Autor: Kai

Rußland heute

Thesen zum gleichnamigen Seminar

in der Akademie Sankelmark vom 22.10.99 – 24.10.99

1. Rußlands Krise ist eine Wachstumskrise

2. Perestroika war Ausdruck des Mißverhältnisses zwischen den seit der Oktoberrevolution von 1917 entwickelten Produktivkräften und den zu eng gewordenen Produktionsverhältnissen des Sowjetsystems.

3. Eine neugewonnene Mobilität der sowjetischen Bevölkerung drückte sich nicht nur in zunehmendem Abstand zwischen steigenden Ansprüchen des Einzelnen an Selbstverwirklichung und einer stagnierenden Parteidoktrien aus, sie schlug sich sehr früh auch schon in Konflikten zwischen den Regionen, bzw. den Republiken und dem Moskauer Zentrum nieder.

4. Der Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin 1991 wurde wesentlich durch die Forderungen der Republiken nach mehr Souveränität angestoßen. Boris Jelzin kam als Präsident eines souveränen Rußland und als Initiator einer „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) an die Macht.

5.  In den Auseinandersetzungen zwischen Moskau und den Regionen der russischen Föderation setzt sich diese Entwicklung heute fort. Seit Boris Jelzin 1991 die „demokratische Revolution“ ausrief, dauert in der russischen Föderation eine  Regionalisierung an, die Rußlands geltende Raumordnung in Frage stellt, während die Privatisierung seine sozialen Zusammenhänge auflöst.

6. Nach einem extremen Ausschlag zur Seite der Privatisierung, die zu einer Hyperindividualisierung einer Minderheit der Bevölkerung und zur Lähmung ihrer in alten Zusammenhängen verharrenden Mehrheit führte, schlägt das Pendel nun wieder nach der anderen Seite aus. Heute zeigt es in Richtung einer Rekonsolidierung der historisch gewachsenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen.

7. Ergebnis wird aber weder die Rückkehr zur sowjetischen, noch die Übernahme westlicher Lebensweisen sein. Etwas Neues entsteht, das aus der Wechselwirkung zwischen traditionellen russischen Gemeinschaftstrukturen und westlichem Individualismus, zwischen korporativem Verwaltungskapitalismus sowjetischen Typs und privatkapitalistischen Arbeits- und Lebensweisen, zwischen Zentralismus und Separatismus hervorgeht.

8. Der Bankenkrach vom August 1998 markiert den Übergang von der bisherigen Phase der schnellen Privatisierung auf die Phase der Rekonsolidierung jenseits des sowjetischen Modells, aber auch jenseits westlicher Reparaturrezepte. Offen ist, mit welchen Mitteln dieser Wechsel wahrgenommen wird und wie lange er dauert  Die bevorstehenden Wahlen, einschließlich des Ausgangs des gegenwärtigen Krieges in Tschetschenien, entscheiden darüber, ob dieser Übergang schrittweise, mit friedlichen Mitteln, gestützt auf ein Wachstum von unten stattfindet, oder ob er mit Gewalt von oben durchgesetzt wird. Je nach dem wird das Ergebnis ein anderes sein.

© Kai Ehlers,  Email: KaiEhlers@compuserve.com   Website: www-kai-ehlers.de     Datum:   21.10.99
Rummelsburger Str. 78, D – 22147 Hamburg,  Tel/Fax: 040 / 64 789 791  (64 821 60 priv.)

Ursprung der Völker und Land der Zukunft?

Programmtext, erzählt von Kai Ehlers

Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus. Die einen fühlen sich an endlose Weite, an unberührte Natur erinnert. Sie denken an schamanische Rituale, die heute wieder in Sibirien auferstehen. Das gilt besonders für den Süden Sibiriens, wo auch heute mongolische, tatarische und turkstämmige Völkerschaften in Republiken oder Regionen wohnen, die nach ihnen benannt sind wie etwa die Burjäten am Baikal, die Chakasen am Fuße des Altai, die Altaizi und die Tuwa an der Grenze zu Kasachstan. Viele der genannten Völker leben heute teils in Rußland, teil in der Mongolei, in Kasachstan oder auch in China.
Sibirien – dieses Wort löst aber auch Schauder aus. Bilder von Straflagern, von Verbannung, von Schrecksszenarien des GULAG, des Systems der stalinistischen Arbeits- und Umerziehungslager kommen hoch. Darauf legen sich die seit der Öffnung der früher verschlossenen Städte bekanntgewordenen und immer noch weiter bekannt werdenden Szenarien ökologischer Katastrophen, die aus der schnellen Industrialisierung und der rücksichtslosen Vernutzung der Natur durch eine ausufernde Militarisierung resultieren. Wer heute durch Sibirien fährt, trifft überall auf die Zeugen dieses industriellen Kriegszuges gegen die Natur, gegen den Wald, gegen die Steppe und gegen die Menschen.
Aber Sibirien – das sind auch die schier unerschöpflichen natürlichen Ressourcen, die ökologischen Potentiale eines noch nicht erschlossenen Raumes bis hin zu einer unerforschten Vorgeschichte. Vor allem aber sind es die Menschen, die hier leben, Kinder von Kolonisatoren aus dem Westen, aus Rußland die einen, Nachkommen einheimischer, zumeist nomadischer Völker aus dem zentralsibirischen Raum die anderen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Altai. Aus Hunnen, Mongolen, Tataren, Turkvölkern und anderen Nomaden auf der einen, aus kolonisierenden Siedlern auf der anderen Seite entstand eine Verbindung von aus nomadischer und seßhafter Gesellschaft, die ihre eigenen Verhaltensweisen, ihre eigenen Ideale von menschlichen Beziehungen hervorgebracht hat. Es ist der Pionier, der unterwegs ist im Kampf mit den widrigen Umständen einer rauhen Natur, gegebenfalls aber auch einer ihm feindlichen Gesellschaft, die ihn als politischen Verbannten, als Kriminellen oder auch als Andersgläubigen ausgestoßen hat. Eine sehr eigensinnige Ethik entwickelte sich hier, die einerseits der Freiheit, ja, Ungebundenheit des Einzelnen, zugleich aber auch der Einordnung in die natürlichen Gegebenheiten und ins soziale Kollektiv, der Hilfe auf Gegenseitigkeit einen hohen Wert beimißt. Wenn heute von politischer Renaissance in Sibirien die Rede ist, dann sind diese Traditionen gemeint.
Sibirien ist aber auch, angestoßen durch die forcierte Industrialisierung nach der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch nach der Verlagerung der russischen Industrie in den sibirischen Raum vor und während des zweiten Weltkrieges zu einem eigenen, hochentwickelten Wirtschaftsraum herangewachsen, der heute an der Schwelle seiner wirtschaftlichen Selbstständigkeit steht. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten noch einmal weitere Schübe in diese Richtung. Perestroika hatte ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß innerhalb des einheitlichen Monolithen der Sowjetunion neue Kräfte herangewachsen waren, deren Wachstum die Hülle der Union sprengen mußte. Nicht von ungefähr kamen die ersten wissenschaftlichen Forderungen zur notwendigen Intensivierung der Produktion durch eine demokratischen Öffnung Ende der Siebziger aus Nowosibirsk. Sie kamen aus der Neuen soziologischen Schule der Tatjana Saslawskaja an der Akadem Gorod, der Akademikerstadt von Nowosibirsk, die dort erstmalig mit empirischen soziologischen Untersuchungen den jahrzehntelang geschönten Ziffern von Plansoll- und Planhaben zu Leibe rückte.
Heute befindet sich Sibirien ebenso in der Krise wie alle Länder und Gebiete der ehemaligen Union. Aber mit seinen natürlichen Ressourcen, mit seiner das Zupacken gewohnten und qualifizierten Bevölkerung und mit seiner entwickelten Industrie verfügt es über Kräfte, die ihm helfen werden, den notwendigen Schritt der Abnabelung zu vollziehen. Es steht zwischen Asien und Europa wie ein Kind zwischen Vater und Mutter, bereit seine eigenen Wege zu gehen, wenn die Eltern es ihm gestatten – und auch wenn sie es ihm nicht gestatten; in dem Fall wird es sich allerdings mit Gewalt losreißen müssen.

Sibirien –
Ursprung der Völker und Land der Zukunft?
Erzählt von Kai Ehlers

O-Ton 1: Trommel, schamanischer Gesang                         1,35
Regie: Ton drei, vier Sekunden frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen, abblenden, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus:
Weite; Natur, Schamanen –

Regie: hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
aber auch Verbannung, Lager. Fabriken, die sich in Wälder, Steppen und Eiswüsten des größten Landmassivs fressen, das es auf unserem Planeten gibt.

Regie: hochziehen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Vor allem aber sind es die Menschen, die aus der langjährigen Kolonisation dieses scheinbar leeren Raumes hervorgegangen sind. Es sind zupackende, rauhe, oft eigensinnige Charaktere. Die letzten siebzig Jahre waren sie mit dem Gleichheitsfirniß des neuen sowjetischen Menschen überzogen. Neuerdings betonen sie wieder ihre Eigenheiten. Bei Nikolai Saikow, dem Chefredakteur der Nowisibirsker Tageszeitung „Abendliches Sibirien“ klingt das so:

O-Ton 2: Nikolai Saikow                        1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My, wot schiwiom Sibirje….
„Wir leben in Sibirien nicht erst siebzig, sondern vierhundert Jahre. Im sechzehnten Jahrhundert gründete der Kosak Jermak unsere Stadt. Die Tataren waren damals Nomaden, sehr arm, sehr wenige; der Raum war praktisch unbesiedelt, leere Taiga. Die Kosaken, die damals aus Rußland kamen, sind den amerikanischen Siedlern vergleichbar: Aktive Leute, Pioniere. Sie waren Russen, versteht sich, aber doch anders als die im europäischen Teil. Sie waren Leute aus den Grenzbereichen, Verbannte, Strafgefangene, Militärs und einfach kolonisierende Bauern; viele kamen auch als Jäger. Sie entwickelten eine Kultur der gegenseitigen Hilfe. Ihre Hütten standen jedem offen, der in der Kälte Unterkunft brauchte. (…339) Mit der sowjetischen Zeit ging das verloren. Wenn heute von Widergeburt Sibiriens die Rede ist, dann heißt das für mich, daß sich diese Eigenschaften bei uns wieder entwickeln wie damals zur Pionierzeit, wo man sich gegenseitig half.“
….jewo delit“

Erzähler:
Für Frau Olga Nowika, Historikerin in Krasnojarsk, Vertreterin einer Organisation, die sich um die Probleme der sogenannten kleinen Völker müht, ist russischer Pioniergeist noch nicht alles. Die Ureinwohner Sibiriens haben sich mit Tataren, Mongolen, Türken, später auch mit Russen, Ukrainern, Polen, Balten, Rußlanddeutschen und anderen Volksgruppen, im russischen Sprachgebrauch Nationalitäten genannt, so vermischt, erzählt sie, daß die Kinder oft gar nicht mehr mehr wissen, woher ihre Eltern stammen. Wichtiger als die ethnische Zugehörigkeit ist für sie die gemeinsame Geschichte:

O-Ton 3: Olga Nowika                        1,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja schitajus sebja…
„Ich halte mich für russisch, ja. Aber es fällt mir sehr schwer, meine Nationalität, zu bestimmen. Ich bin selbst so nultinational; in unseren Wurzeln ist so viel miteinander verflochten. Man hat mich immer gefragt, wer unsere Eltern sind. Aber darüber wurde nicht geredet. Sibirien ist ja das Land der brutalen Straflager. Unheimlich viel Leute wurden hierher gebracht, die ihre Nationalität, ihre Sprache vergessen mußten. Bei uns zuhause wurde russisch gesprochen, meine Mutter hatte aber einen französischen Namen und mein Vater stammt von tatarischen Kosaken ab. Als Verfolgte lebten die zeitweilig sogar in China. Andere Verwandte meiner Mutter kamen aus Moldawien und Rumänien. Ich kann also auch nicht sagen, daß meine Vorfahren Franzosen waren; ich weiß nur, ein Teil kommt aus dem Osten ein, Teil aus dem Westen. Wir sind schon die vierte Generation, ich und meine Brüder. Es gefällt gefällt uns hier; wir sind schon lange Sibiriaken. Deshalb interressiert uns schon lange nicht mehr, wer unsere Vorfahren waren, verstehen Sie?
… kto nasche pradedje, ponimaetje?

Erzähler:
Neunundzwanzig kleinere Völker leben in Rußland, die meisten davon in Sibirien. Allein im Gebiet Krasnojarsk sind es acht, – Ewenki, Nenzi, Enzi, Dolgani, Ganassani, Keti. Bis auf die Keti, eine Gruppe von etwa tausend, eher europäiden Menschen, sind alle Nomaden. Ihr Lebensraum ist heute bedroht. Er ist auf den Norden Sibiriens zusammengeschrumpft. Ein solcher Ort ist Dudinka, wo der Jenesseej ins Eismeer mündet. Dort geht die Sonne im Sommer nicht unter, im Winter fegt der „Tschorna Purga“, der Eiswind, bei Minis 50% durch die Dunkelheit, die auch Mittags kaum aufgehellt ist. In Dudinka verwalten vier Frauen ein Museum für die Geschichte der einheimischen Völker. Sie erzählen:

O-Ton 4: Museum in Dudinka                        1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Nu wot na territorie…
„Nun, auf dem Teritorium unseres Kreises leben Vertreter einheimischer Nationalitäten – Dolganen, Nenzen und Enzen, insgesamt ungefähr 9000 Menschen. Die größe Gruppe sind die Dolganen mit 5000, die kleinste die Enzen mit ca. 100 Menschen.“

Erzähler:
Schwer haben es die Eingeborenen, erzählen die Frauen. Sie leben in der Tundra mit den Rentieren. Davon können sie heute kaum noch existieren. „Am Schwersten trifft es die Kinder, die in Internaten aufgezogen werden“, meint eine der Frauen: „Sie vergessen ihre Sprache, sie verlernen die Sitten ihrer Eltern. Sie sind keine Russen, aber auch keine Eingeborenen mehr.“
…Kornee torwanneje.“

Erzähler:
Ein Nationales Problem gebe es aber nicht, meinen die Frauen. Vertreter von über hundert Nationen habe es seit dem sechzehnten Jahrhundert nach Dudinka verschlagen, zuerst Russen, dann Menschen aus allen Teilen des wachsenden russischen Reiches. Dudinka, obwohl unwirtlich, wurde ihnen zur Heimat:

O-Ton 5: Dudinka, Forts.                        1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tota sdes rodilis…
„Die Gründe dafür waren bei jedem von uns verschieden“, erklärt diese Frau. „Der eine kam mit den Eltern hier her. Der andere kam selbst. Ich bin zum Beispiel zusammen mit meinem Mann im Zuge einer Kampagne des Komsomol hier angereist.“ „Man weiß ja auch nicht wohin“, ergänzt eine andere. „Andererseits gibt es hier auch viel Schönes: Die wunderbaren weißen Sommernächte, die vielen nationalen Feste! Wir feiern hier ja die Feste aller Nationalitäten, die Polarnacht, Fischereitage, Wassertage. Zum neuen Jahr kommen auch hin und wieder Schamanen zum Fest der Tschums. Das sind die kegelförmigen Zelte unserer Nomaden.“
…Kamlal, schamnje.“

Erzähler:
Schamanische Tradition der kleinen Völker und industrielle Gegenwart treffen in Dudinka unmittelbar aufeinander. Keine dreißig Kilometer von Dudinka entfern liegen die Nickelgruben von Norilsk, zu Sowjetzeiten ein Zentrum der Rüstungsindusrie. Bis Anfang der Neunziger galt Norilsk als verbotene Stadt. Inzwischen mußte auch Norilsk sich öffnen:

O-Ton 6: Dudinka, Ende                        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tschas stait wapros o tom…
„Jetzt geht es darum“, versichert eine der Frauen, „daß das Kombinat und die Stadt selbst mit ihren 150 000 Einwohnern die Verpflichtungen unterschreiben, aus ihren Mitteln die Wiedergeburt der Kultur der kleinen Völker zu unterstützen“.
„Zur Zeit wird darum gekämpft“, schränkt eine andere der Frauen ein.
„Bisher noch mit Worten“, ergänzt die dritte.
…paka eschtscho slawa.“

Erzähler:
Norilsk ist heute eine der Geldquellen Sibiriens.. Im Zuge der Privatisierung wurde es von Sergei Bykow, einem der neuen Geldmagnaten erworben. Er gilt vielen Sibiraken als Verbrecher. Politisch hat er sich der Partei Wladimir Schirinowskis verschrieben. Jetzt geht es darum, daß dieses Geld auch dem Land, nicht nur seinem neuen Besitzer zugute kommt Der Gouverneur von Krasnojarsk möchte Bykow deshalb am liebsten enteignen und Norilsker Nickel wieder der staatlichen Verwaltung unterstellen. Die Auseinandersetzung ist exemplarisch: Wenn Norilsk gesundet, gesundet Krasnojarsk, wenn Krasnojarsk gesundet, wird es ein starkes Sibirien geben, so lautet die von der Verwaltung verfolgte Linie. Die Wiedergeburt Sibiriens, lassen ihre Vertreter wissen, gehe von Krasnojarsk aus. Wladimir Kusnezow, früher Dokumentarfilmer, der sich vor allem dem sibirischen Dorfleben widmete, ist ganz erfüllt von dieser Vorstellung. Mit dem Antritt des ehemaligen Generals Alexander Lebed als Gouverneur von Krasnojarsk übernahm er daher bereitwillig das regionale Ministerium für Kultur:

O-Ton 7: Wladimir Kuszezow                            1,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jest takoi wiraschennije…
„Es gibt so eine Redensart, daß die Krasnojarsker Region das russische New Hampshire ist, das heißt, so wie New Hampshire wählt, so wählt ganz Amerika. Und ganz sicher ist Krasnojarsk wie ein Spiegel für Rußland. In Krasnojarsk sammeln sich zur Zeit die Menschen, von denen eine Veränderung für ganz Rußland ausgehen kann. Ich will mich nicht als Prophet betätigen, aber Änderungen stehen bevor: Was in Rußland aufgebaut wurde ist ja keine demokratische Ordnung, sondern die Herrschaft der Mafia.Wir brauchen aber Menschen, die sich selbst beherrschen können. Unter uns gesagt, bei den russischen Altgläubigen, den Leuten, die einerzeit die Kirchen verließen und in die Taiga gingen, gibt es so eine Vorhersage, die fast Wort für Wort das trifft, was heute bei uns geschieht. Das Interessanteste, was sie immer sagten, war: Die Wiedergeburt beginnt in Sibirien; aus Sibirien kommt ein Muschik, ein starker Mann, der Rußlands Wiedergeburt bewirkt.“
… katorie wosrodit Russiju.“

O-Ton 8: Tscharypowa, Kohlegrube                        1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziegen, wieder abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Ketten, Maschinen geräusche…
So vielfältig wie die Menschen, so vielfältig ist das Land selbst: Im Süden, zweitausend Kilometer von Norilsk entfernt, liegt Tscharypowa, eine der Städte des sibirischen Kohlenrevieres zwischen Krasnojarsk und Nowosibirsk. Hier ist alles ganz anders und doch ähnlich. Die Sommer sind heiß, die Eingeborenen sind keine Eskimos, sondern Ckakasen, Mongolen, auch einige Chinesen. Wie Norilsk wurde auch Tscharypowa aus dem Boden gestampft. Tausende junger Ehepaare folgten noch in den späten siebziger Jahren dem Ruf des Komsomol, hier ein Industriezentrum der Zukunft aufzubauen, ein Jahrhundertprojekt, das den gesamten zentralsiatischen Raums mit Energie versorgen sollte.

Regie: hochziehen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Der Lärm der Schürfbagger allerdings täuscht: Im Moment werden sie nur bewegt, damit sie nicht einrosten, erklärt Ingenieur Gubin, der uns zwischen den gigantischen Türmen, Isolatoren und Förderbändern mit dem Auto herumfährt. Tawarisch Gubin, wie er sich selbst scherzhaft nennt, ist als Vermessungsingenieur einer der Planer der neuen Industrieanlagen. Zur Zeit ist er arbeitslos. Auf das Jahrhundertprojekt angesprochen, rettet er sich in Sarkasmus:

O-Ton 9: Ingeniezr Gubin                            1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach (erstem) Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„Stroika Wjeka…
„Bau des Jahrhunderts – das hat bei uns zur Zeit nur die Bedeutung: Jahrhunderte, lange, lange werden wir bauen! Der Plan war grandios! Der Plan war, hier eine Kaskade von Elektrokrtaftwerken zu bauen, genannt: „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK. Es sollten die größten und stärksten Kraftwerke werden, die bisher überhaupt errichtet wurden. Zehn bis vierzehn Werke sollten es werden. Sie sollten ganz Sibirien und auch die angrenzenden Nachbarn mit Strom versorgen.  – Aber dann fror plötzlich alles ein.“

Erzähler:
Er persönlich sei sowieso kategorisch gegen solche Giganten, meint Ingenieur Gubin, schon ökologisch seien sie eine Katastrophe. „Und die Stadt“, fügt er hinzu, als wir an den leeren Fensterhöhlen zahlloser Bauruinien vorbeifahren, „wurde ebenso gigantisch aus dem Boden gestampft. Es ist alles gewaltig angelegt, aber nichts  ist beendet, alles nur angefangen.“
…tolka natschala.“

Erzähler:
Die ca. 30.000 Einwohner der Stadt ducken sich weg. Man hält sich mit Gelegenheitsjobs und mit den Erträgnissen aus der Datscha über Wasser und wartet auf bessere Zeiten. Konstantin Smol, ehemals Direktor der Arbeitsverwaltung von KATEK, jetzt Frührentner, früher einer der aktiven Mitgestalter des KATEK-Projektes, schaut mit Trauer auf das eingefrorene Programm:

O-Ton 10: Konstantin Smol                        0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja dumaju…
„Ich denke man kann nicht, nur man muß das Programm wieder aufgreifen. Natürlich war es zu groß angelegt. Vierzehn Werke brauchen wir nicht, aber man kann die Möglichkeiten nicht einfach verkommen lassen. Nun hat man die Menschen hierhergeholt, die kann man ja nicht einfach vergessen. Kann sein, daß jetzt kein Geld da ist, dann muß man eben Investoren finden. Sibirien ist reich und Rußland hat schon ganz andere Schwierigkeiten überwunden. Alles, was man dazu braucht, ist ein gutes Kommando.“
…nuschna kommando, katorije projodsja.“

Erzähler:
Mit dieser Ansicht steht Konstantin Smol nicht allein. Vertreter der wichtigsten, das heißt der wirtschaftlch am weitesten entwickelten Regionen trafen sich schon bald nach der Einleitung der forcierten Reformpolitik zur „Sibirischen Übereinkunft“. Ihr Ziel ist eine von Moskau unabhängige eigene wirtschaftliche Entwicklung Sibiriens. In der Nowosibirsker Hochschule für Verwaltung, zu Sowjetzeiten, gelegentlich auch noch heute kurz Kaderzentrum genannt, erläutert Tatjana Sidnikowa, was darunter zu verstehen ist. Frau Sidnikowa, schon vor Perestroika an der Hochschule tätig, unterichtet dort heute das Fach Medienpolitik:

O-Ton 11: Tatjana Sidnikowa                        1.10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Assotiatie eta preschde swjewo…
„Die Assoziation – das ist vor allem erst einmal das Bedürfnis, das Streben nach dem eigenen Überleben. Die Menschen Sibiriens haben schon lange begriffen: Wenn sie einander nicht helfen, dann hilft ihnen keiner. Moskau ist weit weg von den Problemen des wirklichen Lebens und noch weiter entfernt von Sibieren. Dabei sprechen wir bisher nur vom westlichen Sibirien; dazu kommt noch das nördliche und das östliche. Dort ist die Situation vielleicht noch etwas anders. Dort ist der Pazifische Ozean. Dort hat man noch engere Kontakte mit China, mit Japan, mit Amerika. Aber Nowosibirsk, als industrielles Zentrum Sibiriens, steht mit der Anzahl der Einwohner an dritter Stelle in Rußland. Die Assoziation ist von daher, ohne zu übertreiben, ein Versuch, die heutigen Probleme zu lösen.“
…i papitka rischits sewodnischi problemi.“

Erzähler:
Das ist, zählt Frau Sidnikowa sachlich auf, der Versuch, der räuberischen Ausbeutung der Bodenschätze entgegenzuwirken, der Versuch, die heimische Industrie wieder in Gang zu bringen, den Exodus der technischen Elite zu stoppen, eine vernünftige, regionale Steuerpolitik zu entwickeln, eine effektive Infrastruktur und menschenwürdige Lebensbedingungen zu schaffen, alles ganz und gar pargmatische Aufgaben. Zu dem kommt noch, Sibirien als einzigartiges Klimaregulatorium einer ökologischen Gesundung des Planeten zu nutzen. Die Liste will gar nicht enden. Sie endet dann aber doch, und zwar mit einem heißen Bekenntnis zu den Eigenheiten Sibiriens:

O-Ton 12: Tatjana, Forts.                              0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer“
„Nu, ja schiwu…
„Ich lebe nun einmal hier. Hier fliegt die Seele hoch! Wir sind ja Menschen der Weite. Es ist vielleicht ein bißchen einfach gesagt, aber nehmen Sie die Kolonisation Sibiriens. Das ist die unblutigste, die es gab. (…) Wir sind ein philosophischer Menschenschlag. Das Leben bringt es so mit sich. Ich besuche meine Schwester in Woronisch, da habe ich eine lange Reise. Ich stehe am Fenster. Da fliegt die Landschaft vorbei, und fliegt und fliegt. – Das ist wie Psychotherapie, verstehen sie.
…kak psychotherapie.“

Erzähler:
Offiziell darf man nichts von solchen Gefühlen wissen. Der stellvertretende Bürgermeister von Nowosibirsk wiegelt erst einmal ab. Er habe nichts mit hochfliegenden politischen Ideen am Hut, erklärt er barsch, für ihn gehe es nur um die nächstliegenden Aufgaben:

O-Ton 13: Alexei Bespalikow, Vize von Nowosibirsk                 0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, ausblenden

Übersetzer:
„Perwie glawnie problem..
„Das Erste wichtige Problem ist die Auszahlung der Löhne, die Abtragung der Schulden seitens des Budsgets gegenüber den Staatsangestellten. Das Zweite ist der Anfang des neuen Schuljahres, das heißt, wir müssen alle Schulen einsatzbereit haben und das nächste Problem ist dann die Vorbereitung der Ernte.“

Erzähler:
Dann aber beendet auch er das Gespräch aber mit den Worten:

O-Ton 14: Vize, Fort.                         0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da sowerschennije vera…
„Aber selbstverständlich sind die Menschen Sibiriens ruhiger. Sie brechen nichts übers Knie. Sie denken erst einmal nach. Sie sind überhaupt sehr bewußte Leute. Sie sind, vielleicht wegen des rauen Klimas, wegen der harten Bedingungen, eher in sich gekehrt, lassen sich nicht so leicht von außen beinflussen wie etwa die Menschen in Moskau. Ja, deshalb ist hier alles in bißchen ruhiger. Wir haben schon unsere Besonderheiten.“
… swoi abrasije jest.

O-Ton 15: Am Brunnen                          1,05
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Geräusche von Wassereimer…
Die Seeele, von der Tatjana Sidnikowa schwärmt und die selbst durch die pragmatische Maske des Bürgermeisters schimmert, treffen wir wieder, wenn wir mit einem Mann wie Gennadij Schadrin, Rundfunkjournalist, Ökologe, Jäger aus Leidenschaft im Sommer auf die Dörfer weit draußen in der Taiga fahren. Nachdem wir die Elektritschka hinter uns gelassen haben, die die kleineren Städte miteinander verbindet, geht es zu Fuß durch  die Hitze des sibrischen Sommers. Da kommt ein Dorfbrunnen  gerade recht:
Wasser, Waschgeräusche

O-Ton 16: Schadrin                          0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Schritte, übergehend in Gespräch: „U nas..
Den schweren Rucksack auf dem Puckel, kämpfen wir uns endlose Wege entlang,  in der Hoffnung, daß uns ein vorbeifahrender LKW für ein Stückchen mitnimmt. Die Mühen des Fußmarsches, die weiten Felder, die flirrenden Birkenhaine lenken das Gespräch auf den Umgang des Menschen mit der Natur:
„Wir haben hier das System Iwan Iwanows“, erklärt Gennadij Schadrin. Ob er daran glube? Das sei keine Sache des Glaubens, auch nicht der Theorie, antwortet er. „Das ist Erfahrung! Das ist das einzige“, versichert er, „was ich wirklich glaube: Die Natur ist vernünftig!“
… obladajet rasum.“

Erzähler:
Das System Porfirjew Iwanows, Ernergie aus der Abhärtung gegen die Kälte zu gewinnen, wird heute von vielen Menschen in Siririen angewandt: Morgens, gleich nach dem Aufstehen kann man aus den Haustüren sibirischer Wohnhäuser Menschen kommen sehen, die sich kurzentschlossen kaltes Wasser über den Kopf gießen – sommers wie winters.

