er die Sowchosleitung fragen. Sie behindert ihn nicht, unterstützt ihn aber auch nicht. So sind er und die anderen Privaten immer die Letzten. Für den Erwerb seines kleinen Traktors mußte er bis nach Moskau reisen. Die versprochenen Kredite bleiben aus oder sind nur mit großem Aufwand zu beantragen. Die Nachbarn sind mißtrauisch. Hilfe gibt es nur noch gegen Bezahlung.
Seine Frau versucht den schroffen Eindruck etwas zu mildern:

O-Ton 7: Bäuerin   (…Kagda lutsche, interesneje stal…) (045)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin:    „Aber irgendwie wurde das Leben natürlich trotzdem interessanter: Du entscheidest selbst, was morgen ist. Du arbeitest für Deinen eigenen Gewinn. Das ist doch schon eine ziemliche Freiheit. Wir hoffen natürlich, daß auch das Andere besser wird.“

Erzähler:    Bei der Mehrheit der Sowchosniki stößt die Privatisierung auf blanke Ablehung. Die Mähdrescherfahrer etwa, die als besserbezahlte Spezialisten zu den Wunschpartnern der Reformer gehören, lassen daran keinen Zweifel:

O-Ton 8: Mähdrescherfahrer   (…Haha, …) (035)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen

Übersetzer:   „Ach, alles Quatsch! Gaukelei! Wie lange haben sie uns den Sozialismus versprochen! Kommunismus sogar! Und jetzt sollen wir auf einmal Privateigentümer werden. Sofort! Ja, wenn wir Geld hätten! Aber so? Das ist wieder so ein Experiment mit dem Volk. Es dreht sich alles im Kreis, Betrüger allesamt: Chruschtschow, Andropow, Gorbatschow – und jetzt wieder! Wie es bei uns heißt: „Der Fisch stinkt vom Kopf!“

Erzähler:     Selbst unter den Amtsträgern der neuen Regierung überwiegen die kritischen Stimmen. Admistrator Scherer, Bürgermeister des Dorfes Lebjaschewo, ist verantwortlich für die Privatisierung in seinem Dorf. Aus ihm spricht der Praktiker, den die Erfahrung belehrt hat:

O-Ton 9:  Administrator Scherer   (…katastrophitschnaja) (025)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:   „Wir haben eine katastrophale Situation. Die  Sowchosen zerfallen, die Privaten bringen nichts. Die Infrastruktur zerfällt. Die Wege verrotten. Niemand will mehr arbeiten, alle wollen irgendetwas bekommen. So kann man keine Reform machen: Verordnen, aber dann die Mittel nicht geben! Dekrete erlassen, ohne zu sagen, wie sie umgesetzt werden sollen! – Aber so war es immer in Rußland. Es wird abgerissen, bevor aufgebaut wird. Und jetzt steht wieder die typische russische Frage: Was tun? Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es das Ende der Reform sein. Niedergang. Hunger.“

Erzähler     In der Weiterverarbeitung ist es nicht besser.  Besonders deutlich wird das in entlegeneren Gebieten. Edmund Voll, Deutsch-Russe, ist Direktor des „Butter-Käse-Kombinats“ in Gorno-Altai, der sog. sibirischen Schweiz an der Südflanke Sibiriens. Das Kombinat hat das Monopol in einem Einzugsbereich, der halb so groß ist wie Deutschland. Auf die Frage nach der Privatisierung antwortet er:

O-Ton 10: Edmund Voll   (…Chotsche jest) (025)

Regie: Stehen lassen bis zu seiner eigenen deutschen Übersetzung, danach allmählich abblenden

Originaltext:   „Wollen schon, aber können nicht.“

Erzähler:     Bei Edmund Voll wird klar: Das Problem liegt in der Monopolstruktur. Sie hat dazu geführt, daß es in den Dörfern praktisch keine Möglichkeiten der Weiterverarbeitung gibt. Eine Privatisierung würde bedeuten, daß die Milch über Zwischenhändler abgeschlagen werden muß. Die aber drücken die Preise gegenüber den Bauern, dem Kombinat gegenüber treiben sie sie hoch. Die Endprodukte, früher zu festen Kontingenten nach Moskau oder in andere Zentren abgesetzt, müssen dann noch einmal durch die Mühle des Zwischenhandels. Dazu kommen die steigenden Transport- und Materialkosten. Dies alles läßt die Endprodukte so teuer werden, daß sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Importbutter ist billiger.
Einen Ausweg sieht Edmund Voll nur in der Schaffung kleiner Einheiten: Molkereien, Käsereien nach deutschem oder schweizer Muster. Nötig ist seiner Ansicht nach auch die Entwicklung eines eigenen Binnenmarktes in der Region und die Aufnahme eines eigenen Handels mit den Nachbarn. Aber wie? Für das eine fehlt das Geld, für das andere die politischen Mögichkeiten: Nach wie vor läuft noch alles noch über Moskau. So macht man weiter wie bisher – nur unter schwierigeren Bedingungen.
Schon im Herbst `92 ist damit klar, daß die Vorhersagen der Regierung nicht eintreffen werden.

O-Ton 11:  Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk  (…Uwaschaemi Deputati) (115)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:   Ein Jahr danach, Herbst 1993. Vor dem Haus der Sowjets in  Nowosibirsk: Rechte agitieren gegen die Agrarpolitik der Regierung. Die politische Saison wird mit einer Krisensitzung zur Landwirtschaft eröffnet. Statt zu steigen wie versprochen, fiel das landwirtschaftliche Gesamterzeugnis 1992 bei privaten und kollektiven Betrieben insgesamt um 9 Prozent.
Eine besondere Bloßstellung für die Regierung wurde die Kartoffelernte: Der Anteil der Neubauern an ihr lag bei nur einem Prozent. Einen Anstieg fand sie dagegen in Gärten, auf privatem Hofland oder auf den neu verteilten Ackerparzellen vor den Städten. Hier wurden über 80% aller Kartoffeln geerntet. Das zeigt deutlicher als alles andere: Die Bevölkerung ist zur Eigenversorgung übergegangen. Damit wird eine wirtschaftliche Struktur sichtbar, wie sie als Subsistenzwirtschaft bis dahin vor allem aus Ländern der früher sogenannten dritten Welt bekannt war.

O-Ton 12: Im Foyer  (Foyergemurmel, „u nas…“) (104)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:    Drinnen bei den Delegierten ist der Unmut ebenfalls unüberhörbar: Zentrale Subventionen will man sehen, um die Preisschere zwischen landwirtschaftlichen Produkten und Industrieprodukten auszugleichen. Den Spekulanten im Zwischenhandel soll das Handwerk gelegt werden. Ein eigener Zugriff auf das örtliche Budget wird gefordert, um die Kosten der Reformen vor Ort bestreiten zu können, außerdem eine einmalige Unterstützung, um die bevorstehende Ernte einzuholen. Die Vertreter der Regierung greifen alle Forderungen auf – und wenden sie gegen Moskau. Damit ist der Agrarkonflikt, der sich bisher zwischen westorientierter Reform-Bürokratie und den konservativeren Kreisen des obersten Sowjet bewegt hatte, zum Territorial-Konflikt zwischen Moskau und seinen Republiken angewachsen. Die Stimmung auf den Dörfern ist inzwischen auf dem Nullpunkt. Viele Sowchosleitungen sehen sich vor der Alternative, entweder Treibstoff für die Ernemaschiinen zu kaufen oder Löhne auszuzahlen. Im Kontor der Swochose „Sibir“, seit Ende `92 ebenfalls AG, kann man fünf beschäftigungslose Frauen antreffen. Sie verwalten dort, wie sie sagen, nur noch den Mangel. Im Übrigen gilt ihre Hauptsorge dem eigenen Überleben:

O-Ton 13: Kontor Sibir, zwei  (..schiwiom na tsch) (020)

Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin:  „Wir leben von dem, was uns die Nebenwirtschaft ermöglicht. Wir haben eigene Milch, eigenes Brot, eigenes Fleisch. Aber generell gesagt: Wir leben nicht, wir vegetieren. Sogar unser Brot backen wir neuerdings selbst.“

Erzähler:      Hierin sehen die Frauen das schlimmste Zeichen der Krise. Verständlich, wo man sich früher durch eine funktionierende Gemeinschaft versorgt sah, ist nun jeder auf sich selbst angewiesen. Kein Wunder, daß die Frauen zurück wollen: „Zurück zu den Zeiten“, fordert eine,  „als unsere Arbeit noch 150 Rubel wert war.“ „Zurück zum Kollektiv“, ergänzt eine andere, „denn allein wirst Du nichts.“
Den Privaten geht es nicht besser. Den Zustand, auf den sie Ende 1993 heruntergekommen sind, schildert Bauer Wassiljew Pitschennikow. Er war früher Brigadeführer einer Sowchose:

O-Ton 14: Bauer Pitschennikow   (My…) (030)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:   „Wir leben nicht besser, wir arbeiten nur mehr.“

Erzähler:  Bitter klagt er, daß alle versprochenen Hilfen ausgeblieben seien. Die Kredite sind nicht zu bezahlen. Nicht 25%, wie ausgemacht, sondern 72% verlangt die Staatsbank als Rückzahlung. Dazu kommt die Inflation. Dabei stagnieren die Preise für Milch, Butter und andere landwirtschaftliche Produkte, alles übrige steigt steil nach oben. Die notwendigen Maschinen sind unerschwinglich. Er muß sie bei der Sowchose leihen. Er sieht seinen baldigen Bankrott vor Augen.
Warum er unter solchen Umständen nicht aufgebe? Söhnne und Enkel sollen es einmal besser haben, antwortet der Alte. Aber wollen die das? Nur zögernd antwortet er, wobei der breite Konjunktiv seine Unsicherheit deutlicher macht als er selbst es wahrhaben will:

O-Ton 15: Bauer Pitschennikow  (… No, oni bili) (025)

Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Sie wären einverstanden, wenn es eindeutige Gesetze gäbe. Aber die gibt es nicht. Ich verliere ja nichts als Pensionär, aber wenn meinem Sohn alles wieder weggenommen würde, wie es schon so oft geschehen ist. Das wäre schrecklich. Das Schlimmste ist die Unsicherheit. Bei uns ist es ja so: Heute hü und morgen hott. Heute kommt dieses Gesetz, morgen ein anderes. Verstehen Sie? Keine Beständigkeit der Gesetze!“

Erzähler:     Die Unsicherheit macht selbst den Administratoren zu schaffen. Viele haben inzwischen kapituliert und sind zu alten Methoden zurückgekehrt. In Nowobibejewo, einer Waldarbeitersiedlung mit ca. 7.000 Seelen gleich neben der ehemaligen Sowchose „Sibir“ ist der Administrator ein junger Mann von vielleicht 30 Jahren. Er ist  zugleich Vorsitzender des örtlichen Sowjet.
Nicht eins der vielen Dekrete werde in den Dörfern umgesetzt, erklärt er. Entschuldigend weist er auf zwei gut ellenbogenhohe Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch: Rechts die Erlasse Jelzins, links die des obersten Sowjet:

O-Ton 16: Nowobibejewo, örtl. Macht (…Nje tolko) (038)

Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:      „Nicht nur, daß man sie nicht umsetzen kann – man schafft es ja nicht einmal sie alle zu lesen.“

Erzähler:     Völlig undurchsichtig für die örtliche Basis sind die Finanzen. Die Profite, die im Dorf gemacht  werden, entziehen sich der Kontrolle der „neuen Macht“. In Nowobibejewo gilt das vor allem für die Frage, wieviel Holz im Wald geschlagen und verkauft wird. Früher wurde das genau überwacht, jetzt herrscht Raubbau. Die Gewinne werden privatisiert, die sozialen Aufgaben schiebt man der Verwaltung zu. So fordert auch der junge Administrator: Mehr Rechte! Zugriff auf das örtliche Budget! Kontrolle der wilden Privatisierung und transparente Entscheidungen von oben!

Von „Oben“ war im Herbst 1993 allerdings nichts zu erwarten: Zwar hatte Präsident Jelzin eigens eine neue Behörde geschaffen, einzig um die Umsetzung präsidialer Dekrete zu kontrollieren. In der Nowosibirsker Zentrale dieser Behörde waren von deren Sekretärin, Frau Nikolajewna, aber nur Rechtfertigungen zu hören:

O-Ton 17:Im Kontroll-Apparat des Präsidenten  (…sakoni jest) (037)

Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin:    „Im Prinzip haben wir gute Gesetze. Eine andere Sache ist deren Umsetzung zu prüfen! In diesem weiten Land! Sie verstehen?! Das ist einfach nicht möglich. Das heißt in der Konsequenz: Die Leute, die bisher an der Macht waren, sind es auch heute. Es ist ein Clan – die einfachen Arbeiter, erst recht das Dorf bleiben da außenvor. Die müssen allein zurechtkommen.“

O-Ton 18:    Versammlung zur Selbstverwaltung   (Uwaschaemi tawarischi…) (110)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     Wieder ein Jahr weiter; Herbst 1994; wieder große Regionalversammlung in Nowosibirsk; die politische Szene hat sich erheblich verändert: Präsident Jelzin hat sich mit Gewalt gegen den obersten Sowjet durchgesetzt. Es gibt eine neue Verfassung, die das Recht auf Privateigentum garantiert. Die Bodenfrage ist allerdings nach wie vor nicht entschieden und nach der landesweiten Auflösung der Sowjets ist die Lage in den Dörfern eher verworrener geworden. Niemand weiß mehr, welche Kompetenzen wo gelten. Die offiziellen Stellen versuchen, die Unzufriedenheit mit einer Kampagne für örtliche Selbstverwaltung zu kanalisieren. Aber die Skepsis der Basis ist unüberhörbar:

Ton 19: Im Foyer    (Foyer…) (037)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzerin: „Das Problem ist: Nach der Auflösung des obersten Sowjet im Oktober 1993 haben viele Spezialisten die Verwaltung verlassen. Das bedeutet: Diejenigen, die die sich auskennen, sind gegangen. Und dann die Finanzen! Die Vorschläge zur Selbstverwaltung sind gut, aber die konkrete Hilfe ist gleich Null. Es wird schwierig werden – es bleibt nur zu hoffen. Ohne Hoffnung kann der Mensch ja nicht leben.“

Erzähler:   Im gewerkschaftlichen Bauernverband will man sich mit der Kampagne gar nicht erst aufhalten. Sekretär Alexander Lewaschow entwirft ein düsteres Bild:

O-Ton 20: Gewerkschaft, Bauernverband   (…Da, primerna…) (040)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegt halten, während des Erzählers allmählich abblenden,

Übersetzer:   „Ungefähr 20 Prozent der früheren Sowchosen und Kolchosen – jetzt Aktiengesellschaften – arbeiten heute normal, ohne Probleme, haben eine stabile Arbeit. Unter `normal` verstehe ich, daß sie zwar auch subventioniert werden müssen, aber doch irgendwie mit der Marktwirtschaft durchkommen werden. Der Rest, 80 Prozent, ist in der Krise. Wohin sie sie morgen gehen, ob sie aufgeteilt werden, ob sie überhaupt nicht interessant sind für eine Privatisierung oder ob sie einfach Bankrott gehen oder wie immer, das weiß Gott allein. Wir brauchen staatliche Unterstützung. Ohne das werden die Betriebe nicht überleben.“

Erzähler:   Statt Unterstützung zu erhalten, wurden die Landwirte auch noch besteuert, in manchen Gegenden bis zu 60%. Unter solchen bedingungen überholte die Entwicklung noch die Befürchtungen: Bereits Ende 1994 war die Mehrheit der Sowchosen zahlungsunfähig; die Zahl der privaten Betriebe stagnierte bei 270.000, Tendenz fallend. Pro Jahr geben seitdem mehr als 20.000 Privatbauern auf. Der Gesamtertrag im Agrarsektor fiel 1994 um sieben, die Getreideernte sogar um 18 Prozent. 1995 fiel die Gesamtproduktion um weitere 12%; die Getreideernte lag mit 60 Millionen Tonnen noch einmal um ein viertel niedriger als 1994 und erreichte damit den Tiefststand seit dreißig Jahren. 1996 setzte sich die Abwärtsbewegung weiter fort. Das böse Wort vom „landwirtschaftlichen Gulag“ machte die Runde.

Erzähler:  Gennadij Schadrin, Radiojournalist, seinem Selbstverständnis nach ökologischer Patriot, ebenfalls Mitglied der Bauernpartei, bringt die unterschiedlichsten Kritiken auf einen einfachen Punkt:

O-Ton 21:  Gennadij Schadrin   (… w nasche)
Regie: kurz stehen lassen,unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „In unserer Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“   …blago swjex

Erzähler:    Vorstellungen dieser Art waren es, die dem von der Duma 1994 verabschiedeten, 1995 noch einmal bekräftigten Agrarkodex zugrundelagen. Darin wurde die Vergabe von Land davon abhängig gemacht, ob es landwirtschaftlich genutzt werde. Dagegen hat Boris Jelzin jetzt seine neuerlichen Erlasse gesetzt. Anders als die Praktiker vor Ort will er den Grund für die Krise der Agrarreform offenbar darin sehen, daß die Privatisierung nicht entschieden genug vorangetrieben worden sei. Ob die neue Verordnung diesmal mehr als das Papier wert ist, auf dem sie veröffentlicht wurde, wird sich zeigen. Zunächst hat sie vor allem erst einmal polarisierenden Charakter.

gesendet im : Bayerischen Rundfunk,  Schulfunk

Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz (Kurzfassung)

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des Internationalen Währungsfonds.
Unser Autor hat sich im Lande umgeschaut, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe    0,53

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet dieder Ort den Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen eines Bezirks von der Größe Schleswig Holsteins. Die nächst größere Stadt ist Nowosibirsk, gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihre Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Probleme finanzirowannije…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema.“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Leherin: „Nu Trudnosti un nas… “

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf am Ende des Erzählertextes hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Bücher selbst zu interpretieren, wenn keine neuen zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern  der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am meisten Sorgen macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Sie gehen lieber in die örtliche Videothek, betreiben ein „kleines Busyness“ oder gammeln einfach herum. Nur disziplinarische Mittel halten sie noch in der Schule, obwohl es dort doch eigentlich ganz gemütlich sei, lacht sie, oder nicht?
…ujutna“, Lachen

Regie: hier bei Bedarf hochziehen, abblenden

Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kursi…“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standdarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
…sebe prinimajem.“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bhedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchternes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
…nu tejelo!

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, stoßen wir schließlich noch auf ein weiteres Problem:

O-Ton 6:                0,17
„Utschitelei mala…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf am Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins „busyness“, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann.“
… moschno bolsche sarabotats.“

Erzähler:     Wie in Ordinsk, so ist es in anderen Orten. In einer Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien.  Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 7: Maria Solochow        0,42
„Vot, nu w etom godu…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(nach Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer Arbeit dort hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
…kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus betreiben kann.
Daß die so Verbleibenden vor allem ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 8: Maria Solocha, 2    0,25
„No, wot wi snaetje…

Regie: kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
…nje saprischajut.“

Erzähler:    Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es noch die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, örtliche Betriebe, manchmal ein einziger. In manchen Städten wie in Borodino trug ein einziges Unternehmen auch sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur bedeutete für viele dieser Institutionen das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus eines örtlichen Industriegiganten. 1500 Kinder für 30.000 Beschäftigte wurden hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, befragt, was sich durch die neue Zeit verändert habe, erzählt:

O-Ton 9: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…

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Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt, wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik! Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
…schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Ohne Wassiljew säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft des Ortes ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Lange aber kann das nicht so weitergehen, dann  muß auch dieses Haus geschlossen werden. Eine Alternative gibt es nicht.
Die Auswirkungen solcher Verhältnisse treffen zunächst vor allem die Familie. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Beobachter der Ruhr-Universität Köln haben die wenigen Daten, die bisher durch die russische Presse gingen, zusammengefaßt. Sie sprechen eine deutliche Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht.
20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme einschließlich „abweichenden Verhaltens“ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt. Die steigende Zahl von Selbstmorden  auch unter Jugendlichen ist ein Ausdruck davon. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.“

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise. Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten stolzer Festtag zu Beginn eines jeden Schuljahres. An diesem Tag wurde der unbestreitbaren Erfolge der sowjetischen Bildungspolitik gedacht wie der Überwindung des Analphabetismus, der wissenschaftlichen Leistungen in der raumfahrt und dergl. Auch heut ist dieser tag noch ein offizieller Feiertag. Inzwischen ist aber gerade er für viele zum Protesttag geworden. Selbst in braven Provinzstädten wie Tscheboksary an der Wolga ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen, die sich mit Alkohol künstlich bei Laune halten. Sie machen kein Hehl daraus, was sie von der Bildungspolitik der Regierung halten:

O-Ton 10: Jugendliche in Tscheboksary    0,48
Junger Mann: „Djen snannje?…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
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Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ erklären sie. „Der Tag des Wissens“, spottet einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
…ich…
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ fährt er fort, „aber jetzt? Jetzt mußt du Bester sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein anderer, „aber es gibt keine Plätze. Selbst als bester kriegst Du nichts. Sie lassen nur 30 % zu. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
…prawilno!“

Erzähler:     Professor Oleg Melnikow kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in Nowosibirsk. Die Stadt bildet eines der wissenschaftlichen Zentren der russischen Föderation.
Mit Recht, findet der Professor, empören sich die jungen Leute über das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 11: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…

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Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Nur die Besten wurden angenommen. War man auf einem Institut, bestand man dort die Prüfungen, hatte man seine Zukunft entschieden.
Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung überzugehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes nahmen, wie auch immer über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind und außerdem schon seit Monaten nicht gezahlt werden. „Die Besten“, so der Professor, „gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.“
Auch die Zahl der Studenten sank. Erst seit 1995 stieg sie wieder. Warum?

O-Ton 12: Prof. Oleg Melnikow, II    0,43
„Konkurs povecelis dwe pritschin…

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Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschtschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     An der Universität ist es nicht besser. Von Pjotr Reschetka, dem Vorsitzenden des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“, kann man folgende Rechnung hören:

O-Ton 13: Pjotr Reschetka    0,19
„I posle..

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(nach Bedarf nach Übersetzer hochziehen, danach abblenden)

Übersetzer:     „Wenn junge Leute eine Ausbildung bekommen, dann bilden sie keine Banden. Sie als Verbrecher ins Gefängnis ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…scholje i institutje.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist die Realität, die er dann schildert, endgültig deren Scheitern: Kompetenzwirrwarr und Finanzmangel behindert Forschung und Lehre. Nach wie vor wird in Moskau entschieden. Die Regionen treten auf der Stelle.
Seit 1992 gehen die Ausgaben des Staatshaushaltes für den Bildungsbereich zurück. Lehrergehälter und Stipendien werden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, sodaß ein Teil der Lehrkräfte und Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums lebt. Spezialisten wandern nach Westen ab, 4000 allein aus Nowosibirsk. Die zurückbleibenden müssen sogar um ihren Wohnplatz fürchten, nachdem der Staat die früheren Dienstwohnungen zur Privatisierung freiegegeben hat.

Ein besonderes Problem ergibt sich aus der nationalen Vielfalt des Landes. Die Reformer sind sich dieses Problems bewußt:
So schreibt der stellvertretende Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, Wladimir Schadrikow, also ein Vorgesetzter des Nowosibirsker Professors:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer `sowjetischen´ bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Die neue Verfassung garantiert auch den Gebrauch der Muttersprache. Die großen ethnisch bestimmten Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien haben begonnen,  auf dieser Grundlage eine autonome zweisprachige Bildungspolitik zu entwickeln. Schon bei ihnen fehlt es allerdings an den notwendigen Mitteln. In  kleineren autonomen Gebieten bleiben ähnliche Versuche von vornherein Initiativen auf dem Papier.
So etwa in Dudinka hoch im Norden am Eismeer. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen, von denen der autonome Kreis seinen Namen ableitet. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 14: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…

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Übersetzerin:     „Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine davon kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch das Sprachprogramm zeigt: Was als Reform begonnen hat, droht sich in sein Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon zitierte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen daher bereits 1994 zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschtschenien hat diese Tendenz seitdem erheblich verschärft. Faktisch ist der Abbau der vom Internationalen Währungsfond dignostizierten Überqualikation schon lange eingeleitet.

O-Ton 15: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle…

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Mächtig schlägt sich die neue Zeit aber auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.
Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten, in dessen Hallen hier allerdings zum Ausgleich reichlich Topfpflanzen aufgestellt sind.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 16: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…

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Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
…Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 17: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagigi bedni, no ani…

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes. Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandars reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 18: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…

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Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
…eta bolschaja Problemea!“

O-Ton 19: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

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Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer eine dieser Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 20:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, auch Beziehungen; Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Häufig gelingt das nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 21: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna..

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Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje iswestna, schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNe“, welche die härtesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit den Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen ihre Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des Internationalen Währungsfonds.
Unser Autor hat sich im Lande umgeschaut, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe    0,53

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet dieder Ort den Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen eines Bezirks von der Größe Schleswig Holsteins. Die nächst größere Stadt ist Nowosibirsk, gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihre Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Probleme finanzirowannije…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema.“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Leherin: „Nu Trudnosti un nas… „

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
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Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Bücher selbst zu interpretieren, wenn keine neuen zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern  der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am meisten Sorgen macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Sie gehen lieber in die örtliche Videothek, betreiben ein „kleines Busyness“ oder gammeln einfach herum. Nur disziplinarische Mittel halten sie noch in der Schule, obwohl es dort doch eigentlich ganz gemütlich sei, lacht sie, oder nicht?
…ujutna“, Lachen

Regie: hier bei Bedarf hochziehen, abblenden

Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kursi…“

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Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standdarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
…sebe prinimajem.“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bhedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchternes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

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Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
…nu tejelo!

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, stoßen wir schließlich noch auf ein weiteres Problem:

O-Ton 6:                0,17
„Utschitelei mala…

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(nach Bedarf am Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins „busyness“, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann.“
… moschno bolsche sarabotats.“

Erzähler:     Wie in Ordinsk, so ist es in anderen Orten. In einer Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien.  Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 7: Maria Solochow        0,42
„Vot, nu w etom godu…

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Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer Arbeit dort hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
…kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus betreiben kann.
Daß die so Verbleibenden vor allem ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 8: Maria Solocha, 2    0,25
„No, wot wi snaetje…

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Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
…nje saprischajut.“

Erzähler:    Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es noch die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, örtliche Betriebe, manchmal ein einziger. In manchen Städten wie in Borodino trug ein einziges Unternehmen auch sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur bedeutete für viele dieser Institutionen das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus eines örtlichen Industriegiganten. 1500 Kinder für 30.000 Beschäftigte wurden hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, befragt, was sich durch die neue Zeit verändert habe, erzählt:

O-Ton 9: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…

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Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt, wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik! Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
…schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Ohne Wassiljew säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft des Ortes ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Lange aber kann das nicht so weitergehen, dann  muß auch dieses Haus geschlossen werden. Eine Alternative gibt es nicht.
Die Auswirkungen solcher Verhältnisse treffen zunächst vor allem die Familie. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Beobachter der Ruhr-Universität Köln haben die wenigen Daten, die bisher durch die russische Presse gingen, zusammengefaßt. Sie sprechen eine deutliche Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht.
20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme einschließlich „abweichenden Verhaltens“ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt. Die steigende Zahl von Selbstmorden  auch unter Jugendlichen ist ein Ausdruck davon. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.“

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise. Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten stolzer Festtag zu Beginn eines jeden Schuljahres. An diesem Tag wurde der unbestreitbaren Erfolge der sowjetischen Bildungspolitik gedacht wie der Überwindung des Analphabetismus, der wissenschaftlichen Leistungen in der raumfahrt und dergl. Auch heut ist dieser tag noch ein offizieller Feiertag. Inzwischen ist aber gerade er für viele zum Protesttag geworden. Selbst in braven Provinzstädten wie Tscheboksary an der Wolga ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen, die sich mit Alkohol künstlich bei Laune halten. Sie machen kein Hehl daraus, was sie von der Bildungspolitik der Regierung halten:

O-Ton 10: Jugendliche in Tscheboksary    0,48
Junger Mann: „Djen snannje?…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
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Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ erklären sie. „Der Tag des Wissens“, spottet einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
…ich…
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ fährt er fort, „aber jetzt? Jetzt mußt du Bester sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein anderer, „aber es gibt keine Plätze. Selbst als bester kriegst Du nichts. Sie lassen nur 30 % zu. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
…prawilno!“

Erzähler:     Professor Oleg Melnikow kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in Nowosibirsk. Die Stadt bildet eines der wissenschaftlichen Zentren der russischen Föderation.
Mit Recht, findet der Professor, empören sich die jungen Leute über das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 11: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…

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Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Nur die Besten wurden angenommen. War man auf einem Institut, bestand man dort die Prüfungen, hatte man seine Zukunft entschieden.
Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung überzugehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes nahmen, wie auch immer über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind und außerdem schon seit Monaten nicht gezahlt werden. „Die Besten“, so der Professor, „gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.“
Auch die Zahl der Studenten sank. Erst seit 1995 stieg sie wieder. Warum?

O-Ton 12: Prof. Oleg Melnikow, II    0,43
„Konkurs povecelis dwe pritschin…

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Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschtschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     An der Universität ist es nicht besser. Von Pjotr Reschetka, dem Vorsitzenden des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“, kann man folgende Rechnung hören:

O-Ton 13: Pjotr Reschetka    0,19
„I posle..

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Übersetzer:     „Wenn junge Leute eine Ausbildung bekommen, dann bilden sie keine Banden. Sie als Verbrecher ins Gefängnis ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…scholje i institutje.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist die Realität, die er dann schildert, endgültig deren Scheitern: Kompetenzwirrwarr und Finanzmangel behindert Forschung und Lehre. Nach wie vor wird in Moskau entschieden. Die Regionen treten auf der Stelle.
Seit 1992 gehen die Ausgaben des Staatshaushaltes für den Bildungsbereich zurück. Lehrergehälter und Stipendien werden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, sodaß ein Teil der Lehrkräfte und Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums lebt. Spezialisten wandern nach Westen ab, 4000 allein aus Nowosibirsk. Die zurückbleibenden müssen sogar um ihren Wohnplatz fürchten, nachdem der Staat die früheren Dienstwohnungen zur Privatisierung freiegegeben hat.

Ein besonderes Problem ergibt sich aus der nationalen Vielfalt des Landes. Die Reformer sind sich dieses Problems bewußt:
So schreibt der stellvertretende Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, Wladimir Schadrikow, also ein Vorgesetzter des Nowosibirsker Professors:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer `sowjetischen´ bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Die neue Verfassung garantiert auch den Gebrauch der Muttersprache. Die großen ethnisch bestimmten Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien haben begonnen,  auf dieser Grundlage eine autonome zweisprachige Bildungspolitik zu entwickeln. Schon bei ihnen fehlt es allerdings an den notwendigen Mitteln. In  kleineren autonomen Gebieten bleiben ähnliche Versuche von vornherein Initiativen auf dem Papier.
So etwa in Dudinka hoch im Norden am Eismeer. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen, von denen der autonome Kreis seinen Namen ableitet. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 14: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…

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Übersetzerin:     „Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine davon kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch das Sprachprogramm zeigt: Was als Reform begonnen hat, droht sich in sein Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon zitierte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen daher bereits 1994 zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschtschenien hat diese Tendenz seitdem erheblich verschärft. Faktisch ist der Abbau der vom Internationalen Währungsfond dignostizierten Überqualikation schon lange eingeleitet.

O-Ton 15: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle…

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Mächtig schlägt sich die neue Zeit aber auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.
Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten, in dessen Hallen hier allerdings zum Ausgleich reichlich Topfpflanzen aufgestellt sind.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 16: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…

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Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
…Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 17: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagigi bedni, no ani…

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Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes. Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandars reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 18: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…

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Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
…eta bolschaja Problemea!“

O-Ton 19: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

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Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer eine dieser Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 20:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…

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Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, auch Beziehungen; Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Häufig gelingt das nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 21: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna..

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Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje iswestna, schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNe“, welche die härtesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit den Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen ihre Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

Rußlands zweite Krise – Elitebildung statt Volksbildung? eine Zwischenbilanz

1991 betrat Boris Jelzin die politische Bühne Rußlands. Neben Reichtum für alle versprach er auch Bildung für alle.
1992 erließ seine Regierung das „Gesetz über die Bildung“. 1993 wurde es durch die neue Verfassung festgeschrieben. Danach gilt die Bildungsreform als eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 10% des Volksaufkommens sollen dafür eingesetzt werden. Die Schulausbildung, ebenso wie der Besuch der Hochschulen soll weiterhin kostenlos sein und vom Staat getragen und gegebenenfalls mit Stipendien gefördert werden. Das aus Sowjetzeiten stammende staatliche Bildungsmonopol wird aber zugunsten einer weitgehenden Dezentralisierung und Diversifizierung abgelöst. Ein „einheitlicher Bildungsraum“ der russischen Föderation soll durch allgemein verbindliche „Bildungsstandards“ gewährleistet werden. Im übrigen haben die Regionen und Kommunen freie Hand, ihre Programme selbst zu gestalten. Neue Schultypen wie Gymnasien, Lyzeen und die Möglichkeit, private Schulen zu eröffnen, sollen das Angebot differenzieren. „Vielfalt in der Einheit“ lautet die von den Reformern ausgegebene Linie, „Abbau der Überqualifikation“ und „Effektivierung“ fordert die dahinterstehende Empfehlung des „Internationalen Währungsfonds“.
Unser Autor untersucht, was ein halbes Schülerleben später daraus geworden ist:

O-Ton 1, Schule in Ordinsk, Tür, Stimmen, Treppe     0,53

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Wir betreten die Schule Nr. 2 des Bezirkszentrums Ordinsk. Mit seinen 5000 Einwohnerinnen und Einwohnern bildet Ordinsk den amtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt für ca. 30.000 Menschen, die in einem Gebiet von der Größe Schlesig Holsteins leben. Von der nächst größeren Stadt, Nowosibirsk, ist Ordinsk gut 100 Kilometer entfernt.
Die Schule ist eine von vieren des Ortes. Als sog. Mittelschule mit Unter-, Mittel- und Oberstufe entspricht sie dem heute üblichen durchschnittlichen Schultyp.
Freundlich gibt die Direktorin, Frau Vera Bjedkowa, Antwort auf alle Fragen. Schnell kommt sie auf ihr Hauptproblem:

O-Ton 2: Direktorin        0,20
„Problemi finanzirowannij…

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Übersetzerin:    „Das Problem der Finanzierung ist das Schlimmste: Die Schule hat sehr viele Schüler. Die Klassenräume reichen nicht. Die Schule ist nicht für so viel Lernende ausgelegt. Wir haben 700 Schüler, aber nur 13 Klassen. Darum müssen wir in zwei Schichten arbeiten. Das ist ein sehr großes Problem.“
…otschen bolschaja Problema“

Erzähler:    In einer der Klassen, durch die man mich führt, konkretisiert eine Lehrerin:

O-Ton 3: Lehrerin in der Klasse    0,43
Kinder, Lehrerin: „Nu Trudnosti u nas…

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Übersetzerin:    „Die Schwierigkeit besteht darin, daß wir nicht immer genug Material haben, um den Unterricht durchzuführen, also Kreide,, Filme, Karten usw. Rein äußerlich ist alles normal: Die Schule ist warm, hell, gemütlich. Aber die techniche Ausrüstung müßte besser sein.“

Erzähler:     Probleme gibt es auch mit dem Lehrstoff. Für neue Schulbücher reicht es nicht. Zwar haben die Lehrer heute das Recht, die alten Texte selbst zu interpretieren, wenn keine neuen Bücher zur Verfügung stehen. Ein neugebildeter pädagogischer Rat aus Vertretern der vier Schulen und des örtlichen „Hauses für Kultur“, dem früheren Pionierklub, soll dabei helfen. Der aber ist selbst ziemlich hilflos.
Am Meisten Sorge macht die Lehrerin sich um die Veränderung der Kinder: Die Erstklässler kommen noch gern in die Schule, erzählt sie. Nach zwei, drei Jahren, endgültig aber in der 6. und 7. Klasse bleiben sie weg. Viele der Dreizehn- bis Vierzehnjährigen können nur noch mit disziplinarischen Mitteln in der Schule gehalten werden.
Warum das so sei?
Auf diese Frage zuckt die Lehrerin hilflos mit den Schultern: Vielleicht weil die Fächer schwieriger wüeden? Vielleicht aber auch, weil viele der Kinder lieber in die örtliche Videothek gehen, ein „kleines Busyness“ betreiben oder einfach herumgammeln.
…ujutna“, Lachen
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Zurück im Lehrerzimmer, versucht die Direktorin das beim Rundgang entstandene Bild zunächst noch ein wenig aufzuhellen:

O-Ton 4: Direktorin, II        0,38
„Eschegodno u nas prochodit kurse…

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Übersetzerin: „Alljährlich besuchen unsere Leute Kurse zur Umschulung und Weiterbildung. Dort wird das Neue zur Pädagogik und zum Stoff angeboten. Dort werden zum Beispiel die neuen Standarts ausgegeben. Dort lernt man andere Schulen kennen, neue Ausbildungsformen, Lyzeen, Gymnasien, Hausunterricht, Familienunterricht, kompensatorischen Unterricht, Klassen mit pädagogischer Hilfe. Jeder nimmt da etwas für sich mit.“
..sebe prinimaem“

Erzähler:     Wahlfächer anzubieten, ist unser Ziel, fährt sie fort. Eine Hilfsklasse für Kinder aus sozial schwachen Familien gibt es bereits, ebenso einen Schulpsychologen.
Dann aber bricht bei Frau Bjedkowa doch die Unzufriedenheit durch: Die Betreuung durch den Pionierclub kann der Schulspychologe nicht ersetzen, findet sie. Werte wie Patriotismus und Nächstenliebe verfallen so. Die Eltern haben sich zurückgezogen; gleichzeitig kann die Schule aber nur noch dank der Hilfe der Eltern existieren: Sie halten das Schulgebäude und die Klassenräume instand. Ohne die Eltern läuft nichts mehr.
Alles in allem ist es ein sehr ernüchterndes Resumee, das die Direktorin aus den letzten fünf Jahren zieht:

O-Ton 5: Direktorin, III        0,46
„Wsjo idjot po starumu…

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Übersetzerin: „Alles läuft in alter Weise. Neues schaffen wir nicht. Wahlfächer können wir nicht wirklich anbieten. Nur klassenweise können die Älteren sich entscheiden. Berufserziehung schaffen wir ebenfalls nicht. Bei uns läuft alles wie es war. Und das Wichtigste: Es hat sich nichts an der Haltung zur Schule geändert! Mehr noch: Die Haltung des Staates gegenüber der Schule ist völlig gleichgültig. Wenn wir jüngere Lehrer hätten! Aber wir sind nun mal in diesem Kreis mit den alten. Neue können wir uns nicht leisten. Wir vegetieren mehr, als daß wir existieren. Es wird alles mögliche versprochen; seit fünf Monaten soll der Lohn kommen. Es ist einfach schwierig!“
… nu, tejelo!“

Erzähler:     Als ich ihr mein Erstaunen darüber mitteile, daß ich bei dem Rundgang in der ganzen Schule nicht einen einzigen Mann gesehen hätte, eröffnet sie mir ein weiteres Problem:

O-Ton 6: Direktorin, IV            0,56
„Utschitelei mala…

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Übersetzerin: „Ja, männliche Lehrer gibt es wenig! Die männlichen Absolventen der pädagogischen Hochschule gehen ins `busyness´, in irgendeinen Betrieb, wo man mehr verdienen kann. Das war schon früher so, aber jetzt wird es extrem. In unserem Land ist die Erziehung überhaupt Frauensache, zu Haus, im Kindergarten, in der Schule. Die Männer verdienen Geld für die Familie. Die Frauen kümmern sich, auch wenn sie arbeiten, abends noch um den Haushalt und die Kinder. Wenn es die Mutter nicht macht, macht es die Oma. So ergibt es sich, daß die Erziehung der neuen Generation ganz in den Händen der Frauen liegt.“
…vospitiwajut nowi pakalennije“

Erzähler:     Wie in der „Schule 2“, so sieht es auch in den anderen Schulen des Ortes aus: Die Lehrerschaft wurschtelt sich durch. Die Eltern sind froh, überhaupt eine Schule zu haben. „In anderen Orten mußten Schulen bereits geschlossen werden“, meint die junge Bibliothekarin des Ortes, die mich zur Schule geführt hat. Sie hat selbst zwei  Mädchen im schulplichtigen Alter.
Auf die Frage nach den Möglichkeiten der Weiterbildung antwortet sie:

O-Ton 7: Mutter in Ordinsk    0,24
„A, nu da..“; Frage von mir; Lachen: „Nu, ja nje snaju, u nas njet tagowo…

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Übersetzerin:    „Nein, ich weiß nicht. Wir haben hier solche Möglichkeiten nicht. Hier heißt es nur einfach: Schule! Da gehst Du hin und fertig, ob du willst oder nicht. Wir haben hier nicht diese Möglichkeiten wie in großen Städten, wie in Nowosibirsk, wo jetzt Colleges eröffnet werden und alle möglichen speziellen Richtungen. Nein, sowas gibt es hier nicht. Bei uns gibt es noch die Musikschule und das war´s dann.“
…musikalnaja schola i swjo“

Erzähler:     Ja, eine Krise müsse man das schon nennen, findet sie. Aber wen wundere das bei der allgemeinen Krise des Landes? Darüber möchte sie schon gar nicht mehr reden. Alles ist so schwer geworden! Man kämpft sich durch! Lieber erzählt sie, wie sie und ihre Kolleginnen der örtlichen Bibliothek, auch alles Frauen, der abnehmenden Leselust der Ordinsker mit neuen Literaturangeboten zu begegnen versuchen. Auch das ist schwierig, denn die Leute haben anderes als Lesen im Sinne: Überleben!

So wie in Ordinsk, so ist es auch an anderen Orten. Die Krise ist unübersehbar. In einer ersten und zugleich der bisher letzten öffentlich zugänglichen Bilanz des russischen Ministeriums für Erziehung aus dem Jahr 1994 klingt das so:

Zitator:     „Trotz aller positiven Veränderungen sieht sich das Bildungsystem einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber:
Die erste ist das Problem der staatlichen Finanzierung. Regelmäßiges Ausbleiben finanzieller Eingänge, der Mangel an Geld für Ausrüstung und den Bau von Gebäuden bewirkte: Den geistigen Abfluß aus dem Bildungsbereich und, als ein Ergebnis, eine eindeutige Vorherrschaft von Frauen und älteren Leuten unter den Lehrern; die Entstehung einer Anzahl von Institutionen im Bildungsbereich, die in Zwei- oder Drei Schichtbetrieb arbeiten; den Verfall der materiellen Basis.
Das Zweite Problem betrifft unsere mangelnde Erfahrung bei der Einrichtung innovativer Veränderungen in das praktische Schulleben. Das gesamte Bildungssystem mit all seinen Institutionen wurde im Grunde zum Experimentierfeld. Und dafür ist nicht nur ein Trainig im Innendienst nötig, sondern auch die Umwandlung der gesamten Mentalität der Lehrer, die Ersetzung ihrer Stereotypen.“

Erzähler:     Die staatliche Bilanz, obwohl recht offen, dringt doch nur bis zur halben Wahrheit vor. Die ganze Wahrheit wird erst offenbar, wenn man die Veränderungen, insbesondere seit 1991, noch genauer betrachtet:
Nehmen wir Borodino, eine Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in den Kohlerevieren des Krasnojarsker Gebietes im südlichen Sibirien. Vor Anbruch der neuen Zeit gehörte die Stadt ihrer reichen Kohlevorkommen wegen zu den wohlhabenden Orten des Landes. Noch in ihrem Jahresbericht von 1990 rühmte sie sich, neben anderen sozialen Leistungen mit dem Bau einer neuen allgemeinbildenden Schule für 1176 Plätze begonnen zu haben.
Im Sommer 1992, nur ein Jahr nach Beginn der radikalen Privatisierung, klagt Maria Solocha, pensionierte, aber dennoch weiter tätige Lehrerin, verbittert über den Niedergang der Schulen des Ortes:

O-Ton 8: Maria Solocha        0,42
„Vot, nu w etom godu…

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Übersetzerin:     „In diesem Jahr, also 1992, war es schon vorbei. Früher war das Kohlekombinat Chef der Schulen. Sie gaben uns Geld, finanzierten die Ausrüstung, richteten uns eine Computerklasse ein, besorgten uns technische Mittel. Seit dem Putsch von 1991 ist das vorbei. Jetzt kümmert sich das Kombinat nur noch um die eigenen Leute. Wer dort Arbeit hat, dem geht es gut, wer nicht, der lebt schlecht. Von den wenigen Steuern, die die Stadt jetzt bekommt, kann sie nichts bezahlen. Es ist alles irgendwie aus den Fugen.“
… kakaja neuwjastna.“

Erzähler:     Die Privatisierung, zeigt sich, führte nicht nur zur Kündigung der sozialen Verantwortung von oben, sondern zugleich auch von unten. Von oben zog sich der Staat, von unten zogen sich die nunmehr privatisierten Betriebe aus ihren sozialen und bildungspolitischen Verpflichtungen. Sie wurden durch Steuern ersetzt, die oft nicht gezahlt werden und von denen ein großer Teil zudem noch nach Moskau abgeführt werden muß. Zurück blieb eine zahlungsunfähige Kommune, die ihre Schulen und andere soziale Einrichtungen nur noch auf der Basis von persönlichem Enthusiasmus der dort Angestellten und Zuwendungen einiger einsichtiger Sponsoren betreiben kann. Daß die so Verbleibenden nach Lage der Dinge nicht nur Enthusiasten, sondern vor allem auch ältere Leute sind, die sich mit den neuen Verhältnissen nicht abfinden wollen oder können, liegt auf der Hand. Frau Solocha macht daraus kein Geheimnis:

O-Ton 9: Maria Solocha, II    0,25
„No, wot wi snaetje…

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Übersetzerin: „Wissen Sie, jetzt gibt es ja neue Schulbücher. Dort ist Lenin rausgesäubert. Aber ich bin mit ihm aufgezogen worden. Ich mache meinen Unterricht mit ihm. Ich erzähle von ihm, was er war, was er gemacht hat, alles erzähle ich. Keiner verbietet uns das.“
… nje sprischajut.“

Erzähler:     Statistisch ist nicht ausgewiesen, wieviele Pensionäre, vor allem in kleineren und mittleren Städten des Landes sowie in den Dörfern auf diese Weise im Beruf gehalten werden. Der von ihnen ausgehende konservative Einfluß unterliegt aber wohl keinem Zweifel.

Die Bestandsaufnahme wäre nicht vollständig, würden wir uns nicht auch den Folgen genauer zuwenden, die die Auflösung der Jugendorganisationen der Partei im Jahre 1991 und die anschließende Aufhebung der Wehrerziehung als Pflichtfach in den Schulen und anderen Bildungsanstalten nach sich gezogen hat.
Die „Jungen Pioniere“ nahmen früher die Sechsjährigen auf, wenn sie den Kindergärten entwachsen waren. Die „Komsomolzen“ umfaßten den gesamten Jugend-Freizeitbereich. Jugendzentren, Feriencamps, Kulturveranstaltungen lagen in ihren Händen. Für die ganz Kleinen gab es die Krippen, für die Älteren die „Häuser der Kultur“. Vermittelnd zwischen allem stand die örtliche Bibliothek.
Jede Ansiedlung, von den Sowchosen aufwärts bis hin in die großen Metropolen war mit mindestens einem, sagen wir, Set dieser Struktur versehen. Träger waren Sowchosen, mehrere örtliche Betriebe, manchmal auch nur ein einziger. In manchen Städten, wie in Borodino, unterhielt ein einziges Unternehmen sämtliche Einrichtungen der Stadt.
Die Auflösung dieser Struktur und der Übergang von kostenloser Rundum-Versorgung auf ein selbstfinanziertes Angebot offenem Markt bedeutete für viele dieser Institutionen bereits das Aus. Nur die Kräftigsten überleben und auch diese, wie schon die Schulen, nur auf der Basis uneigennützigen Enthusiasmus des jeweiligen Direktors und einer ihm verschworenen Gemeinschaft:
In Perm am Ural treffen wir auf ein solches Kollektiv. Es ist das Kinderhaus der früheren Leninwerke. Das ist ein ehemaliger sowjetischer Musterbetrieb der Schwerindustrie, 1965 gegründet, 30.000 Beschäftigte. 1500 Kinder wurden seinerzeit hier versorgt. Direktor Nikolai Alexandrow, ein quirliger Mittvierziger, ist selbst hier aufgewachsen. Befragt, was sich durch die neue Zeit geändert habe, erzählt er:

O-Ton 10: Direktor des Kinderhauses in Perm    0,50
„Nu, preschde swjewo ismenilas…“

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Übersetzer:     „Nun vor allem gab es Änderungen in Sachen Finanzen. Anfangs war das ein von der Gewerkschaft betriebenes Haus der Kultur. Das heißt wir lebten von den gewerkschaftlichen Geldern. Jetzt hat sich die Lage in unserem Lande geändert. Wir müssen uns vollkommen selbst finanzieren. Die Führung des Hauses, alle kreativen Tätigkeiten, die Löhne für die Mitarbeiter und schließlich noch die Nahrung für die Kinder müssen wir selbst erarbeiten. Und was das Tollste ist: Wir müssen auf das alles auch noch Steuern bezahlen wie irgendeine Konservenfabrik. Wie ich bei all dem auch das schöpferische Niveau unseres Hauses halten soll, ist mir ein Rätsel. Das gibt es doch in keinem zivilisierten Lande! So kann man keine Bildung und schon gar keine Kultur an die jungen Leute vermitteln.“
..schtobi suschustwowats.“

Erzähler:     Trotzdem versucht er sein Bestes. Kurse werden gegeben: Tanz, Töpferei, Literatur, Theater und Landeskunde. Die neueste Errungenschaft seines Hauses ist die Einrichtung einer „Schule der Auferstehung Marias“. Sie soll den Kindern das entstandene ideologische Vacuum durch Beschäftigung mit den Werten echter russischer Kultur ersetzen.
Ohne Wassiljew und seine Truppe säßen die Kinder auf der Straße. Für die Lehrerschaft ist Wassiljew Rettung aus höchster Not. Sie treffen sich bei ihm, sie schicken ihre Kinder zu ihm, er ist ihr Berater, der Vermittler und Organisator des kulturellen Überlebenswillens. Selbst das zentrale „Kulturhaus“ der Stadt, früher ebenfalls von der Gewerkschaft getragen, bezieht Impulse von ihm.
Lange aber kann das nicht so weitergehen. Schon jetzt fehlt es an allen Ecken. Wassiljew kann seine Mitarbeiterinnen, auch hier fast nur Frauen, nicht mehr bezahlen. Die Kinder, die oft nur noch beschäftigt werden können, wenden sich attraktiveren Akltivitäten, nicht zuletzt dem „kleinen busyness“ zu.
Wassiljew klagt bereits über abnehmende Gesundheit. Irgendwann wird er zusammenbrechen. Dann muß das Haus geschlossen werden. Ein anderer wird diese Arbeit, von der man nicht einmal die Familie ernähren kann, nicht übernehmen. Eine Alternative gibt es nicht.

O-Ton 11: Kinderhaus in Dudinka    1,29
Kinderhaus, Kinderstimmen…

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An anderen Orten ist die neue Zeit scheinbar spurlos vorbeigegangen.
So an Dudinka hoch im Norden an der Mündung des Jenessei, wo die Sonne im Sommer nicht unter, im Winter dafür aber auch nie richtig aufgeht.
Dudinka ist die Hauptstadt eines autonomen Kreises, der seinen Namen von den dortigen Ureinwohnern der Nenzen bekommen hat. Gut 45.000 Menschen leben in diesem Gebiet.
Hier im zentralen Kinderhaus der Stadt liegt noch alles fest in einer Hand. Die Kinder kommen soeben vom Essen in der Schule. Jetzt werden sie den Nachmittag hier verbringen, musizieren, basteln oder auch Exkursionen machen, um die Gegend kennenzulernen. Fünf Gruppen gibt es von je 25 Kindern. Alles ist kostenlos, selbstverständlich. Das Kinderhaus ist gleichzeitig Kulturzentrum.
Hier wird die neue Zeit vor allem als Problem wahrgenommen. Auf die Frage, ob sich die Kinder verändert hätten, antwortet eine der dort tätigen jungen Frauen:

O-Ton 12: Kindergärtnerin in Dudinka    0,29
„Da, otschen drugije…

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Übersetzerin:    „Ja, sie sind sehr anders. Ich beurteile das natürlich nur nach mir selbst. – Wir waren gutmütiger, denke ich. Heut haben sie irgendwie eher Geld im Kopf. Ich habe auch selbst noch zwei Kinder. Von all dem weiß ich, daß ich mehr gelesen habe. Heut wollen sie vor allem Videos.“
… bolsche widiki!

Erzähler:     Im Kinderhaus von Dudinka gilt noch die Pionierordnung: Betten in Reih und Glied, Antreten zur Mittagsruhe, gemeinsamer Abmarsch. Die Veränderungen der letzten zehn Jahre, Sowjetunion, Perestroika und anderes sind hier kein Thema. Wofür auch, meint die junge Frau, mit ihr habe auch keiner geredet. Altes Denken und neue Gleichgültigkeit gehen hier direkt ineinander über.
Verwahrlosung auf der einen, Bevormundung auf der anderen Seite, häufig, wie hier in Dudinka, fatal miteinander verquickt, sind die beiden extremen Folgen der Entstaatlichung der vor- und außerschulischen Bildungspolitik.
Die Auswirkungen treffen zunächst vor allem die Familie und in der Familie wiederum die Mütter, bzw. Großmütter, die Babuschkas. Rußland erlebt eine Renaissance der Großmütter. Sie kümmern sich um die Versorgung des Haushaltes, der Datscha und der Enkelkinder.
Viele Frauen werden heute unfreiwillig in diese Rolle zurückgedrängt. Eine Babuschka, die diese Rolle im Alter von zweiundfünzig Jahren freiwillig übernahm, begründet ihren Schritt so:

O-Ton 13: Babuschka        0,38
„Ja ponimaju, schto ja…“

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Übersetzerin: „Ich sehe, daß sie mich brauchen. So haben sie ausreichend Zeit für ihre Angelegenheiten, für ihre Arbeit. Wenn es mich bei ihnen nicht gäbe, müßten sie ganz anders arbeiten. Ich weiß überhaupt nicht, wie das gehen sollte. Da wären sie gezwungen, einzeln irgendwohin zu gehen, der eine mit den Kindern, die andere irgendwohin. Jetzt ist es so: Ich sitze bei den Kindern und sie sind frei.“
…ani swabodni.“

Erzähler:     Glücklich die Familie, die eine solche Babuschka hat, vielleicht sogar zwei. Viele Familien aber, zumal wenn es keine Babuschka gibt, werden unter den Anforderungen des heutigen Überlebenskampfes zerrieben, sodaß sie keine Kraft mehr finden, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die offizielle russische Statistik versagt vor dieser Entwicklung. Arbeitsgruppen der Ruhr-Universtät Köln haben die wenigen Daten, die immer wieder durch die russische Presse gingen, in ihrem „Halbjahresbericht zur Bildungspolitik in Rußland“ zusammengefaßt. Diese Daten sprechen eine erschreckende Sprache:

Zitator:     „Im Dezember 1992 waren 80 200 Kinder – Waisen, Halbwaisen und solche, die von ihren Eltern verlassen wurden – in 577 Heimen, 247 Kinderhäusern und 140 Internaten untergebracht. 20 500 verurteilte Jugendliche, davon 1200 Mädchen, befanden sich in Besserungsanstalten. Die Zahl der jährlich von Jugendlichen verübten Straftaten wurde mit über 200 000 beziffert.
Der prozentuale Anteil der Delikte, die von Jugendlichen begangen wurden, hat seit 1990 beständig zugenommen. Zu den häufigsten Verbrechen gehören: Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung, Prostitution und Drogenkriminalität. 65-85% der von Jugendlichen verübten Delikte sind unter dem Einfluß von Alkohol begangen worden.
Die zu Sowjetzeiten übliche Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme, einschließlich `abweichenden Verhaltens´ von Kindern haben eine Hilflosigkeit von Eltern und Pädagogen, Medizinern und Psychologen gegenüber diesen Erscheinungen zur Folge, die zu einer Sprachlosigkeit zwischen den Generationen führt.“

Erzähler:    Das „Sich vernachlässigt-Fühlen“, fahren die Kölner Beobachter fort, ist nach Ansicht russischer Psychiater die Hauptursache für die steigende Zahl von Selbstmorden und Selbstmordversuchen nicht nur unter Erwachsenen, sondern auch unter Jugendlichen. Die ungeleitete neue sexuelle Freizügigkeit führt zu einem sprunghaften Anstieg von Abtreibungen an minderjährigen Mädchen.
Ganz zu schweigen davon, eine Entlastung für die krisengeschüttelte Schule zu sein, ist das staatliche Fürsorgesystem selbst in einer tiefen Krise.
Drastisch beschreiben russische Praktiker die Lage, so Iwan Mitrofan, Dozent an der pädagogischen Hochschule von Tscheboksary an der Wolga:

O-Ton 14: Iwan Mitrofan, Dozent für Päadagogik    1,55
Deutscher Originaltext

Regie: Ganz durchlaufen lassen

„Die Pädagogik steht nicht isoliert unter anderen Wissenschaften und anderen Wissensbereichen. Die Erfolge auf dem Gebiet der Pädagogik hängen nicht nur von diesem engen Bereich ab, sondern auch davon, wie es oben organisiert ist. Ich habe oft daran gedacht: Pädagogik, ja, Wissenschaft! Aber gibt es Bildung unter den Tieren? Es gibt doch die Füchse und ihre Kinder, die Wölfe und ihre Kinder, die anderen, ja? Sie sind andres, verschieden unterrichtet sozusagen. Aber wie? Sie ahmen die Eltern nach. Das heißt, die Eltern machen es so und die Tierkinder machen ebenso. Aber bei den Menschen kommt etwas anderes vor: Die Erzieher, nun, erziehen bei den Schülern solche Eigenschaften und wollen erziehen, aber sie machen das nicht. Um es in der Erziehungssache besser zu machen, müssen alle von der Lebenstreppe sehr gewissenhaft und anständig sein, ja.“
…lacht

Erzähler:    Aber nicht nur der Schulbereich und sein Umfeld, auch Aus- und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung befinden sich in einer tiefen Krise.
Der „Tag des Wissens“ war zu Sowjetzeiten ein stolzer Feststag zu Beginn eines jeden Schuljahres. Unbestreitbare Leistungen des sowjetischen Bildungssystenms standen in seinem Mittelpunkt wie die Überwindung des 60prozentigen Analphabetismus der vorrevolutionären Zeit durch die allgemeine Volksbildung, wie der Durchbruch zur wissenschaftlichen Führungsmacht mit dem Spart des ersten Weltraumsatelliten.
Auch heute ist der „Tag des Wissens“ noch offizieller Feiertag. Für viele ist aber gerade dieser Tag inzwischen zum Protesttag geworden.
Selbst in braven Provinzstädten wie dem Tschboksary des soeben zitierten Hochschuldozenten Mitrofan ziehen Gruppen unzufriedener Jugendlicher durch die Straßen. Sie halten sich mit  Alkohol künstlich bei Laune und machen kein Hehl aus ihrem Unmut:

O-Ton 15: Jugendliche in Tschboksary            1,33
Junger Mann: „Djen snannje?…

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Erzähler:     „Wir machen einen drauf!“ witzeln sie.
„Der Tag des Wissens“, meint einer, „das ist unser zukünftiges Wissen. Das ist unsere Zukunft.“
„Früher hieß es: Voran zur Ausbildung!“ meint ein anderer, „aber jetzt? Jetzt mußt du der Beste sein, um was zu kriegen.“
„Ich möchte Wirtschaftsfachmann werden“, meint ein Dritter: „Aber es gibt keine Plätze. Selbst als Bester kriegst du nichts. Man braucht unheimlich viel Geld, von der Familie, für den Unterhalt und all das. Das kann sich nicht jeder leisten.“
„Genau, sie haben es so organisiert, daß 30% keinen Platz kriegen“, ruft ein weiterer: „Ich zum Beispiel falle unter diese 30%, obwohl ich die Uni mit Auszeichnung gemacht habe.“
„Wir erwarten nichts“, sagt ein Mädchen, „man nimmt die jungen Leute nicht zur Arbeit.“
„Unser Rußland ist groß! Es wird schon wieder auf die Beine kommen!“ pöbeln die Jungs schließlich, nicht mehr ganz nüchtern.
…charascho, spassiba.“

Erzähler:     Mehr als nüchtern dagegen ist die Bestandsaufnahme zur Lage seitens Professor Oleg Melnikows in Nowosibirsk. Er kann die Stimmung der jungen Leute verstehen. Er ist Dozent für Ingenieurswesen und Philosophie am Institut für Verkehrswesen in der sibirischen Metropole, früher ein hoch angesehener Spezialist in der Ausbildungshierarchie.
Dazu muß man wissen, daß es im Ausbildungsgang der sowjetischen Zeit keine Lehrberufe, dafür aber neben den Universitäten eine ganze Palette von spezialisierten Instituten und Akademien gab, deren Abschluß zur Aufnahme der entsprechenden Facharbeit befähigte – und früher auch automatisch berechtigte.
Institute wurden entweder überhaupt – wie das Institut für Verkehrswesen – von Betrieben oder Betriebsverbindungen getragen oder es wurden langfristige Übernahmeverträge mit Betrieben geschlossen. Auf diese Weise wußten die Studierenden bereits bei Beginn ihres Studiums, wo sie später arbeiten würden – vorausgesetzt sie bestanden die entsprechenden Prüfungen.
Heute sind diese Verbindungen gelöst, genauso wie im schulischen und im außerschulischen Bereich.
Gegen die Auflösung des schematischen Einheitsunterrichts zugunsten von Standards mit Vorschlagscharakter hat Professor Melnikow nichts einzuwenden. Auch nicht gegen die gewachsene Eigenverantwortlichkeit der Direktoren und Rektoren. Veränderungen waren unumgänglich, findet er. Höchst problematisch aber findet er das, was er die schleichende Beseitigung des Rechts auf kostenlose Ausbildung nennt:

O-Ton 16: Oleg Melnikow, Institut für Verkehswesen    1,00
„Eto paraschdajet otschen…“

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Übersetzer:     „Das ruft äußerst ernste Probleme hervor. Früher kam man per Wettbewerb auf die Institute. Da kamen nur sehr gute Leute durch. Und heute? Heute hat der Staat die Finanzierung wissenschaftlicher Institute nahezu eingestellt. Er zahlt nur die Stipendien der Studenten und das Gehalt der Dozenten. Dadurch wurde das Institut gezwungen, eigene Mittel aufzubringen und mußte zur Selbstversorgung übergehen. Es sind einige staatlich finanzierte Plätze erhalten geblieben, auf die man per Wettbewerb kommt. Aber wer es nicht im Wettbewerb schafft, der schafft es dann, in Gottes Namen, wie auch immer, über Geld. So ist die gegenwärtige Krise entstanden! Bisher hat sie uns ein gewaltigen Absinken des Bildungsniveaus beschert.“
…snischennije uriwina.“

Erzähler:     Dazu kommt, fährt der Professor fort, daß die Stipendien und die Gehälter sehr niedrig sind; außerdem werden sie schon seit Monaten nicht gezahlt. Früher hoch angesehene Leute werden zu Bettlern. Die Besten gehen unter solchen Umständen in die Wirtschaft.
Auch die Zahl der Studenten sank in den Jahren seit 1991. 1995 allerdings stieg sie erstmalig wieder. Warum?

O-Ton 16: Prof. Oleg Melnikow, II            0,43
„No w etom godu…“
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Übersetzer:     „Für den neuen Andrang gibt es zwei Gründe: Erstens, das Studium befreit zur Zeit vom Militärdienst. In Tschetschenien umkommen, das will keiner. Das Zweite ist die Arbeitslosigkeit. Die Eltern, wie es häufig geschieht, kommen her, bereden sich mit uns: `Was sollen wir fünf Jahre mit ihm machen? Besser er lebt am Institut, nach fünf Jahren sehen wir weiter. Vielleicht herrschen dann andere bedingungen.´“
…ostanowki ismenilis.“

Erzähler:     Als Gegenleistung unterstützen die Eltern das Institut persönlich oder über ihren Einfluß in Institutionen. Ohne die Hilfe der Eltern können auch die Institute heut  nicht existieren.
Hier wird deutlich, worüber die jungen Leute sich empören: Wer keinen entsprechenden Hintergrund hat, kommt gar nicht erst auf ein Institut. Ganz zu schweigen davon, ob er oder sie mit der dort erlangten Ausbildung einen Arbeitsplatz findet. Außerbetriebliche Arbeitsvermittlung ist in Rußland von heute ein Wort, das eine fremde, nämlich westliche Realität beschreibt. In Rußland wirkt heute ein Mischsystem aus traditioneller Patronage und Anarchie.
Dazu kommt, daß die Kurve der Arbeitslosigkeit, heute noch offiziell bei 3,5 Prozent gehalten, bei Fortsetzung des jetzigen Wirtschaftskurses schnell auf 15 Prozent ansteigen könnte.

Erzähler:     Nicht weniger problematisch als die wirtschaftliche Seite der Krise findet Professor Melnikow ihre ideologische:

O-Ton 18: Prof. Melnikow, III    0,36
„Nu, pakasiwaitsja tak…
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Übersetzer:     „Nun, einfach ausgedrückt, ist es so: Wir haben in Sachen Ideologie gesagt: Was war, war schlecht. Aber eine neue Ideologie, die für Russen annehmbar wäre, gibt es noch nicht. Dieser leere Platz ist eine erschreckende Sache. Das heißt, man hat hier das biblische Gebot verletzt, welches da heißt: Wenn Du die neue Kirche noch nicht gebaut hast, zerstöre nicht die alte; andersfalls gibt es keinen Ort, wo man betet. Heute befinden wir genau in dem Zustand, in dem es keinen Ort zum Beten gibt. Heute hängt alles von den jedem Einzelnen, also auch von jeden einzelnen Lehrer ab. Das ist in gewissem Maße gut, aber wenn es keine bestimmte Ideologie gibt, die alle verbindet, dann ist das schlecht.“
…eta plocha.“

Erzähler:     Von der These, daß die russische Bevölkerung überqualifiziert sei und die zukünftige Bildung auf ein verwertbares Maß reduziert werden müsse, hält der Professor nichts. Erstens sei sowjetische Bildung durchaus an Effektivtät orientiert gewesen; zweitens sei das Recht auf Bildung ein unveräußerliches Menschenrecht und Kulturziel. Damit habe die sowjetische Bildungspolitik ernst gemacht und so den 60prozentigen Analphabetismus vom Anfang des Jahrhunderts überwunden. Der Kult des Geldes und des Pragmatismus könne eine Ideologie wie den Marxismus, der ein gemeinschaftliches Ziel gesetzt habe, nicht ersetzen, ebensowenig wie Newtons Mechanik  durch spätere Erkenntnisse der Relativitätstheorie und Quantenphysik außer Kraft gesetzt werde. Jedes gelte auf seiner Ebene. „Das Wichtigste ist“, findet der Professor, „daß es keine Abbrüche gibt“.