O-Ton 17: Schadrin, Forts.                         1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Schritte: „Mnogi tschitajut jewo…
„Viele halten Iwanow für den Entdecker eines neuen Weges für die Menscheit“ erzählt Schadrin weiter. „Die Gesundheit von dort nehmen!“ Schadrin beschreibt einen weiten Kreis mit dem Arm über dem Kopf: „Aus dem Kosmos! Und leben in Übereinstimmung mit der Natur!  Nun, das sind praktisch die Gesetze der Urgesellschaft, aber das ist nicht schlecht. Iwanow selbst lebte so, nackt draußen im Schnee, bei vierzig Grad Frost. Er hat sein eigenes energetisches Potential gehabt. Andere hätten das so gar nicht ausgehalten.“
Dann erzählt Schadrin von seinem Leben in der Taiga, wo er schon mit zehn Jahren begonnen habe zu jagen, und von seiner Frau, die ebenfalls die Methoden Iwanows anwende, von Wissenschaftlern, die Iwanows Methode an den Universitäten erforschten. „Es ist nicht nur der Weg der Kälte, sondern auch der der Sonne, sagt Schadrin. Alles gehört zusammen.“

O-Ton 18: Schadrin singt                        1,00
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, bis 0,10 frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,30 zum gesprochenen Wortes hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Gesang…
Am Abend, in einer leerstehenden Schule, beim sortieren der Beeren, die er tagsüber unter lebensverachtender Gleichgültgkeit gegenüber den Mücken gesammelt hat, singt Schadrin sibirische Lieder:

Regie: Bei 0,30 zum Text hochziehen

Erzähler:
„Bargusin“, erklärt er, „das ist der starke Sturm. Es geht um die Beziehung der Menschen zum Wind. Gut lebten die Sibiriaken. Schöne Feste hatten sie, hatten Vertrauen zueinander. Aber jetzt ist alles vorbei;. Alles ist vergeudet durch die Partokraten.“ Damit erstirbt das Gespräch.
…partokrati

Erzähler:
Die Meisten der sibirischen Jäger leben heut in der Vergangenheit. Bei Sanschasch, einem pensionierten Flußfischer ist es nicht anders. Nur mit dem Boot ist seine Hütte am Ufer des OB erreichbar, dahinter beginnt gleich die undurchdringliche Taiga des Tomsker Verwaltungsbezirks. Die Hütte sei sein Refugium, erzählt Sansasch stolz, aber als er keine Becher findet, um seinen Gästen Samogonka, den Selbstgebrauten, anbieten zu können, klagt auch er:

O-Ton 19: Sanschasch, Jäger                        0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tschas wremja takaja…
„Jetzt ist so eine Zeit gekommen! Ich hatte hier ein paar Emaillebecher, aber sie sind alle geklaut, acht Stück. Ein Tuch war hier, geklaut, ein Eimer, in dem ich immer die Fischsuppe gemacht habe, geklaut. Sowas hat es früher nie gegeben. Jahrelang hatte ich ein Radio hier, auch einen kleinen Fernseher mit Akumulator. Das geht jetzt nicht mehr. Sogar Zucker lassen sie mitgehen. Heut bringst du Zucker mit, denkst, daß du morgen einen guten Tee trinken kannst, aber schon ist kein Zucker mehr da. So ein Mist ist das heute, glatter Raub. Das ist unsere neue Zeit!
…nowaja wremja.“

Erzähler:
Allerdings gibt es auch andere Töne. In Gorno-Altai,  Berg-Altai, lebt Wassili Wassiljew. Als leitender Zootechnikerder Republik Altai im Süden Sibiriens, als deren oberster Tierhüter also, war er langjähriges Mitglied des regionalen Parteikomitees. Als Pensionär ist Fischen und Jagen heut seine Lieblingsbeschäftigung. Wassili Wassiljewitsch ist überzeugt davon, daß die Neuerungen der letzten Jahre sich den natürlichen Gegebenheiten ebenso anpassen müssen wie die früherer Jahre:

O-Ton 20: Zootechniker Wassiljewitsch                            1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A u nas jest juschneje…
„Bei uns gibt es südliche Bezirke, Kosch Agatsch, an der Grenze zur Mongolei zum Beispiel. Dort gibt es keinen Wald, leer alles, halbe Wüste. Es ist der Anfang der Wüste Gobi, die sich von uns aus in die Mongolei hinein erstreckt. Wie können Menschen dort in individuellen Einzelwirtschaften existieren, wenn sie sechzig Kilometer pro Tag nomadisieren!? Können sie nicht! Sie müssen zusammenhalten; sie haben keine andere Wahl. Im Sommer tief unten im Tal, im Winter oben auf den Bergen und das mit allem Vieh, die ganze Kolchose. Allein bist du verloren. Sie ziehen um, weil im Winter im Tal kein Vieh gehalten werden kann: Harte Winde, starke Kälte, bis zu sechzig Grad Minus. In anderen Regionen ist es ähnlich.
…priblisitelno tak.“

Erzähler:
Wassiljew erzählt, wie er in die Jurten geholt wurde. Er erzählt von der Gastfreundschaft der Altai-Nomaden, die niemanden ohne ein Geschenk ziehen lassen, das er sich vorher aussuchen muß. Er berichtet von ihren Zeltgöttern, die sie wechseln, wenn sich als unfähig erweisen haben. Allmählich trägt ihn die Erinnerung fort und ununterscheidbar vermischen sich Züge der Altainomaden mit denen der benachbarten Tuwa, der Chakasen, der Usbeken und seinen eigenen Touren als Tierwart in den Bergen, ebenso wie in den den endlosen Steppen des Voraltai. Obwohl doch nur russischer Tierarzt, dazu leitender Funktionär der Partei, wurde er zu Hochzeiten, Geburten und Sterberitualen gerufen, feierlich und mit der gleichen Hochachtung wie die eingeborene Schamanen verehrt. Er taufte Kinder, er wurde als Arzt um Rat gefragt. Einigemale half er sogar bei Geburten. Kommunismus und Schamanismus haben sich in seiner Person miteinander verbunden.

O-Ton 21: Schamaniseren                        1,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 35 zur Tröte zwischendurch hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Schnalzen, Stimme, Schläger…
Daß solche Verbindungen keine Ausnahme sind, demonstriert der Enkel des Alten, Pawel Staroschuk. Er hat beides vom Großvater übernommen: die Liebe zur Schulmedizin ebenso wie die tiefe Verbundenheit mit den naturreligiösen Traditionen des Altai. Heut arbeitet er als Arzt und Psychologe in Nowosibirsk und ist als Therapeut gegen Alkoholismus, Nikotinsucht und Fettleibigkeit mit einer ambulanten Praxis zusammen mit weiteren Kolleginnen und Kollegen in sibirischen Regionen unterwegs.

Regie: bei Schalzen und Tröte hochziehen, wieder abblenden

Erzähler:
Dabei geschieht es, daß die Übernachtung in einem leerstehenden Pionierlager unsversehens zu einem improvisierten Versuch wird, sich der verdrängten schamanischen Wurzeln zu erinnern.

Regie: Hochziehen, nach Tröte abblenden

Erzähler:
Was an solchen Abenden spontan aus dem Unterbewußtsein einer reisenden Psychologentruppe aufsteigt, das erfährt in Sibirienes Universitäten seine wissenschaftliche Bearbeitung. In Nowosibirsk ist es Prof. Derewianko, Archäologe und Ehthnologe, der die gegenseitige Durchdringung nomadischer und seßhafter Kulturen im sibirischen Raum erforscht. Zudem ist er Leiter der sibirischen Assoziation für Klimaforschung. Für ihn ist Sibirien ein geostrategischer Raum, in dem sich Klima und Völkergeschichte in besonderer Weise verbinden, vor allem aber der Raum, in dem sich  nomadische und seßhafte Lebensweise miteinander mischen:

O-Ton 22: Prof. Derewianko                        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamu, jesli wzelom…
„Wenn man also die Entwicklung im Ganzen bewerten will, so hat man es  mit Nomaden einerseits, mit Seßhaften andererseits zu tun. Überall auf dem Territorium Mittelasiens, des Kaukasus, Rußlands uws. geht diese Begegnung vor sich, über tausende von Jahren, mal friedlich, mal in der kriegerischen Konfrontation. (…) Aber man muß von nomadischer und der seßhaftenr Lebensweise sprechen, nicht nur von Völkern. Es sind zwei Welten, nicht zwei Ethnien.“
… dwa mira“

Erzähler:
In Irkutsk, der alten sibrischen Universitätsstadt an der Grenze zur Mongolei, gleich weit entfernt vom Pazific im Osten wie Eurpoa im Westen, mit engen Beziehungen zur Volksrepublik Chiina, fließen die verschiedenen Traditionslinien mit den Erfodernissen, die sich für die Neuordnung des euroastischen Raumes nach dem Ende der Sowhetunion ergeben, zu einem neuen Weltbild zusammen. Oleg Woronin, Aktivist der Perstroika, Historiker, Leiter eines von Japan gesponserten „Fonds für regionale soziale Entwicklung“ und auch noch Direktor einer Investmendfirma „Asia Invest“, skizziert diese Strömung mit den Worten:

O-Ton 23: Woronin                        1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, konjeschna, swja historia…
„Klar, die Geschichte der wechselseitigen Einwirkung Rußlands und des Steppenkorridors, wozu die Mongolein, die Kasachstan, der Nordkaukasus gehören, ist für uns enorm wichtig. In unserer Sprache gibt es hunderte von Worten nomadischen Ursprungs. Eine geistige Ströumg, die wir Euroasiaten nennen, hat das im achtzehnten Jahrhundert, aber auch am Anfang dieses Jahrhunderts alles aufgearbeitet. Heute gibt es junge Historiker, etwa der in Amerika lebende Georgi Wernadski, die diese Arbeiten wieder aufnehmen. Der kasachische DichterAlsja Sulemenow hat ein Buch geschrieben: As-I-Ja, übersetzt, Asien und ich. Er spricht darin faktisch von einer Symbiose.“
…o symbiose.“

Erzähler:
Die Vertreter der euroasiatischen Idee definierten Rußland, insbesondere Sibirien als Brücke zwischen Asien und Europa. Die Neuauflage des Euroasiatismus ist  heute nicht ohne Probleme. Flache Plagiate dieser Vorstellungen haben sich in den letzten Jahren mit antiwestlichen Ressentiments in nationalistische Phantasien von einer neuen imperialen Mission Rußlands gesteigert. Russische Politiker nutzen die chinesische Karte hin und wieder, um den Westen zu erpressen. Ungeachtet solcher Irritationen hat die Auflösung der Sowjetunion den Weg für ein Sibirien freigemacht, das sich als neue Kraft zwischen Asien und Europa entwickelt.

Sibirien – Ursprung der Völker und Land der Zukunft? (Text)

Programmtext für  gleichnamiges Fature

Sibirien – dieses Wort löst die unterschiedlichsten Assoziationen aus. Die einen fühlen sich an endlose Weite, an unberührte Natur erinnert. Sie denken an schamanische Rituale, die heute wieder in Sibirien auferstehen. Das gilt besonders für den Süden Sibiriens, wo auch heute mongolische, tatarische und turkstämmige Völkerschaften in Republiken oder Regionen wohnen, die nach ihnen benannt sind wie etwa die Burjäten am Baikal, die Chakasen am Fuße des Altai, die Altaizi und die Tuwa an der Grenze zu Kasachstan. Viele der genannten Völker leben heute teils in Rußland, teil in der Mongolei, in Kasachstan oder auch in China.
Sibirien – dieses Wort löst aber auch Schauder aus. Bilder von Straflagern, von Verbannung, von Schrecksszenarien des GULAG, des Systems der stalinistischen Arbeits- und Umerziehungslager kommen hoch. Darauf legen sich die seit der Öffnung der früher verschlossenen Städte bekanntgewordenen und immer noch weiter bekannt werdenden Szenarien ökologischer Katastrophen, die aus der schnellen Industrialisierung und der rücksichtslosen Vernutzung der Natur durch eine ausufernde Militarisierung resultieren. Wer heute durch Sibirien fährt, trifft überall auf die Zeugen dieses industriellen Kriegszuges gegen die Natur, gegen den Wald, gegen die Steppe und gegen die Menschen.
Aber Sibirien – das sind auch die schier unerschöpflichen natürlichen Ressourcen, die ökologischen Potentiale eines noch nicht erschlossenen Raumes bis hin zu einer unerforschten Vorgeschichte. Vor allem aber sind es die Menschen, die hier leben, Kinder von Kolonisatoren aus dem Westen, aus Rußland die einen, Nachkommen einheimischer, zumeist nomadischer Völker aus dem zentralsibirischen Raum die anderen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Altai. Aus Hunnen, Mongolen, Tataren, Turkvölkern und anderen Nomaden auf der einen, aus kolonisierenden Siedlern auf der anderen Seite entstand eine Verbindung von aus nomadischer und seßhafter Gesellschaft, die ihre eigenen Verhaltensweisen, ihre eigenen Ideale von menschlichen Beziehungen hervorgebracht hat. Es ist der Pionier, der unterwegs ist im Kampf mit den widrigen Umständen einer rauhen Natur, gegebenfalls aber auch einer ihm feindlichen Gesellschaft, die ihn als politischen Verbannten, als Kriminellen oder auch als Andersgläubigen ausgestoßen hat. Eine sehr eigensinnige Ethik entwickelte sich hier, die einerseits der Freiheit, ja, Ungebundenheit des Einzelnen, zugleich aber auch der Einordnung in die natürlichen Gegebenheiten und ins soziale Kollektiv, der Hilfe auf Gegenseitigkeit einen hohen Wert beimißt. Wenn heute von politischer Renaissance in Sibirien die Rede ist, dann sind diese Traditionen gemeint.
Sibirien ist aber auch, angestoßen durch die forcierte Industrialisierung nach der Oktoberrevolution 1917, besonders jedoch nach der Verlagerung der russischen Industrie in den sibirischen Raum vor und während des zweiten Weltkrieges zu einem eigenen, hochentwickelten Wirtschaftsraum herangewachsen, der heute an der Schwelle seiner wirtschaftlichen Selbstständigkeit steht. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten noch einmal weitere Schübe in diese Richtung. Perestroika hatte ihre Ursache nicht zuletzt darin, daß innerhalb des einheitlichen Monolithen der Sowjetunion neue Kräfte herangewachsen waren, deren Wachstum die Hülle der Union sprengen mußte. Nicht von ungefähr kamen die ersten wissenschaftlichen Forderungen zur notwendigen Intensivierung der Produktion durch eine demokratischen Öffnung Ende der Siebziger aus Nowosibirsk. Sie kamen aus der Neuen soziologischen Schule der Tatjana Saslawskaja an der Akadem Gorod, der Akademikerstadt von Nowosibirsk, die dort erstmalig mit empirischen soziologischen Untersuchungen den jahrzehntelang geschönten Ziffern von Plansoll- und Planhaben zu Leibe rückte.
Heute befindet sich Sibirien ebenso in der Krise wie alle Länder und Gebiete der ehemaligen Union. Aber mit seinen natürlichen Ressourcen, mit seiner das Zupacken gewohnten und qualifizierten Bevölkerung und mit seiner entwickelten Industrie verfügt es über Kräfte, die ihm helfen werden, den notwendigen Schritt der Abnabelung zu vollziehen. Es steht zwischen Asien und Europa wie ein Kind zwischen Vater und Mutter, bereit seine eigenen Wege zu gehen, wenn die Eltern es ihm gestatten – und auch wenn sie es ihm nicht gestatten; in dem Fall wird es sich allerdings mit Gewalt losreißen müssen.

Anschero-Sudschinsk Stadt im Zentrum der russischen Krise

1.    Text für das Begleitheft

Unterwegs in Sibirien: Die Fahrt geht nach Anschero-Sudschinsk. Andschero Sudschinsk ist ein besonderer Ort. Es ist jenes Industriekonglomerat im sibirischen Kusbass, an dem sich die russische Streikbewegung seit dem Ende der achtziger Jahre immer wieder entzündet: Mit fünf Kohle-Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, ist die Stadt der Kern des sibrischen Krisengebietes. Die ersten Proteste, welche die langen Jahre des Streikverbots Ende der Achtziger ablösten, gingen von hier aus. Hier entzündeten sich die ersten Proteste gegen gegen Michail Gorbatschow, in deren Verlauf Boris Jelzin an die Macht kam. Von hier ging die Bewegung aus, in deren Verlauf die Berrgarbeiter im Sommer und Herbst 1998, unterstützt von der örtlichen Bevölkerung, die transsibirische Eisenbahn blockierten und schließlich einen Hungerstreik vor dem moskauer Kreml durchführten. Diese Aktionen waren der Auslöser des Bankenkrachs vom August desselben Jahres, der das Ende der Ära Jelzin, das heißt das Ende der einfachen Raubprivvatisierung einleitete. In Zukunft muß russische Politik sich wieder sozialen Fragen zuwenden, wenn sie Revolten vermeiden will.
Zu sowjetischen Zeiten gehörte Andschero-Sudschinsk, ebenso wie andere Städte des Kusbass zu den privilegierten Orten des Landes. Bergarbeiter in den fünf Zechen der Stadt zählten zu den Spitzenverdienern; die soziale Infrastruktur – Kantinen, Kindergärten, betriebliche Sozialversorgung – die logistische Struktur der Städte und der Region – Strom, Gas, Wasser, Straßennetz usw. galten als vorbildlich. Noch heute sind die Straßen des Gebietes ohne Schlagloch-Slalom befahrbar. Neue Städte wie etwa Tscharipowa in der Region Krasnojarsk wurden noch Ende der Siebziger aus dem Boden gestampft. Für Lenonid Breschnjew hatte der Ausbau des Kusbass zum sibirischen und darüberhinaus zum euroasiatischen Energiezentrum, das nicht nur Sibirien, sondern auch die damals an die UdSSR angrenzenden  Staaten in Ost und West mit Strom versorgen sollte, den Charakter eines Jahrhundertprojektes. Zu tausenden strömten noch Anfang der Achtziger junge Familien, organisiert vom Kommunistischen Jugendverband, den Komsomolzen, zum sozialistischen Aufbau aus allen Teilen der Union hier zusammen. Mit der Ölkrise Ende der Siebziger, einer der Ursachen der von Michail Gorbatschow eingeleiteten Perestroika, erstarrte die Entwicklung abrupt und in bizarren Formen wie Wasser in plötzlich ausbrechendem Frost. Heute sind drei der fünf Zechen von Andschero-Sudschinsk geschlossen; im Jahrhundertprojekt Tscharypowa schaut die Tristesse aus den leeren Fensterhöhlen halbfertig stehengelassener Wohnmaschinen.
Andschero Sudschinsk ist heut die Stadt der russischen Föderation mit der höchsten Selbstmordrate. Mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist arbeitslos, die meisten von ihnen sind dem Alkohol verfallen. Die Frauen, die als Sekretärinnen, Bibliothekarinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Schaffnerinnen usw. meist in Berufen tätig sind, die aus dem kommunalen Budget bezahlt werden, müssen mit Löhnen auskommen, die kaum für die Teekasse reichen. Oft bleiben auch diese Löhne noch aus. Die Bevölkerung lebt, wenn sie nicht zu den wenigen Vermögenden zählt, die aus der Krise ihren Profit zieht, von den Erzeugnissen ihrer Datschen, auf deutsch ihrer Schrebergärten.
Unser Autor ist mit einem Ärzteteam in die Stadt gekommen, das medizinische Hilfe gegen den Alkoholismus leistet. Im Gespräch mit Klienten der Ärzte, mit Passanten, mit dem Direktor der Schule, in dem die Alkoholiker therapiert werden,  mit dem Bürgermeister der Stadt und Fabrikdirektoren aus dem benachbarten Nowosibirsk entsteht das Bild von Andschero Sudschinsk als exemplarischem Krisenherd des heutigen Rußland. Was haben die Streiks gebracht? Wird es bei Streiks beliben? Wird es zu Revolten kommen? Das sind die Fragen, denen der Autor bei seinem Gang durch die Stadt nachspürt. Die Antwort ist so einfach wie bemerkenswert: Die Menschen, obwohl hoffnungslos, suchen nach einer Alternative zur Gewalt. Wie diese Alternative aussehen kann, ist eine offene Frage.

Zusatztext
Modernisierungswellen:
Rückblick auf das sowjetische Erbe

Den Westen einholen – das ist immer wieder ein Motiv russischer Politik gewesen. Danach schloß man sich erneut ab. Bereits das zaristische Moskau bewegte sich in diesem Rhythmus. Der bekannteste Westler unter den Zaren war Peter I. (1682-1725). Er beschloß, Rußland gewaltsam zu modernisieren. Die Gründung des Stadthafens St. Petersburg ist sein Werk. Mit den Rüstungswerkstätten im Ural legte er den Gundstein für Rußlands Industrialisierung. Danach erholte sich das Land von den Anstrengungen der petrinischen Modernisierungen in einer langen Periode der Reaktion.
Die nächste Welle der Modernisierung löste Alexander II. (1855-1881) aus. Mit der von ihm 1861 verordneten Bauernbefreiung schuf er die Voraussetzungen, auf die eine moderne Industrie damals angewiesen war: Eine Schicht frei verfügbarer Lohnarbeiter entstand aus dem befreiten Landproletariat. Ein gewaltiges Anschwellen der Industrialisierung war die Folge. Ende des 19., Angang des 20. Jahrhunderts verzeichnete Rußland die höchsten industriellen Wachstumsraten der sog. zivilisierten Welt. Die daraus entstehenden sozialen Spannungen entluden sich in den Revolutionen von 1905 und 191. Sie schleuderten Rußland in das Zeitalter der Massenindustrialisierung. Noch aber konzentrierte sich die Entwicklung vornehmlich auf das europäische Rußland bis zum Ural. Erst unter Stalin wurde auch Sibirien in die Industrialisierung einbezogen. In mehreren Wellen ließ Stalin ab 1930 Industrieanlagen aus Taiga und Tundra, aus Urwald und Steppe Sibiriens, stampfen. Energiegrundlage wurden die Kohlefunde in der nordsibirischen Ebene, heute bekannt als Kusbass.
Mit Blick auf den drohenden Weltkrieg wurden Ende der Dreißiger und noch während des Krieges ganze bestehende  Industrien nach Sibirien verlagert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow (1953- 64) setzte die industrielle Erschließung Sibiriens und Zentralasiens mit großem Ehrgeiz fort. Von ihm ist das Versprechen überliefert, daß die Bevölkerung der Sowjetunion noch in diesem Jahrhundert, also noch vor Erreichung des Jahres 2000, den Kommunismus erreichen wird – was immer das bedeuten sollte. Auch Nikita Chruschtschows (1964-1982) Nachfolger, Leonid Breschnjew, hielt sich an diese Linie. Er ließ nicht nur die schon bestehende Kohleindustrie weiter ausbauen. Noch Mitte der siebziger Jahre ließ er im Kusbass ein neues, ebenfalls auf Kohle basierendes Jahrhundertprojekt, den „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK als Parteiprojekt ausrufen. Dieser riesige Verbund von Kohlekraftwerken sollte nicht nur Sibirien, sondern angrenzende Länder und Staaten aller Himelsrichtungen bis nach Europa und China mit Strom versorgen. Der rapide Verfall der Ölpreise Mitte der siebziger Jahre, gegen den die Kohleproduktion nicht konkurrieren konnte, ließ diese Pläne in nichts zusammenstürzen.
Die Krise, in die das sowjetische System Mitte der Siebziger kam, hatte natürlich nicht nur diese Ursachen; viele andere, vor allem auch politische Aspekte der Überdehnung des sowjetichen Imperiums kamen hinzu: Wirtschaftlich gesehen lag die Ursache der Krise aber vor allem in der Überalterung der Anlagen, die im Zuge der nachholenden Industrialisierung im Hau-Ruck-Verfahren hochgezogen und deren Produkte auf Masse, nicht auf Qualität gerichtet waren. Das galt für die Industrie ebenso wie für die industrialisierte Landwirtschaft. Das Schlagwort, unter dem sich der bevorstehende Umbruch Ende der Siebziger Jahre ankündigte, lautete daher: Intensivierung statt Tonnenideologie, Eigenverantwortung statt Kommandowirtschaft, größere Beachtung des „Faktors Mensch“.
Michail Gorbartschow (1984-1991) war es dann, der den neuen Erkenntnissen zum Durchbruch verhalf, nachdem die Parteiältesten Juri Andropow und Viktor Tschernijenkow drei Jahre über Leonid Breschnjews Tod hinaus den Status quo zu halten versucht hatten. Als „Perestroika“ und „Glasnost“ verwandelten die von Gorbatschow zugelasenen Impulse die sowjetische Gesellschaft innerhalb von wenigen Jahren in ein Experimentierfeld neuerlicher Modernisierungen. Boris Jelzin beschleunigte diesen Prozess 1991 mit einem radikalen Privatisierungsprogramm, das sie Sowjetstrukturen auflöste. Am Ende steht nun eine Gesellschaft, in der die bisherigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht mehr, neue noch nicht funktionsfähig sind. Andschero Sudschinsk ist ein Beispiel dafür.

II. Manuskript

Anschero-Sudschinsk
Stadt im Zentrum der russischen Krise

O-Ton 1 Platzmusik                                0,55
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden , unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden

Erzähler:
Musik…
Feiern, um die Weltuntergangsstimmung zu vertreiben. Das gilt nicht nur für Andschero Sudschinsk. Das gilt für ganz Rußland. Aber Andschero Sudschinsk ist ein besonderer Ort. Es ist jenes Industriekonglomerat im sibirischen Kusbass, an dem sich die russische Streikbewegung seit dem Ende der achtziger Jahre immer wieder entzündet. Die Stadt ist mit fünf Kohle-Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, Kern des sibrischen Krisengebietes. Die Streiks von 1998 gingen von dort aus, als die Bergarbeiter, unterstützt von der örtlichen Bevölkerung, die transsibirische Eisenbahn blockierten und schließlich einen Hungerstreik vor dem moskauer Kreml durchführten. Diese  Aktionen waren der Auslöser des Bankenkrachs vom August desselben Jahres. Am „Tag der Bergarbeiter“ wird dieser Ereignisse alljährlich gedacht

Regie: hier ausblenden

Erzähler:
Alljährlich aber wiederholt sich auch dieses Bild:
Nur wenige Ecken weiter, gerade weit genug, um das laute Treiben nicht mehr zu hören, stehen die Menschen Schlange vor einem kleinen Kiosk, an dem Brot verkauft wird. Hier drehen sich die kargen Gespräche um steigende Preise, um zurückgehaltene Löhne, um nicht gezahlte Pensionen. Der Brotpreis ist nach wie vor subventioniert. Für viele, die keinen Garten haben, ist das die letzte Existenzgrundlage. Aber wie lange wird das so bleiben? Die Forderungen der Bergleute sind bis heute nicht erfüllt; die Verelendung der Region schreitet voran. Den Statistikern gilt Andschero Sudschinsk als sterbende Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der russischen Föderation. Wie geht es weiter? Hatten die Streiks einen Sinn? Wird es neue Streiks geben?

O-Ton 2: Frau in der Schlange                                 0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Nu, (unverständl.) daroga…
“Daß die Gleise blockiert wurden, das war natürlich schon nicht mehr gut.”, meint diese Frau, die selbst an den Besetzungen nicht beteiligt war. „Aber andere Mittel hat man ja nicht mehr“, fährt sie fort. „Kein Geld! Die Menschen hungern doch schon. Selbst Brot für die Kinder können manche sich nicht mehr kaufen.” So etwas, empört sie sich, habe es selbst im Krieg nicht gegeben.
… takowa nje bila”

Erzähler:
Den Versprechungen der Regierung glaubt niemand mehr.

O-Ton 3: Mehrere Menschen, Schlange                                0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Nje veru ja…
„Ich glaube nicht ein Wort“, sagt der Mann. Die Frau stimmt ihm zu: „Immer wieder Versprechungen, immer wieder dasselbe.“ So könne es nicht weitergehen, meint ein anderer. Das Wort Revolution klingt auf.

O-Ton 4: Schlange in Andschero-Sudschinsk                             0,16
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Ne snaju, normalno…“
„Ja, das wäre normal”, sagt der Mann. “Man muß möglichst bald eine Revolution machen. Dann gibt es vielleicht wieder Ordnung.”
Und er fügt an, was er unter Revolution versteht: “Oben muß aufgeräumt werden; ein Umsturz muß her!”
…djelat nada“, Straße

O-Ton 5:  Forts. Schlange                                0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 1. Absatz des Erzählers hochziehen

Erzähler:
“Nam mnoga krowje…
“Viel Blut würde fließen“, wendet ein anderer ein. Die Umstehenden nicken. “Man muß alles auf friedlichem Wege machen,” fährt der Mann fort. Doch wie das geschehen könnte, weiß er nicht. “Wir sind die Arbeiterklasse, “sagt er, “darüber sollen die da oben nachdenken.”
…tam verhach”, Stimmen

Erzähler:
Die Geduld der Menschen ist am Ende. Seit Mitte der 80er stemmen sie sich mit allen Mitteln des friedlichen Protestes gegen den Niedergang der Region, die noch in den Siebzigern als Rußlands Energiezentrum galt und zu den reichsten Region des Landes zählte, deren Arbeiter priveligierte Löhne und soziale Leistungen erhielten. Mit der Krise Mitte der Achtziger, ausgelöst vom Ölpreisverfall auf dem Weltmarkt, kam der Kohleabbau an die Rentabilitätsgrenze, die Gruben verfielen, „Jahrhundertprojekte“ des sibirischen Energiezentrums wurden von heute auf morgen eingefroren, die Bergarbeiter rutschten von der Spitze der sozialen Pyramide an deren Boden. Sie forderten Hilfe und Selbstbestimmungsrechte von Michail Gorbatschow, als er noch Parteisekretär war. In vorderster Reihe trugen sie zu dessen Rücktritt bei, als nichts geschah. Mit Boris Jelzin schlossen sie einen Vertrag, der die Erfüllung ihrer Forderungen vorsah. Als wieder nichts geschah, die Privatisierung der Zechen statt dessen dazu führte, daß die Kohle zu Dumpingpreisen verschleudert wird, der Erlös in schamloser Offenheit von moskauer, aber auch örtlichen Finanzbürokraten privat beiseitegeschafft wird, während die Belegschaften um ihre Löhne betrogen, entlassen oder einfach vergessen werden, da schritten sie zur Blockade der Schienen.
Geschehen ist wieder nichts, aber zur Revolution ruft niemand auf. Warum nicht? Ein jüngerer Mann, leicht angetrunken, wie es scheint, Facharbeiter in der ebenfalls stillgelegten größten Maschinen-Fabrik des Ortes, erklärt das so:

O-Ton 6: Facharbeiter, Forts.                                 0,41
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Da,  potschti revolutionni…
„Ja, es ist eine nahezu revolutionäre Situation. Ich weiß nicht, wie sie zustandekam, aber erwächst jedenfalls nichts Gutes aus ihr. Deshalb haben die Herrschenden begriffen, daß Gewaltanwendung hier nicht möglich ist. Es gab keine Polizeieinsätze. Selbst die Sondertruppen der OMON hielten sich zurück. Sie sind ja selbst in der gleichen Lage. Sie kriegen ebenfalls ihren Lohn nicht. Sie wissen, daß die Menschen gegen das Elend aufstehen. Deshalb sind sie mindestens neutral. Einige haben sich sogar offen solidarisch erklärt. Aber es wird nicht lange gut gehen. Es müssen Maßnahmen her, welche die Menschen beruhigen. Jelzin hat die Bergarbeiter betrogen, er muß weg. Das ist klar. Aber ob das etwas nützt? Ich weiß nicht, das ist schwer zu sagen. Es ist eine nicht vorhersagbare Situation.“
…nje pedskasuimaja situatia“

Erzähler:
In der Schule Nr. 8, einer der besseren aus einem Dutzend Schulen des Ortes, versammelt sich eine andere Gruppe von Menschen. Es sind Trinker, begleitet von ihren Frauen, Müttern und Töchtern. Die Männer wollen sich bei einer Ärztegruppe, die aus Nowosibirsk, der sibirischen Metropole, über eine Entfernung von dreihundert Kilometern angereist ist, von ihrer Alkoholsucht heilen lassen:

Ton aus: Was ist das russische.. Ton: B: O-Ton 16: Klinik 2000
O-Ton 10: Laser-Akupunktur-Behandlung                            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Gut dreißig jüngere und ältere Männer unterziehen sich der Prozedur einer Laser-Akupunktur-Behandlung, mit der sie ihr Verlangen nach Alkohol blockieren lassen wollen. Mehr als zwei Monatsgehälter müssen sie dafür hinlegen. Der Alkoholismus ist eine der schlimmsten Plagen der Stadt. Mehr als die Hälfte der männlichen Bevölkerung neigt heute zum Alkoholismus, zunehmend auch Frauen. Zudem wird immer öfter gepanschter Fusel, anstelle des früher staatlich geprüften Wodkas verkauft. Auf den Dörfern der Region ist es noch schlimmer. Dort hängen oft sämtliche halbwegs erwachsenen Bewohner an der Flasche:

O-Ton 11: Bergarbeiter und Frau                            1,01
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei männlicher Stimme wieder hochziehen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzählerin:
„Mnoga, konjeschna…
„Viele haben das Problem, bestätigt einer der Wartenden, ein ehemaliger Kumpel. Er hat sich entschlossen trocken zu werden, weil sein Alkoholkonsum das Familienbudget endgültig zu ruinieren droht. Die graue Dumpfheit der Stadt sei Schuld, erklärt seine Frau, die Perspektivlosigkeit und ihr Mann ergänzt:

Übersetzer:
„Es gibt so viele Probleme, Probleme sozialen Charakters, Wohnprobleme. Die Pension wird nicht rechtzeitig gezahlt, kein Lohn, die Menschen verkommen.  – Noch viel mehr Leute würden sich hier gern behandeln lassen, wenn sie könnten. Aber ihnen fehlt schon das Geld dafür.“
… nje swje imeet wasmoschnost.“

Erzähler:
Die ersten Streiks nach dem Einsetzen der Perestroika sind dem Alten noch frisch im Gedächtnis:

O-Ton 12: Bergarbeiter und Frau, Forts.                         1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Posle raswala sowjetskaja…
„Klar, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, da war der erste Streik in Rußland hier, neunundachtig war´s,  im August. Das war auch hier in Andschero. Von hier aus ergriff der Streik den ganzen Kusbass. Damals dachten wir schon, wir seien am Ende. Aber richtig am Ende sind wir erst jetzt. Was wir erreichen wollten, haben wir nicht erreicht. Wir haben auf Jelzin gesetzt, aber es wurde nur noch schlimmer. Heute ist es doch so, daß der Präsident im Grunde auf das Volk pfeift. Bei der Regierung geht es nur um die Macht, um die eigene persönliche Macht. Mehr nicht! Das tut einem in der Seele weh.“
…kak my gaworim.“

Erzähler:
Tiefschwarz, schwärzer als der Schnee, der in dieser Gegend im Winter dunkel vom Himmel fällt, ist die Resignation, die von den in der Schule Versammelten ausgeht. Wortkarg, aber bitter sind ihre Urteile. Privatisierung – das ist für sie Raub; Politiker sind für sie Verbrecher. Demokratie heißt bei ihnen Darmokratie. Sie selbst sehen sich aufg ihre Ersparnisse, auf  Zuwendungen Verwandter oder ihre Datschen, Schrebergärten, reduziert. Wer das auch nicht mehr hat, verkauft seine Wohnung, verfällt der Obdachlosigkeit und Asozialität. Versicherungen, caritative Organisationen, Armenhäuser gibt es nicht:

O-Ton 13: Klientenrunde in der Schule                        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, kurz aufblenden, abblenden, unterlegen, kurz hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Abidna. tolka…
„Eine Schande ist das“, meint diese Frau. „Das Geld geht dahin, an westliche Wiederverkäufer, an unsere Zwischenhändler. Bei denen, die produzieren, bleibt nichts. Raub ist das, ein Verbrechen. Es ist diese Ausweglosigkeit, die das Volk aufbringt.“ Nicht daß sie Stalin wiederhaben wolle, fährt die Frau fort. Aber unter Stalin seien die Preise jedes Jahr gesunken.

Übersetzerin:
„Danals as die Menschen noch Vertrauen in den Staat hatten, da haben sie selbst den Krieg überlebt. Aber heute? Wir ackern mehr, aber wir haben weniger! Vergleichen Sie ihre Gesellschaft mit der unsrigen. Um die Familie er erhalten, müssen die Frauen  bei uns arbeiten wie im Lager. Jawohl, wir leben im Lager!  Was hier geschieht, ist ein glatter Völkermord.“
…genozid naroda…“

Erzähler:
Selbst Stalin und der zweite Weltkrieg erscheinen der Bevölkerung, die sich aus einer privilegierten Lage zum sozialen Schlußlich des Landes erniedrigt sieht, erträglicher als die allmähliche, unabsehbare Verelendung heute. Einer der aus Nowosibirsk angereisten Ärzte, durchaus kein reformfeindlicher Scharfmacher, sondern als Mitglied dieser selbstständig praktizierenden Kooperative von Medizinern und Psychotherapeuten selbst Nutznießer der Perestroika, bemüht sich, die Gefühle seiner Klienten statistisch zu erläutern:

O-Ton 14: Arzt                                1,58
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, kak gawerjat…
„Nun, der Begriff Genozid hängt vielleicht ein bißchen in der Luft. Aber Tatsache ist: Die Regierung vernichtet das Volk, weil sie es nicht benötigt, genauer gesagt, schon nicht mehr benötigt. Je weniger es von uns gibt, um so besser für die Regierung. Die mittlere Lebenserwartung in Rußland beträgt für Männer heute 57 Jahre! Das ist offiziell. Das heißt, wir erreichen das gesetzliche Pensionsalter nicht. Nimm als Zweites die staatlichen Förderungs- und Unterstützungsprogramme: Da siehst du,  daß die ungeschützteste Schicht unserer Gesellschaft heute die Kinder sind. Im Sozialismus waren sie die am besten versorgte Kategorie. Im totalitären Staat galten sie ja als die Garanten der Zukunft. Unsere Regierung heute hat die Kinder vollkommen vergessen. Die Schulen befinden sich in einem Zustand, in dem sie nur noch von den Eltern unterhalten werden. Ein normaler Mensch mit normaler Arbeit kann sein Kind heute praktisch nicht zu einer besseren Schule schicken. Dafür reicht sein Verdienst nicht. Mit der Ausbildung ist es das Gleiche. Und für solche Kinder kommt dann gleich die Armee. Man weiß ja, was das bei uns bedeutet: Die ist schlimmer als das Gefängnis, ganz zu schweigen von Tschetschenien und all diesen vernichtenden Einsätzen. Kurz, eine Chancengleichheit, wie sie propagiert wird, gibt es bei uns ganz und gar nicht. Alles hängt vom Einkommen der Eltern ab.“
… Dochodom roditeli.“

Erzähler:
Schriftsteller wie Alexander Solschenyzin waren schon seit Jahren vor einem Aussterben des russischen Volkes. Rechte politische Kräfte versuchen mit diesen Tatsachen nationalistische Stimmungen zu schüren. Die Menschen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß ausgerechnet der Direktor einer Schule, nämlich Alexander Malawanow, der bereits die Räume der Schule Nr. 8 für die Nowosibirsker Ärzte zur Verfügung stellte, sich als besonders aktiver Unterstützer der Streiks erweist. Zusammen mit dem Lehrpersonal anderer Schulen, mit Eltern, Schülerinnen und Schülern, mit der Leiterin der örtlichen Bibliothek und anderen sogenannten Budgschetnikis, also aus dem kommunalen oder staatlich Budget finanzierten Angestellten, deren Wohlergehen davon abhängt, daß die Bergleute ihren Lohn erhalten, hat er sich dafür eingesetzt, die Streikenden zu versorgen und deren Ziele in der Öffentlichkeit zu erläutern. Auszahlung ausstehender Löhne, Auszahlung der Pensionen seien anfangs die Hauptforderungen gewesen, so Malawanow; die Forderungen nach Rückgabe unrechtmäßig angeeigneten Volksvermögens und nach Rücktritt des Präsidenten, erst recht aber der Plan der Besetzung  sei erst aufgekommen, als nichts geschah. Als Abgeordneter der städtischen Duma hat der Direktor außerdem dafür gestimmt, daß der Bürgermeister, der sich mit den Streiks nicht solidarisieren mochte, zurücktreten mußte. Warum er sich so engagiere? Für ihn, so der Direktor, sei Andschero Suchinsk nur ein Beispiel für die Schieflage, in die Rußland geraten sei:

O-Ton 16: Direktor der Schule Nr. 8                            1,30
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Krise sdes po moemu obsche…
„Die Krise hier ist meiner Meinung nach eine allgemeine russische, nicht nur eine Strukturkrise. Denn wenn man Betriebe schließt, dann muß der Staat sich Gedanken machen, wohin mit den Kindern der Menschen, deren Betriebe geschlossen werden. Aber nichts dergleichen geschah. Hier ist nur einfach geschlossen worden: Anschersker-Schacht – geschlossen, Sudschinsker Schacht – geschlossen, weiterverarbeitende Fabriken – geschlossen! Aber wohin die Kinder, wohin die Arbeiter gehen, darüber hat niemand nachgedacht. Die Arbeiter haben keinerlei Chance sich irgendwo etwas Neues aufzubauen. Da werden in Moskau die tollsten Stützprogramme für die Entwicklung mittleren Unternehmertums, für Umschulung usw. versprochen. Aber nicht ein Mensch macht die nötigen Gelder dafür frei. Das bleibt alles auf dem Papier.“
…Nikto nje dajot.“

Erzähler:
Hauptadressat der Proteste, da ist der Direktor der Schule Nr. 8 ganz einer Meinung mit der übrigen Bevölkerung des Ortes, muß daher Moskau sein, nicht die örtlichen Direktoren. Nicht wenige örtliche Direktoren seien selbst Opfer der Moskauer Mafia, die sich Kohle kommen lasse, aber nicht bezahle. Wenn Moskau nicht einlenke, werde es unvermeidlich zu neuen Aktionen, vielleicht sogar zu Revolten kommen. Von Revolution aber will auch der Direktor nichts hören. Eine andere Politik sei gefragt, findet er. Auch Streiks, obwohl unvermeidlich, sind für ihn auf Dauer keine Lösung. „Die Streiks haben faktisch nichts gebracht“, erklärt er. Ein Monatslohn sei nachgezahlt worden, der Rest stehe immer noch offen. Wenn Moskau den Kurs nicht ändere, werde am Ende eine Eskalation stehen, über die er gar nicht nachdenken möchte.
Für den Direktor ist daher klar:

O-Ton 16: Direktor, Forts.                            0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Nu ja sam schiwu…
„Nun ich lebe ja nun mal selbst in einer Bergarbeiterstadt. Die Stadt ist in einen Abgrund geschliddert. Es gibt so viele Arbeitslose, so viele Menschen ohne Aufgaben, so viele Frauen, die nicht wissen, wie sie die Kinder groß kriegen sollen – tiefer können wir nicht mehr sinken! Das haben inzwischen nicht nur die Einwohner von Anschero-Sudschinsk begriffen, das hat inzwischen ganz Rußland verstanden. Deshalb ist die Forderung immer wieder: Wechsel, Wechsel, Wechsel! Wechsel des Kurses unserer Reformen!“
…naschich reform.“

Erzähler:
In der Stadtverwaltung, wo man kritischere Töne gegenüber den Aktionen der Bergarbeiter erwartet, klingt es verblüffenderweise nicht sehr viel anders. Viktor Ifschan, der neue Bürgermeister, war während der Unruhen noch Direktor der größten Maschinenfabrik des Ortes. Jetzt hat er als neuer Chef der Administration die  Hinterlassenschaft der Streiks zu bewältigen. Sein Urteil, obwohl unmißverständlich aus der Sicht des örtlichen Ordnungshüters, ist so zweideutig wie die ganze Situation:

O-Ton 17:  Administrator von Anschero-Sudschinsk                    0,34
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„No, objektivna…
„Außer negativen Folgen haben die Streiks für die Stadt nichts gebracht. Das muß man sagen. Man muß aber auch sagen, daß die Bevölkerung sich in einer ziemlich schwierigen Lage befindet, insbesondere mit dem nicht gezahlten Löhnen, offener und versteckter Arbeitslosigkeit. Jeder Mensch hat das Recht dagegen zu protestieren, wenn er sich an die Gesetze hält. Warum dagegen einschreiten? Ich habe, noch als Direktor der Maschinenfabrik, meinen Leuten erlaubt, sich für drei Stunden am Tag an den Aktionen zu beteiligen.“

Erzähler:
Überdies, erklärt der Bürgermeister freimütig, hätten die Ereignisse ja auch Nützliches gebracht: Moskau habe sich endlich um die Region kümmern müssen:

O-Ton 18: Administrator, Forts.                                 0,35
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Obsche korne problemi…
„Die allgemeine Ursache der Probleme liegt ja darin, daß wir gegenwärtig nicht wissen, was wir aufbauen, wohin wir gehen. Der Staat hat sich aus der Verantwortung gezogen. Verschuldung beim IWF,  innere Verschuldung, also Einbehaltung der Löhne, Sparpolitik. Das alles wird der Bevölkerung aufgelastet. Würde jemand  sagen, wohin der Zug geht, dann würde die Bevölkerung noch lange aushalten, nicht ewig, aber lange. Objektiv sind die Menschen bei uns ja bereit, auszuhalten, wenn sie nur wissen, wofür.“
… kudasche mi idjom“
Erzähler:
„Wir sind ja ein Volk von Kleingärtnern“, antwortet er auf die Frage, wie die Menschen die Situation weiter aushalten sollen, wenn sie ihren Lohn nicht erhalten. Aus den Gärten könne die Mehrheit der Bevölkerung sich immer noch und vermutlich noch lange mit dem Allernötigsten versorgen – und wenn die Familie nur von den eigenen Kartoffeln lebe. Der Administrator sucht deshalb den Dialog, nicht die Konfrontation. Im Dialog zwischen örtlichen Direktoren und Belegschaften möchte er einen Weg finden – gemeinsamer Gegner ist Moskau.
Wie der örtliche Administrator, so denkt auch der Gouverneur der Republik Kemerowo, Tulejew. Er sprach sich klar gegen jede gewaltsame Lösung des Konfliktes aus. Stattdessen wagte er den Konflikt mit Moskau, indem er Einsätze gegen die Streikenden verweigerte. Seit den Streiks hält er auch Steuerzahlungen an das zentrale Budget in Moskau zurück.
Je weiter man sich vom Streikgebiet entfernt, umso geringer wird jedoch das Verständnis für die Aktionen. So etwa schon in Nowosibirsk. Hier war man nicht mehr an den Aktionen beteiligt, von deren Auswirkungen aber betroffen. In Nowosibirsk wettert Nicolai Matschalin, der Direktor der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“  gegen die Streiks der Bergleute. Aus seiner Sicht sind solche Aktivitäten Provokationen gegen das russische Volk:

O-Ton 19: Fabrikdirektor Matschalin                                0,31
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oni tam sedeli…
„Sie haben da gesessen und blockiert – wir haben keinen Zement bekommen, keine Bauteile usw.  Wir konnten die Steuern nicht zahlen, weil wir nicht produzieren konnten; unsere Pensionäre kriegten ihre Rente nicht, meine Arbeiter keinen Lohn, weil sie ihn nur bekommen, wenn sie arbeiten. Wie kann da die Beziehung zu den Streikenden sein? Nun, natürlich nur extrem negativ! Das geht fast bis zum Haß. Der Staat, der Polizei und Spezialtruppen hat, OMON und andere, der wäre verpflichtet gewesen, die Bergarbeiter da wegzuräumen.“
…ubratj schachtörow srelzow“

Erzähler:
Moskau habe seine Schwäche gezeigt, fährt der Direktor fort, um sich gleich darauf zu korrigieren – vielleicht ja auch seine Stärke, indem es die Aktionen einfach ignoriert habe. Für diejenige, die arbeiten wollten, wende sich die Lage durch die Untätigkeit Moskaus aber noch weiter zum Schlechteren. Ein russischer Pinochet müsse her, ein Diktator, der entschlossen für Ordnung sorge, meint der Direktor. Und er verhehlt auch nicht, wie er sich das vorstellt:

Aus: O-Ton 13 Aus: Kann man Rußland noch…
O-Ton 20:  Direktor, Forts.                                0,31
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Kak nowodil parajadok…
„Wie hat Pinochet die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß er dem Giutarrenspieler Viktor Jara die Hände  zerschlug; ja, stimmt, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land! Und es war General Pinochet, der es zum Blühen brachte; danach ist er von selbst gegangen. Eisenhower, de Gaulle! Sie alle waren starke Generale, welche die Autorität des Volkes nutzten. Wenn bei uns jetzt ein paar hundert Leute im Stadion ohne Essen und Wodka zusammengetrieben würden, das gäbe ein bißchen Aufruhr, aber sonst gar nichts.“
… i nitschewo nje bila“

Erzähler:
Das sind harte Töne, die Arges befürchten lassen. Im nächsten Atemzug aber bedauert der Direktor, daß es im heutigen Rußland keine Führungspersönlichkeit gebe, die dazu bereit wäre, diese Rolle zu übernehmen. Dies gelte auch für den von ihm verehrten General Alexander Lebed, der zwar einen starken Staat anstrebe, aber leider nicht bereit sei, den Weg der Diktatur zu gehen. Derselbe Direktor Matschalin macht seine Entscheidungen zur Betriebspolitik von Beschlüssen der Aktionärsversammlung abhängig, die im Fall der Betonfabrik Nr. 4 zudem identisch mit der Belegschaft ist. Kriege wie den in Tschetschenien lehnt er ab wie sein Vorbild General Lebed selbst. Die Ärzte des Nowosibirsker Therapeutenteams,  nach Abschluß ihres Einsatzes in Andschero Sudschinsk schon wieder unterwegs in die nächste Station des Krisen-Reviers, kommentieren solche Ausbrüche ihrer Landsleute in verständiger Gelassenheit:

O-Ton 21: Ärzte in der Bahn                        0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
…Bahngeräusche. „Wremena revoluti…
„Die Zeit der Revolution von 1917 ist lange vorbei. Die Menschen stehen heute natürlich unter Spannung und sie sind bereit zu extremen Schritten. Aber es gibt keine Führer, welche die Menschen begeistern könnten, keine Vorstellungen, wie man das Budget so in Ordnung bringen kann, daß die Bergleute ihr Geld zurück bekommen könnten. Es gibt keine Ziele; es gibt bisher keine gut ausgearbeiteten Losungen, keine Ideen, keine Theorien. Nichts.
… idee, theoria, njetto.“

Erzähler:
Revolution ohne Revolutionäre, das ist der Eindruck, den man aus dieser Stadt mitnimmt. Die oben können nicht mehr, die unten noch nicht wieder. Die Zeiten des Versorgungsstaats sind vorbei. Das Vertrauen in den Staat ist erschüttert; jeder muß sich um sich selbst kümmern. Neue soziale Formen müssen erst wieder entstehen. Es ist die Not, die zu gegenseitiger Hilfe zwingt. Darin liegt Hoffnung, daß neue Wege gefunden werden. Kein Mensch will gewaltsame Lösungen, alle fürchten die mögliche Eskalation.

O-Ton 22: Musik    Steht auf:     1998, B, 160 – 174
Regie: Musik langsam kommen lassen, zum Schluß hin hochziehen, ab 0,46 frei stehen lassen

Erzähler:
Wohin morgen das Pendel ausschlägt, wenn die Verhältnisse sich weiter zuspitzen,  ist offen. Vorerst werden noch Feste gefeiert, um wenigstens für ein paar Tage die Probleme zu vergessen. Auch darin liegt eine Kraft.

Anschero-Sudschinsk
Stadt im Zentrum der russischen Krise
Zusatztext

Modernisierungswellen:
Rückblick auf das sowjetische Erbe

Den Westen einholen – das ist immer wieder ein Motiv russischer Politik gewesen. Danach schloß man sich erneut ab. Bereits das zaristische Moskau bewegte sich in diesem Rhythmus. Der bekannteste Westler unter den Zaren war Peter I. (1682-1725). Er beschloß, Rußland gewaltsam zu modernisieren. Die Gründung des Stadthafens St. Petersburg ist sein Werk. Mit den Rüstungswerkstätten im Ural legte er den Gundstein für Rußlands Industrialisierung. Danach erholte sich das Land von den Anstrengungen der petrinischen Modernisierungen in einer langen Periode der Reaktion.
Die nächste Welle der Modernisierung löste Alexander II. (1855-1881) aus. Mit der von ihm 1861 verordneten Bauernbefreiung schuf er die Voraussetzungen, auf die eine moderne Industrie damals angewiesen war: Eine Schicht frei verfügbarer Lohnarbeiter entstand aus dem befreiten Landproletariat. Ein gewaltiges Anschwellen der Industrialisierung war die Folge. Ende des 19., Angang des 20. Jahrhunderts verzeichnete Rußland die höchsten industriellen Wachstumsraten der sog. zivilisierten Welt. Die daraus entstehenden sozialen Spannungen entluden sich in den Revolutionen von 1905 und 191. Sie schleuderten Rußland in das Zeitalter der Massenindustrialisierung. Noch aber konzentrierte sich die Entwicklung vornehmlich auf das europäische Rußland bis zum Ural. Erst unter Stalin wurde auch Sibirien in die Industrialisierung einbezogen. In mehreren Wellen ließ Stalin ab 1930 Industrieanlagen aus Taiga und Tundra, aus Urwald und Steppe Sibiriens, stampfen. Energiegrundlage wurden die Kohlefunde in der nordsibirischen Ebene, heute bekannt als Kusbass.
Mit Blick auf den drohenden Weltkrieg wurden Ende der Dreißiger und noch während des Krieges ganze bestehende  Industrien nach Sibirien verlagert. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow (1953- 64) setzte die industrielle Erschließung Sibiriens und Zentralasiens mit großem Ehrgeiz fort. Von ihm ist das Versprechen überliefert, daß die Bevölkerung der Sowjetunion noch in diesem Jahrhundert, also noch vor Erreichung des Jahres 2000, den Kommunismus erreichen wird – was immer das bedeuten sollte. Auch Nikita Chruschtschows (1964-1982) Nachfolger, Leonid Breschnjew, hielt sich an diese Linie. Er ließ nicht nur die schon bestehende Kohleindustrie weiter ausbauen. Noch Mitte der siebziger Jahre ließ er im Kusbass ein neues, ebenfalls auf Kohle basierendes Jahrhundertprojekt, den „Kansker Atschinsker Wärme-Energie Komplex“, KATEK als Parteiprojekt ausrufen. Dieser riesige Verbund von Kohlekraftwerken sollte nicht nur Sibirien, sondern angrenzende Länder und Staaten aller Himelsrichtungen bis nach Europa und China mit Strom versorgen. Der rapide Verfall der Ölpreise Mitte der siebziger Jahre, gegen den die Kohleproduktion nicht konkurrieren konnte, ließ diese Pläne in nichts zusammenstürzen.
Die Krise, in die das sowjetische System Mitte der Siebziger kam, hatte natürlich nicht nur diese Ursachen; viele andere, vor allem auch politische Aspekte der Überdehnung des sowjetichen Imperiums kamen hinzu: Wirtschaftlich gesehen lag die Ursache der Krise aber vor allem in der Überalterung der Anlagen, die im Zuge der nachholenden Industrialisierung im Hau-Ruck-Verfahren hochgezogen und deren Produkte auf Masse, nicht auf Qualität gerichtet waren. Das galt für die Industrie ebenso wie für die industrialisierte Landwirtschaft. Das Schlagwort, unter dem sich der bevorstehende Umbruch Ende der Siebziger Jahre ankündigte, lautete daher: Intensivierung statt Tonnenideologie, Eigenverantwortung statt Kommandowirtschaft, größere Beachtung des „Faktors Mensch“.
Michail Gorbartschow (1984-1991) war es dann, der den neuen Erkenntnissen zum Durchbruch verhalf, nachdem die Parteiältesten Juri Andropow und Viktor Tschernijenkow drei Jahre über Leonid Breschnjews Tod hinaus den Status quo zu halten versucht hatten. Als „Perestroika“ und „Glasnost“ verwandelten die von Gorbatschow zugelasenen Impulse die sowjetische Gesellschaft innerhalb von wenigen Jahren in ein Experimentierfeld neuerlicher Modernisierungen. Boris Jelzin beschleunigte diesen Prozess 1991 mit einem radikalen Privatisierungsprogramm, das sie Sowjetstrukturen auflöste. Am Ende steht nun eine Gesellschaft, in der die bisherigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen nicht mehr, neue noch nicht funktionsfähig sind. Andschero Sudschinsk ist ein Beispiel dafür.

Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen

Rußlands Krise fordert Lösungen. Seit dem Bankenkrach vom August 1998 reden alle davon, daß Reformen in Rußland an den gewachsenen Strukturen ansetzen müssen. Auch auf westlicher Seite ist man zu neuen Einsichten gelangt. So erklärte Horst Köhler, Präsident der Ost-Europa-Bank, der Westen könne Marktwirtschaft und Demokratie nur dann auf Dauer in Rußland verwirklichen, wenn er sie in der Kultur, der Geschichte und in  den Traditionen des Landes verankere. Was sind diese traditionellen Strukturen? Wie wäre anzusetzen? Von den Auseinandersetzungen um diese Fragen soll in den folgenden dreißig Minuten die Rede sein.

A: O-Ton 1: Tusch, Straßenmusik            1,00
Regie: O-Ton bis zum Beginn des Wortbeitrags frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Sprecher:
Stadtfest im sibirischen Irkutsk. Die Stadt erinnert sich ihrer Geschichte, die mit der Erschließung des Landes durch unabhängige Kaufleute im 16. Jahrhundert begann. Mit der Kolonisierung durch kosakische Abenteurer, durch besonders wagemutige Bauern, durch Verbannte, Jäger, kurz, durch besonders aktive, oft eigenwillige Menschen setzte sie sich fort. Man ist stolz auf diese Tradition. Sogar im Unterhaltungsrogramm der Freilichtbühne weist der Moderator auf diese Pionierrolle des Landes hin. Sibirien bleibe ein Zentrum des wirtschaftlichen Aufbaus für Rußland, verkündet er. Begeistert fällt sein Auditorium ein.