Abbrüche möchte auch Pjotr Reschetka vermeiden. Er ist Vorsitzende des „Komitees für Wissenschaft und den wissenschaftlich-technischen Komplex des Nowosibirsker Verwaltungsbezirks“.
Er ist damit Vertreter einer der profiliertesten wissenschaftlichen Verwaltungseinheiten der russischen Föderation: Die Nowosibirsker „Akadam Gorod“, zu deutsch Wissenschaftsstadt, ist nach Moskau das wichtigste Zentrum russischer Wissenschaft und Technik. Hier war der sogenannte militärisch-industrielle Komplex Sibiriens konzentriert. Anfang der Achtziger waren  es die Wirtschaftsforscherinnen und -forscher der „Akadem Gorod“, von denen die wissenschaftlichen Startzeichen für Gorbatschows Perestroika ausgingen.  Sie entwarfen die ersten Umbau-Programme.
Kein Wunder, daß der Vorsitzende dieses mächtigen Komitees von einer Krise der Bildung und Wissenschaft zunächst nichts hören will. Die Krise ist für ihn nur Ausdruck notwendiger Veränderungen, „schwierig, aber keineswegs ausweglos“. Die Regierung, findet er, tut, was sie kann, anders könne es gar nicht sein:

O-Ton 19: Pjotr Reschetka    1,12
„Eta sjasena tem schto…“

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Übersetzer:     „Das hängt damit zusammen, daß die Regierung unabhängig von der wirtschaftlichen Situation des Landes einfach gezwungen ist, in die Bildung zu investieren, weil das sonst sofort äußerst tiefgehende soziale Erschütterungen nach sich zieht. Allein in Nowosibrisk werden mehr als 100 000 junge Leute ausgebildet. Es folgen dann weitere 15 Jahre an Berufsschulen, Colleges, Technika, danach an Hochschulen. In dieser aktiven Zeit treiben die jungen Menschen sich nicht herum; sie geraten nicht in kriminelle Strukturen, sondern halten sich im intellektuellen Raum auf. Wenn auch unter ärmlichen Bedingungen, befinden sie sich auf diese Weise doch unter beständigem Ausbildungsdruck, wo sich ihre Persönlichkeit bildet. Nach der Hochschule fällt solchen jungen Menschen schwer, sich in Banden zu organisieren.
Das ist die eine Seite der Sache. Die andere ist: Sie als Verbrecher ins Gefängnis zu setzen ist teurer, als sie in der Schule oder im Institut auszubilden.“
…schkole i institute.“

Erzähler:     Spricht schon diese Rechnung nicht unbedingt die Sprache der Reform, so beweist das, was Professor Reschetka dann an, wie er es nennt, „rein organisatorischen Problemen“ aufzählt, daß die Krise auch vor dem Bereich von Wissenschaft und Forschung nicht Halt macht. Im Gegenteil, sie führt auch dort zu schweren Einbrüchen:

O-Ton 20: Reschetka, II        0,38
„Vot swoje i u rabote komiteta…“

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Übersetzer:     „Das ist erstens das Fehlen einer normativen Basis, das heißt ungenügende gesetzliche Regelungen für die Finanzierung. Nach wie vor werden Grundentscheidungen in Moskau getroffen, obwohl die Verfassung und der Föderationsvertrag festlegen, daß Fragen von allgemeinem wissenschaftlichen Interesse gemeinsam entschieden werden sollen. Aber welcher Jurist kann heute sagen, was Fragen von allgeminem Interesse sind? Keiner. Ebensowenig ist klar, was gemeinsame Beratungen sind.“
… Moskwje.“

Erzähler:     Nach einem kurzen Ausflug zur möglichen zukünftigen Rolle Sibiriens fährt er fort:

O-Ton 21: Reschetka, III        0,46
„Wtaroi problem…“

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Übersetzer:    „Es ist zweitens das, was man das „Abließen des Geistes“ nennt. Dabei geht es um das Weglocken von jungen Spezialisten in den Westen. Wir tragen die Kosten für die Ausbildung der jungen Leute, dann kommen Westfirmen und holen die ferigen Spezialisten für ein Bettelgeld. Auf diese Weise hat unsere „Akadem Gorod“ bereits 4000 Akademiker verloren. 120 arbeiten jedes Jahr vorübergehend im Ausland.“
…nischesti djengi.“

Erzähler:     Die Privatisierung der Wohnhäuser bezeichnet der Professor als drittes Problem. Früher vom Staat seinem wisenschaftlichen Personal in der geschlossenen Exklave der „Akadem Gorod“ zur Verfügung gestellte Dienstwohnungen stehen nach der Privatisierung heute zum Verkauf. Leute mit Geld, manche nicht einmal aus Nowosibirsk, kaufen sich in der „Akadem Gorod“ ein, während die unterbezahlten Dozenten, Wissenschaftler und das wissenschaftliche Personal in die Stadt, in deren Randbezirke oder gar noch weiter abgedrängt werden. Das Problem betrifft das ganze Land und alle staatlichen Strukturen. Es ist vor Ort praktisch nicht lösbar. Moskau aber unternimmt nichts.

Professor Reschetkas Versuch, die Bildungspolitik der Regierung zugleich zu beschönigen und zu kritisieren, zeigt mehr als er verbergen kann: In ihm wird zum einen die Naivität eines Professors erkennbar, den es vorübergehend in die Politik verschlagen hat, der aber noch nicht gelernt hat, diplomatisch zu reden. Das sagt einiges darüber aus, wie heute in Rußland Politik gemacht wird.
Zum zweiten gibt er einen kurzen, aber äußerst informativen Blick auf die Kosten-Nutzen-Rechnungen frei, die in höheren Etagen der russischen Politik heute angestellt werden. In ihnen wird Bildung nicht gegen Unbildung, Rückständigkeit nicht gegen Fortschritt abgewogen, sei er vermeintlich oder wirklich, sondern vor allem Kosten gegen Gewinn.
Was dabei, entgegen den Berechnungen Professor Reschetkas und anderer Reformer herauskommt, wird in der Studie der Ruhr-Universität schon 1994 so zusammengefaßt:

Zitator:    „Mit der Bestimmung, 10% des Nationaleinkommens jährlich für die Bedürfnisse des Bildungswesens aufzuwenden, wollte das Bildungsgesetz von 1992 die `Priorität´ dieses Bereiches unterstreichen. Dieser Anteil ist nie auch nur ansatzweise erreicht worden, im Gegenteil: Der Rückkgang der Produktion und die Inflation haben die Krise der Staatsfinanzen beschleunigt. Die Folgen:
– seit 1992 ist ein starker Rückgang der Ausgaben für den Bildungsbereich im Staatshaushalt zu verzeichnen;
– 1993 und 1994 ist der Staat den Zahlungsverppflichtungen nur zum Teil nachgekommen, Lehrergehälter und Stipendien wurden mit mehrmonatiger Verspätung oder gar nicht ausgezahlt, kommunale Dienstleistungen (Energie, Heizung) wurden nicht bezahlt.“
– die den Lehrkräften aller Ebenen zugesagte Verbesserung ihrer Einkommen ist weit von einer Realisierung entfernt, auch wenn 1992 eine neue Tarifstruktur eingeführt wurde, sodaß sich ein Teil der Lehrkräfte und der Wissenschaftler am Rande des Existenzminimums befinden.“

Erzähler:    Faktisch war der Abbau der vom „Internationalen Währungsfond“ diagnostizierten Überqualifikation damit eingeleitet. Die Ausblutung der Staatsfinanzen durch den Krieg in Tschetschenien hat diese Entwicklung in den letzten beiden Jahren erheblich verschärft. Ohnehin ist es die nationale Frage, die überhaupt erst ins Zentrum der Probleme führt. Auch nach Abtrennung der Länder der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ umfaßt das heutige Rußland, je nach Zählweise, ja immer noch zwischen 100 und 200 Völkerschaften. Deren größte sind die Russen mit über 200 Millionen; ihre kleinste sind sibirische Nomaden, deren Verband nur wenige Familien zählt.
Die Reformer sind sich der Bedeutung, welche die nationale Frage für die Bildungspolitik hat, voll bewußt.
So schreibt Wladimir Schdrikow. Er ist  stellvertretender Vorsitzende des moskauer „Komitees für Hochschulangelegenheiten
beim Wissenschaftsministerium und für das Hochschulwesen sowie die Technikpolitik Rußlands“, also ein Vorgesetzter der genannten Nowosibirsker Kommission:

Zitator:     „Das anstehende Ausmaß unserer bildungspolitischen Reformpolitik ist sehr groß. Im Lande sind zur Zeit mehr als 250 000 Lehranstalten tätig; in ihnen werden mehr als 100 Millionen Menschen ausgebildet. Der Unterricht erfolgt dabei in 44 Sprachen. Diese Lehranstalten haben derzeit eine bisher unbekannte Autonomie erhalten. Freilich stehen wir erst am Anfang eines zum Teil noch diffusen, aber zweifellos langen Weges. Ich möchte nochmals betonen: Die Schule muß sich von einer Stätte formaler Aufklärung zu einem Zentrum ethnischer, nationaler und in jedem Fall lebendiger Kultur verwandeln. Dabei darf es nicht zur Entwicklung einer transkulturellen Monokultur kommen, sondern es muß ein Dialog der Kulturen und eine ethnische bzw. nationalübergreifende humane Verständigung erreicht werden.“

Erzähler:     Grundlage für eine solche Politik wären seit 1993 jene Paragraphen der neuen russischen Verfassung, die neben dem Recht auf Bildung auch das Recht auf den Gebrauch der Muttersprache im Alltag, im Unterricht, in der Verwaltung und für schöpferische Tätigkeit garantieren.
Grundlage wäre auch das „Gesetz über Bildung“ von 1992, das den regionalen Organen weitgehende Entscheidungsbefugnis über die konkrete Ausformung und Durchführung der allgemeinen Bilgungsrichtlinien zuspricht.
Auf dieser Grundlage sind in ethnisch bestimmten Republiken, Kreisen und Städten tatsächlich zahllose Initiativen ergriffen worden. Vor allem große ethnisch bestimmte Republiken wie Tatarstan, Tschuwaschien, die ihre Namen nach den dort konzentrierter als anderswo lebenden nichtrussischen Völkerschaften tragen, haben sich auf Zweisprachigkeit umgestellt. Dort treten jetzt Kräfte hervor, die lange im Untergrund, vor allem in den Dörfern, gewachsen sind. Das läßt dort heute manche muttersprachliche Dorfschule neu entstehen. Ja, die dörfliche Kultur erweist sich als der eigentliche Nährboden für die muttersprachlichen Impulse, die von den Intellektuellen der Städte ausgehen.
Rosa Juchma, zweite Vorsitzende des „tschuwaschischen Kulturzentrums“ in Tscheboksary an der Wolga, das sich der „Wiedergeburt der tschuwaschischen Kultur“ verschrieben hat, ist sogar der Meinung::

O-Ton 22: Rosa Juchma, Kulturzentrum in Tschuwaschien     0,55
„Da, esteswenna, esteswenna…“

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Übersetzerin:    „Ganz sicher ist es so: Auf dem Dorf sind die Wurzeln tief im Volk verankert. Ich weiß es auch aus eigener Erfahrung: Ich lebte ja auf dem Dorf, wo ich nichts hatte, woran ich mich entwickeln konnte. Trotzdem konnte ich in der ersten Klasse der pädagogischen Hochschule mit denen Schritt halten, die von der ersten Klasse an hier in der Stadt gelernt hatten. Das ist heut nicht anders. Wir hatten vor allem anderen gelernt zu arbeiten – sähen, mähen, ernten, Kühe melken, alles, was mit Hofarbeit zu tun hat, Sie verstehen? Das verbindet den Menschen mit seinen Wurzeln. So kriegt man wohl auch größere Achtung vor dem Menschen überhaupt. Ja, es könnte schon sein, daß die innere Kultur dort letztlich höher ist als in der Stadt. Kann schon sein, daß dort Kräfte entstehen, die die krise überwinden.“
… tam wische.!

Erzähler:     Frau Juchmas Optimismus steht im Widerspruch zum Zorn der Jugendlichen, ungeachtet, ob Tschuwaschen oder Russen, denen man am „Tag des Wissens“ in derselben Stadt begegnen konnte. Beides aber ist Realität. Mehr noch: Während Tschuwaschien, Tatarstan oder andere Wolgarepubliken, in Maßen auch noch der sibirische Altai oder das der Mongolei benachbarte Chakasien getragen von ihren ethnischen Realitäten zweisprachigen Unterricht in Schulen, Instituten und den örtlichen Universitäten aufbauen, bleiben ähnliche Versuche anderswo Initiativen auf dem Papier.
So etwa in dem schon erwähnten Dudinka hoch im Norden. Im „Museum für nationale Minderheiten“ kümmern sich dort vier Frauen mit viel Liebe und großem Einsatz um die Geschichte und Gegenwart der sibirischen Ureinwohner, der Nenzen, Jewenzen und Dolganen. Von ihnen leitet der autonome Kreis seinen Namen ab. Aber sie stehen auf verlorenem Posten:

O-Ton 23: Museum für Völkerkunde in Dudinka    1,05
„U nas tosche finanzowi problemi…“

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Übersetzerin:     „Auch wir haben finanzielle Probleme. Wir haben hier jetzt zwar so ein „Zentrum für Lehrerausbildung“. Dort gibt es spezielle nationale Programme, Lehrgänge, Schulen. Das heißt, es gibt durchaus gute, ausgebildete Leute, die in Leningrad gelernt haben. Eine Frau kommt selbst aus einem der Stämme. Sie beschäftigt sich mit den Problemen der nationalen Schule, also: wen unterrichten, wie unterrichten, in welchem Umpfang, damit es gebildet, und doch zugleich hilfreich ist. Aber die Mittel sind dürftig! Das ist im ganzen Land so und bei uns im Norden noch schlimmer. Das Problem ist die schlechte Ausbildung und der niedrige Lohn  – bei den Lehrern, bei den Kulturschaffenden und bei den Angestellten der Sozialversicherungen. Das sind die drei wichtigsten, zugleich unterversorgten Bereiche, von denen die Zukunft Rußlands abhängt.“
…sawisit budusche, budusche.“

Erzähler:     Ergebnis: Die bisherige russische Einheitsschule verfällt, für konsequenten, zweisprachigen Unterricht aber fehlt das Geld. Auch im Sprachprogramm der Bildungsreform zeigt sich so: Was als Reform begonnen hat, droht sich in deren Gegenteil zu verkehren. Schwache Regionen und kleine Völker werden auf sich selbst zurückgeworfen und faktisch aus einer gemeinsamen Bildungspolitik ausgegrenzt.
Der schon mehrfach erwähnte Bericht der Ruhr-Universität kommt angesichts solcher Erscheinungen zu dem Ergebnis:

Zitator:      „Durch Überwälzung von Bildungsaufgaben auf die regionalen Budgets im Zeichen der Politik der Dezentralisierung wird versucht, den föderalen Haushalt zu entlasten. Eine unterschiedliche Prioritätensetzung seitens der einzelnen `Föderationssubjekte´ führt dabei aber gleichzeitig zu zunehmenden regionalen Disparitäten in der Finanzierung und damit im Gesamtzustand der Bildungseinrichtungen.“

Erzähler:    Auch diese Tendenz hat sich durch den Krieg in Tschtschenien ereheblich verschärft. Dort wurden ja nicht nur die dringend benötigten Haushaltsgelder verpulvert. Dort demonstrierte die russische Regierung auch, was sie mit denen zu tun bereit ist, die die Angebote zur Autonomie zu wörtlich nehmen. Dort erleidet das Selbstbewußtsein der Bbevölkerung der russischen Föderation als einheitliche Kultur- und Bildungsnation seinen tiefsten Einbruch.

Demoralisierung, Dequalifikation und Resignation sind aber nicht die einzigen Folgen der Krise. Mächtig schlägt sich die neue Zeit auch in der Gründung neuer weiterführender Schultypen, neuer Zweige der Ausbildung und einem Boom privater Lehranstalten aller Art nieder.
Über Fünfhundert Gymnasien, ca. 350 Lyzeen wurden bereits 1992 gezählt. Das Gesetz zur Bildung legitimierte nur noch ihre Entwicklung. Inzwischen hat ihre Zahl noch einmal um fast die Hälfte zugenommen. Dazu kommen gut 7000 Schulen mit Spezialkursen, 500 private Lehranstalten und über 8000 ergänzende Anstalten,  außerdem nicht erfaßbarer Hausunterricht.

O-Ton 24: Schule 10        1,02
Schulhof, Eintritt, Halle, im Gebäude…

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen verblenden

Eine besonders interessante Spielart der neuen Schulen ist die sog. Autorenschule. Viele von diesen Schulen sind nicht neu. Neu ist ihr Anspruch, das Programm in Zusammenarbeit von Lehrern, Eltern und Schülern selbst zu gestalten. Eine der auch im Ausland bekannten ist die staatliche „Schule Nr. 10“ für 1500 Kinder  in der Innenstadt von Nowosibirsk.
Das Schulgebäude unterscheidet sich in Nichts von dem in Ordinsk oder sonst einer beliebigen Regelschule des Landes: ein Plattenbau zwischen Plattenbauten. Allerdings sind hier in den der Hallen und Gängen ein pasar mehr Topfpflanzen aufgestellt.
Auch hier liegt die Leitung bei einer Frau, Natalja Raslawzewa. Frauen bilden die Mehrzahl des Kollegiiums. Bereitwillig geht auch Frau Raslawzewa auf alle Fragen ein:

O-Ton 25: Schule Nr. 10, Direktorin        0,33
„Ja, Direktor…“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf am Ende hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Ich bin Direktorin der Autorenschule Nr. 10. für englische Sprache. Das ist eine der bekanntesten Schulen von Nowosibirsk, eine der ältesten; sie ist dreiundachtzig Jahre alt. Sie nennt sich Autorenschule, weil sie ein äußerst interessantes Programm hat, bei dem die Pädagogen, die Kinder und die Eltern Autoren selbstbestimmter Ausbildungsprogramme sind.“
… Natalja Raslawzewa.“

Erzähler:     Auf die allgemeine Krise an den Schulen angesprochen antwortet sie:

O-Ton 26: Direktorin der Schule 10, II    1,22
„Nasche pädagogi bjedni, no ani…“

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzer:     „Unsere Pädagogen sind arm, aber sie sind nicht unglücklich. Hier in der Schule fühlen sie sich wohl. Viele sagen mir: Wir rennen morgens geradezu zur Arbeit. Mag sogar sein, daß sie vor den von ihnen genannten Problemen davonlaufen.
Wir haben hier eine etwas andere Athmosphäre. Eine Athmosphäre der Güte, eine Athmosphäre des gegenseitigen Verständnisses, eine Athmosphäre, daß wir die Kinder und die Kinder uns ziehen. Wir geben einander etwas. Wir sind stolz auf unsere Abgänger. Ja, das ist ganz sicher die Elite der Stadt, wie auch des Landes! Unsere Schulabgäger sind ganz sicher gebildete Menschen und sie haben die Grundlagen, daß sie studieren oder auch direkt schon in die Berufe einsteigen können. Es ist uns nicht peinlich, wenn sie ins Ausland kommen, denn sie beherrschen alle die Sprache. Als ich zum Beispiel mit meinen Kindern nach England kam, wo ich glaubte, von ihrem Erziehungssystem lernen zu müssen, sagten mir die Engländer ganz offen: Was wollen sie nur!? Wenn wir ihre Kinder sehen, dann denken wir, daß sie das bessere System haben. Solche klugen, beschlagenen, kultivierten, nachdenklichen Kinder hätten wir auch gern. Da war ich natürlich stolz.“
…i ja gordilis.“

Erzähler:    Von staatlichen Zuwendung kann aber auch die „Schule Nr. 10“ nicht leben. Die vorgegebenen Bildungsstandards reichen nicht für das angestrebte Niveau. Selbstbewußt erklärt Frau Raslawzewa:

O-Ton 27: Direktorin der Schule Nr. 10, III    0,58
„Seitschas kak prawila…“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:     „Heut gilt die Regel: Kommt ein Direktor, der bildet ein Kommando von Gleichgesinnten! Meine Arbeit besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Pädagogen arbeiten können. Was vom Staat kommt, reicht nicht. Ich muß dafür sorgen, daß ihr Alltag stimmt. Zu mir kommen sie, um ihre Probleme zu lösen. Sie wissen zu genau, wieviele Versprechungen, wieviele Erlasse schon vorbeigeflossen sind. Sie glauben nur mir. Ich bin wie der Boss einer Firma. Ich bin für das Wohlergehen von 500 Menschen verantwortlich, 1400 Schüler, 150 Pädagogen, die dazugehörigen Eltern, dazu noch die Omas und Opas. Ein riesiger sozialer Komplex ist das. Ich kriege das Geld von Leuten, die uns mögen. Damit schaffe ich Möglichkeiten des Überlebens, während ich selbst übrigens genauso als Bettler lebe wie meine Kollegen.“

Erzähler:    Paradox findet die Direktorin eine solche Situation. Paradox findet sie auch, daß viele Schüler über wesentlich mehr Geld verfügen als die Lehrerinnen, weil die jungen Leute aus Familien der sog. „neuen Russen“ kommen. Mit der Übersetzung von ein paar Seiten Geschäftspost oder Ähnlichem für die Eltern einer ihrer Schüler kann manche Lehrerin mehr verdienen, als sie im ganzen Monat mit dem Unterricht bekommt. Gegen solche Versuchungen hilft nur Professionalität und persönliche Lauterkeit, befindet die Direktorin.
Paradox findet Frau Raslawzewa auch, daß gerade in Zeiten wachsenden Geldmangels die schöpferische Kraft ins Ungewöhnliche wachse. Ohne Scheu spricht sie über die Sonderstellung ihrer Schule, die nicht mit der auf den Dörfern oder in den Randbezirken der Stadt vergleichbar sei. Sie sieht die soziale Differenzierung, die es vielen Kindern der Randbezirke unmöglich macht, eine solche Schule zu besuchen. Bewegt spricht sie über die Depression, die die Kinder erfaßt, wenn sie sehen müssen, wie ihre Eltern, zu denen sie früher aufblickten, heute nicht mehr zu den Vowertigen zählen: Krise der Familie, Kriminalität, Krieg in Tschtschenien – das alles möchte sie nicht bestreiten; die Diskussion darüber gehört mit zum Unterricht:
… eta bolschaja problema.“

O-Ton 28: Direktorin der „Schule Nr. 10“, IV    0,34
„No glawnie, ponimaetje…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin:     „Aber das Wichtigste, verstehen Sie: Es gibt eine Wahl! Für Eltern, die davon überzeugt sind, daß Bildung für ihr Kind notwendig ist, gibt es die Möglichkeit, zwischen den Schulen zu wählen. Man kann sich heute entscheiden: Kaufe ich einen, sagen wir mal, Kühlschrank oder ein neues schwedisches Auto oder gebe ich mein Geld dafür aus, daß mein Kind nach dem anderen Ende der Stadt fährt, um dort eine gute Bildung zu erhalten? Allein diese Wahl ist für sich genommen schon ein riesiger Schritt vorwärts.“
…period, ponimaetje?“

Erzähler:    Mit Wahlfächern, Kurssystem und der Ausrichtung auf eine verwertbare Schulausbildung ist die „Schule Nr. 10“ ganz westlich orientiert. Umso bemerkenswerter ist, daß man in
Familienfragen ausgesprochen traditionell bleibt. Die Mädchen werden in Kosmetik, Haushaltsführung, Babypflege und dergleichen, die Jungs in achtungsvollem Benehmen gegenüber Frauen, Hilfsbereitschaft und handwerklichen Fähigkeiten unterwiesen. Auch über Sexualität wird gesprochen. Aber alles erfolgt getrennt:

O-Ton 29: Direktorin der „Schule Nr. 10“, V.    1,00
„Mi chatim schenschini…“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Wir wollen die Frauen weiblich und die Männer männlich machen. Es gibt ja heute so viele Irritationen. Die Schule muß da korrigieren, scheint mir. Sie darf nicht zwingen, natürlich, sie muß überzeugen. Ich denke die Mission der Frauen in der Gesellschaft ist, die Schönheit zu tragen, die Harmonie in der Beziehung zwischen den Menschen. Frauen denken oft, ihre Aufgabe bestehe darin, Männer zu übertreffen. Ich versuche meinen Mädchen beizubringen, daß es falsch ist, die Männer übertreffen zu wollen. Man muß sie korrigieren, aber korrigieren durch Sanftheit, durch Liebe, durch Milde, ihnen die Augen für die Seiten des Lebens zu öffnen, die den Mann veredeln. Meine Mädchen sollen verstehen, daß die Männer die schwere Arbeit nicht auf sich nehmen, weil sie müssen, sondern daß sie es der Frau zuliebe tun, damit sie gut miteinander leben können. Gesunde Familien sind die Voraussetzung für die Überwindung unserer Krise. Das ist sehr wichtig.“
…eta otschen waschna.“

Erzähler:     Dann spricht sie von der Gefahr der „Feminisierung“ der Schule. In dieser Frage gleichen die Anschauungen der Direktorin der Eliteschule bis ins Detail denen ihrer Kollegin von der „Schule Nr. 2“ in Ordinsk auf dem Lande.

Zwei weitere staatliche Schulen dieser Qualität gibt es in Nowosibirsk, die „Schule Nr. 42“ und die „Schule Nr. 48“. Sie sind weniger auf westliche Standards eingerichtet, achten mehr auf Vermittlung russischer Traditionen. In einem aber sind die drei absolut gleich: Wer diese Schulen absolviert hat, hat keine Probleme, eine qualifizierte Arbeitsstelle, einen Stidienplatz oder auch einen Aufenthalt im Ausland zu erhalten.
Vergleichbar sind sie auch noch in einem weiteren Punkt: als staatliche Schulen sind sie zwar unentgeltlich, sind wie jede staatliche Schule ebenfalls verpflichtet, Kinder aus dem umgebenden Bezirk kostenlos aufzunehmen. Die Wirklichkeit ist jedoch anders. Tanja, Mutter einer sechsjährigen Tochter, die vor der Frage steht, wo sie ihre Kleine einschulen soll, schildert, wie eine Einschulung dort vor sich geht:

O-Ton 30:                1,23
„Jest, konjeschna, sapis po…“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzerin hochziehen, danach abblenden)

Übersetzerin: „Es gibt die Aufnahme per Bezirk, natürlich, dann Prüfungen, Beziehungen. Einige schaffen es so, aber letztenendes laufen die meisten Aufnahmen doch über Geld, in letzter Zeit nur über Geld. Man schaut sich die Eltern an. Wenn die Eltern, wie es heißt, der Schule helfen können, entweder mit einer einmaligen Aktion oder dauernd, dann wird das Kind aufgenommen. Die einen geben persönlich Geld, die anderen unterstützen die Schule mit ihrer Firma. Oder man bringt der Schule etwas – nicht Bargeld, sondern einen Fernseher, einen Computer, einen Kopierer. Der Preis entspricht ungefähr einem Computer, das sind 1000 bis 2000 Dollar allein für die Aufnahme.“
… sa pristuplennije.“

Erzähler:     100 Dollar ist das Spitzengehalt für Lehrpersonal. Tanja als freischaffende Psychotherapeutin verdient mehr. Aber auch sie hat Mühe, das Geld aufzubringen. Trotzdem kommt die Schule ihres Bezirkes für Tanja nicht in Frage. Sie befürchtet, daß ihre Tochter dort nicht nur nicht gefördert, sondern mit Wissen von gestern vollgestopft, behindert und verstört wird. Die neuen privaten Schulen sind ebenfalls keine Alternative. Sie fordern noch mehr als die guten staatlichen Schulen, aber ihr Erfolg ist ungewiß. Viele schließen schon nach kurzer Zeit wieder, andere werden nicht anerkannt. Kinder aber, die auf Privatschulen waren, werden von Staatsschulen nicht wieder aufgenommen. Sie gelten als pädagogische Problemfälle.
Die Freiheit der Wahl, von der die Direktorin der „Schule Nr. 10“ so hoffnungsvoll sprach, erweist sich unter solchen Umständen eher als Zwang: Bildung ist zur Voraussetzung des Überlebens geworden, die man seinen Kindern, notfalls unter Einbeziehung der gesamten Verwandtschaft, unter allen Umständen zu ermöglichen sucht.
Die jungen Leute sind sich dieser Tatsache bewußt. Schülerinnen der „Schule Nr. 10“ etwa, auf ihre priveligierte Situation angesprochen, antworten nach kurzer Verlegenheit übereinstimmend::

O-Ton 31: Schülerinnen der „Schule Nr. 10“    0,59
Lachen, „ja nje snaju. Njet mi…“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     „Wir haben uns schon daran gewöhnt.“ „Das Bildungsniveau ist erheblich höher.“ „Unsere Lehrerinnen sind einfach Spitze, Elite eben, sie verstehen es, mit den Kindern umzugehen und sie geben einen sehr guten Unterricht.“
An ihrer Schule herrsche ein anderer Ton, finden sie, nicht mehr der totalitäre Unterricht von früher wie noch an den meisten andeen Schulen, sondern kameradschaftlicher Umgang zwischen Lehrerinnen und Schülern. „Wir sind hier eine Gemeinschaft“, meint ein Mädchen, „auch die Eltern kennen sich lange, ohne Beziehungen kommt hier keiner rein.“
Von privaten Schulen halten sie wenig. „Was sagt schon ein Firmennamen wie `Ramoschka´ oder so“, erklärt eine andere, „der öffnet doch keine Universität. Leute von der zehnten Schule dagegen nehmen sie überall mit Vergügen, weil du eben an einer guten Schule gewesen bist, die ihr Image hat.“
…otlitsche drugich schol.“

Den Kindern ist eine solche Ausbildung zu gönnen. Zu gönnen sind ihnen auch die neuen Gymnasien und Lyzeen, wo es ähnlich zugeht. Auch Ergänzungsschulen nach der Art der „Theaterschule Smile“, ebenfalls Nowosibirsk, sind begrüßenswerte Erscheiunungen. Bei „Smile“ treffen sich Kinder aller Schulen der Stadt zu einer künstlerisch orientierten  Zusatzausbildung. Pädagogisches Ziel ist die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit.
Initiativen dieser Art gibt es inzwischen in allen größeren Städten. Dazu kommen private Angebote zur Weiterbildung an „freien Universitäten“. In lockerer Form, die wissenschaftliche Forschung und Identitätssuche verbindet, werden Arbeitsseminare, workshops, ganze Ausbildungszüge zu den verschiedensten brennenden Themen ergänzend zum offiziellen Wissenschaftsbetrieb angeboten. Initiatoren sind nicht selten Hochschullehrer und -lehrerinnen, die sich auf diese Weise zugleich ihren Lebensunterhalt verdienen.
Dies alles ist erfreulich – aber es kostet in der Regel mehr, als durchschnittlich verdienende Familien aufbringen können. Unter diesen Umständen wird die Bildungskrise zur sozialen Krise, ja, sie verschärft den sozialen Druck, indem die von  den jetzigen Veränderungen wirtschaftlich ohnehin schon Abgedrängten, nun auch noch von der Ausbildung ausschließt.
Entgegen den erklärten Absichten der Reformer ist Bildung daher auf dem Wege, von einem allgemeinen Recht, dessen Wahrnehmung der Staat garantiert, zum Vorrecht derer zu werden, die es sich leisten können.
Gut fünf Prozent der russischen Bevölkerung, alte Nomenklatura und neue Reiche, so rechnen Ethnologen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften vor, können ihren Kindern problemlos die neuen Bildungschancen, einschließlich Studium im Ausland, eröffnen. Weitere zehn bis 15 Prozent eines neuen Mittelstandes, vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, schaffen es mit Mühe. Das gelingt häufig nur unter Einsatz der gesamten Familie, einschließlich der Verwandten und Großeltern, die zusammenlegen, um dem Enkel, in zweiter Linie auch der Enkelin,  die Ausbildung zu ermöglichen.

O-Ton 32: Ethnologen in St. Petersburg    0,42
„Drugaja tschast, ona destwitelna…“

Regie: Ton kurz stehenlassen, abblenden
(bei Bedarf nach Übersetzer hochziehen, danach abblenden)

Übersetzer:    „Beim übrigen Teil der Jugendlichen zeigen sich befremdliche Dinge: Hang zu Hordenbildung, Zusammenrottung in bewaffneten Gefolgschaften, politischer Extremismus. Das betrifft vor allem die 25- – bis 29-jährigen. Bei Beginn der Perestroika waren sie in dem Alter, in dem man sein Ich entdeckt, seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Sie sind junge Leute, sie wollen einen Platz. Aber die Gesellschaft gibt ihnen keinen. Die RNE des Barkashows gibt ihnen diesen Platz.“
…nje istwestno schto.“

Erzähler:     Die „RNE Barkaschows“, das ist die „Russische nationale Einheit“, eine militante Bewegung mit erklärter nationalistischer Zielsetzung. Ihr Führer Barkaschow  erklärt offen seine Symphatie für Hitler.
1993 war es die „RNE“, die die militantesten Kämpfer zur Verteidigung des „weißen Hauses“ stellte. Sie standen dort Seite an Seite mit Altkommunisten. „350 Stützpunkte der RNE sind bekannt. In Moskau, St. Petersburg, auch in Industriestädten des Ural oder Sibiriens zählen die Mitglieder nach Tausenden. In kleineren Städten sind es manchmal nur ein oder zwei Leute. Arbeitslosen Jugendlichen verschafft die „RNE“ Beschäftigung im Werk- oder Personenschutz. In ländlichen Gebieten kommt es vor, daß „RNE“-Kommandos maskiert die Auszahlung der Lohngelder von den Direktoren fordern und an die Arbeiter verteilen. Barkaschow pflegt für sich erfolgreich das Image eines russischen Robin Hood. In den Wehrkreisen und Sommerlagern der „RNE“ lebt die Tradition der Pioniere auf. Hier finden die Jugendlichen eine Heimat und entwickeln ein neues Selbstbewußtsein als „Soldaten Rußlands“.
Ähnliches gilt übrigens für Wladimir Schirinowskis Partei – nur daß er sich mehr an die Älteren wendet, die aus bereits erreichten Positionen verdrängt werden.
Noch sind es wenige, die den Weg in solche radikalen Strukturen finden. Die große Mehrheit der Ausgegrenzten bleibt bisher apathisch. Wenn das extreme Auseinanderdriften einer sozial und kulturell privilegierten Elite und einer zunehmend dequalifizierten Mehrheit aber nicht bald gestoppt, mindestens jedoch gemildert wird, bevor noch eine weitere Generation durch die Schulen gegangen ist, dann ist nicht auszuschließen, daß viele, vor allem junge Menschen, ihre Zukunft nicht in der Vielfalt, sondern in den Versprechungen auf eine gewaltsame Wiederherstellung der verlorenen Einheit suchen.

Landreform in Rußland (Text)

Landreform in Rußland

Im Frühjahr 1997, nach seiner Wiederwahl als Präsident und genesen von seiner Herzopration, kündigte der russische Präsident Boris Jelzin eine neue Phase der Reformen an. Nachdem die erste Phase der Privatisierung in der Industrie und auf dem Lande nunmehr erfolgreich abgeschlossen worden sei, sei nun die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ an der Reihe. Gemeint waren damit die Versorgung mit Gas, Öl, Elektrizität, das Verkehrs- und das Bauwesen, der Dienstleistungsbereich und auch das Bildungswesen. Besonders hob der Präsident hervor, daß nun endlich auch mit der Verkaufbarkeit von Grund und Boden ernst gemacht werden müsse.
Damit war erneut das Stichwort gefallen, um das es auch in diesem Stück zur „Landreform in Rußland“ geht: Die Umwandlung des landwirtschaftlichen Gemeineigentums in Privateigentum und die der kollektiv produzierenden Landwirtschaft in eine nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten wirtschaftende.
Ich sage „erneut“, weil diese Ankündigung des russischen Präsidenten nicht die erste dieser Art war. Sechs der gleichen Art sind ihr spätestens seit 1991 vorausgegangen, nachdem schon Michail Gorbatschow an dieser Frage scheiterte war und seinem Nachfolger Boris Jelzin mit der ungelösten Landfrage ein explosives Problem hinterließ.
Die Ankündigung einer sofortigen Privatisierung auf dem Lande, insbesondere der Umwandlung des unverkäuflichen Gemeineigentums in handelbares Land war einer der entscheidenen Programmpunkte, mit denen
Boris Jelzin und sein „Kommando“, wie die jeweilige Regierung in Rußland genannt wird, 1991/92 zur sog. demokratischen Revolution antraten.
Bis Ende 1993 sollten die Sowchosen und Kolchosen, als die Kollektivbetriebe in Aktiengesellschaften oder andere Gesellschaften bürgerlichen Rechts umgewandelt worden sein und das gemeinsame Eigentum nach Anteilen auf die Mitglieder der Gemeinschaft aufgeteilt sein. Jedes ihrer Mitglieder – vom Baby bis zum Rentner oder der Rentnerin, selbst solchen, die nur noch formal auf dem Dorf lebten – sollte das Recht erhalten, sich seinen Anteil entweder zur eigenen Bearbeitung als privater Bauer aushändigen, sich auszahlen zu lassen oder es selbst weiter zu verkaufen. Offen blieb, unter welchen Bedingungen das einzelne Mitglied ihr oder seinen Anteil verkaufen durfte. Gut 400.000 private Hofgründungen erwartete die Regierung bis Ende 1993. In ihnen sah man den Motor der Modernisierung für die in die Krise geratene Landwirtschaft.
Mehr als die Hälfte der kollektiven Betriebe war am Ende des Jahres tatsächlich zu Aktiengesellschaften umregistriert. Die einen als offene Aktiengesellschaften, in die auch Städter sich einkaufen konnten, die anderen als sogenannte „AGs geschlossenen Typs“, in denen die Anteile nur innerhalb der Gemeinschaft weitergegeben werden durften.
In einem war die Mehrheit der Betroffenen sich zu der Zeit einig, daß nur an solche Menschen verkauft werden dürfe, die das Land auch landwirtschaftlich nutzen wollten. „Spekulanten“ wollte man auf den Dörfern nicht sehen. Und auch die Städte zögerten mit der Freigabe der Grundstücke. So konnten inländische oder auch ausländische Gesellschaften zwar Anteile von Fabriken kaufen, konnten sogar Mehrheitsbesitzer von Aktien werden – aber der Grund und Boden, auf dem die Betriebe sich befinden, blieb nach wie vor Staatsbesitz, eben Gemeineigentum.
Nicht 400.000 private Höfe, wie angekündigt, sondern gut 200.000 waren Ende 1993 auf diese Weise entstanden. 1993 erhöhte sich die Zahl noch einmal auf 270.000. Schon jetzt war die Fluktuation ein erkennbares Problem, d.h. gut 10.000 Höfe waren bereits wieder aufgegeben worden. Seit 1994 geht die Zahl der Höfe auch absolut zurück.
Inzwischen wird der private Hof auch von der Regierung nicht mehr als der Weg zur Modernisierung der Landwirtschaft betrachtet. Das Schlagwort der Privatisierung ist schon lange durch das der „gemischten Wirtschaft“ ersetzt worden. Aber auch die kollektiven Wirtschaften befinden sich in der Krise. Ähnlich wie die Industrieproduktion so sinkt auch die landwirtschaftliche seit 1990/91 jährlich zwischen 8 und 10 Prozent. Die Tierhaltung ist rückläufig, Tiere werden geschlachtet und gleichzeitig die Aufzucht junger Tiere eingeschränkt.
Einen Boom, sofern man das so nennen kann, verzeichnet lediglich die private Garten- und Hoflandwirtschaft. Das betrifft die sog. Datschen, auf deutsch Schrebergärten vor den Städten, bzw. auch einfach nur die Beackerung eines von der Stadt vor den Toren zur Verfügung gestellten Stückchen Landes mit Kohl oder Kartoffeln. Es betrifft auch die Gärten, welche die in Kolchosen oder Sowchosen auch in deren neuer Form als Aktiengesellschaften lebenden Familien privat bewirtschaften. Dazu gehören in der Regel Hühner, ein paar Schweine, ein, zwei Kühe oder andere Tiere, deren Zahl im Hoflandbereich in den letzten Jahren kontinuierlich wächst. Hier, geschützt durch die Mitgliedschaft im Kollektivbetrieb, kann findet eine heimliche Privatisierung von unten statt.
Die von oben verordnete Linie der Privatisierung dagegen muß man heute als gescheitert betrachten. Das Fehlen der Ausführungsbestimmungen war nur das äußere Anzeichen dafür, daß die Regierung nicht in der Lage sein würde, die Auflösung der Gemeinschaftsstrukturen durchzusetzen. Die Mehrheit der Kollektivbetriebe hat sich zwar brav in AGs umbenannt, die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Gemeinschaften sind dadurch aber nicht effektiver, sondern uneffektiver geworden, sie arbeiten nicht profitabler, sondern weniger profitabel – gemessen an der Menge von Produkten, die sie der Gesellschaft zur Verfügung stellen können.
Einzelne, vor allem leitende Mitglieder der Gemeinschaften mögen sich an der Umwandlung bereichert haben. Auf solche Gedanken muß man bekommen, wenn man beim Besuch der Dörfer die neu aus dem Boden schießenden ein oder zweistöckigen gemauerten Häuser sieht, die dort in den letzten Jahren – außerhalb jeder, wie soll ich sagen? – ästhetischen Dimension mitten zwischen die Holzbauten gesetzt werden.
Aber insgesamt kann die Landwirtschaft nur noch mit massivsten Subventionen überleben. Die wiederum gehen, entsprechend der neuen „privatwirtschaftlichen“ Mentalität oft nicht in die Produktion oder bitter notwendige Verbesserung der maschinellen Ausstattung oder Infrastruktur der Landkreise ein, sondern versickern irgendwo in den Strukturen der örtlichen Macht.
Die Situation der Einzelbauern ist nahezu aussichtslos. Ausgegliedert aus der vorher alles umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Gemeinschaft, kämpfen sie sich, oft auch noch am Rande des früheren Sowchosgebietes, als Familienbetriebe durch den bäuerlichen Jahresrythmus. Aber es reicht nicht hinten und nicht vorne. Es fehlt der Machinenenpark, es fehlt das Saatgut, es fehlt die Möglichkeit der Weiterverarbeitung, es fehlen die Wege – alles war auf arbeitsteilige Großproduktion eingestellt; da fällen die Einzelbauern einfach zurück. Sie können ihre Milch nicht verarbeiten, sie können ihr Korn nicht trocknen. Manche sammeln ihre Kartoffeln mit der ganzen Familie wieder im Handbetrieb oder verzichten gleich darauf und bauen nur noch an, was sie grad für die eigene Versorgung noch brauchen. Die Kredite, die man ihnen versprochen hat, sind ausgeblieben, bzw. hat sich deren Rückzahlung derart verteuert, daß die privaten Bauern praktisch für ihr Leben in einer Höhe verschuldet sind, von der keine Aussicht haben, jemals wieder herunterzukommen.
„Flankierende Maßnahmen“, die Anfang 1992 unter dem Titel eines Programms „Zum Ausbau des Dorfes“ angekündigt waren, blieben ebenfalls aus. Sie fielen der von der Regierung betriebenen Sparpolitik zum Opfer.
So kann es nicht wundern, daß sich schon ab Mitte 1992 der Widerstand gegen die von der Regierung betriebene Agrarreform regte. Er fand seinen Ausdruck vor allem in den örtlichen und regionalen Sowjets, repräsentiert durch den Oberstens Sowjet in Moskau. Seit Mitte 1993 lähmten sich Regierung und Oberster Sowjet gegenseitig. In den Dörfern stapelten sich die Verordnungen der einen und der anderen Seite, die sich gegenseitig negierten. Wo sie übereinstimmten, fehlten in der Regel die Ausführungsbestimmungen; wenn diese gegeben waren, scheiterte die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen am Geld.
Mit der gewaltsamen Auflösung des Obersten Sowjet versuchte Präsident Boris Jelzin sich den Weg frei zu machen für die Durchsetzung seiner Vorstellungen von der Landreform. Auch danach hat sich nichts geändert. Exakte Durchführungsbestimmungen fehlen bis heute, bis heute ist unklar, ob Land auch dann verkauft werden darf, wenn es nicht landwirtschaftlich genutzt wird. Nicht nur, daß die Duma, das Nachfolgeorgan des Obersten Sowjet, die Verordnungen des Präsidenten in dieser Frage regelmäßig außer Kraft setzt. Durch die tendenzielle, aber im Einzeln en noch undurchschaubare Umwandlung des Zentralstaats in einen Föderalstaat, gelten auch unterschiedliche regionale und lokale Zusatzverordnungen. So dürfte auch von der neuerlichen Initiave des Präsidenten keine Lösung dieser Frage zu erwarten sein.
Um zu verstehen, warum das alles so ist, muß man sich für einen Moment von den gewohnten westlichen Vorstellungen lösen. Selbst der kürzeste Besuch in einer Sowchose, Kolchose, jetzt AG läßt erkennen, daß deren von oben verordnete Umwandlung in privat wirtschaftende Einheiten nicht funktionieren kann.

Was ist solch eine Sowchose? Das sind drei, vier oder mehr Dörfer, die eine soziale und wirtschaftliche Einheit bilden. Das sind Traditionen des Gemeinschaftsbesitzes, die sich in der russischen Geschichte allmählich herausgebildet haben, lange bevor sie von den Sowjets nach der Revolution von 1917 verstaatlicht wurden. In einer solchen Gemeinschaft hat das einzelne Mitglied seinen festen Platz, es ist wirtschaftlich versorgt, es hat den Hof, bzw. auch den Garten für die Absicherung der privaten Grundbedürfnisse, für Kindergarten, Schule, Kultur, für Strom, Wasser und Wege und dergl. sorgt die Sowchose, für das Alter bietet sie einen sicheren Platz. Welches Interesse sollte ein Sowchosmitglied an einer Auflösung eines solchen Verbandes haben? Keines, das ist klar. Deswegen werden alle Versuche, eine solche Art der Privatisierung von oben zu erzwingen, auch in Zukunft am Widerstand der Mehrheit der Landbevölkerung scheitern.

Begleittext zur Schulfunksendung des bayerischen Rundfunks

„Pust on ostajotsja“ – Soll er bloß bleiben: Jelzins Spurt vom Reformer zum Konservativen

Am 16. Juni wird in Rußland ein neuer Präsident gewählt. Elf Kandidaten stehen zur Wahl. Einen Monat vor dem Urnengang ist der amtierende Präsident Boris Jelzin in einem rasanten Spurt an allen anderen Kandidaten vorbeigezogen. Nach der Wahl zur Duma Ende 1995 stand sein „rating“, also seine statistische Sympathiekurve, aug 9 Prozent. Wenige Tage vor dem Wahltermin war sie auf 33 Prozent geklettert; das seines wichtigsten Konkurrenten, des Kommunisten Gennadij Szuganow, war auf 28 Prozent eingefroren. Die übrigen Bewerber blieben mit Daten zwischen sieben und fünf Prozent abgeschlagen zurück.
Unser Autor Kai Ehlers ist quer durch die russische Föderation gefahren, um zu beobachten, wie das geschehen konnte und was das zu bedeuten hat.

O-Ton 1: Abfahrt: Tür, Bremse…    0,24

Regie: Ton kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:    Start in Hamburg. Für Irina und Pawel, ein Psychologenehepaar aus Nowosibirsk, die mich eingeladen haben, sie beim Transport ihres in Hamburg gekauften neuen Autos nach Haus zu begleiten, geht es zurück in den Alltag. Für mich ist es der Aufbruch in den russischen Wahlkampf. Irina und Pawel sind die ersten, die ich befrage. Was bedeutet die Wahl für sie?

O-Ton 2: Irina                0,36

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Oh je, Kai, grausig! Besser, es bliebe alles, wie es ist! Aber Veränderungen sind zu befürchten. In dem Fall kann es nur  schlechter werden: Umgekehrte Privatisierung, du verstehst? Kann sein, daß ich meine Arbeit verliere, daß sie unsere Kooperative schließen. Vielleicht nimmt man uns unsere Wohnung oder auch dieses schöne Auto; ich kann nie mehr nach Hamburg kommen – das alles hat es gegeben und es kann wieder so sein! Das ist sehr gut möglich.

…i moschit bit, konjeschna.

O-Ton 3: Pawel                0,08

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    „Die Spurrillen des Totalitalismus sind noch frisch“, wirft Pawel ein. Der Wagen könnte wieder hineinschliddern, fügt Irina hinzu.
…moschno skatitsja.

O-Ton 4: Fahrtgeräusche        0,41

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, mit O-Ton 5 verblenden

Erzähler:    Erinnerungen an die Entkulakisierung werden wach. Sie löste die kurze Zeit der „neuen ökonomischen Politik“ nach der Revolution von 1917 ab. Unter der Parole
„bereichert Euch“ hatte die kommunistische Partei zur privaten Initiative aufgerufen. Millionen mußten ihr Vertrauen damals mit dem Tode bezahlen. In abgemilderter Form wiederholte sich das nach dem Tauwetter der Ära Chruschtschow. Geblieben ist die Angst, daß die heutige Reform wieder so enden könnte. Jelzins Wahlkampf ist voll auf diese Ängste abgestellt.

O-Ton 5: Halt                0,18

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:    Erster Halt: Ein Dorf bei Minsk. Schon hier in Weißrußland ist die Beunruhigung, die die Wahl hinterläßt, spürbar:

O-Ton 6: Frauen bei Minsk    0,56

Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler (1) hochziehen

Erzähler (1):    „Wir haben unsere eigenen Sorgen. Was kümmert uns Rußland“!“ wehren diese Frauen zunächst ab. Doch dann bricht es aus ihnen heraus: „Egal, wer Präsident wird, ob Jelzin, ob Szuganow. Egal, mit welchen Verordnungen der Neue um sich werfen wird – Hauptsache, es gibt keinen Krieg!
…nje bi woini bilo bi, Schritte

Erzähler:    Kein Wunder, daß sie so reden. Haben doch die Präsidenten der „Gemeinschaft uanabhängiger Staaten“, also die Erben der Sowjetunion, soeben in Moskau erklärt, nach einem Wahlsieg Szuganows werde die Gemeinschaft, vielleicht gar die russische Föderation auseinanderbrechen.

O-Ton 7: Hauptplatz in Jarzena: Moped, Besen    0,28

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Den nächsten Halt machen wir schon in der russischen Föderation: Jarzena, Hauptplatz. Hier scheint jede und jeder mit den eigenen Dingen beschäftigt. Gut 100.000 Einwohner hat die Stadt. Es gibt eine große Motorenfabrik, die aber steht. Arbeitslosigkeit ist das größte Problem des Ortes. Wie denkt man hier über die Wahl? Eine Frau, die eifrig den Platz fegt, ist die erste, die ich frage:

O-Ton 8: Frau, die den Platz fegt    1,27

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Übersetzerin: „Ach je, was die Wahl für mich heißt? Das weiß ich selbst nicht. Aber ich gehe für Jelzin. Ich habe diese Arbeit gekriegt. Jetzt hat er die Pensionen erhöht. Zu wenig immer noch, aber immerhin doch.“

Erzähler:     Szuganow findet sie auch nicht schlecht. Bei ihm werde das Brot wieder billig. Andere Kandidaten kommen für sie nicht in Frage. Gorbatschow? Um Gottes Willen! Der hat doch mit all dem angefangen, Perestroika, Zerfall! Schirinowski? Nein, der ist ihr zu aggressiv. Weitere Namen kennt sie nicht. „Entweder für Szuganow, schließt sie, oder für Jelzin. So ganz habe sie sich noch nicht entschieden.

O-Ton 9: Zweite Alte auf dem Platz    0,37

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin kurz hochziehen

Erzähler:     „Ich, ich bin für Szuganow“ antwortet eine andere Alte, die am Wegrand Samen verkauft. „Dem Volk geht es schlecht“, schimpft sie: „Nur den Chefs geht es gut. Szuganow wird die Produktion wieder ankurbeln und die Landwirtschaft in Ordnung bringen.“ Wer Handel treiben wolle, bitte sehr! Aber vor allem brauche das Volk Arbeit. „Ich bin die Frau eines Helden der Sowjetunion“, wettert sie. „Jetzt verkaufe ich hier Samen. Finden Sie das richtig? Eine Schande ist das. Ich schäme mich!“
…menja stidna, Kind lacht

O-Ton 10: Mann in Jarzewa        0,24

Regie: Hart anschließen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Zwei Arbeiter aus der stillgelegten Fabrik: Er werde für Schirinowski stimmen, sagt der eine. Sein Begleiter nickt. Viele Kollegen, bestätigt er, dächten wie sie.
Wieso ausgerechnet Schirinowski?

Übersetzer:     „Weil Schirinowski sagt, was ist und weil er das tut, was er sagt. Den Anderen kann man nicht glauben. Das ist alles.“
… nje mogu skasats

O-Ton 11: junger Mann, Jarzewa        0,55

Regie: Hart anschließen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Für Szuganow werde er auf keinen Fall stimmen, meint dieser junge Mann. Auch nicht für Schirinowski. Der junge Geschäfstmann ist aus Moskau zu Besuch und zum Trinken an einen der Kioske gekommen. In den kleinen Städten verstünden die Leute eh nicht, worum es ginge, meint er.

Übersetzer:     „Sie stimmen für das, was man ihnen sagt: für Wurst, Wodka und Hering. Hier denkt man nicht, hier wird man durch das Leben belehrt – nachher! Aber man muß denken: Wenn Szuganow gewählt würde, wäre das eine Katastrophe. Man läßt ihm keine Chance. Sie schlagen ihn einfach tot. Banditen gibt es genug in Moskau, ganz normale.“
…mnoga, normalni, Kioskmusik

O-Ton 12: weiter unterwegs, Irina    0,36

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, verblenden

Erzähler:    Wieder unterwegs: „Der Junge hat recht“, kommentiert Irina meine Aufnahmen von Jarzewa. Eigentlich müsse man sogar sagen: In kleinen Dörfern wird getan, was das große Dorf, Moskau, sagt. Vor allem jetzt werde das sichtbar, während der Wahl. „Die Leute“, sagt Irina, „fügen sich ja wie Wachs unter der Agitation.“
…na agitaziju

O-Ton 13: Kirche in Petuschki        1,12

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, dem Erzähler unterlegen, nach Erzähler verblenden mit O.Ton 14

Erzähler:     Wie wenig Verlaß in der jetzigen Situation des Landes indes selbst auf die vertrautesten Klischees ist, erfuhr ich schon beim nächsten Halt in Petuschkin. Das ist eine kleine Stadt nur wenige Stunden vor Moskau: Soeben aus der Abendandacht gekommen, überraschen mich eine Bäuerin und ihr Sohn mit einer Analyse der Wahlkampagne, die jedem demoskopischen Institut zur Ehre gereichen könnte:

O-Ton 14: Bäuerin und ihr Sohn in Petuschkin    0,31

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun ich denke, bei uns gibt es jetzt zwei; auf die beiden verteilt sich das Volk fünzig zu fünzig: Jelzin und Szuganow. Jelzin schlief, Jetzt ist er aufgewacht. Er macht jetzt sehr viel. Die Leute hatten ihren Glauben an ihn verloren. Jetzt glauben sie wieder. Viele stehen jetzt auf seiner Seite. Er hat versprochen, daß jeder sich mit dem befassen kann, was er angefangen hat, das heißt, daß ich das tun kann, was ich will.“
…xotschitsja to djelats

Erzähler:     Ihr Sohn sekundiert:

O-Ton 15: Sohn der Bäuerin    0,17

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, er verspricht viel, natürlich. Aber die Entwicklung ist inzwischen so, daß es keine Alternative gibt. Selbst Szuganow könnte nichts mehr zurückdrehen. Wenn es keinen Krieg geben soll, dann muß es so weitergehen wie jetzt. Verstehen Sie? Stabilität!
…ponimajete, stabilnost

O-Ton 16: Sohn, Forts.        0,22

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, unterlegt lassen, allmählich hochziehen, nach Übersetzer frei stehen lassen.

Erzähler:     Den übrigen Kandidaten geben die beiden keine Chance: Jawlinski? Zu intellektuell. Fjodorow? Besser, er bliebe Arzt. Lebed? Ein General! Schirinowski? Faschist! „Und Faschismus“, sagt der Sohn, „kommt in Rußland nicht durch!“
… nje proidjot

Erzähler:    Die verbleibenden finden sie „einfach nicht seriös“. Bleibt also Jelzin. Aber auch an ihn sind die Erwartungen nicht hoch. Hauptsache, alles bleibt, wie es war. Ob ein neuer Präsident Jelzin seine Versprechen einhalten wird, ist aus ihrer Sicht schon nicht mehr interessant:

O-Ton 17: A kto snajet…?    0,08

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehn, abblenden
…prosnulsja

Übersetzerin: „Wer will das Wissen? Ja, kann durchaus sein, daß er dann wieder einschläft.“

O-Ton 18 Abfahrt, Fahrt, unterwegs    0,51

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung hochziehen

Erzähler:    Irina und Pawel zeigen sich überrascht. „Die beiden haben dir ihre helle, vernünftige Seite gezeigt“, meint Irina. Mir komme das vielleicht normal vor, fügt sie hinzu, aber sie hätte nicht gedacht, daß einfache russische Leute in kleinen Orten so gut sprechen könnten.
…takoi prostoi, Fahrtgeräusche

O-Ton 19: Luberci, Vorstadt, Frauen    0,39

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler (1) vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen

Erzähler:     Jenseits von Moskau, in der berüchtigten Trabantenstadt Luberci treffen wir auf die andere, die dunkle Seite:

„Ich weiß nicht, ich bin für Schirinowski“, sagt diese Frau. Die Rückkehr Stalins fordert sie. Ordnung gab es da, findet sie. In der Fabrik wurde nicht lange gefackelt. Mit Säufern wurde kurzer Prozess gemacht. Mangel? Stagnation? Terror? „Ach was!“, winkt sie ab, „wir haben gekriegt, was wir brauchten. Wir haben gelebt, besser als jetzt.“
… no mi schili

Erzähler:    Mein Hinweis, Schirinowski wolle doch auch Kapitalismus, sei sogar selbst Kapitalist, provoziert nur Gelächter:
„Ja, soll er doch! Wir sind auch für den Kapitalismus! In einem halben Jährchen ist sowieso alles vorbei!
… Gelächter

Von Schuganow?.

O-Ton 20: Frauen in Luberci, Forts.    0,09

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Auch das noch! Wenn´s jetzt schon schlimm ist, dann wird`s noch schlimmer! Das muß ich nicht haben. Nein ich brauch Schirinowski!“
… Schirinowski nado, Lachen

O-Ton 21: TV im Hotel, Jelzin    1,02

Regie: Allmählich aufblenden, kurz stehenlassen, nach Beginn von Jelzins Rede abblenden, unterlegen, nach Übersetzung hochziehen.

Erzähler:     Abends im Hotel. Nachrichten. Jelzin auf allen Kanälen. Auf schneeigem Bild und in schlechtem Ton kommt seine polternde Absage an den Dialog mit Szuganow daher. Vergleichbare Informationen über andere Kandidaten sucht man vergebens:

Übersetzer:     „Ich war dreißig Jahre Kommunist. Ich habe es satt, diese Demagogie weiter zu hören. Ich kann sie mit meiner heutigen demokratischen Weltanschaung nicht mehr ertragen.    Ich sage klar, daß mir seine Debatte nichts bringt: Ich stehe zu Meinem! Er aber will zurück und will kommunistische Revanche. Das wird es nicht geben. Um keinen Preis!
…nje sa schto, Klick

O-Ton 22: Nischni-Nowgorod

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:     Nischni-Nowgorod ist die nächste Station. Hier frage ich vor allem nach Grigorij Jawlinski und seinem Partner, dem Bürgermeister der Stadt, Boris Nemzow. Beide gelten als junges, dynamisches Team. Sie stehen für ein alternatives Modell von Reformen. Doch heißt die Antwort auch hier:

O-Ton 23: Junger Mann         0,20

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen:

Übersetzer:     „Jelzin, Jelzin! Warum? Er ist im Prinzip in Ordnung. Mit gefällt, was im Land vorgeht. Es ist eine Zeit für die Jugend. Das gefällt mir. Es gibt große Wahlmöglichkeiten, wo man arbeiten will, Möglichkeiten, die eigenen Kräfte zu entwickeln. Was will man mehr?
… tscho jetschtscho?

Erzähler:     Der junge Mann ist Student. Zur Zeit verdient er als Barmann das Geld für sein weiteres Studium. Im Prinzip sei er durchaus für Jawlinski, erklärt er. Aber damit würde er seine Stimme verschenken und deshalb werde er Jelzin wählen. Auf Jelzins rücksichtslose Sozialpolitik und auf den Krieg in Tschetschenien angesprochen, konkretisiert er:

O-Ton 24: junger Mann, Forts.    0,21
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich stimme für Jelzin bloß deshalb, damit es keine globalen Veränderungen gibt, wie das vermutlich geschehen würde, wenn die Kommunisten drankämen. Dann ginge es wieder in Richtung Bürgerkrieg.“
…graschdanskie woinje

Erzähler:     Den Krieg befürchtet auch er allerdings nicht von Szuganow selbst, sondern von denen, die einen Wahlsieg der Kommunisten nicht akzeptieren würden: von den Bankiers, von den neuen Reichen und von der Mafia.
Vor wenigen Tagen erst, erinnert er sich, hätten die neuen russischen Finanzbosse in einem offenen Brief, der in allen großen Zeitungen erschien, nicht näher genannte „Maßnahmen“ für den Fall eines Wahlsiges der Kommunisten angekündigt.

O-Ton 25: Hund                0,41

Regie: Allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, allmählich ablenden

Erzähler:    Von Nischni Nowgorod sind wir der Wolga weiter ins Herz Rußlands gefolgt. Die Wolgaregion ist zugleich das ethnisch vielfältigste Gebiet der heutigen russischen Föderation. Sechs ethnische Republiken liegen hier beieinander: Tatarstan, Tschuwaschien, El Mari, Mordawzien, Utmurtien und Baschkortastan.
Wir nahmen zunächst Kurs auf die tschuwaschische Republik. Dort nächtigen wir jetzt als Gäste des Schrifstellers Michail Juchma auf dem Dorf. Juchma, Aktivist der tschuwaschischen Kulturbewegung, gibt uns ein Bild der Wahl aus der Sicht der kleineren Völker:
…Hundegebell

O-Ton 26: Michail Juchma    1,17

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Was kann man zu den Wahlen sagen?
Es gibt keine Kultur der Wahl in der Bevölkerung. Das Volk wählt zufällig. Wen es wählen wird, ist absolut offen. Alles, was die Statistiker zur Zeit voraussagen, wird so nicht kommen. Alles entscheidet sich in den letzten zwei, drei Tagen. Das ist das Eine.
Das Zweite ist: Niemand kann garantieren, daß die Wahl nicht in bestimmten Abhängigkeiten verläuft: Ich weiß aus Erfahrungen in unserer Republik, daß häufig nicht Einzelne entscheiden, sondern die Vorstände der Kolchosen, die bezirklichen und die dörflichen Wahlkomitees.“
…selskich wibernich komitetow

Erzähler:     Das Pendel drohe für Szuganow auszuschlagen. Jelzin habe zu viele Versprechungen nicht eingelöst.

O-Ton 27: Juchma, Forts.    0,45

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:     „Das Wichtigste ist jedoch der Krieg in Tschtschenien. Das gilt vor allem für die ethnischen Republiken. Er verliert eine gewaltige Menge Stimmen in Tschuwaschien, bei den Mari und bei den Völkern des nördlichen Kaukasus. Wegen des Krieges werden sie gegen ihn stimmen. Aus diesem Grunde kann Szuganow drankommen.“
…moschit proiti.

O-Ton 28: tschuwaschische Musik    2,11

Regie: Unter dem Erzähler langsam kommen lassen, am Ende des Erzählers frei stehen lassen, allmählich abblenden, wenn der Erzähler wieder einsetzt.

Erzähler:     Juchmas Traum eines Auswegs heißt: Michail Gorbatschow. Ihn hält er für den berechenbarsten Kandidaten. Ihm allein traut er zu, den Krieg in Tschetschenien wirklich zu beenden. Zusammen mit anderen demokratischen Bewerbern könne er eine dritte Kraft bilden. Wenn sie sich nur einigen könnten! Politischer Ehrgeiz und mangelnde demokratische Kultur allerdings, fürchtet Michail Juchma, sprechen dagegen. Seine Gäste aus Nowosibirsk stimmen ihm zu. Unter solchen Erörterungen und bei einem kräftigen tschuwaschischen Bier, aus eigenem Hopfen selbst gebraut, vergeht der Abend schnell.
…Musik

Regie: kurz freistehen lassen, mit einsetzem Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:     Vor der neuen Moschee in UFA, der Hauptstadt der baschkirischen Republik, sieht alles wieder ganz anders aus. Forsch offenbart mir der örtliche Imam, ein Baschkire, seine politischen Prioritäten, nachdem er mich zuvor daran gehindert hat, die Frauen zu befragen, die vor dem Tor betteln:

O-Ton 29: Imam der Moschee    0,38
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Man muß natürlich Jelzin wählen. Obwohl ich ihn persönlich nicht liebe, weil er die Ttschetschenen als Banditen bezeichnet. Sie sind keine Banditen. Sie kämpfen um ihre Freiheit. Jelzin und seine Leute haben Grosny zerstört, wie Hitler Stalingrad. Dann noch von Banditen zu reden! Trotzdem muß man Jelzin wählen. Er hat angefangen, soll er jetzt also auch bis zum Ende gehen. Kommt ein anderer, dreht der sich um 180 Grad oder geht wer weiß wohin.“
…kuda nibud

O-Ton 30: Bettlerin        0,54
Regie: Allmählich aufblenden, nach dem Erzähler hochziehen, frei stehen lassen

Erzähler:     Kaum ist der Imam fort, kommt eine der Frauen, die ich nicht befragen durfte, hinter mir hergerannt. Sie erklärt sich gegen Jelzin. Sie ist für Szuganow. Den Imam beschimpft sie. Ein Dieb sei er! Ein Trinkgeld, was er ihnen gebe! Sie schüttelt die Münzen. Drei Datschen, drei Autos habe er. Pfui, Teufel! Wie kann man! Empört spuckt sie aus.
…wi moschesch?!

Erzähler:     Welten prallen hier aufeinander. Nicht die nationale, mehr die soziale Frage scheint hier die Menschen zu trennen.
Das Innere der Moschee ist ganz mit Teppichen ausgelegt. Hier wachen ein paar rüstige Alte. Der eine war früher Ingenieur in einem Atomkraftwerk. Der andere Brigadeführer beim Bau. „Jetzt sind wir gläubig geworden“, sagen sie.
Sie versuchen das Alte mit dem Neuen verbinden. Auf meine Frage nach Szuganow und Jelzin antwortet einer von ihnen:

O-Ton 31: Alter in der Moschee    0,39

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer (1) vorübergehend hochziehen, dann weiter unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, wenn Suganow drankommt, ist das nicht wünschenswert. Man darf die Religion nicht beenden. Gleich, ob bei Christen oder in unserer Religion: Gott kommandiert die ganze Zivilisation. Sofern er Gott nicht anrührt, ist auch der Kommunismus in Ordnung. Er war ja auch nicht schlecht. Religion muß sein. Der Gläubige tut nichts Schlechtes. Er betrügt nicht, stielt nicht, macht andere Nationen nicht runter. Er gibt allen ihre Möglichkeiten. Alle Nationen sind gleich.“
…swje nazi odinakowo

Erzähler:    Auf Jelzins Politik in Tschetschenien hingewiesen, lacht er:

Übersetzer:  (2) „Nun, gut, soll er dazu lernen! Soll er sich beraten lassen. Dann wird er schon sehen! Die Tschtschenen setzen sich doch nicht ab! Wie denn!? Ohne älteren Bruder, ohne den Sohn, ohne gegenseitige Hilfe kann man nicht leben.“
…nje moschet schits, lachen

O-Ton 32: Sowchose        0,35

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:    Wieder im Bereich des Profanen: das Büro der Sowchose „Austrum“, jetzt Aktiengesellschaft. Sie liegt an der Grenze von Baschkortastan zum Verwaltungsbezirk von Tschjeljabinsk, einem der ödesten Gebiete im südlichen Ural. Hier hat man andere Sorgen. Ein starker Mann soll her, der endlich etwas für das Dorf tut. Das ist hier klar. Aber wer? Jelzin hat das Dorf verraten. Auch darüber ist man sich einig. Szuganow hat außer der Rekollektivierung nichts anzubieten. Ein General muß her, schlägt eine Frau vor. Alexander Lebed zum Beispiel! Löst ein General die Probleme?