Regie: hochziehen, abblenden

Sprecher:
Am Rande des Volksfestes treffen sich Soziologen, Politologen und mittlere Geschäftsleute mit Vertretern der regionalen Bürokratie zu einer Beratung über die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des nach ihr benannten Verwaltungsbezirks:

B: O-Ton 2: Versammlung in Irkutsk            0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Na uriwinje antimoskowskowo…
„Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die hier verhandelt wird. Oleg Woronin, ehemals für die Perestroika engagiert, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und erfolgreicher Geschäftsmann, spricht zum Thema: „Kompromiß als Weg“.  Ohne Mikrofon, heftig und mit einer sich oft überschlagenden Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Konkurrenz, in der die Moskauer Finanzclans zueinander stehen, für eigene Interessen, konkret, für die Sanierung der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab will man zusammenstellen, welcher der regionalen Bürokratie bei der Entwicklung der örtlichen Wirtschaft zur Hand gehen soll.
Wie in Irkutsk gibt es heute überall im Lande Diskussionen und Projekte, wie die überstürzte, totale Privatisierung wieder in soziale Bahnen gelenkt werden kann. Dabei spielt die Bildung von Räten, russisch: Sowjets, die sich aus örtlichen Vertretern der Konzerne, aus mittelgroßen Unternehmen, aus Wissenschaftlern und aus Vertretern der örtlichen Bürokratie zusammensetzen, eine wichtige Rolle. Was in Irkutsk zutage tritt, hat sich schon länger im Lande vorbereitet. In der Landwirtschaft geriet die Privatisierung bereits nach einem Jahr ins Stocken. Für Ende 1992 hatte die Regierung die Gründung von 400.000 privaten Höfen in Aussicht gestellt; es wurden 180.000; bereits 1993 stagnierte ihre Zahl dann bei 270.000. Die angekündigte Umwandlung der Kolchosen in Aktiengesellschaften war zwar Ende 1993 nahezu vollzogen; die landwirtschaftliche Produktion aber sank Jahr für Jahr. 1994 arbeitete bereits die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe mit Verlust; die Zahl der privaten Höfe war rückläufig. Selbst früher gesunde Betriebe gerieten in die roten Zahlen. So etwa die ehemalige Mustersowchose Tulinskaja im sibirischen Gebiet Nowosibirsk, die schon 1991 privatisiert wurde. Wassili Horn, ihr Direktor, beschreibt die Gründe für den Verfall:

B: O-Ton 6: Direktor Horn            1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, bil sowchos, stal…
„Nun, wir waren eine Sowchose, jetzt sind wir eine Aktiengesellschaft. Kern der Aktiengesellschaft ist das gemeinschaftliche Wirtschaften wie vorher auch, nur daß das Eigentum formal in die Hände der Aktionäre übergegangen ist. Das heißt, die Sowchose ist kein staatliches Unternehmen mehr, sondern ein privates, jeder hat seinen Anteil vom Vermögen bekommen, vom Land. Es ist alles normal: Gewählt wurde eine Verwaltung, gewählt wurde ein Sowjet, also ein Rat. Das Problem ist nur, daß die Leute sich nicht als Eigentümer fühlen. Und was ist das Ergebnis? Unzuverlässigkeit, Veruntreuung, Diebstahl! Und dann gibt es die, die man überhaupt vergessen kann, die einfach nur auf Kosten der anderen leben wollen, saufen, klauen, sich vergnügen. Wohin mit ihnen? Früher hatten wir Regeln, wir hatten unsere Arbeitsmoral. Heut gilt: Jeder für sich! Wir haben keine gesetzliche Befugnis mehr. Ich bin Chef, dann gibt es noch den Administrator. Wir sollen entscheiden, sollen alles am Laufen halten, aber wie, wenn es keine Basis, keine Gemeinschaft mehr gibt?“

Sprecher:
Früher war der Arbeitseinsatz durch die unaufkündbare Zugehörigkeit der Sowchosmitglieder zur Gemeinschaft geregelt; heute können sie die Sowchose über den Verkauf ihres Anteils verlassen, wenn ihnen die Anordnungen des Direktors nicht passen – nach dem Gesetz; in Wirklichkeit ist ihr Anteil außerhalb der Sowchose nichts wert. Statt Selbstbestimmung und Verantwortung des einzelnen Sowchosmitgliedes zu stärken, wie von den Ideologen der Privatisierung vorhergesagt, zerstörte die Privatisierung den gewachsenen Lebenszusammenhang. Im Lauf weniger Jahre nahm die soziale  Destabilisierung kriminelle Ausmaße an; aus der Mustersowchose wurde ein Pleitebetrieb.

A: O-Ton 9: Ankunft in der Molkerei                 0,48
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…
In der Molkerei. Früher war sie eine wichtige Einnahmequelle der Sowchose; jetzt reicht es gerade noch für den Eigenbedarf. Der Unmut ist unüberhörbar:

O-Ton 10: Molkerei, Forts.                           1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler hochziehen

Erzähler::
„Nelsja bila, swjo…
„Es war nicht richtig“, meint diese Frau, „das Alte so mit Gewalt umzustürzen.“

Übersetzerin:
„Man hätte das Neue auf der Grundlage des Bestehenden einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch private Bauern bei uns geben oder andere private Arbeiten, aber das müßte parallel laufen. Hier dagegen haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler:
Auch von Demokratie, die mit der Privatisierung Einzug halten sollte, keine Spur. Von einer neuen Selbstverwaltung, mit der die Regierung die aufgelösten Rätestrukturen ersetzen möchte, will man nichts wissen: Wie das denn aussehen solle, fragt eine Frau. Früher habe es die Familie gegeben, wirft eine andere ein; früher habe man sich dem Ältesten untergeordnet; früher habe man einander geholfen. Aber jetzt? Freiheit selbst zu entscheiden sei gut, aber ein Betrieb brauche nun einmal ein gutes Kollektiv und eine starke Hand. Darin sind sich alle einig. Sonst versinke alles im Chaos und Rußland zerfalle.

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Auf dem Lande war damit bereits 1994 klar, daß die Überführung der kollektiven landwirtschaftichen Strukturen in privatwirtschaftliche Unternehmen nicht ohne Weiteres möglich sein würde. Im industriellen Bereich ist es nicht viel anders. Auch hier scheiterte die Privatisierung an den bestehenden betrieblichen Verhältnissen. Das Programm, mit dem Boris Jelzin 1991 antrat, zielte zwar auf die Auflösung der Betriebskollektive, das heißt, auf die Auflösung der Einheit von Betriebsleitung und Belegschaft. In der Vetternwirtschaft der Kollektive sahen Jelzin und seine Reformer die Hauptursache für die wirtschaftliche Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft. Die Kollektive, also Leitung und Belegschaft gemeinsam, sollten bei der Umwandlung der Betriebe in Aktiengesellschaften deshalb unter keinen Umständen in den Besitz von Mehrheitspaketen kommen. Nur durch das Hereinholen von betriebsfremdem Kapital glaubte man den sowjetischen, den kollektivistischen Schlendrian brechen zu können. Aber nur für Spitzenbetriebe war dies durchsetzbar, wo sich genügend außerbetriebliche und auch ausländische Interessenten fanden; die Masse der nicht so profitablen, erst recht der bankrotten Betriebe aber blieb auch als Aktiengesellschaft in der Hand der Betriebskollektive, die versuchten, irgendwie durchzukommen. Die meisten dümpeln bis heute so vor sich hin; einige sind aber ganz erfolgreich. Zu ihnen gehört die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk, die wegen des seit Jahren anhaltenden Baubooms außerordentlich günstige Vorausssetzungen hat. Sie wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wie alle Betriebe; dennoch tritt die Belegschaft heute als stolzes Kollektiv auf:

A: O-Ton 11: Kollektiv der Eisenbetonfabrik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden         0,17

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin des Mannes erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 12: Eisenbetonfabrik, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden          1,39

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitätserzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur etwas versprechen und es dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Unser Produkt muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deshalb ist die Stimmung bei uns im Allgemeinen sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über zwölf Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
A: O-Ton 13: Kollektiv, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden        1,38

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb in unserer Region, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Hier wird rechtzeitig der Lohn gezahlt, hier wird Krankengeld gezahlt, Essen usw. Bei uns gibt es kostenlos Milch, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus in unserem Land gab – und die gab es –  die haben wir jetzt noch besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. Ist also im Grunde alles beim Alten geblieben? Aber nein, keineswegs, antwortet die Arbeiterin. Da gebe es einen entscheidenden Unterschied:

B: O-Ton 14: Kollektiv, Forts.         2,11
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Rat der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.“

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten jeweils  Anteile zwischen ein bis drei Prozent.  Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt den Rat der Aktionäre, den Sowjet: Er hat neun Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Rates und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt an den Sitzungen des Rates teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Er hat nur eine Stimme wie alle anderen. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet, aber niemand macht zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des durchschnittlichen Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
Die Eisenbetonfabrik Nr. 4 ist als Musterbetrieb, der die Öffnung für die Marktwirtschaft, effektive Modernisierung und rigides Arbeitsklima mit dem Bemühen um soziale Betriebspolitik verbindet, seit 1991 mehrfach ausgezeichnet worden. Sie soll ein Vorbild für andere Betriebe sein.
Umfragen zeigen allerdings: Die akzeptieren zwar das Modell, sehen sich aber außerstande, es aus eigenen Kräften zu verwirklichen. So etwa erklärt Viktor Schmid, Direktor der Krasnojarsker Waldmaschinenfabrik, nachdem er die Arbeit Eisenfabrik in höchsten Tönen gelobt hat:

A: O-Ton 15: Direktor Schmidt             0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“ My etawa nje djelajem…
„Wir machen es hier nicht so, weil die allgemeine Lage es nicht zuläßt. Die können es dort so machen, aber das ist nur eine Fabrik, die gut lebt. So geht es natürlich nicht überall! Wir müßten entlassen, um solch ein Niveau zu halten.  Es ist klar, daß es nur geht, wenn dieses Modell allgemeine Linie wäre, wenn es durch ein staatliches Programm gestützt würde. Wir Direktoren sind ja keine Dummköpfe, wir wissen natürlich, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie profitabel arbeiten. Aber wohin mit den anderen? Wenn wir sie entlassen, werden sie vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben; sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…widemo gossudarstwo

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Für die Mehrheit der russischen Betriebe weist die Produktivitätskurve immer noch abwärts. Die Zahl der Arbeitslosen hat die Zehn-Prozent-Marke längst überschritten. Genaue Angaben verlieren sich im Dunkel der arbeitslos Beschäftigten, das heißt, jener Millionen von Belegschaftsmitgliedern, die von Betrieben wie der Waldmaschinenfabrik in Krasnojarsk auch ohne Arbeit, in vielen Fällen auch ohne Lohn gehalten werden, allein um soziale Unruhen zu vermeiden, die entstehen würden, wenn die Menschen mit der Zugehörigkeit zum Versorgungssystem des Betriebs auch das letzte Minimum an sozialer Sicherheit verlieren würden. Aller Augen richten sich daher heute auf den Staat, von dem erwartet wird, daß er durch Regulierung des Marktes Impulse für die Entwicklung der Volkswirtschaft setzt, welche die Entwicklung der privaten Unternehmensstruktur fördern, zugleich aber eine soziale Explosion vermeiden.
Selbst im Bereich der sogenannten kleinen Privatisierung, nämlich in dem der Kooperativen und Kleinunternehmen sind vergleichbare Phänomene der Orientierung auf den Staat zu beobachten, nachdem es dort ganz anders begonnen hatte. Schon Ende der Achtziger, vermehrt nach dem Einsetzen der Schockprivatisierung 1991 machten sich Kooperativen auf, um den zusammenbrechenden staatlichen Dienstleistungsbereich durch private Initiative zu ersetzen. Ein Beispiel unter Tausenden ist die „Klinik 2000“ in Nowosibirsk. Drei Frauen waren die Initiatorinnen; sehr bald schon hatte sich eine Kooperative von über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefunden, die ein privates psychotherapeutisches Ambulatorium gründeten:

B: O-Ton 16: Klinik 2000            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Methoden der Laser-Akupunktur sind Mitarbeiter der Klinik unterwegs, um Trinker, Fettleibige und Raucher in öffentlichen Zusammenkünften mit anschließender Einzelbehandlung von ihrer Sucht zu heilen. Heut arbeitet man im Kulturhaus von Borodino in der Region Krasnojarsk; morgen ist es Tomsk, Omsk, Wladiwostok oder Perm. Was früher von staatlicher Gesundheitspolitik abgedeckt wurde ist für ein paar Jahre Domäne privaten Engagements. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber schon seit Mitte der 90er werden die Grenzen sichtbar. Steigende Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne führen zu sinkenden Teilnehmerzahlen bei den Sitzungen. Die Steuern steigen; jede Region, jeder Ort verlangt darüberhinaus eigene Lizenzen, kassiert eigene Gebühren, eigene Steuern. Die Preise für Bahn, Bus und Flugzeug, ohne welche die Einsätze über Land nicht möglich sind, steigen unaufhörlich. Im Sommer 1996, zurück aus Belowo, einer der Kohlestädte des Kusbass, in der die Kooperative seit 1991 kontinuierlich tätig war, muß Irina, eine der Ärztinnen, ihre Kolleginnen und Kollegen mit schlechten Nachrichten konfrontieren:

O-Ton 17: Klinik 2000, Forts.        0,38
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Übersetzerin:
„Dwa iswestije…
„Zwei Neuigkeiten gibt es. Erstens: Von den fünf Schächten der Stadt sollen drei demnächst geschlossen werden. Das bedeutet: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, viele Leute wollen zu uns, weil wohl zuerst die Trinker entlassen werden. Die andere Nachricht ist: Seit mehr als drei Monaten haben die Bergleute keinen Lohn mehr bekommen und man hat ihnen gesagt, daß auch für die kommenden Monate keiner in Aussicht steht. Das heißt, sie haben kein Geld und werden darum nicht zu uns kommen können.“

Erzähler:
Das ist das Aus für die ambulante Überlandpraxis. Es bleibt zunächst die städtische Klientel, die sogannte Mittelschicht, die sich im Privatisierungsboom seit 1991 gebildet hat. Mit dem Bankenkrach vom August 1998 bricht auch diese Schicht weg. Die Kooperative ist nun auf die Nachsicht der Bürokratie. Zum Beispiel in Steuerangelegenheiten, und auf Zusammenarbeit mit dem staatlichen Gesundheitsbereich angewiesen, um zu überleben.
Ähnlich geht es dem ganzen Bereich: Dienstleistungsbetriebe wie die „Klinik 2000“, private Initiativen jeglicher Art, selbst junge Geschäftsleute sehen sich gezwungen, wieder unter ein staatliches oder quasistaatliches Dach zu flüchten. In Nowosibirsk zum Beispiel firmiert es inzwischen unter der Bezeichnung „Verwaltungsabteilung zur Herstellung von Verbindungen zu Organisationen des Dritten Sektors.“ Dritter Sektor heißt in Rußland heute jener Bereich, der sich zwischen Staat und „Bisness“ organisiert hat und den staatliche Stellen im Interesse sozialer Stabilisierung unter Kontrolle zu nehmen versuchen. Der Leiter dieser Abteilung, Georgi Tschulinin, ist weit entfernt davon, in der aktuellen Entwicklung etwas Negatives zu sehen:

B: O-Ton 18:  Abteilung für 3. Sektor in Nowosibirsk         0,25
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Übersetzer:
„Ja dumaju, schto..
„Ich glaube, daß der Dritte Sektor, von dem einige meinen, er habe mit Politik nichts zu tun, ganz im Gegenteil höchste Politik ist. Da geht es nämlich um den schrittweisen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft; da geht es nicht nur um die Ergreifung der Macht, nicht nur um privates `Bisness´, da geht es um Interessen der ganzen Gemeinschaft. “

Erzähler:
Über eintausend Organisationen – politische, kulturelle und wirtschaftliche – seien schon erfaßt, schwärmt Herr Tschulinin. Frau Natalja Dimitriewa, die sich als Verbindungsglied zwischen Verwaltung und aktiven Frauen des dritten Sektors begreift – dabei sehr auf ihre Basisbezogenheit pocht – spricht sogar von einer Wiedergeburt traditioneller kollektiver Strukturen im neuen Gewande:

A: O-Ton  19: Frau Dimitriewa             1,20
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„Ja, tolka magu schto skasats…
„Ich möchte es einmal so sagen: die Formen des Gemeinschaftslebens, die wir in der sowjetischen Zeit hatten, haben uns natürlich das kollektive Arbeiten gelehrt, positiv wie negativ, aber vor allem das Gefühl vermittelt, daß es noch einen Nachbarn gibt. Das ist natürlich etwas sehr Gutes. Als dann das Fenster zum Westen aufgemacht wurde, zerfiel das alles. Aber es verschwand natürlich nicht einfach. Was gut daran war, das Gefühl eben, ein Zuhause zu haben, zusammenzugehören, das wollen wir natürlich bewahren; das wollen wir natürlich an unsere Kinder weitergeben. Dieser Wunsch nach etwas Verbindendem zwischen Politik und Geschäft, der spiegelt sich jetzt in diesem Dritten Sektor wieder.“

Erzähler:
All diese Vorgänge zeigen: Nach gut zehn Jahren anarchischer Privatisierung deutet sich ein Wiedererstarken staatlicher Strukturen an, aber nicht in der Form, wie es in der Sowjetunion üblich war. Etwas Neues entsteht, das sich mit vorsowjetischen Traditionen zu einer ungewöhnlichen Mischung verbindet – die man eine kollektive Privatisierung nennen könnte: Die Bauern öffnen sich für den Markt, aber produzieren und leben weiter in ihren dörflichen Gemeinschaften, ja, schließen sich nach vorübergehenden Experimenten als Privatbauern den Gemeinschaften wieder an. Industriebetriebe wurden privatisiert, die Einheit von Arbeit und außerbetrieblichem Leben aufgelöst. Die Mehrheit der Betriebskollektive, also Direktoren und Belegschaft gemeinsam, versteht sich heute aber als Notgemeinschaft, die zusammen mit örtlichen und regionalen Bürokratien nicht nur für die Produktion, sondern für das Überleben der von ihr abhängigen Bevölkerung zu sorgen hat. Ein Boom privater Organisationen entwickelte sich in der Versorgungs- und Freizeitlücke, die der Zusammenbruch der staatlichen Pyramide hinterließ, aber nicht Unabhängigkeit, sondern Kooperation mit den Behörden bestimmt ihre Entwicklung. Einen „nicht standardisierten Weg zum Kapitalismus“ nennt der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitski, ein Freund des Irkutsker Soziologen Oleg Woronin aus alten Perestroikatagen, diese Entwicklung und beschreibt sie mit den Worten:

B: O-Ton 22: Kagarlitzki             2.08
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Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geschieht? Alles wurde inzwischen privatisiert, nicht wahr? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe als Gemeinschaftsbesitz erneut zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Òbschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, entsteht aufs Neue, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in veränderter Form, in spontaner Weise, von der Not der Verhältnisse hervorgebracht. Die Betriebe befinden sich nun einmal in einer desolaten Situation – also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie erneut zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer und noch diese Initiative und jene Organisation und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen neuen, aber von unten legitimierten Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Das ist Selbstorganisation, allerdings nicht etwa der Massen, sondern der mittleren Bürokratie zusammen mit der örtlichen Intelligentia. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt von regionalen Bedingungen und von der politischen Entwicklung ab.“

Erzähler:
Entgegen den Erwartungen ihrer Befürworter führte die Privatisierung keineswegs zum sofortigen Zusammenbruch des sowjetischen Kollektivismus. Die Schwierigkeiten der Privatisierung ließen vielmehr ein Element der russischen Sozialverfassung wieder hervortreten, das weit hinter die Sowjetunion in die russische Geschichte zurückreicht, die Òbschtschina. Kagarlitzki erklärt, was darunter zu verstehen ist:

O-Ton 23: Kagarlitzki, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden         1,30

Übersetzer:
„I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was war ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das war im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst war so organisiert. Für den Staat war das bequem. Was da entstand, war kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie – das gibt es sowieso nicht. Das war die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion, dies um so mehr als man darum herum auch wohnte: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. So war es und so ähnlich geht es heute bei uns weiter. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerlichen Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: Die Administration schaut auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“

Erzähler:
Rußland ist also dort wieder angekommen, von wo es bei Beginn der schnellen Privatisierung 1991, also beim Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin ausgegangen war – bei dem Versuch der schrittweisen Transformation seiner traditionellen Gemeinschaftsstrukturen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse Die Zerrüttung der Wirtschaft nach zehn Jahren anarchischer Beschleunigung der Umverteilung läßt heute keine andere Wahl mehr als diesen vorsichtigen Kurs. Kritiker der Schockprivatisierung forderten eine solche Rücksicht auf die gewachsenen Verhältnisse schon vor Jahren. So etwa der sibirische Ökologe Gennadij Schadrin, der bereits nach dem Scheitern der Landreform formulierte:

B- O-Ton 24: Schadrin            1,26
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Übersetzer:
„We nasche….
„In unserer neuen Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Das sollte auch nicht geändert werden. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:
Inzwischen sind solche Töne auch von denen zu hören, die bisher taub für die Rücksicht auf traditionelle Strukturen Rußlands waren. Nur ist in den neueren soziologischen Studien Rußlands, etwa solchen, die im Auftrag der russischen Zentralbank durchgeführt werden, nicht von „traditionellen Strukturen“ die Rede. Solche Formulierungen erfreuen sich unter Rußlands Modernisierern keiner besonderen Beliebtheit. Sie sprechen, ganz im Tenor westlicher Soziologie, von der notwendigen Berücksichtigung des „Humankapitals“. Wenn es aber darum geht zu erklären, worin dieses Kapital besteht, dann lautet das Stichwort dafür: Korporative Ethik. Korporative Ethik, erklärt Jussiv Diskin, der solche Studien für die Zentralbank durchführt, sei gegenwärtig das Schlüsselproblem für den Aufbau einer Marktwirtschaft in Rußland; ohne Beachtung der korporativen Ethik werde sich in Rußland nichts entwickeln. Gemeint ist auch bei ihm wieder die Verbindung von Staat und gewachsenen Gemeinschaftstrukturen, die in der Tradition der Òbschtschina stehen. In den bevorstehenden Wahlen wird darüber entschieden, ob und wie diese Verbindung zustandekommt. Es ist auch eine Entscheidung darüber, ob die weitere Kapitalisierung Rußlands schrittweise oder in der Form südamerikanischer Entwicklungsdiktaturen stattfinden wird.

Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen

Rußlands Krise fordert Lösungen. Seit dem Bankenkrach vom August letzten Jahres reden alle davon, daß Reformen in Rußland an den gewachsenen Strukturen ansetzen müssen. Auch auf westlicher Seite ist man zu neuen Einsichten gelangt. So erklärte Horst Köhler, Präsident der Ost-Europa-Bank, der Westen könne Marktwirtschaft und Demokratie nur dann auf Dauer in Rußland verwirklichen, wenn er sie in der Kultur, der Geschichte und in  den Traditionen des Landes verankere. Was sind diese traditionellen Strukturen? Wie wäre anzusetzen? Von den Auseinandersetzungen um diese Fragen soll in den folgenden dreißig Minuten die Rede sein.

A: O-Ton 1: Tusch, Straßenmusik                1,00
Regie: O-Ton bis zum Beginn des Wortbeitrags frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Sprecher:
Stadtfest im sibirischen Irkutsk. Die Stadt erinnert sich ihrer Geschichte, die mit der Erschließung des Landes durch unabhängige Kaufleute im 16. Jahrhundert begann. Man ist stolz auf diese freie Tradition. Selbst im Freilichtprogramm fehlt der Hinweis auf Sibiriens besondere Rolle nicht. Sibirien bleibe ein Zentrum des wirtschaftlichen Aufbaus für Rußland, verkündet der Animateur. Begeistert fällt sein Auditorium ein.

Regie: hochziehen, abblenden

Sprecher:
Am Rande des Volksfestes treffen sich Soziologen, Politologen und unabhängige Geschäftsleute mit Vertretern der regionalen Bürokratie zu einer Beratung über die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des nach ihr benannten Verwaltungsbezirks:

B: O-Ton 2: Versammlung in Irkutsk                0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Na uriwinje antimoskowskowo…
„Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die verhandelt wird. Einer der Anwesenden, Oleg Woronin, ehemaliger Aktivist der Perestroika, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und zugleich erfolgreicher Geschäftsmann, spricht unter dem Thema: „Kompromiß als Weg“.  Ohne Mikrofon, heftig und mit oft überkippender Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Konkurrenz der Moskauer Finanzclans für den Aufbau der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab zur Unterstützung der örtlichen und regionalen Bürokratie will man bilden, der den regionalen Beamten zur Hand gehen soll.
Nach der Veranstaltung erläutert der akademische Neuunternehmer, was er unter „Kompromiß als Weg“ versteht:

A: O-Ton  3: Oleg Woronin            0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzung:
„Nu, ä, smisle dakladow…
„Nun, was ist der Gedanke des Vortrags? Ich denke schon lange und sehe es immer mehr so, daß die marxistischen Termini auf Rußland nicht zutreffen. Die Aufteilung in Klassen korrespondierte nicht mit der Realität, wie wir Soziologen sagen. Als Ergebnis der Stalinzeit hatten wir vielmehr, abgesehen von der Nomenklatura, eine destrukturierte, eine amorphe Gesellschaft. Reale, klar abgegrenzte soziale Strukturen gab es nicht; sie veränderten sich zu Quasi-Strukturen, die den von der Partei gezogenen Privilegiengrenzen folgten. Jetzt geht es darum, wie eine Wiedergeburt sozialer Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft erfolgen kann. Die grundlegenden Strukturierungen gehen natürlich in der Elite vor sich; das ist die finanzindustrielle Elite, die Unternehmerlite usw. In der Bildung der großen, korporativen Monopole von der Art Gasproms, von der Art des russischen oder des Irkutsker Energieverbunds und anderer bilden sich die Strukturierungen mittelfristiger wirtschaftlicher Interessen.“

Erzähler:
Gut zwei Dutzend solcher Industrie-Finanzgruppen sieht Oleg Woronin im heutigen Rußland miteinander darum kämpfen, wie die russische Torte endgültig aufgeteilt wird. Aber nicht große Privateigentümer sieht er an deren Spitze, sondern Top-Manager, die ihren Unternehmen als kollektivem sozialem Körper verpflichtet sind. Von der Gemeinschaft losgelöste Privatinteressen, so Oleg Woronin, hätten dort keinen Platz; vielmehr gehe es um die Schaffung arbeitsfähiger Großstrukturen. Dauerhaft könne das nur entlang grundlegender sozialer Interessen geschehen:

B: O-Ton 4: Forts. Woronin                 1,15
Regie: Ton stehen lassen, abblenden

Übersetzung:
„Wosnawnoi takoi obsche smisl…
„Kern ist dabei heute der Kampf um die reicheren, mehr Perspektive aufweisenden Unternehmen der Region. Aber das ist nur der erste Schritt. Die Kontrolle konnte man sich leicht aneignen. Die Frage ist jetzt, wie können diese Betriebe arbeiten, insofern die Mehrheit von ihnen moralisch und physisch überaltert ist und, was die Hauptsache ist, über keinerlei Investitionsmittel verfügt? Die Banken fordern Rationalisierungen: Das bedeutet Einsparung des Personals, Abbau sozialer Strukturen wie Kindergärten, Kinderclubs, Lager für Kinder, Krankenhäuser usw. Alles, was früher die Unternehmen aus ihrem Gewinn unterhielten, wird jetzt den Gemeindebudgets zugeschoben. Die haben aber kein Geld; Das heißt, der frühere Dienstleistungssektor wird praktisch der Vernichtung anheimgegeben, er bricht vollkommen zusammen. Einen Ersatz gibt es nicht. Ohne ein Minimum an sozialer Versorgung sind die Belegschaften aber nicht zu effektiver Arbeit zu motivieren. Infolgedessen beginnen die Betriebe selbst mit dem Wiederaufbau sozialer Strukturen bis hin zu betrieblichen Rentenversorgungen. Selbst neue Gewerkschaften werden von Seiten der neuen Unternehmer organisiert und finanziert.“

Erzähler:
Hier will Woronin seinen Weg beginnen. Es gelte, die Konkurrenz der Moskauer Oligarchen für den Aufbau örtlicher und regionaler Strukturen zu nutzen.