O-Ton 33: Sowchose, 1. Frau     0,42

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:    „Aber ja!“ lacht die Frau. „Wir brauchen doch bloß jemanden, der mal richtig richtig zufassen möchte. Da wird uns doch gleich viel wohler!“
Der sexuelle Unterton ist unüberhörbar. Schirinowskis Anbiederungen aber lehnen die Frauen ab: Er sei ein grobschlächtiger Kerl, finden sie. Von der Sorte hätten sie genügend auf der Sowchose. Da könnten sie ja gleich einen Stallburschen nehmen.
Gorbatschow? Jawlinski? Fjodorow? Müde winken die Frauen ab. Keiner von denen sagt ihnen zu:

O-Ton 34: Sowchose, Ende    0,40

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:     „Aus dem größeren Übel wählen wir das Kleinere aus“, erklärt eine Frau. „Aber wer das sein wird, wissen wir noch nicht“
„Sie sind doch alle gleich“, murrt eine andere: „Viel Worte, keine Taten. Alles für ihre Taschen – für uns tun sie nichts!“
„Wir entscheiden am Tag vor der Wahl“, meint eine dritte. „Je nach dem Wetter?“, versuche ich zu scherzen. „Genau! Nach dem Wetter!“ geben die Frauen zurück.
…da, pagoda

O-Ton 35: Tür, Fahrt, Pawel    1,30

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:     „Er ist ein Mensch des Übergangs“ kommentiert Pawel während der weiteren Fahrt Boris Jelzins bemerkenswerte Auferstehung:

Übersetzer:     „In schwierigen Momenten aktiviert er sich und beginnt zu kämpfen. Er muß siegen. In alltäglichen, friedlichen Zeiten verfällt er in Depressionen, trinkt Wodka. Niemand weiß es genau, aber sein Gesicht sieht so aus. Jetzt ist er aktiv geworden, hat Versprechungen abgegeben. Einige davon bemüht er sich sogar zu erfüllen. Wenn er Präsident bleibt, wird er sich in einem halben Jahr wieder beruhigen und alles wird sein wie es war. Es kann sogar sein, daß das nicht schlecht ist für Rußland. Im Moment ist jede Veränderung gefährlich. Neue Leute könnten kommen, die das Bisherige niederreißen – aber nur in ihrem Interesse. Wie es immer in Rußland war. Dann kommen wieder neue und reißen wieder alles ein. Wann diese irre Situation aufhört, weiß ich nicht.“
…duratski situazi, ja nje snaju

O-Ton 36: Kolotschinsk, Bus-Ankunft    0,22

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mehrmals zwischendurch hochziehen

Erzähler:     Busbahnhof Kolotschinsk, sibirische Industriewüste. Unsere letzte Station. Der Ort besteht aus einer Ansammlung von kasernenartigen Bauten mitten auf freiem Feld. In dem halb verrosteten Bus warten Dörfler aus der Umgebung. Man sieht ihnen an, daß sie zu den Opfern, nicht zu den Gewinnern der Perestroika zählen. Hier mindestens hatte ich eine Stimmung für Szuganow oder Schirinowski erwartet:

O-Ton 37: Im Bus            0,50

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch nach Belieben hochziehen, nach Erzähler ganz hochziehen

Erzähler:     „Bloß nicht Suganow!“ krächzt eine Alte, „Laß Jelzin bloß bleiben!“ schallt es mir stattdessen von allen Seiten entgegen.. Schirinowski? Der hat doch auch keinen Rubel. „Wofür wählen?“ meint eine junge Frau, „das bringt doch nur Unruhue, sonst nichts!“
„Weiter wie es ist“, „Ordnung“, „Ruhe“, Stabilität“, „Soll er bloß weitermachen“. Das sind die Ansichten, die durch den Bus schwirren, als die Türen sich vor mir schließen.
…Abfahrt des Busses

O-Ton 38: Irina            1,12
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Wieder unterwegs. Die letzten Kilometer vor Nowosibirsk. „Das Alte“, kommentiert Irina die letzte Szene im Bus, „scheint ja immer besser als das Neue.“

Übersetzerin: „So war war es bei uns mit den Säuberungen, mit Stalin und mit Breschnjew. Ein Grund dafür, daß Leute Stalin wollten, war auch, daß man daran gewöhnt war. Alles war schon eingeübt. Die Musik war geschrieben und wurde gespielt, wieder und wieder.“
…igrali, ras sa ras

Erzähler:     Der Reformator Jelzin ist zum Symbol des Konservativismus geworden. Das Volk will keine Revolution. Es will Ruhe. Es will Ordnung. Und es wird den wählen, der diese Ordnung glaubhaft verspricht. Was man von Jelzin zu erwarten hat, weiß man oder glaubt es zu wissen. Was die anderen Kandidaten bringen werden, ist ungewiß.
Vor diesem Hintergrund entscheidet nicht das Programm, sondern persönliches Charisma und materielle Präsenz. Damit ist der amtierende Präsident, der Wahlgeschenke großzügig verteilen kann, allemal in der Vorhand.
Die wahrscheinlichste Variante des Wahlausgangs ist daher wohl ein wiedergewählter Boris Jelzin mit einem Gennadij Szuganow als starkem Opponenten. Das ist vermutlich auch der einzige Weg, der einer allmählichen Entwicklung in Rußland eine Chance gibt.

gesendet: Radio Bern

„Wir bauen eine Kirche“ Gang durch ein Dorf an der mittleren Wolgaendet: Radio Bern

Es ist das Jahr 1996. Wahljahr in Rußland. Krisenjahr. Das russische Imperium ächzt in allen Fugen. Boris Jelzin hat soeben seinen Ukas zur Privatisierung auf dem Lande erneuert, nachdem der erste von 1991 nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hat. Zuvor hatten seine Gegenspieler in der Staatsduma einen Kodex verabschiedet, der die Privatisierung auf dem Lande faktisch beendete, indem er die Landvergabe davon abhängig machte, ob der Boden von seinem zukünftigen Eigner landwirtschaftlich genutzt werden würde.
In Sugudski, einem kleinen Flecken an der mittleren Wolga, traut man weder der einen, noch der anderen Variante. Dort sucht man eigene Wege.     Ich werde überrascht sein. Das hatte mir mein Reisebegleiter versichert, der russisch-tschuwaschische Schriftsteller Michail Juchma, als er mich zu einer Fahrt in sein Heimatdorf einlud.
Man erreicht Sugudski nach einer langen Fahrt von Tscheboksary aus im Süden der Republik Tschuwaschien. Das ist eine der 15 autonomen Republiken, die in der russischen Föderation heute nach einer relativen Autonomie streben. Die Straße führt durch welliges, offenes Gelände. Ab und zu weisen Schilder nach links oder rechts, meist noch unter den alten Bezeichnung der Kolchosen. Auch Sugudski wird so angezeigt. Nur wenig später taucht das lockere Haufendorf am Horizont auf.

O-Ton 1: Ankunft im Dorf            (1,10)

Regie: Langsam kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler hochziehen:

Erzähler:     An schmucken Holzhäusern vorbei geht es ins Dorfinnere. Wir halten vor einem Bauplatz.
Was für ein Bild! Das ganze Dorf scheint versammelt.
„Hier wird eine Kirche gebaut“, erklärt einer der Männer. Es ist der ältere Bruder meines Reisebegleiters Michael Juchma. Er ist Lehrer hier im Ort. Hier helfe man sich gegenseitig, werde ich weiter belehrt: Fundament hat die Kolchose gesetzt. Alles Übrige ist Geld des Volkes. Jeder hat es etwas gegeben.
„Es baut Volk“, ruft man mir zu. „Mit dem Geld des Volkes.“
„Freiwillig. Ohne Bezahlung“, ergänzt Michail Juchma. „Volkstarif!“
„Freiwilliger Einsatz“, bekräftigt noch jemand.
…nemerna, nasewaitsja nasch, Frauenstimmen

O-Ton 2: Frauenstimmen            (0,27)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Hier steht eine Gruppe von Frauen am Betonmischer. Junge, alte. In geblümten Kleidern die einen, in Trainingshosen oder Jeans die anderen, fast alle in jenen typischen nach hinten gebundenen Kopftüchern.
„Eine Kirche bauen wir“ sagen sie.            Freiwllig? Na klar, freiwillig! Und ohne Bezahlung.
„Wir helfen“, lachen sie, „wir geben den Männern bescheid, damit sie es richtig machen.“

…snajem, Lachen

O-Ton 3: Männer                    (0,43)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     „Ja, das wird unsere eigene Kirche. Die bauen wir alle gemeinsam“, bestätigen diese Männer. Im Nachbardorf, bei den Tataren machen sie es genauso, setzen sie hinzu. Nur dort ist es eine Moschee.
Nach dieser Auskunft wenden sie sich wieder ihrer Arbeit zu, jetzt in tschuwaschischer Sprache. Das ist die Muttersprache, die hier auf dem Dorf gesprochen wird.

…Männer: tschuwaschisch

O-Ton 4: Männerstimme, Forts.             (0,24)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:     Alle Dörfler beteiligen sich an dem Bau, sagt der Mann. Den ganzen Tag wird gearbeitet. In nur drei Tagen wurde das Fundament gelegt und die äußeren Mauern soweit hochgezogen, daß das Dach aufgesetzt werden kann. Am Turm wird auf halber Höhe gemauert. Unfaßbar, wenn man bedenkt, wie lange Bauten sonst in Rußland zu dauern pflegen.

… kak bistra ..(Frau): poverit

O-Ton 5: Kind                    (0,46)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    Auch die Kinder sind dabei.
„Nun sag schon, wie Du heißt, drängen die Erwachsenen, „und was Du hier machst.“
Sascha, antwortet der Kleine. Steine trägt er heran.
„Hier arbeitet das ganze Volk“, sagt Michail.     „Freundschaftlich miteinander“ ergänzen die anderen. „So kann man irgendwie überleben, aber das geht alles kaputt, wenn jetzt Perestroika stattfindet, sagt dieser Mann.“

Erzähler:     Über hundert Leute arbeiten hier auf diese Weise. Eine Gruppe junger Mädchen versuche ich vergeblich ins Gespräch zu ziehen. Mehr als verlegenes Kirchern ist ihnen nicht zu entlocken und so schnell wie möglich huschen sie weg.
Eine der umstehenden Frauen dagegen nimmt sich dafür umso mehr Zeit. Fast empört antwortet sie auf die Frage, wozu die Kirche nötig sei:

…Gänse…

O-Ton 6: Frau                            (026)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, untzerlegen, hochziehen

Übersetzerin: „Zum Beten doch! Betet man bei Ihnen nicht?
Bei uns gehen die Menschen viel in die Kirche. Aber die alte Kirche ist klein. Die Luft reicht nicht. Ja, ja. Deshalb gab es die Entscheidung, die Große zu bauen.“
…bolschoi stroits

Erzähler:    Stolz zeigt sie auf die alten Frauen, die rundherum beschäftigt sind:

O-Ton 7: Frau, Forts.             (0,26)

Regie: verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Übersetzerin: „An unserer neuen Kirche arbeiten auch die Großmütter. Sie sind mehr als sechzig, manche siebzig Jahre alt. Sie setzen sich alle für die Kirche ein. Zuhaus können sie ja sowieso nichts tun. Aber in die Kirche gehen sie. – Ja, es ist ein freundliches Volk hier.“

…narod druschni, Baugeräusche

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Wie es bei uns mit dem Glauben stehe, will sie noch einmal wissen. Meine Auskunft, daß die Menschen bei uns wenig zur Kirche gingen, paßt nicht in das Bild, das sie in den letzten Jahren vom Westen gewonnen hat:

O-Ton 8: Frau, Forts.             (0,42)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Wenig? Aber wie das? Wenn sie nach Moskau kommen, sind sie doch ganz besessen darauf, die Kirchen zu besuchen. Sie fahren extra dort hin. Ich habe sie gesehen, wenn sie ankamen, wie sehr sie sich interessierten.“

Erzähler:     Daß Touristen Kirchen als Kunstdenkmäler betrachten und allein deshalb aufsuchen könnten, ist ihr im höchsten Maße suspekt:

Übersetzerin: „Ach ja? Na sowas. Das höre ich bei Ihnen zum ersten mal. Das habe ich bisher nicht gewußt, daß sie nur so gehen. Ich dachte sie, seien gläubig.“

…veruischi,Stimmen Lärm, Zurufe

Erzähler:    Eine Gruppe von Männern ist mit dem Behauen und Richten der Dachbalken beschäftigt. Auch sie antworten bereitwillig auf alle Fragen.
Wie der Bau der Kirche zustandekam?
Spontan beginnt einer in tschuwaschischer Sprache zu reden. Erst als ich ihn darauf aufmerksam mache, daß ich ihn nicht verstehe, wechselt er fast unmerklich ins Russische:

O-Ton 9: Männer, Forts.            (1,13)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, wir bauen die Kirche auf Bitten unseres Väterchens und der Hauptadministration. Sie entschieden, diese Kkirche zu bauen.
Früher hatten wir ja eine Kirche. Das liegt wohl siebzig Jahre zurück. Sie wurde 1749 hier gebaut.“

Erzähler:    „Eine große Holzkirche war das“, ergänzt einer.
Dann zählen die Männer die Bedingungen auf, die den Bau der neuen Kirche erst möglich gemacht haben: Erstens: Das Dorf ist direkt im Gebietszentrum vertreten. So konnte man selbst entscheiden. Zweitens: Einige Dörfler arbeiten in der nahegelegenen Ziegelfabrik. So kommt man an die notwendigen Ziegel. Denn die sind Defizit.

Übersetzer:     „Vor allem aber helfen die Großmütter und Großväter! Sie alle arbeiten. Prachtkerle! Wenn sie nicht helfen würden, könnte man eine solche Kirche natürlich nicht in drei Tagen hinstellen. Prachtkerle, wie sie arbeiten!

…malatzi rabotajet (plus Frage)

O-Ton 10: Männer, Forts.             (0,25)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:    Aber trotz allem wird es nicht so schnell gehen, wie gewünscht: Finanzprobleme! Es ist nicht klar, wo das weitere Geld herkommen soll. Das wird trotz allen Enthusiasmus auch hier im Dorf  eine Pause erzwingen:

Übersetzer:     „Ja, ohne Pause schaffst Du es nicht. Aber im nächsten Jahr wird sie wahrscheinlich schon tätig sein.“

…usche rabotaet mit Geräusch

Erzähler:     Selbst das wäre für russische Verhältnisse noch ein Blitztempo. Das Geld muß schließlich von allen Seiten zusammengekratzt werden.

O-Ton 11: Männer, Forts.            (0,39)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Einige Leute geben sehr viel. Dann die Bevölkerung selbst. Auch die Kolchose hilft. Sie hilft mit Lastwagen, mit Zement und mit dem und dem  – das Fundament haben sie gelegt; die Bevölkerung hat vor allem mit Geld geholfen.“

…nacelennje, gänse

O-Ton 12: Männer, Forts.             (0,51)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:     Die Kolchose existiert wie früher, erzählen die Männer. Ob es denn keine Privatisierung gegeben habe? Hier noch nicht, antworten sie. Es gibt eine Genossenschaft von mehreren Bauern, aber auch die arbeiten gemeinsam und kooperieren mit der Kolchose. Insgesamt hat das Dorf 600 Höfe. 600 Familien leben darin. Das sind gut 2000 Menschen. Die meisten sind irgendwie in dritter oder vierter Linie miteinander verwandt.
„Bei uns ist die Kolchose noch nicht zerfallen“, sagt einer der Männer. „Ein Dorf, eine Kolchose“, bestätigt ein anderer. So wie man die Kirche baut? „Jaja“, stimmen die Männer zu: „Alle zusammen. Alle miteinander.“

…bjo mestje, da,da … Gänse 386)

O-Ton 13: Männer, Forts.            (0,59)

Regie: verblenden, hochziehen zum Stichwort „Satschem“, abblenden, unterlegen, nach dem 2. Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:     Hier wird deutlich, was eine Kolchose von eine Sowchose unterscheidet. Die Sowchose ist ein Staatsgut, die Kolchose ein freiwilliger Zusammenschluß. Dieser Unterschied hatte sich zeitweise verwischt. Heut wird er wieder wichtig. Dafür wird die Kirche gebraucht. Wieso?
Sie verstehen die Frage zunächst gar nicht:

Übersetzer:     „Wieso? Ach wieso! Um unsere alten Traditionen wiederentstehen zulassen, natürlich, die unserer Vorfahren.“

Erzähler:     Aber nicht die vorchristlichen Traditionen der tschuwaschischen Frühzeit sind damit gemeint. „Von so etwas reden nur die Intellektuellen in den Städten“. Darin sind die Männer sicher. „Das Volk, meinen sie, nimmt sowas nicht an.“
Alte Tradition bedeutet für sie Christentum: „russisch-orthodoxes Christentum, korrigiert einer der Männer.

…prawoslawna zerkwa, da,da

O-Ton 14: Männer, Forts.            (0,36)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Erzähler:    Es soll also alles so werden wie vor der Revolution? „Ja, ja“, bestätigt die Runde.
Michail Juchmas älterer Bruder, der Dorflehrer, bemüht sich um eine genauere Erklärung:

Übersetzer:     „Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie das war, als die Kirchen damals verbrannten. Aber diese Kinder, die hier mitbauen, hätten noch vor zehn Jahren eine Kirche nicht einmal betreten dürfen. Wenn ich als Lehrer etwa davon gewußt hätte, daß Kinder in die Kirche gehen, hätte man mich dafür aufgehängt. Jetzt kehren die Traditionen zurück, die es gegeben hat. Was man da jedoch über die alten Götter erzählt…ach, da war heute zum Beispiel so ein Artikel in der Zeitung: Sollen wir vielleicht ins Steinzeitalter zurück?“

…xotjat vernutsja?

O-Ton 15: Männer, Forts.             (0,37)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Erzähler hochziehen

Erzähler:     Hier deuten sich heftige Differenzen an; die den Dorflehrer auch mit Michail Juchma, seinem jüngeren Bruder, in Konflikt bringen könnte: Russische oder tschuwaschische Wiedergeburt?
Aber die Männer wollen keinen Graben aufbrechen lassen: „Wir haben nur einen Glauben“ sagt einer kategorisch. „Es geht um die Kirche. Es ist einfach der Glaube“, setzt ein anderer nach, „egal ob russisch oder tschuwaschisch.“
„Ich erkläre es ihnen“, springt der Lehrer ein:

…xoroscho, ja otbetschu

O-Ton 16: Männer, Forts.             (1,12)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,nach dem Erzähler kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegt halten

Übersetzer:    „Im zehnten Jahrhundert hat Wladimir die Russen christianisiert, 995; unsere Bevölkerung, die von Szugudslki, erst 1745. Das war spät, viel später natürlich. Aber diese Tradition ist nun doch schon 250 Jahre alt.“

Erzähler:    Auch Hinweise auf heidnische Feste, die in der tschuwaschischen Bevölkerung noch begangen werden, können den Dorflehrer von seiner Sicht nicht abbringen. Die alten Sitten hätten heut einen christlichen Sinn, findet er. Vorchristliche Vorstellungen seien schon lange vergessen.
Zur Bekräftigung läd er mich ein, der provisorischen alten Kirche einen Besuch abzustatten.

…posmotrim, idiom

O-Ton 17: In der alten Kirche            (0,18)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:    Die alte Kirche liegt gleich nebenan im Hintergelände der neuen. Der blauweiß gestrichene Holzbau hebt sich kaum von den übrigen Häusern ab. Der Priester, vollbärtig, rundlich, von etwas schmuddeliger Gemütlichkeit führt uns gleich ins Innere: Das sind zwei winzige Räume, vollgestellt mit großen und kleinen Heiligenbildern, Kruzifixen und Leuchtern. Der Ort strahlt eine tiefe religiöse Intimität aus, vor allem durch die ungewöhnlichen Ikonen:

…zenu netto

O-Ton 18: Priester                (0,13)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:    „Hier diese hat jemand selbst gemacht. Ein örtlicher Künstler, der da drüben lebt. Und hier diese hat man uns von zu Hause gebracht.“

Erzähler:     Bereitwillig zeigt er die Reichtümer vor.

O-Ton 19: Priester, Forts.             (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Hier, die hat man auch von zu Haus gebracht. Man muß der Kirche ja helfen! Und so hat man alles hierhergebracht. Wenn wir später größere Möglichkeiten haben, dann können wir auch gute Ikonen aufstellen. Aber so geht es es jetzt erst einmal mit den selbstgemachten. Das ist ja alles hausgemacht.“

…swje vot eto damaschneje

Erzähler:     Der Dorflehrer nimmt die Gelegenheit wahr, die Frage nach den Traditionen noch einmal aufzugreifen:

O-Ton 20: Juchma der Ältere            (1,05)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Ich fahre fort: Also vor 250 Jahren hat unser Dorf das Christentum angenommen. Dahin kommen wir jetzt zurück. 1930 begann der Druck auf die Kirche. 1936 hat man sie geschlossen. 1956 war die alte Kirche vollkommen kaputt und 1991 wurde diese neue hier aufgemacht. Und was interessant ist: hier tagte früher der Dorfsowjet! Man konnte kein passendes Gebäude finden, da haben alle gemeinsam so entschieden. Der Bezirkssowjet, der Bauernsowjet, sie alle entschieden, daß man das Begbäude des Landwirtschaftssowjets für die Kirche nehmen kann. Den Turm haben wir nachträglich gebaut. – Das ist Wiedergeburt der Traditionen, Wiedergeburt des Alten.“

…vorrasschennije starinnije

Erzähler:     1991 veranlaßte Gorbatschow ein Gesetz zur Religionsfreiheit. Der Pater ist schon der zweite, der seitdem in der kleinen Kirche tätig ist. Wie sein Vorgänger hat er sich lange auf diese Tätigkeit vorbereitet:

O-Ton 21: Prister, Forts.             (0,20)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich habe früher gelernt, habe das Landwirtschafts Institut beendet, habe in der Kolchose gearbeitet. Dann bin ich in einen anderen Bezirk gegangen. Dort habe ich in einem Kloster gearbeitet, zehn, fünfzehn Jahre. Dann bin ich schon hieher berufen worden.“

…dawno, dawno

Erzähler:     Die eigene Laufbahn findet der Pater nicht besonders ungewöhnlich. Seine Gemeinede aber sit in seinen Augen etwas Besonderes:

O-Ton 22: Priester, Forts.            (0,28)
(483 – 490)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Ich sehe das so: Dieses Dorf ist wie eine Schlafgemeinschaft, wie eine Familie. Sie kennen einander, sie helfen einander, sie unterstützen sich gegenseitig, sie spornen sich gegenseitig an. Im Baterski Bezirk da draußen ist das ganz anders. Da kennt man sich nicht gegenseitig. Da gibt es diese Verbundenheit nicht, nicht diese Freundschaft, nicht diese Familiarität. Aber hier kennt man sich, schätzt man sich. Sicher gibt es einige, die nicht wollen, aber die meisten wollen so zusammenleben.“

Erzähler:     Als Ausnahme möchte er das Dorf aber doch nicht betrachtet wissen:

O-Ton 23: Priester, Forts.            (0,25)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    „Eine Ausnahme möchte ich es nicht gerade nennen. Dasselbe geschieht ja auch woanders. Ich möchte zum Beispiel nicht schlecht über das Nachbardorf reden, die Tataren. Obwohl sie keine Christen sind, helfen sie uns auch.“
…poderschit nas

Erzähler:     Daß die Tataren eine Moschee bauen, stört den Pater nicht:

O-Ton 24: Priester, Forts.            (0,36)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem 1. Erzähler hochziehen

Übersetzer:    „Nun, ja, sie bauen eine Mosche. Aber sie helfen auch uns, sie sind nicht gegen uns. Klar, gehen wir wir nicht direkt miteinander um. Aber als sie uns Geld schickten – Natürlich! Danke, das war gut. Das nehmen wir. Da gibt es nichts Schlechtes. Wir leben freundschaftlich miteinander, kollektiv. Ja, wenn wir um Hilfe bitten, dann kommt Hilfe. Es ist ein hilfsbereites Volk.“

Erzähler:     Fünfzehn neue Kirchen und ebensoviele Moscheen gibt es seit 1991 im Baterski Bezirk. Eine Art Wettbewerb ist entstanden, welches Dorf am schnellsten das schönste Gotteshaus bauen kann. Dabei geht es offenbar weniger um einen bestimmten Glauben als vielmehr um die Schaffung eines neuen moralischen Zentrums kollektiver Gemeinsamkeit. Das Gotteshaus ist der höchste Ausdruck der Dorfgemeinschaft. Dafür werden sowohl die persönlichen Altäre, wie die privaten Konten und sogar die nichtvorhandenen öffentlichen Gelder geplündert.

…narod otsifschowi und auslaufende Geräusche

Erzähler:     Vor der Kirche wartet schon der Dorfschulze. Er ist ein junger, dynamischer Mann von freundlichem Äußeren. In ihm könne ich einen Leiter neuen Typs kennenlernen, hatte Michail Juchma vor der Fahrt versprochen, einen, der die sowjetische Macht mit der neuen Art der Wirtschaftsführung in einer Funktion verbinde. Danach befragt, antwortet der Angesprochene locker, wie es diesem Image entspricht:

O-Ton 25: Administrator            (0,14)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Funktion? Naja, Aufgabe, meinen Sie: Kopf der Verwaltung dieses Dorfes und Vertreter der Kolchose in einem.“

…predsedatel Kolchosa

Erzähler:     Einige Widersprüche bringe diese Personalunion schon mit sich, räumt er ein, Aber der Demokratie schade das nicht, versichert er, jedenfalls nicht in so kleinen Orten wie in Sugudski:

O-Ton 26: Administrator, Forts.            (0,41)
(535 ..nach meiner Frage 545

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ja klar, Demokratie soll schon sein! Aber das bedeutet ja auch: Es ist so, wie es jeder versteht. Woanders sieht man es vielleicht anders: Hier ist alles in einer Person. Der Idee nach soll das Volk wählen: das ist geschehen, hier im Ort und dort in der Kolchose, in der Kolchose natürlich öffentlich, im Ort, für die Administration in geheimer wahl. Aber Demokratie war das schon. Das Volk selbst wollte es ja so.“

…polutschajetsja

Erzähler:    Auch sonst hat man der neuen Zeit durchaus Genüge getan, findet Pjotr Nikolajewitsch Nikiferow.
Und wie ist der Stand der Privatisierung?

O-Ton 27: Administrator, Forts.            (0,46)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nun, Privatisierung! Jeder Kolchosnik kennt heut seinen Anteil, weiß daß er Land hat. Das ist alles aufgeteilt nach einzelnen Stücken. Auch das Vermögen ist aufgeteilt. Alle wissen, wieviel Millionen wir hier rundherum besitzen. Aber niemand hat Eile, sich einzeln abzusetzen. Es gibt 19 einzelne Bauern, aber keine Privatbauern, sondern selbstständige Wirtschaften. Seit zwei drei Jahren gibt es die. Einige wollen zurück jetzt in die Kolchose.“

…kolchos, hm

Erzähler:     Eine Schule hat das Dorf, erzählt Nikiferow, unterstützt durch die Umstehenden. 420 Kinder werden dort unterrichtet. Ein Kulturhaus wird unterhalten. Im Dorf werden die traditionellen Feste gepflegt. Pjtotr Nikiferow persönlich hat den bekanntesten Sohn des Dorfes, Michail Juchma, zur Niederschrift der Geschichte des Dorfes angeregt. Er hat auch für die Herausgabe der entsprechenden Broschüre durch die Kolchose gesorgt. Die Häuser sind groß und gepflegt, viele sehr schön geschnitzt und bemalt.
Lebt man also nicht schlecht in diesem Dorf?

O-Ton 28: Adminstrator, Forts.        (0,42)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:         „Nun, wir leben“, lacht Pjotr Nikiferow, bevor der Dorflehrer Juchma die weitere Erklärung übernimmt:

Übersetzer:        „Wenn Sie durchs Dorf gehen, dann sehen Sie, was gebaut wird! Wie da Häuser gebaut werden! Wenn gut gebaut wird, wenn schöne, große Häuser gebaut werden, dann bedeutet das, daß man gut lebt. Wenn da kleine Hütten stehen, schief und kaputt, dann heißt das, man lebt schlecht. Bei uns im tschuwaschischen Volk liebt man es zu bauen. Kann sein, daß man manchmal nicht so gut ißt, aber man baut! Kann sein, daß man sich manchmal nicht so gut kleidet, aber man baut gute Häuser.“

…Trecker

Erzähler:     Sein Bruder Michael ergänzt:

O-Ton 29: Michael Juchma            (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Das Interessanteste ist natürlich, mit welchen Methoden gebaut wird; in der Art wie die Kirche gebaut wird, werden auch die Häuser gebaut: Wenn jemand in Elend gefallen ist, dann versammelt sich das Volk und baut gemeinsam ein Haus, ebenso wie jetzt da neben an. Das ist Familienhilfe, die Hilfe der `obschtschina´, der Dorfgemeinschaft.“

…obtschina, trecker

Erzähler:    Ich habe verstanden: Auf allgemeinen Zerfall antwortet das Dorf mit engerem Zusammenschluß, genereller gesprochen, auf den Verfall des Staatskollektivismus mit dem Bemühen um Wiedergeburt der ursprünglichen Dorfgemeinschaft. In Gemeinden wie in Sugudski kommt dazu noch das ethnische Band.
Aber schlägt denn die allgemeine Krise so gar nicht auf das Dorf durch?

O-Ton 30: Administrator, Forts.             (0,39)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Schwierigkeiten? Klar, gibt es genug, angefangen bei den täglichen Nahrungsmitteln. In diesem Jahr haben wir zum Beispiel besondere Probleme mit dem Gemüse. Wir haben zuviel Gurken, Kohl, Mohrrüben und dergleichen. Das wird schon an die Schweine verfüttert. Es liegt an den Finanzen. Die Realisierung geht nur schwer vor sich. Die Leute haben zu wenig finanzielle Möglichkeiten zu kaufen. Das wirkt sich schon auf die Finanzen der Kolchose aus.“

…na finanzogo kolchosa vlijajet

Erzähler:     Dazu kommen die Steuern: 60% Prozent muß ein landwirtschaftlicher Betrieb abführen.
Kommt Pjotr Nikiferow da nicht in Versuchung, falsche Zahlen anzugeben, wenn er als Direktor des Kolchos beim Administrator des Dorfes die Steuern erklären muß? Man sollte meinen, diese Frage, brächte ihn in Verlegenheit, weil er sich als Dorfzar hingestellt sieht. Aber der Gefragte lacht auch jetzt wieder gemütlich:

O-Ton 31: Administrator, Forts.            (0,51)
(613 (lachen) – 623)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Nun, die Steuern der Kolchose werden auf einem Konto gesichtet. Wieviel zu zahlen ist, ist ja bekannt. Das überweisen wir. Es gibt ja auch eine Steuerinspektion bei uns, eine Steuerpolizei. Wenn die Gesetze mißachtet werden, kommen sie sofort. Da gibt es eine hohe Strafe. Es ist eine große Verantwortung. Was das Gebiet betrifft, so fallen da wenig Steuern an, vor allem Bodensteuer, kleine Summen nur.“

..ne bolhschaja summa

O-Ton 32: Administrator, Forts.            (1,40)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:     Aber „kranke Frage“ gebe es viel, bricht es dann doch aus ihm hevor, lauter noch als der Trecker:

Übersetzer:     „Die ganze Perestroika! Wie soll ich sagen? Die Fabriken stehen. Die Industrie arbeitet nicht. Maschinen für die Landwirtschaft werden nicht angeboten. Und wenn. dann sind sie sehr teuer, von mangelhafter Qualität. Früher haben wir aus Deutschland, aus der DDR Maschinen bekommen, die waren langlebig und von guter Qualität. Aber jetzt? Unsere? Mist!. Das ist das eine. Das andere ist die Disproportion der Preise zwischen den landwirtschaftlichen Produkten und den Maschinen. Im Ergebnis gab es keine Erneuerung der Technik in den letzten Jahren. Wenn  man die Kolchosen und Sowchosen des Bezirks betrachtet, dann hat kaum jemand Maschinen, Traktoren, Mähdrescher gekauft. Und wenn wir weiter so leben, ohne die Maschinen zu erneuern, dann gibt es in zwei, drei Jahren nichts mehr zu arbeiten, vermutlich.“

… nitschen ostajotsja nawerna (direkter Anschluß)

Erzähler:     Vom Leiter hänge natürlich in solchen Zeiten viel ab, relativiert Pjotr Nikiferow seinen Ausfall gleich wieder. Man könne einigermaßen existieren, wenn der Leiter aktiv sei. Das ist Michail Juchmas zweites Stichwort nach dem der „obschtschina“:

O-Ton 33: Michail Juchma            (0,34)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz     stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Siehst Du, jetzt werden die Schwierigkeiten von den Leitern aufgefangen. Von solchen, die es gewohnt sind, selbst zu arbeiten, nicht per Auftrag. Früher achtete jeder Leiter nur darauf, was das Bezirkskomitee sagt, das Gebietskomitee. Jetzt sind solche Leiter untendurch. Warum baut unser Dorf? Das hat es ihm zu verdanken, weil er genau weiß, was zu tun ist, wie es zu tun ist! Er sucht selbst Auswege. Er fährt selbst hinaus, er verhandelt selbst. Er sucht selbst die Leute auf, mit denen zusammenzuarbeiten ist.“

…nada rabotats

Erzähler:     Die Dorfgemeinschaft auf der einen, der starke Leiter neuen Typs auf der anderen Seite, der sich auch um das Wohl des Dorfes auf dem Markt kümmert. Das ist es, was Michail Juchma mir zeigen wollte. Und in Verbindung dieser beiden Elemente bekräftigt der so Gelobte in den dafür typischen russischen Sprachwendungen, in denen „Ich“ und „Wir“ nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind:

O-Ton 34: Adimistrator             (0,47)

Regie: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „So leben wir einigermaßen. Wir haben Straßen gebaut in diesem Jahr. Auch die Elektrifizierung haben wir erneuert. Im nächsten Jahr wir die Heizung schon elektrisch sein. Trotz allem arbeiten wir irgendwie…“

Regie: kurz stehen lassen, abblenden,, nach Erzähler wieder hochziehen und auslafen lassen

Erzähler:     Mit diesen Worten verabschiedet Pjotr Nikiferowitsch sich. „Es ist ein reiches Volk“, präzisiert er später im Büro seine Alternative, „man muß ihm die Chance geben, die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln: nicht so viel importieren, sondern die eigenen Produkte vor Ort stützen.“
Damit ist aus der Sicht des Dorfschulzen gesagt, worüber die Wahl des Präsidenten in ein paar Wochen entscheiden soll.

…Fahrtgeräusche

gesendet:  Radio Bern

„Tränen in einem Ozean“ – Russische Medien zwischen Zensor und Mafia

Vorspann:

Rußlands „Glasnost“ ist ins Gerede gekommen.  Sechs Journalisten kamen in den ersten Monaten dieses Jahres in Rußland ums Leben; siebenundzwanzig waren es seit Anfang 1993.  14 Tote, 30 Verletzte, 23 Geschlagene, 100 mit „Warnschüssen“ Eingeschüchterte, 146 willkürlich Aufgehaltene sowie hunderte alltäglicher Behinderungen gehen dabei auf das Konto des Krieges in Tschetschenien. Kaum einer der Vorfälle wurde verfolgt. Eins von den wenigen Verfahren, das überhaupt angestrengt wurde, endete soeben als Farce: Die Erschießung Natalia Aljakowa-Mrozeks durch einen russischen Posten während der Geiselnahme von Budjonnowsk im Sommer 95. Ihr Tod soll als Zufall zu den Akten gelegt werden.  So war es kürzlich von Vertretern der Moskauer „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ bei einem Forum von Journalisten Hamburg zu erfahren. Alexej Simonow, Gründer der „Stiftung“, faßte die heute entstandene Lage auf dem Forum so zusammen:

O-Ton 1:    Alexej Simonow         (1,26)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzere hochziehen, verblenden

Übersetzer:    „Ich möchte mit einem Paradoxon beginnen: Als ich meine Thesen für diesen Vortrag schrieb, kam mir in den Sinn, die folgende Frage zu stellen: Ist ein Watergate im heutigen Rußland möglich? Dazu kann ich sagen: Material, das für zehn oder zwanzig Skandale im Stile Watergates gereicht hätte, wurde veröffentlicht. Doch die öffentliche Resonanz ist gleich Null. Daraus kann man recht klar die Grenzen dessen erkennen, was wir `Glasnost´ nennen: Glasnost, also die Möglichkeit Fakten herauszufinden und diese, wenn auch mit Risiko für deinen Beruf, deine Zukunft, dein Leben, zu veröffentlichen, besteht. Aber es gibt keinen gesellschaftlichen Mechanismus, um mit diesen Fakten auch Einfluß zu nehmen. So kommen wir zu dem Paradoxon, daß es in Rußland Glasnost gibt; eine Freiheit des Wortes als gesellschaftliche Übereinkunft aber nicht.“
(…w Rossije njet.“)

Erzähler:    Gisbert Mrozek, der Ehemann der getöteten Natajla Alikowa,  selbst als Journalist in Moskau akkreditiert, eröffnete seine Schilderung der Vorgänge um den Tod seiner Frau mit der Feststellung:

O-Ton 2:     Gisbert Mrozek     (0,34)
Regie: O-Ton ganz durchlaufen lassen

O-Ton Mrozek:    „Trotz aller Besonderheiten: der Tod von  Natascha, der Tod von Jochen Piest, der Tod von vielen anderen ist für mich nichts anderes als eine Träne im Ozean.  Das ist alles fürchterlich gewöhnlich. Und das Besondere war nur, daß hier plötzlich viele Leute auch in Europa, auch in Deutschland aufgehorcht haben und sich irgendwie geäußert haben.“

Erzähler:     Wer eine Erklärung für das von Alexei Simonow aufgezeigte Paradoxon sucht, daß Glasnost in Rußland besteht, die Freiheit des Wortes aber nicht, der muß in den von Gisbert Mrozek genannten Ozean tauchen.

O-Ton 3:     Druckmaschinen     (0,32)
Regie: langsam hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden.

Erzähler:     Eine Druckerei an der mittleren Wolga. Hier wird noch Handarbeit geleistet: Bleisatzverfahren.

O-Ton 4:     Hausbesichtigung mit dem Direktor     (0,43)
Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler:    Aufträge fehlen, Geld fehlt, teilt der Direktor  mit, während zum zweiten Stock hinaufsteigen, wo er mir die Satzcomputer zeigen will. Zwei ältere Modelle westlicher Bauart stehen da. Daneben eine alte Offsetpresse. Import aus Indien, bemerkt der Direktor müde. Alle Maschinen stehen. Früher sind wir mit zwei Schichten nicht ausgekommen, sagt der Direktor. Jetzt ist nicht einmal eine Schicht richtig besetzt.“
Ob die Drruckerei so überleben könne?
(.. w Rossije“)

O-Ton 5:     Direktor der Druckerei     (0,29)
Regie: O-Ton kommen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Schwer. Schwer. In letzter Zeit ist es so schwer. So arbeiten? Nein. Neue Entlassungen wird es geben, wie schon einmal `92. Wir hatten ja neun Zeitungen, aus neun Bezirken und noch andere Blätter. Die werden jetzt alle vor Ort gedruckt, nach alten Methoden, so wie unten bei uns. Bei uns ist es zu teuer: Man muß herfahren, einen Telegraf kann man nicht bauen. So muß alles am Ort gehen.“
(…swje na mestje)

Erzähler:     Vor der Tür treffen wir auf Wladimir Furkov, einen vierschrötigen, einfachen Mann. Er ist Lokalredakteur der Zeitung „Avantgarde“, die hier gedruckt wird. Wladimir Furkow ist aufgebracht:

O-Ton 6:     Redakteur der Landzeitung, Furkow     (0,42)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen, mit o-Ton 7 verblenden, bei Stichwort „..nje dadut nam“ kurz hochziehen, danach wieder abblenden, unterlegt halten.

Übersetzer:     „Vor drei Jahren hatten wir eine Auflage von 10.000. Das war 1980, als die Preise stabil waren und alle Geld verdient haben. Aber jetzt bekommen die Sowchosarbeiter keinen Lohn und so können sie die Zeitung nicht kaufen. Dabei ist es doch eine Zeitung für die Landbevölkerung hier bei uns. Selbst wir Redakteuere haben seit Monaten keinen Lohn gesehen. Sie geben uns einfach nichts.“

Erzähler:     Die Auflage ist auf ein Drittel gefallen. Geld durch Werbung hereinzubekommen, wie Zeitungen in der Stadt es machen, ist nicht möglich. Die Werbefirmen annoncieren nicht in einer Zeitung, die nur für die Landbevölkerung erscheint. Wladimir Furkow sieht nur einen einzigen Ausweg: Subventionen! Ohne Subventionen wird auch die Zeitung nicht überleben.
Die Frage, was er davon halte, daß die Presse „vierte Macht im Staate“ sein solle, ist für ihn schon fast eine Provokation:

O-Ton 7:     Wladimir Furkow, Forts.     (0,17)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ah, was?! Vierte Macht!? Wie kann das sein?, wenn Du abhängst von Leuten. Wenn Du um Geld bettelst. Wenn ich mein eigenes Geld hätte, dann könnten wir alles schreiben, alles herausschreien. Aber jetzt haben wir doch schon wieder Angst. Wenn man uns kein Geld mehr gibt, was dann?“

Erzähler:    Zweitausend Kilometer weiter im Osten treffen wir auf Juri Gorbatschow. Er war früher Agrarspezialist am „abendlichen Sibirien“. Seit zwei Jahren arbeitet er als Kriminalreporter. Die Zeitung ist eine von dreizehn, die heute wie eh und je im gemeinsamen „Druckhaus Sibir“ für die Stadt und die Region Nowosibirsk hergestellt werden. Früher war das Druckhaus Kopf einer regionalen Pyramide. 1989/90 war auch hier Glasnost angesagt. Jede Zeitung versuchte, ihren Weg zu finden. Man mußte Gelder durch die Werbung reinholen. Man fand neue Wege, die einen so, die anderen so: ein bißchen Abenteuer, ein bißchen Sensation, ein bißchen Erotik. Man überlebte. Jetzt spricht man auch in Nowosibirsk vom Zeitungssterben. Wieso?

O-Ton 8:     Juri Gorbatschow, Novosibirsk     (1,08)
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen, das Lachen stehen lassen, abblenden

Übersetzer:     „Nun, wenn man über die finanziellen Aspekte sprechen will, so hängt das mit dem Mord an Listjew zusammen. Obwohl das in Moskau geschehen ist, weit weg also, hat das auch hier zu finanziellen Einbrüchen geführt.“

Erzähler:     Listjew war Moderator des zweiten Fernsehkanals. Als man ihn im Sommer 1995 erschoss, wurde sein Tod in Zusammenhang mit mafiotischen Werbegeschäften gebracht. Es gab einen Erlaß der Regierung, der die Werbung aus den Medien hinausdrängen sollte. Das hat der Werbung wenig geschadet. Für die Zeitungen aber brach die wirtschaftliche Basis zusammen. Es hieß: Entweder ihr findet Geld oder es ist eben Schluß.
(…Lachen)

Erzähler:     Juri macht hält nicht hinterm Berg damit, was das seiner Meinung nach zu bedeuten hat:

O-Ton 9:     Juri, Forts.     (1,23)
Regie: verblenden, O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzer:     „Ich denke, unser Kollektiv erlebt zur Zeit seine erste Phase der Privatisierung. Das heißt, es geht darum, wer wen aussticht, wer wen fertig macht. Es geht um die Nomenklatura, darum, wer was aus dem Parteivermögen bekommen hat und jetzt bekommt. Das wird alles hier in unserem Mikrokollektv deutlich. Das kann man getrost Kommandokratie nennen. Ihr geht es um ihr eigenes finanzielles Überleben. Das Kommando rekrutiert sich nicht aus den Besten, nicht auf Grundlage von intellektuellen Leistungen, guter Recherche oder so. Es bildet sich auf Grundlage persönlicher Beziehungen. Wer oben war, ist oben geblieben. Ich selbst sehe mich plötzlich in der Situation, daß ein Buchhalter dreimal soviel verdient wie ich, obwohl ich doch Sonderkorrespondent bin.“
(…spezialni korrespondjent)

Erzähler:    Aber es sind nicht nur die Finanzen. Einen weiteren Grund sieht Juri in dem, was er den „Zusammenbruch das charismatischen Bewußtseins“ nennt. Auf Nachfrage erläutert er:

O-Ton 10:    Juri Forts.     (0,52)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:     „Nun das Charisma war derart, daß man eine Zeitung genommen hat und jedes Wort glaubte, buchstäblich. Etwa so: Das Dach ist bei einem kaputt? Er ruft an, damit ich das repariere. Er glaubt, das ich das kann. Oder das Wasser ist abgestellt?  Da ruft er mich an. Verstehst du? Die Leute wandten sich an uns. Jetzt ruft niemand mehr an. Es gibt kein Vertrauen mehr. Die Leute glauben nicht mehr, daß wir irgendwas bewirken können. Sie sehen, daß wir machtlos sind, einfach praktisch.“
(…tschista praktitschiski)

Erzähler:     Auch gut gemachte Unterhaltung, selbst Sensationen können diese Lücke auf Dauer nicht füllen. Das kann Juri aus eigener Erfahrung sagen:

O-Ton 11:     Juri, Forts.     (0,53)    Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:      „Naja, stell Dir jemanden vor, der gewohnt ist, Süßigkeiten zu kaufen. Nun wird er plötzlich mit Geschichten über Kriminalität konfrontiert, über Stalin, was der für ein Mistkerl war und keineswegs der tolle Typ, als der er immer hingestellt wurde. Und dann ständig Neues über die Krise! Das  brauchen die Leute alles nicht! Sie sagen: `Wir haben gut gelebt. Alles war in Ordnung. Jetzt kommt ihr an und erzählt uns, daß in der Nachbarschaft ein Pädophiler lebt und da oder dort hat man einen Banker erschossen.´
Das ist doch alles überflüssig! Die Streßbarriere ist bei den Leuten durch den ganzen Kram, den sie inzwischen gehört haben, so hoch, daß sie von all dem nichts mehr hören wollen.“
(…nje wosprinimajut usche)

Erzähler:     Im Rückblick auf fünf Jahre Perestroika kommt Juri zu einem sarkastischen Resumee:

O-Ton 12:     Gorbatschow, Forts.     (1,21)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich sehe das ungefähr so: Vor Jahren hatte man das subjektive Gefühl der Freiheit:  Jetzt, Leute, können wir also schreiben, was wir wollen! Aber das durchzuführen, verstanden wir nicht. Weil wir die Problematik des Marktes nicht begriffen. Das ist das eine. Außerdem war die Freiheit natürlich nicht so frei wie sie schien: Es gab sehr viele Schablonen, pseudodemokratische Mythologie, neue Zwänge. Heute verstehen wir den Markt besser, heute kann man schon konkreter arbeiten, mehr oder weniger wirklich professionell. Das ist so. Aber das Gefühl der Freiheit hat sich trotzdem verringert. Warum? Weil das Wissen um die Gefahr sich erhöht hat. Wir haben heute keine Zensur mehr, dafür sitzt der Zensor jetzt als Aufpasser mit der Automatischen und mit Pistolen im Foyer.
(…pistolettom)

Erzähler:    Um ein Beispiel gebeten, erzählt er:

O-Ton 13:    Juri, Forts.     (1,47)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, zum Lachen (1,24) zwischendurch hochziehen, wieder abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nun, an uns wenden sich Leute, die Konflikte haben mit der Bank. Da kommt eine frühere Kassiererin eines Geschäftes, das jetzt privatisiert worden ist. Sie beginnt alles über die Mafia zu erzählen, was sie weiß. Wie sieht sie das? Mit den Augen der Kassiererin natürlich: Dies ganze Herrenleben bei den neuen Besitzern: Autos, Frauen, Datschen und ich, die Kassiererin, habe nichts!
Nach der Kassiererin ruft mich der Besitzer dieses Ladens an. Er ist ein echter Mafiosi. Er gibt mir Informationen über die Bank. Aber die Bank gibt mir keine Informationen über den Mafiosi. Und so fange ich an, zwischen ihnen hin und her zu irren. Hier höre ich noch dies, dort noch das. Dann höre ich, daß schon Krieg ausgebrochen ist zwischen ihnen, daß sie sich schon gegenseitig jagen.
„Ich rufe sie also an und sage: Wissen Sie, ich will keinem von ihnen zu nahe treten, ich schätze sie alle sehr, sie sind alle sehr sympathische Leute.

Regie: Zum Lachen kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegt stehen lassen, zum Ende hochziehen

Du verstehst? Sie kämpfen ja alle irgendwie  um ihr Überleben, wenn auch vielleicht nicht in meinem Stil. – Sag mir, wozu da einmischen, wozu wenn ich in keiner Weise geschützt bin in einer solchen Situation? Wir haben nichts! Keinen Sicherheitsdienst, keine Hilfsmittel, keinen juristischen Schutz. Absolut nichts“
(…absolutna ni kak)

Erzähler:     Zur Angst für das eigene Leben kommen noch die elend niedrigen Honorare, von denen niemand existieren, geschweige denn eine Familie ernähren kann. Viele Journalistinnen oder Journalisten leben auf Kosten ihrer Ehepartner, ihrer Eltern oder sie schlagen sich mit Nebenjobs durch. Auch dies droht letztlich wieder auf mafiotische Wege zu führen, wenn sie mit dem Geld zu machen versuchen, was sie zuvor recherchiert haben.
Das Fazit ist niederschmetternd:

O-Ton 14:     Tajana Sidnikowa, Union der Journalisten (0,37)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Die Euphorie in Bezug auf die Freiheit der Presse ist vorüber. Wenn die Massenmedien früher alles getan haben, um dem Einparteien-Diktat zu entkommen, so hat das Diktat sich jetzt nur in ein ökonomisches verwandelt. Das hat die Massenmedien vor das Problem das faktischen Überlebens gestellt.“
(…vischewannije)

Erzähler:     So spricht eine offizielle Stimme des Journalismus. Frau Tatjana Sidnikowa ist Leiterin der journalistischen Fakultät der staatlichen Beamtenschule von Nowosibirsk, früher kurz „Kaderzentrum“ genannt. Als Vertreterin der „Union der Journalisten“ hat Frau Sidnikowa soeben an einem Kongress in Moskau teilgenommen, wo diese Organisation ihre neue Rolle in der heutigen  Entwicklung zu finden versucht. Wer einen zivilisierten und intelligenten Weg gehen wolle, so Frau Sidnikowa, finde sich heut in einer schwierigen Lage: Hohe Kosten für die typographischen Dienste, für die Verkehrsmittel; Defizit bei Papier:

O-Ton 15:     Sidnikowa, Forts.                 (1,20)
Regie: kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Ich will mich gar nicht erst über die Willkür der Druckereien beklagen. Ich kann sie verstehen, denn bei 85% unserer polygrafischen Basis wäre eine totale Erneuerung nötig. Da herrscht eine solche Archaik wie in der Steinzeit. Das ist vor allem in der Region so, wo Massenprodukte hergestellt werden. Früher hat es bei uns große Druckereien gegeben, die mit Ausrüstung aus der DDR versehen waren. Das galt damals für das beste. Aber heute ist das alles veraltet. Klar, daß die Druckereien auch aus der schlechten Lage heraus diktieren. Dazu kommen noch Postgebühren, Probleme mit dem Papier. Und schon stoßen wir gleich wieder auf die ökonomische Sphäre, Monopolisten! Wer am meisten zusammengeraubt hat, wer am meisten in der Hand hält, der diktiert dort.“
(…diktuit w etom..)

Erzähler:     Nur überregionale Blätter können diesem Druck standhalten, allerdings nur durch Erhöung ihrer Preiose. So sieht sich auch die zentrale Presse in einer schwierigen Lage. Zwar hat sich die Pyramide der Parteipresse mit Aufkommen der Perestroika seit 1987/8 geöffnet. Mehrere Linien entwickelten sich: die staatliche Presse, die unabhängige, die prokommunistische, die „gelbe“, also die Boulevardpresse, die profaschistische. Aber die Mehrheit der Leserschaft, die sich schon die örtliche Presse nicht mehr leisten kann, ist erst recht nicht mehr in der Lage, eine zentrale Zeitung zu abonnieren oder zu kaufen. Auch deren Auflage ist deshalb innerhalb der letzten zwei Jahre rapide gesunken, teilweise um fünfzig und mehr Prozent. Ergebnis, so Frau Sidnikowa, ist eine Katastrophe:

O-Ton 16:     Forts. Frau Sidnikowa                 (0,45)
Regie: Ton kurz stehen lassen, unterlegen, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Die ersten Köpfe des Landes pflegen die Kanäle ihrer Politik nicht mehr. Zeitungen haben keine Funktion mehr. Das ist das  eine Problem.
Das andere Problem ist: Da die Zeitungen nicht unter dem Schutz der großen Politik stehen, verkommen sie zu Instrumenten der örtlichen Administration. Und wird ein Redakteur, der da in irgendeinem sumpfigen Flecken sitzt, abhängig sein, von dem, was die örtliche Verwaltung meint? Na klar wird er! Schluß!
(…bsjo)

Erzähler:     Und als müsse sie die Einschätzung untermauern, die Alexej Simonow soeben in Hamburg gab, faßt sie ihre Erfahrung mit fünf Jahren Glasnost in den Worten zusammen:

O-Ton 17:    Sidnikowa, Forts.                     (0,39)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Wir erhielten die Möglichkeit, über alles zu schreiben, über alles, wozu Verstand, Herz und Umstände ausreichten, um wirklich nachzugraben. Sowohl in der zentralen wie auch in der regionalen Presse gibt es heute viele kritische Veröffentlichungen, die die heutigen Praktiken betreffen. Die werden dort erörtert oder auch nicht. Aber diese Veröffentlichungen beachtet niemand. Journalismus erweist sich als nicht mehr gefragt.“

Erzähler:     Besonders beunruhigt ist Frau Sidnokowa über das, was sie den „Verlust des journalistischen Ethos“, die „neue Skupellosigkeit“ nennt:

O-Ton 18:     Sidnikowa, Forts.                 (1,16)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Ich frage neulich auf dem Weg nach Haus einen Journalisten einer hier bei uns ziemlich bekannten Zeitung: Nun, haben Sie schon ihre Vorwahlkampagne geplant? Er antwortet: Wozu soll ich? Es gibt keine Notwendigkeit, wir sind eine unabhängige Zeitung. Ich sage, aber entschuldigen Sie, wenn Sie professionelle Journalisten sein wollen, dann können Sie nicht sagen, daß die wichtigste Frage des Landes für Sie ohne Bedeutung ist. Er antwortet mir: Na klar werden wir Stellung beziehen. Wer uns bezahlt, dem werden wir die Seiten geöffnet: wieviel er bezahlt, soviel Platz geben wir ihm.- Sehen Sie, da haben Sie es. Das ist typisch!“
(…wot ana typitschnaja)

Erzähler:    Zur Bekräftigung blättert Frau Sidnikowa eine Broschüre auf, die die Moskauer „Stiftung zum Schutz von Glasnost“ 1993 zusammen mit dem dortigen Goetheinstitut herausgegeben hat. Darin sind die gesetzlichen Bedingungen dokumentiert, unter denen Medien in Deutschland arbeiten. So, sagt Frau Sidnikowa, solle es sein. Aber das sei natürlich Zukunftsmusik… Die Wirklichkeit beschreibt derweil noch der Kommentar, den Oleg Panfilow von der „Stiftung zum Schutz der Glasnost“ in Moskau gab, als ich ihm dort meine in der Provinz gewonnen Eindrücke vortrug:

O-Ton 20:     Oleg Panfilow         (1,04)
Regie: kurz anspielen, abblenden, unterlegen, am Ende hochtiehen

Übersetzer:    „Ja, du kannst Artikel schreiben. Die Frage ist nur, wer sie druckt: Die Zeitungen in der Provinz sind praktisch staatliche Organe. Sie werden von der Administration der Stadt oder von der des Verwaltungsbezirks herausgegen. Private Zeitungen gibt es wenig. Wenn private Zeitungen irgendeine Kritik über die Administration schreiben, dann braucht man dort bloß zum Telefonhörer zu greifen, den Direktor der Druckerei anrufen und ihm sagen: „Mein Lieber, weißt Du eigentlich, das bei uns die Preise gestiegen sind und daß der Druck Deiner Zeitung morgen dreimal so teuer sein wird?“ Der sagt: „Verstanden!“ und schon wird dein Artikel nicht mehr gedruckt. Oder der Direktor ruft selbst den Redakteur an und erklärt ihm, daß das Papier morgen dreimal so teuer sein wird. Der Redakteur kapiert auch sofort und druckt natürlich nicht, was den Chefs nicht gefällt.
(…natschalswo)

O-Ton 21:     Redaktion „Kanasch“, leises Radio     (0,24)
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:    Weder von Frau Sidnikowa, noch von Oleg Panfilow erwähnt, verdient eine andere Art der Presse noch eine besondere Beachtung: die der ethnischen Minderheiten. In Uljanowsk, der Geburtsstadt Lenins, sitzen wir dem Redakteur einer solchen Zeitung, einem schmächrigen jungen Mann, jetzt gegenüber:

O-Ton 22:     Redakteur der Zeitung „Kanasch“     (0,59)
Regie: verblenden¬¬¬, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler hochziehen

Übersetzer:    „Wir befinden uns hier in der Redaktion von `Kanasch. Seit 1989 erscheint die Zeitung in tschuwaschischer Sprache. Als „Kanasch“ gegründet wurde, hatte sie eine Auflage von 15.000.“

Erzähler:    Heute ist die Auflage von „Kanasch“ auf 1500 gefallen. Das ganze Blatt besteht nur noch aus vier Seiten, von Aufmachung und Druckqualität einem „Samisdat“, den Untergrundblättchen der Breschnewära, ähnlicher als einer Zeitung. Die Redaktion nutzt zwei Räume im  „Haus der Freundschaft“. Daneben haben noch eine tatarische, eine deutsche, eine azerbeidschanische und eine jüdische Gemeinschaft hier Unterschlupf gefunden. Es ist sehr eng. Es fehlen die Mittel, gutes Papier, die Druckerschwärze zu bezahlen. Gründliche Recherchen kommen kaum noch zustande: Es fehlt das Geld, um das Benzin für eine Fahrt aufs Land zu bezahlen. Das Honorar des Redakteurs liegt unter dem Existenzminimum. Die Eltern helfen, gesteht er verlegen. Er arbeite nur noch aus Enthusiasmus, aber selbst damit seien die Arbeitsbedingungen nicht mehr lange zu ertragen:

O-Ton 23:    Redakteur „Kanasch“     (0,35)
Regie: verblenden, O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nehmen wir meine Arbeit: Ich bin ja Korrespondent. Ich ich fotografiere auch: Da fehlt die Chemie, das Papier ist äußerst teuer. Früher konnte man sich frei damit befassen. Da konnte man alles in den Geschäften kaufen zu billigen Preisen. Jetzt kaufst du das nicht, es ist sehr teuer. Wir haben bis heute kein Laboratorium. Ich mache die Entwicklung zuhause. Da gibt mir mal der eine was, mal finde ich hier was. Nur so geht es noch.“
(…stöhnen)

Erzähler:     Bei den Tataren eine Tür weiter ist es nicht anders. Die azerbeidschanische und die jüdische Gemeinde haben gar keine Zeitung. Die deutsche Minderheit bringt es mit ihren „Nachrichten“ immerhin noch auf 6000 Exemplare die Woche. Aber ohne sich selber Mut zuzusprechen geht es hier auch nicht:

O-Ton 24:     Familie Eugen Miller                    (1,02)
Regie: Ton ganz laufen lassen.

O-Ton Miller:  „Ich will die Realität immer so sehen, wie sie ist. Unsere zeitung kommt regelmäßig heraus, nur weil wir da alles rein geben…

Frager:    persönlicher Einsatz mit der ganzen Familie..

O-Ton Miller:  ..sonst wäre es schon längst aus damit. In diesem Jahr in Saratow ist die Zeitung schon einige Monate nicht herausgekommen, in Astrachan gestorben, „Neues Leben“ zusammengeschrumpft. Aber wir haben es sehr schwer. Wir tun alles Mögliche. Wir verkaufen jetzt unsere Bücher, die ich geschrieben habe. Dazu hat uns der VDA ein bißchen geholfen. das verkaufen wir und bezahlen den Menschen, die bei uns arbeiten, davon. Das Ministerium für Nationalität usw. verspricht mehr Geld, aber schon acht Monate, jetzt im September sollen wir das Geld bekommen.“

Erzähler:     Auch die ethnische Presse stirbt, wenn sie nicht wie in einigen der ethnisch geprägten Republiken Rußlands unter die Fittiche örtlicher Bürokraten schlüpfen kann oder wie die deutsche Minderheit vom „Verein der Auslandsdeutschen“ unterstützt wird. Von Selbstbestimmung kann unter solchen Bedingungen auch für die Presse der Minderheiten keine Rede sein. Das Zeitungssterben ist allgemein.
Gewinner dieser Entwicklung ist das Fernsehen:

O-Ton 25:     lokales TV     (0,35)
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:    „Nun, von uns hängt viel ab! Zeitungen sind Defizit – aber Radio und TV hören und sehen beinahe alle. Wenn es im TV eine gute psychologische Gruppe gibt, eine Gruppe, die Feingefühl dafür hat, was unsere Zuschauer beunruhigt, dann kann dieses TV oder Radio sehr wirksam sein.“

Erzähler:     Ludmilla Simonow ist Redakteurin in einem russischsprachigen Lokalsender an der mittleren Wolga. Sie fühlt sich sicher: einen Fernseher, sagt sie, mindestens einen für schwarz-weiß Empfang aus der Sowjetzeit habe doch praktisch jeder. Doch auch Frau Simonows Freiheit hat Grenzen. Die Grenze heißt: Moskau:

O-Ton 26:     lokales TV, Fortsetzung     (0,59)
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:   „Ich weiß es natürlich nicht genau; das handeln die oben miteinander aus, aber: man hat uns unseren eigenen Kanal versprochen. Für den gibt es jetzt kein Geld. Das Geld reicht nicht einmal, um uns richtig zu bezahlen. Wir haben ein äußerst geringes Gehalt. Das Geld dafür kommt aus Moskau. Alle regionalen und nationalen Studios galten ja früher als Filialen des Moskauer TV, früher, lange lange her. Aber es scheint, daß noch einiges davon erhalten geblieben ist. Zum Beispiel die Technik bringt man uns über Moskau. Die Finanzen kommen über Moskau. Die Örtlichen unterstützen uns sehr wenig.“
(…pomogajut)

Erzähler:     Von Moskau kommt auch die Qotierung. Quotierung bedeutet: Das Programm wird aus Moskau vorgegeben: Soundsoviel habt ihr für zentrale Sendungen, soundsoviel für lokale, soundsoviel – zwei Stunden – dürft ihr für eure nichtrussischsprachigen Programme benutzen. Vom Moskauer Geld hängt alles ab:

O-Ton 27:     lokales TV, Forts.     (0,53)
Regie: O-Ton kurz stehen lasdsen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:     „Ja, wenn das Geld nicht kommt, ist es aus. Kürzlich war es so, daß sie nur 20% brachten. Da war noch ein bißchen Geld aus kommerziellen Quellen, aber das war es aus. In dieser Weise sind wir von Moskau abhängig. Aber das ist vermutlich noch die bessere Lösung. Unsere haben ja nichts. Lehrer, Ärzte und andere Staatsangestellte leben außerdem noch schlechter als wir. Hier geht es noch einigermaßen – auf dem Niveau von Bettlern, natürlich, aber was schon! Wir verhungern noch nicht!“
(… Lachen)

Erzähler:     Die ökonomische Unterordnung läuft auch hier, stärker noch als im Bereich der Presse, auf eine neue Zentralisierung hinaus. Zwei staatliche und ein unabhängiger Kanal bilden die Spitze des TV-Imperiums in Moskau. Ihre Sendungen werden selbst in der G.U.S. noch empfangen. So ist die Vielfalt, die mit Perestroika entstand, von einer neuerlichen Monopolisierung der Information schon aus rein strukturellen Gründen bedroht, noch bevor der politische Hammer seitens der Regierung überhaupt erhoben werden müßte.
Scharfe Kritik an dieser Entwicklung kommt von der „Union der Journalistverbände der G.U.S.. In ihr haben sich vornehmlich die russischen Journalisten der ehemaligen Sowjetrepubliken zusammengeschlossen. Die Union klagt über den Verlust eines „einheitlichen Informationsraums“. In Moskau erläutert ihr Sekretär Wladimir Suchamilow, was man darunter versteht:

O-Ton 28:     „Union der Verbände der G.U.S.    (0,34)
Regie: kurz stehen lassen, ablneden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:     „Das ist ein Weg mit Verkehr in zwei Richtungen. Es ist ja irgendwie paradox, aber in der sowjetischen Zeit waren die Informationskanäle auf gegenseitige Begegnung ausgerichtet. Jetzt geht der Informationsfluß nur aus Moskau in die früheren Republiken. Alle unsere Pläne zielen darauf, diese früheren Informationskanäle wiederherzustellen.“
(…na etot schot)

Erzähler:     In eine andere Richtung weisen die Worte, die Gisbert Mrozek am Schluß der hamburger Veranstaltung an seine Moskauer Kollegen richtete:

O-Ton 29:    Gisbert Mrozek                        (1,23)
Regie: O-Ton ganz abfahren

O-Ton Mrozek:    „Eure Stiftung heißt „Stiftung zur Verteidigung der Glasnost“. Wir, die Freunde von Natascha, schlagen vor, noch eine Stiftung zu gründen, eine „Stiftung zur Förderung des Journalismus“, die das macht, was ihr nicht macht, nicht machen könnt, weil eure Aufgaben viele sind, und schwer.
Eine Stiftung zur Förderung des Journalismus in Rußland, eine Stiftung, die getragen wird von russischen und europäischen Journalisten, ein Gemeinschaftsunternehmen, keine humanitäre Hilfe, um das bißchen, was es an Pressefreiheit in Rußland gibt, zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
Eine Stiftung, die z.B. Austausch organisiert zwischen deutschen und russischen Redaktionen. Für deutsche Kollegen ist es auch, glaube ich, sehr wichtig, auch für die Fortbildung, auch die berufliche, sich mal in Rußland in einer russischen Redaktion, nach Möglichkeit in der Provinz, den Ausnahmezustand, den alltäglichen anzusehen.“

Erzähler:    Mit dem Aufbau solcher Partnerschaften ist die Vielfalt der Medien und der aufrechte Gang in Rußland sicher besser zu verteidigen als durch die Wiederherstellung des einheitlichen Informationsraums aus der sowjetischen Zeit.