A: O-Ton 5: Oleg Woronin, Forts.            1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Wapros w tom, kakije….
„Die Frage ist allein, wie? Wie werden die Interessen organisiert? Da sehe ich folgende Möglichkeiten, die man auch schon an vielen Orten beobachten kann: alle Betriebe zweigen eine begrenzte Summe Geldes aus ihren Mitteln ab zur Gründung eines oder auch mehrerer öffentlicher Fonds des Regierungsbezirkes. Aus diesem Fond teilt die Verwaltung aus; das mag zwar nicht besonders demokratisch scheinen, es geschieht aber in Absprache mit den Betrieben, die das Geld geben. Das Geld geht als Subvention in die Landwirtschaft, und zwar nicht in die Unterstützung einzelner Betriebe, sondern in den Aufbau von Infrastrukturen, also in den Wegebau, in höhere technologische Bedingungen, in Ausrüstungen etc. Das ist ja ein fürchterliches Problem im heutigen Rußland, daß die technischen Ausrüstungen vor Ort ausfallen. Im Gegenzug bieten die landwirtschaftlichen Betriebe, die kein Geld haben, ihre Produkte in den Städten der Region billiger an als in anderen Regionen. So entwickelt sich der Aufbau nach den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe im gegenseitigen Interesse.“

Erzähler:
Was in Irkutsk heute zutage tritt, hat sich schon länger im Lande vorbereitet. In der Landwirtschaft war die Privatisierung bereits ein Jahr nach ihrem Einsetzen ins Stocken gekommen. Die Gründung von 400.000 privaten Höfen hatte die Regierung Jelzin für Ende 1992 in Aussicht gestellt; es wurden 180.000; bereits 1993 stagnierte ihre Zahl bei 270.000. Die angekündigte Umwandlung der Kolchosen in Aktiengesellschaften war zwar Ende 1993 nahezu vollzogen; die landwirtschaftliche Produktion aber sank Jahr für Jahr zunehmend. 1994 arbeitete mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe bereits mit Verlust; die Zahl der privaten Höfe war rückläufig. Selbst früher gesunde Betriebe gerieten in die roten Zahlen. So etwa die ehemalige Mustersowchose Tulinskaja im sibirischen Gebiet Nowosibirsk. Wassili Horn, ihr Direktor, erklärt seinem anreisenden westlichen Gast, was geschah:

B: O-Ton 6: Direktor Horn            1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, bil sowchos, stal…
„Nun, sie war eine Sowchose, nun ist sie eine Aktengesellschaft. Kern der AG ist die kollektive Wirtschaft wie vorher auch, aber das Eigentum ist in die Hände der Aktionäre übergegangen. Sie ist kein staatliches Unternehmen mehr, sondern ein privates, jeder hat seinen Anteil vom Vermögen bekommen, vom Land. Es ist alles normal: Gewählt wurde eine Verwaltung, gewählt wurde ein Sowjet; das Problem ist nur, daß die Leute sich nicht als Eigentümer fühlen. Und was ist das Ergebnis? Unzuverlässigkeit, Veruntreuung, Diebstahl! Und dann gibt es die, die man überhaupt vergessen kann, die einfach nur auf Kosten der anderen leben wollen, saufen, klauen, sich vergnügen. Wohin heute mit denen? Früher hatten wir Regeln, wir hatten unsere Arbeitsmoral. Heut gilt: Jeder für sich, wir haben keine gesetzliche Befugnis mehr. Ich bin Chef, dann gibt es noch den Administrator. Wir sollen entscheiden, sollen alles am Laufen halten, aber wie, wenn es keine Basis, keine Gemeinschaft mehr gibt?“

Sprecher:
Die Umverteilung blieb formal, aber die soziale Destabilisierung nahm kriminelle Ausmaße an; aus der Mustersowchose wurde ein Pleitebetrieb. Auch von Demokratie keine Spur. Die Stimmung des Administrators, dem Vertreter der staatlichen Macht im Bereich der sieben Dörfer von Tulinskaja steht auf dem Tiefpunkt:

A: O-Ton 7: Administrator, Tulinskaja        0,30
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Demokratia, o kotorim mi goworim…
„Die Demokratie, von der so viele Jahre gesprochen wird – in meinen Augen ist das Anarchie: Keine Gesetze! Als gebildeter Mensch bin ich für Kultur, Bildung, Glück, Gewissen. Nur dann funktioniert Demokratie. Bei uns sehe ich soetwas nicht.“

Erzähler:
Für seine Alternative braucht der Administrator nur ein Wort:

B: O-Ton 8: Administrator, Forts.
Regie: O-Ton ohne Übersetzung stehen lassen                              0,01

„Diktatura… (nicht übersetzt)

A: O-Ton 9: Ankunft in der Molkerei                 0,48
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…
Molkerei.  Früher eine der wichtigen Einnahmequellen der Sowchose; jetzt produziert man gerade eben noch für den Eigenbedarf. Der Unmut ist unüberhörbar:

O-Ton 10: Molkerei, Forts.                           1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler hochziehen

Erzähler::
„Nelsja bila, swjo…
„Es war nicht richtig“, meint diese Frau, „das Alte so mit Gewalt umzustürzen.“

Übersetzerin:
„Man hätte das Neue auf der Grundlage des Alten einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch Bauern bei uns geben oder sonst irgendwelche privaten Arbeiten, das müßte einfach parallel laufen. Aber hier haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler:
Von der Reform der Selbstverwaltung, mit der die Regierung die aufgelösten Sowjetstrukturen ersetzen möchte, will man im Alltag nichts wissen: Wie das denn aussehen solle, fragt eine Frau. Früher habe es die Familie gegeben, wirft eine andere ein. Früher habe man sich dem Ältesten untergeordnet. Früher habe man einander geholfen. Aber jetzt? Freiheit sei gut, aber ein Betrieb brauche ein gutes Kollektiv und starke Hand, darin sind alle einig. Sonst versinke alles im Chaos und Rußland zerfalle.

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Auf dem Lande war damit bereits 1994 klar, daß die Überführung der kollektiven landwirtschaftichen Strukturen in privatwirtschaftliche nicht ohne Weiteres möglich sein würde. Im produktiven Bereich ist es nicht viel anders. Auch hier wurde die Privatisierung von den bestehenden betrieblichen Strukturen relativiert. Im Programm Jegor Gaidars von 1991 war vorgesehen, daß die Betriebskollektive, das hieß, eine mögliche Einheit von Leitung und Belegschaft, unter keinen Umständen in den Besitz von Mehrheitspaketen der in Aktiengesellschaften umgewandelten Betriebe kommen sollten. Für Spitzenbetriebe war dies durchsetzbar, weil sich genügend außerbetriebliche und auch ausländische Interessenten fanden; die Masse der nicht so profitablen, erst recht der bankrotten Betriebe aber blieb auch als Aktiengesellschaft in der Hand der Betriebskollektive, die versuchten, irgendwie durchzukommen. Die meisten dümpelten so vor sich hin; einige sind dabei ganz erfolgreich. So ein Fall ist die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk. Sie wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wie alle Betriebe; dennoch tritt die Belegschaft heute als stolzes Kollektiv auf:

A: O-Ton 11: Kollektiv der Eisenbetonfabrik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden         0,17

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 12: Eisenbetonfabrik, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden          1,39

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur etwas versprechen und dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deswegen ist die Stimmung bei uns im Allgemeinen sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über zwölf Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
A: O-Ton 13: Kollektiv, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden        1,38

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb in unserer Region, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Hier wird rechtzeitig gezahlt, hier wird Krankengeld gezahlt, Essen usw. Bei uns gibt es kostenlos Milch, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus in unserem Land gab, und die gab es, die haben wir jetzt um so besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. Ist also alles beim Alten geblieben? Aber nein, keineswegs, antwortet die Kollegin. Da gebe es einen entscheidenden Unterschied:

B: O-Ton 14: Kollektiv, Forts.         2,11
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.“

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten Anteile zwischen ein bis drei Prozent pro Person. Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet der Aktionäre: Er hat neun Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht zur Zeit individuell davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
Die Eisenbetonfarbrik Nr. 4 ist als Musterbetrieb, der die Öffnung für die Marktwirtschaft mit dem Bemühen um soziale Betriebspolitik verbindet, seit 1991 mehrfach ausgezeichnet worden. Für andere Betriebe ist sie ein Vorbild, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkungen: Viktor Schmid, Direktor der Krasnojarsker Waldmaschinienfabrik, erklärt, nachdem die Eisenfabrik als Modell in höchsten Tönen gelobt hat:

A: O-Ton 15: Direktor Schmidt             0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“ My etawa nje djelajem…
„Wir machen es nicht so, weil das allgemeine Niveau unseres Alltags das nicht zuläßt. Man könnte es tun, aber dann gäbe es da eine Fabrik, die gut lebt. So nicht! Es ist offensichtlich, daß es nur geht, wenn dieses Modell allgemeine Linie wäre; es muß ein staatliches Programm geben. Wir Direktoren sind ja keine Dummköpfe, wir wissen doch, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie profitabel arbeiten. Aber wohin mit den anderen? Sie werden vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben; sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…widemo gossudarstwo

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Solche Programme, die Privatisierung und soziale Garantien miteinander verbinden, werden die Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen zur Duma und in denen für einen neuen Präsidenten vorlegen müssen. Selbst im privatesten Bereich der Privatisierung, nämlich in dem der Kooperativen und Kleinunternehmen sind vergleichbare Phänomene zu beobachten, nach es dort ganz anders begonnen hatte. Schon Ende der Achtziger, vermehrt nach dem Umsturz 1991 machten sich Kooperativen auf, um den zusammenbrechenden staatlichen Dienstleistungsbereich durch private Initiative zu ersetzen. Ein Beipiel unter Tausenden ist die „Klinik 2000“ in Nowosibirsk. Drei Frauen waren die Initiatorinnen; sehr bald schon hatte sich eine Kooperative von über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefunden, die ein privates psychotherapeutisches Ambulatorium gründeten:

B: O-Ton 16: Klinik 2000            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Methoden der Laserakupunktur sind Mitarbeiter der Klinik unterwegs, um Trinker, Fettleibige und Raucher in öffentlichen Sceancen mit anschließender Einzelbehandlung von ihrer Sucht zu heilen. Heut arbeitet man im Kulturhaus von Borodino in der Region Krasnojarsk; morgen ist es Tomsk, Omsk, der Wladiwostok oder Perm. Was früher von staatlicher Gesundheitspolitik abgedeckt wurde ist für ein paar Jahre Domäne privaten Engagements. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber schon Mitte der 90er werden die Grenzen sichtbar. Steigende Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne führen zu sinkenden Teilnehmerzahlen bei den Sceancen. Die Steuern steigen, vervielfacht durch die Föderalisierung, ins Unübersehbare. Parallel dazu schreitet die Regionalisierung vor Ort voran; jede Region, jeder Ort verlangt eigene Lizenzen, kassiert eigene Gebühren, eigene Steuern. Die Preise für Bahn, Bus und Flugzeug, ohne welche die Einsätze über Land nicht möglich sind, explodieren. Im Sommer 96 schlägt die Krise erstmals voll durch. Zurück aus Belowo, einer der Kohlestädte des Kusbass, in der die Kooperative seit 1991 kontinuierlich tätig war, muß Irina, eine der Ärztinnen, ihre Kolleginnen und Kollegen mit der Mitteilung konfrontieren:

O-Ton 17: Klinik 2000, Forts.        0,38
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Dwa iswestije…
„Zwei Neuigkeiten gibt es. Erstens: Von den fünf Schächten der Stadt sollen drei demnächst geschlossen werden. Das bedeutet: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, viele Leute wollen zu uns, weil wohl zuerst die Trinker entlassen werden. Die andere Nachricht ist: Seit mehr als drei Monaten haben die Bergleute keinen Lohn mehr bekommen und man hat ihnen gesagt, daß auch für die kommenden Monate keiner in Aussicht steht. Das heißt, sie haben kein Geld und es wird niemand kommen.“

Erzähler:
Das war das Aus für die ambulante Überlandpraxis. Es blieb das städtische Klientel, die sogannte Mittelschicht, die sich im Privatisierungsboom seit 1991 gebildet hat. Mit dem Bankenkrach vom August  brach auch diese Schicht weg. Die Kooperative muß auf Beratungstätigkeiten ausweichen, um zu überleben. Ähnlich geht es dem ganzen Bereich: Dienstleistungsbetriebe wie die „Klinik 2000“, private Initiativen jeglicher Art, NGOs, selbst junge Geschäftsleute sehen sich gezwungen, wieder unter ein staatliches oder quasistaatliches Dach zu flüchten. In Nowosbirsk firmiert das inzwischen unter der Bezeichnung „Verwaltungsabteilung zur Herstellung von Verbindungen zu Organisationen des Dritten Sektors.“
Der Leiter dieser Abteilung, Georgi Tschulinin, ist allerdings weit entfernt davon, in dieser Entwicklung etwas Negatives zu sehen:

B: O-Ton 18:  Abteilung für 3. Sektor in Nowosibirsk         0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Ja dumaju, schto..
„Ich glaube, daß der dritte Sektor, von dem einige meinen, er habe mit Politik nichts zu tun, ganz im Gegenteil höchste Politik ist. Da geht es nämlich um den schrittweisen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft; da geht es nicht nur um die Ergreifung der Macht, nicht nur um privates busyness, da geht es um Interessen der ganzen Gemeinschaft. “

Erzähler:
Über eintausend NGOs, Initiativen, Kooperativen, Bewegungen seien schon erfaßt, schwärmt Herr Tschulinin, politische, kulturelle und auch wirtschaftliche. Frau Natalja Dimitriewa, die sich als Verbindungsglied zwischen Verwaltung und aktiven Frauen begreift, dabei sehr auf ihre Basisbezogenheit pocht, spricht sogar von einer Wiedergeburt traditioneller kollektiver Strukturen im neuen Gewande:

A: O-Ton  19: Frau Dimitriewa             1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

„Ja, tolka magu schto skasats…
„Ich möchte es einmal so sagen: die Formen des Gemeinschaftslebens, die wir in der sowjetischen Zeit hatten, haben uns natürlich das kollektive Arbeiten gelehrt, positiv wie negativ, aber vor allem das Gefühl vermittelz       , das es noch einen Nachbarn gibt. Das ist natürlich etwas sehr Gutes. Als dann das Fenster zum Westen aufgemacht wurde, zerfiel das alles. Aber es verschwand natürlich nicht einfach. Was gut daran war, das Gefühl eben, ein Zuhause zu haben, zusammenzugehören, das wollen wir natürlich bewahren; das wollen wir natürlich an unsere Kinder weitergeben. Dieser Wunsch nach etwas Verbindendem zwischen Politik und Geschäft, der spiegelt sich jetzt in diesem dritten Sektor wieder.“

Erzähler:
Nikolai Jakimow, Student der Informatik, versteht sich als Koodinator des Jugendbereichs in diesen neuen Sektor. Er läßt sich, nach vehementer Abgrenzung von jeglichem Dirigsmus, bei der Frage, wie er zu den Komsomolzen, also der ehemaligen kommunistischen Jugendorganisation, stehe, schließlich sogar zu dem Zugeständnis verleiten:

B: O-Ton 20 Jugendkoordinator            0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„To, schto bila w komsomole…
„Ich selbst hab mit den Komsomolzen nicht mehr viel zu tun gehabt, aber unsere Organisation tritt heute faktisch in die Fußstapfen des Komsomol. Wir organisieren ja nahezu denselben Bereich, wir arbeiten nach denselben Methoden, wir haben einige Übertritte, vor allem in den kleineren Städten; wir haben die Anlagen, vor allem auch die Computer von ihnen übernommen – der Unterschied ist eigentlich nur, daß wir keine staatliche Organisation sind und die wichtigsten Entscheidungen zweitens in der Regel von den Jugendlichen selbst getroffen werden.“

Erzähler:
Nägel mit ganz harten Köpfen versucht man in Krasnojarsk zu machen. Dort haben vermögende Jungunternehmer, denen ihre Herkunft aus dem halblegalen Busyness noch anzusehen ist, eine Lebed-Jugend gegründet. Ihre Ziele erläutert Nikolai Werner, Gründer und Chef der Organisation, fünfunddreißig Jahre alt, so:

A: O-Ton 21: Lebed-Jugend            0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mi natschinajem…
„Wir beginnen aus eigenen Mitteln. Unser Ziel ist es, die Jugend aus den Fängen der Sucht und des Verbrechens zu befreien, ihr Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu zeigen und sie wieder an geistige Werte, vor allem russische Kultur heranzuführen. Wir fragen heut nicht, wir machen Vorschläge, was man tun kann. Wir schlagen vor, der Schmied des eigenen Glückes zu werden“
..mechka gaworja.“

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
All diese Vorgänge zeigen: Etwas Neues ist entstanden, das sich mit Altem zu einer ungewöhnlichen Mischung verbindet – Initiaven von unten, die von oben verwaltet werden. Das ist die Wiedererstarkung staatlicher Strukturen, aber nicht in der alten Form. Einen „nicht standartisierten Weg“ nennt der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitski, ein Freund Oleg Woronins aus alten Perstroikatagen, diese Entwicklung und beschreibt sie mit den Worten:

B: O-Ton 22: Kagarlitzki             2.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geht ungefähr vor? Alles wurde inzwischen privatisiert, nicht? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe vor Ort neu als Gemeinschaftsbesitz zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Obschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in neuer Form, in spontaner Weise, von der Not der Verhältnisse hervorgebracht. Die Betriebe befinden sich nun einmal in dieser desolaten Situation – also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie in dieser Weise erneut zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer und noch diese Initiative und jene Organisation und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen ganzen kleinen neuen, aber von unten legitimierten Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Das ist Selbstorganisation des Korporativismus, allerdings nicht etwa der Massen, sondern der mittleren Bürokratie zusammen mit der örtlichen Intelligentia. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt vom Herankommen und von der politischen Entwicklung ab.“

Erzähler:
Für Westler, die sich unter einer „rekonstruierten Obschtschina“ nicht recht etwas vorzu stellen vermögen, ergänzt Kagarlitzki:

O-Ton 23: Kagarlitzki, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden         1,30

Übersetzer:
„I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“

Erzähler:
Damit ist Rußland bei dem wieder angekommen, von dem es bei Beginn der schnellen Privatisierung, also beim Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin 1991 ausgegangen war – bei der schrittweisen Transformation seiner traditionellen Gemeinschaftsstrukturen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse. Kritiker der Schockprivatisierung forderten diese Vorsicht bereits vor Jahren. So etwa der sibirische Ökologe Gennadij Schadrin, der bereits nach dem Scheitern der Landreform formulierte:

B- O-Ton 24: Schadrin            1,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„We nasche….
„In unserer neuen Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:
Aber auch westliche Analytiker hatten durchaus schon früh erkannt, woran anzuknüpfen sei. So schlug eine innerhalb der Treuhand erstellte so benannte Gegenstudie schon 1992 unter dem Leitgedanken einer „Reform aus eigener Kraft“ eine, wie es dort hieß, „Mobilisierung des Humankapitals “ vor. Die Mobilisierung sollte sich auf der Linie einer „Unternehmensselbststeuerung“ bewegen. Damit war eben das gemeint, von dem auch die russischen Kritiker sprechen, nämlich:

Zitator:
„Kernzelle der neuen Unternehmensselbststeuerung als neuer Organisationstyp bleiben Betriebskollektiv und Brigaden in Fortführung der Tradition der „obschtschina“ und der ehemals sozialistischen Brigaden, allerdings eingebettet in einer verändertern produktbezogenen Arbeitsorganisation mit Gruppenarbeit, Gruppenverantwortung, möglichst ganzheitliche produktbezogene Arbeitsabschnitte, weitgehend selbststeuernde Teilsysteme, optimale Kooperationen.“

Erzähler:
Dieses Konzept wurde wie alle anderen möglichen Alternativen von der realen Schocktherapie beiseitegefegt. Neuerdings aber sind auch bei denen, die bisher taub für die Rücksicht auf traditionelle Strukturen Rußlands waren, andere Töne zu hören. So bei Jussif Diskisn, einem Soziologen, der im Auftrag der russischen Zentralbank die sozialen Bewegungen in Rußland erforscht. Bei ihm avanciert die Berücksichtigung des Humankapitals, von ihm soziales Kapital genannt, nicht nur zum Eckpunkt aller weiteren Reformen In Rußland, er erklärt zudem noch, welche Besonderheiten in dieser Hinsicht zukünftig zu beachten seien:

A: O-Ton 25: Diskin        1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nazionalni sozialni Kapital…
„Nationales soziales Kapital setzt sich woraus zusammen? Erstens daraus, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Regulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, sich es auch nicht die hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem für den Aufbau einer Marktwirtschaft in Rußland; ohne Beachtung der krporativen Ethik läuft bei uns nichts.“

Erzähler:
Da ist er, jetzt auch auf analytischem Niveau, der von Oleg Woronin in der Irkutsker Versammlung geforderte „Kompromiß als Weg“. Wenn solche Einsichten auch Eingang in westliches Denken finden, besteht die Chance, daß Rußland, und dies mit Unterstützung des Westens, endlich seine eigenen Kräfte entfalten kann, statt westlichen Vorgaben hoffnungslos hinterherzulaufen. Das wäre der Beginn einer Reformpolitik, die diesen Namen verdient hat.

Nach dem Bankenkrach: Das andere Rußlandbild – Rußland wieder kreditwürdig?

Mit dem Bankenkrach vom Herbst letzten Jahres schien Rußland am Ende. Kredite wurden gesperrt, westliche Investoren zogen sich zurück. Vor ein paar Wochen wurde Rußland als die Nummer Acht in die G-7, die Gemeinschaft der sieben größten Industrienationen aufgenommen. Die Sieben verpflichteten sich, Rußland bei der anstehenden Zahlung von 100 Milliarden Dollar Altschulden aus sowjetischer Zeit zu entlasten; der Internationale Währungsfonds erklärte sich darüberhinaus bereit, lange zurückgehaltene Kredite in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar auszuzahlen. Was ist geschehen? Ist dies ein Zuckerbrot für Rußlands Wohlverhalten im Krieg um das Kosovo? Oder ist Rußland entgegen allen Erwartungen wieder kreditwürdig?

O-Ton 1 (gesonderter Bobby): Musik, tak, tak, tak…
12 A 634 bis 645 …Schnitt .. bis B 204

Regie: Ton bis zu Sprecherin frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, danach zwischendurch hochziehen, zum Schluß langsam hochkommen lassen, verblenden

Erzähler:
Eine erste Antwort auf diese Frage geben die traditionellen Aktivitäten am 1. Mai dieses Jahres. Rund 500.000 Menschen haben die Korrespondenten landesweit auf den Straßen gezählt. Für russische Verhältnisse sind das wenige. Alles blieb ruhig – keine Zusammenstöße, keine Besetzungen, keine Hungerstreiks wie in den Vorjahren. Viele Menschen zogen es vor, auf die Datschen zu fahren, um ihre Gärten zu bestellen.
Einig ist man sich nur im Protest gegen den Krieg in Jugoslawien; im Übrigen gab es getrennte Märsche und Veranstaltungen. Durch Moskau zogen zwei Demonstrationen. Ca. 20.000, vor allem ältere Menschen folgten den Fahnen der Kommunisten. Sie forderten, wie schon seit Jahren, den Rücktritt Jelzins, der mit der Zerstörung der Sowjetunion den Balkankrieg erst ermöglicht habe.
Wesentlich mehr, vor allem aber jüngere Menschen haben sich an dem Zug beteiligt, zu dem die Moskauer freien Gewerkschaften im Bündnis mit Bürgermeister Juri Luschkow aufgerufen haben. Dort ging es unpolitischer, dafür aber handfester zu: Forderung nach Lohnerhöhungen, nach Senkung der Steuern, nach Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für geregelte Arbeit stehen im Mittelpunkt. Bürgermeister Luschkow, der sich bereits auf den Wahlkampf um die Nachfolge des jetzigen Präsidenten vorbereitet, hat sich an mit einer Rede höchstpersönlich an die Spitze der Kundgebung gesetzt:

O-Ton 2: Bobby 2: Bürgermeister Luschkow
Regie: Verblenden, TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladewitzja.“

Erzähler:
Juri Luschkows Ermahnungen erinnern an Michail Gorbatschows Aufrufe aus den frühen Tagen der Perestroika. „Schaffen! Schaffen! Schaffen!“ lautete eine der zentralen Parolen, mit denen Gorbatschow seinerzeit die Bevölkerung zum Einsatz für die gewünschte sozial-ökonomische Beschleunigung anfeuern wollte.
Luschkows Bündnispartner, Michail Nagaitzew, der Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaften greift diese Töne auf. Nagaitzev war radikaldemokratischer Aktivist der Perestroika. Nach Jelzins sogenannter demokratischer Revolution war er Mitglied der oppositionellen „Partei der Arbeit“ und bis zum Bankenkrach scharfer Kritiker der forcierten Privatisierung, deren Ergebnisse er als kriminell verurteilte. Heute ist Nagaitzev Mitglied in der von Juri Luschkow gegründeten Wahlbewegung „Otetschestwo“, Vaterland, und hat mit dem Bürgermeister einen Stabilitätspakt, ein Bündnis für Arbeit geschlossen. Den Bankenkrach vom August letzten Jahres versteht der Gewerkschafter weniger als das Ende denn als den Anfang einer Entwicklung. Zwar habe der Krach die allgemeine Armut in Rußland erhöht, erklärt er:

O-Ton 3: Michael Nagaitzev
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Die Preise für Importware stiegen. Als Ergebnis wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Deren Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann noch Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Vor dem Krach lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Bemerkenswert findet Präsident Nagaitzew vor allem, daß dies alles habe geschehen können, obwohl die Zentral-Regierung nach dem Krach praktisch nichts zur Stärkung der Wirtschaft unternommen habe:

O-Ton 4: Nagaitzew, Forts.     7,A,628 – 638
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Die Leute fingen einfach an selbst zu suchen: Produzenten, Nischen, Märkte. Sie zogen die Wirtschaft wieder hoch, obwohl das Banksystem noch immer daniederliegt; es gingen ja ungefähr siebenhundert Banken zugrunde und es folgen immer noch welche.  … 635 Aber es scheint, als hätten die Menschen in den letzten zehn Jahren doch etwas gelernt: Sie lernten vom Staat unabhängig, wenigstens unabhängiger als früher zu sein. Das ist ein Fakt.“
…gossudarstwo, eta sowerschenneje realnost.“

Erzähler:
Besonders in Moskau sei diese Entwicklung zu beobachten, erklärt Nagaitzev. Dazu habe das Bündnis für Arbeit nicht wenig beigetragen. Stolz verweist Nagaitzev auf das, was in Moskau in Zusammenarbeit zwischen ihm und Bürgermeister Luschkow in den letzten Jahren geschafft worden sei:

O-Ton  5: Nagaitzew Forts.     7; B, 29
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Moskwa raswiwalas po…
„Moskau entwickelte sich wirtschaftlich anders; Moskau entwickelte sich nach einem anderen Modell; im Unterschied zu den Modellen, die von Tschubajs, Gajdar und anderen vorgeschlagen wurden. Luschkow erhielt die Erlaubnis des Präsidenten, einen eigenen Moskauer Weg bei der Privatisierung zu gehen. Hier in Moskau wurde Eigentum nur für reales Geld verkauft. Und nicht alles wurde verkauft, verkauft wurde nur da, wo es Sinn machte, nur da, wo es einen realen Eigentümer gab, der besser zu arbeiten verstand als die vorherigen. Deshalb ist die Wirtschaft  Moskaus trotz des tiefen Einbruchs nach dem 17.8.1998 im Halbjahr danach um 8% gewachsen.“
…apjat wychaditj.“

Erzähler:
Durch das Bündnis für Arbeit, so Nagaitzev, wurden Rahmenbedingungen geschaffen. Die Stadt habe Mittel für die Entwicklung des kleinen und mittleren Busyness bereitgestellt; es wurde ein Unterstützungsfond für Existenzgündungen und Umschulungen gegründet. Die drohende Arbeitslosigkeit wurde durch eine von der Stadt betriebene immense Bautätigkeit aufgefangen. Eine vernünftige Handhabung der Steuern habe diese Politik unterstützt:

O-Ton 6: Forts. Nagaitzew    7, B, 57 – 091
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, ja tebja adin…
„Dafür ein Beispiel: Die Automobilfabrik SIL. Sie stand anderthalb Jahre. Wo gibt es so etwas in der Welt, daß so ein Gigant so lange stehen kann? Trotzdem haben wir es nicht zugelassen, daß sie unter den Hammer kommt. Die Moskauer Regierung kaufte Aktien; sie bekam das Kontrollpaket der Fabrik, sie gab Aufschub für die Steuern, die an die Stadt hätten gezahlt werden müssen. Es war eine einfache Rechnung, die wir aufgemacht haben: Entweder 18.000 Menschen auf die Straße werfen! Dann bringen sie schon morgen nichts mehr ins Budget ein, aber das Budget muß sie unterhalten, ihre Familien, dann noch umschulen, neue Arbeitsplätze schaffen – da war es billiger, die Steuern zu stornieren und die Fabrik nicht aufzugeben, sondern zu stützen. Inzwischen ist die Produktion neu angelaufen. Im September wird SIL, trotz Einbußen im August letzten Jahres, erste Profite haben und Steuern ans Budget abführen.“
…nalogi büdget.“

Erzähler:
Natürlich könne man die Moskauer Verhältnisse nicht einfach auf das Land übertragen, räumt Nagaitzew ein. Trotzdem gebe es inzwischen schon eine ganze Reihe von Regionen, die sich nach diesem Schema entwickelten. Letztlich brauche man dafür nur eine entschlossene Mannschaft, die etwas von Ökonomie verstehe, die Verbindungen schaffe und Verantwortung übernehme, um Investitionen zu ermutigen. Angestoßen durch die Ereignisse vom 17.8. 98, so bilanziert Nagaitzev, habe Rußland auf diese Weise im letzten halben Jahr einen ersten Schritt zur Abkoppelung vom Tropf westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 7: Nagaitzew, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem wieder Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Das sind überraschende Töne, besonders aus gewerkschaftlichem Munde. Man könnte geneigt sein, sie als Zweckoptimismus abzutun, wenn nicht ähnliche Darstellungen aus ganz anderen Blickwinkeln gegeben würden. So beschreibt Alexander S., Busynessmen, seit 1990 Chef einer mittelgroßen ;oskauer Handelsgesellschaft, die Lage, in der er sich nach dem Krach wiederfand, so:

O-Ton 8: Alxander S.                 8, B, 494 – 523 (moschit bit n jet, schneiden)
Regie: Kurz stehen lassen , abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Esli litschno…
„Persönlich gesehen wurden die Menschen einfach ärmer, man lebt schlechter –  weniger Geld, die Preise stiegen. Aber ich bin doch zutiefst davon überzeugt, daß das Resultat nützlich für alle ist, auch für Rußland insgesamt: Der Import ist rasant gefallen –  schlechter oder nicht: die Menschen wurden selbst aktiv. Früher gab´s nur Importware; es war profitabel dort zu kaufen, hier zu verkaufen; jetzt kommen unsere eigenen Produkte auf den Markt, also, heimische Unternehmen begannen zu arbeiten. Das ist das eine.. … 510 … Das Zweite ist, daß diese spekulative Politik zusammenbrach, die wir hatten, also diese Situation, daß Leute, die nichts taten, dafür unheimlich viel Geld kassierten. Das waren nicht etwa die, die Handel trieben wie wir, die arbeiteten ja wirklich; das war die sogenannte mittlere Klasse – Banker und ihre Umgebung. Daß diese Klasse zugrunde ging, das finde ich persönlich sehr nützlich. Banken sollten arbeiten und sich nicht mit Spekulation beschäftigen. Sie sollen Geld beschaffen, billige Kredite für  Investionen ermöglichen, die reale Wirtschaft in Gang bringen. Dafür sind die Banken ja da.  … 525 .. Jetzt kann es so werden.“
…moschit bit budit, lacht (moschit bit n jet, schneiden, verwirrt hier)

Erzähler: Irgendwie, meint Alexander S., und seine Kompagnons nicken dazu, könne man sogar von einer neuen Chancengleichheit sprechen. Ein bißchen fühlen sie sich an die frühen Tage der Perestroika erinnert:

O-Ton 9: Alaxander S., Forts.     8, B, 533 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Bbila reska disproportije…
„Es war ja ein scharfes Mißverhältnis entstanden; die einen hatten nichts, die anderen hatten viel. Ich rede nicht von den sogenannten Oligarchen. Das sind  hundert, vielleicht tausend Leute im ganzen Land. Das sind im Maßstab des Landes ja nicht so viele. Ich meine diese mittlere Klasse – sie verloren ihre Posten, ihr Telefon, ihr Auto, ihre irren Gehälter;  sie mußten sich umstellen, wenn sie ihr Niveau halten wollten. Sie mußten echte Arbeit suchen, etwas aufbauen. Wenn sie klug waren, haben sie sich umgestellt. Dadurch entsteht etwas, neue Strukturen, eine neue Haltung zur Arbeit. (…) Heute zahlt keiner mehr dafür, nur damit du herumsitzt wie früher war und auch in den letzten Jahren wieder. Jetzt mußt du dich bewegen, wirklich arbeiten. Das ist neu. Das ist gut. So erneuert sich diese Klasse, aber jetzt nicht mehr auf parasitäre Art, wie vorher, sondern schon irgendwie anders.“

Erzähler:
Von Stabilität möchte der Geschäftsmann im Gegensatz zu dem, was aus den Gewerkschaftsetagen zu hören war, allerdings doch noch nicht sprechen:

O-Ton 10: Alexander S. , Forts.     8, B, 633 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer;
„Ich sage nicht, daß es besser ist; ich spreche von einem Impuls, den Rußland bekommen hat: War durch den Import vorher immer alles vorhanden, so ist nun nichts mehr da, auch keine Valuta, um etwas zu kaufen. So sind die Menschen gezwungen sich zu erinnern, daß es auch in Rußland gute Erzeugnisse gibt, Fleisch, Wurst, Butter und Milch und auch Kleidung. Vorher hat man diese Produkte einfach nicht gekauft, jetzt nimmt man sie, die heimische Industrie wächst. …. Wenn der Krach auf diese Weise dazu führt, daß gearbeitet wird, daß man nicht mehr auf Kredite wartet, um dann weiterzumachen wie vorher, sondern selbst etwas entwickelt, dann war er zu etwas gut. Letztlich glaube ich schon, daß er
Krise etwas bewirkt. Ohne ihn wäre jedenfalls alles so weiter gelaufen wie bisher.“

Erzähler:
Der Krieg könne diese Entwicklung nur beschleunigen, findet auch der Geschäftsmann, vorausgesetzt allerdings, Rußland werde nicht in tatsächliche Kriegshandlungen verwickelt. Dazu sei es zu schwach und würde nur weiter geschwächt:

O-Ton 11 Alxander S., Forts.    9,A,53 – 105
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„… (Poetamu)…  „Ja dumaju…
„Ich denke, Rußland gewinnt durch diesen Krieg. Auch der Rüstungskomplex hat lange gestanden – keine Aufträge; keine Entwicklungsmöglichkeiten. Aber angesichts des Krieges gibt es sofort Manöver, gibt es Schulungen, hat man Geld gefunden für dies, für das. Mehr noch, aus NATO-Ländern selbst, aus Griechenland, aus Zypern werden Waffen bestellt, nicht bei den Amerikanern, sondern in Rußland. Also, wenn Rußland vorher mit leeren Händen dastand: Gebt Geld! Gebt Geld! Bettelte, so ist die Krise jetzt sehr nützlich. Es ist wie bei einem Süchtigen. ( … o86) … Nach dem Entzug wird es erst einmal schlechter. Aber jetzt stellen alle fest: Hey, wir leben ja noch! Wir sind ja gesund! Die Wirtschaft kommt langsam in Gang. Die Amerikaner glaubten Rußland schaden zu können, aber mir scheint,  für Rußland wird es dadurch sogar besser.“
..budit lutsche

Erzähler:
Ein bißchen schärfer klingt es aus den Rüstungsetagen selbst. So bei Anatoli Baranow. Baranow war wie Nagaitzew Aktivist der Perestroika und Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt:

O-Ton 12: Anatoly Baranow
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt der PR-Chef das Gespräch. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren innovativem Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“

Erzähler:
Auch Baranow sieht jedoch im 17.8. 98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 13: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber die Interessen bilden sich. Es geschieht vor allem unter jungen Leuten. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden; sie wollen eine gute Ausbildung und sie wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht sich Baranow gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur schroffer:

O-Ton 14: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Dasselbe Fazit, nur in schärferer Tonart, ist aus dem Munde Alexander Prochanows zu hören. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Zusammen mit Szuganow, dem Sekreträ der Kommunistischen Partei Rußlands, gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Lage im Lande mit den Worten:

O-Ton 15: Alexander Prochanow
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Boris Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.
Im Alltag, wo der Krach wie etwa bei Nina Wuss und ihrem Mann Küchenthema ist, klingt ohnehin alles noch einmal ganz anders. Nina Wuss, eine liebenswürdige Matrone, war zu Sowjetzeiten Kulturorganisatorin im etablierten Haus der Schriftsteller; 1991 agitierte sie eifrig für Boris Jelzin, heute lebt sie, abgesehen von ihrer kleinen Rente, vom Einkommen ihres Mannes, der im Baugeschäft einigermaßen verdient. Als müsse sie die Richtigkeit der Ansichten Baranow, Prochanow und anderer Nationalisten bestätigen, klagt sie:

O-Ton 16: Nina und Mann    15, A, 139 – 177
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, ja dumajau… nje rauskürzen, irritiert …
„Nun, ich denke, alles wurde noch schlimmer. Vor dem 17. August, hatte man noch Hoffnung auf ein angenehmes Leben, auf Arbeit, man plante etwas. Aber nach dem 17. hat die Intelligentia, sagen wir, diese mittlere soziale Schicht alles verloren. Die Leute hatten Geld gespart auf den Banken, das hat ihnen der Staat einfach geraubt. Sie blieben ohne etwas! Es gab viele Tragödien. Jetzt ist das Leben viel teurer. Von Stabilität keine Rede. Die Preise für Nahrungsmnittel sind unheimlich hoch. Meine Pension, die ich von der Stadt Moskau erhalte, beträgt 500 Rubel, das sind ungefähr 20 Dollar, dreimal weniger als vorher. Schon vor dem 17.8. konnte man kaum etwas davon kaufen. Aber jetzt? Wie soll man davon leben, wenn man keine Gartenwirtschaft hat, auch keinen Mann oder Kinder, die arbeiten!? Das ist sehr schwer.“
..eta otschen tejelo.“

Erzähler:
Ihre Schwester, erzählt Nina, sei auch Pensionärin. Ihr Sohn sei arbeitslos, er habe zwei Kinder zu versorgen. Die Pension reiche gerade für Brot, etwas Milch und die billigsten Nahrungsmittel. Es komme ja noch die Miete dazu, die Kosten für Haushaltsutensilien, Kleidung, Telefon. Man müsse doch leben! Und was erst, wenn nicht einmal die Pension pünktlich ausgezahlt werde , wie es in der Vergangenheit oft der Fall war!  Im Moment werde gezahlt, aber darauf könne man nicht vertrauen. Ninas Hoffnungen sind zerstoben:

O-Ton 17: Nina Wuss und Mann    15,A, 325 -425
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschetsna gawerja…
„Ich glaube überhaupt nichts mehr. Ich glaube nicht mehr an irgendeine lichte Zukunft. Nur was ich mit eigenen Kräften kann, das tue ich. Man kann nirgendwo mehr hingehen und Hilfe erbitten. Du wirst überall abgewiesen. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder versucht für sich, mit eigenen Kräften aus dieser Situation herauszukommen. Einige schaffen es; viele schaffen es aber auch nicht – viele Arbeitslose, viele Selbstmorde. Perestroika ging schon nicht so glatt; viele waren dafür nicht bereit, fanden sich nicht zurecht. Als sdie sich fan den, wurden sie gleich wieder umgeworfen. Es geht hin und her. Man kann sich auf nichts einstellen. Man stolpert von einem Elend ins nächste. Die Menschen sind kaputt.“
..ludi slomlini.“

Erzähler:
Und ohne daß vorher vom Krieg die rede gewesen wäre, fährt sie fort:

O-Ton 18:    15, A, 231 – 270
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„A Krache prosta strana…
„Der Krach hat das Land von Geld leergefegt. Jetzt erniedrigt man sich vor den internationalen Banken, um Kredite zu erbetteln. Wir werden lange in Erniedrigung leben müssen, davon bin ich überzeugt. Wir haben alles verloren. Wir sind geteilt, unsere Armee ist nicht selbstständig, das Elend ist ungeheuer hoch, Kinder sind  obdachlos. Was haben wir noch? Deshalb verhält man sich uns gegenüber heute so, vor allem Amerika. Man sieht ja, was heute vorgeht. Wir haben nichts, um damit zu drohen, nichts, was zu fürchten wäre. Und so kommen sie wie die Räuber, nachts bombardieren sie Belgrad. Und alles mit Einverständnis unserer Regierung. Jelzin hätte schon lange gehen müssen. Das ist ein tiefkranker Mensch. Wenn es heißt, es gäbe zu ihm keine Alternative, dann sage ich, Alternativen gibt es immer.“
..swegda jest

Erzähler:
Mit nationalistischem Pathos aber wollen Nina Wuss und ihr Mann nichts zu tun haben. Dafür sei es zu spät, meinen sie. Da hätte man früher aufpassen müssen. Jetzt gehe es nur noch darum, die Wirtschaft wieder in Gang zu kriegen. Und schon kommt die Rede wieder auf Juri Luschkow. Auch Nina, und noch mehr ihr Mann, der von Moskaus städtisch gefördertem Baubooom lebt, setzen auf die Kraft ihres Bürgermeisters. „Choroschi Choseìn“, guter Hausherr, lautet das Zauberwort, von dem sie aller Desillusionierung zum Trotz, und dies nicht nur für sich, sondern für ganz Rußland, eine Erlösung aus dem Jammertal der ewigen Krise erhoffen.
Was soll man glauben? Ninas Küchenbeobachtungen oder die Aussichten auf Wachstum der heimischen Industrie? Ausländische Beobachter mögen verwirrt sein; Rußlands Analytiker dagegen bleiben gelassen:

O-Ton 19 Juri Lewada    8, A, 320
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Man dürfe nicht von Zusammenbruch reden, meint Prof. Juri
Lewada, Direktor des zentralen Instituts für Meinungsforschung in Moskau:

Regie: kurz zwischendurch hochziehen

Übersetzer:
„stroga gawerja stracha nje…
„Streng gesprochen hat es keinen Zusammenbruch gegeben. Es gab einen großen Knall, es gab Elemente von Panik, nicht nur unten, sondern wohl auch oben. Wenn die Bevölkerung gewußt hätte, was sich wirklich abgespielt hat, wäre die Panik wohl größer gewesen. (…)…330 … Inzwischen hat sich die Situation beruhigt: … 338 Erstens hat es keine durchgehende Katastrophe gegeben. Und ungeachtet aller Veränderungen zwischen Rubel und Dollar in Sachen Import zeigte sich, daß die Krise nicht tödlich war. (…) Aber der Knall war nützlich für die  Exportbranche; man konnte Rubel bekommen, die auf dem Weltmarkt schwach wurden, aber im Inland sehr stark. So konnte ein Teil der Löhne gezahlt werden und überhaupt ein bißchen die Wirtschaft sich beleben. Als Resultat der letzten drei Monate haben wir so ein gewisses industrielles Wachstum, wir haben Lohnanhebungen und überhaupt einige Erleichterungen.
..nekatorie usbokajennije.“

Erzähler:
Ein wenig seltsam sei das schon, findet der Professor, zumal der jugoslawische Krieg noch als neuer Faktor hinzugetreten sei, aber im Großen und ganzen sei die Situation stabil.

O-Ton 20: Lewada, Forts.     8, A, B,065

Bolöje ili menuije…
„Am ruhigsten fühlen sich die Leute ganz unten, die mit Politik nichts zu tun haben und nur einige Verbesserungen sehen: Bezahlung der Löhne und Gehälter. So gesehen ist nichts Neues passiert. Keine Stabilität gibt es dagegen an der Spitze unserer Pyramide, im Bereich des Präsidenten und der politischen Elite. (…) Das gilt übrigens auch für Moskau. Das ganze Gerede von Moskaus Sonderrolle ist ja nur Propaganda. Hier in Moskau ist die Privatisierung nicht besser gelaufen. In Moskau konzentriert sich einfach mehr Geld.“
… Tschista propagandiski priom.“ B(065)

Erzähler:
Zur Lewadas allgemeinem Befund gibt es unter es seinen Kollegen keine Differenzen. Sehr wohl aber schärfere Analysen zu den Vorgängen in der Spitze der Pyramide. So bei Jussif  Diskin, Assistent des Direktors am Institut für sozialökonomische Probleme der Bevölkerung in Moskau. Er leitete Untersuchungen, die das Institut nach dem 17.8. in der Bevölkerung und danach auch unter Rußlands Reichen im Auftrag der russischen Zentralbank durchführte.
Von einem Krach möchte auch Diskin nicht reden. Einen Krach habe es nur für zwei Dutzend Großbanken, Investitionsgesellschaften und Finanzkorporationen gegeben. Dort und zwar ausschließlich dort, wo – wie Diskin sich ausdrückt -zusammengraubte Spekulationsgelder verfielen, dort sei effektiv Geld verloren worden. Aber auch dort müsse man sehr genau hinsehen, was wirklich geschen sei:

O-Ton 21, Diskin    16,B, 244 –
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz aufblenden, wieder abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„No, tut nado otschen..
„Erfolgte der Zusammenbruch für die Leute, die die Strukturen beherrschen? Nein! Sie überlebten! Warum? Weil sie während der Privatisierung Betriebe des realen Sektors für Spottgelder kauften. Also: Oneximbank – Potanin! Onexibank ist zusammengebrochen, aber das Eigentum Potanins am Norilsker Nickel in Krasnojarsk mit einem Umsatz von 6 Milliarden Dollar ist nicht berührt. Weiter: Bank Minotep brach zusammen, nicht aber Jukes, der riesige Öl-Chemie-Konzern, der zweitgrößte Rußlands. Die Mosbank! Sie brach zusammen, aber keineswegs die dahinter stehende Mediaholding, unsere größte Konzentration von Massenmedien. Mit den oligarchischen Strukturen, die in die reale Sphäre hatten vordringen können, ist nichts Katastrophisches passiert. Sie verloren Geld, ja, aber sie sind weiterhin die starken Figuren im russischen Wirtschaftsleben. So ist der frühere Ministerpräsident Tschubajs jetzt Manager der weltweit größten Industriekorporation; er ist Generaldierektor von RAOES, Russische Energiesysteme. Gerade jetzt im Moment ist RAOES dabei, der größte Exporteur Rußlands überhaupt zu werden.“ (299)
..exportörom, Rossije.“

Erzähler:
Paradox aber wahr, so Diskin, könne das durch den Zusammenbruch der Spekulation gereinigte Kapital sich in Rußland heute auf die Entwicklung des neu entstehenden heimischen Marktes konzentrieren. Was aber fehle sei nicht etwa Geld, das sei vorhanden, sondern vor allem soziales Kapital:

„O-Ton 22: Diskin, Forts.                16,B, 594 – 647
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Cewodnja usche… (neuer Anfang!!! Zweit Sätze weiter)
„Woraus setzt sich soziale Kapital zusammen? Erstens, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Rugulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, auch keine hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem. Es gibt eine innere korporative Ethik, die Frage der Motivation. (610) Hauptproblem des russischen Wirtschaftslebens ist aber zur Zeit die äußere: Unser Management ist heute praktisch ohne Verantwortung! Es ist an persönliche Interessen gebunden, die mit denen der Korporation nicht zusammenfallen. Grundursache dafür ist, daß das Eigentum bei uns nominal ist: Das Eigentum ist verteilt, aber das Management ist niemanden untergeordnet. Die Gesetzeslage erlaubt es dem Manager sogar, seine eigene kleine Firma auf Kosten der Gesamtkorporation zu betreiben. … (639) Erst wenn das Management sich mit dem Gewinn der Koporationen identifiziert, kann in Rußland der Aufstieg beginnen. In einigen Fällen gibt es das schon, wie gesagt. …. Aber hier findet der Hauptkampf gegenwärtig statt. Management gegen Eigentümer: Aktenkauf, Schiebung, Mord und Totschlag.“
…Sdes clutschwoi barbar idjot.“

Erzähler:
Boris Kagarlitzky, früherer Aktivist der Perestroika, heute freischwebender Reformsozialist, will bei solchen Beobachtungen nicht stehen bleiben. Mit Verweis auf die allgemeine Stimmungslage erklärt er:

O-Ton 23: Kagarlitzki                     5/A,615 – ohne
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Nu, wa pervich…
„Nun, erstens hat der Krach die Unmöglichkeit gezeigt, mit der bisherigen neoliberalen Politik fortzufahren. Und das Wichtigste ist: Das begreifen nicht nur die Gegner dieser Politik wie Szuganow oder Prochanow, sondern in starkem Maße auch ihre Befürworter, vor allem die, die mit dem inneren Markt und irgendwie mit der Industrien zu tun haben. Zweitens hat die soziale Basis des Staates gewechselt.
Bis 1998 war das in Moskau und anderen größeren Städten die nachsowjetische Mittelklasse. (…639…) Die hat zwar selbst nichts produziert, sondern spekuliert, aber um sich herum doch Arbeitsplätze geschaffen. Das waren schon nicht mehr nur die neuen Russen, das war schon gut 10% der Bevölkerung. …  Das alles brach nach dem 17.8. zusammen. (…703…) Das heißt, der Krach hat vor allem die sozialen Ressourcen Systems geschwächt. Es muß sich neu orientieren.“

Erzähler:
Kagarlitzki spricht von einer neuen Phase der Perestroika. Ewig könne man nicht weiter vom Speck leben, nachdem alles privatisiert worden sei, was habe privatisiert werden können, meint er:

O-Ton 24:                            5, B, 175 – ohne
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden,

Übersetzer:
„Prosta grabit ressurssi
„Einfach nur die Ressourcen auszubeuten, die aus der Sowjetzeit überkommen sind, ist nicht möglich. Die Straßen verfallen, die Schienen, die Betriebe, das Telefonnetz, alles zerfällt; man muß investieren, muß wieder produzieren. Das geschah bisher nicht. Im bisherigen System gab es keine Mechanismen, Mittel dafür aufzubringen. Deshalb war das Ende absolut folgerichtig und unvermeidlich. Die Frage ist eher, warum er erst jetzt kam.“

Erzähler:
Aber was die neue Phase bringen wird, ist vollkommen offen:

O-Ton 25: Kagarlitzki, Ende                        6,A,168 – 213
Regie: Ton stehen lassen, unterlegenabblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer;
„Nelsja prognosirowatj…
„Es ist nicht möglich zu das Resultat dieser Perestroika zu so einem frühen Zeitpunkt zu progostizieren. Alle Entscheidungen, die gegenwärtig getroffen werden, sind nur vorübergehender Natur: Etwa die gegenwärtige Niedrigzinspolitik zur Stärkung von Investitionen; die andere Verteilung des Budgets, also keine neuen Staatsschulden, stattdessen Zahlung der Löhne, um soziale Spannungen zu vermeiden; die Lösung der Zentralbank von Vorgaben des IWF, indem sie in kleinen Mengen Geld druckt, um den inneren Markt in Gang zu halten. Der Krieg auf dem Balkan wird die Elemente stärken, die auf Loslösung vom Westen drängen. Im Prinzip ist das nützlich für Rußland. (…ich…) Aber klar ist: So oder so bekommen wir eine Gesellschaft, in welcher der Staat eine wesentlich größere Rolle spielt, in dem es ein Minimum an sozialen Garantien geben wird. Die Frage ist nur, ob es ein demokratischer Staat sein wird oder ein oligarchisch korrumpierter. Es wird auf jeden Fall nicht das liberale Modell sein, sondern entweder oligarchisch, vielleicht auch oligarchisch-bürokratisch oder demokratisch sozialistisch. Im Moment baut sich alles in Richtung der ersten Variante auf.“
..paka tosche rana.“

Erzähler:
Soziale Restauration oder Entwicklungsdiktatur, lautet die Formel, auf die Boris Kagarlitzki die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen Rußlands schließlich bringt, nicht ohne daraufhinzuweisen, es sei noch zu früh zu sagen, daß die demokratische Variante gar keine Chance hätte, denn jede Phase habe doch ihre eigene Dynamik und bringe ihre eigenen Hoffnungen hervor. Dem ist, außer der eigenen Hoffnung, daß er damit recht haben möge, nichts weiter hinzuzufügen.

Russland im Schock: Das andere Rußlandbild: Rußland wieder kreditwürdig?

Mit dem Bankenkrach vom Herbst letzten Jahres schien Rußland am Ende. Kredite wurden gesperrt, westliche Investoren zogen sich zurück. Vor ein paar Wochen wurde Rußland als die Nummer Acht in die G-7, die Gemeinschaft der sieben größten Industrienationen aufgenommen. Die Sieben verpflichteten sich, Rußland bei der anstehenden Zahlung von 100 Milliarden Dollar Altschulden aus sowjetischer Zeit zu entlasten; der Internationale Währungsfonds erklärte sich darüberhinaus bereit, lange zurückgehaltene Kredite in Höhe von 4,5 Milliarden Dollar auszuzahlen. Was ist geschehen? Ist dies ein Zuckerbrot für Rußlands Wohlverhalten im Krieg um das Kosovo? Oder ist Rußland entgegen allen Erwartungen wieder kreditwürdig?

O-Ton 1 (gesonderter Bobby): Musik, tak, tak, tak…
12 A 634 bis 645 …Schnitt .. bis B 204

Regie: Ton bis zu Sprecherin frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, danach zwischendurch hochziehen, zum Schluß langsam hochkommen lassen, verblenden

Erzähler:
Eine erste Antwort auf diese Frage geben die traditionellen Aktivitäten am 1. Mai dieses Jahres. Rund 500.000 Menschen haben die Korrespondenten landesweit auf den Straßen gezählt. Für russische Verhältnisse sind das wenige. Alles blieb ruhig – keine Zusammenstöße, keine Besetzungen, keine Hungerstreiks wie in den Vorjahren. Viele Menschen zogen es vor, auf die Datschen zu fahren, um ihre Gärten zu bestellen.
Einig ist man sich nur im Protest gegen den Krieg in Jugoslawien; im Übrigen gab es getrennte Märsche und Veranstaltungen. Durch Moskau zogen zwei Demonstrationen. Ca. 20.000, vor allem ältere Menschen folgten den Fahnen der Kommunisten. Sie forderten, wie schon seit Jahren, den Rücktritt Jelzins, der mit der Zerstörung der Sowjetunion den Balkankrieg erst ermöglicht habe.
Wesentlich mehr, vor allem aber jüngere Menschen haben sich an dem Zug beteiligt, zu dem die Moskauer freien Gewerkschaften im Bündnis mit Bürgermeister Juri Luschkow aufgerufen haben. Dort ging es unpolitischer, dafür aber handfester zu: Forderung nach Lohnerhöhungen, nach Senkung der Steuern, nach Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für geregelte Arbeit stehen im Mittelpunkt. Bürgermeister Luschkow, der sich bereits auf den Wahlkampf um die Nachfolge des jetzigen Präsidenten vorbereitet, hat sich an mit einer Rede höchstpersönlich an die Spitze der Kundgebung gesetzt:

O-Ton 2: Bobby 2: Bürgermeister Luschkow
Regie: Verblenden, TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladewitzja.“

Erzähler:
Juri Luschkows Ermahnungen erinnern an Michail Gorbatschows Aufrufe aus den frühen Tagen der Perestroika. „Schaffen! Schaffen! Schaffen!“ lautete eine der zentralen Parolen, mit denen Gorbatschow seinerzeit die Bevölkerung zum Einsatz für die gewünschte sozial-ökonomische Beschleunigung anfeuern wollte.
Luschkows Bündnispartner, Michail Nagaitzew, der Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaften greift diese Töne auf. Nagaitzev war radikaldemokratischer Aktivist der Perestroika. Nach Jelzins sogenannter demokratischer Revolution war er Mitglied der oppositionellen „Partei der Arbeit“ und bis zum Bankenkrach scharfer Kritiker der forcierten Privatisierung, deren Ergebnisse er als kriminell verurteilte. Heute ist Nagaitzev Mitglied in der von Juri Luschkow gegründeten Wahlbewegung „Otetschestwo“, Vaterland, und hat mit dem Bürgermeister einen Stabilitätspakt, ein Bündnis für Arbeit geschlossen. Den Bankenkrach vom August letzten Jahres versteht der Gewerkschafter weniger als das Ende denn als den Anfang einer Entwicklung. Zwar habe der Krach die allgemeine Armut in Rußland erhöht, erklärt er:

O-Ton 3: Michael Nagaitzev
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Die Preise für Importware stiegen. Als Ergebnis wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Deren Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann noch Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Vor dem Krach lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Bemerkenswert findet Präsident Nagaitzew vor allem, daß dies alles habe geschehen können, obwohl die Zentral-Regierung nach dem Krach praktisch nichts zur Stärkung der Wirtschaft unternommen habe:

O-Ton 4: Nagaitzew, Forts.     7,A,628 – 638
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Die Leute fingen einfach an selbst zu suchen: Produzenten, Nischen, Märkte. Sie zogen die Wirtschaft wieder hoch, obwohl das Banksystem noch immer daniederliegt; es gingen ja ungefähr siebenhundert Banken zugrunde und es folgen immer noch welche.  … 635 Aber es scheint, als hätten die Menschen in den letzten zehn Jahren doch etwas gelernt: Sie lernten vom Staat unabhängig, wenigstens unabhängiger als früher zu sein. Das ist ein Fakt.“
…gossudarstwo, eta sowerschenneje realnost.“

Erzähler:
Besonders in Moskau sei diese Entwicklung zu beobachten, erklärt Nagaitzev. Dazu habe das Bündnis für Arbeit nicht wenig beigetragen. Stolz verweist Nagaitzev auf das, was in Moskau in Zusammenarbeit zwischen ihm und Bürgermeister Luschkow in den letzten Jahren geschafft worden sei:

O-Ton  5: Nagaitzew Forts.     7; B, 29
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Moskwa raswiwalas po…
„Moskau entwickelte sich wirtschaftlich anders; Moskau entwickelte sich nach einem anderen Modell; im Unterschied zu den Modellen, die von Tschubajs, Gajdar und anderen vorgeschlagen wurden. Luschkow erhielt die Erlaubnis des Präsidenten, einen eigenen Moskauer Weg bei der Privatisierung zu gehen. Hier in Moskau wurde Eigentum nur für reales Geld verkauft. Und nicht alles wurde verkauft, verkauft wurde nur da, wo es Sinn machte, nur da, wo es einen realen Eigentümer gab, der besser zu arbeiten verstand als die vorherigen. Deshalb ist die Wirtschaft  Moskaus trotz des tiefen Einbruchs nach dem 17.8.1998 im Halbjahr danach um 8% gewachsen.“
…apjat wychaditj.“