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“ Unterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“ U  nterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland                    ——————————————-

O-Ton 1: Metro-Untergrund    (055)   … Genurmel, Hall, Stimmen…
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen

Erzähler: Früjahr 92. Moskau. Unterführung der Metro. Boris  Jelzin hat ein Gesetz unterzeichnet, das die unter Stalin unterdrückten Völker rehabilitieren soll. Am Pressestand der Patrioten wird heiß diskutiert, ob das auch für die Deutschen gilt, die Stalin 1941 von der Wolga an den Ural und nach Sibirien deportieren ließ. Haben sie ein Recht auf Wiederherstellung einer eigenen Republik an der Wolga? Oder ist Deutschland ihr eigentliches Zuhause?
Ein kräftiger Mann mit mächtigem Bart drängt sich vor. Abu Kadr, Kaukasier.

Regie: Beim Lachen hochziehen, abblenden, unterlegen

Abu Kadr ist Mitglied des Komitees für die „Wiedergeburt der Deutschen an der Wolga“. Das Komitee setzt sich für die Rückkehr der Deutschen an die Wolga ein. Abu Kadr`s Begründung läßt aufhorchen. (Der unterlegte Ton stimmt mit Text überein):

O-Ton 2: Mitglied der Wiedergeburt, Forts.    (060)   („Samije ruskije…)

Regie: Verblenden, mit Stichwort „samije russkije“ kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, schon vor dem Ende des Übersetzers mit O-Ton 3 verblenden

Übersetzer:“Die russischen Menschen werden selbst begreifen, über kurz oder lang, daß das Wolgagebiet sich in einer katastrophalen Lage befindet. Dort droht ein ökologischer Genozid. Die Gründung einer deutschen Republik an der Wolga, die massenhafte Zureise von Deutschen dorthin würde die Situation ändern. Die Deutschen sind ja eins der tatkräftigsten Völker der Welt. Diese energischen, arbeitsliebenden Menschen würden eine Infrastruktur in dieser Region aufbauen. Sie würden zu einer Art Katalysator, zu einer Art konkretem Impuls.“ …Impuls.“)

O-Ton 3: Musik   (042)

Regie: Kreuzblende, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

O-Ton 4: Ankunft im deutschen Dorf    (060)    (…Türenschlagen, Hunde…)

Regie: Kreuzblende, allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:  Ein Jahr später. Sibirien. Besuch in einem deutschen Dorf. Jetzt verstehe ich Abu Kadr und die vielen anderen, die mich seitdem noch drängten, mir deutsche Dörfer anzuschauen: Die Dorfstraße ist staubig wie überall im sibirischen Sommer. Links und rechts stehen die üblichen Blockhäuser. Aber Fenster und Türen sind frisch gestrichen. Die Höfe sind gefegt. Es fehlen die Wucherungen aus Schuppen, Stall und Nebengebäuden, die sich sonst zwischen den Haupthäusern über die Hofgelände verbreiten. Die Frauen sitzen im Schatten, den ein großer Baum auf eine Bank vor dem Haus wirft. Im Garten leuchten nicht nur Blumen. Akkurat sind Beete angelegt. Akkurat, geradezu pedantisch ist auch das Holz für den Winter gestapelt. Vor den anderen Häusern sieht es ähnlich aus: Die Verständigung klappt auf Anhieb.
Regie: Beim Stichwort „ich bin auch Deutsch“ hochziehen, stehen lassen bis Ende, nach dem Lachen abblenden, unterlegt halten

Text O-Ton: „Ich bin auch Deutsch. Wir verstehen alles. Wir verstehen wohl. Wir sprechen nur nicht richtig. Nicht ganz so wie in `Literaturni Jasik‘. Wir sein zwischen den Russen aufgewachsen. – Ein kleiner Akzent ist nicht zu überhören –  (…Lachen)

O-Ton 5: Deutsch Dorf, Frauen, Forts.     (045)     („Wir sind wenig…

Regie: Verblenden, mit Stichwort „Wir sind wenig“ hochziehen, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Wir sind wenig, was Russen hier sein. Hier seind auch schon viel Gemischte: Haben eine russische Frau, einen russischen Mann. Grade, die so sind wie wir, die seind nicht so viel Gemischte, aber die jungen sind alle durchgemischt. Wir sind beide Deutsch. Wir haben fünf Kinder, von fünf Kindern hat nur der jüngste Sohn eine deutsche. Viele haben eine russische Frau, Mann und so gehts“ (…geht’s)
Regie: Bei Stichwort geht`s“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler: In den dreißiger Jahren sind sie als Kolonisten  aus der Ukraine gekommen, erzählen die Frauen. Freiwillig. Anfangs lebten sie einzeln. Die Kolchose wurde erst später eingerichtet.

O-Ton 6: Frauen im Dorf, Forts.    (040)   („Mi, kagda…

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen
Erzähler:  Auch das Dorf entstand erst mit der Kolchose.

O-Ton-Text:Und das war 1937. Und im 38. Jahr haben sie die Männer alle weggenommen. Männer und Frauen sind viele mit. Auch meinen Vater haben sie mitgenommen. Und dann haben wir rübergebaut in die „derewnje“    (…Derewnje.“)

Regie: Mit dem Stichwort „derewnje“ abblenden, unterlegen

Erzähler:   Sind deutsche „derewnje“, also Dörfer wirklich schöner als russische? Sauberer? Reicher? Was halten die Frauen von solchen Ansichten?

O-Ton 7: Frauen , Forts.    (050)   („Nu, jaja…

Regie: Verblenden, hochziehen,

Text-O-Ton:    „Nun, jaja, unser Dorf! Als sie die Männer alle weggeholt hatten und nur die Frauen geblieben waren. Und dann haben sie ja auch die Frauen noch alle weggenommen. Auch das junge Volk. Nur alte Leute und kleine Kinder waren geblieben. Unser Dorf war zu gar nichts mehr imstande. Aber nach dem Krieg hat sich unser Dorf flink `wostanawliwajet`. Und wenn jetzt so kommen, und ihr kam oftmals so ein Milizionär, dann sagt er:

Regie: Den russischen Ton kurz anlaufen lassen, dann ablenden, unterlegen, dann wieder hochziehen

Erzähler:  Von der Erneuerung des Dorfes redet sie. Daß daß so schnell gehen würde und daß die Deutschen so leben würden, hätte der Milizionär nicht gedacht.

O-Ton Text:“Und so wundern se sich.“   (…wundern se sich.“)

Regie: Nach dem Stichwort „wundern se sich“ abblenden, unterlegt halten (hier evtl. akkustisches Loch aus der beigelegten Schleife „Dorf 1″ füllen)

Erzähler:Man lebt nicht schlecht in diesem Dorf. Besser  jedenfalls als in der benachbarten Sowchose, wo man voll neidischer Achtung vom deutschen Dorf spricht. Bleiben oder gehen“ ist trotzdem die Frage, die viele beunruhigt:

O-Ton 8: Frauen, Forts.     (025)   („Von uns ist erst..)
Regie: Verblenden, kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text: „Von uns ist erst eine Familie weggefahren. Wir täten ja auch fahren. Aber bei wem soll man hinfahren? Wir haben doch nirgends keine nich. Oder haben wir wohl soviel Kapital, daß wir können fahren? So ein teueres Billet! Wir können, nein, wir müssen schon hier bleiben, bis wir schon sterben. “ (…sollen wir hin?“)

Regie: Beim Stichwort sterben abblenden, unterlegen

Erzähler:Von einem Umzug an die Wolga redet hier niemand.     Deutschland lockt. Aber noch ist die Barriere hoch:

O-Ton 9: Frauen, Forts.     (0,25)   (… „Wir haben nichts…)

Regie: Verblenden, bei „Wir haben nichts“ hochziehen, stehen lassen

Text O-Ton:“Wir haben nichts. Wir sein doch Russen.
Hier sein Faschisten ein Leben lang gewesen und da sind wir russisches Schwein. (…Schwein.“)

Regie: Beim Stichwort Schwein abblenden, unterlegt halten (Hier ebenfalls evtl. Ton aus Schleife „Dorf 1″ einspielen)

Erzähler:“Faschisten“, „Russisches Schwein?“ Harte Worte, die eine harte Wirklichkeit beschreiben. Damit ist zunächst alles gesagt. Die Einladung in eins der benachbarten Häuser beendet diesen Teil des Gesprächs.

O-Ton 10: Eintritt in ein Haus     (0,48) (… Hunde, Hall, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:  Die Hausfrau entschuldigt sich für die  Unordnung. Dabei ist es sauber wie im Museum: Der Fußboden ist gebohnert; ebenso der furnierte Schrank. Die Sessel tragen Schonbezüge.

O-Ton Text:    „Sehr guten `Parjadok‘ haben wir nicht. `Pomolenko‘.  Aber leben kann man. Früher haben wir noch nicht so gelebt.“

Regie: Russischen Text kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:  „Früher war alles viel kleiner“, sagt sie. „Selbst auf dem Boden haben wir gelebt. Egal. Man mußte leben, hat gelebt. Jetzt ist es ein bißchen besser.“ (..lutsche)

Regie: Nach dem Stichwort „lutsche“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Jetzt mischt die Tochter sich ein. Auf Russisch.  Sie ist etwas anderer Ansicht. Deutsch versteht sie zwar noch, lann es aber nicht mehr sprechen. Sie ist zudem mit einem Russen verheiratet.

O-Ton11: Junge Frau im Haus, Tochter(030)     („Djela w tom schto…“)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Die Sache ist so: Früher hat man sich für seine  Nationalität geschämt, dafür geschämt, daß man deutsch ist. Deutsch zu sein, das war peinlich, eine Schande. Jetzt ist es umgekehrt, jetzt spricht man mit Stolz davon, daß man Deutsche ist. Das hat sich erst in den letzten zehn Jahren entwickelt. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt. (…progress.“)

O-Ton 12: deutsche Hausfrau    (024)    („Da, wot, odno tolka…)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:   Nur eins sei schlecht, widerspricht die Mutter: daß  die „deutsche Nation“ – so wird in Rußland die ethnische Gruppe genannt – sich vermutlich einfach verliere.

Regie: Bei Stichwort „die Kinder“ hochziehen, stehen lasssen

O-Ton-Text:    „Die Kinder gehen in die Schule, lernen Russisch. Die verstehen nicht ein Wort. Wir verstehen ja noch ein bißchen. Aber die Kinder die jetzt wachsen, verstehen nicht zu lesen. Was sind das für Deutsche, die nicht können sprechen. (..sprechen)

Regie: Mit „sprechen“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Das muß auch die Tochter bestätigen.

O-Ton 13: Tochter, Forts.  (037) („Kultura, obitschi…)

Regie: Verblenden, Ton kurz kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen, verblenden

Übersetzerin: „Ja, Kultur, Sitten, alles ist verloren gegangen. In der Vergangenheit war ja alles verboten. Jetzt ist es frei. Doch jetzt ist es schon sehr schwer, sich zu erinnern. Überhaupt, was heißt erinnern? Alte Leute, die selbst noch Wurzeln in der Volkskunst haben, gibt es nicht mehr. Unsere Eltern wissen vielleicht noch Einiges. Wir, meine Generation, kaum noch. Unsere Kinder wissen schon gar nichts mehr.“ (…snajet)
Ton 14: Alter im Haus  (044)  („Liebe Tochter, …)

Regie: Verblenden, stehen lassen, nach Stichwort „fremd“ abblenden, unterlegen
O-Ton-Text:“Liebe Tochter, es ist noch anders: Wir sein hier  nicht zuhaus – und da sein wir auch nicht zu Haus. Hier sein wir noch geboren, großgewachsen. Hier haben wir noch Bekanntschaft um uns herum. Aber komm dahin, da ist alles fremd.“ (…fremd.“)

Regie: Nach Stichwort „fremd“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Früher wurde Deutschland schlecht gemacht,  erzählt der Alte. Heute ist es genau umgekehrt. Er traut niemanden mehr. Fremdheit und Angst bestimmen das Lebensgefühl der Alten hier im Dorf. In Anwesenheit des seltenen Gastes brechen, stärker als vorher schon auf der Straße, lange abgekapselte Erinnerungen auf:

O-Ton 15: Alter, Forts.     (060)   („Mir haben se…)

Regie: Verblenden, Ton stehen lassen
Text O-Ton:“Mir haben se sechs Brüder verschossen. Ich bin der siebente. Ich war der jüngste. Den Vater haben sie auch nicht verschossen. Den haben sie sein gelassen….“

Regie: Russischen Text nach Stichwort gelassen“  kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen, nicht wieder hochziehen, verblenden

Erzähler: Vom NKWD, erzählt der Alte, Stalins  Geheimpolizei: Nachts kamen sie ins Dorf. Die Leute mußten packen, wurden aufgeladen, ab. Zwei Monate später waren sie tot. Die Frau des Alten ergänzt: Ihr Vater wurde ebenfalls erschossen. Vor drei Jahren wurde er rehabilitiert. Aber die zynische Offenheit des Bescheids, der sie nur über die Erschießung informiert, ohne Worte des Bedauerens zu finden, macht ebenso Angst wie die Lügen zuvor. Die Mutter zeigt das Schreiben. Es lag griffbereit bei den Wertsachen. Während sie sich die Augen wischt, liest die Tochter vor:

1O-Ton 16: Tochter liest Rehabilitationsurkunde   (037)   (Sobschaem: Ttscho was otez…

Regie: Verblenden, Ton, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung zum Lachen hochziehen

Übersetzerin: „Wir erklären: Daß ihr Vater Rosin, Alexander  Iwanowitsch, geboren 26.Mai 1886 im früheren Kuban, vor seiner Verhaftung als stellvertretender Vorsitzender der Kolchoose „Thälmann“ arbeitete. Er wurde angeklagt der Beteiligung an einer konterrevolutionär-faschistischen, aufrührerisch-terorriristischen nationalistischen Organisation für Spionage und Diversion. “ (…Lachen)

Regie: nach dem lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Solche Briefe haben sie jetzt zu Millionen  verschickt, sagt die Mutter.  Ihr Lachen verbindet die alte Angst mit der neuen. Aus einer Seele bestätigen die beiden Alten::

O-Ton 17: Mutter und Vater   (050)   („Das ist nicht vorbei…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Das ist nicht vorbei. Vorbei ist es nur für die, die es nicht erlebt haben.   ‚Konjeschna‘, die Leute haben Angst. Die glauben nicht.
Das ist ein und jetzt das Zweite: dubro…“

Regie:: Nach „jetzt das Zweite: abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:“Das Zweite“, von dem der Alte spricht, ist die Angst, daß auch die heute ausgegebene Parole: „Bereichert Euch“ nicht von langer Dauer sein werde. Zu nah sind die Erinnerungen. Nicht zuletzt waren es ja gerade die Deutschen, die „entkulakisiert“ wurden, wie es im Russischen heißt, also umgebracht wurden, weil sie reicher waren als die anderen. Die heutige Zunahme der Morde beunruhigt den Alten. Heut gebe es mehr Morde als vor Perestroika, meint er. Damals habe die Polizei schon wenig gearbeitet. Jetzt tue sie überhaupt nichts mehr. „Aber wir sind doch wehrlos“, schließt er. „Außer einer Axt haben wir nichts.“ (…njetto.“)

Regie: Nach dem Stichwort „njeto“ abblenden, unterlegen, verblenden

O-Ton 18: Abschied aus dem deutschen Dorf  (…Tür, „da,da,da“, Hunde, Auto…)

Regie: Verblenden, kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, Kreuzblende mit O-Ton 19

Erzähler: Es geht nicht vor und nicht zurück, aber  man ist entschlossen, das Vorhandene zu halten – mit diesem Eindruck verließ ich das Dorf.

O-Ton 19: Wiederholung von Ton 3 (Musik)    (042)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 18, sehr kurz stehen lassen, sodaß eben der Wiedererkennungseffekt eintritt, dann Kreuzblende mit O-Ton 20

O-Ton 20: Deutsches Dorf 1994    (044)   (…Fahrgeräusch, Türenklappen, Stimmen Lachen…)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler: Ein Jahr später, ein anderes Dorf: „Mor-Swochos“ nahe der mongolischen Grenze. Hier wohnen Russen und Deutsche gemeinsam. Diese Deutschen kamen nicht mehr freiwillig. Sie wurden wie Millionen andere 1941 aus dem Wolgaraum deportiert. Hier haben sie eine kleine Siedlung gebildet. Die deutschen Häuser fallen auch hier sofort durch ihre Akkuratesse ins Auge.

Regie: Mit dem Stichwort „Wir sind auch Deutsche“ hochziehen, mit „Lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Es ist ein besonderer Tag: Eine Familie rüstet sich soeben zum Aufbruch nach Deutschland. Es ist die fünfte von insgesamt elfen. Die Zurückbleibenden fühlen sich verlassen:

O-Ton 21: Frauen im deutschen Dorf II   (O37)   („Mir wolle auch nüber…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Wir wollen auch nüber. Aber ich weiß ja nicht, wann wir was kriegen. Die fahren alle nüber. Wollen noch mehr nach Deutschland.“

Regie: Nach dem Stichwort „Deutschland“ abblenden, unterlegen

Erzähler:Die Lage hat sich verschärft. Das spürt man sofort. Aber warum?

O-Ton-Text:    „Weil da alles schwerer ist. Da ist schwerer. Die daneben, die wollen jetzt fort schon. Wollen dahin, wo ist `parjadok‘.“ Noch: Lachen, Frage nach Schirinowski)

Regie: Nach der Frage: „Schirinowski?“ abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Dahin, wo Ordnung herrscht, wollen die Frauen.   Mit Schirinowski haben sie nichts im Sinn. Sie wissen nicht einmal, wer er ist. Deutsche Ordnung soll es sein, nicht Schlamperei, wie sie die hiesigen Verhältnisse nennen. Arbeit wollen sie und in Ruhe das Erarbeitete genießen. In diesem Punkt sind fast alle sich einig.
Aber eine ältere Frau widerspricht:
O-Ton 22: Zweite Frau im deutschen Dorf II        (029)          („Ich will net…“

Regie:  Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

O-TonText:“Ich will net nach Deutschland, ich will da bleibe in Rußland, ich bin russisch, was soll ich dort. Was soll ich in Deutschland?!“

Regie: Den folgenden russischen Satz bis Stichwort „Ruski“ kommen lassen, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, verblenden

Erzähler: „Hier sind wir Deutsche, dort Russen“, sagt die  Alte. Im Grunde spricht sie nur aus, was alle wissen: Nach zweihundert Jahren in Rußland liegen die Wurzeln der ehemaligen Einwanderer inzwischen in ihrer neuen Heimat. Daran ändert auch Umsiedlung und Deportation nichts. In Sibirien leben sie nun auch schon wieder zwei Generationen. „Historisch gewachsen“, nennt die Alte es. Das reiße man nicht von heut auf morgen heraus. Verzweifelt beschwört sie die alte Zeit:

O-Ton23: Forts. zweite Alte, Dorf II   (013)   („Ransche mi schili…

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende des Erzählertextes langsam hochziehen

Erzähler:“Früher lebten wir hier gut“, sagt sie. Erst seit drei Jahren sei es so wie jetzt. Und warum solle es nicht vielleicht in fünf Jahren wieder gut sein? Aber dann verläßt sie der Mut: Was dann kommen werde, das könne natürlich auch niemand sagen. Gott allein wisse, was morgen werde.“ (..budit.“)
Regie: Nach dem Stichwort „budit“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler:Schließlich kann sie die Tränen nicht mehr halten:

Ton24: zweite Alte, Forts.    (020)  („Die da wolle morge…)

Regie: Verblenden, stehen lassen (auch das Russische) bis nach dem Weinen

O-Ton-Text:    „Die da wolle morge fortfahre…
Regie: Nach dem nochmaligen Schluchzen abblenden, unterlegen, nach Erzähler mit „a mir sind lauter swoi“ wieder hochziehen

Erzähler:  „Alle bedauern es“, sagt die Frau, „Deutsche   genauso wie Russen.“ Fremde kaufen jetzt das Haus, klagt sie. Aber man gehöre hier doch zusammen! Trotz aller Unterschiede, Russen, Deutsche, Katholische und Orthodoxe.
Dann zitiert sie, was sie ein deutsches Sprichwort nennt:
O-Ton 25: zweite Alte, Deutsches Dorf II    (013)    („Ein Gott hat…“)

regie: Verblenden, bei „Ein Gott“ hochziehen stehen lassen

O-Ton Text:    „Ein Gott hat man nur. Gelt? Glauben kann man wie man will und Gott ist nur ein.“ (…ein.“)

O-Ton26: Geäusche auf dem Bauernhof  (045)     (…Türenklappen, Hofgeräusch, Morrrad,     Gänse…

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler: Im Hof nebenan ist man bereit. Die Gänse   schnattern wie immer. Aber die Stimmung ist gedrückt. Immerhin läßt die Familie Haus, Hof und Freunde zurück. Nur Handgepaäck kann sie auf ihrem Weg ins hannoveraner Auffanglager mitnehmen. Das Herz bleibe wohl noch hier, meint der junge Familienvater gefaßt.
Warum er dann gehe?

O-Ton 27: Ausreisender    (065)     (…Lachen, „Potschemu…?“

Regie. Verblenden, mit Lachen hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, dem Übersetzer und Erzähler unterlegen. Nach der zweiten Übersetzung hochziehen

Übersetzer: „Warum? Hier hat so ein verrücktes Leben   angefangen, ohne irgendwelche Konturen. Du weißt nicht, was morgen sein wird, übermorgen. Davor wäre es normal gewesen, nicht zu gehen, nirgendwohin zu gehen. Aber die, die schon gegangen sind, schreiben, daß Du dort besser lebst als hier.

Erzähler:  Die Ausssicht, als Emigrant in einem   Übergangslager verbringen zu müssen, schreckt ihn nicht.
Übersetzer:    „Das ist uns schon klar. Aber es heißt, daß das    nach fünf Jahren überstanden ist. Einmal angefangen, muß man es auch zuendebringen.“
(… na eto.“)

Regie: Mit Stichwort „na eto“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:Seine Mutter steht derweil ganz verloren mitten  auf dem Hof. Sie versteht nicht, was mit ihr, der Alten, der `Starije‘, geschieht:

O-Ton 28: Mutter des Ausssiedlers  (065)  (Warum?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Warum? Ach, wer weiß denn, warum. Das sind drei Bube und die wollen fort. Die `Starije‘, ich bin denen nicht nuschna. Ich bin do nicht `nuschna‘, und bin auch dort `nawerna‘ nicht `nuschna‘.“

Regie: Nach Stichwort „nuschna“ abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler wieder aufblenden

Erzähler: Alt, niemand nütze sei sie, klagt das Mütterchen.  Krank sei sie. Wenn sie doch bloß sterben könne:

Regie: Mit „fahren alle fort“ wieder aufblenden, stehenlassen

O-Ton-Taxt:    „Aber sie fahren ja alle fort. was kann man machen. Allein will man doch auch net bleibe, gell? Wann’s kan’s einem mitnehmt, da muß man dableibe. Wies kommt, so müssen wer’s mitnehme. Ist doch wahr. (andere Frau) Ja, so isses.“
(…ja, so isses.“)

Regie: Mit Stichwort „ja so isses“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton29: Kinder    (066)  (…Schmatzen, Kinderstimmen…)
Regie: Verblenden, kommen lassen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler: Vor dem Haus spielen die Kinder noch eine letzte   Runde. Für sie ist völlig klar, worum es geht:

Regie: mit Stichwort „potamu schto“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  „Hier verdient man zu wenig“, sagt der Kleinste. „Hier kann man nicht leben. Dort ist es besser. Da gibt es alles, zu essen und überhaupt.“
Was sie von Deutschland erwarten?
Regie: Mit dem Stichwort „Nu kak?“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, mit Stichwort „ja rad“ wieder hochziehen

Erzähler::     „Daß es besser wird“, hofft der Kleine. Besuch aus Deutschland sei im Dorf gewesen. Äpfel, Wurst und Konfekt hätten sie mitgebracht. „Und alles und alles.“ Er sei froh, daß es jetzt dorthin gehe, versichert er treuherzig.
(..ja rad!)

O-Ton-30: In der Küche   (060)    (…Stühlerücken, Gabeln, Geschirr, Stimmen…)

Regie Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen
Erzähler:  Die Einladung zu einem Häppchen können wir schließlich nicht ablehnen. Die Küche ist kühl trotz der sibirischen Hitze. Auch hier blitzt es vor Sauberkeit. Aus dem Häppchen wird schnell ein Mahl. Die ganze Siedlung scheint beteiligt. Der Tisch kann den Reichtum kaum tragen: selbstgemachte Butter, Milch, Käse, mehrere Sorten von Sahne. Stolz zeigt eine der Frauen die Buttermaschine. Eigener Honig, selbstgebackenes Brot, Wurst aus eigener Schlachterei. Tomaten, Zwiebeln, Früchte aus eigenen Gärten. „Wir haben alles“, erklären die Frauen stolz. „Alles selbstgemacht“. Der „Schnaps“, mit dem wir schließlich anstoßen, ist kein Wodka, sondern ein würziger Selbstgebrannter. Zum Abschied packen sie meinen russischen Begleitern und mir drei dicke Pakete mit selbstgeräuchertem Speck.

O-Ton 31: Abfahrt (025)  (…Doswidannije, Aufwiedersehn, Schlüssel, Anfahrt, Seufzer…

Regie: Verblenden, stehen lassen, bis Satz mit Stichwort „Vitamine“ gesprochen ist, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Erzähler: Meine russischen Begleiter können es nicht  fassen: „Die Vitamine fehlen! Sie haben alles! Aber für Vitamine wollen sie gehen!“
Unter Erörterungen  dieses unfaßbaren Paradoxons kehren wir zurück in den Normalalltag des nächstgelegenen Bezirkszentrums, gegen den die deutsche Siedlung in „Mor-Sowchos“ trotz aller Aufgeregtheit wie eine Idylle erscheint.

O-Ton-32: Musik im Foyer   (090, reichlich)    (…Musik)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, nach Beginn der Antwort der Frau abblenden, unterlegen

Erzähler:  Foyer eines der großen Kulturpaläste in Nowosibirsk.   Hier findet eine Versammlung der örtlichen Sektion „deutschen Gesellschaft für Wiedergeburt“ statt. Mit ca. 60.000 Deutschen beherbergt das Gebiet Nowosibirsk nur gut ein Zehntel der in Sibirien verstreuten Deutschen. Aber als größte Stadt Sibiriens ist es dennoch das Zentrum der Gesellschaft „Wiedergeburt“.
Heute abend werden Abgeordnete aus der Bundesrepublik erwartet. Es ist das erste Treffen dieser Art. Der Saal ist bereits voll. Aus der Stadt, aber auch aus weiter entfernten Dörfern sind die Menschen angereist. Man wartet auf die Gäste aus Deutschland. Im Foyer wird derweil noch getanzt. Die Erwartungen sind unterschiedlich. Eine der Tänzerinnen, noch ganz außer Atem, ist fröhlich und voller Schwung: Regie: Antwort der Frau kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen     Achtung! Hier habe ich möglicherweise zwischen Ende der Musik und Antwort der Frau einen Schnitt vergessen: Bitte ausblenden bis zur Abtwort, verblenden

Übersetzerin:^ „Nun, wir wollen von ihnen hören, was Sie zu sagen haben. Und sie sollten uns zuhören. Wir wollen, daß wir mit Ihnen zusammensein können, daß sie auch später öfter unsere Gäste sind.“

Regie: Nach dem Zitat abblenden

Erzähler:Andere sind nicht so zuversichtlich. Vor allem  die Spaltung der Deutschen Gemeinde macht ihnen zu schaffen:

O-Ton 34:Im Foyer, Forts.    (020)   („Schwer zu sagen…
Regie: Verblenden, Ton stehen lassen

O-Ton-Text: „Schwer zu sagen, aber ich glaube, da gibt’s so ein bißchen Politik, also wieder Auseinandersetzungen zwischen Deutschen hier im Land und im Gebiet Nowosibirskt. Aber wir sind alle Kinder einer Mutter. Das ist die Muttersprache des deutschen. Und die Mutter hat alle gleich lieb. Das tun, was gut ist für die Deutschen. Und nicht schimpfen.“ (…schimpfen“)

Regie: Nach Stichwort schimpfen abblenden, unterlegen

Erzähler:Erst auf Nachfrage erläutert die Frau die Differenzen, um die es geht:

Ton 34: Forts. Halle     (020) („Die Unterschiede?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

Übersetzerin:  „Die Unterschiede? Na jetzt – weiß ich nicht einfach. Früher war es so: Entweder die Wolga oder in den Westen. Und die anderen waren: Wir bleiben hier uns versuchen etwas für die Deutschen zu machen. Aber wenigstens um fünzehn Jashre hätte es früher passieren sollen. Zu viele sind schon drüben oder sind unterwegs.“
(…unterwegs.“)
Regie: Mit Stichwort „unterwegs“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton 35: Veranstaltungseröffnung     (089)    (…Beifall, Stimme, Beifall…)
Regie: Verblenden,  stehen lassen, mit dem Beifall nach der Ansage abblenden, unterlegt halten

Erzähler:      Mit großem Beifall werden die deutschen  Abgeordneten begrüßt. Der Leiter der deutschen Delegation, alle Mitglieder der CDU, wie er betont, hat als erster das Wort:

Regie: Mit Beifall“ hochziehen, Ton stehen lassen

Erzähler:      „Liebe Freunde, von der Wiedergeburt, liebe Mitglieder des zwischenstaatlichen Rates. – Wird mich jemand übersetzen? Muß man übersetzen? Zurufe: Nein! – Gut. Umso besser, dann verstehen wir uns auch so. In unserer deutschen Muttersprache.“ (..Muttersprache“)

Regie: Mit Stichwort „Muttersprache“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler;Deutschland sei bereit, den Rußlanddeutschen zu  helfen, versichert er:

O-Ton 36: Abgeordneter. Forts.   (089)   („Zweierlei…)

Regie: Verblenden, mit Stichwort

O-Ton Text:“Und das wird zweierlei bedeuten: Erstens möchte ich Ihnen sagen: Das Tor nach Deutschland bleibt weiter offen, für alle, die es benutzen möchten, die nach Deutschland wollen. Das Zweite ist: Diejenigen, die nicht nach Deutschland wollen, die sollen Hilfe erhalten hier in Sibirien, wenn sie das wünschen. Und ich kann ihnen versprechen, daß beides bleibt, und daß die Entscheidung bei ihnen liegt.“

Erzähler:  Der Redner beschwört die „positive Rolle“, die  die Deutschen für die Entwicklung von Kultur und Zivilisation Rußlands gespielt hätten, als sie von zweihundert Jahren von Peter I. und Katharina II. als Kolonisten, als Handwerker und Bauern, ins Land gerufen wurden. Er beklagt die schweren Zeiten, die danach gekommen seien, besonders unter Stalin und Hitler. Kein anderer Teil, der Deutschen, versichert er den Menschen im Saal,  habe so sehr unter den Folgen von Krieg und Vertreibung gelitten wie die Rußlanddeutschen. Damit aber sei es nun vorbei:

Regie: Mit Stichwort allmählich „denn wir alle hoffen doch“ langsam aufblenden, stehenlassen bis Ende, verblenden

O-Ton-Textt:“Denn wir alle hoffen doch, daß nach schweren Jahren, die noch bevorstehen, doch Schritt für Schritt Demokratie und Freiheit siegen werden. Und dann sind natürlich die Rußlanddeutschen, liebe Freunde, eine großartige, eine ideale Brücke zwischen den Deutschen und den Russen.“ (Beifall…)

O-Ton37: Musik: „Heimat“

Regie: Kreuzblende, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler abblenden

Erzähler:      Was die deutschen Abgeordneten versprechen, was  der Trachtenchor mit seinen Liedern zum Abschluß der Veranstaltung beschwört, scheint dem Vorsitzenden der „deutschen Widergeburt“, Dr. Weinhardt, der die Veranstaltung leitet, nicht mehr realistisch. In seinem Büro erklärt er tags darauf:

O-Ton 38: Dr. Weinhard, Forts. („Die ersten Jahre…)

Regie: Ton kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:    Die ersten Jahre der Perestroika machten uns Hoffnungen auf die Widerherstellung der Republik und der Mnschenrechte, obwohl die Deutschen in den vorherigen Jahren vielleicht ein halbes Jahrhundert unter dem Druck waren und das Vertrauen zu unsren Behörden völlig verloren hatten. Jetzt haben sie es noch mehr verloren. Wir stehen sogar im Minus. Wir sehen, daß die Regierung nur um ein Einziges bestrebt ist: Rußland in den heutigen Grenzen zu erhalten. Und sie wollen aber nicht verstehen, daß alle Völker ihre Rechte und Möglichkeiten haben sollten, ihre Kultur und ihre Muttersprache zu erhalten.“
(…erhalten.“)

Regie: Mit dem Stichwort „erhalten“ abblenden,
unterlegt halten

Erzähler: Die Hoffnung der Rußlanddeutschen auf eine Wiederherstellung einer autonomen Republik an der Wolga sind erloschen. Das Gesetz zur Rehabilitaion repressierter Völker sehen sie auf die lange Bank geschoben.
Aber auch der deutschen Regierung vetraut Herr Weingardt nicht mehr. Vom „offenen Tor“ werde bereits seit Jahren gesprochen. Tasächlich würden denjenigen, die nach Deutschland wollten, immer neue bürokratische Schwierigkeiten gemacht. Beispielsweise müßten sie Geburtsnachweise ihrer Eltern und Voreltern beibringen. Viele aber hätten diese Dokumente bei der Deportation doch verloren!
Die Vorstellung der deutschen Abgeordneten von den Rußlanddeutschen als „Brücke“ veranlaßt Dr. Weingardt schließlich nur noch zu einem milden Scherz:

O-Ton 39: Dr. Weinhardt, Ende

Regie: Kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Das kann man als Spaß einschätzen, als Witz vielleicht. Man darf keine Brücke, auf den Knochen eines repressierten Volkes aufbauen. da muß masn zuerst die Rußlanddeutschen fragen, ob sie noch viel Kräfte haben, das auszuhalten. Und diese Frage stellt keiner. Es gibt schon ehrliche Menschen, die das verstehen, aber noch ziemlich wenig.“

Erzähler:  Das Problem steht auf der Tagesordnung. Der Krieg  gegen die Tschtschenen, ein deportiertes Volk wie die deutsche Minderheit, hat es noch einmal verschärft. Wo ist die Lösung?

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“ Unterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland

„Uns fehlen nur Vitamine und Konfekt.“    Unterwegs auf deutschen Dörfern in Rußland                    ——————————————-

Achtung: O-Ton 1, 2 und 3 (des Vorspielbandes) gestrichen.
Die ursprüngliche Zählung, wie sie der Reihenfolge auf dem Vorspielband entspricht, behalte ich bei)

Vorspann: Als Boris Jelzin 1991 Präsident wurde, atmete die                 deutsche Minderheit in Rußland auf. Kaum an der Macht, unterzeichnete er ein Gesetz, das die unter Stalin unterdrückten Völker rehabilitieren sollte. Viele schöpften Hoffnung, an die Wolga zurückkehren zu können, von wo Stalin sie 1941 an den Ural und nach Sibirien deportieren ließ. Ein Komitee „Wiedergeburt der Deutschen an der Wolga“ machte sich für die Rückkehr der Deutschen in ihre früheren Siedlungsgebiete stark. Die Gründung einer deutschen Republik an der Wolga, argumentierten sie, könne die wirtschaftlich zusammenbrechende Region wieder aufmöbeln. Die Deutschen könnten dort zu einer Art Katalysator, einem Impulsgeber der Reform werden.
Eine heiße Debatte entstand, und dies nicht nur in Rußland: Wo sind die Rußlanddeutschen zuhause? In Sibirien? An der Wolga? Haben sie ein Recht auf eine autonome Republik? Oder ist Deutschland ihr eigentliches Zuhause?

O-Ton 4: Ankunft im deutschen Dorf                     (060)          (…Türenschlagen, Hunde…)

Regie: Kreuzblende, allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:  Sibirien. Sommer 1993. Ein deutsches Dorf, Teil                 der Sowchose „Sibir“ im Gebiet des Bezirkszentrums „Bolotnoje“ bei Nowosibirsk.
Deutsche Dörfer erkennt man sofort, hatten russische Freunde mir gesagt. Ich wollte es nicht glauben. Jetzt verstehe ich: Die Dorfstraße ist staubig wie überall im sibirischen Sommer. Die Hitze ist fast unerträglich, mindestens dreißig Grad. Aber die Gruppe Frauen, zu der mein Führer aus Bolotnoje mich bringt, sitzt im Schatten, den ein großer Baum auf eine Bank vor dem Haus wirft. In ihren bunten Kitteln, den weißen und roten, hinter dem Kopf gebundenen Tüchern wirken sie frisch und locker, auch die älteren.   Im Garten leuchten nicht nur Blumen. Akkurat sind Beete angelegt. Akkurat, geradezu pedantisch ist auch das Holz für den Winter gestapelt.
Vor den anderen Häusern sieht es ähnlich aus. Es sind die üblichen Blockbauten. Aber die Rahmen der Fenster und Türen sind frisch gestrichen. Kleine Vorgärten werden von Zäunen eingefaßt, deren Latten in hellem Blau oder grün leuchten. Manche haben noch weiße Spitzen.
Die Höfe sind gefegt. Ställe, Schuppen und stehen in Reih und Glied, statt über das Gelände zwischen den Häusern zu wuchern.
Die Frauen begrüßen uns herzlich. Deutsch zu reden ist ungewohnt für sie. Das ruft Heiterkeit hervor. Aber die Verständigung klappt auf Anhieb.

Regie: Beim Stichwort „ich bin auch Deutsch“ hochziehen, stehen lassen bis Ende, nach dem Lachen abblenden, unterlegt halten

Text O-Ton: „Ich bin auch Deutsch. Wir verstehen alles. Wir verstehen wohl. Wir sprechen nur nicht richtig. Nicht ganz so wie in `Literaturni Jasik‘. Wir sein zwischen den Russen aufgewachsen. – Ein kleiner Akzent ist nicht zu überhören –
(…Lachen)

O-Ton 5: Deutsch Dorf, Frauen, Forts.                  (045)
(„Wir sind wenig…

Regie: Verblenden, mit Stichwort „Wir sind wenig“ hochziehen, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Wir sind wenig, was Russen hier sein. Hier seind auch schon viel Gemischte: Haben eine russische Frau, einen russischen Mann. Grade, die so sind wie wir, die seind nicht so viel Gemischte, aber die jungen sind alle durchgemischt. Wir sind beide Deutsch. Wir haben fünf Kinder, von fünf Kindern hat nur der jüngste Sohn eine deutsche. Viele haben eine russische Frau, Mann und so gehts“ (…geht’s)
Regie: Bei Stichwort geht`s“ abblenden, unterlegt
halten

Erzähler: Schnell hat sich ein kleiner Kreis gebildet. Fünf                 oder sechs Frauen mögen es sein. Ein älterer Mann hält sich im Hintergrund hinter seiner grauen Schiebermütze versteckt.
„In den dreißiger Jahren sind wir hierher gekommen“, erzählt eine der Frauen. Als Kolonisten aus der Ukraine. Woher ihre Elter davor gekommen sind, lönnen sie nicht beantworten. Nur ihr Dialekt verrät es: Schwaben. Ja, das könne schon sein, lachen sie verlegen. Aber freiwillig seien sie gekommen! Darauf legen die Frauen wert. Anfangs lebten sie als Einzelbauern. Später wurde die dann Kolchose eingerichtet:

O-Ton 6: Frauen im Dorf, Forts.                        (040)          („Mi, kagda…
Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen
Erzähler:      Auch das Dorf entstand erst mit der Kolchose.

O-Ton-Text:Und das war 1937. Und im 38. Jahr haben sie die Männer alle weggenommen. Männer und Frauen sind viele mit. Auch meinen Vater haben sie mitgenommen. Und dann haben wir rübergebaut in die „derewnje“    (…Derewnje.“)

Regie: Mit dem Stichwort „derewnje“ abblenden, unterlegen

Erzähler:   Und? ich kann mich nicht halten. Ich muß sie                 fragen: Sind deutsche „derewnje“, also Dörfer, wirklich schöner, sauberer, reicher als russische wie viele sagen? Was halten die Frauen von solchen Ansichten?

O-Ton 7: Frauen , Forts.                               (050)          („Nu, jaja…
Regie: Verblenden, hochziehen,

Text-O-Ton:    „Nun, jaja, unser Dorf! Als sie die Männer alle weggeholt hatten und nur die Frauen geblieben waren. Und dann haben sie ja auch die Frauen noch alle weggenommen. Auch das junge Volk. Nur alte Leute und kleine Kinder waren geblieben. Unser Dorf war zu gar nichts mehr imstande. Aber nach dem Krieg hat sich unser Dorf flink `wostanawliwajet`. Und wenn sie jetzt so kommen, und hier kam oftmals so ein Milizionär, dann sagt er:

Regie: Den russischen Ton kurz anlaufen lassen, dann ablenden, unterlegen, dann wieder hochziehen

Erzähler:     Von der Erneuerung des Dorfes redet sie. Daß daß
so schnell gehen würde und daß die Deutschen so leben würden, hätte der Polizist nicht gedacht.

O-Ton Text:“Und so wundern se sich.“               (…wundern se sich.“)

Regie: Nach dem Stichwort „wundern se sich“ abblenden, unterlegt halten (hier evtl. akkustisches Loch aus der beigelegten Schleife „Dorf 1“ füllen)

Erzähler:Man lebt nicht schlecht an diesem Ort. Besser                 jedenfalls als in der benachbarten Sowchose, wo man voll neidischer Achtung vom deutschen Dorf spricht: Platten und Holzbohlen gebe es dort, über die man im Frühjahr und Herbst ohne Gummistiefel von Haus zu Haus kommen könne. Bänke vor den Häusern, die Höfe, die Ställe gepflegt: Alles an seinem Ort; die Maschinen unter dem Dach, sogar Obstbäume in den Gärten. Pünktlich und arbeitsam, diese Deutschen!
Seit die Sowchose „Sibir“ eine AG wurde, müssen ihre Mitglieder selbst für Strom, Wasser, Planierung der Dorfstraße, Abfallbeseitigung usw. sorgen. Während die Sowchose im Müll erstickt, hat man deutschen Dorf noch alles im Griff. Zur größten Verblüffung der Sowchosniki. Ob es wahr sei, fragte mich eine junge, Frau im Kontor der Sowchose schließlich schüchtern und provokativ zugleich, als es um die deutsche Sauberkeit ging, daß man in Deutschland die Bürgersteige mit Schampoo sauberhalte?
Früher war die Kolchose nach Thälmann benannt. Heut heißt sie nur noch das deutsche Dorf. Es ist eins der wenigen geschlossenen deutschen Dörfer, die es in Sibirien heute gibt. Man ist also unter sich. Man steht gut mit den russischen Nachbarn. „Bleiben oder gehen“ ist trotzdem die Frage, die viele beunruhigt:

O-Ton 8: Frauen, Forts.                            (025)            („Von uns ist erst..)
Regie: Verblenden, kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text: „Von uns ist erst eine Familie weggefahren. Wir täten ja auch fahren. Aber bei wem soll man hinfahren? Wir haben doch nirgends keine nich. Oder haben wir wohl soviel Kapital, daß wir können fahren? So ein teueres Billet! Wir können, nein, wir müssen schon hier bleiben, bis wir schon sterben. “ (…sollen wir hin?“)

Regie: Beim Stichwort sterben abblenden, unterlegen

Erzähler:Von einem Umzug an die Wolga redet hier niemand.                 Deutschland lockt. Aber noch ist die Barriere hoch:

O-Ton 9: Frauen, Forts.                                (0,25)          (… „Wir haben nichts…)

Regie: Verblenden, bei Wir haben nichts
hochziehen, stehen lassen

Text O-Ton:“Wir haben nichts. Wir sein doch Russen.
Hier sein Faschisten ein Leben lang gewesen und da sind wir russisches Schwein. (…Schwein.“)

Regie: Beim Stichwort Schwein abblenden, unterlegt halten (Hier ebenfalls evtl. Ton aus Schleife „Dorf 1″ einspielen)

Erzähler:“Faschisten“, „Russisches Schwein?“
Harte Worte, die eine harte Wirklichkeit beschreiben. Damit ist zunächst alles gesagt.
Inzwischen hat die Kunde, daß ein Deutscher im Dorf ist, sich weiter verbreitet. Aus einem der etwas weiter entfernten Häuser ist ein älteres Ehepaar gekommen, sie rüstig in Kittel und Kopftuch. Er zusammengesunken, mit dem Gesicht eines Magenkranken. Sie laden mich ein, sie in ihr Haus zu begleiten. „Damit Sie sehen, wie wir wohnen“, sagen sie, „und zu Hause erzählen können.“

O-Ton 10: Eintritt in ein Haus                   (0,48) (… Hunde, Hall, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen,
abblenden, unterlegen

Erzähler:  Genau zweiundvierzig Häuser hat das Dorf, erfahre                 ich unterwegs. Sie sind wie Perlen an der Straße aufgereiht. Bei jedem Nachbarn ein kleiner Schwatz, dann geht es weiter. Das Haus, zu dem sie beiden Alten mich führen, gleicht den übrigen: Achtung! Tor mit Kopfbalken. Rechts vom Hof und nach hinten hinaus Schuppen und Stallungen. Links führen ein paar Holstufen zur Haustür hinauf. Drinnen ist es kühl. Das macht die Holzbauweise, erklärt der Alte. Seine Frau entschuldigt sich für die Unordnung. Dabei ist es sauber und fast leer wie im Museum: Der Fußboden ist gebohnert; ebenso der furnierte Schrank. Die beiden einzigen Sessel tragen Schonbezüge.
Als Gast muß ich im tiefsten Sessel Platz nehmen, direkt dem Fernseher gegenüber. Aber im Unterschied zur landesüblichen Sitte wird er nicht angestellt. Der Alte sinkt in den zweiten Sessel neben mir. „Mein Lieblingsplatz“, schmunzelt er. Seine Frau holt sich einen Stuhl aus dem Vorraum und setzt sich uns gegenüber. Neben ihr steht ihre Tochter, eine junge Frau, modisch gekleidet und sorgfältig geschminkt wie alle jungen Russinnen. Ein Haufen Wäsche im Korb verrät, daß wir sie beim Bügeln überrascht haben:

O-Ton Text:    „Sehr guten `Parjadok‘ haben wir nicht. `Pomolenko‘.  Aber leben kann man. Früher haben wir noch nicht so gelebt.“

Regie: Russischen Text kurz stehen lassen,
abblenden, unterlegen

Erzähler:  „Früher war alles viel kleiner“, sagt sie. „Selbst auf dem Boden haben wir gelebt. Egal. Man mußte leben, hat gelebt. Jetzt ist es ein bißchen besser.“ (..lutsche)

Regie: Nach dem Stichwort „lutsche“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Die Tochter ist anderer Ansicht. Sie sagt es auf                 Russisch. Sie verstehe noch deutsch, radebrecht sie, könne es aber nicht mehr sprechen. Und außerdem, lacht sie, habe sie einen russischen Mann:

O-Ton11: Junge Frau im Haus, Tochter(030)          („Djela w tom schto…“)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Die Sache ist so: Früher hat man sich für seine                 Nationalität geschämt, dafür geschämt, daß man deutsch ist. Deutsch zu sein, das war peinlich, eine Schande. Jetzt ist es umgekehrt, jetzt spricht man mit Stolz davon, daß man Deutsche ist. Das hat sich erst in den letzten zehn Jahren entwickelt. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt. (…progress.“)

O-Ton 12: deutsche Hausfrau                            (024)          („Da, wot, odno tolka…)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:   Nur eins sei schlecht, widerspricht die Mutter:                 daß die „deutsche Nation“ – so wird in Rußland die ethnische Gruppe genannt – sich vermutlich einfach verliere.

Regie: Bei Stichwort „die Kinder“ hochziehen, stehen lasssen

O-Ton-Text:    „Die Kinder gehen in die Schule, lernen Russisch. Die verstehen nicht ein Wort. Wir verstehen ja noch ein bißchen. Aber die Kinder die jetzt wachsen, verstehen nicht zu lesen. Was sind das für Deutsche, die nicht können sprechen. (..sprechen)

Regie: Mit „sprechen“ abblenden, unterlegen

Erzähler: Das muß auch die Tochter bestätigen.

O-Ton 13: Tochter, Forts.                              (037)          („Kultura, obitschi…)

Regie: Verblenden, Ton kurz kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen, verblenden

Übersetzerin: „Ja, Kultur, Sitten, alles ist verloren gegangen.                 In der Vergangenheit war ja alles verboten. Jetzt ist es frei. Doch jetzt ist es schon sehr schwer, sich zu erinnern. Überhaupt, was heißt erinnern? Alte Leute, die selbst noch Wurzeln in der Volkskunst haben, gibt es nicht mehr. Unsere Eltern wissen vielleicht noch Einiges. Wir, meine Generation, kaum noch. Unsere Kinder wissen schon gar nichts mehr.“ (…snajet)
Erzähler:      Jetzt mischt sich auch der Alte ein. „Djadja“,                 Opa, nennt seine Tochter ihn respektvoll. Er spricht als sei er uralt,obwohl er nicht älter als ungefähr sechzig sein kann:

Ton 14: Alter im Haus                             (044)     („Liebe Tochter, …)

Regie: Verblenden, stehen lassen, nach Stichwort „fremd“ abblenden, unterlegen
O-Ton-Text:“Liebe Tochter, es ist noch anders: Wir sein hier                 nicht zuhaus – und da sein wir auch nicht zu Haus. Hier sein wir noch geboren, großgewachsen. Hier haben wir noch Bekanntschaft um uns herum. Aber komm dahin, da ist alles fremd.“ (…fremd.“)

Regie: Nach Stichwort „fremd“ abblenden,
unterlegen

Erzähler: Früher wurde Deutschland schlecht gemacht, fährt                 der Großvater fort. Heute ist es genau umgekehrt. Jetzt ist alles gut, was von da kommt. Von Faschisten spricht keiner mehr. Jedenfalls nicht mehr offen, wurft seine Frau ein.
Sie trauen der neuen Zeit nicht, die beiden Alten. Und nicht den Versprechungen der Regierung. Rückkehr an die Wolga? Alles Worte! winkt der Großvater müde ab. Nichts sei wirklich beschlossen. Und Morgen sei wieder alles ganz anders. Die Großmutter nickt heftig. Die Entrüstung steht ihr im erhitzten Gesicht. Die Tochter wirft mir einen schnellen Blick zu. Sie müssen verstehen, heißt das: die Erinnerungen!
Da bricht es auch schon aus dem Alten hervor:

O-Ton 15: Alter, Forts.                           (060)                          („Mir haben se…)

Regie: Verblenden, Ton stehen lassen
Text O-Ton:“Mir haben se sechs Brüder verschossen. Ich bin der siebente. Ich war der jüngste. Den Vater haben sie auch nicht verschossen. Den haben sie sein gelassen….“

Regie: Russischen Text nach Stichwort gelassen“                 kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen,
nicht wieder hochziehen, verblenden

Erzähler:Vom NKWD, erzählt der Alte, Stalins                 Geheimpolizei: Nachts kamen sie ins Dorf. Die Leute mußten packen, wurden aufgeladen, ab. Zwei Monate später waren sie tot.
Die Großmutter ergänzt: Ihr Vater wurde ebenfalls erschossen. Erst vor drei Jahren wurde er rehabilitiert. Sie steht auf, geht zu dem Schrank, kramt ein schon leicht vergilbtes Schreiben hervor und zeigt es mir. Weil sie sich die Augen wischen muß, bittet sie die Tochter, es mir vorzulesen:

1O-Ton 16: Tochter liest Rehabilitationsurkunde        (037)          (Sobschaem: Ttscho was otez…

Regie: Verblenden, Ton, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzung zum Lachen hochziehen

Übersetzerin: „Wir erklären: Daß ihr Vater Rosin, Alexander                 Iwanowitsch, geboren 26.Mai 1886 im früheren Kuban, vor seiner Verhaftung als stellvertretender Vorsitzender der Kolchoose „Thälmann“ arbeitete. Er wurde angeklagt der Beteiligung an einer konterrevolutionär-faschistischen, aufrührerisch-terorriristischen nationalistischen Organisation für Spionage und Diversion. “ (…Lachen)

Regie: nach dem lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Solche Briefe haben sie jetzt zu Millionen                 verschickt, sagt die Mutter. Ihr Lachen verbindet die alte Angst mit der neuen:

O-Ton 17: Mutter und Vater                             (050)          („Das ist nicht vorbei…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Das ist nicht vorbei. Vorbei ist es nur für die, die es nicht erlebt haben.   ‚Konjeschna‘, die Leute haben Angst. Die glauben nicht.
Das ist ein und jetzt das Zweite: dubro…“

Regie:: Mit dem erneuten Einsetzen des Alten abblenden, unterlegen, unterlegen

Erzähler:Die Menschen haben Angst, daß die heutigen                 Reformen nicht von langer Dauer sein werden. Zu tief sitzen die Erinnerungen daran, wie frühere Reformen zurückgenommen wurden. So die Parole „bereichert Euch“ während der „sogenannten „Neuen ökonomischen Politik“, mit der Lenin die Folgen des Kriegskommunismus überwinden wollte. Sie endete in neuerlicher Enteignung und der stalinschen Kollektivierung.   Und nicht vergessen ist, daß es vielfach gerade die deutschstämmigen Russen, waren, die Stalin „entkulakisieren“ ließ, wie es im Russischen heißt. Das heißt, sie wurden umngebracht. Denn weil sie härter arbeiteten und bessere Vorratswirtschaft betrieben, waren sie vielfach reicher als die anderen.
Aber die neue Zeit gefällt dem Alten ebensowenig. Die Zunahme von Mordfällen, vor allem auf dem Lande, hält er für ein schlimmes Zeichen. Heute gebe es ja mehr Morde als vor Perestroika, meint er. Dagegen erscheint ihm die alte Zeit schon wieder in rosigem Licht: Damals habe die Polizei schon wenig gearbeitet. Jetzt tue sie überhaupt nichts mehr. „Aber was sollen wir tun. Wir sind doch wehrlos“, schließt er. „Außer einer Axt haben wir nichts.“ (…njetto.“)

Regie: Nach dem Stichwort „njeto“ abblenden, unterlegen, verblenden

O-Ton 18: Abschied aus dem deutschen Dorf          (…Tür, „da,da,da“, Hunde, Auto…)

Regie: Verblenden, kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, Kreuzblende mit O-Ton 19

Erzähler: Es geht nicht vor und nicht zurück – mit diesem                 Eindruck verließ ich das Dorf. Diese Menschen haben bei einem Neuanfang an der Wolga, aber auch bei einem Umzug nach Deutschland nichts zu gewinnen. Sie verlieren nur die vetraute und relativ sichere Umgebung. Noch kann die in die AG umgewandelte Sowchose ihnen Arbeit geben. Und selbst als Beschäftigunfgslose sind sie mit ihren eigenen Höfen, Gärten ind privaten Feldern hier immer noch Könige. Dort wären sie abhängig von staatlicher Hilfe. Aber was wird geschehen, wenn die Krise sich noch weiter vertieft? Die Antwort darauf suchte ich ein Jahr später in einem anderen Dorf:

O-Ton 19: Wiederholung von Ton 3 (Musik)              (042) (Ich nehme an O-Ton 19 wird dann entsprechend der Streichung von O-Ton 1,2 und 3 ebenfalls gestrichen werden müssen?

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 18, sehr kurz stehen lassen, sodaß eben der Wiedererkennungseffekt eintritt, dann Kreuzblende mit O-Ton 20

O-Ton 20: Deutsches Dorf 1994                          (044)          (…Fahrgeräusch, Türenklappen, Stimmen Lachen…)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler: „Mor-Sowchos“ im Bezirk Kurageno nahe der                 mongolischen Grenze. Hier wohnen Russen und Deutsche gemeinsam. Diese Deutschen sind nicht freiwillig hergekommen. Sie wurden 1941 aus dem Wolgaraum deportiert. In „Mor-Sowchos“ haben eine kleine deutsche Siedlung gebildet. Die Bauweise ihrer Höfe entspricht dem der Umgebung: Hier sind es keine Blockhütten, hier bilden holzverschalte Wohnhäuser, daneben ebensolche Schuppen und Ställe je einen Hof. Aber auch hier fallen die Häuser der Deutschstämmigen sofort ins Auge: planierte Straße, Vorgärtchen, Zaun, Bank, der schattenspenderende Baum: die Spitzen der Zäune, die Tür- und Fensterahmen sind geweißt oder in anderen Farben abegsetzt. Kein Schuppen steht schief. Die Lattendächer, die Holzverschalung sind sorgfältig ausgerichtet und ebenfalls sauber gestrichen. Im Hof liegen Steinplatten. Auf eigens dafür gebauten Böcken stehen Milch- und sonstige Eimer nach Größen sortiert. Wieder ist es, als betrete man eine andere Welt.

Regie: Mit dem Stichwort „Wir sind auch Deutsche“ hochziehen, mit „Lachen abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Heut ist ein besonderer Tag: Eine junge Familie                 mit zwei Kindern, dazu die Großmutter rüstet sich soeben zum Aufbruch nach Deutschland. Es ist die fünfte Familie von insgesamt elfen, die das Dorf innerhalb eines Jahres verlassen haben.
Auf der Bank des Nebenhauses haben sich die Nachbarsfrauen versammelt, so wie sie von der Arbeit in den Ställen und Gärten kommen: in Kittel und Kopftuch, mit leichten pantoffelartigen Überschuhen oder abgeschnittenen Gummistiefeln. Die Zurückbleibenden fühlen sich verlassen:

O-Ton 21: Frauen im deutschen Dorf II                  (O37)          („Mir wolle auch nüber…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:  „Wir wollen auch nüber. Aber ich weiß ja nicht, wann wir was kriegen. Die fahren alle nüber. Wollen noch mehr nach Deutschland.“

Regie: Nach dem Stichwort „Deutschland“ abblenden, unterlegen

Erzähler:Die Lage hat sich verschärft. Das spürt man                 sofort. Aber warum?

O-Ton-Text:    „Weil da alles schwerer ist. Da ist schwerer. Die daneben, die wollen jetzt fort schon. Wollen dahin, wo ist `parjadok‘.“ Noch: Lachen, Frage nach Schirinowski)

Regie: Nach der Frage: „Schirinowski?“ abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Dahin, wo Ordnung herrscht, wollen die Frauen.                 Mit Schirinowski haben sie nichts im Sinn. Sie wissen nicht einmal, wer er ist. Deutsche Ordnung soll es sein, nicht Schlamperei, wie sie die hiesigen Verhältnisse nennen. Arbeit wollen sie und in Ruhe das Erarbeitete genießen. In diesem Punkt sind fast alle sich einig.
Aber eine ältere, kräftige Frau widerspricht. Ihr fehlen fast sämlttliche Vorderen Zähne. Es stört niemanden. Es gibt ihr eher, betont durch die derbe dunkle Joppe, die sie über ihrem geblümten roten Kittel trägt, eine gewisse natürliche Strenge:

O-Ton 22: Zweite Frau im deutschen Dorf II        (029)          („Ich will net…“

Regie:  Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

O-TonText:“Ich will net nach Deutschland, ich will da bleibe in Rußland, ich bin russisch, was soll ich dort. Was soll ich in Deutschland?!“

Regie: Den folgenden russischen Satz bis Stichwort „Ruski“ kommen lassen, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, verblenden

Erzähler: „Hier sind wir Deutsche, dort Russen“, sagt die                 Frau mit der Joppe: Im Grunde spricht sie nur aus, was alle wissen: Nach zweihundert Jahren in Rußland liegen die Wurzeln der ehemaligen Einwanderer inzwischen in ihrer neuen Heimat. Daran ändert auch Umsiedlung und Deportation nichts. In Sibirien leben sie nun auch schon wieder zwei Generationen. „Historisch gewachsen“, nennt die Alte es. Das reiße man nicht von heut auf morgen heraus. Verzweifelt beschwört sie die alte Zeit:

O-Ton23: Forts. zweite Alte, Dorf II                  (013)          („Ransche mi schili…

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende des Erzählertextes langsam hochziehen

Erzähler:“Früher lebten wir hier gut“, sagt sie. Erst seit                 drei Jahren sei es so wie jetzt. Und warum solle es nicht vielleicht in fünf Jahren wieder gut sein? Aber dann verläßt sie der Mut: Was dann kommen werde, das könne natürlich auch niemand sagen. Gott allein wisse, was morgen werde.“ (..budit.“)
Regie: Nach dem Stichwort „budit“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler:Schließlich kann sie die Tränen nicht mehr                 halten:

Ton24: zweite Alte, Forts.                            (020)          („Die da wolle morge…)

Regie: Verblenden, stehen lassen (auch das Russische) bis nach dem Weinen

O-Ton-Text:    „Die da wolle morge fortfahre…
Regie: Nach dem nochmaligen Schluchzen abblenden, unterlegen, nach Erzähler mit „a mir sind lauter swoi“ wieder hochziehen

Erzähler:  „Alle bedauern es“, sagt die Frau, „Deutsche                 genauso wie Russen.“ Fremde kaufen jetzt das Haus, klagt sie. Aber man gehöre hier doch zusammen! Trotz aller Unterschiede, Russen, Deutsche, Katholische und Orthodoxe.
Dann zitiert sie, was sie ein deutsches Sprichwort nennt:
O-Ton 25: zweite Alte, Deutsches Dorf II              (013)                          („Ein Gott hat…“)

Regie: Verblenden, bei „Ein Gott“ hochziehen stehen lassen

O-Ton Text:    „Ein Gott hat man nur. Gelt? Glauben kann man wie man will und Gott ist nur ein.“ (…ein.“)

O-Ton26: Geäusche auf dem Bauernhof             (045)     (…Türenklappen, Hofgeräusch, Morrrad,     Gänse…

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler: Ein paar Schritte haben mich in den Hof nebenan                 gebracht. Hier wird gepackt. Die Gänse schnattern wie immer. Aber die Stimmung ist gedrückt. Immerhin läßt die Familie Haus, Hof und Freunde zurück. Nur Handgepäck kann sie auf ihrem Weg ins hannoveraner Auffanglager mitnehmen. Ich treffe nur den jungen Familienvater an. Die Frau ist zur Zeit außer Haus. Die Kinder spielen draußen vor dem Hof. Er mag fünfunddreißig sein. Wir müssen Russisch sprechen. Deutsch verstehe er nicht, lacht er verlegen.
Das Herz bleibe wohl noch hier, antwortet er gefaßt, als ich ihn frage, wie er sich fühle.   Warum er dann gehe?

O-Ton 27: Ausreisender                                 (065)     (…Lachen, „Potschemu…?“

Regie. Verblenden, mit Lachen hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, dem Übersetzer und Erzähler unterlegen. Nach der zweiten Übersetzung hochziehen

Übersetzer: „Warum? Hier hat so ein verrücktes Leben                 angefangen, ohne irgendwelche Konturen. Du weißt nicht, was morgen sein wird, übermorgen. Davor wäre es normal gewesen, nicht zu gehen, nirgendwohin zu gehen. Aber die, die schon gegangen sind, schreiben, daß Du dort besser lebst als hier.“

Erzähler:  Er ist der letzte mit seiner Familie. Zwei brüder                 sind schon vor ihm gegangen. Die Ausssicht, eine Zeitlang als in einem Übergangslager verbringen zu müssen, schreckt ihn nicht.
Übersetzer:    „Das ist uns schon klar. Aber es heißt, daß das                 nach fünf Jahren überstanden ist. Einmal angefangen, muß man es auch zuendebringen.“
(… na eto.“)

Regie: Mit Stichwort „na eto“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:Seine Mutter, eine schüttere Greisin, steht                 derweil ganz verloren mitten auf dem Hof. Wie zum Schutz hat sie sich das Kopftuch fast ganz ins Gesicht gezogen. Sie versteht nicht, was mit ihr, der Alten, der `Starije‘, geschieht:

O-Ton 28: Mutter des Ausssiedlers                      (065)          (Warum?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

O-Ton-Text:    „Warum? Ach, wer weiß denn, warum. Das sind drei Bube und die wollen fort. Die `Starije‘, ich bin denen nicht nuschna. Ich bin do nicht `nuschna‘, und bin auch dort `nawerna‘ nicht `nuschna‘.“

Regie: Nach Stichwort „nuschna“ abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler wieder aufblenden

Erzähler: Alt, niemand nütze sei sie, klagt das Mütterchen.                 Krank sei sie. Wenn sie doch bloß sterben könne:

Regie: Mit „fahren alle fort“ wieder aufblenden, stehenlassen

O-Ton-Taxt:    „Aber sie fahren ja alle fort. was kann man machen. Allein will man doch auch net bleibe, gell? Wann’s kan’s einem mitnehmt, da muß man dableibe. Wies kommt, so müssen wer’s mitnehme. Ist doch wahr. (andere Frau) Ja, so isses.“
(…ja, so isses.“)

Regie: Mit Stichwort „ja so isses“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton29: Kinder                                       (066)
(…Schmatzen, Kinderstimmen…)
Regie: Verblenden, kommen lassen, nach Erzähler
hochziehen

Erzähler: Vor dem Haus finde ich die Kinder, die hier ein                 letztes Mal mit ihren Freunden spielen. Für sie ist völlig klar, worum es geht:
Regie: mit Stichwort „potamu schto“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:      „Hier verdient man zu wenig“, sagt auch der                 Kleinste. Er mag gerade fünf sein, aber in seinem kurzärmeligen weißen Hemd und seiner blauen Leinenhose sieht er beinah erwachsen aus.
„Hier kann man nicht leben. Dort ist es besser. Da gibt es alles, zu essen und überhaupt.“
Was sie von Deutschland erwarten?
Regie: Mit dem Stichwort „Nu kak?“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, mit Stichwort „ja rad“ wieder hochziehen

Erzähler::     „Daß es besser wird“, hofft der Kleine.
Besuch aus Deutschland sei im Dorf gewesen. Äpfel, Wurst und Konfekt hätten die mitgebracht. „Und alles und alles.“ Er sei froh, daß es jetzt dorthin gehe, versichert er treuherzig.
(..ja rad!)

O-Ton-30: In der Küche                                (060)    (…Stühlerücken, Gabeln, Geschirr, Stimmen…)

Regie Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen
Erzähler:  Die Einladung der Frauen zu einem Häppchen können                 wir schließlich nicht ablehnen. Die Küche ist kühl trotz der Hitze, die der sibirische Sommer wieder hervorbringt. Auch hier blitzt es vor Sauberkeit. Aus dem Häppchen wird schnell ein Mahl. Die ganze Siedlung scheint beteiligt. Der Tisch kann den Reichtum kaum tragen: selbstgemachte Butter, Milch, Käse, mehrere Sorten von Sahne. Stolz zeigt eine der Frauen die Buttermaschine. Eigener Honig, selbstgebackenes Brot, Wurst aus eigener Schlachterei. Tomaten, Zwiebeln, Früchte aus eigenen Gärten. „Wir haben alles“, erklären die Frauen stolz. „Alles selbstgemacht“.
Der „Schnaps“, mit dem wir schließlich anstoßen, ist kein Wodka, sondern ein würziger Selbstgebrannter. Zum Abschied packen sie meinen russischen Begleitern und mir drei dicke Pakete mit selbstgeräuchertem Speck.

O-Ton 31: Abfahrt                                      (025)     (…Doswidannije, Aufwiedersehn, Schlüssel, Anfahrt, Seufzer…

Regie: Verblenden, stehen lassen, bis Satz mit Stichwort „Vitamine“ gesprochen ist, dann abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Erzähler: Meine russischen Begleiter, mit denen ich ins                 Dorf gekommen bin, können es nicht fassen:
„Die Vitamine fehlen! Sie haben alles! Aber für Vitamine wollen sie gehen!“
Sergei, Chefarzt des benachbartenn Bezirkszentrums kann sich gar nicht wieder beruhigen. Ebenso Pawel mein Begleiter aus Nowosibirsk. Ihnen erscheint die deutsche Siedlung in „Mor-Sowchos“ im Vergleich zu dem, wie die anderen hier leben, wie eine Idylle. Man muß verrückt sein, soetwas für ein ungewisses Ziel in der Fremde aufzugeben, finden sie.

O-Ton-32: Musik im Foyer                   (090, reichlich)               (…Musik)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, nach Beginn der Antwort der Frau abblenden, unterlegen

Erzähler:      Foyer eines der großen Kulturpaläste in                 Nowosibirsk. Hier findet eine Versammlung der örtlichen Sektion „deutschen Gesellschaft für Wiedergeburt“ statt. Mit ca. 60.000 Deutschen beherbergt das Gebiet Nowosibirsk nur gut ein Zehntel der in Sibirien verstreuten Deutschen. Aber als größte Stadt Sibiriens ist es dennoch das Zentrum der Gesellschaft „Wiedergeburt“.
Heute abend werden Abgeordnete aus der Bundesrepublik erwartet. Es ist das erste Treffen dieser Art. Der Saal ist bereits voll. Aus der Stadt, aber auch aus weiter entfernten Dörfern sind die Menschen angereist. Man wartet auf die Gäste aus Deutschland. Im Foyer wird derweil noch getanzt. Die Erwartungen sind unterschiedlich. Eine der Frauen, noch ganz außer Atem, ist fröhlich und voller Schwung:

Regie: Antwort der Frau kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen
Achtung! Hier habe ich möglicherweise zwischen Ende der Musik und Antwort der Frau einen Schnitt vergessen: Bitte ausblenden bis zur Abtwort, verblenden

Übersetzerin:^ „Nun, wir wollen von ihnen hören, was Sie zu                 sagen haben. Und sie sollten uns zuhören. Wir wollen, daß wir mit Ihnen zusammensein können, daß sie auch später öfter unsere Gäste sind.“

Regie: Nach dem Zitat abblenden

Erzähler:Andere sind nicht so zuversichtlich. Vor allem                 die in den letzten beiden Jahren voranschreitende Spaltung der Deutschen Gemeinde in unterschiedliche Lager macht ihnen zu schaffen:

O-Ton 34:Im Foyer, Forts.                             (020)                          („Schwer zu sagen…
Regie: Verblenden, Ton stehen lassen

O-Ton-Text: „Schwer zu sagen, aber ich glaube, da gibt’s so                 ein bißchen Politik, also wieder Auseinandersetzungen zwischen Deutschen hier im Land und im Gebiet Nowosibirskt. Aber wir sind alle Kinder einer Mutter. Das ist die Muttersprache des deutschen. Und die Mutter hat alle gleich lieb. Das tun, was gut ist für die Deutschen. Und nicht schimpfen.“ (…schimpfen“)

Regie: Nach Stichwort schimpfen abblenden,
unterlegen

Erzähler:Erst auf Nachfrage erläutert die Frau die                 Differenzen, um die es geht:

Ton 34: Forts. Halle                                  (020)
(„Die Unterschiede?…)

Regie: Verblenden, stehen lassen

Übersetzerin:  „Die Unterschiede? Na jetzt – weiß ich nicht einfach. Früher war es so: Entweder die Wolga oder in den Westen. Und die anderen waren: Wir bleiben hier uns versuchen etwas für die Deutschen zu machen. Aber wenigstens um fünzehn Jashre hätte es früher passieren sollen. Zu viele sind schon drüben oder sind unterwegs.“
(…unterwegs.“)
Regie: Mit Stichwort „unterwegs“ abblenden, unterlegt halten

O-Ton 35: Veranstaltungseröffnung                      (089)                     (…Beifall, Stimme, Beifall…)
Regie: Verblenden,  stehen lassen, mit dem Beifall nach der Ansage abblenden, unterlegt halten

Erzähler:      Mit großem Beifall werden die deutschen                 Abgeordneten begrüßt. Der Leiter der deutschen Delegation, alle Mitglieder der CDU, wie er betont, hat als erster das Wort:

Regie: Mit Beifall“ hochziehen, Ton stehen lassen

Erzähler:      „Liebe Freunde von der Wiedergeburt, liebe Mitglieder des zwischenstaatlichen Rates. – Wird mich jemand übersetzen? Muß man übersetzen? Zurufe: Nein! – Gut. Umso besser, dann verstehen wir uns auch so. In unserer deutschen Muttersprache.“ (..Muttersprache“)

Regie: Mit Stichwort „Muttersprache“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler;Deutschland sei bereit, den Rußlanddeutschen zu                 helfen, versichert er:

O-Ton 36: Abgeordneter. Forts.                         (089)
(„Zweierlei…)

Regie: Verblenden, mit Stichwort

O-Ton Text:“Und das wird zweierlei bedeuten: Erstens möchte ich Ihnen sagen: Das Tor nach Deutschland bleibt weiter offen, für alle, die es benutzen möchten, die nach Deutschland wollen. Das Zweite ist: Diejenigen, die nicht nach Deutschland wollen, die sollen Hilfe erhalten hier in Sibirien, wenn sie das wünschen. Und ich kann ihnen versprechen, daß beides bleibt, und daß die Entscheidung bei ihnen liegt.“

Erzähler:  Der Redner beschwört die „positive Rolle“, die                 die Deutschen für die Entwicklung von Kultur und Zivilisation Rußlands gespielt hätten, als sie von zweihundert Jahren von Peter I. und Katharina II. als Kolonisten, als Handwerker und Bauern, ins Land gerufen wurden. Er beklagt die schweren Zeiten, die danach gekommen seien, besonders unter Stalin und Hitler. Kein anderer Teil, der Deutschen, versichert er den Menschen im Saal,  habe so sehr unter den Folgen von Krieg und Vertreibung gelitten wie die Rußlanddeutschen. Damit aber sei es nun vorbei:

Regie: Mit Stichwort allmählich „denn wir alle hoffen doch“ langsam aufblenden, stehenlassen bis Ende, verblenden

O-Ton-Textt:“Denn wir alle hoffen doch, daß nach schweren Jahren, die noch bevorstehen, doch Schritt für Schritt Demokratie und Freiheit siegen werden. Und dann sind natürlich die Rußlanddeutschen, liebe Freunde, eine großartige, eine ideale Brücke zwischen den Deutschen und den Russen.“ (Beifall…)

O-Ton37: Musik: „Heimat“

Regie: Kreuzblende, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler abblenden

Erzähler:      Die deutschen Abgeordneten versprechen, sich zu                 Hause für die Belange der Rußlanddeutschen einzusetzen. Ein Trachtenchor beendet anschließend den Abend. Mit deutschen Volksweisen des vorigen Jahrhunderts beschwört er die Heimat. Bereitwillig schunkeln die Versammelten nach Melodien von „Heimat“, „Lustig ist das Zigeunerleben“, „Ein Heller und Batzen“, „Sag danke schön mit roten Rosen“ noch gut eine Stunde. Für sie ist es ein Fest, das sie nicht alle Tage erleben. Für Dr. Weinhardt, den Vorsitzenden der „deutschen Widergeburt“, der die Veranstaltung leitet, sind all diese Versprechungen und Hoffnungen nicht mehr realistisch. „Zu viele Worte“, gibt er den Abgeordneten mit auf den Weg, „aber es fehlen die Taten.“
Am nächsten Tag suche ich ihn noch einmal in seinem Bürro auf. Dort erklärt er:

O-Ton 38: Dr. Weinhard, Forts.
(„Die ersten Jahre…)

Regie: Ton kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:    Die ersten Jahre der Perestroika machten uns Hoffnungen auf die Widerherstellung der Republik und der Mnschenrechte, obwohl die Deutschen in den vorherigen Jahren vielleicht ein halbes Jahrhundert unter dem Druck waren und das Vertrauen zu unsren Behörden völlig verloren hatten. Jetzt haben sie es noch mehr verloren. Wir stehen sogar im Minus. Wir sehen, daß die Regierung nur um ein Einziges bestrebt ist: Rußland in den heutigen Grenzen zu erhalten. Und sie wollen aber nicht verstehen, daß alle Völker ihre Rechte und Möglichkeiten haben sollten, ihre Kultur und ihre Muttersprache zu erhalten.“
(…erhalten.“)

Regie: Mit dem Stichwort „erhalten“ abblenden,
unterlegt halten

Erzähler: Die Hoffnung der Rußlanddeutschen auf eine                 Wiederherstellung einer autonomen Republik an der Wolga sind erloschen. Aber auch der deutschen Regierung vertraut Herr Dr. Weingardt nicht mehr. Vom „offenen Tor“ werde bereits seit Jahren gesprochen. Tasächlich würden denjenigen, die nach Deutschland wollten, immer neue bürokratische Schwierigkeiten gemacht. Beispielsweise müßten sie Geburtsnachweise ihrer Eltern und Voreltern beibringen. Viele aber hätten diese Dokumente bei der Deportation doch verloren!
Die Vorstellung der deutschen Abgeordneten von den Rußlanddeutschen als „Brücke“ veranlaßt Dr. Weingardt schließlich nur noch zu einem milden Scherz:

O-Ton 39: Dr. Weinhardt, Ende

Regie: Kommen lassen, stehen lassen

O-Ton-Text:“Das kann man als Spaß einschätzen, als Witz vielleicht. Man darf keine Brücke, auf den Knochen eines repressierten Volkes aufbauen. da muß masn zuerst die Rußlanddeutschen fragen, ob sie noch viel Kräfte haben, das auszuhalten. Und diese Frage stellt keiner. Es gibt schon ehrliche Menschen, die das verstehen, aber noch ziemlich wenig.“

Erzähler:  Das Problem steht auf der Tagesordnung. Der Krieg                 gegen die Tschtschenen, ein deportiertes Volk wie die deutsche Minderheit, hat es noch einmal verschärft. Wo ist die Lösung?
*

Soeben erschien von mir:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.
Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92

Landreform in Rußland – gescheitert oder modifiziert?

Vorspann:In Rußland läuft nicht mehr alles so, wie die  Befürworter einer schnellen Reform und ihre westlichen Berater sich das 1991 gedacht haben. Das gilt vor allem für die Landreform.  Neuester Ausdruck ist ein „Ukas 96“ des Ministerpräsidenten Tschernomyrdin vom März dieses Jahres. Formal handelt es sich bei dieser neuen Verordnung nur um ein Durchführungsgesetz zur Privatisierung auf dem Lande. Faktisch allerdings schreibt die Verordnung fest, daß Mitglieder der in Aktiengesellschaften umgewandelten Kollektivbetriebe nur dann von ihrem Recht auf private Nutzung ihres „Pais“, das heißt ihres Anteils am gemeinschaftlichen Vermögen und Land, Gebrauch machen dürfen, wenn sämtliche übrigen Aktionäre dazu ihre Zustimmung geben. Sind damit die Reformen gestoppt? Kai Ehlers versucht dieser Frage nachzugehen.

O-Ton 1: Akkordeon auf dem Roten Platz

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:Oktober 1992. Tag der Revolution. Die Opposition  sammelt sich zum Marsch auf den Roten Platz. Die Auseinandersetzung um die „Schocktherapie“ der Regierung Jegor Gaidars hat den ersten Höhepunkt erreicht. Man agitiert gegen wilde Privatisierung, gegen die Preisfreigabe, gegen den Zerfall der Union und gegen Jelzins westliche Ratgeber. Im Mittelpunkt steht die nach wie vor ungelöste Bodenfrage:

O-Ton 2: Agitator auf dem Roten Platz    (… „pri sowjetski wlast)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach dem Stichwort „Präsidjent“ noch kurz stehen lassen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:  „Ein Präsident, der Land kaufbar macht, verletzt die Verfassung. Kauf und Verkauf von Land ist ein Verbrechen.“

Erzähler:Gegner und Befürworter der Privatisierung von  Grund und Boden stehen sich in diesem Sommer `92 hart gegenüber: Im Regierungsprogramm wird erklärt, daß die erste Etappe der Privatisierung bis Anfang 1993 abgeschlossen sein soll. Diverse Dekrete Präsident Jelzins zur Bodenreform sorgen für entsprechenden Druck, nachdem frühere Erlasse aus der Zeit Gorbatschows steckengeblieben sind. Die Kollektiv-Betriebe sollen entstaatlicht und in Aktiengesellschaften umgewandelt werden. Jeder Anteilseigner soll berechtigt sein, sich seine Anteile direkt aushändigen oder in entsprechendem Geldwert auszahlen zu lassen. Grundstücke für private Nebenwirtschaften, Kleingärten und Wohnungsbau auf dem Lande sollen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Bis zum Ende des Jahres erwartet die Regierung die Gründung von rund 400 000 privaten Höfen. Mit 16 Millionen Hektar sollen sie rund 7% der insgesamt 220 Millionen landwirtschaftlicher Nutzfläche bewirtschaften und so die Landwirtschaft modernisieren. Der Anteil der privaten Nebenwirtschaften sprang schon von 1991 auf 1992 mit 40 Prozent geradezu explosionsartig in die Höhe.
Gemeinschaftsaufgaben wie Schaffung von Wohnraum, wie Straßenbau, wie das Energie-, Wasser und Gasversorgungssystem sowie das Fenrsprechnetz, für deren Pflege früher die Sowchosen und Kolchosen zuständig waren, sollen an die „neue Macht“übergeben werden, also an die dem Präsidenten direkt unterstehenden Administratoren der Dörfer, Bezirke und Verwaltungseinheiten .
Eine grundsätzliche Entscheidung zur Frage des Privateigentums an Land, also eine Veränderung der Verfassung, steht noch aus. Den schnell erlassenen Dekreten fehlen ausgearbeitete Durchführungsgesetze. Trotzdem geht die Mehrzahl der kollektiven Betriebe im Laufe des Jahres 1992 daran, sich als Aktiengesellschaft umregistrieren zu lassen, allerdings ohne recht zu verstehen und ohne innere Beteiligung. Typisch für diese Haltung ist Fjodor Soloteika. Er ist Vorsitzender der Agrarverwaltung von Bolotnoje. Das ist ein sibirischer Landkreis nördlich von Nowosibirsk. Damit ist er verantwortlich für die Privatisierung von mehr als 150 Betrieben:

O-Ton 3:  Fjodor Soloteika in Bolotnoje    (… Ja tschitaju)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute  besser vorzubereiten. Offen gesagt, wir haben jetzt zwar schon zwei AGs eingerichtet, aber viel haben wir da nicht erreicht. Die Leute verstehen das nicht richtig. Ihre Beziehung zur Arbeit ist wie früher. Der Arbeiter sieht nicht, daß das jetzt sein Anteil ist. Er sieht nicht, daß er jetzt Herr ist auf dem Land. Meiner Meinung nach geht das alles zu schnell. Aber was soll man sagen? Anordnung ist Anordnung, die muß man befolgen.“

Erzähler:Was Soloteika vermißt, sind Einzelanweisungen,  die nicht nur postulieren, daß das Gemeinschaftsvermögen aufgeteilt wird, sondern auch wie! Wie sollen die Maschinen aufgeteilt werden? Wie sollen Korn, Milch, Fleisch weiterverarbeitet werden, wenn die bisherige kollektive Organisation aufgelöst wird? Fjodor Soloteika zuckt mit den Schultern. Im Konkreten läuft alles wie früher, heißt das, nur schlechter.

„Morskoje“ ist ein weiteres Beispiel. Es ist eine stadtnahe Sowchose am Rande von Nowosibirsk. Über der Eingangstür ihres Verwaltungsgebäudes prangt nach wie vor in dicken roten Lettern, wenn auch ein wenig verschlissen die Parole: „Das Leben – ein ökonomisches Experiment!“. Unter diesem Motto hat man auch die Privatisierung begonnen:

O-Ton 4: In der Sowchose Morskoje   (Experiment, Experiment …)

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:“Ein Experiment, sonst nichts. Jede neue  Form der Bewirtschaftung ist für uns ein Experiment. Das schließt das Erproben neuer Gesellschaftsformen mit ein, egal welche. Jetzt probieren wir es eben so. Wir haben hier 19 Höfe. Damit liegen wir an der Spitze.“

Erzähler: Als der junge Direktor erzählt, wer die Höfe  gegründet hat, wird ein weiteres Problem sichtbar, das der sozialen Differenzierung nämlich: Der frühere Direktor ging allen anderen voran. Er privatisierte als Erster. Es folgten fünf leitende Angestellte, unter ihnen der Hauptbuchhalter. Die restlichen Höfe werden von qualifizierten Facharbeiter geführt. Dazu kommen noch drei oder vier Städter mit Geld. Von ihnen weiß man nicht, was sie mit dem Boden machen wollen. Bisher liegt er brach. Die Rest-Sowchose, nach wie vor für die Versorgung von gut 1500 Menschen verantwortlich, mußte sich mit Leuten aus der zweiten Reihe regenerieren. Der jetzige Direktor ist schon der dritte innerhalb eines halben Jahres.
Der Herbst werde zeigen, meint er, ob das neue Experiment etwas bringe. Und wenn nicht? Dann werde man es beenden, antwortet er ruhig.

O-Ton 5: Privatbauer     (…Hunde, „prochaditje“

Regie: Langsam kommen lassen, lurz stehen lassen, abblenden

Erzähler;  Die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt  haben. Der Traktor vor der Tür und der Hund im Hof weisen den Weg zum Privatbauern. Im übrigen unterscheidet sich das Gehöft nicht von den umstehenden Blockbauten. Bauer Gorbatski ist stolz auf seine Leistung. Auf die Frage, ob er sich als Bauer fühle, wehrt er jedoch ab:

O-Ton 6: Privatbauer, Forts.     (…Da, Fermer, Lachen)
Regie: Bis zum Lachen stehen lassen, dann abblenden
Übersetzer:    „Naja, Bauer! Bis zum Bauern ist noch weit. Bauer bist Du dann, wenn alles irgendwie zusammenläuft. Jetzt quälen wir uns erst einmal ab.“
Erzähler: Er klagt über Probleme mit dem Saattrockner. An  den kommt er erst heran, wenn das Sowchos-Getreide schon durch ist. So droht ihm sein Korn zu verfaulen. Ähnliche Probleme gibt es mit der Verarbeitung der Rüben, dem Transport seiner Milch. Für alles muß er die Sowchosleitung fragen. Sie behindert ihn nicht, unterstützt ihn aber auch nicht. So sind er und die anderen Privaten immer die Letzten. Für den Erwerb seines kleinen Traktor mußte er bis nach Moskau reisen. Die versprochenen Kredite bleiben aus oder sind nur mit großem Aufwand zu beantragen. Die Nachbarn sind mißtrauisch. Hilfe gibt es nur noch gegen „Butilkis“, Fläschchen, also gegen Wodka oder andere Naturalien. Geld will keiner mehr haben.
Seine Frau versucht den schroffen Eindruck etwas zu mildern:
O-Ton 7: Bäuerin                  (…Kagda lutsche, interesneje stal….)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:“Aber irgendwie wurde das Leben natürlich  trotzdem interessanter. Im moralischen vor allem: Niemand steht über dir, du entscheidest selbst, was morgen ist. Du weißt, was du von deiner Arbeit hast, Du arbeitest für Deinen eigenen Gewinn. Das ist doch schon eine ziemliche Freiheit. Wir hoffen natürlich, daß auch das andere besser wird.“

Erzähler:In der Gemüsebrigade draußen auf dem Feld  herrscht eine andere Stimmung: Die Auflösung der Sowchose habe nur Nachteile gebracht, hört man hier: sinkende Löhne, schlechtere Versorgung, Zerfall der sozialen Einrichtungen.
Ob die Privatisierung für sie interessant sei?

O-Ton 8: Gemüsebrigade  (… Njet, nje interesno)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:      „Nein, nicht interessant“, sagt die Frau. „Wer hat, der kriegt“, grummelt der Mann. „Typ unseres Direktors“, erklärt die Frau weiter. Aber sie, was habe sie schon? Nichts! Die paar Rubel, die sie bekomme, reichten doch nicht, sich so einen Hof zu leisten. Ja, wenn sie Geld hätte, wäre das interessant! Aber so? Mit dem Geld, das sie bekomme, könne sie ja nicht einnmal in die Stadt fahren.

Erzähler:      Was sagen die Mähdrescherfahrer? Immerhin gehören sie zu den besserbezahlten Spezialisten:

O-Ton 9: Mähdrescherfahrer    (…Haha, …)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „Ach, alles Quatsch! Gaukelei! Wie lange haben sie uns den Sozialismus versprochen! Kommunismus sogar! Und jetzt sollen wir Privateigentümer werden. Sofort!  Aber nichts ist passsiert, nie! Nur Betrug am Volk, immer wieder. Das ist es.“

Erzähler:   Ja, wenn die Regierung helfen würde. Ja, wenn es klare Gesetze gäbe. Wenn man sicher sein könne, daß nicht morgen wieder alles umgedreht werde. Aber man sehe doch, wie die Privaten sich abschinden müßten.

O-Ton 10: Mähdrescher zwei      (…eto )

Regie:Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:    „Das ist wieder so ein Experiment mit dem Volk. Es dreht sich alles im Kreis. Betrüger. Chruschtschow, Andropow, Gorbatschow und jetzt wieder. Wie es bei uns heißt: „Der Fisch stinkt vom Kopf.“

Erzähler: An anderen Orten ist es nicht anders: Die  Mehrheit der auf dem Land Beschäftigten kann mit der von oben verordneten Privatisierung nichts verbinden. Sie fürchten um den sozialen Schutz, die das Kollektiv ihnen gibt. Aber selbst unter den Parteigängern Jelzins überwiegen die kritischen Stimmen.
So Adminstrator Scherer, Bürgermeister von Lebjaschewo. Wie alle in diesem Früherbst trifft man ihn in seinem privaten Kartoffelfeld an. Als Vertreter der „neuen Macht“ ist er im Dorf für die Durchführung der Privatisierung verantwortlich. Er weiß also, wovon er spricht:

O-Ton 11:    Admionistrator Scherer     (… setschas katastrophitschnaja)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:“Wir haben eine katastrophale Situation. Die  Sowchosen zerfallen, die Privaten bringen nichts. Die Infrastruktur zerfällt. Die Wege verrotten. Niemand will mehr arbeiten, alle wollen irgendetwas erhalten. So kann man keine Reform machen: Verordnen, aber dann die Mittel nicht geben! Dekrete erlassen, ohne zu sagen, wie sie umgesetzt werden sollen. – Aber so war es immer in Rußland. Es wird abgerissen, bevor aufgebaut wird. Und jetzt steht wieder die typische russische Frage: Was tun? Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es das Ende der Reform sein. Niedergang. Hunger.“

Erzähler In der Weiterverarbeitung ist es nicht besser.  Besonders deutlich wird das in entlegeneren Gebieten. Edmund Voll, ein Deutsch-Russe, ist Direktor des „Butter-Käse-Kombinats“ in Gorno-Altai. Die Republik liegt an der Südflanke Sibiriens im Dreieck zwischen Kasachstan, Mongolei und Sibirien. Der von Edmund Voll geleitete Betrieb hat das Monopol für Milchverarbeitung in einem Einzugsbereich, der halb so groß ist wie Deutschland. Gorno-Altai ist zudem noch durch Gebirge in schwer zugängliche Täler zerklüftet. Auf die Frage, wie es bei ihnen mit der Privatisierung stehe, antwortet er:

O-Ton 12:Edmund Voll    (…Chotsche jest)

Regie: Stehen lassen bis zu seiner eigenen deutschen Übersetzeung. Danach abblenden

Originaltext „Wollen schon, aber können nicht.“

Erzähler: Das Problem liegt in der Monopolstruktur. Sie hat dazu geführt, das es in den Dörfern praktisch keine Möglichkeiten der Weiterverarbeitung gibt. Es existieren nicht einmal ausreichende Kühlmöglichkeiten. Soweit es die Milchwirtschaft betrifft, wurde die gesamte Infrastruktur des Gebietes, einschließlich der Transportwege und -Mittel, früher vom Kombinat unterhalten. Eine Privatisierung würde praktisch bedeuten, daß die Milch entweder in den Dörfern bleibt und dort verkommt oder über Zwischenhändler abgeschlagen werden muß. Die aber drücken die Preise den Bauern gegenüber, dem Kombinat gegenüber treiben sie sie hoch. Die fertigen Produkte, früher zu festen Kontingenten nach Moskau oder in andere Zentren abgesetzt, müssen dann noch einmal durch die Mühle des Zwischenhandels. Dazu kommen die steigenden Transportkosten. Dies alles läßt die Endprodukte so teuer werden, daß sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Importbutter ist billiger.
Einen Ausweg sieht Edmund Voll nur in der Schaffung kleiner Einheiten der Weiterverarbeitung: Molkereien, Käsereien nach deutschem oder schweizer Muster. Nötig ist seiner Ansicht nach auch die Entwicklung eines eigenen Binnenmarktes in der region und die Aufnahme eines eigenen Handels mit den Nachbarn. Aber wie? Für das eine fehle das Geld, für das andere die politische Mögichkeiten. Nach wie vor laufe doch alles noch über Moskau und auch im Westen habe er keine konkrete Unterstützung für seine Vorstellungen gefunden. Also werde man wohl weiter machen müssen wie bisher. Der kleine Mann hebt hilflos die Hände.
Bei Vincenti Tengerekow bekommt die Kritik allgemeinere Züge. Tengerekow ist stellvertretender Direktor des agrar-industriellen Komplexex in Gorno-Altai. Auch er ist im Prinzip für die Reform der Landwirtschaft. Auch er ist für die Steigerung ihrer Produktivität. Die aktuelle Agrarpolitik der Regierung jedoch hält er für kurzsichtig und inkompetent: Der amtierende Sonderbeauftragte für Landwirtschaft, Alexander Ruzkoi, zu dem Zeitpunkt noch Partner Boris Jelzins, entlockt ihm nur noch Sarkasmus:

O-Ton 13: Vincenti Tengerekow, Agro-Zentrum Altai      (…tosche samije)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „Jetzt wieder mit Ruzkoi. Ein General! Ein  General kümmert sich jetzt um die Landwirtschaft! Früher, bei Gorbatschow waren es Geografielehrer, die sich mit Landwirtschaft befaßten, jetzt ist es ein Militär! Der schickte einfach ein Telegramm: `Bis zum 1. Oktober sind Kolchosen und Sowchosen umzunenennen!‘ Und so spult sich das dann ab: Man bildet kleine Betriebe, AGs, private Bauernstellen.“

Erzähler:  Aber was fehle, so Vincenti, sei eine  Selbstorganisation der Betriebe von unten auf Basis einer breiten Demonopolisierung. Die bloße Auflösung der alten Strukturen könne das nicht ersetzen. Das sei blanke Anarchie, von der allein die Mafia profitiere.
Tengerekows Erwartungen in den Erfolg der Reformen sind düster:

O-Ton 14: Vincenti   (…Mi)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Wir haben schon viele Reformen überlebt. Sie  gingen allerdings immer auf Knochen der Bauern. So auch diesesmal. Auch diese Reform, die der Soldat jetzt durchführt, lastet schwer auf den Bauern: Die Bauern sind ohne Schutz. Andere können streiken – der Bauer kann das nicht. Die Industrie kriegt ihre Preise – der Bauer kriegt sie nicht. Das ergibt eine Disbalance. Man braucht aber eine Balance der Preise zwischen Industrie- und landwirtschaftlichen Produkten. Das ist nur mit Subventionen erreichbar – wie überall auf der Welt, wenn man die Bauern nicht zum Aufruhr treiben will. Stattdessen werden jetzt noch Steuern erhoben und die Zinsen für die Kredite erhöht. Das kann nicht gutgehen.“

Erzähler:In Moskau bemühte sich derweil eine Komission des  obersten Sowjet darum, die vereinzelten kritischen Stimmen zu einer Alternative gegenüber der herrschenden Agrarpolitik zusammenzuführen. Vertreter unterschiedlichster Organisationen stimmten darin überein, daß Privatisierung allein nicht eine tiefgreifende Agrarreform ersetzen könne, sondern daß Kriterien und Wege für eine effektive und zugleich gerechte Neuverteilung des Landes gefunden werden müßten. „Land nur an die, die darauf arbeiten“ hieß die Formel, auf die man sich in gemeinsamen Kommuniques einigen konnte. Völlige Ratlosigkeit aber zeigte sich an der Frage, wie diese Neuverteilung konkret organisiert, wie und von wem sie kontrolliert und wie sie schließlich gegen Mißbrauch von Spekulanten gesichert werden könne.

O-Ton 15:Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk  (…Uwaschaemi Deputati)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Ein Jahr danach. Vor dem Haus der Sowjets in  Nowosibirsk. Rechte agitieren gegen die Agrarpolitik der Regierung. Aus einzelnen kritischen Stimmen des Vorjahres ist eine Bewegung geworden, auf die die offizielle Politik eingehen muß, wenn sie den Rechten nicht das Feld überlassen will. Mit einer Sitzung zur Agrarfrage soll die politische Saison eröffnet werden. Die Befürchtungen vom Vorjahr haben sich bewahrheitet: Zwar wuchs der Anteil privater Produktion im Verhältnis zur kollektiven. Die angepeilte Marge von 400 000 Bauernwirtschaften konnte jedoch nicht erreicht werden. Und statt zu steigen wie versprochen, fiel die Agrarproduktion 1992 bei privaten und kollektiven Betrieben insgesamt um 9 Prozent.
In der Kartoffelernte lagen die Privaten mit 1 Prozent sogar ganz unten. Eine Steigerung der Kartoffelernte gab es dafür auf den Hofland- und Gartenparzellen: Deren Anteil an den Flächen für Kartoffelanbau stieg von 1990 auf 1992 um gut die Hälfte. 77 Prozent aller Anbauflächen für Kartoffeln waren 1992 Garten- und Hofland. Darauf wurden über 80% aller Kartoffeln geerntet. Das zeigt deutlicher als jede andere Zahl: Die Bevölkerung ist zur Eigenversorgung auf Subsistenzbasis übergegangen. Das ist eine Struktur, wie sie bis dahin vor allem aus Ländern der früher sogenannten dritten Welt bekannt war.

O-Ton 16:Im Foyer  (Foyergemurmel, „u nas…“)
Regie: Ton lansam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Auch drinnen hält man mit seiner Meinung nicht  zurück: „Besser leben“ antworten zwei städtische Abgeordnete auf die Frage, worum es für sie gehe. Für die Dörfler dagegen gehe es um alles. Wenn ihnen jetzt nicht geholfen werde, werde es eine Katastrophe geben: Hunger, Bauernaufstände, auch eine neue Revolution sei möglich. Zentrale Subventionen will man sehen, um die Preisschere auszugleichen. Den Spekulanten im Zwischenhandel soll das Handwerk gelegt werden. Ein eigener Zugriff auf das örtliche Budget wird gefordert, um die Kosten der Reformen vor Ort bestreiten zu können, außerdem eine einmalige Unterstützung, um die bevorstehende Ernte einzuholen.
Die Vertreter der Regierung greifen alle Forderungen auf – und wenden sie gegen Moskau. Damit ist der Agrarkonflikt, der sich bisher zwischen westorientierter Reform-Bürokratie und den konservativeren Kreisen des obersten Sowjet bewegt hatte, zum Konflikt zwischen Moskau und seinen Republiken angewachsen.
0-Ton 17: Werkhalle Sowchose „Sibir“     (…Türenkalppen, Annäherung, Hämmern, ..och,   charoschewa)

Regie: Ton langsam kommen lassen, unterlegen, beim Stichwort „oh, charoschewa“ hochziehen, bis zum Ende stehen lassen.

Erzähler: Für die Probleme in der „glubinkje“, im tiefen  Land, wie es in Rußland heißt, ist dies keine Lösung. Es verschärft die Lage eher noch. Ein neuerlicher Besuch im Bezirk Bolotnoje läßt keinen Zwiefel mehr offen. In der ehemaligen Sowchose „Sibir“ weit im Norden, jetzt auch eine „AG“, wo das Ackerland für hunderte von Kilometern in die sibirische Taiga übergeht, ist der Verfall nicht mehr zu übersehen: Schutt und Schrott, wohin das Auge schaut. Die Stimmung ist nicht mehr zu unterbieten. Auf die Frage, was sich mit der Privatisierung geändert hat und was sie mit ihrem Anteil jetzt anfangen wollen, antworten die Arbeiter in der Maschinenhalle:

Übersetzer: „Oje, nichts Gutes, wirklich! Im ganzen Land  Verfall. Die Landwirtschaft hat niemand mehr auf dem Zettel. Unter solchen Umständen kannst Du überhaupt gar nichts kaufen. Das ist alles nur eine Geste, sonst nichts.“

Erzähler:Im Kontor treffe ich fünf Frauen an, die dort,  wie sie sagen, nur noch den Mangel verwalten. Über die Versammlung im obersten Sowjet in Nowosibirsk wissen sie bescheid. Das ist ganz in ihrem Sinne:

O-Ton 18: Kontor Sibir  (…koneschna eto problem)

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Natürlich, das ist ja ein Problem aller  Kolchosen, aller Aktiengesellschaften, sogar auch der Bauern. Es ist das Problem aller auf dem Land Arbeitenden, nämlich: was wird aus dem Land?“

Erzähler:      Praktisch alle Produkte, erzählt eine Frau,  müssen inzwischen unter dem Gestehungspreis verkauft werden. Dazu kommt noch die Inflation. Unter diesen Umständen sind Brenstoffe für die Erntemaschinen, für Lastwagen, Heizung und dergl. nur noch zu bezahlen, wenn keine Löhne mehr ausgezahlt werden. Selbst dann reicht es nicht mehr. Praktisch ist das der Bankrott. Ohne Gelder von oben wird sich in diesem Jahr nichts mehr bewegen. Die Ernte droht auf den Feldern zu verfaulen. Nur die privaten Grundstücke werden noch bestellt. De facto ist die Sowchose auf Selbsterhaltung heruntergekommen:

O-Ton-19: Kontor Sibir, zwei              (..schiwiom na tsch)

Übersetzerin: „Wir leben von dem, was uns die Nebenwirtschaft ermöglicht. Wir haben eigene Milch, eigenes Brot, eigenes Fleisch. Aber generell gesagt: Wir leben nicht, wir vegetieren. Sogar unser Brot backen wir neuerdings selbst.“

Erzähler:  Hierin sehen die Frauen das schlimmste Zeichen  der Krise. Verständlich, zeigt sich im Ausbleiben der bisher immer noch subventionierten, früher fast kostenlosen Brotlieferungen aus der Stadt doch unmißverständlich, daß der Versorgungsstaat nicht mehr funktioniert. Wo man sich früher durch eine Solidargemeinschaft geschützt sah, ist nun jeder auf sich selbst angewiesen. Kein Wunder, daß die Frauen ihren Glauben an den Sinn der Reformen verloren haben. Sie wollen zurück:

O-Ton 20: Frauen im Kontor, zwei (…abratno)

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: „Zurück zu den Zeiten“, sagt eine der Frauen,  „als unsere Arbeit noch 150 Rubel wert war.“ „Zurück zum Kollektiv“, ergänzt eine andere, „denn allein wirst Du nichts.“ Die das sagt, ist nicht etwa eine konservative Matrone. Es ist die jüngste und chiqueste der ganzen Runde.

Über die Art der Veränderung bei den Privatbauern läßt Wassiljew Pitschennikow keinen Zweifel. Petschennikow. Er ist Pensionär. Nach 45 Jahren Arbeit in der Sowchose, davon mehr als der Hälfte als Brigadeführer, hat er zusammen mit seinen Söhnen einen Hof aufgemacht. Aber der Enthusiasmus der ersten Tage ist verflogen. Bitter klagt er, daß alle versprochenen Hilfen ausgeblieben seien. Die Kredite seien nicht zu bezahlen. Maschinen müsse er bei der Sowchose leihen. Sein Fazit ist knapp:

O-Ton 21:Bauer Piztschennikow   (Wir leben nicht besser…)

Übersetzer:    „Wir leben nicht besser, wir arbeiten nur mehr.“

Erzähler:Von fünf Uhr morgens bis in die Nacht  seien sie auf den Beinen. Trotzdem reiche es nicht und es sei nicht sicher, ob sie es durchhalten könnten.
Dringend bittet er seinen westlichen Besucher, in Deutschland Sponsoren zu suchen, die an der Unterstützung eines sibirischen Privatbauern interessiert seien. Nur mit westlicher Hilfe könne das Privatbauerntum überleben. Und nur, wenn sie persönlich übergeben werde. Alles, was über Moskau laufe, erreiche ohnehin nie sein Ziel. Die naheliegende Frage, warum er unter solchen Umständen nicht aufgebe, beantwortet in mit dem Hinweis auf seine Söhne und seinen Enkel. Die sollen es einmal besser haben! Aber wollen die das? Zögernd antwortet er, wobei der breite Konjunktiv seine Unsicherheit deutlicher macht als er selbst es wahrhaben will:

O-Ton 22: Bauer Pitschenkikow, zwei  (… No, oni.bili)

Übersetzer:    „Sie wären einverstanden, wenn es eindeutige Gesetze gäbe. Aber die gibt es nicht. Ich verliere ja nichts als Pensionär, aber wenn meinem Sohn alles wieder weggenommen würde, wie es schon so oft geschehen ist. Das wäre schrecklich.“

Erzähler: Dann aber läßt er seiner Kritik freien Lauf:

O-Ton 23: Bauer Pitschennikow, Ende   (…U nas)

Regie: Ganz stehen lassen

Übersetzer:“Bei uns ist es ja so: Heute hü und morgen hott. Heute kommt dieses Gesetz, morgen ein anderes. Verstehen Sie? Keine Beständigkeit der Gesetze!“

Erzähler: Die Unbeständigkeit der Reformen macht auch den  örtlichen Verwaltungsorganen zu schaffen. Der Definition nach sind sie Stützen der neuen Macht. Aber hier hat man schon längst vor dem Chaos kapituliert und ist zu alten Methoden zurückgekehrt.
So in Nowobibejewo, einer Waldarbeitersiedlung mit ca. 7.000 Seelen gleich neben der ehemaligen Sowchose „Sibir“. Dort ist der Inhaber der „Macht“, ein junger Mann von vielleicht 30 Jahren, zugleich Vorsitzender des örtlichen Sowjet. Nicht eins der vielen Dekrete werde in den Dörfern umgesetzt, erklärt er. Entschuldigend weist er auf zwei gut ellenbogenhohe Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch: Rechts die Dekrete Jelzins, links die des obersten Sowjet:

O-Ton 24: Nowobibejewo, örtl. Macht   (…Nje tolko)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Nicht nur, daß man sie nicht umsetzen kann – man schafft es ja nicht einmal sie alle zu lesen.“

Erzähler: Selbst wenn er es schaffe würde, erzählt der  junge Mann weiter, dann fehle das Geld. Sei ausnahmsweise aber einmal Geld vorhanden, dann erwiesen sich die Verordnungen entweder als praktisch undurchführbar oder sie höben sich gegenseitig auf. Das Schlimmste aber sei, daß er keinerlei Kontrolle über die Finanzen habe:

O-Ton 25: örtliche Macht, zwei    (…jesli)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Soweit es die Kontrolle der Gelder betrifft, die von oben kommen, geschieht die ohnehin in einer Art und Weise, daß von dem Geld, das verteilt werden soll, überhaupt nichts mehr unten ankommt.“

Erzähler: Aber auch die Profite, die im Dorf gemacht  werden, entziehen sich der Kontrolle der neuen Macht. In Nowobibejewo gilt das vor allem für die Frage, wieviel Holz im Wald geschlagen und verkauft wird. Früher wurde das genau überwacht, jetzt herrscht Raubbau. Die Gewinne werden privatisiert, die sozialen Aufgaben schiebt man der Verwaltung zu. Die Hauptforderung des jungen Administrators ist daher: Mehr Rechte für die Organe vor Ort! Dazu nennt er nmoch: Zugriff auf das örtliche Dudget! Kontrolle der wilden Privatisierung durch klare Entscheidungen von oben. Finanzielle Unterstützung für übergreifende Aufgaben. Andernfalls, so der junge Mann, werde alles im Chaos ersticken.

Von „Oben“ ist allerdings nichts zu erwarten: Zwar hat Präsident Jelzin zu den vielen bereits besteheneden noch eine neue Behörde geschaffen, die nur die Aufgabe hat, die Umsetzung präsidialer Dekrete zu kontrollieren. In ihrer Nowosibirsker Zentrale ist von Frau Nikolajewna, Mitarbeiterin der Behörde und zugleich Abgeordnete des Gebietssowjets, aber nur das Eingeständnis hören:

O-Ton 26:Im Kontroll-Apparat des Präsidenten  (… sakoni jest)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:“Im Prinzip haben wir doch gute Gesetze. Eine  andere Sache ist natürlich, daß niemand gleich jedesmal, gleich in jede Stadt angelaufen kommt und die Umsetzung überprüft. In diesem weiten Land! Sie verstehen? Das ist einfach nicht möglich, sogar hier am Ort nicht. Die Aufgabe ist einfach uneingrenzbar. Das alles bedeutet: Die Leute, die bisher an der Macht waren, sind es auch heute. Das ist vor allem anderen ein Clan: Man hat sich gegenseitig in die Positionen gebracht und hilft sich auch jetzt weiter – die einfachen Arbeiter oder auch das Dorf bleiben da außenvor. Die müssen allein zurechtkommen.“

O-Ton 27:Versammlung zur Selbstverwaltung  (Uwaschaemi tawarischi…

Erzähler:      Ein Jahr später, Herbst 1994. Wieder im Haus des Sowjets in Nowosibirsk. Der Konflikt zwischen den zwei Mächten ist entschieden. In Moskau wurde gekämpft. Der Präsident hat sich mit Gewalt gegen den obersten Sowjet durchgesetzt. Es gibt eine neue Verfassung, die das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden garantiert. Für die Dörfer hat sich jedoch wenig geändert. Nach der landesweiten Liquidierung der alten Sowjetstrukturen ist die Lage dort eher noch verworrener geworden. Niemand weiß mehr, welche Kompetenzen wo gelten. Die offiziellen Stellen reagieren mit einer Kampagne für die Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung. Aber schon die Art der Vorbereitung durch den neuen jelzintreuen Sowjet läßt ahnen, daß es hier wieder nur um einen Versuch geht, Unzufriedenheit von oben zu kanalisieren. Die meisten Delegierten bekommen den Entwurf erst bei ihrer Ankunft zu Gesicht, ganz zu schweigen von dessen Umfang, der eine praktische Anwendung unmöglich erscheinen läßt. Gleich heutze aber sollen Beschlüsse gefaßt werden. Die Debatte in Arbeitsgruppen zeigt: Fantasievolle Vorstellungen gibt es genug – aber es fehlen die Personen und es fehlen die Mittel zur Realisierung. Selbst bei Gutwilligen ist die Unzufriedenheit spürbar:

Ton 28: Im Foyer  (Foyer…

Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Die Schwierigkeit ist: Nach dem Ukas des  Präsidenten, also der Auflösung des obersten Sowjet im Oktober 1993, haben viele Spezialisten die Verwaltung verlassen. Das bedeutet: Diejenigen, die die sich auskennen, sind gegangen. Und dann die Finanzen! Wie es bei uns heißt: `Wo kein Geld ist, ist auch kein Weg.‘ Die Gesetze sind gut, aber die konkrete Hilfe ist gleich Null. Das wird schwierig. – Aber natürlich möchte man hoffen. Ohne Hoffnung kann der Mensch ja nicht leben.“

Erzähler: Im gewerkschaftlichen Bauernverband macht man  sich weniger Illusionen. Zu weit, erklärt Sekretär Wladimir Lewaschow in Nowosibirsk, klaffe die Differenzierung zwischen Industrie und Wirtschaft bereits auseinander; zu weit sei die Zerstörung der Sowchosen und Kolchosen bereits vorangeschritten, während die pivaten Bauern sich soeben gerade selbst erhalten könnten.

O-Ton 29: Gewerkschaft, Bauernverband  (…Da, primerna…)

Übersetzer:    „Ungefähr 20 Prozent der früheren Sowchosen und Kolchosen – jetzt Aktiengesellschaften – arbeiten heute normal, ohne Probleme, haben eine stabile Arbeit. Unter `normal` verstehe ich, daß sie zwar auch subventioniert werden müssen, aber doch irgendwie fühlen, daß sie mit Marktwirtschaft durchkommen werden. Der Rest, 80 Prozent, ist in der Krise. Wohin sie sie morgen gehen, ob sie aufgeteilt werden, ob sie überhaupt nicht interessant sind für eine Privatisierung, ob sie einfach bankrott gehen oder wie immer, das weiß Gott allein.“

Erzähler: Die offiziellen Zahlen, mit denen das Jahr 94  abgeschlossen wurden, übertrefen die düsteren Prognosen noch: Die Mehrheit der Sowchosen war am Jahresende zahlungsunfähig. Viele privaten Bauern gaben auf. Ihre Zahl ging gegen 200.000 zurück. Die Agrarproduktion insgesamt sank 1994 um 7 Prozent unter das ohnehin schon schlechte Ergebnis des Vorjahres. Die Getreidernte fiel um rund 10 Prozent. Damit ist sie seit 1992 um rund 25 Prozent, das ist ein Viertel gesunken. Für 1995 liegt die Prognose bei einem Rückgang der der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion um weitere 6 Prozent.

Erzähler:Um diese Entwicklung in den Griff zu kriegen,  bedarf es nach Ansicht der Bauergewerkschaft mehr als populistischer Maßnahmen nach Art des Selbstverwaltungsprojekt. So oder so werde sich so etwas wie eine gemischte Marktwirtschaft herstellen. Das hält auch Wladimir Lewaschow für unvermeidlich. Dies aber könne nur geschehen, wenn der Staat den Bauern, auch denen, die ihre Arbeit durch Schließung von Sowchosen verlören, das Überleben ermögliche und die wilde Privatisierung einer Kontrolle unterwerfe. Gennadij Schadrin, seinem Selbstverständnis nach ökologischer Patriot, Radiojournalist und wie Lewaschow Mitglied der Bauernpartei, bringt diese Vorstellungen auf den Punkt:

O-Ton 30:Gennadij Schadrin   (… w nache)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „In unserer Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nicht gibt, ist ein Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:Wenn solche Vorstellungen werden heute von  tonangebenden Mitgliedern der Bauernpartei vertreten werden, so läßt das hoffen, daß das „Dekret 96“ keineswegs das Ende der Reform bedeuten muß. Es könnte sich auch als der lange überfällige Hebel erweisen, der den Übergang von der bisherigen staatlichen Kommandowirtschaft zu gemischten Formen der Wirtschaft sozial kontrollierbar macht, statt die vorhandenen Strukturen einfach zu zerschlagen. Das könnte zu einer Entwicklung führen, in der das Wort „Reform“ nicht einfach gleichbedeutend mit individueller Bereicherung ist.

„Ich will Banker werden“ Kinder im heutigen Russland

Vorspann: Zehn Jahre Perestroika. Die Kinder der Ära Gorbatschow haben inzwischen selbst Kinder. Wie wächst die neue Generation heran? Was hat sie für Ansichten und Probleme? Einen Streifzug in dieses weite Feld unternimmt Kai Ehlers.

A-Ton 1: Kinderparade in Tscharypowo                   (1,50)
(…Stimmen, Gesang)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen,
stehen lassen, anblenden, unterlegen.

Erzähler: Sibirien. Kohlestadt Tscharypowo. Ehemaliges  Jahrhundertprojekt. Hier sollte das größte Energiezentrum Euro-Asiens entstehen. Jetzt liegt alles auf Eis. Aber heut ist ein strahlender Tag. Hunderte von Kindern haben sich versammelt. Die Mädchen tragen bunte Schleifchen im Haar, viele Jungs stecken in Anzügen. „Komm zu uns, komm zu uns, wir sind alle eine Familie“, singen sie. Eine Gruppe von Mädchen nähert sich. Sie trägen ein Transparent: „Frieden; Freundschaft; eine saubere, grüne Welt“, wünschen sie sich. (…Liedende)

B-Ton 1: Mädchen im Kinderumzug                   (0,35)     (… „Parad“ … bis „prischli“

Regie: Verblenden, hochziehen bei „Parad“, abblenden, unterlegen. Beim Stichwort „prischli“ wieder hochziehen.

Erzähler:  Amerikaner haben das Fest organisiert, erzählen die Mädchen. So etwas habe es noch nie gegeben. Klar, mache es ihnen Spaß: „Sehen Sie doch: Alle haben sich hier versammelt.“ Und natürlich sei alles freiwillig. Niemand wurde gezwungen. Alle wollten es. Und sind gekommen. („…prischli“)

Regie: nach „prischli“ abblenden, unterlegen

Erzähler:  Jetzt kommt ein Trupp Jungs. Sie sind nicht  minder begeistert. Doch, einmal habe es so etwas gegeben, erinnern sie sich, zum „Tag der Stadt“. Auch bei den Pionieren früher. „Aber das war nicht so gut“, finden sie.
Worin der Unterschied bestehe?

A-Ton 2: Jungs im Kinderumzug:

(0,18)             (… Schritte, „a tom bili tolka russki                …bis „sewodnja Amerikanzi, Indianzi sdjes“)
Regie: Verblenden, hochziehen bei „a tom“, stehen lassen bis „sdjes“, abblenden, unterlegen

Übersetzer:    „Ah, da waren es nur Russen. Heute sind                 Amerikaner und Inder hier.“

Erzähler: Bei den „Amerikanern“ haben sie in den letzten     Monaten Gedichte, Lieder und alles Mögliche gelernt. Haben vom Glauben an Bachai gehört. Bereitwillig erklären sie, was das heißt:

B-Ton 2: Jungs im Kinderumzug   (0,35)  (… „schto ta dobra budit        … bis „normalno“)

Regie: Hochziehen zum Stichwort „schto ta..“, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „normalno“ wieder hochkommen, dann abblenden, unterlegt halte

Erzähler: „Dass alles gut wird.“ „Wir beten mit ihnen  zusammen“. Ob sie das gut fänden. „Aber ja!“ Die Begeisterung ist nicht zu überhören. Und die Eltern? Die fänden das normal. …“normalno“

Regie: Ab Stichwort „normalno“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  Auch viele Frauen nehmen an dem Zug Teil. Väter sind kaum zu sehen. Worum es hier gehe, frage ich eine kräftige Babuschka. Freundlich strahlt sie mich an:

A-Ton3: Babuschka im Kinderzug  0,30)          (… „nje snaju …bis „radost“)

Regie: Verblenden, hochziehen zum Stichwort „ne snaju“, kurz stehen lassen, abblenden, dem Erzähler unterlegen, bei „radost“ wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht, ich Dummchen. Ich nehme nur teil. Bin ja nur Gast. Mein Neffe ist dabei.“

Erzähler: Ob es so etwas früher gegeben habe? Sie erinnert sich nicht. Zu ihrer Zeit sei Krieg gewesen. Aber schön findet sie es: „So eine Freude!“ …“radost“)

Regie: zum Stichwort „radost“ hochziehen, dann wieder abblenden, unterlegt lassen.

Erzähler: Da kommt eine junge Frau, Kindergärtnerin. Toll, findet sie es, wie die jungen Leute das gemacht haben! „Prachtkerle“! Alle ihre Kinder seien mit dabei.

B-Ton3:Kindergärtnerin im Kinderzug     (0,20)     (… „Djetim otschen rawitsja“              … bis „wjesseleje, krasitschneje“)

Regie: Verblenden, zum Stichwort „Djetim“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, am Ende des Erzählers zum Stichwort „etot parad“ wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Den Kindern gefällt das alles sehr. Sie ziehen daraus Gutes. Kinder kann man ja nicht betrügen. Kinder sehen, wo Gutes und wo Schlechtes ist: Sie hängen an den jungen Leuten aus Amerika.“

Erzähler: Klar habe es auch schon früher Paraden gegeben.  Bei den Pionieren. Aber diese sei heller, beseelter, lacht die junge Frau.

Regie Beim Stichwort „krassitschneje“ abblenden, unterlegt lassen

Erzähler: Passanten, die am Rande zuschauen, sind verunsichert. Sie wissen nicht, was vorgeht.
A-Ton 4:Passanten beim Kinderzug     (0,40)       (… „eto otschen interesna…       …bis „mnoga charoschowa“

Erzähler: „Sehr interessant“, meint der junge Mann, eine  gute Veranstaltung. Aber wer dafür verantwortlich sei, will er wissen. Die junge Frau fragt nach dem Ziel. Am Ende sind die beiden uneins: Bei den Pionieren waren die Paraden besser organisiert, meint sie. Aber irgendwie seien sie gezwungener gewesen, wehrt er ab. Nicht alles sei früher schlecht gewesen, lachen sie schließlich. (…charoschowa“)

Regie: Allmählich kommen lassen, bei „oni bili lutsche organisowanni“ stehen lassen bis „choroschewa“, abblenden, unterlegen, allmählich ausblenden

A-Ton 5: Beifall im Saal                     (1,40)     (… Lied, Beifall, Ansage         …bis  Lied „felloship“

Regie: Ton langsam kommen lassen, Applaus und erste Kinderansagen stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Kulturhaus. Der Saal ist überfüllt. Hier tragen die Kinder vor, was sie in vier Monaten bei den Bachai gelernt haben. Den Anfang machen die ganz Kleinen:

Regie: Mit dem Stichwort „Tschistata“ hochziehen, drei oder vier Begriffe abwarten, dann abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: (Abgesetzt lesen) „Sauberkeit.“ „Wie man zusammen arbeitet.“ „Einheitliche Menschheit.“ „Gutes Benehmen.“ „Freizügigkeit.“ „Den Eltern gehorchen.“ „Die Alten achten.“ „Vertrauen. Solidarität.“
Regie Nach Übersetzungen zum Stichwort „soduschestwo“ hochziehen, stehen lassen, bis „felloship“ erklingt, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Mit Tänzen, Gedichten, Akrobatik, mit Klavier und Guitarre geht es weiter. Auch Rock und Pop fehlen nicht. Ebenso wenig eine Erklärung der Organisatoren, dass dies alles nur für die Kinder geschehe, wenn auch letztlich zu Ehren des einzig existierenden Gottes, den Bachai neu für dieses Jahrhundert verkündet habe.
Mit dem Lob auf „fellowship, fellowship“, die große Gemeinschaft, findet das Fest seinen Ausklang.

B-Ton 4 Auf der Straße      (1,15)     (… Straßenlärm, Frage          …bis „Tscharypowo sabyrotsja“)

Regie:  Kreuzblende, nur halb kommen lassen, unterlegt halten

Erzähler: Andre`, im Ort geboren, aber zurzeit aus Nowosibirsk angereist, um hier mit anderen Ärzten zusammen eine öffentliche Sitzung gegen Alkoholismus durchzuführen, ist nicht so zurückhaltend:

Regie: Zum Stichwort „schto ja dumaju?“ hochziehen, kurz stehen lasen, abblenden, unterlegen. Beim Stichwort „powes nowi Gitler“ ganz hochziehen, stehen lassen, nach Stichwort „sabyrajutsja“ abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: „Was ich denke? Diese Parade ist die einzige Abwechslung, die es hier gibt. Die Leute kommen nicht deswegen. Hier gibt es einen Klub, da wo wir eben waren. Es gibt ein Kino. Andere Möglichkeiten, sich mit Kultur zu beschäftigen, haben die Kinder nicht. So ist also jede beliebige Aktion interessant, seien es die Bachai, seien es die Buddhisten, seien es bloß Hippies: Sie versammeln um sich gleichviel Volks – Und sei es auch ein neuer Hitler oder Wladimir Rolwowitsch persönlich! Da werden es sogar noch mehr. Da wird sich ganz Tscharypowo versammeln.“
Regie: Nach dem Stichwort „sabyrotsja“ abblenden, unterlegt halten.

Erzähler: Wladimir Rodolfowitsch – das ist Wladmir Schirinowski. Eine Art Vakuum sei entstanden, meint Andre`. Wie überall in der ehemaligen Union. Hier werde das besonders sichtbar, weil die Stadt mit ihren Kohlevorkommen vorher als „Jahrhundertprojekt“ gegolten habe. Noch schärfer urteilt Ira, seine Kollegin:
A-Ton 6:Irina auf der Straße                     (0,13)                     (… „dla etix detei“ …bis „norma“
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, bei Stichwort (Frauenstimme) „dlja etich detei“  hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, am Ende wieder hochziehen, nach Stichwort „norma“ (Lachen)abblenden, unterlegen

Übersetzerin:  „Für diese Kinder ist das alles ganz fremd. Bei der Hälfte der Kinder säuft der Vater. Das ist für sie die Norm.“

B-Ton5: Andree auf der Straße                         (0,28)    (…“djeti nje ponimaet“  …bis „sasnanije“

Regie: Verblenden, bei „djeti“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:  „Die Kinder verstehen kein Englisch. Wieso also  Bachais? Wieso englische Sprache? Sie sind russisch! Sie leben hier! Das ist alles irgendwie künstlich, ausgedacht, entspricht nicht ihrem Bewusstsein.“ (…sasnanije)

Regie: Nach „sasnanije“ allmählich ausblenden

Erzähler:  Amerikanische Käppchen und Fähnchen findet auch Olga, die junge Bibliothekarin befremdlich. Sie arbeitet in der Kinderbücherei der Stadt. Noch merkwürdiger findet sie, warum diese Gruppe junger Amerikaner ausgerechnet an diesen sterbenden Ort kommt. „Die könnten doch zu haus viel besser leben“, findet sie. Aber gegen eine Teilnahme ihres Kindes an der Parade hat sie nichts:

B-Ton 6: Bibliothekarin Olga                           (0,27)     (…“Nu, ja nje snaju“           …bis „pust ani werjat (Lachen)“

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht, das Wichtigste ist doch, da mein Kind nicht krank wird. Dass es gesund ist, also, glücklich. Darum geht es. Aber ob es das da nun glaubt oder nicht glaubt: Hauptsache, es wird ein Mensch. Stimmt doch, oder? Schließlich müssen Kinder ja irgendwas glauben. Aber was können sie heute glauben? Also, las sie nur überhaupt etwas glauben!“ (pust ani werjat“
Erzähler:  Die Leerstelle, die heute von Gruppen wie den Bachai gefüllt wird, entstand, als nach der dem Sturz der Kommunistischen Partei 1991 auch deren Jugendorganisationen, die „Pioniere“ und die „Komsomolzen“ aufgelöst wurden. Beim Besuch eines  ehemaligen Pionierlagers an der mittleren Wolga, das heute „Feriencamp für Kinder“ heißt, erklärte mir Wladmir, ein junger Fernsehtechniker schon 1992, ein Jahr danach, worin er den Verlust sieht: Sein junger Freund Igor, noch keine siebzehn, arbeitslos, nickte dazu:

B-Ton 7: Im Pionierlager Rossinka                (1,40)   (…“Nu, ja (Genuschel)           … bis „tschelowjet obschinii“

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach dem Übersetzer wieder  hochziehen

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird.  `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen.
Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen. Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Viele junge Leute suchen ihr Heil in Banden. Statt des Halstuches tragen sie jetzt die Kutte. Früher war das alles nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache. Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“
(…tschelowjek obschtschinii“
A-Ton 7: Jungs vor der Post in Sawjala          (1,20)                 (… Auto, schwaches Gespräch … bis Lastwagen/Hahngeschrei)

Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, bei Stichwort „Kak wot, pioniri“ (nach Frage) kurz hochziehen

Erzähler:  Ein Jahr später. Sawjala, Bezirkszentrum nahe der kasachischen Grenze. Hier ist nichts mehr künstlich. Landalltag. Ein paar früh erwachsene Jungs lungern vor der Post herum. Sie langweilen sich. Als es die Pioniere noch gab, war mehr los, meint ein Zwölfjähriger. „Mehr Freundschaft“, ergänzt ein Knirps. Der älteste, er ist 15, bessert mit dem Austragen von Telegrammen den Lohn der Mutter auf, der sonst nicht zum Leben reicht. „Früher wurdest Du angemacht, wenn Du ohne Halstuch kamst“, meint er. „Heute ist es umgekehrt.“ Wie er das finde? „Nicht gut“, meint er. „Schlecht“, finden die andern.

Regie: Nach Stichwort „Nu, kak vot, Pioniri“ kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Die Pioniere organisierten alles. Sie sorgten  auch für den Schutz der Natur. Jetzt kümmert sich praktisch niemand. Eigentlich ist unser Sawjala doch schön, schöner Wald, Seen. Aber jetzt liegt überall Dreck rum, alles verkommt, Früher sind die Pioniere in die Wälder gegangen, haben sie gesäubert. Jetzt hat niemand das nötig. Man schmeißt alles einfach so weg. Jeder kümmert sich nur um sich selbst. (Lastwagen/Hahn)

Regie: Ton mit Lastwagengeräusch hochziehen, mit Hahnenschrei langsam abblenden.

B-Ton 8: Platz in Borodino                             (030)     (…Karre, Motorrad)

Regie: Kreuzblende, Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen

Erzähler: Borodino. Auch eine Kohlestadt. Noch ein Jahr später. Inzwischen sprach man im Lande von moralischer Wende. Der Platz vor dem gigantischen Kulturpalast ist menschenleer. Nur ein paar Jungs hocken auf einer Bank. Die Aussticht auf ein Gespräch mit einem Ausländer veranlasst sie, ernste Gesichter zu machen. Zuerst reden sie wie die Alten: Schlechte Zeiten! Die Preise! Man müsse sehen, wie man durchkomme. Von den „Pionieren“ sprechen sie nur noch in der Vergangenheit. Aber offenbar gibt es sie doch noch. Im Sommerlager gäbe es kostenlos Eis und Konfekt, schwärmt der Kleinste. Erst als ich sie nach ihren Berufswünschen befrage, blitzt die neue Zeit unverhüllt auf:

A-Ton 8: Jungs auf dem Paradeplatz, Forts.    (0,37)       (… „Komersantami, (Lachen)“          …bis „Reketeur, (Lachen)

Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler wieder hochziehen

Erzähler: „Händler“, „Geschäftsmann“, „Millionär“. Das bedarf wieder einmal keiner Übersetzung. Es entspricht im Übrigen dem, was die russischen Statistiker schon längst als Bild der neuen Generation ermittelt haben. Die Antwort des vierten Jungen, erst im örtlichen Kauderwelsch, dann in der amerikanisierten Übersetzung lautet: „örtlicher Racketeur“, also Schutzgelderpresser. Unbewegt erzählen sie von der örtlichen Mafia: Zwanzig- bis Einundzwanzigjährige gehen in die Häuser und fordern Geld. Einfach so. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Kürzlich haben sie jemanden umgebracht und einen Polizisten erschossen. Ob sie das alles richtig finden? Darüber sind die Jungs nicht so ganz einig:

Regie: Kurz hochziehen, dass das Lachen erkennbar wird, dann wieder abblenden.

B-Ton 9: Jungs in Borodino, Forts.               (0,40)  (…“Nawerna plocha“ … bis nach „plocha“

Regie: Verblenden, kommen lassen, abblenden, unterlegen.

Erzähler:  „Wohl schlecht“, meint der eine. „Gut, denke ich“, sagt der zweite. Für dich selbst gut, für andere schlecht, setzt der Erste noch einmal nach.

Regie: Beim zweiten „dlja tebja charascho“ hochziehen, stehenlassen bis „plocha“, dann abblenden, unterlegen

Erzähler: So ganz richtig findet der Forsche es aber auch nicht. Doch um das zu ändern, müssten die Preise überall gleich sein, meint er. In Moskau sei alles billiger, hier alles teuer. Kaufen und Verkaufen, darin sieht er den einzigen Weg, um zu überleben. Die Eltern der Jungs machen es auch so. Ein anderes Leben könnten sie sich schon vorstellen. So wie früher! Als man noch richtig arbeiten konnte! Als man sich etwas für morgen aufbauen konnte!

A-Ton9: Jungs in Borodino, Schluss                (0,15) (… Kichern …bis  lutsche schili“

Regie: Verblenden, langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hinterm Stichwort „schili“ abblenden-

Erzähler:  Da gehen alte und neue Klischees bei den Jungs offenbar sehr durcheinander. „Viele Grüße“ und „Für ein besseres Leben!“ rufen sie schließlich unseren Kindern über meinen Recorder noch zu. („lutsche schili“)

B-Ton 10: Im Dorf Nowobiobejewo              (068)          (… Motorrad, Lachen, Antworten               …bis Rambo odin, Rambo dwa“)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „Stallone“ hochziehen, wieder abblenden

Erzähler:  Nowobibejewo, Waldarbeitersiedlung ca. 1000 Einwohnern, Zwei Sägewerke, ein privates Videogerät. Zwei Junges auf der staubigen Dorfstraße. Sie können sich nicht erinnern, ob es bei ihnen „Pioniere“ gab. Boxen, „football“, „volleyball“ ist ihr Alltag, im Frühjahr mit dem Trainer, im Winter auf der Straße. Die Stadt finden sie langweilig. „Im Dorf ist es besser“, finden sie. „Da ist der Fluss. Da kann man baden.“ In der Stadt sind nur die Videos für sie interessant. „Videomanics“, lacht mein russischer Begleiter. „So sind sie alle. Ohne das können sie schon nicht mehr leben.“ Als ich nach ihren Lieblingsschauspielern frage, springt mich wieder die neue Zeit an: Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone.

Regie: Abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler kurz stehen lassen, nach „Rambo“ abblenden

Erzähler: Ihre Lieblingsfilme entsprechen dem: Rambo I und Rambo II.