Erzähler:
Durch das Bündnis für Arbeit, so Nagaitzev, wurden Rahmenbedingungen geschaffen. Die Stadt habe Mittel für die Entwicklung des kleinen und mittleren Busyness bereitgestellt; es wurde ein Unterstützungsfond für Existenzgündungen und Umschulungen gegründet. Die drohende Arbeitslosigkeit wurde durch eine von der Stadt betriebene immense Bautätigkeit aufgefangen. Eine vernünftige Handhabung der Steuern habe diese Politik unterstützt:

O-Ton 6: Forts. Nagaitzew    7, B, 57 – 091
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, ja tebja adin…
„Dafür ein Beispiel: Die Automobilfabrik SIL. Sie stand anderthalb Jahre. Wo gibt es so etwas in der Welt, daß so ein Gigant so lange stehen kann? Trotzdem haben wir es nicht zugelassen, daß sie unter den Hammer kommt. Die Moskauer Regierung kaufte Aktien; sie bekam das Kontrollpaket der Fabrik, sie gab Aufschub für die Steuern, die an die Stadt hätten gezahlt werden müssen. Es war eine einfache Rechnung, die wir aufgemacht haben: Entweder 18.000 Menschen auf die Straße werfen! Dann bringen sie schon morgen nichts mehr ins Budget ein, aber das Budget muß sie unterhalten, ihre Familien, dann noch umschulen, neue Arbeitsplätze schaffen – da war es billiger, die Steuern zu stornieren und die Fabrik nicht aufzugeben, sondern zu stützen. Inzwischen ist die Produktion neu angelaufen. Im September wird SIL, trotz Einbußen im August letzten Jahres, erste Profite haben und Steuern ans Budget abführen.“
…nalogi büdget.“

Erzähler:
Natürlich könne man die Moskauer Verhältnisse nicht einfach auf das Land übertragen, räumt Nagaitzew ein. Trotzdem gebe es inzwischen schon eine ganze Reihe von Regionen, die sich nach diesem Schema entwickelten. Letztlich brauche man dafür nur eine entschlossene Mannschaft, die etwas von Ökonomie verstehe, die Verbindungen schaffe und Verantwortung übernehme, um Investitionen zu ermutigen. Angestoßen durch die Ereignisse vom 17.8. 98, so bilanziert Nagaitzev, habe Rußland auf diese Weise im letzten halben Jahr einen ersten Schritt zur Abkoppelung vom Tropf westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 7: Nagaitzew, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem wieder Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Das sind überraschende Töne, besonders aus gewerkschaftlichem Munde. Man könnte geneigt sein, sie als Zweckoptimismus abzutun, wenn nicht ähnliche Darstellungen aus ganz anderen Blickwinkeln gegeben würden. So beschreibt Alexander S., Busynessmen, seit 1990 Chef einer mittelgroßen ;oskauer Handelsgesellschaft, die Lage, in der er sich nach dem Krach wiederfand, so:

O-Ton 8: Alxander S.                 8, B, 494 – 523 (moschit bit n jet, schneiden)
Regie: Kurz stehen lassen , abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Esli litschno…
„Persönlich gesehen wurden die Menschen einfach ärmer, man lebt schlechter –  weniger Geld, die Preise stiegen. Aber ich bin doch zutiefst davon überzeugt, daß das Resultat nützlich für alle ist, auch für Rußland insgesamt: Der Import ist rasant gefallen –  schlechter oder nicht: die Menschen wurden selbst aktiv. Früher gab´s nur Importware; es war profitabel dort zu kaufen, hier zu verkaufen; jetzt kommen unsere eigenen Produkte auf den Markt, also, heimische Unternehmen begannen zu arbeiten. Das ist das eine.. … 510 … Das Zweite ist, daß diese spekulative Politik zusammenbrach, die wir hatten, also diese Situation, daß Leute, die nichts taten, dafür unheimlich viel Geld kassierten. Das waren nicht etwa die, die Handel trieben wie wir, die arbeiteten ja wirklich; das war die sogenannte mittlere Klasse – Banker und ihre Umgebung. Daß diese Klasse zugrunde ging, das finde ich persönlich sehr nützlich. Banken sollten arbeiten und sich nicht mit Spekulation beschäftigen. Sie sollen Geld beschaffen, billige Kredite für  Investionen ermöglichen, die reale Wirtschaft in Gang bringen. Dafür sind die Banken ja da.  … 525 .. Jetzt kann es so werden.“
…moschit bit budit, lacht (moschit bit n jet, schneiden, verwirrt hier)

Erzähler: Irgendwie, meint Alexander S., und seine Kompagnons nicken dazu, könne man sogar von einer neuen Chancengleichheit sprechen. Ein bißchen fühlen sie sich an die frühen Tage der Perestroika erinnert:

O-Ton 9: Alaxander S., Forts.     8, B, 533 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Bbila reska disproportije…
„Es war ja ein scharfes Mißverhältnis entstanden; die einen hatten nichts, die anderen hatten viel. Ich rede nicht von den sogenannten Oligarchen. Das sind  hundert, vielleicht tausend Leute im ganzen Land. Das sind im Maßstab des Landes ja nicht so viele. Ich meine diese mittlere Klasse – sie verloren ihre Posten, ihr Telefon, ihr Auto, ihre irren Gehälter;  sie mußten sich umstellen, wenn sie ihr Niveau halten wollten. Sie mußten echte Arbeit suchen, etwas aufbauen. Wenn sie klug waren, haben sie sich umgestellt. Dadurch entsteht etwas, neue Strukturen, eine neue Haltung zur Arbeit. (…) Heute zahlt keiner mehr dafür, nur damit du herumsitzt wie früher war und auch in den letzten Jahren wieder. Jetzt mußt du dich bewegen, wirklich arbeiten. Das ist neu. Das ist gut. So erneuert sich diese Klasse, aber jetzt nicht mehr auf parasitäre Art, wie vorher, sondern schon irgendwie anders.“

Erzähler:
Von Stabilität möchte der Geschäftsmann im Gegensatz zu dem, was aus den Gewerkschaftsetagen zu hören war, allerdings doch noch nicht sprechen:

O-Ton 10: Alexander S. , Forts.     8, B, 633 – ohne
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer;
„Ich sage nicht, daß es besser ist; ich spreche von einem Impuls, den Rußland bekommen hat: War durch den Import vorher immer alles vorhanden, so ist nun nichts mehr da, auch keine Valuta, um etwas zu kaufen. So sind die Menschen gezwungen sich zu erinnern, daß es auch in Rußland gute Erzeugnisse gibt, Fleisch, Wurst, Butter und Milch und auch Kleidung. Vorher hat man diese Produkte einfach nicht gekauft, jetzt nimmt man sie, die heimische Industrie wächst. …. Wenn der Krach auf diese Weise dazu führt, daß gearbeitet wird, daß man nicht mehr auf Kredite wartet, um dann weiterzumachen wie vorher, sondern selbst etwas entwickelt, dann war er zu etwas gut. Letztlich glaube ich schon, daß er
Krise etwas bewirkt. Ohne ihn wäre jedenfalls alles so weiter gelaufen wie bisher.“

Erzähler:
Der Krieg könne diese Entwicklung nur beschleunigen, findet auch der Geschäftsmann, vorausgesetzt allerdings, Rußland werde nicht in tatsächliche Kriegshandlungen verwickelt. Dazu sei es zu schwach und würde nur weiter geschwächt:

O-Ton 11 Alxander S., Forts.    9,A,53 – 105
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„… (Poetamu)…  „Ja dumaju…
„Ich denke, Rußland gewinnt durch diesen Krieg. Auch der Rüstungskomplex hat lange gestanden – keine Aufträge; keine Entwicklungsmöglichkeiten. Aber angesichts des Krieges gibt es sofort Manöver, gibt es Schulungen, hat man Geld gefunden für dies, für das. Mehr noch, aus NATO-Ländern selbst, aus Griechenland, aus Zypern werden Waffen bestellt, nicht bei den Amerikanern, sondern in Rußland. Also, wenn Rußland vorher mit leeren Händen dastand: Gebt Geld! Gebt Geld! Bettelte, so ist die Krise jetzt sehr nützlich. Es ist wie bei einem Süchtigen. ( … o86) … Nach dem Entzug wird es erst einmal schlechter. Aber jetzt stellen alle fest: Hey, wir leben ja noch! Wir sind ja gesund! Die Wirtschaft kommt langsam in Gang. Die Amerikaner glaubten Rußland schaden zu können, aber mir scheint,  für Rußland wird es dadurch sogar besser.“
..budit lutsche

Erzähler:
Ein bißchen schärfer klingt es aus den Rüstungsetagen selbst. So bei Anatoli Baranow. Baranow war wie Nagaitzew Aktivist der Perestroika und Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt:

O-Ton 12: Anatoly Baranow
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt der PR-Chef das Gespräch. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren innovativem Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“

Erzähler:
Auch Baranow sieht jedoch im 17.8. 98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 13: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber die Interessen bilden sich. Es geschieht vor allem unter jungen Leuten. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden; sie wollen eine gute Ausbildung und sie wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht sich Baranow gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur schroffer:

O-Ton 14: Baranow, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Dasselbe Fazit, nur in schärferer Tonart, ist aus dem Munde Alexander Prochanows zu hören. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Zusammen mit Szuganow, dem Sekreträ der Kommunistischen Partei Rußlands, gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Lage im Lande mit den Worten:

O-Ton 15: Alexander Prochanow
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Boris Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.
Im Alltag, wo der Krach wie etwa bei Nina Wuss und ihrem Mann Küchenthema ist, klingt ohnehin alles noch einmal ganz anders. Nina Wuss, eine liebenswürdige Matrone, war zu Sowjetzeiten Kulturorganisatorin im etablierten Haus der Schriftsteller; 1991 agitierte sie eifrig für Boris Jelzin, heute lebt sie, abgesehen von ihrer kleinen Rente, vom Einkommen ihres Mannes, der im Baugeschäft einigermaßen verdient. Als müsse sie die Richtigkeit der Ansichten Baranow, Prochanow und anderer Nationalisten bestätigen, klagt sie:

O-Ton 16: Nina und Mann    15, A, 139 – 177
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, ja dumajau… nje rauskürzen, irritiert …
„Nun, ich denke, alles wurde noch schlimmer. Vor dem 17. August, hatte man noch Hoffnung auf ein angenehmes Leben, auf Arbeit, man plante etwas. Aber nach dem 17. hat die Intelligentia, sagen wir, diese mittlere soziale Schicht alles verloren. Die Leute hatten Geld gespart auf den Banken, das hat ihnen der Staat einfach geraubt. Sie blieben ohne etwas! Es gab viele Tragödien. Jetzt ist das Leben viel teurer. Von Stabilität keine Rede. Die Preise für Nahrungsmnittel sind unheimlich hoch. Meine Pension, die ich von der Stadt Moskau erhalte, beträgt 500 Rubel, das sind ungefähr 20 Dollar, dreimal weniger als vorher. Schon vor dem 17.8. konnte man kaum etwas davon kaufen. Aber jetzt? Wie soll man davon leben, wenn man keine Gartenwirtschaft hat, auch keinen Mann oder Kinder, die arbeiten!? Das ist sehr schwer.“
..eta otschen tejelo.“

Erzähler:
Ihre Schwester, erzählt Nina, sei auch Pensionärin. Ihr Sohn sei arbeitslos, er habe zwei Kinder zu versorgen. Die Pension reiche gerade für Brot, etwas Milch und die billigsten Nahrungsmittel. Es komme ja noch die Miete dazu, die Kosten für Haushaltsutensilien, Kleidung, Telefon. Man müsse doch leben! Und was erst, wenn nicht einmal die Pension pünktlich ausgezahlt werde , wie es in der Vergangenheit oft der Fall war!  Im Moment werde gezahlt, aber darauf könne man nicht vertrauen. Ninas Hoffnungen sind zerstoben:

O-Ton 17: Nina Wuss und Mann    15,A, 325 -425
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschetsna gawerja…
„Ich glaube überhaupt nichts mehr. Ich glaube nicht mehr an irgendeine lichte Zukunft. Nur was ich mit eigenen Kräften kann, das tue ich. Man kann nirgendwo mehr hingehen und Hilfe erbitten. Du wirst überall abgewiesen. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Jeder versucht für sich, mit eigenen Kräften aus dieser Situation herauszukommen. Einige schaffen es; viele schaffen es aber auch nicht – viele Arbeitslose, viele Selbstmorde. Perestroika ging schon nicht so glatt; viele waren dafür nicht bereit, fanden sich nicht zurecht. Als sdie sich fan den, wurden sie gleich wieder umgeworfen. Es geht hin und her. Man kann sich auf nichts einstellen. Man stolpert von einem Elend ins nächste. Die Menschen sind kaputt.“
..ludi slomlini.“

Erzähler:
Und ohne daß vorher vom Krieg die rede gewesen wäre, fährt sie fort:

O-Ton 18:    15, A, 231 – 270
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„A Krache prosta strana…
„Der Krach hat das Land von Geld leergefegt. Jetzt erniedrigt man sich vor den internationalen Banken, um Kredite zu erbetteln. Wir werden lange in Erniedrigung leben müssen, davon bin ich überzeugt. Wir haben alles verloren. Wir sind geteilt, unsere Armee ist nicht selbstständig, das Elend ist ungeheuer hoch, Kinder sind  obdachlos. Was haben wir noch? Deshalb verhält man sich uns gegenüber heute so, vor allem Amerika. Man sieht ja, was heute vorgeht. Wir haben nichts, um damit zu drohen, nichts, was zu fürchten wäre. Und so kommen sie wie die Räuber, nachts bombardieren sie Belgrad. Und alles mit Einverständnis unserer Regierung. Jelzin hätte schon lange gehen müssen. Das ist ein tiefkranker Mensch. Wenn es heißt, es gäbe zu ihm keine Alternative, dann sage ich, Alternativen gibt es immer.“
..swegda jest

Erzähler:
Mit nationalistischem Pathos aber wollen Nina Wuss und ihr Mann nichts zu tun haben. Dafür sei es zu spät, meinen sie. Da hätte man früher aufpassen müssen. Jetzt gehe es nur noch darum, die Wirtschaft wieder in Gang zu kriegen. Und schon kommt die Rede wieder auf Juri Luschkow. Auch Nina, und noch mehr ihr Mann, der von Moskaus städtisch gefördertem Baubooom lebt, setzen auf die Kraft ihres Bürgermeisters. „Choroschi Choseìn“, guter Hausherr, lautet das Zauberwort, von dem sie aller Desillusionierung zum Trotz, und dies nicht nur für sich, sondern für ganz Rußland, eine Erlösung aus dem Jammertal der ewigen Krise erhoffen.
Was soll man glauben? Ninas Küchenbeobachtungen oder die Aussichten auf Wachstum der heimischen Industrie? Ausländische Beobachter mögen verwirrt sein; Rußlands Analytiker dagegen bleiben gelassen:

O-Ton 19 Juri Lewada    8, A, 320
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Man dürfe nicht von Zusammenbruch reden, meint Prof. Juri
Lewada, Direktor des zentralen Instituts für Meinungsforschung in Moskau:

Regie: kurz zwischendurch hochziehen

Übersetzer:
„stroga gawerja stracha nje…
„Streng gesprochen hat es keinen Zusammenbruch gegeben. Es gab einen großen Knall, es gab Elemente von Panik, nicht nur unten, sondern wohl auch oben. Wenn die Bevölkerung gewußt hätte, was sich wirklich abgespielt hat, wäre die Panik wohl größer gewesen. (…)…330 … Inzwischen hat sich die Situation beruhigt: … 338 Erstens hat es keine durchgehende Katastrophe gegeben. Und ungeachtet aller Veränderungen zwischen Rubel und Dollar in Sachen Import zeigte sich, daß die Krise nicht tödlich war. (…) Aber der Knall war nützlich für die  Exportbranche; man konnte Rubel bekommen, die auf dem Weltmarkt schwach wurden, aber im Inland sehr stark. So konnte ein Teil der Löhne gezahlt werden und überhaupt ein bißchen die Wirtschaft sich beleben. Als Resultat der letzten drei Monate haben wir so ein gewisses industrielles Wachstum, wir haben Lohnanhebungen und überhaupt einige Erleichterungen.
..nekatorie usbokajennije.“

Erzähler:
Ein wenig seltsam sei das schon, findet der Professor, zumal der jugoslawische Krieg noch als neuer Faktor hinzugetreten sei, aber im Großen und ganzen sei die Situation stabil.

O-Ton 20: Lewada, Forts.     8, A, B,065

Bolöje ili menuije…
„Am ruhigsten fühlen sich die Leute ganz unten, die mit Politik nichts zu tun haben und nur einige Verbesserungen sehen: Bezahlung der Löhne und Gehälter. So gesehen ist nichts Neues passiert. Keine Stabilität gibt es dagegen an der Spitze unserer Pyramide, im Bereich des Präsidenten und der politischen Elite. (…) Das gilt übrigens auch für Moskau. Das ganze Gerede von Moskaus Sonderrolle ist ja nur Propaganda. Hier in Moskau ist die Privatisierung nicht besser gelaufen. In Moskau konzentriert sich einfach mehr Geld.“
… Tschista propagandiski priom.“ B(065)

Erzähler:
Zur Lewadas allgemeinem Befund gibt es unter es seinen Kollegen keine Differenzen. Sehr wohl aber schärfere Analysen zu den Vorgängen in der Spitze der Pyramide. So bei Jussif  Diskin, Assistent des Direktors am Institut für sozialökonomische Probleme der Bevölkerung in Moskau. Er leitete Untersuchungen, die das Institut nach dem 17.8. in der Bevölkerung und danach auch unter Rußlands Reichen im Auftrag der russischen Zentralbank durchführte.
Von einem Krach möchte auch Diskin nicht reden. Einen Krach habe es nur für zwei Dutzend Großbanken, Investitionsgesellschaften und Finanzkorporationen gegeben. Dort und zwar ausschließlich dort, wo – wie Diskin sich ausdrückt -zusammengraubte Spekulationsgelder verfielen, dort sei effektiv Geld verloren worden. Aber auch dort müsse man sehr genau hinsehen, was wirklich geschen sei:

O-Ton 21, Diskin    16,B, 244 –
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz aufblenden, wieder abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„No, tut nado otschen..
„Erfolgte der Zusammenbruch für die Leute, die die Strukturen beherrschen? Nein! Sie überlebten! Warum? Weil sie während der Privatisierung Betriebe des realen Sektors für Spottgelder kauften. Also: Oneximbank – Potanin! Onexibank ist zusammengebrochen, aber das Eigentum Potanins am Norilsker Nickel in Krasnojarsk mit einem Umsatz von 6 Milliarden Dollar ist nicht berührt. Weiter: Bank Minotep brach zusammen, nicht aber Jukes, der riesige Öl-Chemie-Konzern, der zweitgrößte Rußlands. Die Mosbank! Sie brach zusammen, aber keineswegs die dahinter stehende Mediaholding, unsere größte Konzentration von Massenmedien. Mit den oligarchischen Strukturen, die in die reale Sphäre hatten vordringen können, ist nichts Katastrophisches passiert. Sie verloren Geld, ja, aber sie sind weiterhin die starken Figuren im russischen Wirtschaftsleben. So ist der frühere Ministerpräsident Tschubajs jetzt Manager der weltweit größten Industriekorporation; er ist Generaldierektor von RAOES, Russische Energiesysteme. Gerade jetzt im Moment ist RAOES dabei, der größte Exporteur Rußlands überhaupt zu werden.“ (299)
..exportörom, Rossije.“

Erzähler:
Paradox aber wahr, so Diskin, könne das durch den Zusammenbruch der Spekulation gereinigte Kapital sich in Rußland heute auf die Entwicklung des neu entstehenden heimischen Marktes konzentrieren. Was aber fehle sei nicht etwa Geld, das sei vorhanden, sondern vor allem soziales Kapital:

„O-Ton 22: Diskin, Forts.                16,B, 594 – 647
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Cewodnja usche… (neuer Anfang!!! Zweit Sätze weiter)
„Woraus setzt sich soziale Kapital zusammen? Erstens, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Rugulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, auch keine hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem. Es gibt eine innere korporative Ethik, die Frage der Motivation. (610) Hauptproblem des russischen Wirtschaftslebens ist aber zur Zeit die äußere: Unser Management ist heute praktisch ohne Verantwortung! Es ist an persönliche Interessen gebunden, die mit denen der Korporation nicht zusammenfallen. Grundursache dafür ist, daß das Eigentum bei uns nominal ist: Das Eigentum ist verteilt, aber das Management ist niemanden untergeordnet. Die Gesetzeslage erlaubt es dem Manager sogar, seine eigene kleine Firma auf Kosten der Gesamtkorporation zu betreiben. … (639) Erst wenn das Management sich mit dem Gewinn der Koporationen identifiziert, kann in Rußland der Aufstieg beginnen. In einigen Fällen gibt es das schon, wie gesagt. …. Aber hier findet der Hauptkampf gegenwärtig statt. Management gegen Eigentümer: Aktenkauf, Schiebung, Mord und Totschlag.“
…Sdes clutschwoi barbar idjot.“

Erzähler:
Boris Kagarlitzky, früherer Aktivist der Perestroika, heute freischwebender Reformsozialist, will bei solchen Beobachtungen nicht stehen bleiben. Mit Verweis auf die allgemeine Stimmungslage erklärt er:

O-Ton 23: Kagarlitzki                     5/A,615 – ohne
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Nu, wa pervich…
„Nun, erstens hat der Krach die Unmöglichkeit gezeigt, mit der bisherigen neoliberalen Politik fortzufahren. Und das Wichtigste ist: Das begreifen nicht nur die Gegner dieser Politik wie Szuganow oder Prochanow, sondern in starkem Maße auch ihre Befürworter, vor allem die, die mit dem inneren Markt und irgendwie mit der Industrien zu tun haben. Zweitens hat die soziale Basis des Staates gewechselt.
Bis 1998 war das in Moskau und anderen größeren Städten die nachsowjetische Mittelklasse. (…639…) Die hat zwar selbst nichts produziert, sondern spekuliert, aber um sich herum doch Arbeitsplätze geschaffen. Das waren schon nicht mehr nur die neuen Russen, das war schon gut 10% der Bevölkerung. …  Das alles brach nach dem 17.8. zusammen. (…703…) Das heißt, der Krach hat vor allem die sozialen Ressourcen Systems geschwächt. Es muß sich neu orientieren.“

Erzähler:
Kagarlitzki spricht von einer neuen Phase der Perestroika. Ewig könne man nicht weiter vom Speck leben, nachdem alles privatisiert worden sei, was habe privatisiert werden können, meint er:

O-Ton 24:                            5, B, 175 – ohne
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden,

Übersetzer:
„Prosta grabit ressurssi
„Einfach nur die Ressourcen auszubeuten, die aus der Sowjetzeit überkommen sind, ist nicht möglich. Die Straßen verfallen, die Schienen, die Betriebe, das Telefonnetz, alles zerfällt; man muß investieren, muß wieder produzieren. Das geschah bisher nicht. Im bisherigen System gab es keine Mechanismen, Mittel dafür aufzubringen. Deshalb war das Ende absolut folgerichtig und unvermeidlich. Die Frage ist eher, warum er erst jetzt kam.“

Erzähler:
Aber was die neue Phase bringen wird, ist vollkommen offen:

O-Ton 25: Kagarlitzki, Ende                        6,A,168 – 213
Regie: Ton stehen lassen, unterlegenabblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer;
„Nelsja prognosirowatj…
„Es ist nicht möglich zu das Resultat dieser Perestroika zu so einem frühen Zeitpunkt zu progostizieren. Alle Entscheidungen, die gegenwärtig getroffen werden, sind nur vorübergehender Natur: Etwa die gegenwärtige Niedrigzinspolitik zur Stärkung von Investitionen; die andere Verteilung des Budgets, also keine neuen Staatsschulden, stattdessen Zahlung der Löhne, um soziale Spannungen zu vermeiden; die Lösung der Zentralbank von Vorgaben des IWF, indem sie in kleinen Mengen Geld druckt, um den inneren Markt in Gang zu halten. Der Krieg auf dem Balkan wird die Elemente stärken, die auf Loslösung vom Westen drängen. Im Prinzip ist das nützlich für Rußland. (…ich…) Aber klar ist: So oder so bekommen wir eine Gesellschaft, in welcher der Staat eine wesentlich größere Rolle spielt, in dem es ein Minimum an sozialen Garantien geben wird. Die Frage ist nur, ob es ein demokratischer Staat sein wird oder ein oligarchisch korrumpierter. Es wird auf jeden Fall nicht das liberale Modell sein, sondern entweder oligarchisch, vielleicht auch oligarchisch-bürokratisch oder demokratisch sozialistisch. Im Moment baut sich alles in Richtung der ersten Variante auf.“
..paka tosche rana.“

Erzähler:
Soziale Restauration oder Entwicklungsdiktatur, lautet die Formel, auf die Boris Kagarlitzki die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen Rußlands schließlich bringt, nicht ohne daraufhinzuweisen, es sei noch zu früh zu sagen, daß die demokratische Variante gar keine Chance hätte, denn jede Phase habe doch ihre eigene Dynamik und bringe ihre eigenen Hoffnungen hervor. Dem ist, außer der eigenen Hoffnung, daß er damit recht haben möge, nichts weiter hinzuzufügen.

Rußland im Schock Folgen des Kosovokrieges für Rußland

O-Ton 1, Bobby 1/1: Musik vom Lautsprecherwagen    3,23
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, ggflls. zwischendurch hochziehen, nach Erzähler hochziehen, verblenden

…Gemurmel, Takt, Musik…

Erzähler:
Moskau. 1. Mai 1999. Antifaschistische Lieder. Patriotische Parolen. Zum traditionellen „Prasdnik“, dem revolutionären Festtag, hat die Kommunistische Partei ihr patriotisches Umfeld aufgerufen. Zur alternativen Maifeier rief die vom Moskauer Bürgermeister  Juri Luschkow gegründete Organisation „Vaterland“, zusammen mit den Moskauer freien Gewerkschaften auf. Patriotisches busyness as usual mit Blick auf die bevorstehenden Dumawahlen wäre das noch vor zwei Monaten gewesen, denn beide Blöcke bereiten sich zur Wahl der neuen Duma vor. Juri Luschkow gilt wie der Vorsitzende der KP, Gennadi Szuganow, darüberhinaus als Anwärter für die Nachfolge des Präsidenten.
Aber diesesmal ist alles anders als in den Vorjahren, in denen man gegen kriminelle Privatisierung, gegen nicht gezahlte Löhne und andere negative Begleiterscheinungen der Jelzinschen Innenpolitik protestierte. Diesesmal stehen beide Züge unter der alles überragenden Hauptforderung: „Stoppt den NATO-Krieg in Jugoslawien jetzt!“ Eine patriotische Front gegen das, was in der russischen Presse der Wahnsinn des Westens genannt wird, scheint über die
Lager hinweg zu entstehen.

O-Ton 2, Bobby 2/1: Teilnehmer des Zuges    1,00
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Stichwort „Vietnam“ vorübergehend hochziehen

Erzähler::
„Ja dumaju…
„Man muß den Krieg sofort beenden“, meint dieser Mann, Pensionär, Teilnehmer im kommunistischen Block, auf die Frage, was das Wichtigste an diesem Tag sei, „denn wenn erst ein Landkrieg beginnt, werden die Jugoslawen kämpfen wie einst unsere Partisanen im zweiten Weltkrieg. Das wird ein Volkskrieg, ein neues Vietnam.“
…i nowi Vietnam.“

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Er verstehe diesen Krieg nicht, sagt der Alte. Daß zwölf große Staaten in dieser Weise über einen kleinen herfallen könnten! So würden doch nur neue  Probleme geschaffen: Hunger, Epidemien, Katastrophen! Im Übrigen würden ja nicht nur die Serben, auch die Albaner betroffen und so werde es weitergehen. Wer Schuld daran sei? Die USA, Clinton! Europa müsse sich von Amerika befreien, Schluß machen mit der Zerstörung, Deutschland müsse entsprechende Zeichen setzen.