A-Ton10:Kinderhaus Tscherepanowo  (059)    (…538: „etowo ribonka“, Kinderschreien   …Kinderschreien, „etot indalid“  …bis Schreibmaschine

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Erzähler: Einen noch tieferen Blick in die Wirklichkeit vermittelt der Besuch im „Heim für psychisch behinderte Waisen“ in Tscherepanowo, Sibirien. Eine Gruppe russischer Ärzte ist eingetroffen, um Kinder zur Adoption bei amerikanischen Eltern abzuholen. Das örtliche TV ist anwesend. Woher kommen die Kinder in diesem Haus, fragt der Redakteur des örtlichen TV die Leiterin, eine mächtige ältere Frau: (…Schreibmaschine)

B-Ton 11: Leiterin des Kinderhauses           (050)     (… „Tschas ja wam skaschu          …bis Kinderschreien

Regie: O-Ton verblenden mit vorherigem, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Übersetzerin: „Das werde ich Ihnen sagen. Kinder bis zu drei Jahren werden aus Krankenhäusern und Geburtskliniken gebracht. Es sind Kinder von Müttern, die ihre Kinder bei der Geburt oder gleich danach abgegeben haben. Manche Kinder findet man auch auf dem Bahnhof. In den Krankenhäusern hat man sie medizinisch versorgt, behandelt und ihnen Dokumente ausgestellt. Wenn sie dann niemand adoptiert, kommen sie zu uns.“

A-Ton 11: Kinderstimmen und andere  Forts.               (0,36)          (…Kinderstimmen, Stimmen)

Regie: Verblenden, kurz hochkommen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  Einmal für krank befunden, haben die Kleinen praktisch keine Chance. Nur wenige schaffen eine normale Entwicklung. In den Kinderheimen wird nicht geheilt, dort wird ruhig gestellt. Mehr wäre nach Ausbildung und Ausrüstung dieser Heime nicht zu schaffen, selbst wenn das Bewusstsein ein anderes wäre: Vier ausgebildete Kräfte, die Leiterin, eine Krankenschwester, eine Logopädin und eine Erzieherin, sind hier für mehr als sechzig Kinder zuständig. Heute kommt der allgemeine Verfall noch hinzu, der sich auf das Kinderhaus katastrophal auswirkt. Beschwert stöhnt die Krankenschwester, eine an sich eher zähe Vertreterin ihres Standes:

B-Ton12: Krankenschwester                        (050)          (… „I na schot pitanje“              … bis „wot takie dela“

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, wieder abblenden

Übersetzerin:  „Was die Verpflegung betrifft, muss ich noch einmal sagen – und mich Krankenschwester beleidigt das einfach: Die Kinder bekommen bei uns zurzeit nicht ausreichend zu essen. Nach den Marktpreisen sind wir einfach nicht in der Lage, die nötigen Dinge zu bezahlen. So schaffen wir Kohl, Mohrrüben, Zwiebeln, Blumenkohl ran, also das, was in unseren Gärten wächst, was wir zu Hause haben. So sieht das aus.“

A-Ton 12: Kinderstimmen, Forts.                    (055)      (…Kinderstimmen, Stimmen…)

Regie: Verblenden, kurz hochkommen lassen, unterlegen

Erzähler: Unter diesen Bedingungen starben auch früher schon viele Kinder in den ersten Jahren. Bei ihnen verfestigte sich, was anfänglich nur Zurückgebliebenheit war, zu dauernden Behinderungen. Mit fünf oder sechs Jahren verschwand die Mehrzahl in den allgemeinen Behindertenanstalten. Heute sind die Überlebenschancen dieser Kinder noch weiter gesunken. Trotz steigender Zahl der Ehescheidungen, Abtreibungen und der ausgesetzten Neugeborenen geht die Belegung der Betten zurück. Die Stimmung ist schlecht. Die Frauen haben Angst, dass man das Haus ganz schließt. Das würde für sie den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten und einer – trotz allem – besseren Versorgung, als die Nachbarn sie haben. Die Ärzte aus Nowosibirsk sind für sie eine ernste Bedrohung. Sie beschimpfen sie versteckt als Spekulanten, die nur Geld mit den Kindern verdienen wollten. Die Leiterin steigert sich zu einem kräftigen Crescendo:

B-Ton 13: Leiterin des Kinderhauses           ((0,36)                  (… „Mi kagda rabotajim…                …bix „bes sexa“, Lachen und Stimmen

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegt halten, beim Stichwort „raschdajetsja“ kochziehen
Übersetzerin:  „Als wir jung waren, haben wir über Arbeit gesprochen. In der neuen Generation geht es vor allem um Lohn, Sex, Spekulation! Wie im Westen! Aber sind bei uns früher nicht auch gute, gesunde Menschen geboren worden? Ohne Sex?“

Regie: Nach dem Stichwort „raschdajetsja“ abblenden, unterlegt halten

Erzähler:  „Eiserne Babuschkas“ werden Frauen mit dem Auftreten dieser Leiterin im Land genannt. Durch das Lachen angestachelt, steigert sie sich zu Warnungen darüber, dass die schlechte Moral den genetischen Fond verderbe. Darin bringt sie problemlos auch Tschernobyl noch mit unter. Das Volk werde immer schlechter. Das könne sie ja an den Kindern sehen, die in ihr Haus kämen. Die um eine Generation jüngere Logopädin wehrt immerhin ab: Ohne Sex gäbe es wohl keine neue Generation! Aber dann fällt sie doch selbst in den Tenor ein:

B-Ton 14: Logopädin im Kinderhaus             (052)          (… „I ponimaetje, pri“               … bis „eto situatia“)

Regie: Schnell hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzerin:  „Verstehen Sie! Unter den Bedingungen, die heute für Frauen in Russland gelten, werde ich kein zweites Mal gebären. Auch wenn man mir sagt, dass die Geburtenzahl sinkt. Aber nicht, weil ich es vielleicht nicht wollte, sondern erstens, weil ich allein stehe, und zweitens weil ich gar nicht wüsste, wie ich dem Kind eine Ausbildung geben sollte. So ist das! Ich will nicht! Und ich bin eine normale, gesunde Frau! Andere haben zwei, drei, vier Kinder – reihenweise Nachwuchs. Aber, bitte sehr, das sind Familien von Alkoholikern, wo er säuft, wo sie säuft. Sie rechnen so: Für das Kind bezahlt man uns Unterstützung; für eins kriege ich was, für zwei, bei dreien kann ich schon trinken. Aber die drei Kinder überlässt man sich selbst. Klar, dass die nicht gesund sind. Das ist blanke Degeneration! So geht die Nation zugrunde. Die Gebärhäuser bleiben leer. Das ist unsere Situation.“ (…situatia)

Erzähler: Olga, Leiterin des örtlichen Geburtshauses in Kurageno, einem ähnlichen Bezirkszentrum wie Tscherepanowo, aber eine Tagesreise weiter im Krasnojarsker Gebiet, ca. 25 000 Einwohner, erzählt, wie sich solche Ansichten in konkreten Zahlen niederschlagen:

B-Ton 15: Olga in Kurageno, Hebamme                (056)     (… „Nu, a wot rabotaju“ … bis „mjesto“)

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, am Ende wieder hochziehen, nach Stichwort „mjestno“ abblenden

Übersetzerin:  „Nun, ich arbeite hier jetzt seit sechzehn  Jahren. Als ich hier ankam, hatten wir im Bezirk 1200, 1300, 900 Geburten. Aber dann gab es einen ständigen Rückgang. Im letzten Jahr hatten wir 335. Im Jahr davor waren es noch 600. Also, es geht abwärts. In diesem Jahr fühlen sich die Leute bei uns offenbar besser. Jetzt haben wir im halben Jahr so viele Schwangerschaften, wie letztes Jahr im ganzen Jahr Geburten. Also, scheint es wieder aufwärts zu gehen.  Aber für die Städte gilt das nicht, nur hier im Dorf.“ (…mjesto“)

Erzähler: Es ist ein Rückgang um ein Viertel. Olgas hoffnungsvolle neue Zahlen können das kaum relativieren. Sie zeigen nur, dass in letzter Zeit zunehmend Menschen aufs Land flüchten, wenn sie Familie gründen wollen. Alexander Solschenyzin sprach im letzten Jahr gar von einem Rückgang der Geburten auf 8% der früheren Raten. Patriotische Blätter warnen bereits seit Längerem vor einem Aussterben des russischen Volkes. Irina Poltawskaja, St. Petersburg, in den letzten Jahren mehrmals als Organisatorin von wissenschaftlichen Kongressen zur Aufarbeitung der Vergangenheit der orthodoxen Kirche hervorgetreten, fügt dem Bild noch einen weiteren Aspekt hinzu:

B-Ton 16: Irina Poltawskaja                             (040)          (223: „Posmotritje, na to“                …bis „wot eta“

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, nach Stichwort „wot eto“ abblenden

Übersetzerin:   „Sehen Sie sich die jungen Leute an, die heute Kinder bekommen, wie sie heute ihre Kinder erziehen. Völlige Wildbahn in der Erziehung! Motto: Was wachst das wächst, wenn`s daneben geht, geht`s eben daneben. So lernen die Kinder nichts. Sie orientieren sich entweder auf der Straße, was nicht immer das Beste ist oder sie richten sich nach ihren Eltern, die in Sachen Erziehung ebenfalls stumpf sind. Das heißt, ein ganz anderes Niveau von Menschsein entsteht da.“ (…wot eto.)

Erzähler: Die Degradierung, dieser Verlust historischen und sozialen Bewusstseins, wie Irina Poltawskaja es nennt, betreffe im Übrigen alle Schichten. Das betreffe auch die geistliche Sphäre, die Kirche. Auch die Verkündigung bleibe auf einem derart primitiven Niveau, das den Leuten nicht helfe.

B-Ton 17: Irina Poltawskaja                            (059)          (… „Ja mago tolka…“               …bis prosche, lechsche“

Regie: Schnell kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzung wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich kann nur sagen, um all das in den Griff zu kriegen, braucht es Zeit. Und vor allem Menschen! Denn alles hängt in dieser Frage von den Menschen ab. Wird es solche Menschen geben? Welches Potential werden wir in zehn Jahren haben? Nun, dann sind das diejenigen, die, sagen wir, zur Zeit Chruschtschows geboren wurden. Ich weiß einfach nicht, was in deren Köpfen heute los ist. Ich weiß von meinen Verwandten, dass es in der Schule zurzeit äußerst schwierig ist – sowohl für die Lehrer mit den Schülern als auch für die Schüler mit den Lehrern: Das Niveau ist nicht, wie es sein sollte oder die Kinder sind einfach schlecht erzogen und ohne jede Achtung. Was daraus wird, was jedes Kind daraus macht, das hängt natürlich auch von jedem einzelnen Kind ab. Das eine wird vielleicht etwas schaffen. Aber viele werden den einfachen, den leichten Weg gehen.“

(Regie: Hier kann evtl. eine neutrale, orchestrale Musik eingefügt werden)

Erzähler:      In den ersten pädagogischen Konzepten von 1985/6 sucht man solche Gedanken vergebens. Dort war vor allem von Umstrukturierung die Rede. Gorbatschow gab das Schlagwort von der „Computerisierung“ der Bildung aus. So sollte der Anschluss an das internationale Niveau geschafft werden. Versteckt unter Projekten mit dieser Zielsetzung bildeten sich Ende der Achtziger erste experimentelle Schulen. Im Schutz der offiziellen Losung verfolgten sie das Konzept einer repressionsfreien Schule. Nina Poliwanowa ist eine von denen, die diesen Weg gingen. Im Sommer 1990 erläuterte sie mir ihr Konzept, die Kinder nicht durch Druck, sondern durch eigenes Tun die Lösung finden zu lassen:

B-Ton 18: Nina Poliwanowa                     (042)          (… „It is important“ … bis „it is really“)

Regie: Zügig kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzerin wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Das ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist das der Weg, um die Bereitschaft zur Verantwortung zu stärken. Zweitens wissen wir, dass wir in unserem Land überhaupt keine gut ausgebildeten Lehrer haben. Die einzige Hoffnung kann daher nur auf den Schülern liegen, nicht auf den Lehrern. Die Hoffnung, das Bewusstsein der Erwachsenen ändern zu können, ist unrealistisch. Bei Kindern ist es möglich.“ (…“really“)

Erzähler:  Frau Poliwanowa hatte große Hoffnung.

B-Ton 19: Nina Poliwanowa, Forts.                       (033) (… „I think you can…               …bis „you understand?“

Regie: Zügig hochziehen, kurz stehen lassen, (spätestens bei „Communikation“) abblenden, unterlegen, nach Übersetzung wieder hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Ich denke, wir können die guten Ergebnis sehen. Erstens: Diese Kinder sind frei in der Kommunikation mit den Lehrer und den Klassenkameraden. Und vor allem: Sie wollen unbedingt arbeiten! Sie wollen Fragen stellen! Und sie sind sehr gut bei Kompositionen. In unserem traditionellen System haben wir ja keine Komposition. Da gibt es nur Kopien, Sie verstehen?“ (…“you understand?“)

Erzähler: Hauptproblem war für Frau Poliwanowa damals, ob dies ein Modell für das ganze Land werden könne. Immerhin wurden bei ihrem Experiment dreißig Experten für hundert Schüler und Schülerinnen eingesetzt. Ein Schulplatz kostete, in damaliger Währung gerechnet, 250 Rubel – die Computerausrüstung nicht mit berücksichtigt. Für einen üblichen Schulplatz wurden nur anderthalb aufgebracht.
B-Ton 20: Nina Poliwanowa, Forts.                       (1,25) (… „So the problem itself“              … bis „it is real bad“

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochziehen.

Übersetzerin: „So wird das Problem sein, dass erst einmal eine Menge Neureicher diese Schule nutzen wollen. Und sicher muss die Schule sich an ihren Wünschen ausrichten. Das wird für alle privaten Schulen gelten. Für den Anfang ist das unvermeidlich. Das ist selbstverständlich erst mal nicht so gut. Aber später wird die natürliche Konkurrenz dafür sorgen, dass sich das ändert. Ich kenne viele Eltern, die so eine Schule wie meine wollen. Sie bilden die wirkliche Struktur unserer Gesellschaft. Die Schule wird notwendig mehr oder weniger dieser Struktur entsprechen. Es ist also nicht so schlimm. Wirklich schlimm ist, gar nichts zu versuchen.“ (…“it ist realy bad“)

A-Ton 13: Kinderhaus Materwelinskaja         (0,54)          (… Stöckelschuhe, Schritte, Stimmen…)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, zügig mit Erzähler darüber gehen, unterlegt halten. (Falls Ton nicht ausreicht, dann in der Mitte ein Stück ganz ausblenden oder das Stöckeln einfach verlängern)

Erzähler: Vier Jahre danach: Besuch im Kinderhaus „Materwelinskaja“, einem vor- und außerschulisches Kulturhaus für 1500 Kinder in einem Vorort von Perm. Auf dem Weg ins Büro des Direktors. Inzwischen hat sich die soziale Differenzierung als das Hauptproblem herausgestellt. Viele Schulen haben geschlossen. Lehrer und Lehrerinnen, als sog. „budgednikis“, gehören zu den am schlechtesten bezahlten Menschen des Landes. Viele haben monatelang überhaupt keinen Lohn mehr gesehen. Sie müssen sich ihren Lebensunterhalt mit Nebenarbeiten verdienen. Da bleibt für die Kinder nicht mehr viel Zeit. Neue Schulen, die heute nicht nur in Moskau, sondern auch an anderen Orten entstanden sind, kosten das drei- oder vierfache dessen, was die Gewerkschaft als Existenzminimum ausrechnet. Aber auch diese Schulen werden von Lehrerinnen oder Lehrern betrieben, die im alten System gelernt haben. Die Mafia beginnt sich darauf zu spezialisieren, Kinder abzufangen, die auf solche Schulen gehen, um Lösegeld zu erpressen. Unter all diesen Umständen werden Einrichtungen wie „Materwelinskaja“ zu Inseln im tobenden Meer. Aber in der Antwort des Direktors auf die Frage, was sich in den letzten fünf Jahren verändert habe, wird deutlich, dass es auch dort heute in erster Linie um die Finanzen geht:
(… Stimmen)

B-Ton 21: Direktor des Kinderhauses           (101)                                  (… Perwie  bis … twortschikom)

Regie: O-Ton verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, am Ende hochziehen.

Übersetzer:    „Vor allem änderte sich die Frage der Finanzierung. Früher war dies ein gewerkschaftseigenes Haus. Den Unterhalt trug das Lenin-Werk. Alles Übrige, Kultur, Arbeitskreise, Künstler, alle möglichen Zuarbeiter, Regisseure, Verwaltung – das zahlte alles die Gewerkschaft. Jetzt müssen wir alles selbst aufbringen. Auch von der Stadt kommt nichts. Es gibt nur Absprachen von Mal zu Mal. Wenn der Bezirk ein Fest machen will, machen wir einen Vertrag – mit dem Bezirk, mit der Stadt, mit der Region, mit der Fabrik, mit dem Gewerkschaftskomitee. Wenn sie dann zahlen, führen wir das durch. Das geschieht alles auf rein kommerzieller Grundlage. Das heißt, heute bin ich einerseits in schöpferischer Hinsicht vollkommen frei. Als Künstler, als Betreiber eines solchen Hauses, als schöpferischer Arbeiter habe ich heute vollkommene Freiheit für die Entwicklung meiner Fähigkeiten. Niemand schränkt mich ein. Aber auf der anderen Seite hatte ich ein festes Einkommen. Der Staat garantierte es mir – jetzt nicht. Jetzt muss ich es für mich und für meine Mitarbeiter ranschaffen. Und sollen die Kinder auch noch kostenlos verpflegen. Das löscht mich als schöpferischen Arbeiter aus.“

Erzähler: Aber natürlich werde er nicht aufgeben. Schließlich sei er selbst in dem Haus aufgewachsen und inzwischen seit siebenundzwanzig Jahren dort tätig. Man werde schon Wege finden. Nach dieser Selbstermutigung spricht Wassili Alexandrow über die moralische Wende der letzten Jahre. Nicht nur die Gesellschaft allgemein, auch die Kinder haben sich verändert, meint er:

B-Ton 22: Direktor, Forts.                              (114) (… „Djeti stali…“              … bis „o tschom pogowori“

Regie: Ton zügig kommen lassen, kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Die Kinder wurden, nun sagen wir, sie haben heute eine große Auswahl. Alle Kulturhäuser und Schulen, Klubs und Aufenthaltsore bieten eine breite Palette von Freizeitbeschäftigung für sie. Früher hat es das nicht gegeben. Jetzt hat das Kind die Möglichkeit auszuprobieren, selbst zu bewerten. Wenn es ihm gefällt, bleibt es, wenn nicht, dann nicht. Früher haben wir ja auch Angebote gemacht. Aber das blieb doch alles im engen Rahmen. Jedes Haus musste praktisch einen Satz vergleichbarer Komplexe anbieten. Jetzt ist das anders. Jetzt hat jedes Haus sein eigenes Gesicht, wofür es steht, worin es sich von anderen unterscheidet. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Kinder rationaler werden. Ja, rationaler! Sie wählen das, was ihnen nützt! Und da nun tagtäglich die Rede davon ist, dass jeder lernen sollte, Geld zu verdienen, ist es natürlich das, was die Kinder am meisten beschäftigt. Früher war das nicht so. Das ist zugleich gut und schlecht. Da gibt es einiges, worüber man reden muss.“ (..“o tschom pogowori“)

Erzähler: Auf der einen Seite, fasst der Direktor zusammen,  ergebe sich durch die neue Vielfalt eine große Möglichkeit für die Kinder, spielerisch zu lernen, ohne Zwang ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Er selbst befürworte das sehr. Zum Beweis führte er gleich seine Anzüge vor, die er trägt, wenn er, wie er es oft und wie man ihm ansieht, gern tut, den „Skomoroch“, den russischen Hans-Wurst spielt. Er sehe aber auch die Gefahr, dass die sozialen Fähigkeiten, die Fähigkeit zur Gemeinschaft, zu „obschtschina“, verschüttet würden, die die russischen Menschen immer besonders ausgezeichnet hätten, dass jeder nur noch an sich selbst denke.

B-Ton 22: Direktor, Forts.                 (Band 94/40/a)          (… 607: „W etom odnoschennije…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Übersetzer: „In dieser Beziehung gibt es einiges zu überdenken. Wir sagen doch immer: sei offen, sei hilfsbereit! Die Religion propagiert die Liebe, die Unterstützung für den Nächsten: Nimm auf Deine Schultern die Last des anderen Menschen, hilft ihm, lindere sein Leiden! Wie haben wir immer gesprochen? Wichtig ist, dass ich den Mensch nicht nur danach beurteile, was er mir gegeben hat, sondern dass Du mich verstehst. Wichtig ist das Mitleiden mit den anderen. Es ist manchmal alles so schwer, aber dann redest du mit anderen; du siehst einfach, dass die, mit denen du redest, dich verstehen – dann ist alles einfacher, leichter.“ …(prosche, lechsche“

A-Ton 14: Lehrerinnen im Kinderhaus                     (0.25)          (…Halle,Gemurmel, Stimmen…)

Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Erzähler: In den Gängen des Hauses treffe ich auf eine Gruppe von Lehrerinnen. Aus der Beratung mit ihnen hatte ich den Direktor vorher geholt. Rückhaltlos beklagen sie die desolate Lage an den Schulen, den allgemeinen Zynismus, ihre eigene Überforderung. In drei Schichten werde bei ihnen unterrichtet, erzählt eine junge Frau. Bei den anderen ist es nicht viel besser. Umso höher schlägt das Lob für den Direktor des Freizeithauses. Begreift man sich als Arbeitskollektiv, das gemeinsam plant?

B-Ton 23: Erste Lehrerin                   (018)          (… „Nicolai Wassiljewitsch?…      …tolko)

Regie:  Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegt halten

Übersetzerin: „Wie sonst! Und nur mit ihm! Ohne ihn sind wir  wie ohne Arme und ohne Beine. Bei uns in der „Schule 48″ läuft nichts mehr außer Routine. Wir leben praktisch von diesem Haus hier. Alle anderen Möglichkeiten sind hin. Für unsere Schule sage ich: So, und nur so! Ohne dies hier sind wir hilflos.“ (… „bes nix mi ni kuda)

Erzähler: Die umstehenden Frauen stimmen zu. Eine von ihnen, die in einer erst vor zwei Jahren fertig gestellten Muster-Schule arbeitet, in der es sogar eine Sauna gibt, ergänzt:

A-Ton 15: Zweite Lehrerin                          (0,21)                           (…“U menja swjo est                   …bis Lachen, Stimmen)

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, nach Übersetzerin wieder hochkommen, mit Lachen abblenden

Übersetzerin:  „Wir haben alles, aber trotzdem ist es so, dass wir die Dinge, die hier gemacht werden, einfach nicht schaffen. Uns fehlt das Kulturprogramm. Das finden wir hier. Wassili Alexandrow ist eben ein befähigter Mann. Deshalb kommen wir alle gern hierher, um uns mit ihm zu beraten. “ (…Lachen)

B-Ton 24: Lieblingslied der Kinder von Tscharypowo (Band 94/32/B)      (…133: Lied „Prichadi kwam…“          bis Ende

Regie: O-Ton weiter hochziehen, aber noch unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen, dann ausblenden.

Erzähler: Der Sonntag von Tscharypowo und der Alltag von Perm liegen zwar mehr als zweitausend Kilometer voneinander entfernt. Und wenig scheinen die Welt der Bachai und die Besinnung auf die Tugenden der russischen „obschtschina“ miteinander zu tun zu haben. Aber es scheint, dass sie für viele doch näher beieinander liegen, als meine russischen Freunde in Tscharypowo dachten. Was beides verbindet, ist die Hoffnung auf Personen wie Wassili Alexandrow, der sich in einer aussichtslosen Situation mit ganzer Person engagiert und die Sehnsucht nach dem Erhalt der Gemeinschaft. Den Kindern ist zu wünschen, dass sie von beidem das Beste erhalten.

Skizze der russischen Obtschhina: „Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich?

„Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich?

Zu Gegenwart und Geschichte der russischen Gemeinschaftsstrukturen.

Erzähler: Seit 1991 wird in Russland privatisiert. Über die katastrophalen Folgen für die Wirtschaft kann man in letzter Zeit des Öfteren hören. Aber welche Auswirkungen hat die Privatisierung auf das soziale Leben der Menschen? take 1:Bäuerin in Sawjala (0,49) (…Schritte, Hund, Strastwuitje…)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, schwach unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: Salawaja. Ein Dorf im Altai, südliches Sibirien. Ein Jahr nach Beginn der Privatisierung. Hierhin verschlägt es nur selten Fremde. Wir wollen Milch kaufen. Milch gibt es nicht mehr. Stattdessen nimmt die alte Bäuerin die Gelegenheit wahr, ihr Herz auszuschütten: Ganz allein müsse sie heute zurechtkommen. Ihr Mann ist tot, die Kinder und Enkel leben in der Stadt, die Nachbarn haben mit sich selbst genug zu tun. Viele von ihnen sind ebenfalls alleingebliebene Alte. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:

take 2: Bäuerin Fortsetzung (1,17) (…widitje, u nas polutschajetsja tak…)

Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, ausblenden.

Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch für sich selbst lebt: Hast du Maschinen, hast du einen Traktor und alles, dann kannst du leben. Hast du nichts, kannst du sterben. In der Kolchose waren wir alle gleich. Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet. Jetzt hat einer die Kühe, die anderen müssen viel Geld für Milch ausgeben. Alles wird gekauft, verkauft; aber das Geld ist nichts wert. So ein System ist jetzt gekommen. Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“ Erzähler: Nicht nur die Alten auf den Dörfern reden so. Ähnliche Töne kann man in den Städten auch von jüngeren Menschen hören. Mit den „Pionieren“ und den „Komsomolzen“, den Organisationen der Parteijugend, ist eine Welt zusammengebrochen, höre ich von Wladimir, einem jungen Radiotechniker aus Tscheboksary an der Wolga. Der siebzehnjährige, arbeitslose Igor nickt dazu. Viele suchen Ersatz in Banden. Dort tragen sie statt der roten Halstücher nun ihre Lederjacken. Bei einem gemeinsamen Besuch in einem ehemaligen Pionierlager beschreibt Wladimir genauer, worin er den Verlust sieht:

O-Ton 2: Wladimir in Tscheboksary (1,40) (…Nu ja …)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird. `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen. Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen. Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Das war früher nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache. Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“

Erzähler: Was von der alten Dörflerin ebenso wie den jungen Städtern beschworen wird, ist mehr als sowjetische Nostalgie. Es sind die Traditionen der Bauerngemeinschaft, die die russische Geschichte wie die keines anderen Landes der industrialisierten Welt bis heute bestimmt haben. Erst spät rückte diese Besonderheit der russischen Entwicklung ins Bewusstsein der westlichen Gesellschaften: Erste Kunde brachte um 1850 Baron von Haxthausen, ein österreichischer Gesandter am russischen Hofe. Von ihm erfuhr die westliche Welt erstmals, dass in Russland anders als in den übrigen Ländern des christlichen Abendlandes das bäuerliche Gemeineigentum mit regelmäßiger Umverteilung neben der höfischen die bestimmende Eigentumsform im Lande geblieben war. Man nannte sie „obschtschina“, Gemeinschaft, oder „mir“ nach dem Dorfplatz, auf dem die öffentlichen Versammlungen abgehalten wurden. Der deutsche Graf Moltke schrieb wenige Jahre später in widerwilliger Faszination:

Zitator: „Innerhalb der Gemeinde gibt es nur Nutznießer. Es existiert demnach für Grund und Boden kein Erbrecht. Der Sohn erbt nicht den Acker seines Vaters. Er erhält seinen Anteil nicht kraft des Erbrechtes, sondern kraft seiner Geburt als Gemeindemitglied. Jeder Russe ist irgendwo ansässig und es gibt keinen Pöbel, kein Proletariat. Niemand ist ganz arm. Ein Vater kann alles durchbringen, die Kinder erben seine Armut nicht. Die Vermehrung der Familie, bei uns ein Gegenstand der Sorge, ist in Russland ein Zuwachs an Reichtum. Alles drängt zur frühzeitigen Heirat. Der Einzug selbst der mittellosesten Schwiegertochter ist ein Freudenfest der Familie. Sie bringt arbeitende Hände mit und für ihre Söhne werden schon bei der Geburt die Ackerparzellen dazugelegt. Andererseits leuchtet freilich ein, dass bei dieser Einrichtung der Ackerbau nie auf eine Stufe der Vervollkommnung gelangen kann. Wer wollte Meliorationen machen. Bäume pflanzen, Drainierungen anlegen auf einem Grundstück, welches nach fünfzehn Jahren vielleicht einem anderen gehört?“

Erzähler: Reformern aller Zeiten und aller Länder waren die Dorfgemeinde aus dem zuletzt von Moltke genannten Gründen immer ein Dorn im Auge. Aber während sie in Mittel- und Westeuropa schon frühzeitig zerschlage wurde, hat sie in Russland nicht nur alle derartigen Versuche überlebt, sondern selbst die Gesellschaft nach ihrem Bild geformt. Für den frühen russischen Zarismus war die „Obschtschina“ die einzige wirklich funktionierende und die bequemste Verwaltungseinheit in den ansonsten unüberschaubaren Weiten des Landes. Noch in der von Alexander I. angeordneten Bauernbefreiung des Jahres 1861 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen darauf verzichtet, die „Obschtschina“ aufzulösen. Folge: Die Bauern verwandelten sich nicht in freie Lohnarbeiter wie beabsichtigt. Die Industrialisierung stockte. Herzstück des nächsten großen Industrialisierungsschubs war der 1910 unter dem Zarenminister Stolypin herausgebende Ukas zur Ent-Kollektivierung der Bauern. Er wollte die Dorfgemeinschaften in wenige reiche Kulaken und eine Mehrheit landloser Tagelöhner, bzw. in die Städte ziehender Arbeiter spalten. Aufstände der Dorfarmen, sehr bald dann der Beginn des ersten Weltkrieges beendeten dieses Experiment. Mit der bolschewistischen Revolution wurde die Ordnung der Bauerngemeinde zunächst als „Kol-Chose“, das bedeutet Kollektivwirtschaft, dann als „Sow-chose“, das ist die staatlich gelenkte „Kol-chose“, zur Grundorganisation des Staates erhoben. Seine letzte, paradoxe Ausformung erhielt die Entwicklung in der großen Industrialisierungs-Kampagne, die Stalin 1929 einleitete. Sie zielte auf die Zerstörung der nach der Revolution wieder erstarkten dörflichen Selbstverwaltung. Stalin wollte die Bauern endgültig proletarisieren. Die mit der Kampagne einhergehende Zwangskollektivierung erneuerte aber zugleich die „obschtschina“. Der einzige Unterschied zu vorher bestand darin, dass sie nun unter staatliche Führung kam. Ergebnis dieser ganzen Entwicklung ist ein „Wir“-Gefühl in der russischen Bevölkerung, das der sibirische Dichter-Patriot Stanislav Kitaiski so zu erklären versucht:

O-Ton4: Stanislav Kitaiski (1,25) … Russki Tschelowek…

Regie: Ton kurz stehen lassen, dann abblenden

Übersetzer: „Der russische Mensch hat das Christentum als eine Religion der allgemeinen Gemeinschaftlichkeit so leicht angenommen, weil er von Natur aus ein Gemeinschafts-Mensch ist. Heute ist viel davon die Rede, dass die Persönlichkeit zuerst komme. Aber für den russischen Menschen hat das Interesse am Vaterland, am Volk immer höher gestanden als sein eigenes. Und warum konnte der russische Mensch derart auf diese idiotische Kollektivierung reinfallen? Weil dieser Kollektivismus irgendwie schon angelegt war! Mehr als 80% der russischen Bevölkerung lebten vor der Revolution auf dem Dorf. Das hieß: kollektive Nutzung des Bodens. Das hieß: kollektive Erziehung der Kinder. Ich bin selbst auf dem Dorf aufgewachsen. In meiner ganzen Kindheit gab es keine fremden Kinder. Das waren alles unsere eigenen. Das heißt, wenn sich da einer nicht richtig betragen hat, dann konnte ich ihn ruhig bestrafen; ich konnte ihm auch helfen, ich konnte ihn kleiden, ich konnte ihn in die Familie aufnehmen. Verstehen Sie? Da ist keine Fremdheit, sondern Gemeinsamkeit. Sogar die Kinder waren irgendwie gemeinsam. Auch wenn es die Kinder eines anderen waren und wir gar nicht verwandt waren. Das heißt, diese Gemeinschaftlichkeit machte die Menschen offen und ehrlich.“

Erzähler: Heute erlebt Russland einen erneuten Anlauf, die alten Strukturen zu zerschlagen. Diesmal unter dem Schlagwort der Überwindung des Sowjetismus. Stanislav Kitaiski sieht darin einen Versuch, der das Volk nur ratlos zurücklassen könne:

O-Ton5: Kitaiski, Forts. (0,35= (… Jest takaja Dilemma) Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann ausblenden.

Übersetzer: „Heute haben wir das Dilemma: Der Mensch ist Kollektivist – und will doch Herr im eigenen Haus sein. Bezüglich des Herrn im Hause wäre ich einverstanden. Aber interessant ist doch, dass jetzt, da unsere Regierung mit Gewalt diesen Kollektivismus zerstören will, das Volk Widerstand leistet. Es will nicht.“

Erzähler: Diese Worte fielen bereits im Sommer 1992. Inzwischen ist die Krise der kollektiven Landwirtschaft offenbar. Die Privatbauern vegetieren am Rande der Existenz. Im industriellen Bereich ist es nicht anders: Die Privatisierung hat zu einer Differenzierung der Bevölkerung in 10% „neue Reiche“ und eine Mehrheit geführt, die zunehmend verelenden. Für Aufgaben wie Straßenbau, Strom- und Wasserversorgung, Bau und Unterhalt von Schulen, Kindergärten, für Einrichtungen der Bildung und der Kultur bis hin zur Zahlung von Zusatzpensionen fehlt das Geld. Früher wurde das alles von der Gemeinschaft der Sowchosen, Kolchosen oder Betriebe für eine Gruppe von Dörfern oder eine ganze Stadt getragen. Jetzt kümmert sich niemand darum. Unter diesen Umständen ist das diffuse Unwohlsein zu einem breiten oppositionellen Strom geworden. Inzwischen werben Gruppen wie eine „Partei der russischen Ethik“ für die Rückkehr zur „nationalen Moral“. Gemeint ist das „Prinzip Obschtschina“. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, die das Land vor dem Ausverkauf an den Westen retten könnten. Aufrufe zu einem „Aufbau einer Bewegung der Obschtschina in Europa, eine westeuropäische Reformation“, füllen die Seiten der patriotischen Presse. Der Chef der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“, Schuganow erklärte jüngst die „Psychologie der Obschtschina“, die er „kollektivistisch, ökumenisch, korporativ und ewig erprobt“ nennt, zur Grundlage oppositioneller Reformpolitik, wenn es nicht zur Katastrophe kommen solle. Nicht alle wollen freilich zurück in die traditionellen Formen des Kollektivismus. Vor allem unter jüngeren Intellektuellen bilden sich sogenannte „Tuzowkas“, lockere Interessengruppen, in denen von einer anderen Bewältigung der Tradition geträumt wird. Am Ufer das Baikal in Irkutsk erläutern Oleg und Sergei, Studenten aus Irkutsk, ihre Vorstellung von den neuen Gemeinschaftsstrukturen.

O-Ton6: Tuzowkis am Baikal-See (1,25) (…Nu, ja wo perwije skaschu…)

Regie: O.Ton kurz stehen lassen, langsam abblenden (ggflls. bei Wellenschlag am Schluss hochziehen und ausblenden.)

Übersetzer: „Nun, das allererste ist, das sie verschieden voneinander sind. Und dass die Initiative von unten kommen muss. Da ist ja immer noch der alte Parteiapparat. Etwas Neues ist allerdings schon möglich: Klubs müssen sich bilden, Jugendgruppen, öffentliche Vereinigungen: kulturelle, interessengeleitete, solche für die Vermittlung von Wissen, auch zu wirtschaftlichen Zwecken, eben ganz und gar verschiedene. Diese Vereinigungen müssen sich beständig miteinander integrieren, so etwas wie eine Bewegung bilden, die auf einem höheren Niveau die Arbeit koordiniert. Kulturrevolutionär könnte man das nennen, vergleichbar der Entwicklung im Westen seit Mitte der Sechziger Jahre. Aber das ist ja auch schon fast wieder ein Schema: Das Leben selbst wird es hervorbringen. Alles wird spontan kommen, denke ich. Auf Politiker darf man nicht bauen. Direktiven darf es nicht geben. Soll sich doch alles entwickeln! Wie es kommt, so wird es kommen!“

Erzähler: Aber auch für Sergei und seine Freunde ist klar: Allein ist das Leben nicht zu meistern – und auch nicht lebenswert. Freundschaft, nicht Geld müsse die Beziehung zwischen den Menschen bestimmen. Welche neuen Formen des Zusammenlebens dieses Ringen hervorbringen wird, ist offen.

* Von Kai Ehlers ist soeben erschienen: „Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten. Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92 Kai Ehlers, D – 20099 Hamburg, Koppel 22 Datum: 18.2.95 Tel: 040/246953 FAX: 040/24 34 23 Kto: 1230/455980 BLZ: 20050550 Abdruck gegen Honorar (Bitte berücksichtigen Sie: Ich bin mehrwertsteuerpflichtig) Mein Zeichen: arbeit/9509müll

„Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich? Kurze Skizze der russischen Obschtschina

Zu Gegenwart und Geschichte der russischen Gemeinschaftsstrukturen.
Erzähler: Seit 1991 wird in Russland privatisiert. Über die                 katastrophalen Folgen für die Wirtschaft kann man in letzter Zeit des Öfteren hören. Aber welche Auswirkungen hat die Privatisierung auf das soziale Leben der Menschen?

take 1:Bäuerin in Sawjala                          (0,49)
(…Schritte, Hund, Strastwuitje…)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, schwach unterlegen, mit Text beenden.

Erzähler: Salawaja. Ein Dorf im Altai, südliches Sibirien.                 Ein Jahr nach Beginn der Privatisierung. Hierhin verschlägt es nur selten Fremde. Wir wollen Milch kaufen. Milch gibt es nicht mehr. Stattdessen nimmt die alte Bäuerin die Gelegenheit wahr, ihr Herz auszuschütten: Ganz allein müsse sie heute zurechtkommen. Ihr Mann ist tot, die Kinder und Enkel leben in der Stadt, die Nachbarn haben mit sich selbst genug zu tun. Viele von ihnen sind ebenfalls alleingebliebene Alte. Auf der Bank draußen vor dem Haus klagt sie die neue Zeit an:

take2: Bäuerin Fortsetzung                            (1,17)     (…widitje, u nas polutschajetsja tak…)

Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, ausblenden.

Übersetzerin: „Bei uns ist es so gekommen, dass jeder nur noch                 für sich selbst lebt: Hast du Maschinen, hast du einen Traktor und alles, dann kannst du leben. Hast du nichts, kannst du sterben. In der Kolchose waren wir alle gleich. Man gab uns unser Stückchen Brot, unser bisschen Geld. Alle haben gearbeitet. Jetzt hat einer die Kühe, die anderen müssen viel Geld für Milch ausgeben. Alles wird gekauft, verkauft; aber das Geld ist nichts wert. So ein System ist jetzt gekommen. Wir gehen direkt auf den großen Krach zu.“

Erzähler:  Nicht nur die Alten auf den Dörfern reden so.                 Ähnliche Töne kann man in den Städten auch von jüngeren Menschen hören. Mit den „Pionieren“ und den „Komsomolzen“, den Organisationen der Parteijugend, ist eine Welt zusammengebrochen, höre ich von Wladimir, einem jungen Radiotechniker aus Tscheboksary an der Wolga. Der siebzehnjährige, arbeitslose Igor nickt dazu. Viele suchen Ersatz in Banden. Dort tragen sie statt der roten Halstücher nun ihre Lederjacken.
Bei einem gemeinsamen Besuch in einem ehemaligen Pionierlager beschreibt Wladimir genauer, worin er den Verlust sieht:

O-Ton 2: Wladimir in Tscheboksary                  (1,40)    (…Nu ja …)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden.

Übersetzer: „Im Vergleich zu früher fehlt heute das, was mit                 dem Wort `Obschtschina‘ ausgedrückt wird.  `Obschtschina‘, das bedeutet etwa: Der Mensch, vor allem der einfache, arbeitende Mensch, sollte Bruder und Freund für den anderen sein, für den Nachbarn, den Kollegen.
Früher haben die Menschen sich miteinander befasst. Sie waren irgendwie miteinander verbunden. Egal wo du warst, es gab immer so eine Art Sanftheit zwischen den Menschen. Mit Fremden konntest du schnell Freundschaft schließen.
Jetzt ist es anders. Jetzt sind die Beziehungen von Egoismus bestimmt, von Vereinzelung. Jeder beschäftigt sich nur mit den eigenen Sorgen. Jetzt setzen sich Menschen mit verschiedenem Charakter, aus verschiedenen Klassen voneinander ab. Das war früher nicht so. Da gab es eine gemeinsame Sprache.
Die Menschen haben sich mehr an das Geld gewöhnt, an materielle Werte. Kalt ist es geworden! Mir gefällt das nicht. Ich bin ein Mensch der Gemeinschaft.“

Erzähler:  Was von der alten Dörflerin ebenso wie den jungen                 Städtern beschworen wird, ist mehr als sowjetische Nostalgie. Es sind die Traditionen der Bauerngemeinschaft, die die russische Geschichte wie die keines anderen Landes der industrialisierten Welt bis heute bestimmt haben. Erst spät rückte diese Besonderheit der russischen Entwicklung ins Bewusstsein der westlichen Gesellschaften: Erste Kunde brachte um 1850 Baron von Haxthausen, ein österreichischer Gesandter am russischen Hofe. Von ihm erfuhr die westliche Welt erstmals, dass in Russland anders als in den übrigen Ländern des christlichen Abendlandes das bäuerliche Gemeineigentum mit regelmäßiger Umverteilung neben der höfischen die bestimmende Eigentumsform im Lande geblieben war. Man nannte sie „obschtschina“, Gemeinschaft, oder „mir“ nach dem Dorfplatz, auf dem die öffentlichen Versammlungen abgehalten wurden.
Der deutsche Graf Moltke schrieb wenige Jahre später in widerwilliger Faszination:

Zitator: „Innerhalb der Gemeinde gibt es nur Nutznießer.                 Es existiert demnach für Grund und Boden kein Erbrecht. Der Sohn erbt nicht den Acker seines Vaters. Er erhält seinen Anteil nicht kraft des Erbrechtes, sondern kraft seiner Geburt als Gemeindemitglied. Jeder Russe ist irgendwo  ansässig und es gibt keinen Pöbel, kein Proletariat. Niemand ist ganz arm. Ein Vater kann alles durchbringen, die Kinder erben seine Armut nicht. Die Vermehrung der Familie, bei uns ein Gegenstand der Sorge, ist in Russland ein Zuwachs an Reichtum. Alles drängt zur frühzeitigen Heirat. Der Einzug selbst der mittellosesten Schwiegertochter ist ein Freudenfest der Familie. Sie bringt arbeitende Hände mit und für ihre Söhne werden schon bei der Geburt die Ackerparzellen dazugelegt.
Andererseits leuchtet freilich ein, dass bei dieser Einrichtung der Ackerbau nie auf eine Stufe der Vervollkommnung gelangen kann. Wer wollte Meliorationen machen. Bäume pflanzen, Drainierungen anlegen auf einem Grundstück, welches nach fünfzehn Jahren vielleicht einem anderen gehört?“

Erzähler: Reformern aller Zeiten und aller Länder waren die Dorfgemeinde aus dem zuletzt von Moltke genannten Gründen immer ein Dorn im Auge. Aber während sie in Mittel- und Westeuropa schon frühzeitig zerschlage wurde, hat sie in Russland nicht nur alle derartigen Versuche überlebt, sondern selbst die Gesellschaft nach ihrem Bild geformt.
Für den frühen russischen Zarismus war die „Obschtschina“ die einzige wirklich funktionierende und die bequemste Verwaltungseinheit in den ansonsten unüberschaubaren Weiten des Landes.
Noch in der von Alexander I. angeordneten Bauernbefreiung des Jahres 1861 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen darauf verzichtet, die „Obschtschina“ aufzulösen. Folge: Die Bauern verwandelten sich nicht in freie Lohnarbeiter wie beabsichtigt. Die Industrialisierung stockte.
Herzstück des nächsten großen Industrialisierungsschubs war der 1910 unter dem Zarenminister Stolypin herausgebende Ukas zur Ent-Kollektivierung der Bauern. Er wollte die Dorfgemeinschaften in wenige reiche Kulaken und eine Mehrheit landloser Tagelöhner, bzw. in die Städte ziehender Arbeiter spalten. Aufstände der Dorfarmen, sehr bald dann der Beginn des ersten Weltkrieges beendeten dieses Experiment.
Mit der bolschewistischen Revolution wurde die Ordnung der Bauerngemeinde zunächst als „Kol-Chose“, das bedeutet Kollektivwirtschaft, dann als „Sow-chose“, das ist die staatlich gelenkte „Kol-chose“, zur Grundorganisation des Staates erhoben.
Seine letzte, paradoxe Ausformung erhielt die Entwicklung in der großen Industrialisierungs-Kampagne, die Stalin 1929 einleitete. Sie zielte auf die Zerstörung der nach der Revolution wieder erstarkten dörflichen Selbstverwaltung. Stalin wollte die Bauern endgültig proletarisieren. Die mit der Kampagne einhergehende Zwangskollektivierung erneuerte aber zugleich die „obschtschina“. Der einzige Unterschied zu vorher bestand darin, dass sie nun unter staatliche Führung kam.

Ergebnis dieser ganzen Entwicklung ist ein „Wir“-Gefühl in der russischen Bevölkerung, das der sibirische Dichter-Patriot Stanislav Kitaiski so zu erklären versucht:

O-Ton4: Stanislav Kitaiski                            (1,25)     … Russki Tschelowek…

Regie: Ton kurz stehen lassen, dann abblenden

Übersetzer: „Der russische Mensch hat das Christentum als eine Religion der allgemeinen Gemeinschaftlichkeit so leicht angenommen, weil er von Natur aus ein Gemeinschafts-Mensch ist.
Heute ist viel davon die Rede, dass die Persönlichkeit zuerst komme. Aber für den russischen Menschen hat das Interesse am Vaterland, am Volk immer höher gestanden als sein eigenes.
Und warum konnte der russische Mensch derart auf diese idiotische Kollektivierung reinfallen? Weil dieser Kollektivismus irgendwie schon angelegt war! Mehr als 80% der russischen Bevölkerung lebten vor der Revolution auf dem Dorf. Das hieß: kollektive Nutzung des Bodens. Das hieß: kollektive Erziehung der Kinder. Ich bin selbst auf dem Dorf aufgewachsen. In meiner ganzen Kindheit gab es keine fremden Kinder. Das waren alles unsere eigenen.
Das heißt, wenn sich da einer nicht richtig betragen hat, dann konnte ich ihn ruhig bestrafen; ich konnte ihm auch helfen, ich konnte ihn kleiden, ich konnte ihn in die Familie aufnehmen. Verstehen Sie? Da ist keine Fremdheit, sondern Gemeinsamkeit. Sogar die Kinder waren irgendwie gemeinsam. Auch wenn es die Kinder eines anderen waren und wir gar nicht verwandt waren. Das heißt, diese Gemeinschaftlichkeit machte die Menschen offen und ehrlich.“
Erzähler: Heute erlebt Russland einen erneuten Anlauf, die                 alten Strukturen zu zerschlagen. Diesmal unter dem Schlagwort der Überwindung des Sowjetismus. Stanislav Kitaiski sieht darin einen Versuch, der das Volk nur ratlos zurücklassen könne:

O-Ton5: Kitaiski, Forts.                             (0,35=     (… Jest takaja Dilemma)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann ausblenden.

Übersetzer: „Heute haben wir das Dilemma: Der Mensch ist                 Kollektivist – und will doch Herr im eigenen Haus sein. Bezüglich des Herrn im Hause wäre ich einverstanden. Aber interessant ist doch, dass jetzt, da unsere Regierung mit Gewalt diesen Kollektivismus zerstören will, das Volk Widerstand leistet. Es will nicht.“

Erzähler:  Diese Worte fielen bereits im Sommer 1992.                 Inzwischen ist die Krise der kollektiven Landwirtschaft offenbar. Die Privatbauern vegetieren am Rande der Existenz. Im industriellen Bereich ist es nicht anders: Die Privatisierung hat zu einer Differenzierung der Bevölkerung in 10% „neue Reiche“ und eine Mehrheit geführt, die zunehmend verelenden.
Für Aufgaben wie Straßenbau, Strom- und Wasserversorgung, Bau und Unterhalt von Schulen, Kindergärten, für Einrichtungen der Bildung und der Kultur bis hin zur Zahlung von Zusatzpensionen fehlt das Geld. Früher wurde das alles von der Gemeinschaft der Sowchosen, Kolchosen oder Betriebe für eine Gruppe von Dörfern oder eine ganze Stadt getragen. Jetzt kümmert sich niemand darum.
Unter diesen Umständen ist das diffuse Unwohlsein zu einem breiten oppositionellen Strom geworden. Inzwischen werben Gruppen wie eine „Partei der russischen Ethik“ für die Rückkehr zur „nationalen Moral“. Gemeint ist das „Prinzip Obschtschina“. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, die das Land vor dem Ausverkauf an den Westen retten könnten.
Aufrufe zu einem „Aufbau einer Bewegung der Obschtschina in Europa, eine westeuropäische Reformation“, füllen die Seiten der patriotischen Presse. Der Chef der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“, Schuganow erklärte jüngst die „Psychologie der Obschtschina“, die er „kollektivistisch, ökumenisch, korporativ und ewig erprobt“ nennt, zur Grundlage oppositioneller Reformpolitik, wenn es nicht zur Katastrophe kommen solle.

Nicht alle wollen freilich zurück in die traditionellen Formen des Kollektivismus. Vor allem unter jüngeren Intellektuellen bilden sich sogenannte „Tuzowkas“, lockere Interessengruppen, in denen von einer anderen Bewältigung der Tradition geträumt wird. Am Ufer das Baikal in Irkutsk erläutern Oleg und Sergei, Studenten aus Irkutsk, ihre Vorstellung von den neuen Gemeinschaftsstrukturen.

O-Ton6: Tuzowkis am Baikal-See                        (1,25)                      (…Nu, ja wo perwije skaschu…)

Regie: O.Ton kurz stehen lassen, langsam abblenden (ggflls. bei Wellenschlag am Schluss hochziehen und ausblenden.)

Übersetzer: „Nun, das allererste ist, das sie verschieden voneinander sind. Und dass die Initiative von unten kommen muss. Da ist ja immer noch der alte Parteiapparat. Etwas Neues ist allerdings schon möglich: Klubs müssen sich bilden, Jugendgruppen, öffentliche Vereinigungen: kulturelle, interessengeleitete, solche für die Vermittlung von Wissen, auch zu wirtschaftlichen Zwecken, eben ganz und gar verschiedene. Diese Vereinigungen müssen sich beständig miteinander integrieren, so etwas wie eine Bewegung bilden, die auf einem höheren Niveau die Arbeit koordiniert. Kulturrevolutionär könnte man das nennen, vergleichbar der Entwicklung im Westen seit Mitte der Sechziger Jahre. Aber das ist ja auch schon fast wieder ein Schema: Das Leben selbst wird es hervorbringen. Alles wird spontan kommen, denke ich. Auf Politiker darf man nicht bauen. Direktiven darf es nicht geben. Soll sich doch alles entwickeln! Wie es kommt, so wird es kommen!“

Erzähler: Aber auch für Sergei und seine Freunde ist klar: Allein ist das Leben nicht zu meistern – und auch nicht lebenswert. Freundschaft, nicht Geld müsse die Beziehung zwischen den Menschen bestimmen. Welche neuen Formen des Zusammenlebens dieses Ringen hervorbringen wird, ist offen.

*

Von Kai Ehlers ist soeben erschienen:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.
Verlagsadresse: Schmetterling Verlag, Rotebühlstr. 90, 70178 Stuttgart, Tel: 0711/62 67 79, Fax: 0711/62 69 92

Russlands künstliche Blüte

Atmo 1: Musik:“stranger in the night..“ (1,45)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler: St. Petersburg, Herbst 94. Kultur für ausländische Gäste. Russland präsentiert sich neu: Restaurants, Cafes, gefüllte Schaufenster, kleine Boutiquen, auffallend viele elegant gekleidete Menschen, vor allem jüngere; blinkende neue Autos. Ein Bekannter erzählt mir, in der Anlage-Gesellschaft mit dem unübersetzbaren Namen „MMM“ könne man innerhalb weniger Wochen seinen Einsatz verhundertfachen, ja, er wisse sogar von Fällen, in denen das innerhalb von Tagen geschehen sei. Ein plötzlicher Aufschwung, scheint es, hat das Land erfasst. Hat sich die Entwicklung normalisiert? Die Ansichten sind geteilt:

Zitat 1: Georgi, Bildhauer (1,17)                 (Ja ne mogu skasats…  … Mjebel is Itali“)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Ich würde nicht sagen, normalisiert, aber Mitte                 Februar tauchten plötzlich eine Menge Geschäfte auf, Cafes, Restaurants. In den Geschäften gab es nicht nur Lebensmittel, sondern auch Kleidung, technische Geräte. Und das in reicher Auswahl. Seit März siehst du besser gekleidete Leute. Außerdem haben sich die Läden inzwischen differenziert. Es gibt kleine Läden, wo du alles Mögliche kriegst und Spezialgeschäfte für Make up aus Frankreich, Kleidung aus Deutschland, Möbel aus Italien.“ (… Mjebel is Itali“)
Erzähler: Georgien, mein Gastgeber, Bildhauer, an einfaches und schwieriges Leben gewöhnt, ist ganz angetan von dieser Entwicklung:

Zitat 2: Goeorgi, Forts. (0,45) (Natschinajetsja kakaja…     (… situati kladewitsja)

Regie: O-Ton kurz anfahren, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, ausblenden

Übersetzer: „Es beginnt eine Art Gewöhnung an die neuen Bedingungen, unter denen der Erfolg, der finanzielle, wirtschaftliche, nicht mehr von Oben abhängt, sondern von deiner eigenen Initiative: also, wo du einen Auftrag findest, ob über Bekannte oder durch Zufall, aber du musst ihn selbst finden! Wenn du eine geschickte Hand, wenn du einen Kopf hast, vielleicht eine Fremdsprache gut beherrschst oder ähnliches, dann kannst du zusätzliche Arbeit finden. Das verschafft dir auch zusätzliches Einkommen. Es ist sehr hoch im Verhältnis zum normalen Lohn. In dieser Art kommt die gegenwärtige Situation zustande.“ (… situati kladewitsja)

Erzähler: Allerdings gibt es auch Schattenseite aus Georgiens Sicht:

Zitat 3: Georgi, Forts. (0,13)     (Tschas u nas god…     ( … dwatzat pjat ras minimum)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Jetzt ist ein Jahr bei uns wie früher zwanzig oder fünfundzwanzig zur Zeit Breschnjews. Das heißt, das Tempo des Lebens hat sich mindestens um das Fünfundgzwangzigfache gesteigert.“
( … dwatzat pjat ras minimum)

Erzähler: Irina, Bibliothekarin, unverheiratet versucht die                 Entwicklung auch positiv zu sehen. Zwar reiche ihr Lohn immer noch nicht für größere Anschaffungen wie Fernseher und dergleichen, aber zusammen mit der Pension ihres Vaters doch für das, was sie beide zum täglichen Leben brauchten.
Zitat 4: Irina, Bibliothekarin (0,28)     (Mnje kaschetsja, schto eta s odnoi…      … othschen i otschen mnogim)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Mir scheint, einerseits ist es offensichtlich, dass das Leben besser wird. In den Geschäften tauchen Waren auf, von denen wir früher nicht einmal geträumt haben. Aber erstens sind das alles ausländische Waren. Das ist nicht unsere heimische Produktion. Und vor allem sind da natürlich die ungeheuren Preise, die den Beutel der Meisten übersteigen.“ (…othschen i otschen mnogim)

Erzähler  Alles hänge inzwischen von einem selbst ab. Das sei wahr. Vorausgesetzt, man sei gesund und jung, gebe das eine Freiheit, die man früher nicht gekannt habe:

Zitat 5: Irina, Forts. (0,59)     (A wi schto kassajetsja…          … kak ludi kassilis)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem ersten Erzähler (1) hochziehen
Übersetzerin:  „Aber ältere Menschen und Kinder – die tun mir natürlich unheimlich leid. Die Alten haben sowieso so ein schweres Leben. Sie haben den Krieg erlebt, haben ihre Gesundheit verloren und haben schon in der sowjetischen Zeit äußerst armselig gelebt. Die haben nie eine Banane gesehen oder gegessen. Schlimm, dass ausgerechnet sie heute übrigbleiben, niemandem nutze und schlimm, dass sie nur existieren können, wenn sie leibliche Kinder haben, die auch noch soweit moralisch in Ordnung sind, dass sie sich um sie kümmern und sie nicht einfach sitzenlassen, wie es jetzt häufig geschieht. Es gibt so schrecklich viele Einsame! Unglückliche. Das macht die allgemeine moralische Degradation. Sie ist ohne Beispiel! Und was die minderjährigen Kinder betrifft, so ist die Lage einfach so, dass wir inzwischen ein sterbendes Volk sind, denn heute ein Kind zu ernähren und aufzuziehen, ist unheimlich schwer.“

Erzähler:(1)Zum Beleg zitiert Irina eine von Alexander Solschenyzin tags zuvor im Fernsehen angeführte Statistik, worauf in Russland zurzeit auf tausend Lebende nur acht Geburten kämen. Beim Tod ihrer Mutter im Jahr zuvor habe sie selbst die unverstellbare Überlastung der Friedhöfe erlebt. Im örtlichen Radio habe sie im April des Jahres zudem eine Sendung gehört, dass im Jahre 93 mehr Menschen in St. Petersburg gestorben seien als zur Zeit der Blockade. „Einfach katastrophal“, wie die Menschen heute dahingerafft würden.
(… kak ludi kassilis)

Erzähler: Einen Schock versetzt mir ein Besuch im Büro von  „Solidarnost“. Das ist die Zeitung der „Föderation der unabhängigen neuen Gewerkschaften“. Eine junge Frau, Helena Rudnikowa, St. Petersburger Korrespondentin des Blattes, beantwortet meine Frage nach den Ergebnissen der bisherigen Reformen und insbesondere der Privatisierung unvermutet aggressiv:

Zitat 6: Helena, Korrespondentin (0,07)                 (Nu, wo pervich u nas…)     … mnogo tschewo budit)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Nun, erstens heißt es bei uns schon mal so: `Auf jede Privatisierung kommt eine Nationalisierung!'“ Also, da kommt noch einiges auf uns zu. (… mnogo tschewo budit)

Erzähler: Und zum zweiten. Was ich denn erwarte? Dieb bleibe Dieb! Niemals könne so einer die Produktion entwickeln, der könne nur stehlen. Sergei Kurgenjan, „unser Analytiker“, wie sie sich ausdrückt, habe die Zeit seit 1991 richtig als „Ball der Diebe“, als „kriminellen Karneval“ bezeichnet. Kurgenjan ist in Russland als rechter Theoretiker berüchtigt, der für eine korporativ-faschistische Lösung nach Vorbild Mussolinis eintritt. Als ich nachfrage, was sie von dessen Thesen halte, erklärt sie statt einer Antwort darauf, sie sei Mitglied des Widerstands. Resistence, übersetzt sie, damit ich auch ja recht verstehe. Bisher seien sie allerdings ohne Waffen.
Zitat 7: Helena, Korrespondentin (0,25)                 (Eta lud, katorie…     … nje bolsche, nje mensche)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen, wegblenden (reißt ab)

Übersetzerin:  „Das sind Leute, die glauben, dass sich an der Regierung gegenwärtig Okkupanten befinden, die gegen Russland agieren. Es gibt zwei Welten, zwei Zivilisationen: der Westen und Russland. Den Osten lassen wir mal beiseite. Die haben ihre eigene Sache laufen. Sagen wir so: Die westliche Welt, allgemein gesprochen, versucht uns zu okkupieren, nicht mehr und nicht weniger.“ (… nje bolsche, nje mensche)
Erzähler: Juri Swasin, ebenfalls Korrespondent bei „Solidarnost“, von Beruf ursprünglich Lehrer, hilft uns aus der Verlegenheit, indem er erklärt, Gewerkschaften in Russland seien heute pluralistisch. Im Übrigen gebe es heute in der Tat nur zwei Lager: für oder gegen die Regierung, was soviel bedeute wie für oder gegen den weiteren Ausverkauf des Landes. Nichts anderes sei ja durch die Gaidarschen Reformen geschehen und setze sich auch jetzt fort, nur unter langsameren Vorzeichen.

Zitat 8: Juri Swagin, Korrespondent (0,48)
(Wosnamnom ludi… …  rasruschetsja)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:     „Im wesentlichen ist es so, dass Leute, die Geld haben, Aktiengesellschaften oder andere Anlagefirmen gründen, um von denen, die wenig Geld haben, die Aktien aufzukaufen und so mehr Geld zu machen. Kaum eine der großen Kampagnen setzt ihr Geld in der Industrie ein. In der Folge fällt die Produktion in sich zusammen.“
(…  rasruschetsja)

Erzähler: Praktisch sei die Produktion in den letzten zwei Jahren liquidiert worden. Die Zahl der Betriebe, die nur mit Pausen arbeiteten, die halbe Schichten führen oder zwar den Betrieb aufrechterhielten, aber nichts produzierten, nehme mit jedem Tag zu. Die wenigen neuen Betriebe würden von der Steuerlast, von nicht vorhandenen Marktverbindungen und von der Mafia niedergedrückt. Wenn sie schließlich produzierten, dann so teuer, dass sie auf ihren Waren sitzen blieben und gegen die Konkurrenz aus dem Westen hoffnungslos im Hintertreffen seien. Draußen im Lande sei es noch schlimmer.

Zitat 9: Juri Swagin, Forts. (0,28) (Poetamu mi imeem tschista…     … dolga paduit moschno, Gemurmel, Lachen)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:   „Deshalb haben wir jetzt nicht nur einen Niedergang der Wirtschaft, sondern einen richtigen Erdrutsch.“ (… paduit moschno, Gemurmel, Lachen)

Erzähler: Die zweite Phase der Privatisierung, die jetzt eingeleitet worden sei, könne den Fall noch beschleunigen, wenn das wirklich durchgeführt werde, was angekündigt worden sei, nämlich die Schließung unrentabler Firmen. Das werde zu einer massenhaften Arbeitslosigkeit führen. Aber über Alternativen nachzudenken, sei zurzeit sinnlos. Russland sei ja ein großes Land, das lange fallen könne und in dem außerdem immer alles anders komme als irgendwelche intellektuellen Planerzirkel und auch westliche Journalisten sich das ausdenken könnten:

Zitat 10: Jzuri Swagin, Forts. (0,16) (Ja w etom smislom…     … mi ejo uvidim.)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:    „Ich bin in dieser Hinsicht Fatalist und Nachtrabpolitiker. Ich glaube, dass die Situation selbst ihren Ausweg hervorbringt und dass das Volk am Ende seinen eigenen Weg findet. Dann werden wir ihn schon sehen.“ (… mi ejo uvidim.)

Erzähler: Immerhin war Juri jedoch bereit, mir bei einem genaueren Blick auf die Realität behilflich zu sein: In der Sowchose Fjodorowna, die als erste im Gebiet St. Petersburgs in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, will er mir die Ergebnisse der Privatisierung vorführen.
Der Direktor, erfahre ich unterwegs, ist soeben von der Belegschaft fortgejagt worden. Er hat sich im Zuge der Umwandlungen maßlos bereichert, indem er Erzeugnisse, die die Sowchose auf dem unentwickelten Markt nicht mehr loswurde, über eigene alte Kanäle verschob. Die Sowchose hat er dabei in den Ruin getrieben. Unter einem neuen Direktor soll der Weg zum Markt nun fortgesetzt werden. Aber der Elan der ersten Stunde ist dahin. Was habe die Privatisierung denn schon gebracht?

Zitat 11: Dreher in der Sowchose Fjodorowka (0,12) (Nitschewo… … Mafia)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Nichts, absolut nichts! Nur Verschlechterungen. Es privatisieren ja nur die da oben. – Mafia!“ (… Mafia)

Erzähler: Und Boris Jelzins Versprechen, ein Volk der Eigentümer werde durch die Privatisierung entstehen sei doch nur ein Witz:

Zitat 12: Dreher, Forts. (0,19)                 (Sowchos kak bil…     … i swjo)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen

Übersetzer: „Die Sowchose ist wie sie war, nur jetzt eine AG. Alles so, wie es war, nur schlechter geworden. Die materiell-technische Basis ist hin. Die Sowchose ist nahezu auseinander gebrochen. Hält sich nur durch den Enthusiasmus der Arbeiter. Und das war’s!“ (… i swjo)

Erzähler: Sein Leben habe sich nur verschlechtert, klagt ein anderer Kollege. Und was noch komme, das wisse niemand. Er habe sein Vertrauen in die Oben verloren. Bisher sei er gegen Schirinowski gewesen, aber allmählich komme er zu der Überzeugung, dass so ein Mann hermüsse. Warum er so denke?

Zitat 13: zweiter Dreher (0,15) (Ja wam skaschu…     … wot eta mnje nrawitsja)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen

Übersetzer: Das will ich Ihnen sagen: Er spricht im Klartext aus, was mit der Regierung nicht stimmt, dass es Disziplin geben muss, dass jeder für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird. Das gefällt mir an ihm.“ (… wot eta mnje nrawitsja)

Erzähler:  Was sich hinter den Worten Swagins vom Erdrutsch der Produktion verbirgt, macht uns Alexander Kolatschkow deutlich. Alexander ist Dreher im Kirow-Werk, mit mehr als 30.000 Beschäftigten einer der Giganten des heute auf zivile Produktion verpflichteten ehemaligen St. Petersburger militärisch-industriellen-Komplexes. Seit Gründung des ständigen Streikommitees des Werkes im Frühjahr 1994 ist Alexander auch dessen Mitglied:

Zitat 14: Alexander Kolatschow, Arbeiter des Kirow-Werkes (0,45)
(Da, ja is perwowo…     … tschetirie tisatschi Rublej)

Regie:  O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:    „Seit dem ersten Juni befinden wir uns im kollektiven Urlaub. Im Juli gab’s dann mal Arbeit. Danach wurden wir wieder in den Zwangsurlaub geschickt. Für jeden Arbeitstag bekommen wir 1000 Rubel Unterstützung. Das macht 24.000 Rubel im Monat.“ (… tschetirie tisatschi Rublej)

Erzähler:  Bei Alexander versteht man auch besser, was es mit den „zusätzlichen Arbeiten“ auf sich hat, von denen Georgi spricht. Auf die Frage, wie er von 24.000 monatlicher Kompensation mit seiner Familie leben könne, seufzt der junge Mann:

Zitat 15: Kirow Arbeiter, Forts. (0,48) (Atem einziehen, Ah, mi…     …kakimto obrasim krutitsja)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Also, wir Russen sind so ein Volk, das zufrieden ist mit Nichts und Wenig. 24.000, das reicht ja gerade, um zwei Laibe Brot am Tag zu kaufen. So muss man also irgendwelche „linken“ Arbeiten finden, obwohl auch das sehr schwierig ist. Es gibt bei uns ganze Brigaden, die etwas gefunden haben, mit wöchentlichem Lohn. Das sind sehr gute Bedingungen. Aber die Masse der, sagen wir, Zugereisten weicht auf das Land aus. Davon existieren sie. Und die, die hierbleiben, müssen ganz schön rotieren.“ (…kakimto obrasim krutitsja)
Erzähler: Seit drei Jahren gehe das nun schon. Nach Gesetzen der Ökonomie müsse das Werk schon lange pleite sein. Praktisch werde es aber aus irgendwelchen schwarzen Kassen erhalten, außerdem würden Liegenschaften an Banken, Gesellschaften, an ausländische Kapitalgeber und sonst wen verpachtet. Von all dem Geld sähen die Arbeiter jedoch nichts. Das gehe alles in die Verwaltung. Alexander nennt die Forderungen des Streikkomitees: Wiederherstellung der Staatskontrolle über die großen Betriebe, Subventionierung durch staatliche Auftragsvergabe. Bürgermeister St. Petersburgs, Anatoli Sobschtschak habe Hilfe versprochen, ebenso wie Viktor Tschernomyrdin, den das Streikkomitee zusammen mit Vertretern anderer Betriebe in Moskau aufgesucht habe. Geschehen sei nichts:

Zitat 16: Kirow Arbeiter, Forts. (0,40) (Ja ponjal tak …     … na etom projed listom)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Ich verstehe das so: Auf Worte hört die Regierung gegenwärtig nicht! Es gibt massenweise Forderungen von überall aus dem Land. Aber die anstehenden Fragen werden nicht entschieden. Damit darf man sich nicht abfinden! Dann muss man eben auf eine allgemeinere Ebene kommen, um Russland vor dem Untergang zu bewahren: Rücktritt der Regierung. Und alle Kräfte sammeln, die in diese Richtung orientieren.“ (… na etom projed listom)

Atmo 2: Maschinen und Kettengeräusche (0,43)

Regie: Verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Ein paar tausend Kilometer tiefer im Land: Borodino im südsibirischen Kohlebecken. Größter Tageabbau der russischen Föderation. 25.000 Einwohner hat die Stadt, die davon lebt. Aber der Lärm täuscht: Hier werden nur Aufräumarbeiten gemacht. Viktor Kofienko, stellvertretender Direktor, zeigt mir die Grube. Als Russe deutscher Abstammung lässt er sich nicht nehmen, seine Erläuterungen auf Deutsch zu geben:

Zitat 17:Tagebau (0,53 = Echtzeit des gesamten O-Tons) (Fahrgeräusche, „Das ist unnormal…     … Nje!, Fahrgeräusche)

Regie: O-Ton verblenden, ohne Übersetzung stehenlassen bis zum Ende, verblenden (das Folgende ist eine Widergabe des O-Tons)

Kofienko: „Das ist unnormal. Alles steht hier. Alles steht.“
Autor: „Wie lange ist das jetzt schon so?“
Kofienko: „Das zweite Jahr ist es so. Bis drei Monate kriegen die Leute ihr Geld nicht Milliarden Rubel fehlen jetzt. Die Kohle ist schon raus  aus dem Tagebau, der Ras-Res, das ist schon verbrannt. Aber das Geld haben sie nicht        abgegeben. Sie haben kein Geld.“
Autor:     „Moskau bezahlt einfach nicht?“   Kofienko: „Nje!“  (… Nje!, Fahrgeräusche)

Erzähler; Mit den übrigen Kunden sei es nicht anders:

Zitat 18: Fortsetzung Kofienko im Tagebau (0,40)   (Fahrgeräusche, „Der Transport können…
…jetzt die Situation, Fahrgeräusche)

Regie: O-Ton verblenden, ohne Übersetzung stehenlassen bis zum Ende, abblenden (das Folgende ist eine Widergabe des O-Tons)

Kofienko: „Den Transport können sie nicht bezahlen, für die Kohle können sie nicht bezahlen. Sie hat kein Geld. Das kann ich gar nicht verstehen, was da passiert ist. Wo ist das Geld? Autor:  „Ja, wo ist das Geld. Ich habe zum Beispiel gesehen: `MMM'“. Kofienko: „Ja, MMM hat Geld.  So viel wie sie wollen.“ Autor: „Aber es wird nicht angelegt“. Kofienko: „Ich denke so der Schweiz oder so. Die             Kommerzfirmen machen es alle so: fahren das  Geld raus aus dem Land. Da kaufen sie die Dollars, fahren sie aus dem Land. Und die                   Leute sitzen, können sie nicht kaufen. Das Geld ist verdient. Sie können es nicht kriegen.“ Autor: „Und was ist mit den anderen Fabriken, die hier im Gebiet von der Kohlegewinnung abhängig snd? Stehen die auch still?“ Kofienko: „Ja, alles steht, fast alles. Und die, die nicht stehen, arbeiten ohne Geld.“ Autor:  „Und jeden Tag erscheinen neue 10.000 Rubel-Noten. Wenn ich das richtig verstehe, dann ist es so, dass die Produktion steht und verfällt, aber Geld gedruckt wird?“ Kofienko:  „Ja, das Geld kommt nicht zu uns. Das Geld ist alles in Moskau. Jeden Tag gibt es Prozente, Prozente und sie fahren alles raus. Alles aus  dem Land. So ist jetzt die Situation.“ (…jetzt die Situation, Fahrgeräusche)

Erzähler: Bei ihm zu Haus, bei einem Tee, setzt er seine Eläuterungen fort, diesmal auf Russisch:

Zitat19:Tagebau-Direktor, zu hause (0,50) (U nas paradoxalnaja situatia…        … mi ne moschem pradats)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Wir haben eine paradoxe Situation: Unsere Kohle ist die billigste in Russland, das bedeutet, die billigste in der Welt. Wir haben unglaublich einfache Abbaubedingungen. Aber heute sind die Tarife der Eisenbahnen derart hoch, dass wir unsere Kunden in Wladiwostok, in der Ukraine, in der Slowakei usw. nicht beliefern können. So ergibt sich die Situation, dass die billigste Kohle der Welt nicht verkauft werden kann.“ … mi ne moschem pradats)

Erzähler: Kofienko kritisiert die Politik der Regierung: Überall auf der Welt werde der Kohlbergbau staatlich unterstützt. In Russland würden dagegen immer höhere Steuern erhoben und die Preise für Verkehr, Gas, Strom usw. ins Gigantische getrieben. Mehr noch, nach der Privatisierung halte „Moskau“ jetzt die Aktienmehrheit in Borodino und benutze den Betrieb zur Schuldentilgung im Ausland. Die Grube müsse fast kostenlos liefern, zum Beispiel nach Ungarn. So komme es, dass der rentabelste Tagebau Russlands heute praktisch nur Schulden einfahre.
Die Frage, wie es unter diesen Umständen zu erklären sei, dass auch an Borodino der neue Reichtum nicht vorübergegangen sei, insbesondere dass an allen Ecken und Enden gebaut werde, vor allem kleine Einfamilienhäuser, antwortet Kofienko:

Zitat 20: Kofienko zuhause (0,50) (Eta jeschtscho odin…     … ni kamu nje iswestna)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, am Schluss des Übersetzers hochziehen
Übersetzer: „Das ist auch wieder so etwas, was bei uns in Russland ebenso wie im Westen niemand verstehen kann. Die Situation ist so: Früher hatten wir Geld, normales Geld, mit dem man normal bezahlen konnte. Es gab nie ernsthafte Probleme mit den Grubenarbeitern. Jetzt, wo es keine Ausrüstung gibt, praktisch keine Aufträge, keinen Lohn, kommen sie natürlich zu uns. Aber außer Kohle können wir ihnen nichts geben. Wir haben jetzt in Russland überhaupt so eine Erscheinung, nennen wir es Feudalismus, ich meine die Auszahlung des Verdienstes in Naturalwerten: Da wir den Lohn nicht zahlen können, verpflichten wir unsere Schuldner, in Naturalien zu liefern: etwa die Zementfabrik, die Ölraffinerie, das Sägewerk, auch die Lebensmittelwerke. Das betrifft Betriebe hier aus dem Kreis, aber auch aus anderen Regionen und sogar aus dem Ausland. Sie verstehen. Das Material geben wir an unsere Belegschaft weiter. Das ist eine Art von Wirtschaft, von der keiner weiß, was das ist.“ (… ni kamu nje iswestna)

Erzähler:  Nach einer Alternative befragt, ist er ratlos. Vielleicht Helmut Kohl ins Land holen oder Margaret Thatcher? versucht er zu scherzen. Dann wird er ernst:

Zitat 21: Kofienko, Ende  (1,23) (Nje predstawlaju…     … Tschernobl)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, Am Schluss des Übersetzers hochziehen

Übersetzer: „Ich habe keine Vorstellung davon. Ich weiß nur eine Antwort: Man muss arbeiten. Bei uns will ja heut niemand arbeiten. Alle wollen Dividende. alle wollen Profit, wollen handeln. Heute findest du keinen Arbeiter für die Produktion, die Werkbank, die Fabrik. Sie verhalten sich alle wie die Kinder, die „Snikers“ haben wollen: kaufen, verkaufen, nichts investieren, aber Prozente kassieren. Das versteht man bei uns heute als den Weg unserer Entwicklung. Die Produktion krepiert dabei einfach. Wenn die Regierung keine Entscheidungen trifft, wird Borodino streben. Wenn Bododino stirbt, dann friert auch Krasnojarsk ein und gleich nebenan Krasnojarsk 45 mit seiner geheimen Produktion, die etwas noch Schlimmeres als ein neues Tschernobyl hervorbringen könnte.“ (… Tschernobl)

Erzähler: Noch härter als Borodino hat es das auch im Krasnojarsker Gebiet gelegene Tscharypowa getroffen. Die Stadt wurde erst Anfang der achtziger aus dem Boden gestampft. Sie sollte der Mittelpunkt eines Jahrhundertprojekts werden. Geplant war der Ausbau des Krasnojarsker Gebiets zum  Wärme-Kraftwerk-Zentrum, das nicht nur Russland, sondern Europa und Asien versorgen könnte. Von den zehn geplanten Einheiten wurde allerdings nur eine gebaut und davon auch nur ein Block. Selbst der muss im Sommer abgeschaltet bleiben, da seine Betriebskosten aus dem Bedarf der umliegenden Städte und industriellen Abnehmer nicht gedeckt werden können. Für Tscharypowa gilt dasselbe wie für Borodino; hier ist nur alles noch viel krasser: In den Läden Westwaren, am Stadtrand Baustellen für Einfamilienhäuser, aber die auf breiter Fläche begonnene fieberhafte Neubautätigkeit der Pionierzeit ist über Nacht erstarrt. Hier werden der Eiseshauch und die tiefe Ratlosigkeit spürbar, die sich trotz allen Geredes von Intensivierung und Modernisierung über das Land gelegt haben. Konstantin Smol, Veteran der Gewerkschaft und ehemaliger Direktor der Arbeitsverwaltung des geplanten Giganten, kann sich nur noch in ätzenden Spott retten, wenn er an die Parole „Intensivierung statt Tonnenideologie“ aus den Anfängen der Perestroika zurückdenkt:

Zitat 22: Gewerkschaftssekretär in Tscharypowa (0,58) (Nu, sobstweni gawerja…     … ismenilos is sa eto period, Lachen)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Zitat kurz hochziehen mit folgendem O-Ton verblenden

Übersetzer:    „Nun, klar, geredet hat man darüber. Einen Plan zur Intensivierung gab es. Aber da scheint es Probleme gegeben zu haben: es war wohl einfacher, die Preise zu erhöhen, als die Produktion umzustellen. Ryschkow war auf dem richtigen Weg: Schritt für Schritt, evolutionär. Das wären neue Methoden gewesen. Ein Unglück, dass er nicht geblieben ist. Er war ein heller Kopf. So sind wir den alten Weg gegangen, genau wie 1917 und werden ihn weiter so gehen, nur mit anderen Vorzeichen: Damals sollten alle Reichen arm werden, heute alle Armen reich. So! Das ist alles. Mehr hat sich nicht geändert in diesem Land seit dieser Periode.“ (… ismenilos is sa eto period, Lachen)

Zitat 23: Gewerkschafter, Forts. (0,50) (A wot destwitelno…     … wsjo delani iskustwenna)

Regie: O-Ton mit Ton 21 verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Zitat wieder hochziehen.

Übersetzer:  „Wenn man die Produktion wirklich modernisiert, wirklich effektiviert hätte! Wenn man auf dieser Grundlage vorsichtig den Übergang zu marktwirtschaftlichen Beziehungen gesucht hätte, also mit Möglichkeiten der Konkurrenz, mit innerem Markt, mit äußerem Markt, dass wir zum Beispiel nicht nur italienische Schuhe einführen müssten! Das können wir doch alles selbst! Aber das wurde nicht gemacht, nur das Alte zerstört! Ich kann mich erinnern, wie wir seinerzeit, Anfang der Achtziger loslegten: Selbstbewirtschaftung, Schulung, Unterricht in Marktbeziehungen. Ich habe selbst vor Kollegen darüber gesprochen, was es heißt, Geld zu verdienen, zu erarbeiten, zu produzieren – und nicht einfach Geld aus Geld zu machen wie das jetzt läuft. Aber dann hat man von einem Tag auf den anderen die Preise freigegeben – fraß oder stirb: freier Markt! Dabei rausgekommen sind die großen Handelsstrukturen, riesige Investitionsgesellschaften, `MMM‘ und andere, Millionäre und Milliardäre in wenigen Jahren. Aber alles in so kurzer Zeit hoch gepuscht. Bluff! Alles künstlich aufgeblasen.“ (… wsjo delani iskustwenna)

Erzähler:     Eine Scheinblüte also? So könne man es nennen, bestätigt der Alte. Der Zusammenbruch werde nicht auf sich warten lassen.

Athmo 3: Auto Fahrt, Verkehrslärm, erste Worte) (1,20)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler: Den Zustand der Landwirtschaft, der in Fjodorowna schon ansatzweise erkennbar wurde, führt mir Wassili Horn vor Augen. Er ist Direktor der Sowchose Tulinskaja, auch sie seit einem Jahr Aktiengesellschaft. Sie liegt etwa 100 Kilometer im Süden am Ufer des zum See gestauten Ob. Früher sei Tulinskaja eine Mustersowchose gewesen, erzählt Wassili während der Fahrt dorthin, die größte Wirtschaft in der Region: vier Dörfer, 22. 000 Hektar, davon 6000 gepflügter Boden, 10.000 Weideland, 1500 Kühe und 8000 Schweine. Einen Profit von 1,5 Millionen Rubel habe der Betrieb 1984 gemacht, als er dort von der Partei eingesetzt worden sei. Heute kämpfe der Betrieb um sein Überleben:

Ton 24:  Wassili Horn (0,21)     (Tschas u nas tak…

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, dann abblenden (nicht hochziehen)

Übersetzer: „Jetzt ist bei uns alles auf den Kopf gestellt:  Je mehr Du arbeitest, umso mehr Verlust machst du. Zurzeit ist es nicht profitabel, Milch, Fleisch oder Brot zu produzieren.“

Erzähler: Grund: Die Preise, die die Sowchose für ihre Produkte erzielen kann und die für Ausrüstung, Gas, Öl, Strom usw. gehen immer weiter auseinander. Aber statt Unterstützung zu leisten, verlange die Regierung auch noch irrsinnige Steuern. Die staatlichen Kredite seien nicht zu bezahlen. Früher habe die Sowchose Straßen, Wohnungen und Produktionsanlagen gebaut. Jetzt könne sie nichts davon machen, alles verkomme:

O-Ton 25: Forts. Direktor (0,50)                 (Nu, djela w tom tscho…     … wabsche ruskuju natiu)

Regie. O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer kurz hochziehen, wieder abblenden

Übersetzer: „Auf allen Ebenen wird davon geredet, dass der Bauer wieder zum Bauern gemacht werden muss, damit er über das verfügen könne, was er selbst produziert. Damit bin ich einverstanden! Aber was jetzt geschieht, das hat es unter keiner Macht gegeben, nicht unter der zaristischen, nicht unter der sowjetischen, wo man uns abgerichtet hat. Jetzt ist angeblich alles freiwillig. Aber was heißt freiwillig, wenn man uns das Messer an die Gurgel setzt? Nein, ich habe das Gefühl, das da ein bestimmter Auftrag ausgeführt wird – ich weiß nicht, vielleicht die russische Nation überhaupt zu vernichten?“ (… wabsche ruskuli natiu)

Erzähler: Bestenfalls sei das Ganze nicht zu Ende gedacht: Wer was bei der Aufteilung des Eigentums bekomme, und wie das neu organisiert werden solle, so dass es auch weiterhin funktioniere, ohne dass der Bauer auf vollen Feldern krepiere. Auch die Umwandlung der Sowchose in eine AG sei letztlich nur ein formaler Akt:

O-Ton 26: Direktor Fortsetzung (1,35) (To jest, on stanowitzka sobstwennikom…     … ne koem obrasim)

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) hochziehen und wieder abblenden

Übersetzer:    „Die Leute sind zwar Eigentümer geworden, es ist eine Leitung gewählt, ein Sowjet, ein Vorstand des Sowjet; persönlich bin ich das, aber als höchstes Organ fungiert die Versammlung. Das Elend ist nur, dass die Leute sich nicht als Eigentümer des Bodens oder ihres Anteils am Gesamtbesitz fühlen.“

Erzähler: Auf der Grundlage dieser ganzen Unentschiedenheiten habe sich auch die Arbeitsdisziplin gelockert, hätten Diebstahl, Raub und Suff in erschreckenden Maße zugenommen. Das ganze spitze sich schließlich in der Frage zu: Wohin mit diesen Leuten, die nicht arbeiten wollten? Und auch denen, die es nicht könnten? Zur Entscheidung dieser Frage gebe es zurzeit überhaupt keine Mittel. Er könne ja nicht einmal den Lohn auszahlen. Ob er größere Konflikte befürchte?

Übersetzer:(2)  „Nein, wir sind alle so erzogen, dass es keine Konflikte geben darf. Der einfache Mann weiß auch gar nicht, wie er das machen soll. Die Leute spüren, dass man uns gegeneinander hetzen will. Aber hier in Sibirien wird es so was nicht geben. Die Menschen begreifen, dass die gegenwärtige Macht gegen ihre Interessen, dass sie dem Volk feindlich ist. Nein, etwas anderes beunruhigt mich: dass das Volk nach einer harten Hand verlangen könnte, einem Mann wie Schirinowski. Denn das es so nicht weitergeht wie jetzt, das ist jedem klar. In keiner Weise!“ (… ne koem obrasim)

Erzähler: In den nächsten Tagen sah ich es mit eigenen Augen: Wo wir hinkamen, wurde der Direktor wegen nicht gezahlten Lohnes, mangelnder Versorgung und fehlender Arbeitsmaterialien zur Rede gestellt, wurde nach hartem Durchgreifen verlangt. Wenn es bisher bei scharfen Worten bleibt, dann deswegen, so Wassili Horn, weil die Leute wüssten, dass ihr Direktor auch nichts entscheide.

Atmo 4: Metro(1,30)

Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:  In den analytischen Zentren wird die Krankheit des Landes inzwischen klar benannt. So etwa im St. Petersburger finanz-wirtschaftlichen Institut, Abteilung regionale Diagnostik, wo man sich seit Jahren mit „Monitoring und Überwachung der Reform“ befasst. Hier bekommt das Stichwort der künstlichen Blüte, das der alte Gewerkschafter in Tscharypowa gegeben hat, konkretere Gestalt. Nur 10% der Bevölkerung hätten die Mittel, sich die angebotenen Waren zu kaufen: Nomenklatura, die neuen Reichen, im Volksmund „neue Russen“ genannt, ein schmaler Dienstleistungsbereich und eine kleine Schicht qualifizierter Arbeiter. Auf die Frage, woher das Geld komme, erklärt Natalja Petuchowa, eine Mitarbeiterin des Instituts:

Zitat 27: Natalja Petuchowa, finanz-wirtschaftl. Institut (0,48)                 (Ja dumaju…     … sarabatnaja plata, ponimaetje?

Regie: O-Ton kurz stehenlassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Ich denke, als erstes verkauft man große Menge Ressourcen. Zum zweiten bringen die, welche die Ressourcen verkaufen, dafür Waren aus dem Westen heran und sie sind natürlich interessiert daran, eine zahlungsfähige Nachfrage zu schaffen. Sie wollen, dass die Waren gekauft werden. Ich denke, dass einfach Geld gedruckt und in der Bevölkerung in Umlauf gebracht wird. Der Mechanismus ist natürlich komplizierter. Im Prinzip ist es aber so: Es geschieht einfach eine Erzeugung von Geld aus Geld. Die Unternehmen sind praktisch bankrott und trotzdem gibt man ihnen Kredite, um Lohn auszuzahlen. Sie verstehen?“  … sarabatnaja plata, ponimaetje?
Erzähler: Andererseits, fügt sie hinzu, wirkten natürlich  die nicht gezahlten Löhne auch wie ein gewaltiger Kredit, den man der Bevölkerung zwangsweise aus der Tasche ziehe. Die Arbeit sei ja geleistet, aber bezahlt werde nicht. In Bezug auf den Boden sei es noch komplizierter, aber im Prinzip das Gleiche: Obwohl es noch keine gesetzliche Grundlage dafür gebe, würde von städtischen Spekulanten im Zuge der Privatisierung der Sowchosen und Kolchosen Land zu Spottpreisen erworben und mit enormen Gewinnen verpachtet oder weiterverkauft, in vielen Fällen auch an Ausländer, ohne es in die Produktion oder Weiterentwicklung zu stecken. Dass dies die Vernichtung der Kolchosen bedeute, sei ja ohnehin klar und auch beabsichtigt.

Zitat 28: Petuchowa, Forts. (1,06)     (Eta snatschit…          … skromno, no dostoino?)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der zweiten Übersetzerin (2) hochziehen

Übersetzerin:   „Es bedeutet aber die Vernichtung der Landwirtschaft als Branche überhaupt ihre Unterordnung unter die vollkommene Abhängigkeit vom Westen. Noch ist das nicht so, aber die Tendenz ist vollkommen klar. Das Ganze ist natürlich eine katastrophale Situation.“

Erzähler:      Aber Russland, relativiert auch sie dann, wie vor     ihr schon der Gewerkschafter Juri Swagin und andere, sei ja ein reiches Land, das lange von seinen Vorräten leben könne. Das gelte für die Ressourcen des Landes ebenso wie für jede einzelne Familie, die jetzt auf Kosten der Dinge lebe, die sie sich vor Beginn der Reformen angeschafft hätte. Und schließlich stelle sich überhaupt die Frage:

Übersetzerin: (2) „Muss das alles so sein? Der russische Mensch hat ein anderes Verhältnis zu Reichtum und Geld. Geld kommt erst an zweiter Stelle. Jedes Volk hat seinen nationalen Charakter. Und der wird sich durchsetzen. Warum müssen wir leben wie in Amerika? Kann man nicht so leben: bescheiden, dafür aber würdig?“ (… skromno, no dostoino?)

Erzähler: Boris Kagarlitzki, analytischer Kopf der Reformlinken aus Moskau, sieht es schärfer. Er spricht nicht nur von Scheinblüte. Auf die Frage, warum die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbreche, antwortet er:

Zitat 29: Boris Kagarlitzki (0,59)     (No, wo pervich Rossije…
… ot sapadnem modellom otdalilas)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer:  „Nun, erstens ist Russland kein kapitalistisches Land. Aber ich sage noch mehr: Heute ist Russland in seinem wirtschaftlichen Mechanismus weitaus weiter vom Westen entfernt, als, sagen wir, 1991. Das ist spürbar. Es findet eine Primitivisierung der Wirtschaft statt. Der einheitliche innere Markt ist zusammengebrochen. Elementare Bedingungen der, sagen wir, Vermittlung von nichtselbständiger Arbeit entfallen, wenn die Menschen keinen Lohn mehr bekommen. Es gibt keinen Arbeitsmarkt. Die Menschen arbeiten nicht, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern aus anderen Gründen. Aus Abhängigkeit, aus Tradition usw. Das heißt, in diesem Sinne hat sich Russland in den letzten zwei Jahren allgemein vom westlichen Modell entfernt.“ … ot sapadnem modellom otdalilas)

Erzähler: Russland sei heute eher einem asiatischen oder afrikanischen oder sonst einem Land der früheren dritten Welt ähnlich. Nicht einmal mit Brasilien oder Argentinien sei es vergleichbar, schon eher mit Indien oder dem Iran sei es vergleichbar. So ein Land, bestätigt Boris sarkastisch, könne mit einer zerstörten Wirtschaft sehr lange existieren und wenn notwendig, überhaupt ohne Wirtschaft.

Was damit konkret gemeint sein könnte, demonstriert das neueste Krisenlösungsmodell der Bauernpartei, das Wladimir Lewaschow, verantwortlicher Gewerkschaftssekretär des Nowosibirsker Agrar-Industriellen-Komplexes mir vorstellte. 80% der Landwirtschaft, Sowchosen wie privater Neubauern, steckten hoffnungslos in der Krise. Sie und im Ergebnis praktisch ganz Russland seien zum Untergang verurteilt, wenn keine kollektiven Rettungsmaßnahmen ergriffen würden. Die Bauernpartei habe daher die Schaffung eines „Departements für Produktion“ vorgeschlagen, was allseits mit Sympathie und Hoffnung aufgegriffen werde. Lewaschow erläutert das Modell:

Zitat 30:  Gewerkschaftssekretär, Nowosibirsk (1,49)     (Departement prodowolstwo…          …ras mnogi, mnogi stepenje)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen

Übersetzer: „Das Departement für Produktion, das jetzt gebildet werden soll, wird logischerweise alle Ketten zusammenschließen: Die Produzenten, finanziert von der Gläubigerbank der Administration, die Konsumenten, alle einzelnen Bewirtschaftungseinhheiten. Ein einfaches Beispiel: Das Departement sagt: Sie haben Milch gebracht, abgegeben im Butterkombinat. Wofür brauchen sie Geld!? Doch nur für Lohn. Aber vielleicht brauchen sie Kühlschränke, Autos? Wir werden ihnen über das System der Gläubigerbank und durch das Departement der Produktion alle diese Produkte überstellen. In dieser Weise verringert sich der Geldumlauf um viele, viele Stufen.“ ( …ras mnogi, mnogi stepenje)

Erzähler: Hier wird die Reduzierung der Wirtschaft auf den Naturaltausch und ein von oben geregeltes Zuteilungssystem zum Prinzip erhoben. Was könnte deutlicher machen als dieses  Modell, dass die russische Entwicklung auch heute anderen Wegen folgt als denen der westlichen Marktwirtschaft? Hier werden nicht in erster Linie wirtschaftliche, sondern nach wie vor politische Lösungen gesucht, und zwar auf der Basis einer patriarchalen Grundorganisation des Lebens. Sie ist durch die neu entstandenen Verhältnisse nicht geschwächt, sondern eher verstärkt worden. Welche Regierungsform das annehmen wird, ist zurzeit offen.

Bitte denken Sie auch dieses mal an mein Buch, das in diesen Tagen erscheint:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 350 Seiten.

Auf der Suche nach dem Russischen (Langfassung)

Athmo 1: Straßenszene in St. Petersburg (0,30)

Regie: O-Ton langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem ersten Erzähler hochziehen.

Erzähler: Russland, Herbst 1994, St. Petersburg. Vertreter der „unversöhnlichen Opposition“ agitieren auf der Straße. Die Frau erregt sich über „Okkupanten aus dem Westen“. Sie fordert „Russland für das eigene Volk!“. Es geht um die Nation, um die Wiedergeburt des Russischen, um die „Rus“.

Erzähler:    Ausgerechnet sibirische Freunde, Psychologen, mit Sicherheit keine Patrioten, überraschen mich wenige Tage später mit einer Entdeckung, die sie im Lauf des letzten Jahres in Perm am Ural gemacht hätten:

O-Ton 1: Frau aus Sibirien (junge, nachdenkliche Stimme) (2,30)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann runter, am Ende des zweiten Einsatzes der Übersetzerin kurz hochziehen.

Übersetzerin:  „Dort habe ich zum ersten Mal im Leben gefühlt. was das ist: die Rus. Nicht, dass ich mich selbst als Russin gefühlt hätte. Aber ich spürte in gewissem Sinne, was das ist, russischer Geist….“

Erzähler: Dann versucht Irina zu erklären: Sie berichtet von kleinen Geschäften, in denen sie noch im letzten Jahr Berge von Ikonen gesehen habe, die aus verlassenen Häusern der Region geholt worden seien. Das habe die Regierung jetzt gestoppt. Aber immer noch könne man in den Dörfern alte Haushaltsgeräte, Bilder, Briefe, alles Mögliche finden. Das liege da einfach so herum, für niemanden nutze.

Übersetzerin: „Und überall stößt du auf Zeugen der Zone. So heißen die Gulags heute. Und dann die Radioaktivität! Die Leute wissen das alles. Es bewegt keinen. Sie leben ganz für sich. Sich abkämpfen und leiden, das ist ihr Lebensgefühl. Viele sind aus ihrem Dorf noch nie herausgekommen. Wenn man dem Muschik dort sagt, dass der Feind vor der Tür steht und dass man jetzt sofort in den Krieg ziehen muss, dann wird er einen Moment protestieren – und geht in den Krieg. Der sibirische Muschik ist ganz anders! Der geht in den Wald, versteckt sich vor dem Krieg, im besten Fall geht er zu den Partisanen.“

Regie: Hier O-Ton 2 hochziehen.

Erzähler:   Wenn ich interessiert sei, schlug Ira vor, könne ich sie auf einer ihrer nächsten Arbeitsreisen nach Perm begleiten. Dann würde ich selber verstehen.

Athmo 2: Kirche in Perm, Litanei und Chor (0,32)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler: Perm. Die Kirche wurde erst kürzlich wiedereröffnet. Es ist der erste Ort, an den Galina Britwina, Direktorin des gewerkschaftlichen, früher städtischen Kulturzentrums, eine junge, tatkräftige Frau, mich führt, um mir zu zeigen, was Wiedergeburt russischer Kultur ist.
Der ist die Staatsgalerie: Meisterwerke der Ikonografie in einem Saal, schwer bewacht. Im Hauptgebäude eine Sammlung monumentaler geistlicher Holzplastiken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Hier ist aus der Permer Region zusammengetragen, was den Plünderungen und Zerstörungen des zwanzigsten Jahrhunderts und der letzten zehn Jahre des neuen Russland entgangen ist. Aus einem kostbaren Fotoband zur Geschichte der Skulpturen, mit denen Galina und ihre Kolleginnen mich beschenken, ergibt sich ein widersprüchliches Bild:

Sprecher:  „Es ist eine Region im Abseits der Geschichte. Lange war sie nur Umschlagplatz für Naturgüter wie Salz, Felle, Honig, Fett und dergleichen, die auf den Flüssen nach Süden und Westen transportiert wurden. Hier haben sich heidnische Anschauungen lange gehalten. Erst im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wurde die Region christianisiert. Aber schon Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelte sich die Region zu einem Zentrum der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Ikonografie. Von hier gingen die Impulse zur Reichserneuerung aus, die die „Smuta“, der verwirrten Zeit nach dem Ende der ersten Dynastie beendeten und die neue Dynastie der Romanows begründeten.“

Erzähler: Mit anderen Worten: Die Permer Region, mit ihrem alten Mittelpunkt Tscherdin, wurde russischer als die im Tatarensturm untergegangene Kiewer Rus, das erste russische Reich. Aber immer blieb es das Land im Abseits, aus ausgebeutet und geschunden wurde. Die Zaren machten es zur Eisengrube Russlands, die Sowjets zum atomaren Übungsgelände. Es war Verbannungsort vor der Revolution von 1917, es war Stalins Gulag danach. Heute ist es Gefangenenlager des neuen Russland. Sehnsucht nach Geistigkeit und entseelte Realität könnten nicht extremer aufeinanderprallen als in diesem Gebiet.

Galina hofft auf Impulse der Erneuerung wie zur Zeit der historischen „Smuta“:

O-Ton2: Galina Britwina, Direktorin des Kulturhauses Perm (volle, mutig entschlossene Stimme) (0,46)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, am Schluss des Zitats hochziehen.

Übersetzerin: „Jetzt sind alle verwirrt. Jetzt wissen die Leute nicht, womit sie sich befassen sollen, was vorgeht im Lande, was in der Wirtschaft geschieht. Jetzt  geht der Kampf ums Überleben, wie durchkommen und nicht verhungern. Aber ich denke, dass der Menschen nach einer gewissen Zeit für sich einen Platz in der Gesellschaft findet, und sich dann mit dem befassen wird, was ihm entspricht. Und in der Politik werden Leute kommen, die leiden für unser Russland und nicht solche, wie wir sie jetzt sehen.“

Erzähler:   Maya, eine ältere Kollegin Galinas, wegen der Umstellung des Kulturhauses auf eigene Bewirtschaftung vor Kurzem zwangspensioniert, erklärt mir bei einem unserer Ausflüge, warum alles so ist, wie es ist: Die russische Seele!

O-Ton 3: Maya über die russische Seele. (melancholisch) (0,31)

Regie: langsam kommen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen.

Übersetzerin: „Das ist das, was sich der Logik nicht beugt, ein Ergebnis der Tradition. Es gibt nationale Charaktere, scheint es, die voraussagbar sind. Aber die Seele des russischen Menschen kannst Du nicht vorhersagen. Heute streitet man sich darüber. Nehmen Sie Dostojewski, auf den kommen wir wieder zurück: Seine Menschen, seine Helden. Das russische Volk handelt zunächst nicht vom Kopf, sondern aus der Seele. Es ist nicht besser als andere Völker, es ist einfach nur rätselhaft. Der Russe ist ein zerrissener Mensch, ein Mensch, bestimmt von seinem inneren impulsiven Seelenzustand. Er handelt, wie es ihm sein Gewissen eingibt, sein leidendes.“

Erzähler: Viele verschiedene Völker, viele verschiedene Charaktere seien im russischen Volk zusammengewachsen, erzählt sie, besonders auch hier in der Region, in die sich seinerzeit ganze Völker vor den Mongolen geflüchtet hätten. Verständigung, Freundschaft, Bereitschaft zur Kooperation sei daher das oberste Gebot für den russischen Menschen.

Übersetzerin:  „Nehmen sie die Lieder. Da geht es um die Tafel, um die Liebe, um Zärtlichkeit. Wovon spricht das? Nationalismus sei dem Volk fremd. Die Politiker sind es, die solche Gefühle hochspielen:“

O-Ton 4: Maya singt (0,23)

Regie: Ton langsam hochkommen lassen, stehen lassen, Kreuzblende

Athmo 3: Ankunft in Tscherdin (0,38)

Regie: Kreuzblende, langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.

Erzähler: Endlich Tscherdin. Eine Nachtfahrt mit dem Zug, Stunden auf einer abenteuerlichen Flussähre, ein halber Tag in einem überfüllten Bus durch endlose Wälder und Sümpfe liegen hinter uns. Der Ort erhebt sich am Hochufer der Kama. Malerisch klettern Holzhäuser in alter russischer Holzbausweise die Hügel vom Fluss herauf. Oben auf dem Kammweg, der alten Hauptstraße, verbreiten steinerne Herrenhäuser den spröden Glanz verlassenen Reichtums. Zahllose Zwiebeltürme werden sichtbar, viele vergoldet. Sie glänzen in der Abendsonne. Sechzehn oder siebzehn seien es, erklärt Irina, die mich begleitet.
Wieso es viele Kirchen in so einem kleinen Ort gebe, frage ich eine „Babuschka“, die uns entgegenkommt.

O-Ton 5: Babuschka in Tscherdin (kräftige Stimme) (0,51)

Regie: O-Ton kurz anlaufen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzerin-Zitat hochziehen.

Übersetzerin: „Es ist eine alte Stadt. War ein Handelszentrum. Früher gab es hier Kaufleute. Die haben die Kirchen gebaut, für ihren eigenen Gottesdienst. Die hatten eigene Schiffe und Häuser. Sie haben alles selbst herangeschafft, zusammengekauft, gehandelt. Die gaben dem Volk damals, die haben für das Volk gesorgt. Jetzt gibt keiner mehr eine Kopeke.“

Erzähler:  Sie selbst sei erst in den Dreißigern aus einem der Nachbardörfer zugezogen. Viele seien heute Zugereiste. Von weither habe man sie gebracht.

Übersetzerin:   „Leute, die sich der sowjetischen Macht nicht beugen wollten. Vierzig Familien trieb man her, die nicht in die Sowchose wollten. Einfach im Wald abgeladen hat man sie, ohne Dokumente, ohne alles. Dann lebten sie in Baracken, in kleinen Hütten. Zum Schluss bauten sie ein Dorf. Da gab man ihnen Dokumente. Jetzt leben sie gut.“

Erzähler: Ein paar Straßen weiter begegnen uns zwei junge Mädchen. Was wissen sie von ihrem Ort? Ohne sich beim Genus ihres Kaugummis stören zu lassen, antworten sie:

O-Ton6: Junge Mädchen in Tscherdin (selbstbewusst) (0,25)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Text der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun, die Stadt steht auf sieben Hügeln. Das wissen doch alle. Wie Moskau zum Beispiel oder wie Rom. Deshalb hat sie einen besonderen Wert, eine lange Geschichte. Interessant.“

Erzähler: Woher sie das wüssten? Aus der Schule, natürlich! Und ob sie hier leben wollten?

Übersetzerin:  „Aber ja, hier befinden sich doch unsere Freunde, unsere Bekannten. Ich hoffe, dass wir hier leben können und nicht auswandern. Hie sind unsere Verwandten und alles. Hier ist uns alles vertraut.“

Athmo 4: Eintritt ins Jugendhaus: Treppen, Schlüssel, Tür (0,25)

Regie: Kommen lassen, stehen lassen, dann abblenden

Erzähler: Zentrum für junge Touristen. Hier ist seit langem nichts mehr berührt worden. Früher war Tscherdin ein beliebtes Ziel für Bildungsfahrten der Pioniere und des Komsomol, erzählt uns der Verwalter, verknittert, nicht ganz nüchtern. Heute komme selten noch jemand:

O-Ton 7: Verwalter des Jugendhauses (nuschelt) (0,57)

Regie: Kurz kommen lassen, dann abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Aus Omsk kamen sie und sagten, das ist ja ein Dorf bei Euch. Aber das war nicht richtig. Als Tourist konnte man einiges Interessantes hier finden. Und Fische konntest Du fangen. Jetzt gibt es kaum noch welche. Mit den Pilzen ist es nicht besser. Früher hatten wir solche! Und jetzt? Es geht alles kaputt. Heute ist schon alles vorbei. Heute leben wir, wie sagt man jetzt? – nach eigenen Interessen! Es gibt keine Macht. Keiner kümmert sich. Jelzin hat ja auch anderes im Sinn. Naja, der Fisch stinkt eben vom Kopf!“ (lacht)

Athmo 5: Kirchenruine, , leichte Hammerschläge, Hall (0,30)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, dann abblenden.

Erzähler: Kirchenruine in Nyrob, noch eine Tagesfahrt tiefer im Land. Das Dach wird restauriert. Der junge Mann, der das Dach repariert ist Freigänger aus einer der nahegelegenen „Zonen“. Er stammt aus Tatarstan, dort verurteilt wegen Totschlags. Bis vor kurzem saß er dort im Gefängnis. Zur Verbüßung seiner Reststrafe wurde er jetzt hierher überführt. Seine Tätigkeit als Restaurateur beurteilt er sachlich:

O-Ton8:Freigänger (zögernd, aber klar) (0,24)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach  dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:    „Ich hätte ja direkt nach Haus gehen können. Aber direkt aus dem Knast in die Freiheit, das würde schwerer für mich werden. Es ist einfach besser, wenn ich ins Dorf gehe. Es hat sich viel geändert, seit ich reingekommen bin. Das war `93: Das Geld, die Preise! Damals betrug das Gehalt 1700, jetzt zählt man nach Tausendern und Millionen. Hier kann ich mich gewöhnen und in Ruhe orientieren. Wenn die Kirche fertig ist, soll ich noch das Badehaus machen. Es ist mir egal, was ich mache. Man lässt mich zufrieden. Das ist das Wichtigste. Sie haben ja niemand. Sonst verkommt ihnen alles. Also, wenn ich rauskomme, kenne ich mich schon mit den unterschiedlichen Preisen aus, da weiß ich, wo man was wie bekommt. Es ist einfach leichter für mich.“

Erzähler: Ein Ortsansässiger bringt einen Bottich Tee. Der Kontakt ist verboten. Aber wir sind wir doch alle Menschen, oder? lacht er. Er sei Klempner, arbeitslos, erzählt er freimütig, sozusagen pensioniert, die Leute hätten kein Geld für Reparaturen. Warum er hierher komme?

O-Ton 9: Ortsansässiger (klagend, aggressiv) (028)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Ich sehe die Kirche nicht als gläubiger Mensch, aber als Denkmal. Das muss man erhalten. Die Kirche war sehr schön. Eine riesige Glocke gab es hier früher. Man hat sie irgendwohin geschafft, keiner weiß, wohin. Jetzt verrottet alles, fällt zusammen. Früher hatten wir etwas, worauf wir stolz sein konnten. Das brauchen wir. Wir sind ja ein kriegerisches Volk. Aber heute bringt man nichts mehr zustande. Nicht einmal eine Brücke über den Fluss schaffen sie. Wie soll sich da etwas entwickeln? Man bräuchte eine Führung, die wirklich Macht ausübt. Jetzt ist die Macht dazu übergegangen, uns auszuhungern, unseren Volksreichtum beiseite zu schaffen, kurz gesagt. Sie kaufen sich Autos für ihre Verwandten und wir bleiben außen vor, wir haben nichts. Die Menschen kennen keine Werte mehr. Wie die Barbaren!“

Erzähler:  Ein paar Stunden später weiß ich, wovon der Alte gesprochen hat. Die ohnehin seltenen Busse, mit denen wir am Abend nach Tscherdin hätten zurückfahren müssen, fallen aus. Fähre defekt, heißt es. In dem kleineren Bus, der ersatzweise fährt, bekommen wir nur einen Platz, weil die „Kassirscha“ deutschstämmig ist und eine ebenfalls deutschstämmige Freundin hat.
Während wir im Kassenhäuschen warten, kommt die Freundin der „Kassirscha“ schnell noch zu einem kleinen Plausch vorbeigehuscht. Wer beschreibt mein Erstaunen, sie „russischer“ als die Russen zu finden? Der Parole von der Widergeburt russischer Kultur steht sie zwar skeptisch gegenüber:

O-Ton10: deutschstämmige in Nyrob (fröhliche Stimme) (0,40)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:  „Ich weiß nicht ich sehe das nicht. Früher, als ich mein Institut beendet hatte und hierher zurückkam, gab es noch dieses Eigene. Man sang russische Lieder, tanzte, jetzt kennen die jungen Leute das alles nicht mehr. Ich kannte die Lieder, aber ich habe sie auch vergessen. Früher gab es hier auch ein örtliches Museum. Dort bin ich oft mit meiner Tochter hingegangen. Es ist vor zwei Jahren abgebrannt. Wohin die Exponate gekommen sind, weiß keiner. Wenn ich mich früher absolut für alles interessiert habe, so heute nicht mehr. Heut muss ich mich um unsere Wirtschaft kümmern, allein um zu überleben.“

Erzähler: Aber trotz allem, betont sie, bleibe der freundschaftsliebende Umgang der Menschen miteinander erhalten. Sicher nicht in der Stadt, aber hier im Ort. Das sei eben die russische Art: Einer helfe dem anderen. Das habe sie bei ihrer Reise nach Deutschland vermisst. Dort gebe es diese Beziehungen zwischen den Menschen nicht. Ja, ja, lacht sie, sie sei Deutsche mit russischer Seele. Was das bedeute? Das könne sie nicht erklären. Vielleicht gehe es einfach darum, sich mit anderen auszutauschen, mit jemand zu plaudern, und sei es nur, um fröhlich zu sein.

O-Ton11: Deutschstämmige in Nyrob (Lachen) (0,26)

Regie: Ton unter dem Erzählertext allmählich hervorziehen, stehenlassen, abblenden

Atmo6: Eintritt ins Kinderhaus Perm: Straßengeräusche, Pendeltüren, Hall im Foyer  (0,27)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Zurück in Perm. Nach all dem Widersprüchlichen, was ich ihr von Tscherdin berichtet habe, will Maya will mir etwas Aufbauendes vorführen: Das Kinderhaus der ehemaligen Leninwerke in der Arbeitervorstadt Materwelinski. 1500 Kinder werden hier auch heute noch in einer Art Vorschule versorgt. Die frühere Unterstützung durch die Werke musste allerdings der Eigenfinanzierung weichen. Der wirtschaftliche Existenzkampf ist hart und ungewohnt. Aber man schlägt sich durch. Härter ist der Kampf um das geistige Überleben: Alexander Wassiljew, der Leiter. erklärt seine Orientierung:

O-Ton12: Direktor des Kinderhauses (kräftige Stimme) (0,27)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Erzähler wieder hochziehen

Übersetzer: „Die wichtigste Aufgabe ist die seelisch-geistige Auferstehung Russlands. Unsere Kinder lernen die Bibel kennen, die Religionen. Wir haben sogar eine Sonntagsschule, mit Elementen von Etikette. Sie lernen auch unsere Gesetzessammlungen aus dem 19. Jahrhundert kennen. Sie hören, wer was geschrieben hat. Also, da ist alles: Etikette, Ästhetik, Ethik, aber – grob gesagt – in der Praxis, also, nicht nur erzählen wie in der Schule. Und alles geht durch das Spiel. Das heißt, wenn wir irgendein Fest durchführen, dann wird daraus schon ein Spiel, den Tisch dafür herzurichten, nicht einfach nur zu sitzen und Tee zu trinken. Nein, da kommt dazu die Aufgabe, wie das gemacht wird. Wie wird der Tisch gedeckt? Welche Bestecke legt man hin? Was zuerst und was dann? Wir haben da einen Witz: Wenn in der Sonntagsschule gefragt wird: Was ist unsere beliebteste Stunde? Teetrink-Stunde! (mit kindlicher Diktion – d.V.) Und: Was werden wir heute essen? (ebenfalls mit kindl. Diktion – d. Verf.)

Erzähler: Dabei, so der Direktor, verstehe er unter russisch alles, das, was einem Menschen teuer sei, der in Russland lebe. Das schließe alle Kulturen ein. Die Isolation eines Volkes von anderen könne es in einem Land, in dem hundert Völker miteinander leben müssten, gar nicht geben.
Etwas anderes mache ihm größere Sorgen:

O-Ton 13: Direktor, Forts. (0,17)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen. Achtung: Für das Hochziehen stehen nicht mehr als 5 sec. zur Verfügung.

Übersetzer: „Ich sehe auch die Gefahr, dass die Kinder von unserer heutigen Propaganda sehr erfasst werden, wonach jeder für sich allein sein Geld verdienen muss, sogar Kinder. Das sieht so aus, dass schon die Erstklässler Zeitungen verkaufen. Damit bin ich nicht einverstanden: Wenn wir ausländische Delegationen haben, dann sind die immer besonders erstaunt über die Aufmerksamkeit, die man sich bei uns gegenseitig schenkt, über die Kollektivität, das Hand-In-Hand-Gehen. Solche Ausführungen haben mich immer erwärmt. Und so war es: Kein Mensch lebte allein, sondern war immer einbezogen, also: wenn ich Tee trinke, und ich weiß da ist noch jemand, dann tue ich das nicht allein, dann sage ich: Komm, las uns zusammen Tee trinken. Jetzt ist es so: Ich habe ein Kaugummi gekauft – das kaue ich allein, ein Eis – das teile ich nicht. Diese Tendenz macht sich jetzt bei uns breit, bedauerlicherweise. Als Erzieher bin ich dagegen. Wir streben weltweit nach Frieden, gegenseitiger Achtung, Hilfe, Liebe und so weiter – und wir selbst gehen davon ab!“

Erzähler  Maya ist begeistert. Das sei Arbeit an der Wiedergeburt russsicher Kultur, meint sie. Auch unter den anderen Frauen, die mich hier herumführen, genießt Wassiljew hohes Ansehen. Im entscheidenden Punkt, der Frage Nationalismus kommt es allerdings doch zum Zwist:

O-Ton 14: Frauenrunde, Olenewna Michailowna (zarte, klare Stimme) (0,39)

Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Stop! Ich habe in der Schule gearbeitet! Ich habe das alles von innen gesehen. Kinder, russische Kinder! hassten tatarische und sonderten sich von den Tataren ab. Russische Kinder gaben jüdischen keinen Zutritt, ein Jude war für sie nichts. Als ich das erste Mal davon sprach, wurde ich vorgeladen, zum KGB. Sie glaubten mir natürlich nicht. Ich hab es ihnen zeigen müssen. Man brauchte ja nur hinzusehen, dann sah man, wie es wirklich um uns steht: Die Russen sind leider Chauvinisten geworden. Und bedauerlicherweise haben sie, weil sie die Mehrheit sind, irgendwie angefangen, die anderen zu unterdrücken. Das kam ganz von oben und hat sich allmählich bis unten durchgesetzt: Feindseligkeit gegenüber anderen Nationen, ihre Unterdrückung, Erniedrigung nach dem Motto: Wir sind die Besten. Wir haben doch die beste Metro der Welt, wussten Sie das? (lacht) Wir haben das schmackhafteste Eis, das Beste Ballet. Wir haben die schönsten Frauen. So sind wir erzogen. Und leider ist das wirklich so!“

Erzähler:  Es ist eine frühere Lehrerin, die so spricht, Olenewna Michailowna. Jetzt betreibt sie eine, im Westen würde man sagen, Boutique, wo sie das anbietet, was sie Volkskunst nennt. Ein bescheidener Ansatz, findet sie, das Eigene zu retten. Aber mehr sei zurzeit nicht drin.

Übersetzerin: „Heut geht es nicht um Vereinigung, sondern um eigenständige Wege. Ich war solange Mitglied in der Gewerkschaft, in der Partei usw. usw., also, konnte nicht machen, was ich wirklich wollte, dass ich heute erst mal keine neue Gruppe suche, erst recht keine patriotische Vereinigung, sondern die Möglichkeit, mich selbst entwickeln zu können, um mich selbst zu verstehen und erst einmal zu beweisen, ob ich überhaupt selbst etwas zustande bringe oder nicht.“

Erzähler: Das sage sie übrigens nicht, setzt sie leise hinzu, weil sie so ein guter Mensch, sondern weil ihr Mann Jude sei.

O-Ton: 15: Olenewna, Forts.  ((0,46)

Regie: Schluss des O-Tons hochziehen, stehenlassen

Erzähler: Widerstrebend stimmen die anderen Frauen zu. Nationalistin will hier niemand sein. Aber Galina ist trotzdem nicht einverstanden mit dieser Wendung:

O-Ton 16: Galina Britwina ((0,32)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „Nun, ich bin auch ein russischer Mensch, aber ich weiß, was zu tun ist. Es stimmt einfach nicht, dass Russen nicht wissen wo es lang geht. Russen wissen alles. Die Sache ist nur so: Bei uns hat sich die Sphäre der Beschäftigungen verändert. Jetzt sammeln sich die Menschen, wie ich es bei uns im Haus sehe, mehr in Kollektiven, die philosophische Richtung haben, wo man spricht, nachdenkt, bei allen möglichen religiösen Richtungen, Yoga. Man beschäftigt sich mit der Kunst Rehrichs, mit der ‚lebendigen Ethik` von Helena Rehrich, seiner Frau, mit den Untersuchungen von Blawatskaja, mit dem russischen Kosmismus. Bei uns gibt es mehrere solcher Gruppen. Früher war uns das alles verschlossen, das war ja nur im Ausland bekannt. Jetzt erobern wir uns das alles zurück. Das ist ja alles echte russische Kultur!“

Erzähler:  In einem Punkt aber sind sich die Frauen einig:

O-Ton 16: Galina, Forts. (0,55)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin: „In der gegebenen Situation sind die Frauen (lacht), gewissermaßen gereift. Sie haben die Männer auf den zweiten Platz verdrängt. Sie erwiesen sich als stärker, auf moralischem Gebiet. Die Frauen sind tatkräftiger, sie sind überlebensfähiger als die Männer. Aus der einfachen Beobachtung meiner Bekannten, aus meiner Arbeit, aus dem Alltag rundherum scheint es mir klar, dass das zukünftige Russland ein Land für die Frauen sein wird.“

Erzähler: Von Galina führte der Weg direkt zu Nina Subbotina, „Poetessa“, ebenfalls ehemalige Mitarbeiterin am städtischen Kulturhaus. Sie gehöre zu den Erneuerungskräften Russlands, hatte mir Galina angekündigt.
Frau Subbottima belehrte mich zunächst heftig über den Unterschied von Faschismus und Nationalismus. Russischer Nationalismus könne nicht faschistisch sein, weil russischer Nationalismus die Idee des Vielvölkerstaates einschließe. Dann erklärte sich, mich mit einer soeben gegründeten „Partei der russischen Ethik“ bekannt machen zu wollen, die soeben aus der Bewegung der Rehrich-Gemeinden des Landes hervorgehe. In deren Programm würde ich alle meine Fragen beantwortet finden. Ohne sich lange mit eigenen Erklärungen abzumühen, begann sie aus dem Programmentwurf dieser Partei zu rezitieren. Da ich bereits wusste, dass praktisch in jeder größeren russischen Stadt heute eine Rehrich-Gemeinde existiert, hörte ich ihr aufmerksam zu:

O-Ton 17: Poetessa Subottima (starke Stimme) (0,30)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzertext (vor dem Erzähler) wieder hochziehen

Übersetzerin: „Menschen des russischen Landes! Die freche Ausplünderung des russischen Staates setzt sich fort. Glück, Gewissen, Ehre – alles wurde in Geld aufmessbar. Politisches Programm, die Unterordnung unter das goldene Kalb, liefern die vielen Völker Russlands neuem Leiden aus. Mit diesem Programm gibt es für Russland keine Zukunft. Politik und Wirtschaft sind ohne Ethik heut nicht mehr denkbar.“

Erzähler: Nach harten Worten über die Amoralität der herrschenden Macht, die auf die Nöte der einfachen Leute spucke und stattdessen volkfsfremden, aus dem Ausland importierten Rezepten folge, schließt die Anrede:

Übersetzerin: „Wir appellieren daher an alle Menschen auf russischem Boden, zu ihrer nationalen Moral zurückzukehren, die die Hoffnung und den Glauben des russischen Menschen getragen hat! Wir bitten darum, sich nicht weiter von unserer Philosophie des Volkes zu entfernen, mit der Russland tausend Jahre lebte! Unsere nationale Moral und die Philosophie des Volkes bringen das Interesse aller Schichten der Bevölkerung zum Ausdruck: der Arbeiter, der Intelligenz, der Krieger, der Geschäftsleute, der Pensionäre, der Jugend. Sie bedingen ein Programm der Stabilisierung der Wirtschaft, das ein Ende macht mit der Erniedrigung des Volkes und der Ausplünderung des russischen Staates.“

Erzähler:   Nationale Moral? Philosophie des Volkes? Ich ließ meiner Skepsis freien Lauf. Aber Frau Subbottima ließ sich nicht aus dem Konzept bringen: Die moralischen Prinzipien, die es ermöglicht hätten, dass Russland über 1000 Jahre als Einheit habe existieren können, referierte sie weiter, seien aus der Tradition der russischen Obschtschina, der Bauerngemeinde geflossen, die weitaus älter sei als der Staat. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes, wie Mitleid, Güte, Gastlichkeit, Herzlichkeit, Lauterkeit, Gerechttigskeitsliebe. Sie alle seien aus dem Leben in der „Obschtschina“ entsprungen. Sieben moralische Prinzipien träten darüber hinaus deutlich aus der alten russischen Morallehre hervor: Geduld, Achtung, Traditionsliebe, Verantwortung, Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Vergleichbarkeit und Offenheit.
Heute gehe es darum, sich für die Wiedergeburt der alten Moral der „Obschtschina“ einzusetzen, sie in Gesetze zu gießen und den Staat dadurch zu einem moralischen und lebendigen Organismus zu verwandeln.
Einen ganz besonderen Klang bekamen Frau Subottinas Äußerungen über die Rolle der Frauen in der von ihr gewünschten neuen Gesellschaft:

O-Ton 18: Poetessa, Forts. (0,24)

Regie: Ton kommen lassen, nach der Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin: „Nicht alles ist so, wie es scheint. Die Achtung für den Mann gab es in Russland immer. Aber das hieß so: `Der Mann ist das Haupt, die Frau ist der Hals, wohin sie will, dahin wendet er sich!‘ Bei uns ist es unmöglich, dass der Mann nicht das Haupt ist. Wenn die Frau das Haupt ist, werden sie nicht glücklich, nie. Die Frau unterwirft sich dem Mann, sexuell, im Alltag und bei der Erziehung der Kinder, in der Art: Papa hat recht. Aber sie macht es so fein und so klug, dass er alles tut, was notwendig ist.“

Erzähler: Immer wieder in der Geschichte Russlands hätten die Frauen die Männer vertreten müssen, die als Krieger hinaus mussten. Deshalb seien die Frauen so stark geworden. Und was die Männer betreffe, so Frau Subottina, falle ihre kriegerische Erziehung, angefangen bei der Erziehung der Knaben durch die Mütter mit unter die Gebote der nationalen Moral:

O-Ton 19:Poetessa, Forts. (0,25)

Regie: kurz stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen. Achtung: Für das Hochziehen stehen nur fünf sec. zur Verfügung!

Übersetzerin: „Wir können nicht auf die allgemeine Wehrpflicht verzichten und uns allein auf eine professionelle Armee stützen. Das würde bedeuten, unserem Land heute die Kräfte zu rauben, ohne die wir morgen Russland verlieren könnten. Selbst wenn auf dem Planeten der Pazifismus siegte, müsste die Armee als Schule der Männlichkeit für immer weiterbestehen…

Erzähler: Mit einem Ausblick auf die „Mystik der russischen Wiedergeburt“ entließ sie mich schließlich in die Zukunft:

Übersetzerin:  „Wenn sich alle um die Verwirklichung der ethischen Prinzipien bemühen, dann wird Russland zu einer Zivilisation neuen Typs und durch Russland werden auch die übrigen Völker gerettet. Dann kann Russland in ganzer Größe wiederauferstehen, um hinter sich die Völker zu versammeln, die berufen sind zur Herausbildung einer neuen Rasse von Mensch – dem ‚homo moralis`, dem moralischen Menschen.“

Athmo 7: Moskauer Metro, kommt an(0,45)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 19, kurz stehen lassen, langsam abblenden

Erzähler:  Moskau. Die Welt von Perm ist wieder am Ural versunken und mit ihr die der Frau Subbottina. Eine Skurrilität, könnte glauben, von der aus man zu den wichtigen Fragen der Tagesordnung übergehen muss. Dass dem nicht so ist, begriff ich spätestens im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ Gennadij Schuganow. Er will alle Kräfte der „unversöhnlichen Opposition“ gegen die bestehende Regierung führen, gleich ob links, rechts, vaterländisch oder religiös motiviert, wenn sie nur ein einem einer Meinung sind: dem Wunsch nach der Widerherstellung der russischen Größe mit der einzigen Einschränkung, das dies auf friedlichem und staatsbejahendem Wege zu erfolgen habe. Seine eigene Begründung dafür klingt bei allen sonstigen Differenzen, als sei sie von Frau Subottina und anderen Verteidigern einer russischen Ethik persönlich diktiert:

O-Ton 20: Gennadij Schuganow, Führer der KPRF (0,17)

Regie: stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen

Übersetzer: „Wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie der „Obschtschina“, kollektivistisch, ökumenisch, korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.“

Erzähler:  Schließlich erklärte, Boris Kagarlitzki, ein überzeugter Radikaldemokrat, die Reform-Linke werde sich um ein national ausgerichtetes populistisches Programm sammeln müssen, wenn sie verlorenes Terrain wiedergewinnen wolle. Als er mir auch noch ein frisch fertig gestelltes Manuskript über die „russische Restauration“ in die Hand drückte, wurde mir klar, dass die Suche nach dem eigenen russischen Weg in ein neues Stadium tritt.

Athmo 8: Metro, fährt ab (1,07)

Auf der Suche nach dem Russischen

Atmo 1: Straßenszene in St. Petersburg (0,30)

Regie: O-Ton langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.

Erzähler: Russland, Herbst 1994, St. Petersburg. Vertreter der sogenannten unversöhnlichen Opposition agitieren auf der Straße. Die Frau erregt sich über „Okkupanten aus dem Westen“. Sie fordert: „Russland für das eigene Volk!“. Es geht um die Nation, um die Wiedergeburt des Russischen, um die „Rus“. Was das ist, kann mir niemand hier auf der Straße beantworten.

Atmo 2: Kirche in Perm, Litanei und Chor (0,32)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler: Die Stadt Perm im Ural. Hier könne ich das                 „wahre“ im Original Russland erleben, hatten mir Freunde empfohlen. Die wiedereröffnete Kirche ist der erste Ort, den Galina Britwina, Direktorin des städtischen Kulturhauses, mir zeigt. Anschließend geht es in die Staatsgalerie: Meisterwerke der Ikonenmalerei, eine Sammlung monumentaler geistlicher Holzplastiken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert sind hier aus der Permer Region zusammengetragen, die immerhin fast die Größe Deutschlands hat. Einem prachtvollen Bildband über die Permer Holzskulpturen, den Galina mir schenkt, sind ein paar Angaben zu entnehmen, die das Besondere dieses Raums ahnen lassen:

Übersetzer:  „Perm: eine Region im Abseits der Geschichte.                 Erst im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert wurde die Gegend christianisiert. Aber schon Mitte des 16. Jahrhunderts war sie ein Zentrum der orthodoxen Rechtgläubigkeit und der Ikonenmalerei. Von hier gingen Impulse zur Reichserneuerung aus, die die „Smuta“, die Zeit der Wirren nach dem Ende der ersten Dynastie, beendeten und die neue Dynastie der Romanows begründeten.“

Erzähler:  Also, beinah russischer als die „Rus“, lächelt     Galina, das Russland der ersten Periode, bevor es von den Mongolen überrannt wurde. Galina hofft auf Impulse der Erneuerung wie zu Zeiten der historischen „Smuta“:

O-Ton1: Galina Britwina, Direktorin des Kulturhauses Perm (0,48)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Jetzt sind alle verwirrt. Jetzt wissen die Leute                 nicht, womit sie sich befassen sollen, was vorgeht im Lande, was in der Wirtschaft geschieht. Jetzt geht der Kampf ums Überleben: wie durchkommen und nicht verhungern. Aber ich denke, dass der Mensch nach einer gewissen Zeit für sich einen Platz in der Gesellschaft findet, und sich dann mit dem befassen wird, was ihm entspricht. Und in der Politik werden Leute kommen, die für unser Russland leiden und nicht solche, wie wir sie jetzt sehen.“

Atmo 3: Ankunft in Tscherdin (0,38)

Regie: Langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden.

Erzähler: Die zweite Station ist Tscherdin, ein Ort weit im  Norden, das alte Zentrum der Permer Region, ein Wallfahrtsort für viele, die auf der Suche nach der russischen Kultur sind. Von hier und aus den umliegenden Dörfern stammen auch viele der Ikonen und Holzplastiken der Staatsgalerie Perms.
Malerisch klettern Holzhäuser in alter russischer Bauweise die Hügel vom Fluss, der Kama, herauf. Oben auf dem Kammweg, der alten Hauptstraße, verbreiten steinerne Bürgerhäuser den spröden Glanz vergangenen Reichtums. Zahllose Zwiebeltürme werden sichtbar, sechzehn oder siebzehn Kirchen seien es, hatte Galina mir vorher angekündigt. Eine Babuschka, die ich frage, warum es so viele Kirchen in einem so kleinen Ort gebe, erklärt:

O-Ton 2: Babuschka  (0,19)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Es ist eine alte Stadt. War ein Handelszentrum.                 Früher gab es hier Kaufleute. Die haben die Kirchen gebaut, für ihren eigenen Gottesdienst. Die hatten eigene Schiffe und Häuser. Sie haben alles selbst herangeschafft, zusammengekauft, gehandelt. Die gaben dem Volk damals etwas, die haben für das Volk gesorgt. Jetzt gibt keiner mehr eine Kopeke.“

Erzähler: Ein paar Straßen weiter begegnen uns zwei junge                 Mädchen:

O-Ton3: Junge Mädchen in Tscherdin (0,25)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der zweiten Übersetzerin wieder hochziehen. (Hier ist das Ende des O-Tons ist identisch mit dem Ende des Zitats: „… alles vertraut.“)

Übersetzerin: „Nun, die Stadt steht auf sieben Hügeln. Das                 wissen doch alle. Wie Moskau zum Beispiel oder wie Rom. Deshalb hat sie einen besonderen Wert, eine lange Geschichte. Interessant.“

Erzähler: Woher sie das wüssten? Aus der Schule, natürlich!                 Und ob sie hier leben wollten?

Übersetzerin:  „Aber ja, hier sind doch unsere Freunde, unsere                 Bekannten. Ich hoffe, dass wir hier leben können und nicht auswandern müssen. Hier ist uns alles vertraut.“
Erzähler Die weiteren Erkundungen in Tscherdin ergeben ein  eher nüchternes Bild: das Touristenhaus für Jugendliche ist geschlossen. Es kommt niemand mehr. Die historischen Reichtümer der Gegend, die früher im Museum versammelt waren, sind fortgeschafft. Niemand weiß, wohin. In einem der benachbarten Dörfer, Nyrob, noch weiter abseits von befahrbaren Straßen, ebenfalls für seine Kirchen bekannt, entdecke ich die andere Seite der Region: die „Zonen“. So werden Stalins Gulags heute genannt. Mindestens neun seien es rund um das Dorf, rechnen mir die Befragten an ihren Fingern vor. In der Region seien es noch mehr. Aber das wisse man am besten gar nicht so genau!
Die Permer Region, erfahre ich, war nicht nur ein Zentrum der Altgläubigkeit, sondern schon zu Zeiten der Zaren Verbannungsort und Strafkolonie. Peter der I. machte das Uralgebiet außerdem zur Erzgrube des Imperiums, die Sowjets machten es zum atomaren Übungsgelände. Die meisten der von mir Befragten kümmert weder das eine, noch das andere: Sie sind, wie Galina schon richtig sagte, mit dem Überleben beschäftigt. Die Wiedergeburt russischer Kultur erweist sich als Traum, für den vor Ort Zeit und auch Geld fehlt. Die Wiederherstellung der Würde des russischen Menschen aber fordern ausnahmslos alle.

Atmo4: Straßengeräusche, Pendeltüren, Hall im Foyer  (0,27)

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Zurück in Perm. Nach all dem Widersprüchlichen, was ich ihr von Tscherdin berichtet habe, will Galina mir etwas Aufbauendes vorführen: Das Kinderhaus der ehemaligen Leninwerke in der Arbeitervorstadt Materwelinski. 1500 Kinder werden hier auch heute noch in einer Art Vorschule versorgt. Die frühere Unterstützung durch die Werke musste allerdings der Eigenfinanzierung weichen. Der wirtschaftliche Existenzkampf ist hart und ungewohnt. Aber man schlägt sich durch. Härter ist der Kampf um das geistige Überleben: Alexander Wassiljew, der Leiter, erklärt seine Orientierung:

O-Ton4: Direktor des Kinderhauses (0,27)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Die wichtigste Aufgabe ist die seelisch-geistige Auferstehung Russlands. Unsere Kinder lernen die Bibel kennen, die Religionen. Wir haben sogar eine Sonntagsschule. Da gibt es alles: Ästhetik, Ethik – und das wirklich in der Praxis, also, nicht nur durch Erzählen wie in der Schule. Alles geschieht im Spiel.“

Erzähler: Weniger spielerisch geht es bei Nina Subotina zu, „Poetessa“, ehemalige Mitarbeiterin am städtischen Kulturhaus, die mich mit einer soeben gegründeten „Partei der russischen Ethik“ bekannt macht:

O-Ton 5: Poetessa Subottima (0,28)

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin: „Menschen des russischen Landes! Die freche                 Ausplünderung des russischen Staates setzt sich fort. Wir appellieren daher an alle Menschen auf russischem Boden, zu ihrer nationalen Moral zurückzukehren, sich nicht weiter von der Philosophie unseres Volkes zu entfernen, mit der Russland tausend Jahre lebte! Unsere nationale Moral und die Philosophie des Volkes bringen das Interesse aller Schichten der Bevölkerung zum Ausdruck: der Arbeiter, der Intelligenz, der Militärs, der Geschäftsleute, der Pensionäre, der Jugend. Sie bedingen ein Programm der Stabilisierung der Wirtschaft, das ein Ende macht mit der Erniedrigung des Volkes und der Ausplünderung des russischen Staates.“

Erzähler:   Kern der „nationalen Moral“, so Frau Subottina, sei das „Prinzip Obschtschina“, also der alten russischen Bauerngemeinde. Von daher kämen die gemeinschaftsbildenden Eigenschaften des russischen Volkes. Heute gehe es darum, sich für die Wiedergeburt der alten Moral der „Obschtschina“ einzusetzen, sie in Gesetze zu gießen und den Staat dadurch in einen moralischen und lebendigen Organismus zu verwandeln.

Atmo 5: Moskauer Metro, kommt an(0,45)

Regie: Kurz stehen lassen, langsam abblenden

Erzähler: Moskau. Die Welt von Perm liegt hinter uns und mit ihr die der Frau Subottina. Eine Skurrilität, könnte man glauben, von der aus man zu den wichtigen Fragen der Tagesordnung übergehen muss. Dass dem nicht so ist, begreife ich spätestens im Gespräch mit dem Vorsitzenden der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ Gennadij Schuganow. Er will alle Kräfte der „unversöhnlichen Opposition“ gegen die bestehende Regierung führen und hat Aussichten, dies zu schaffen, gleich ob links, rechts, vaterländisch oder religiös motiviert, wenn sie nur in einem einer Meinung sind: dem Wunsch nach der Widerherstellung der russischen Größe. Es gilt nur eine einzige Einschränkung: dass dies auf friedlichem und staatsbejahendem Wege zu erfolgen habe. Schuganows eigene Begründung klingt wie von Frau Subottina diktiert:

O-Ton 6: Gennadij Schuganow, Führer der KPRF (0,17)

Regie: stehen lassen, abblenden, wieder hochziehen. (Hier stimmt letzter O-Ton mit letztem  Wort des Zitats überein)

Übersetzer: „Wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte                 Psychologie der „Obschtschina“, kollektivistisch, ökumenisch, korporativ. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.“

Erzähler:  Als mir dann auch noch ein überzeugter Radikaldemokrat, Boris Kagarlitzki, erklärt, die Reform-Linke werde sich um ein populistisches Programm zur Rettung Russlands sammeln müssen, wenn sie verlorenes Terrain wiedergewinnen wolle und mir ein frisch fertig gestelltes Manuskript über die „russische Restauration“ in die Hand drückt, wird mir klar, dass die Suche nach dem eigenen russischen Weg in ein neues Stadium tritt.

Russland: Auf dem Weg zum „Nationalen Kommunismus“? Gespräch mit Gennnadij Schuganow, Vorsitzender des ZK der „Kommunistischen Partei der russischen Föderation“ und Leiter ihrer Fraktion in der staatlichen Duma.

Die Bomben von Grosny haben deutlich gemacht, dass Boris Jelzin nicht mehr allein Herr der Lage ist. Zeit also, sich mit der Opposition genauer zu befassen. Einen Schlüssel zum Verständnis dessen, was als „patriotische“ Alternative zu Boris Jelzin möglich ist, liefert Gennadij Schuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation.
Mit Schuganow stritt sich Kai Ehlers.

Kasten:
Gennadij Schuganow wurde im Februar 1993 zum ersten Vorsitzenden des Zentralkomitees der nach Aufhebung des KP-Verbotes neugegründeten „Kommunistischen Partei der Russischen Föderation“ gewählt. Dem ZK der neuen Partei gehören unter anderen Nikolaj Ryschkow, sowjetischer Premierminister unter Michail Gorbatschow, und Jegor Ligatschow an, der im Westen als orthodoxer Gegenspieler Gorbatschows galt. Bei den Wahlen zur Staatsduma im Dezember `93 wurde die Partei mit 12,4 Prozent der Stimmen und 65 Parlamentsitzen drittstärkste Kraft.
Schuganow war in sowjetischen Zeiten, so seine Selbsteinschätzung, wissenschaftlicher Parteiarbeiter und Universitätsdozent für Philosophie, Theorie und Ideologie. Beim Ende der KPdSU saß er bereits im ZK.
Seinen eigenen Angaben zufolge wurde die Partei in allen russischen Republiken, Verwaltungsbezirken und Regionen wiederaufgebaut und hat mittlerweile 550 000 Mitglieder. Nach einer ganzen reihe von Parteiversammlungen und wissenschaftlichen Konferenzen formulierte sie im April 93 ein Minimalprogramm. Darin setzt sie sich auf ökonomischer Ebene für vielfältige Formen des Eigentums ein. Priorität soll aber Gemeineigentum haben. Sie strebt eine breite „Union aller staatstragenden patriotischen Kräfte“ an, die Boris Jelzin ablösen soll. Sie soll sich für Gerechtigkeit, Humanität und „Duchownost“ einsetzen. Dieser Begriff hat seine Wurzeln in der Geschichte der russischen Staatskirche. Heute wird er im Sinne von höherer Geistigkeit benutzt, wobei die religiöse Bedeutung deutlich mitschwingt. Es geht, sagt Schuganow, um „Ideale, die charakteristisch sind für Russland, und zwar nicht nur für die letzten siebzig Jahre, sondern für die ganze russische Geschichte und Kultur.“

K. Ehlers: Es heißt, Sie seien unbestrittener Chef der Partei,
ähnlich wie Schirinowski.

G.Schuganow: Nein, nein! Schirinowski hat einer „Führerpartei“. (deutsch) Er trifft Entscheidungen, die sind verbindlich. Bei uns gibt es nichts dergleichen: Bei uns wirkt ein Präsidium. Darin sitzen äußerst seriöse Leute, Leute mit hoher wissenschaftlicher Ausbildung, Leute die in hohen Strukturen der Verwaltung gearbeitet haben. Das sind alles Akademiker, wissenschaftliche Korrespondenten, Direktoren großer Unternehmen, Universitätsdozenten, Abgeordnete staatlichen Wirkens…

K. Ehlers: Der Vergleich mit Schirinowskis Partei wird aber von vielen im Lande gezogen…

G.Schuganow: Das scheint mir ein ungesundes Interesse. Wenn Sie diese Frage interessiert, wenden Sie sich an Schirinowski. Ich halte es nicht für nötig, meine Zeit mit der Erörterung dieses Themas zu verschwenden. Ihm wird viel zu viel Aufmerksamkeit auch von Ihrer Seite gewidmet – weitere Ausdehnung des Landes, die Vernichtung der nationalen Kultur, die „Lumpenisierung“ der Bevölkerung, das legt einen Grund für politischen Extremismus. Eine solche Politik ist nicht nur für uns tödlich, sondern für ganz Europa.

K. Ehlers: Also, zu anderen Fragen, Privatisierung: Im Volksmund heißt sie schon lange „Prichwatisazija“, Raub. Jetzt hat Ihr verehrter Präsident einen Ukas herausgegeben, demzufolge nun eine zweite Phase der Privatisierung beginnen soll. Was bedeutet das?

G. Schuganow: Was in Russland Reform genannt wurde, erschien zunächst als Dezentralisation der Verwaltung, als Privatisierung, als Liberalisierung der Preise und als Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Praktisch hat sich das alles genau ins Gegenteil verkehrt. Eine Demokratisierung gibt es nicht, stattdessen Alleinherrschaft des Präsidenten und der ihn umgebenden Kreise, die niemand gewählt hat und die unkontrolliert und unverantwortlich das Vermögen des Landes vergeuden. Die Privatisierung verkehrte sich in massiven Raub, vor allem durch die staatlichen Beamten. Da gibt es reichlich Beispiele. Tschubais prahlte erst kürzlich damit, dass er aus der Privatisierung ein Einkommen von gut 27 oder ich weiß nicht wie viel Milliarden erzielt habe. Entschuldigung, aber das sind 30 Millionen Dollar! Das heißt, er hat das Land um ein Kapital gebracht, das ungefähr dem einer mittleren Firma entspricht. Da kann man sich vorstellen, wohin das übrige Geld verschwunden ist und auf welche Weise und wer den Nutzen davon hat. Außerdem ist die Privatisierung in einer solchen Weise durchgeführt worden, dass sie sich heute scheuen, vor Vertretern der Volksvertretung offenzulegen, wie diese erste Etappe, die sogenannte „Voucher“-Privatisierung („Volksaktien“) abgelaufen ist und wo diese Mittel abgeblieben sind. Für mich ist das Wesen dieser ganzen Operation vollkommen klar: Wenn man die internationalen Statistiken anschaut, dann wurde in unserem Lande über viele Generationen hinweg ein Vermögen von 150 000 Dollar pro Kopf gebildet. Statt dieses nun in der Weise zusammenzutragen, dass das Kapital in die Hände der Arbeitskollektive kommt und damit dem gemeinsamen Aufbau dient, wurde alles getan, dass es genau anders lief: ein winziger Teil wurde als Aktien ausgegeben und für ein paar Dollar aufgekauft, das waren damals 10.000, gut 1.000 Dollar) den Rest von 149.000 Dollar verteilten sie unter sich.
Die zweite Etappe der Privatisierung beinhaltet, bei bereits paralysierter Produktion, durch massive Bankrotte, mit den Mitteln verschiedener Aufkauffonds einzelner Clans von Ganoven und der Mafia und unterstützt von ausländischem Kapital, das Vermögen zusammenzuziehen, das es inzwischen im Lande gibt. Das ist schon keine Privatisierung mehr, sondern De-Nationalisierung, Zerstörung des Staates, seiner elementaren Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, eine noch nie gesehene Versklavung und Demontage der industriellen Entwicklung des Staates und Wiederkehr der alten Ausbeuterstrukturen.
Es gibt jedoch ein großes „Aber“: Ein solches System, wo einer den anderen beraubt, während er vorgibt, ihm zu helfen, hat noch nirgendwo funktioniert, angefangen in Rom: Es gibt keine Ethik, Gesetze gelten nicht, sogar die, die sie schreiben, zerstören sie am nächsten Tag. Aber jetzt hat man sich zum Ziel gesetzt, dass Eigentum in der Hand von drei, maximal fünf Prozent zu konzentrieren und alle anderen auszurauben. Dabei hat man die Restlichen aber schon bis ins Unerträgliche ausgeraubt. Man hat sie schon zu Arbeitslosen gemacht. Jeder Zweite im Lande erhält schon keinen Lohn mehr. Die Rede ist nicht von irgendwelchen Zuschlägen, sondern von Lohn! Zwanzig Millionen sind heute schon ohne Arbeit. Alle tragenden sozialen Garantien, angefangen bei der Bildung bis zur medizinischen Versorgung sind zerstört. Den Menschen wird es bald reichen. Dann werden sie fragen: Wo ist meine Arbeit?

K. Ehlers: Ich verstehe die die neu angekündigte Phase der Privatisierung so, dass jetzt der Kampf um die Vorherrschaft beginnt.

G. Schuganow: Ja, der Kampf zwischen den Clans, die ihr Gründungskapital zusammengetragen haben, hat schon begonnen. Die Kapitale sind aber vor allem im Finanz-System zusammengetragen worden. Der Kampf findet also zwischen Bank-Kapital und Industrie statt. Die, welche große Mittel zusammengekauft haben, wollen das jetzt in Waren materialisieren, in Nahrungsmitteln, in Immobilien.

K. Ehlers: In den letzten Monaten sind Moskau, St. Petersburg und andere größere Städte sichtbar aufgeblüht. Die Läden sind voll. Wer Geld hat, kann kaufen – und die Leute kaufen. Das gilt sogar für kleinere Orte in der Provinz. Im Land aber sieht man, dass die Produktion steht, dass die Landwirtschaft vor sich hinkrankt. Ich erlebe die Blüte als künstlich, als Scheinblüte.

G. Schuganow: Ich stimme dem zu, aber sie ist nicht nur einfach künstlich, sondern künstlich herbeigeführt. Der Anschein der äußeren Verbesserung besteht nur an einzelnen, herausgehobenen Punkten, in Moskau zum Beispiel, St. Peterburg. Zwischen den größeren Zentren auf der einen und der Provinz auf der anderen Seite, vor allem dem Lande bildet sich inzwischen ein Verhältnis heraus wie zwischen erster und dritter Welt, verstehen Sie? Durch Moskau zum Beispiel werden heute ungefähr 70% der finanziellen Ressourcen Russlands geschleust. der Rest ist bloß noch fetter Schaum, der sich auf die restliche Bevölkerung verteilt, die weiter verarmt. Eine Seelenlosigkeit ohne Gleichen breitet sich aus, der Konsum wächst ins Unermessliche; auf der anderen Seite ist der Unterschied zwischen den Ärmeren und den Reicheren schon um das Dreiundzwanzigfache gewachsen, in Fragen der sozialen Sicherheit um das Zehnfache. Gleichzeitig sind die Preise für Industrie-Produkte gewachsen, die für Textilien zum Beispiel, für landwirtschaftliche Ausrüstung. Eine Erneuerung der Ausrüstung ist nicht möglich. Das ist praktisch in allen Verwaltungsbezirken und Regionen so. Wenn sie in die Provinz gehen, sehen sie sterbende Dörfer, stillstehende Produktion, eine „lumpenisierende“ Bevölkerung, wachsende Hilflosigkeit. Womit das endet, kann man voraussagen.

K. Ehlers: Die Regierung erklärt, die Situation habe sich stabilisiert. Es gibt auch Gerüchte über eine bevorstehende Geldreform.

G. Schuganow: Die Stabilität ist ziemlich niedrig. Es findet eine Atomisierung der Gesellschaft statt, eine Betonung des privaten Interesses. Das ist wirtschaftliche Alchimie, obwohl auch die, die zuerst heiße Aktien erhielten, schon erste große Schocks erlitten haben. Das ganze dauert bis zum 1. Oktober. Danach wird man sehen, dass die landwirtschaftlichen Betriebe nicht zurechtkommen, dass keine Heizungsmöglichkeiten bestehen, dass sich die Energieversorgung unzureichend ist. Das umschließt die Möglichkeit von Kälte-Aufständen, die sich über ganz Russland ausbreiten. Dazu gibt es keinerlei Lebensmittelvorräte für diesen Winter. Deshalb werden da noch völlig neue Schwierigkeiten auf die Regierung zukommen. Das ist ganz offensichtlich.

K. Ehlers: Mein Eindruck ist, dass die Leute bescheid wissen, aber an Aufstand denken sie nicht. Vor Unruhen haben alle Angst.

G. Schuganow: Das ist richtig. Das ist bei uns schon ein genetisches Gedächtnis: In Russland gab es in den letzten hundert Jahren vier große Kriege, schwerste Repression. Sie hat 100 Millionen Menschen vernichtet. Deshalb verstehe ich meine Landsleute vortrefflich. Sie sind für friedliche, ruhige Entscheidungen der Widersprüche. Sie sind nicht auch bereit für sofortige Neuwahlen des Präsidenten. Deshalb bereiten wir gegenwärtig nicht eine Unterschriftenliste für vorgezogene Präsidentenwahlen vor, sondern dafür, dass ihr Termin durch eine zentrale Versammlung festgelegt wird.

K. Ehlers: Auch von Klassenkampf wollen die Menschen nichts wissen.

G. Schuganow: (lächelt nachsichtig) Ungeachtet dessen findet aber eine Proletarisierung der Masse der Bevölkerung statt, das bedeutet die die Entstehung von Klassenbewusstsein.

K. Ehlers: Die polit-ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die Marx für den westlichen Kapitalismus beschrieben hat, scheinen hierzulande aber zurzeit offenbar nicht zu greifen…

G. Schuganow: (lacht) Bei uns greifen zurzeit überhaupt keine Gesetze, nicht einmal die Ukase des Präsidenten.

K. Ehlers: Die soziale Differenzierung wird aufgefangen durch patriarchale Fürsorgestrukturen. Das „Wir“ steht über der Differenzierung.

G. Schuganow: (lacht) Das ist einfach unsere Mentalität, die kollektivistische, der komplizierte Charakter einer traditionellen Gesellschaft. Wir haben keine bürgerliche Gesellschaft vom Typ Deutschlands. Deutschland ging seinerzeit vom religiösen Typ einer Gesellschaft zur bürgerlichen über. Bei dieser Prozedur hat es damals fast die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Das War auch äußerst krank und schwierig. Wir haben dagegen eine korporativistische und kollektivistische Art zu Denken und die korporative Art, die Regierung zu organisieren, liegt uns näher. Also ist uns Japan näher oder China, um uns bei Entscheidungen zu helfen, als Amerika, das uns mit Gewalt Leute aufdrängt, die selbst zu Haus die Praxis nicht kennen.

K. Ehlers: Wenn ich die aktuelle Blüte in den Städten beobachte, dann drängt sich mir die Frage auf: Woher kommt das Geld?

G. Schuganow: Das ist schnell erklärt: Das Land ist reich. Man verschleudert Straßen, ganze Städte, Häuser, Stadtviertel. Man verkauft die eigenen Wohnungen zu wahnsinnigen Preisen, man handelt mit strategischen Materialien, Metallen. Es wird verkauft, was das Zeug hält. Estland ist auf den ersten Platz im Verkauf von Edelmetallen gerückt. Geld in der Produktion anzulegen, ist nicht profitabel. Wenn Du investierst, verheizt Du es: Steuern, achtzig bis fünfundachtzig Prozent, die Kreditbedingungen. Profitabel ist, mit Geld oder mit Waren zu handeln, die du vermittelst, schnell umschlägst, in die du aufs Neue investierst. Da kriegst du solides Fett.

K. Ehlers: Und wie lange, glauben Sie, kann das so weitergehen?

G. Schuganow: Ich denke, im Herbst oder Winter dieses Jahres wird das zusammenbrechen. Die Frage ist allein, in welcher Form das geschieht. Wir sind dafür, die Macht auf friedlichem Wege an die national-staatsbejahenden Kräfte zu überführen: Gründung einer Union der volksverbundenen und patriotischen Kräfte – Kommunisten, Sozialisten, Agrarier, national orientiertes Industriekapital, Veteranenorganisationen, Frauen …

K. Ehlers: Eine Art Volksfront?

G. Schuganow: Eine Volksbewegung. Wir nennen es „Union der staatbejahenden patriotischen Kräfte. In vielen Regionen ist bereits Realität. Dort sind bereits normale, sachkundige Leute miteinander tätig.

K. Ehlers: Normale, sachkundige Leute? Was heißt das in der gegebenen Situation?

G. Schuganow: Einfach Leute, die regieren können, die die Gegebenheiten ihres Landes kennen, die das Schicksal ihres Landes kennen, seine Besonderheiten, die Psychologie seines Volkes, Menschen, die wirklich reflektierten, was geschieht und die nicht in dieser oder jener abseitigen Ideologie engagiert sind, der sie folgen müssen.

K. Ehlers: Schirinowskis Leute und andere Patrioten nennen Russland heute ein „Land der Okkupanten.“ Früher wurden die Deutschen bei Ihnen so genannt. Wie stehen Sie zu diesem Begriff?

G. Schuganow: (lacht verhalten) Es liegt eine gewisse Wahrheit darin. Ich habe seinerzeit alle Dokumente gelesen, die mit der deutschen Besetzung zusammenhängen. Da gab es Empfehlungen der Art, besonderes gute Verbindungen mit Leuten herzustellen, die öffentlichen Einfluss haben, Schriftsteller, Leute mit Autorität usw. Es gab sogar Empfehlungen, die kollektiven Strukturen der Sowchosen und Kolchosen nicht vollkommen zu zerstören, weil eine hungrige Bevölkerung andernfalls unruhig werden könnte. Jetzt reißt man dagegen alles auseinander. In unseren Dörfern kann man heute nichts kaufen und nichts produzieren, keinen Traktor, keinen Mähdrescher, nichts. Unsere heutige Elite, Schriftsteller, Künstler, Spezialisten haben angesichts ihrer gebrochenen Existenz (lacht unfreiwillig sarkastisch) sehr schnell begriffen, dass ihr Leben durch die Ankunft der Okkupanten nicht besser geworden ist, sondern schlechter. Ich selbst benutze den begriff nicht. Ich denke, der Hauptwiderspruch in unserem Lande verläuft zur Zeit zwischen national-staatlichen Kräften und der kompradorischen Ausverkäufern, die nicht nach links und nicht nach rechts schauen, wenn sie nur verkaufen und sich dabei bereichern können.

K. Ehlers: In welchem, Verhältnis steht die von Ihnen beabsichtigte Bewegung staatsbejahender patriotischer Kräfte zu nationalen Bewegungen in den Republiken?

G. Schuganow: In einen Vielvölkerland ist es sehr wichtig eine Politik zu betreiben, die maximal die eigene Traditionen, Sprache, Gewohnheiten, Kultur schützt und für deren weitere Entwicklung eintritt. Aber verbunden damit muss man auch für den Schutz der Spezifika eintreten, die für die Gründung der russischen Staats-Union, der UdSSR galten. Einer der Gründer dieser Union war eben das russische Volk. Deshalb ist es notwendig, sich dem Schutz der russischen Sprache zu widmen als der Sprache der zwischen-nationalen Beziehungen. Wenn Sie jetzt ein paar Schritte weiter auf die Twerskaja (eine der großen Straßen Moskaus), da erleben Sie, dass dort fast nur noch Englisch gesprochen wird.

K. Ehlers: In einem ähnlichen Gespräch wie diesem hat mir Alexander Prochanow letztes Jahr wörtlich erklärt, er sei Faschist. Auf die Frage, was das bedeute, sagte er: „Ich bin ein traditioneller Imperialist (Schuganow lächelt) in dem Sinne, dass ich allen ihren eigenen kulturellen Weg zubillige, vorausgesetzt, dass sie unsere Vorherrschaft akzeptieren. Wir Russen sind die wichtigsten, die kultiviertesten, die stärksten.“ Sie kooperieren doch mit Prochanow. Wie stehen Sie zu solchen Äußerungen?

G. Schuganow: Nun, ich denke, Prochanow hat nicht gesagt, dass er Faschist sei. Das ist nicht wahrscheinlich. Er ist ein Mensch, der national-staatliche Interessen verfolgt und das mit seinen Mitteln macht. Er ist ein befähigter, talentierter Schriftsteller, Literat und Publizist, dem zuzuhören mir angenehm ist. Aber da sind die Fakten, da ist die Geschichte der Entwicklung des russischen Staates: Wer war der Sammler der Erde? Das Moskauer Zarentum, die Kiewer Rus, die russische Herrschaft. Was war die UdSSR- die geopolitische Form des russischen Imperiums? In jedem beliebigen Staat gibt es ein Volk, welche den Aufbau des Staates trägt. Die Russen stellen in der jetzigen Föderation 84% der Bevölkerung. Man muss die Traditionen, Gewohnheiten, Kulturen genau ansehen, muss sehen, wer in die Republiken gegangen ist, nach Mittelasien, Kaukasien, dort technische Hilfe für die Produktion hingebracht, dort entsprechende Institute entwickelt hat, wer zum Beispiel dort die schwierigeren Teile der Produktion leistet. Jetzt nimmt man die Russen auf, die von dort kommen, Massen, die ihre Häuser zurücklassen, Wohnungen, ganze Fabriken. In Kirgisien ist die Schwerindustrie praktisch zum Stillstand gekommen – aus eigenen Kräften schaffen sie es dort nicht. Das ist die bekannte historische Mission und es verbietet sich, das in der gegebenen Situation nicht anzuerkennen. Wer hat das geopolitische Gleichgewicht hier aufrechterhalten, das russische Imperium, die Sowjetunion im Laufe von drei Epochen? Jetzt ist diese Balance der Kräfte zerstört worden. Jetzt werden neue geopolitische Räume gebildet und es ist nicht ausgeschlossen, dass uns alle äußerst unangenehme Entwicklungen erwarten. Deshalb müssen die besonderen Wege verschiedenster Völker und Staaten unbedingt als Lehre für die weitere Entwicklung genommen werden.

Ich weiß, wie sich beispielsweise Deutschland herausgebildet hat: ein Reich, das zweite, das dritte. Da ist eine besondere Seite der Geschichte. Aber ich kann in Ihrer Literatur nicht sehen, dass man sich jeden Tag gegenseitig dafür beschimpft, dass Hitler an die Macht kommen konnte und dass man sich bis auf die Haut deswegen zerfleischt.  Bei uns dagegen zieht man die Untersuchungen über die Vergangenheit ins Endlose und beschäftigt sich in keinster Weise mit der Gegenwart. Man hat die Generationen auseinandergerissen, die ältere gegen die jüngere gehetzt, die jüngere dabei verloren, unklar wofür und für wen. Jetzt plündern sie die Geschichte, einfach erniedrigend, völlig ohne Perspektive.

K. Ehlers: Was Hitler betrifft, irren Sie. Bei uns gibt es eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte.

G. Schuganow: Ich habe drei Jahre in Deutschland gedient. Ich kenne Ihre Gegebenheiten ganz gut. Man hat Literatur darüber, das Thema wird erörtert, aber ohne Selbsterniedrigung. Man untersucht, versucht zu ergründen, aber ohne von jedem zu fordern, dass er ständig seine Geschichte ausbreitet.

K. Ehlers: Ich möchte noch einmal zu Prochanow zurückkehren. Er sagte mir, sei Faschist in dem Sinne…

G. Schuganow: (unterbricht grob) Ich bitte Sie, diesen Terminus nicht zu gebrauchen. Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Ich habe davon nie etwas gehört…

K. Ehlers: Ich kann ihnen sagen, was er mir direkt ins Mikrofon diktiert hat: Er wolle den Korporativismus Mussolinischen Typs und den russischen Anarchismus vereinen, das werde möglicherweise Faschismus – aber ohne rassistische Aspekte. Halten Sie das für eine vertretbare Position?

G. Schuganow: Nun, wenn Sie auf dem Thema weiter herumreiten, dann sage ich Ihnen geradeheraus: Was kann ein Mensch denken, dessen Vater, dessen sämtliche Verwandte an der Front umkamen, um ihr Vaterland zu schützen und der sich jetzt persönlich dafür einsetzt, die Gerechtigkeit in seinem Lande zu verteidigen? Faschismus unterscheidet in ideologischer Hinsicht durch zwei Qualitäten davon: das ist der nationale Antrieb und die nationale Ausschließlichkeit. Beides ist Russland, aber auch dem russischen Menschen absolut fremd. Und zum zweiten hat der Faschismus, als er an die Macht kam, als allererstes die Kommunisten an die Wand gestellt. Nichts dergleichen hat es in Russland gegeben und gibt es auch jetzt nicht, wenn ich es nicht an Gaidar und Co festmachen will. Die fordern nämlich zur Zeit ein Verfahren gegen alle führenden Kräfte, die Mitglieder der KPdSU waren, fordern die Aberkennung von Titel, die in der KPDSU erworben wurden bei mehr als der Hälfte der Schriftsteller, die dort waren. Das Herumreiten auf der Vorstellung eines Faschismus in Russland erweist sich damit als künstlich.
Überhaupt: „Rot-braun“ ist nicht mehr als ein gut ausgedachter psychologischer Begriff, um die Roten zu erniedrigen, die doch die Braunen in Europa aufgehalten haben, die dem deutschen Volk damit geholfen haben und die dafür nicht nur mit zwanzig Millionen Menschen bezahlt haben, sondern mit weitaus mehr. Bei der Volkszählung in Russland am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten 194 Millionen Menschen in Russland. Das Wachstum der Bevölkerung betrug fast vier Millionen. 1945 hätten es 200 oder 215 Millionen Menschen sein müssen. Geblieben sind uns 167 Millionen. Wir verloren also fast 50 Millionen. Deshalb sind alle Versuche, faschistische Philosophie auf russischem Boden zu installieren, insbesondere unter meinen Bekannten in der Partei, moralisch völlig unannehmbar. Da wird nur versucht, Unvereinbares miteinander zusammenzukleistern: Was ist denn „rot“ in der russischen Sprache? Schöner Platz, schönes junges Mädchen, schöner Ort, schönes altes Bauernhaus. Nein, nein, das ist ein Versuch, die ganze nationale Kultur und Sprache, die sich in tausenden von Jahren geformt hat, zu vernichten. Nein, das ist ein psychologischer Trick derer, die Russland erniedrigen, es verachten, zerstückeln, sich die größte Mühe geben, das nationale Bewusstsein und die nationale Kultur zu zerstören. Ich halte das für eine scheußliche Angelegenheit. Bedauerlichewerweise beschäftigen sich damit viele unserer Journalisten, die die Spaltung sähen, also die alte von der jungen Generation trennen. Sie bemühen sich um die „Neuen Russen“, für die sogar gewaltsame Auflösung des Parlaments (Schuganow benutzt das für diesen Fall auch im Volksmund gebräuchliche Wort „rastrel“, Erschießung für Auflösung) ein Schauspiel ist, aber keine nationale Tragödie, für einige von ihnen.

K. Ehlers: In den „Moskowski Nowosti“ ist soeben ein Artikel unter der Fragestellung „Nationaler Kommunismus?“ über ihre Partei erschienen. Trifft das Ihre Linie?

G. Schuganow: (lacht verächtlich) Was diesen sachunkundigen, talentlosen Artikel betrifft, so entspricht sein Inhalt mit Sicherheit nicht der der realen Meinung unserer Partei. Was das Wort „Kommunismus, Kommune“ angeht, so ist ja das nur die Übersetzung des russischen Begriffes von gemeinschaftlich (Schuganow sagt, „obschteschstwenni“, das leitet sich von „obschtschina“ her, Bauerngemeinde). Da geht es einfach um das Primat gemeinschaftlicher Interessen vor privaten. Durch die ganze Geschichte zieht sich der Kampf dieser zwei Tendenzen: Aber das kann ich voraussagen: Wenn diese privatistische Tendenz siegt, dann wird in zwanzig Jahren von unserem Planeten nichts übrig bleiben. Man wird alles ausplündern und zugrunde richten. Schon lange sind die individuelle, gemeinschaftlichen Bedürfnisse und die privaten in schweren Widerspruch mit der Natur geraten. Auch Deutschland wird nicht blühen, wenn diese Probleme nicht gelöst werden.
So haben wir auch jetzt den Kampf dieser Tendenzen und er wird sich entscheiden. Die Annäherungen an eine Lösung sind verschieden. Zum Beispiel Deutschlands Verwirklichung der Marktwirtschaft, das ist ja Ergebnis einer Geschichte, die Sie auch nicht besonders erfreut. Wenn man also jetzt beginnt, mein Land mittels verschiedner historischer Tatsachen runterzumachen, der Art, dass es da den Oktoberumsturz gegeben habe um., dann frage ich nur: Und die Massenaufstände Iwan Obolotnikows, Stepan Rasins, Emiliano Pugatschows – von wem wurden die unterdrückt. Was war mit ihnen? Waren sie Bolschewiken? Waren sie Kommunisten? Der Aufstand der Dekabristen, der Offiziere und viele andere Ereignisse? Nein, wir haben eben diese gemeinschaftsorientierte Psychologie, kollektivistisch, ökumenisch (Schuganow benutzt den religiösen Terminus „sobornost“, heilige Versammlung), korporativistisch. Das ist ewig erprobt. Entweder man versucht auf dieser Grundlage leistungsfähige Reformen herauszubilden oder es gibt einen niederschmetternden Rückschlag.

K. Ehlers: Das wäre Ihr Weg für Russland?

G. Schuganow: Nun, jeder hat seinen Weg. Da sind die japanischen Besonderheiten, da ist Ehrhards Weg. Gaidar macht alles genau umgekehrt: Ehrhardt hat die Liberalisierung der Preise ganz an den Schluss gesetzt, das war der letzte Akt seiner Reform, er wusste sehr gut, warum. Es gibt das chinesische Modell, die chinesischen Besonderheiten. Es gibt einen nationalen Charakter des Menschen. Das kann man nicht übergehen. Kann man halb Russe und halb Estländer sein? Man kann. Kann man zur Hälfte Russe sein und zur Hälfte Ukrainer? Man kann. Aber man kann nicht zur Hälfte katholisch und zur Hälfte prawoslawisch (russisch-orthodox christlich) sein. Das muss man begreifen. Es gibt nationales Kolorit und nationale Besonderheiten. Ich zum Beispiel habe in Deutschland mit Vergnügen „Ordnung ist Ordnung“ gehört. In Russland gibt andere Traditionen…

K. Ehlers: Welche Bündnispartner kommen für Sie in Frage, welche nicht? Wie ist es etwa mit Schirinowski, wie mit Barkaschow?

G. Schuganow: (lacht aggressiv) Man hat mir gesagt, sie seien ein seriöser Mensch. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie solche banalen Fragen stellen, hätte ich mich auf das Gespräch gar nicht eingelassen. Das ist sinnlos. Wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen wollen, bitte, das ist nichts für mich. Wir werden mit allen zusammenarbeiten, die keinen Krieg in Russland wollen, keine territorialen Aufspaltungen, mit allen im Hause, die damit übereinstimmen. Schirinowski ist Delegierter der Staatsduma. Er ist Mitglied des Rates genau wie Gaidar, Jawlinksi. Er sitzt nebenan und redet mit. Das ist die Realität, die ich anerkenne, die ich anerkennen muss. Hinter Schirinowski steht zudem nicht die ganze Partei, nicht einmal die gesamte Fraktion. Da gibt es verschiedene Leute und Leute mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen. Deshalb arbeiten wir mit allen zusammen, die nicht wollen, dass Russland in der Tragödie eines massiven Umsturzes untergeht.

K. Ehlers: Das Ganze läuft doch auf eine Erneuerung der im Herbst 93 aufgelösten „Front der nationalen Rettung“ hinaus?

G. Schuganow: Ja, die Schaffung einer Union der staatsbejahenden patriotischen Kräfte ist der Schlüssel für die Lösung der Krise. Bei uns sind alle Systeme zerstört: Der Staat existiert nicht mehr. Das Eigentum ist in räuberischer Weise verteilt. Die Sicherheit geht gegen Null. Unsere Armee wird zur Gefahr, statt dass sie gegen Gefahr schützt. Die Hälfte ihrer Vertreter blieb ohne Wohnungen in diesem kalten Winter. Mit einem Menschen, der die Automatische in der Hand hat, darf man so nicht umgehen. Die kulturellen Traditionen sind zerstört. Die Mediensysteme geben nicht das Bild, Man drängt dem Land fremde Religionen auf. Das ist nicht mehr nur einfach gefährlich, das ist schon eine Situation, die mit gewöhnlichen Mitteln fast nicht mehr zu heilen ist. Mit jedem Tag verstärkt sich diese Situation und Ihr guter Freund (er meint Schirinowski), der bereits Regisseur eines Orchesters wurde, hat kaum die Rezepte zur Heilung.

K. Ehlers: Eine abschließende Frage: In der deutschen, aber auch in der russischen Politik beginnt man neuerdings wieder von einer „deutsch-russischen Achse“ zu sprechen. Was halten Sie davon?

G. Schuganow: Ich schätze, dass die geopolitischen Interessen Deutschlands und Russlands einander nicht widersprechen. Beide Länder können auf sämtlichen Gebieten zusammenarbeiten, auf wirtschaftlichen, auf kulturellem, in der Sicherheit, bei in geopolitischen Verbindungen, beliebig. Objektiv sind Deutschland und Russland an der Entwicklung einer Beziehung interessiert.

K. Ehlers: (697) Meinen Sie, dass da eine privilegierte Beziehung entsteht?

G. Schuganow: Es ist auf jeden Fall einer der Prioritäten russischer Politik.

K. Ehlers: Sie wissen, dass die Nachbarstaaten Angst davor haben?

G. Schuganow: Nun, Große und Starke fürchtet man immer.

*

Soeben erschien von Kai Ehlers:
„Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung. – Eine dokumentarische Erzählung, Porträts und Analysen in drei Teilen“, bebildert, Karten, Register; Schmetterling Verlag, ca. 300 Seiten.

Besuch bei einer russischen Bezirksrichterin

Vorspann seitens des Senders. Sinngemäß: Welche Spuren hinterlassen Wandlungen im Alltag? Ein Besuch im Bezirksgericht im Arbeiterdistrikt Kirowski in Nowosibirsk.

O-Ton 1:Samie glawnie trudnosti… (0,38)     … winuschdi raboti samimatsja)
Regie: Alle O-Töne kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss des Zitats hochziehen und abblenden. Alle O-Töne sind identisch mit den Zitaten, in den ersten und letzten Sätzen jeweils wörtlich. Der letzte O- Ton wird am Schluss nach dem Kommentar hochgezogen und nach dem Lachen abgeblendet.

Übersetzerin:  „Die Hauptschwierigkeit ist die Überlastung. Uns                 fehlen die Mitarbeiter, uns fehlt die Zeit, um so zu arbeiten wie es sein sollte. Es fallen hier heut so viele Dinge an, dass wir einfach nur noch springen, springen, springen. Dazu kommt, dass an allen Ecken das Geld fehlt; Moskau plant, aber die Mittel bekommen wir nicht: keine Kopierer, keine Computer, nicht einmal ausreichend Exemplare der gesetzlichen Verordnungen! So befassen wir uns hier nicht nur mit unserer eigentlichen Arbeit, sondern sind gezwungen, uns noch mit rein technischen Dingen zu beschäftigen.“

Erzähler: Galina Popienko, leitende Richterin, empfängt uns                 im zweiten Stock eines Mehrzweckgebäudes. Im Volksmund wird es einfach Bezirkskontrollpunkt genannt: unten Polizeiwache, im oberen Stockwerk die Prokuratur, die allgemeine Rechtsaufsichtsbehörde. Frau Popienko, eine freundliche, runde Frau, die viel lacht, während sie mit uns spricht, nimmt kein Blatt vor den Mund:

Ton 2: Ransche djela po ubistwa… (0,21)     … wypili, padrali, ubili

Übersetzerin:   „Früher gab es fünf, sieben, im Höchstfall zwölf                 Mordfälle pro Jahr. Jetzt habe ich an einem einzigen Tag gleich fünf `Morde‘ auf dem Tisch. Alle hängen sie irgendwie mit Alkohol zusammen: Affekthandlungen, keine großen moralischen Fragen. Es kommt alles aus dem gewöhnlichen Alltag: gesoffen, geschlagen, getötet.“

Erzähler:   Beängstigend wachse auch die Zahl der                 Erpressungen durch Gewaltandrohung. Zwei, drei, vier Fälle habe sie am Tag. Besonders beunruhigend sei, dass das durch junge, kräftige Leute geschehe, die so ohne Arbeit, einfach durch Gewalt, zu Geld kommen wollten:

Ton 3. Setschas pawilas novie formi… (0,32)     … kotorie ransche nje bilo)

Übersetzerin: „Jetzt sind neue Formen des Verbrechens entstanden: Racket, also Schutzgelderpressung, mafiotische Aktivitäten, organisierte Strukturen. Früher haben wir von so etwas nichts gehört. Früher blieb das alles auf diesem Niveau: Man klaut, man räumt Wohnungen aus, man bestielt irgendein Unternehmen. Aber dass da einer kommt, der einfach Geld fordert – das ist bei uns heute neu. Überhaupt sind mit der Kapitalisierung des Landes bei uns Momente aufgetaucht, die es früher nicht gegeben hat.“

Erzähler:     Eine moralische Wende?

O-Ton 4: Besoslow, moralni Ismeninije u swech… (0,38) … nada ubiratj i budit tschista

Übersetzerin: „Aber sicher, (…) selbstverständlich, bei allen von uns. Beim Gerichtsapparat nicht anders als bei den Verbrechern, wie auch bei den einfachen Bürgern.  Wir alle haben uns ein wenig verändert. Es gibt eine größere Selbstständigkeit. (…) Die Menschen sind freier geworden und wissen sich besser zu schützen. Andererseits gibt es jetzt viel Demagogie der Art, dass man das eigene Versagen irgendwelchen Umständen oder Leuten zuschiebt, kritisiert, statt selbst etwas zu versuchen. Ich denke dagegen, wenn es im Haus schmutzig ist, muss man nicht fragen, wer Schuld hat, dann muss man den Besen nehmen und ausfegen, aufräumen, dann wird es sauber sein.“

Erzähler: Das erinnert an Formulierungen des Rechtsaußen                 Wladimir Schirinowski. Er meint damit, jeden Verbrecher standrechtlich erschießen lassen zu wollen. Ob sie mit ihm übereinstimme?

O-Ton 5: Njet besoslowna…  (O,27)     … schto nje pobiwatj wsje sosedi)

Übersetzerin: „Nein, selbstverständlich nicht. Ich habe keine                 Beziehung zu ihm. Ich denke, dass alle Maßnahmen demokratisch sein sollten. Wir sind doch vernünftige Menschen, Menschen des 21. Jahrhunderts. Da muss man auch auftreten mit Methoden des 21. Jahrhunderts. Wenn man schon renovieren muss, dann ohne dabei alle Nachbarn gleich umzubringen.“

Erzähler: Frau Popienko hofft auf den Fortgang der                 Reformen. Der werde schließlich doch ein neues Verhältnis zum Eigentum entstehen lassen und damit auch die Kriminalitätsrate wieder senken.
Bei der Frage der Vorbeugung, brechen ihre Sorgen dann aber doch noch einmal hervor: Früher sei der Mensch eingebunden gewesen, heute stehe er allein. Früher seien die jungen Menschen versorgt gewesen, heute bringe die Spaltung der Gesellschaft in wenige Reiche und viele Arme Neid und Habgier hervor. Unvermeidlich ergebe sich damit eine Grundlage für den Anstieg des Verbrechens. Das Schlimmste am neuen Gesicht des Verbrechens aber sei:

O-Ton 6: Zynism pojawilsja… (1,00)
… wot tak menjaetsja u nas prestubnik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Zynismus hat sich entwickelt! Dem Menschen ist                 sein Glaube an eine helle Zukunft genommen worden. Früher wusste der Mensch: dass bei uns alles gut ist, dass bei uns alles gerecht ist; bei uns bist Du versorgt, der Staat kümmert sich um dich. Wenn Du ehrlich arbeitest, kannst Du das und das erreichen. Jetzt ist dieser Glaube zerstört und wird durch andere Werte ersetzt. Aber nicht alle können ihn durch den Glauben an Gott, nicht alle durch Vertrauen in die eigene Kraft ersetzen. Einige sind auch einfach zu faul, sich mit eigenen Händen eine Zukunft aufzubauen. Und so kommt es, das die Leute runterkommen, anfangen zu saufen, Drogen nehmen, dass ein Leben nichts mehr gilt. Eine große Zahl von Verbrechen hängt ja auch mit der ansteigenden Zahl von Drogensüchtigen zusammen. In dieser Weise ändert sich bei uns das Bild des Verbrechers.“

Erzähler: Diese düstere Klage der Richterin wird nur noch dadurch gemildert, dass sie mich am Ende freundlich kritisiert, ich hätte sie vergessen danach zu fragen, wie sie persönlich mit ihrer Tätigkeit zurechtkomme. Das nämlich falle ihr am schwersten: Menschen verurteilen zu müssen, die sie als Opfer der Verhältnisse nur allzu gut verstehen könne verstehen könne.

Ton 7: …Schlussworte (0,17)

Regie: O-Ton auf der Mitte des Zitats allmählich hochziehen, mit dem Lachen ausblenden

Unterwegs in Tulinskaja – Sowchose im Übergang

Im Sommer des Jahres `94 schien es so, als ob die russische Entwicklung in ruhigere Bahnen kommen könnte. Aber die vorübergehende Stabilisierung, die der Auflösung des obersten Sowjet und der übrigen Sowjetstrukturen im Oktober 1993 folgte, droht sich als Scheinblüte zu erweisen, deren absehbares Ende nur noch tiefer in die Krise führt.

Welche Spuren diese Krise in der Landwirtschaft zieht, zeigen die Eindrücke, die Kai Ehlers bei seinem Besuch einer ehemaligen Mustersowchose in Sibirien sammelte.

A – Athmo 1: Fahrt im PKW auf der Ausfallstraße (1,20)    (Fahrgeräusche, Beginn der Rede…

Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, zeitlang unterlegen, abblenden

Erzähler: Nowosibirsk. Ausfallstraße nach Süden. Auf dem                 Weg zur Sowchose Tulinskaja, seit einem Jahr Aktiengesellschaft. Sie liegt etwa 100 Kilometer im Süden am Ufer des zum See gestauten Ob. Wassili Horn ist ihr Direktor. Früher sei Tulinskaja eine Mustersowchose gewesen, erzählt er, die größte Wirtschaft in der Region: Vier Dörfer, 22. 000 Hektar, davon 6000 gepflügter Boden, 10.000 Weideland, 1500 Kühe und 8000 Schweine. Einen Profit von 1,5 Millionen Rubel habe der Betrieb 1984 gemacht, als er dort von der Partei eingesetzt worden sei. Heute kämpfe der Betrieb um sein Überleben:

A – Ton 1:  Wassili Horn (0,21)  (Tschas u nas tak…
Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer: „Jetzt ist bei uns alles auf den Kopf gestellt:                 Je mehr Du arbeitest, umso mehr Verlust machst du. Zurzeit ist es nicht profitabel, Milch, Fleisch oder Brot zu produzieren.“

Erzähler: Grund: Die Erlöse für die eigenen Produkte würden                 durch die Zwischenhändler und billige Westware immer tiefer gedrückt, die Preise für Maschinen, Treibstoff, Heizung und sonstigen Bedarf dagegen von der Inflation hochgetrieben. Die Schere gehe immer weiter auseinander. Statt Unterstützung zu leisten, verlange die Regierung auch noch irrsinnige Steuern. Die staatlichen Kredite seien nicht zu bezahlen. Früher hätte die Sowchose Straßen, Wohnungen und Produktionsanlagen gebaut. Jetzt könne sie nichts davon machen, alles verkomme:

A – O-Ton 2: Forts. Direktor (0,50)                 (Nu, djela w tom tscho….
… unitschtoschit wabsche russskuju natiu.)

Regie. O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer kurz hochziehen, wieder abblenden.

Übersetzer: „Auf allen Ebenen wird davon geredet, dass der Bauer wieder zum Bauern gemacht werden muss, damit er über das verfügen könne, was er selbst produziert. Damit bin ich einverstanden! Aber was jetzt geschieht, das hat es unter keiner Macht gegeben, nicht unter der zaristischen, nicht unter der sowjetischen, wo man uns abgerichtet hat. Jetzt ist angeblich alles freiwillig. Aber was heißt freiwillig, wenn man uns das Messer an die Gurgel setzt? Nein, ich habe das Gefühl, das da ein bestimmter Auftrag ausgeführt wird – ich weiß nicht, vielleicht die russische Nation überhaupt zu vernichten?“

Erzähler: Bestenfalls sei das Ganze nicht zu Ende gedacht: Wer was bei der Aufteilung des Eigentums bekomme, und wie das neu organisiert werden solle, so dass es auch weiterhin funktioniere, ohne dass der Bauer auf vollen Feldern krepiere. Auch die Umwandlung der Sowchose in eine AG sei letztlich nur ein formaler Akt:

A- O-Ton 3: Direktor Fortsetzung (1,36) (To jest, on stanowitzka sobstwennikom…     …eto ponimaet swje, ne koem obrasim)

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) hochziehen und wieder abblenden

Übersetzer:    „Die Leute sind zwar Eigentümer geworden, es                 wurde eine Leitung gewählt, eine beratende Versammlung und ein Vorstand des Rates; persönlich bin ich das, aber als höchstes Organ fungiert die Versammlung. Das Elend ist nur, dass die Leute sich nicht als Eigentümer des Bodens oder ihres Anteils am Gesamtbesitz fühlen.“

Erzähler: Auf der Grundlage dieser ganzen Unentschiedenheiten habe sich auch die Arbeitsdisziplin gelockert, hätten Diebstahl, Raub und Suff in erschreckenden Maße zugenommen. Das ganze spitze sich schließlich in der Frage zu: Wohin mit diesen Leuten, die nicht arbeiten wollten? Und auch denen, die es nicht könnten? Zur Entscheidung dieser Frage gebe es zurzeit überhaupt keine Mittel. Er könne ja nicht einmal den Lohn auszahlen. Erst heute Morgen hätten ihm seine Fahrer die Hölle heiß gemacht. Ob er offene Konflikte befürchte? Nein, sie hätten sich geeinigt, dass man gemeinsam eine Lösung finden müsse:

Übersetzer: (2)“Wir sind alle so erzogen, dass es keine Konflikte                 geben darf. Der einfache Mann weiß auch gar nicht, wie er das machen soll. Die Leute spüren, dass man uns gegeneinander hetzen will. Aber hier in Sibirien wird es so was nicht geben. Die Menschen verstehen, dass die gegenwärtige Macht gegen ihre Interessen, dass sie dem Volk feindlich ist. Nein, etwas anderes beunruhigt mich: dass das Volk nach einer harten Hand verlangen könnte, einem Mann wie Schirinowski. Denn das es so nicht weitergeht wie jetzt, das ist jedem klar.“

B – Athmo 2: Sowchosenbüro, Vorplatz (1,36) (Karrengeräusche, Frage, Alter spricht…      … Alter, Lachen, Karrengeräusche)

Regie: Kreuzblende mit O-Ton 4, langsam hochziehen, so dass voller Ton, wenn der Alte spricht, kurz stehen lassen, dann abblenden, am Ende des Erzählertextes langsam wieder hochziehen
Erzähler: Vor dem Büro der Sowchose wird sofort deutlich, wovon der Direktor spricht. Hier werden gerade Anteilscheine ausgegeben. Beschiss sei das, schimpft der Alte. Das Geld wolle man ihnen aus der Tasche ziehen, sonst nichts. Was könne er sich für die Scheine kaufen? Einen Dreck! Das Land gehöre doch weiter dem Staat!
Vergeblich versucht der Administrator des Ortes, der auf Wassilis Bitten gleich gekommen ist, um mit mir zu sprechen, dem Alten zuzureden: In Kürze werde ein Landgesetz verabschiedet. Dann könne er frei verfügen. Der Alte bleibt störrisch: Aber wann werde das sein? Das habe doch sooo einen Schwanz!

A – Athmo 3: Verwaltungsgebäude (0,19) (Schritte, Schlüssel, Tür…

Regie: Mit Athmo 2 verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler: Im Verwaltungsgebäude setzt sich die Demonstration gleich fort. Dieses mal mit dem Verwalter, einem Jakuten.

B – O-Ton 4:Dorf-Administrator (0,34) (Ja glawo Administratii mestni…

Regie: O-Ton 3 verblenden, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:  „Ich bin der Kopf der örtlichen Selbstverwaltung.                 Früher habe ich mit einem Sowjet gearbeitet. Jetzt ist der Sowjet aufgelöst. Ich bin praktisch allein.“

Erzähler; Der eigentliche Herr in Tulinskaja sei nach wie vor der Direktor. Er selbst versuche, die wenigen Mittel, die in dieser schweren Zeit noch geblieben seien, zu sammeln und für das gemeinsame Wohl einzusetzen. Aber das Meiste gehe schon für Reparaturen und Heizung weg, der Rest für Bildung. Zur Unterstützung bedürftiger Familien bleibe praktisch nichts. Jeder müsse heut sehen wie er selbst durchkomme.
Natürlich nähmen die Diebstähle zu. Dagegen könnten er und die beiden Milizionäre, die ihm unterstünden, praktisch nichts unternehmen. Auch Lohnsperren, die er über den Direktor erwirke, nützten nichts. Wie könne man etwas sperren, was es nicht gebe? Das Schlimmste aber sei der moralische Verlust.
A – O-Ton5: Adimistrator, Fortsetzung (0,35)                 (Demokratia, o kotorim mi goworim…     … nje wischu)

Regie: O-Ton kurz hochziehen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen.

Übersetzer: „Die Demokratie von der wir so viele Jahre                 sprechen – in meinen Augen ist das Anarchie. Keine Gesetze. Als gebildeter Mensch bin ich für Kultur, Bildung, Glück, Gewissen. Nur dann funktioniert Demokratie. Bei uns seh ich das nicht.“

Erzähler:    Für seine Alternative braucht er nur ein Wort:

A – O-Ton 6: Forts. Administrator (0,01) (Diktatura…
Regie: Keine Übersetzung

Erzähler: Auf die Frage wie und durch wen, beeilt er sich     zu versichern: Ganz sicher nicht durch Schirinowski. Auch zu Stalin will er nicht zurück. Alles darf nur über Gesetze laufen! Alle Menschen haben das gleiche Recht! Das ist für ihn als Angehöriger einer nationalen Minderheit klar. Wir seien doch alle Menschen! Aber es müsse Ordnung geschaffen werden, sonst gehe Russland unter. Er sei überzeugt, dass das bald kommen werde.

A – Athmo 4: Hupen, Hunde (1,00) (Hupe, Hunde, Stimmen..)

Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Ausfahrtbereit. Es soll zur Melkstation in einem                 der Nachbardörfer gehen. Wir warten noch auf eine Mitfahrerin. Die Männer unterhalten sich über Hunde. Ohne Hund zu leben, sei heut nicht mehr möglich, meint Wassili. Er habe drei, erzählt der Fahrer. Der Administrator hat zwei. Wassili schwärmt von einer kräftigen sibirischen Rasse. Früher sei so etwas nicht nötig gewesen. Darin ist man sich einig.

A – O-Ton 7: Wirtschafterin (1,32)
(Nu ja glowni Ökonomist… (… nje prodajom paka, Wagengeräusche)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, mach Übersetzerin wieder hochziehen.

Erzähler: Endlich geht es weiter: Die Mitfahrerin erweist sich als Hauptwirtschafterin der Sowchose. Ja, das Leben im Dorf sei schwer geworden, seufzt sie: keine soziale Sicherheit, keinerlei Garantie. In der Stadt habe man noch andere Möglichkeiten. Im Dorf gebe es keinen Ausweg! Besonders für die Frauen sei sehr es schwer, die neben ihrer schweren Arbeit, häufig in der Tierhaltung, auch noch für das Haus und die Kinder verantwortlich seien. Kindergartenplätze gebe es dank regionaler Unterstützung noch, aber dafür müssten inzwischen 15.000 Rubel hingelegt werden. Für viele sei das fast ein halber Monatslohn. Darüber hinaus sei alles sei dreifach so teuer wie in der Stadt: „Transportaufschlag“ werde das heute genannt.

Übersetzerin: „Wir bemühen uns, das Dorf so gut es geht mit                 eigenen Produkten zu versorgen. Wir haben ja auch einen eigenen Handelspunkt, wo wir Fleisch, Quark usw. verkaufen. Früher hatten wir auch eigene Säfte, Makkaroni und anderes dort. Zurzeit produzieren wir praktisch nichts für den allgemeinen Konsum.“

B – Athmo 5: Ankunft in der Melkstation (1,00) (Türenschlagen, Kühe, Melkanlage, Stimmen..)

Regie: Verblenden mit O-Ton 8 (Fahrtgeräusche), kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden

Erzähler: Melkstation. In zwanzig Boxen werden die Tiere                 hier zum maschinellen Melken zusammengetrieben. Hier arbeiten fast ausschließlich Frauen. Einer von zwei jungen Männern, die ich sehe, ist der Sohn des Administrators, den er mir stolz vorstellt. Er habe hier soeben als Mechanisator angefangen. Seit fünfundzwanzig Jahren melken wir hier schon nicht mehr mit der Hand, teilt eine Frau mir mit.
Sofort bildet sich ein Kreis um den Direktor. Ohne sich vor dem ausländischen Besucher zu scheuen, fordern die Frauen heftig ihren ausstehenden Lohn:
A – O-Ton 8: Melkerinnen (117)                 (potschemu nachodit Dengi…     … ljöd,… njet ljöd, Gemurmel

Regie: O-Ton 9 mit Athmo 4 verblenden, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach erstem Erzähler (1) hochziehen

Übersetzerin:  „Warum geht das Geld in die Steuern? Warum kommt                 es nicht zu uns? Sieh dir unsere zwanzig- oder dreißigtausend Rubel an! Eine Schande ist das für unser Land! Wer Kinder hat, die verdienen, wer Pension kriegt, der kann grad noch leben. Aber wovon sollen wir existieren? Das machen die paar Naturalien auch nicht wett. Das reicht ja nicht mal mehr für ein Stück Brot. Das ist kein Leben – das ist Vegetieren!“

Erzähler: (1)  Nun kommt es von allen Seiten: Wovon soll                 ich meine Kinder ernähren? Man lässt uns einfach verhungern! Dabei hängt alles von uns ab! Das Volk ist zu geduldig! Sie haben uns vergessen! Sie lachen uns aus. Nicht einmal Eis gibt es hier, schreit eine Frau immer wieder! Wie man da arbeiten solle!
Erzähler: Der Direktor lässt den ganzen Sturm ruhig über sich ergehen. Zu mir gewandt erklärt er schließlich:

A – O-Ton10: Direktor in der Melkstation (0,15) (Nu, sowjet tscho to…     … rischit)

Regie: O-Ton hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer wieder hochziehen und abblenden.

Übersetzer:  „Es ist so, wie ich Ihnen am Morgen gesagt habe.                 Die Frauen beschweren sich mit Recht beim Direktor. Aber sie wissen natürlich, dass der auch nichts entscheidet.“

B – Athmo 6: Garten des Direktors (0,30?)
(Schritte, Worte…)

Regie: Ton zügig hochziehen, nur kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Abends, Wassili zeigt mir den Garten: Apfelbäume, Johannisbeersträucher, Treibhausbeete, im Schuppen daneben zwei Kühe, ein paar Schweine, hinten im Garten das Bad. Danach führt er mich durchs Haus, ein bescheidener Flachbau. Jeder hat sein eigenes Zimmer, darauf ist Wassili besonders stolz. Hier wohnten schon immer die Direktoren. Wassili ist der vierte. Soeben wurde das Haus privatisiert. 15.000 Rubel gehen neuerdings im Monat für Miete, Strom, Gas, Wasser usw. weg. Für ihn sei das nur ein Teil seines Monatslohns, für viele dagegen ein Drittel oder sogar die Hälfte. Da wachse verständlicherweise die Unzufriedenheit.

Regie: Während der letzten Worte bereits Athmo 7 anspielen, so dass Stubenathmo deutlich wird, dann zügig abblenden

A – Athmo 7: Fernseher (025) (Fernseher, erste Worte…)

Sprecher: Nach dem Bad, während im Hintergrund der Fernseher läuft, sprechen wir darüber, was die Dörfler von der Zukunft erwarten. Wassili ist düster. Aber Unruhen? Nein:

O-Ton 11: Direktor zu Haus (0,50) (Chrestianin swegda…     … potschti luboi moment)

Regie: O-Ton kurz stehenlassen, abblenden, nach dem zweiten Übersetzer (2) wieder hochziehen

Übersetzer:    „Der Bauer ist ein besonderes Wesen. Er lebt auf                 dem Boden, den er bearbeitet. Der Arbeiter kann seine Arbeit hinwerfen, kann streiken. Der Bauer lässt seine Kühe nicht ungemolken, das Vieh nicht ungefüttert. Er wird immer alles in Ordnung halten. Er mag schreien und lärmen, aber niemals wird er seine Arbeit hinwerfen und streiken. Niemals, das ist sinnlos.“

Erzähler: Die schlimmste Unsicherheit bestehe darin, dass der Muschik, der einfache Mensch, zwar Initiativen ergreifen könne, dem morgigen Tag jedoch nicht vertraue:
Übersetzer: „Er glaubt nicht, dass die jetzige Politik     fortgesetzt wird. Ja, wenn das so weiterginge: `Wir geben Euch Land, nehmt, macht euch selbstständig, bitte sehr! Aber er lebt in der Unsicherheit, dass möglicherweise zwei, drei Jahre vergehen. Das heißt, da kommt ein anderer ans Ruder und alles wird wieder um 180 Grad herumgeschmissen. Das kann praktisch jeden Tag geschehen.“

A – Athmo 8: Unterwegs zur Molkerei (0,37) (Fahrgeräusche, Rede…

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler: Früh am nächsten Morgen. Auf dem Weg zur „Zeche“,                 der betriebseigenen Molkerei. Ihr Chef persönlich hat mich abgeholt. Erst kürzlich hätten sie die Molkerei übernommen, erzählt er. Die zentrale Butterfabrik habe sie abgestoßen. Nicht mehr profitabel. Die Molkerei sei vor gut fünfundzwanzig Jahren erbaut worden, seitdem nicht erneuert. Es müsste dringend etwas gemacht werden. Aber – kein Geld. Alle Produkte gingen praktisch unter dem Gestehungspreis weg.

B – Athmo 9: Ankunft in der Molkerei (0,48) (Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…)

Regie: O-Ton zügig hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler: Auch in der Molkerei arbeiten nur Frauen. Schnell                 haben sie uns in ihren weißen Kitteln und Kopftüchern umringt. Und nun wiederholt sich fast wörtlich die gestrige Szene von der Melkstation. Nur dass sich dieses mal der Chef der Molkerei verantworten muss. Er verspricht zu tun, was er kann. Aber die Unzufriedenheit ist unüberhörbar. 10 Tonnen Milch verarbeiten sie täglich. Früher seien es mehr gewesen.

-O-Ton11: Frauen in der Molkerei (1,00) (Ja tschitaju, tscho stala chusche…     … nje seriosna prosta)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen

Erzähler:   Sie glaube, dass es schlechter geworden sei, meint eine junge Frau, als ich sie zur Umwandlung der Sowchose in eine AG befrage. Klar, schlechter! stimmen die anderen zu. Das Leben war interessanter, meint eine Ältere. Alles ging schneller, ergänzt der Chef. Wenn Du etwas brauchtest, dann wurde das entschieden! Jetzt mühe sich der Direktor ab, aber nichts komme zustande. Es herrschte mehr Ordnung, fällt die junge Frau wieder ein. Alle hatten Arbeit. Wie könne man von Verbesserung reden, wenn man nicht wisse, wie man existieren solle? Heut hätten sie hier noch Arbeit, aber morgen? Und die Dividende aus den Anteilscheinen der AG hätte auch nicht viel mehr gebracht als ein paar Sonderzuteilungen für Nahrungsmittel.

Übersetzerin:  „Nein, nein, das war nicht richtig, das Alte so                 mit Gewalt umzustürzen. Man hätte das Neue auf der Grundlage des Alten einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch Bauern bei uns geben oder sonst irgendwelche privaten Arbeiten, aber das müsste einfach parallel laufen. Aber hier haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler: Aber auch einen Weg zurück sehen sie nicht. Dafür                 sei es ebenfalls schon zu spät. Wie lange man das aushalten könne?

B – O-Ton12:Frauen, Fortsetzung (0,14) (Wi snaetje, na stolka…     … nach dem Lachen

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen

Übersetzerin:   „Wissen Sie, die Leute sind an das alles schon so     gewöhnt, dass ich fürchte: einfach endlos.“

A – Atmo10: Molkerei, Maschinenraum, Abfahrt, Stimme

Regie: Athmo 10 mit Ton 12 verblenden, kurz hochziehen, abblenden, unterlegt halten, Fahrtgeräusche nach dem Erzähler verblenden

Erzähler: Ein Gang durch den Maschinenraum beendet die Führung. Alles alte Maschinen, wie ich sehen könne, Teile davon sogar aus der Zeit vor der Revolution.
Dann geht es zurück. Wenn sie den Lohn nicht bekommen, dann erschießen sie mich, sagt der Molkereichef. Recht hätten sie. Aber woher solle er es nehmen? Er müsse doch auch für die noch etwas abzweigen, die gar keine Arbeit mehr hätten.

B – Athmo 11: Im Verwaltungsgebäude, Eintritt, Publikum

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler: Zurück in der Verwaltung. Heute herrscht                 Hochbetrieb. Viele Alte warten auf die Anteilscheine für ihre Familien. Was halten sie selbst von den Neuerungen?
A – O-Ton13: Alte Frauen im Verwaltungsbüro
(Xoroscho ili nje xoroscho…     … nje dawolno)

Regie: O-Ton 14 verblenden mit Athmo 11, kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:  „Gut oder nicht gut: Irgendwie muss man ja                 leben. Früher in der Sowchose war es besser. Da konnte man verdienen, sich erholen. Jedes Jahr hatte man seinen Urlaub. Jetzt in der Aktiengesellschaft gibt es keinen Lohn, werden Miese gemacht. Sie arbeiten und machen Verluste – irgendwas ist daran nicht richtig. Überhaupt ist alles schwer geworden, entsetzlich schwer. Wir versuchen uns mit unserm Garten durchzubringen. Da haben wir alles. So sterben wir also nicht vor Hunger. Aber ich weiß nicht: Irgendwie habe ich das Gefühl, mein Ältester ist nicht besonders zufrieden.“

A – O-Ton 14: Babuschka, Fortsetzung (A budusche setschas nje dumajem…     … takim spossobom, njet, njet!)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden, nach der zweiten Übersetzerin (2) wieder hochziehen

Übersetzerin:  „Über die Zukunft denken wir zur Zeit nicht nach.                 Wir wissen nicht, was mit uns wird. Früher haben wir gedacht, dass es besser wird. Nach dem Krieg war es schwer. Aber dann war es besser, wirklich jedes Jahr besser. In unserem Dorf haben sie Asphalt gelegt, das Bau-Kombinat war aktiv, der Kindergarten wurde gebaut, wir hatten gute Wohnungen. Das ist alles jetzt eingefroren.“

Erzähler: Von Schirinowski aber wollen auch die beiden     Alten nicht wissen:

Übersetzerin: „Gott behüte! Nein! Wofür? Das muss nicht sein!                 Wir haben doch viele gute Führungsleute. Nehmen Sie unseren Direktor: Solche Leute müssen ran. Vorgezogene Wahlen muss es geben. Jelzin sollte zurücktreten. Er hat viel versprochen, aber nichts gehalten. Das sind doch keine Reformen! Die Reformen waren ja nötig, aber nicht mit diesen Mitteln, so nicht, nein!“

B – Athmo12:Im Auto (Beschleunigung, Frage, Rede der Frau…)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:     Die Rückfahrt trete ich mit Ira und Andrej an.                 Sie sind im Kauf und Verkauf unterwegs. Vertreter könnte man sie nennen. Aber nicht privat, sondern für die Gesellschaft, betont Ira, um deren Erzeugnisse anzubieten. Privat würde sie es nicht machen. Erst wollen sie nicht über Schwierigkeiten reden. Dann erfahre ich aber doch:

B – O-Ton15:Vertreterin (Nam prosta ne dajut…     … prosta ne dajut)

Regie: O-Ton verblenden mit Athmo 12, kurz stehen lassen, dann abblenden, nach der Übersetzerin wieder hochziehen

Erzähler:  „Man gibt uns einfach keinen Platz, wo wir stehen                 können, dort auf dem Markt, auf den Basaren, in den Läden, an anderen Verkaufsplätzen. Das haben sie alles schon in der Hand. Uns lassen sie einfach nicht ran.“

Erzähler:  Da helfe nur die kollektive Organisation, die                 Absprache, die gemeinsame Organisation. Früher sei das einfacher und besser gewesen, finden die beiden:

B – O-Ton16: Vertreterin, Fortsetzung  (Ransche my mogli usche…     … schits

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, nach Übersetzerin wieder hochziehen

Übersetzerin: „Früher wusstest du genau: Wenn zu einem     bestimmten Ort kamst, dann nahmen die das und das und das. Jetzt ist das doch sehr anders: Jetzt hängt alles vom Preis ab und von deinen Mitteln. Ohne Geld bist du nichts mehr. Aus. Dann sitzt du fest. Früher konnte man mit ein bisschen persönlichem Geld auskommen, arbeiten, fünfe grade sein lassen, leben.“

Erzähler: Als mich Irina und Andrei in Nowosibirsk  aus dem Wagen ließen, hatte ich begriffen, dass Russlands Zukunft auf dem Lande entschieden wird. Aber sie kann nur gut werden, wenn die Landbevölkerung ihr Vertrauen in ihre bisherige Lebensweise und nicht zuletzt in Direktoren wie Wassili Horn bewahrt.