Erzähler:
Von der Seite her mischt sich diese Frau ein:

O-Ton 3, Bobby 1/2: Gruppe im Demonstrationszug    1,41
Regie: Verblenden, stehen lassen, unterlegen, zwischendurch hochziehen, am Ende hochziehen und verblenden

Erzähler:
„…samie glownie prekratit voinu…
„Ja,  das Allerwichtigste ist, den Krieg zu beenden“, sagt die Frau, „aber das Zweite ist, Jelzin zu stürzen, der eine Schande für unser Volk ist. Jugoslawien stirbt! – und er kann keine Waffen liefern, weil er alles verkauft hat!.“
„Sie sind alle Verräter“, wirft eine andere Frau ein.
„Sie machen den Krieg, um die Adria in die Hand zu kriegen,“ fährt die erste Frau fort, „danach nach Rußland vorzudringen und dann die ganze Welt zu beherrschen. Verstehen Sie, daß ist ja ein weltweites Banditentum.
„Ruhe! Ruhe!“, mahnen einige Umstehende. „Was heißt Ruhe“, erwidert die Frau, „wir sind ein patriotisches, sind ein ehrliches Volk hier in Rußland, wir haben große Erfahrung. Jetzt können wir nicht ruhig schlafen, es ist uns peinlich vor dem jugoslawischen Volk, daß wir ihm nicht helfen können, weil alles in den Händen Jelzins liegt. Jelzin ist ein Verräter, ein gewissenloser Schurke, einfach ein Feigling, ein Sklave Clintons.“
… Clintona.“

O-Ton 4, Bobby 2/2: Mann    0,30
Regie: Verblenden, kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, kurz hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Satschem vam eta nuschna…
. „Wofür habt ihr Deutschen das nötig“, fällt ein Mann ein, der den ausländischen Korrespondenten erkannt hat. „Sie waren doch schon einmal in Jugoslawien. Da hat es Massenhinrichtungen gegeben; man hat Köpfe abgeschlagen; es gibt Fotografien. Noch heute gibt es Orte, wo kein Deutscher hingehen darf. Wofür müssen Sie das haben? Die Umstehenden nicken..
…wy Nemez…“

Erzähler:
Ein junger Mann im Block der Jungkommunisten antwortet auf die Frage, was Rußland in dieser Situation tun könne:

O-Ton 5, Bobby 1/3: Jungkommunist im Zug    0,29
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„Eta wapros, katorie…
„Die Frage betrifft natürlich die herrschende Elite, die keine eigenständige Politik zustandekriegt. Ich selbst schlage vor, daß eine militärische Hilfe geleistet wird und eine klare Doktrin für die Zukunft aufgestellt wird. Stellen Sie sich doch eine Erklärung vor, daß bei Fortsetzung der Bombardierung Belgrads durch die NATO, Rußland die Hauptstädte der NATO-Länder bombardieren wird. Das würde den Krieg sofort stoppen.“
.. astanavila voinu.“

Erzähler:
Eine junge Frau kommt von sich aus, um eine Erklärung abzugeben. Dieser Krieg sei eine Entlarvung des Westens, findet sie. Für Rußland aber habe er höchst unerwartete Auswirkungen:

O-Ton 6, Bobby 2/3: Junge Frau im Zug    1,50
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzerin:
„Wy snaetje…
„Niemand von uns hat wohl erwartet, daß schon in der ersten Nacht nach Beginn der NATO-Agression zig Dutzende von jungen Leuten sich vor der amerikanischen Botschaft sammeln würden, von denen es ja immer heißt, daß sie bereits in diesen neuen Werten aufgewachsen seien. Auf einmal zeigt es sich, daß das alles nicht so einfach ist. Ich war selbst da. Da tauchten Plakate auf mit der Aufschrift: `Keine Angst Russen, die Serben sind mit Euch!´ Das ist natürlich bittere Ironie, aber darin zeigt sich, daß die Situation selbst unter jungen Leuten Patriotismus entstehen läßt. Sogar unsere Hacker haben sich eingeklinkt. Diese Tragödie wird nicht nur das russische Volk, sondern auch alle anderen Völker Rußlands zusammenführen; ich hoffe daß wir unsere Probleme ohne IWF und ohne Nadelstiche der NATO lösen können. Wir haben ja, Gott sei Dank, noch die Atomwaffen.“
…jaderne arusche“

Erzähler:
Solche Töne bleiben nicht unwidersprochen. Ein älterer Mann, fleckig im Gesicht, kommt heran:

O-Ton 7, Bobby 1/4: Tschernobyl „Liquidator“    0,58
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
10/B/670: „Ja chatil bi skasats…
„Ich würde gern einige Worte sagen. Ich bin erstens Physiker und zweitens
Liquidator von Tschernobyl, also einer von denen, die die Katastrophe unmittelbar bekämpften. Ich bin extrem beunruhigt durch die Situation, die sich gegenwärtig in Rußland, in Europa und in der Welt aufbaut. Die barbarische Bombardierung Jugoslawiens provoziert eine gewaltige ökologische Katastrophe in Europa. Explosion  chemischer Fabriken, Ölproduktion; die Raketen fliegen zudem über die Atomkraftwerke in Bulgarien, Unfälle sind zu befürchten.

O-Ton 8, Bobby 2/4: Platz, Sprüche vom Lautsprecherwagen    0,40
Regie: Verblenden, ganz allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen, verblenden

Übersetzer: (O-Ton 7: Forts.)
Aus meiner Sicht kann  es nur eines geben: Sofort die Bombenflüge einzustellen und alle Probleme auf dem Weg der Verhandlungen zu lösen, statt Mittel einzusetzen, die am Ende des 20. Jahrhunderts eine irrsinnige Barbarei sind.“
…nje moschet.“

Regie: O-Ton 8 hier hochziehen, kursz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Auf dem Kundgebungsplatz allerdings wird mächtig angeheizt: „Tod dem NATO-Faschismus! Nieder mit dem amerikanischen Terrorismus! Nie wieder deutscher Faschismus!“ brüllt der Sprecher. „Nieder mit der NATO! Keine Bombardierung Serbiens!. Es leben die jugioslawischen Brüder!“
…Hurra!“

O-Ton 9, Bobby 1/5: Gennadi Szuganow    1, 40 (?)
Regie: Verblenden,  kurz stehen lassen, unterlegen, zwischendurch beliebig aufblenden, am Schluß hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Hurra! Uwaschaemi Dusija…
Auch der Parteisekretär Gennadij Szuganow, heute wie immer bei solchen Anlässen der Hauptredner,  ist mehr um Agitation als um Erklärungen bemüht:

Übersetzer:
„Liebe Freunde, ich gratuliere zum 1. Mai: Arbeit, Frieden und Solidarität bezeichnen den Kern unseres Festes. Frieden haben wir  heute nicht. Die Faschisten der USA haben sich das Recht genommen, Ziele auf dem Planeten auszusuchen. Sie wählten das brüderliche Jugoslawien. Zwanzig Jahre davor haben sie vietnamesische Dörfer zerbombt, vor wenigen Monaten bombardierten sie den Irak. Ihnen gefallen heute die Völker nicht, die eine Politik der Gerechtigkeit führen, die ihr eigenes Gesicht haben, ihren eigenen Willen und das Verlangen, nach eigenen Gesetzen zu leben.
Clinton und Solana sprechen von Gesetzen, aber selbst umgingen sie die UNO und den Sicherheitsrat. Sie sprechen von Menschenrechten, aber werfen Bomben auf alle, die in Jugoslawien leben. Sie sprechen von Ökologie, aber selbst setzen sie Ölraffinerien und chemische Fabriken in Brand. Sie sprechen von einem einigen Europa, aber selbst bombardieren sie das einige Europa,  weil ein einiges Europa Hauptkonkurrent für Amerika geworden ist. Wir müssen unsere Stimme für unsere Brüder in Jugoslawien erheben: Wir sind mit Dir, jugoslawisches Volk, wir tun alles, um den Brand auf dem Balkan zu beenden. Sei Gegrüßt, kühnes und brüderliches Jugoslawien!“
…Hurra!

Erzähler:
Gleich nach dem Beifall fährt Szuganow fort:

O-Ton 10, Bobby 2/5 Szuganow, Forts.    1,40 (?)
Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Samaja glawnaja…
„Der Hauptgrund für den Krieg auf dem Balkan sitzt gleich hier nebenan im Kreml: Boris Jelzin, der außer vom Trinken und vom Desorganisieren der Wirtschaft des Landes nichts versteht. Er und Gorbatschow haben das große sowjetische Vaterland zerstört. Sie haben Millionen unseres Volkes heimatlos gemacht. Wenn heute von Balkanflüchtlingen geredet wird, dann  muß man sagen: damals hat es keine Flüchtlinge gegeben und jeder Mensch lebte ruhig und sicher. Warum hat man nicht Gorbatschow oder Jelzin bombardiert, als sie Millionen von Flüchtlingen zu verantworten hatten? Allein aus Tschetschenien sind Dreißigtausend geflüchte; in unserem Vaterland gibt es fast 15 Millionen Hungernde, 20 Millionen Arbeitslose, 130 Millionen unzureichend gekleidete und alle durchweg im Elend. Heute werden von der NATO die als Ziele ausgewählt, an denen man zeigen kann, was man mit den anderen macht, die nicht nach den Regeln der NATO leben wollen. Aber nein, meine Herren Amerikaner, wir werden nicht nach ihren Gesetzen leben. Sie wollen, daß wir ihre Filme sehen, daß wir ihre Waren kaufen, sie wollen, daß wie denken, wie es ihnen gefällt. Aber das wird nicht geschehen. Das Volk wird sich dem nicht beugen. Deshalb sage ich: Nein zum Faschismus! Das Volk wendet sich gegen solche Agression! Der erste Schritt dazu ist der Rücktritt Boris Jelzins.“
…Jelzina.“

O-Ton 11, Bobby 1/6:Musik    1,46
Regie: Nach Stichwort „Jelzina“ einblenden, Musik kurz frei stehen lassen, dann allmählich abblenden

Erzähler:
Die seit Jahren vorgetragene Kritik aus dem Lager der Reformgegner an dem von ihnen beklagten Ausverkauf Rußlands an den Westen findet in diesen Positionen Szuganows ihren Höhepunkt. Die Bomben der NATO drohen die Gefühle der nationalen Erniedrigung gegenüber einem aus dem kalten Krieg siegreich hervorgegangenen Westen in ein Verlangen nach Revanche zu steigern, das an die deutschen Stimmungen nach dem Friedensschluß von Versailles gemahnt.
Was in Parteireden noch verhalten erscheint, tritt im Umkreis  Szuganows offen hervor, so etwa bei Alexander Prochanow. Prochanow ist Herausgeber der in Rußland weit verbreiteten Wochenzeitung „Saftra“, Morgen. Er ist seit Jahren Gallionsfigur des national-bolschewistischen Lagers. Mit Szuganow zusammen gehörte er zu den führenden Ideologen der „Nationalen Front“, die in den Jahren 1992 und 1993 den militanten Widerstand gegen Boris Jelzin organisierte. Heute ist er Vorsitzender der patriotischen Volksunion, die mit Szuganow zusammen das traditionelle Protestpotential gegen die Regierung Jelzin mobilisieren will.
Prochanow charakterisiert die Wirkung der jugoslawischen Ereignisse auf Rußland mit den Worten:

O-Ton 12, Bobby 1/7Alexander Prochanow    1,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja isledowal prozessi..
„Bisher habe ich die Prozesse untersucht, die Rußland zerstört haben; jetzt sind die Prozesse für mich interessant, die es wieder zusammenführen: Im Kern ist es so: Rußland wurde von der pro-westlichen Elite zerstört, die für die Sowjetunion die liberale Idee als Spiel der freien Kräfte propagierte – absolut liberale Politik, liberale Wirtschaft, lieberale Persönlichkeit. Dieser grenzenlose Liberalismus ist zerstörerisch. Er ist zerstörerisch für Deutschland, für Lateinamerika, für Rußland. Jetzt ist die liberale Idee, nachdem so reichlich Opfer gekostet hat, gestorben. Die liberale Revolution ist zuende. Wir stehen vor den endgültigen, erschütternden Trümmern der liberalen Revolution. Jetzt beginnt die Konterrevolution gegen den Neoliberalismus. Jetzt treten wieder Politiker mit fundamentalen russischen Werten auf. Träger dieser Werte sind nicht nur die Kommunisten, nicht nur Monarchisten; mit diesen Werten tritt eine neue Klasse an, eine neue nationale Bourgeoise.“
…Bourgeoisie.“

Erzähler:
Die Wirklichkeit bleibt hinter solchen starken Worten zurück. Auf Pressekonferenzen verurteilt Szuganow die nationalistische Politik Miloševiç` und fordert Verhandlungen. Von militärischer Unterstützung keine Rede. Den in den ersten Tagen des Krieges erhobenen Ruf nach Entsendung russischer Freiwilliger ins Kosovo widerholt er öffentlich nicht. Das Impeachment, mit dem die KP den Rücktritt Jelzins wenige Tage nach dem 1. Mai erzwingen will, scheitert. Statt dessen feuert Boris Jelzin, die mit den Kommunisten zusammenarbeitende Regierung Primakow und ersetzt sie durch eine ihm willfährige unter dem neuen Ministerpräsidenten Stepaschin.

O-Ton-13, Bobby 2/6: Bürgermeister Luschkow    0,50 (?)
Regie: TV-Stimme unter dem Erzähler allmählich kommen lassen, Luschkow-Zitat nach Erzähler kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Die patriotische Welle ist damit aber keineswegs ausgelaufen. Mit Kritik an der Regierung endete auch die Demonstration, an deren Spitze sich Juri Luschkow mit der von ihm gegründeten Organisation „Otstschetswo“, Vaterland gestellt hatte. Im abendlichen Fernsehen, das am 1. Mai über beide Demonstrationen gleichermaßen berichtete, vor allem über deren Protest gegen den Krieg in Jugoslawien, wurde der Bürgermeister mit dem Satz zitiert:

Regie: Kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My tschitajem..
„Wir glauben schon, daß die Regierung zur Zeit ganz normal arbeitet, aber trotzdem sagen wir allen, tut endlich etwas und trampelt nicht auf der Stelle, entscheidet die Aufgaben, die das Leben uns stellt und verliert Euch nicht in Betrachtungen darüber, wie schwierig die Situation ist.“
…skladawitzja.“

Erzähler:
Das klingt wenig provokativ, fast unpolitisch. Bei einem Besuch im Stabsquartier von „Otetschestwo“ klingen jedoch andere Töne auf, wenn PR-Chef Wladimir Martynow erläutert, wie Juri Luschkow als zukünftiger Präsident Rußlands sein „Modell Moskau“ auf das ganze Land übertragen will.
Schon bei der Erläuterung der Konsequenzen, die aus dem Bankenkrach vom 17. August 1998 folgen, sind die vaterländischen Töne nicht mehr zu überhören:

O-Ton 14, Bobby 2/7: Wladimir Martynow    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja zelekom und polnesto uveren…
„Ich bin voll und ganz überzeugt davon, daß das Ziel Rußlands, ein unteres, ein kleines Ziel darin besteht, eigene Hühnerbeine hervorzubringen, statt Hühnerbeine aus Amerika einzuführen. Wir müssen eigene Chips haben und nicht französische oder italienische. Wir sollten  unsere eigenen Makaroni herstellen und nicht italienische Spaghetti. Mögen auch die russischen Makaroni Spaghetti heißen. Wenn wir in New York hergestellte Pelmenije, unsere nationalen Teigtäschchen, nach Moskau oder in andere russische Städte bringen, dann geht das schon ins Absurde. Ich habe nichts gegen Makaroni, die nach italienischen Rezepten gemacht werden, wenn sie nur in Moskau, wenn sie nur von russischen Arbeitern hergestellt werden, die dafür Lohn  bekommen.“
…sarplatu.“

Erzähler:
Soweit, so alltäglich in einem Land, für dessen Regierung die wichtigste Aufgabe inzwischen darin besteht, den volkommenen Zusammenbruch der eigenen Produktion zu verhindern. Die Begründung, die Martinow für seine Forderung nach verstärkter Entwicklung heimischer Produktion gibt, führt jedoch unvermutet mitten in den jugoslawischen Krieg:

O-Ton 15, Bobby 2/8: Forts., Martinow    1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Sravnitelni nje dawna…
„Vor relativ kurzer Zeit erschien ein Gesetz über Produktionssicherheit. Die Sache ist so: Heute hängen einige Regionen zu mehr als zwanzig oder gar dreißig Prozent von ausländischen Produkten ab. Die Sicherheit eines Landes ist aber, so stellt das Gesetz fest, nur noch bis zu siebzehn Prozent gewährleistet. Was bedeutet das heute, wo USA oder ihre NATO-Verbündeten ein Embargo gegen Jugoslawien verhängen? Das  bedeutet, daß wir gezwungen sind, das Embargo der NATO-Länder zu unterstützen – wenn wir nicht selbst von Embargos getroffen werden wollen. Für die Regionen, die von westlichen Embargos betroffen würden, hieße das nämlich zu verhungern. Mir scheint daher, das Ziel Rußlands muß sein –  wie jedes beliebige Land des Westens – sich selbst mit Produkten so zu versorgen, daß es wirklich reicht.“
…jewo dewat.“

Erzähler:
Das ist, wie zurückhaltend auch formuliert, nichts anderes als die Forderung nach russischer Autarkie. Heute, so Martinow weiter, sei Rußland abhängig vom Westen, aber das könne sich durch den Krieg selber ändern.

O-Ton 16, Bobby 2/9: Martinow, Forts.    0,40
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„K ssoschellennije…
„Bedauerlicherweise könnte der Westen hier wie dort, in Jugoslawien, ebenso wie in Rußland ganz und gar nicht das erhalten, was er sich als Resultat der Bombardierung erwartet. Das Bombardement ist ja nicht nur ein Bombardement Jugoslawiens; es ist ja ein Bombardement Rußlands und der Beziehungen zu Rußland und dem Westen. Eine Fortsetzung solcher Aktionen seitens der NATO wird den Rückzug Rußland von den Ländern der NATO nach sich ziehen.“
…sapadem sotrotschestwo.“

Erzähler:
Bei Michail Nagaitzew, dem Präsidenten der Moskauer freien Gewerkschaft, bekommt dieses Bild noch weitere Farbe: Nagaitzew, 1991 Radikaldemokrat im Gefolge Jelzins, ist seit deren Gründung Mitglied in Juri Luschkows „Otetschestwo“. Bürgermeister und Gewerkschaftspräsident haben einen Pakt für Arbeit geschlossen, der sich in gewerkschaftlich unterstützten städtischen Programmen der Arbeitsbeschaffung niederschlägt. Bei Michail Nagaitzev ist Erstaunliches zu erfahren: Zunächst geht es um den Bankenkrach vom 17. Augst des Jahres 98. Er habe zwar die allgemeine Armut in Rußland erhöht:

O-Ton 17, Bobby 2/10: Michail Nagaitzev    1,10
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, nach Stichwort „ökonomiki“ ausblenden

Übersetzer:
„No, kak ne strana…
„Doch, paradox aber wahr, als der Internationale Währungsfond seine Hilfe einstellte, brachen zwar einige Banken zusammen und durch die Entwertung des Rubels brach auch der Import ein. Als Ergebnis aber wurden plötzlich heimische Produkte gebraucht. Die Preise stiegen nicht, manche fielen sogar. Die Leute kauften. Heute kannst du wieder heimische Erzeugnisse in unseren Läden sehen. Nach ersten Nahrungsmitteln, sind dann auch andere Waren des täglichen Bedarfs dazugekommen. Im Ergebnis kann sich, wenn die Regierung auch noch die Steuern senkt, wie angekündigt, eine gewisse Stabilisierung auf produktivem Niveau einstellen. Davor lebte unsere Ökonomie von Spekulationsoperationen, jetzt hat es einen kleinen Anstieg im realen Sektor der Wirtschaft gegeben.“
… sektore okonomiki.“

Erzähler:
Rußland, so Michail Nagaitzew, habe auf diese Weise einen Schritt zur Abkoppelung vom Tropf der westlicher Kredite getan; der Krieg in Jugoslawien verstärke diesen Effekt:

O-Ton 18, Bobby 2/11: Nagaitzev, Forts.    0,25
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I kasalis by…
„Es zeigt sich, daß man die Wirtschaft Rußlands,  in der Situation, in der sich unsere Rüstungsindustrie befindet, durch den Krieg jetzt entwickeln und anheben kann, indem Waffen verkauft werden.“
…pradasche aruschi.“

Erzähler:
Auf zweifelnde Nachfrage hin konkretisiert er, nachdem er sich zuvor persönlich vom serbischen Nationalismus ebenso wie von der NATO distanziert hat:

O-Ton 19, Bobby 2/12: Nagaitzew Forts.    1,15
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A potsche mu njet…
„Und warum denn nicht? Clinton hat anderthalbtausend Raketen abgeschossen. Die müssen ergänzt werden. Morgen werden General Motors und all die anderen ihre Aufträge erhalten. Genauso kann Rußland auftreten, oder?
Ein Land wie Rußland muß ebenfalls eine Rüstungsindustrie auf hohem Nievau haben, sie ausbauen und sie entwickeln. Für die eigene Sicherheit. Damit nicht, Gott bewahre, morgen auf den Fernsehturm am Ostankino irgendeine Rakete niedergeht. Soll Rußland Waffen verkaufen? Es soll. Soll es Leitsysteme verkaufen? Ja, es soll. Das Problem ist nur, gegenwärtig ist es nicht so: Die USA, Frankreich  – nun wir wissen, daß der Markt nach dem Ende der Sowjetunion aufgeteilt ist.“

Erzähler:
Aus realen Konflikten aber solle Rußland sich heraushalten, findet Michail Nagaitzev. Dafür sei es heute nicht reich genug.
…obrasim utschatstewats.“

Erzähler:
Der dritte und letzte Zeuge auf  der Linie der Pragmatiker ist Anatoli Baranow. Auch er war Anfang der 90er Radikaldemokrat. Heute ist er PR-Chef in den vereinigten staatlichen Rüstungsbetrieben „MAPO“. Dort werden die berüchtigten „MIGs“, die früher sowjetischen, heute russischen Düsenjäger hergestellt.

O-Ton 20, Bobby 2/13: Anatoli Baranow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ja nje ismenilcja…
Nicht er, vielmehr das Land habe sich verändert, beginnt Anatoli Baranow. Jelzin, Gaidar, Tschubajs und  andere hätten Rußland  soweit heruntergewirtschaftet, daß es zum Reservat Amerikas zu verkommen drohe. Der Schwerindustrie, insbesondere deren Kern, der Rüstungswirtschaft hätten sie durch die Konversion schwersten Schaden zugefügt. „Die Potenzen liegen brach; der äußere Markt ist heute durch politische Sanktionen verstellt“, so Baranow, „für den inneren Markt fehlt das Geld.“ Auch Baranow sieht jedoch im Bankenkrach vom  August `98 eine Wende, die durch die Ereignisse auf dem Balkan beschleunigt werde. Ein Kurswechsel der Eliten deute sich an:

O-Ton 21, Bobby 2/14: Baranow, Forts.    1,24
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, mit Lachen ausblenden

Übersetzer:
„Ja gaworju…
„Ich spreche von einem altersbedingten und einem konzeptionellen Wechsel. Ich kann nicht sagen, ob die nächste Runde links oder gemäßigt rechts sein wird. Die extreme Rechte, das heißt, dieser krasse, entartete Liberalismus ist in Rußland auf lange Zeit vorbei. Aber ob links oder rechts, die neue Runde wird auf jeden Fall im Dienste der nationalen Interessen stehen, nicht nationalistisch, sondern staatlich national. Schon jetzt kann ja nicht ein einziger Politiker hochkommen, der nicht verspricht, nationale Prioritäten schützen zu wollen. Sie bilden sich unter Schwierigkeiten und Widersprüchen heraus; viele, die im Namen nationaler Interessen auftreten, erweisen sich dann doch wieder als Verräter – aber sie bilden sich. Es geschieht vor allem im Namen der jungen Leute. Sie wollen  nicht in einer Kolonie leben, sie wollen nicht zum Markt billiger Arbeitskräfte werden. Sie wollen eine gute Ausbildung, wollen in diesem Land leben. Krieg will im Grunde niemand, aber: Man muß Rußland kennen! Hier hat niemand Angst davor Krieg zu führen.“
…lacht

Erzähler:
Das russische Volk wolle in Frieden leben so wie jedes Volk, bemüht Baranow sich gleich darauf zu beschwichtigen, wird dadurch aber nur deutlicher:

O-Ton 22, Bobby 2/15: Forts. Anatoli Baranow    0,30
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sa mir nada…
„Doch für Frieden muß man bezahlen. Und niemand will für den Frieden mit nationaler Erniedrigung bezahlen. Es gibt Preise, die wir für den Frieden nicht bezahlen können. Erinnern Sie sich an die Geschichte der amerikanischen Indianer, die ich vorhin erwähnte. Sie bezahlten immer wieder für den Frieden. Am Ende fanden sie sich im Reservat wieder. Das ist nicht normal.“
…nje normalna.“

Erzähler:
Mit solchen Ausführungen ist der Kreis zum Lager Gennadij Szuganows und seiner Freunde idelogisch geschlossen, auch wenn man sich politisch in getrennten Marschsäulen bewegt und vermutlich auch weiter bewegen wird. Zu groß ist immer noch die atomisierende Dynamik aus der Explosion des früheren sowjetischen Monolithen, als daß eine patriotische Front Rußland morgen auf einen geschlossenen nationalistischen Kurs bringen könnte. Mit  jeder NATO-Bombe aber, die auf Jugoslawien niederging, sind die Vorraussetzungen
dafür gewachsen. Kein Wunder also, daß Rußlands Demokraten zu den schärfsten Kritikern des NATO-Bombardements gehören:

O-Ton 23, Bobby 2/16: Alexander Simonow    1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Samije chutsche…
„Das Schlimmste, was die Bombardierung. Jugoslawiens für Rußland gebracht hat, ist die moralische Rechtfertigung des krassesten Nationalismus, des Panslawinismus und der kommunistischen Revanche. Selbst die dürftigsten nationalistischen Politiker verwandeln sich plötzlich in bissige Feuervögel. Der Krieg hat ihnen eine Perspektive eröffnet. Nach der ersten Woche hat sich die allgemeine Euphorie des Mitleids ein bißchen gelegt. Aber man kann sagen: In Rußland liebte man schon immer die Notleidenden, in Rußland stand man immer auf der Seite der Gekränkten und in diesem Sinne diese fielen diese äußerst unangenehmen Samen auf einen sehr fruchtbaren Boden. Deshalb wurde es für die Leute, die ein normales, demokratisches Rußland haben möchten, um sehr vieles schwieriger hier zu leben und zu arbeiten. Innerhalb eines Monats!“
…tetschenije mezez

Erzähler:
Der Mann, der so spricht, ist Alexander Simonow, Leiter der „Stiftung zum Schutze von Glasnost“, der entscheidenden Institution Rußlands zur Förderung und Verteidigung der Presse- und Medienfreiheit. Die Stiftung wurde 1991 mit amerikanischen Hilfsgeldern gegründet und lebt bis heute von europäischen und amerikanischen Spendengeldern. Sie gehörte mit zu den schärfsten Kritikern des Krieges in Tschetschenien. „Was gibt uns die Garantie“, fragt Simonow, „daß ein neues Tschetschenien  morgen nicht genauso beantwortet wird?“
Simonow versteht die Welt nicht mehr. Miloševiç ist für ihn ein Verbrecher. Da kennt er keine Diskussion. Aber die Bombardierung des TV-Zentrums in Belgrad lag für ihn jenseits dessen, was er von seinen amerikanischen Freunden hinzunehmen bereit ist:

O-Ton 24, Bobby 2/17: Forts. Simonow    0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„No, jesli ani destwujut..
„Wenn sie mit genau denselben Mitteln agieren, dann hört für mich die Logik auf , dann wird eine andere Logik dahinter erkennbar. Dann heißt das, da gibt es Gründe, die man uns nicht nennt. Jemand ist interessiert daran, daß Jugoslawien, ganz Jugoslawien eine black box wird. Miloševiç  unterdrückt die Presse im Lande, aber die NATO unterbindet überhaupt jegliche Informationsgewinnung auch ihrer eigenen Leute.“
…swoiimi  kampagnami.“

Erzähler:
Andere überzeugte Westler flüchten sich in den Sarkasmus. So Dima Pinsker politischer Kommentator an der Zeitschrift „Itogi“, die als Coproduktion des US-Magazins „Newsweek“ und in Verbindung zu der gleichnamigen Sendung des russischen Fernsehens NTW in Rußland erscheint. Gegner bezeichnen Sender und Zeitung als Agenturen des CIA. Nach der Feststellung, die Bomben der NATO trügen nur dazu bei, die Solidarität der Serben mit Miloševiç zu erhöhen, wie die russischen seinerzeit die Solidarität mit Tschetscheniens Präsident Dudajew erhöht hätten, zitiert er einen Kollegen zustimmend mit dessen Fazit:

O-Ton 25,  Bobby 2/18: Dima Pinsker    0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblen den, unterlegen, hochziehen, abblenden
.
Übersetzer:
„Ransche mi..
„Früher haben wir geglaubt, daß nur in Rußland Idioten an der Macht seien, jetzt wissen wir, daß bedauerlicherweise genau solche Idioten in Washington sitzen. Das ist ziemlich unangenehm, denn die liberal ausgerichtete Schicht Rußlands hat sich die ganze Zeit nach Amerika, nach Europa orientiert.
…na ewropu.“

Erzähler:
Dies ist auch der Tenor, den Viktor Makarow anschlägt, Professor der Psychologie in Moskau, der sich seit der Öffnung der Sowjetunion um die Verbindung russischer und westlicher Traditionen der Psychologie und Psychotherapie bemüht:

O-Ton 26, Bobby 2/19: Viktor Makarow    1,10
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblen den, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nascha strana…
„Unser Land hat die Auswirkungen dieses Krieges bisher noch gar nicht erfaßt.. Die Intelligenz befindet sich im Schockzustand. Sie hat sich in den letzten Jahren sehr nach Amerika orientiert. Jetzt führt der Westen Krieg gegen Jugoslawien. Das ist für uns unerwartet und unerklärlich. Das Schlimmste daran ist, daß das Bild der westlichen Welt in den Augen unserer Bevölkerung zerstört wird und die westliche Welt für uns agressiv wird, hoffnungslos. Das ist für mich als Mensch, der sich an einer Gesellschaft nach westlichen Vorstellungen orientiert, das Unangenehmste. Das Ganze bedeutet., daß die Entwicklungen sich mehr eigenen, russischen, nachsowjetischen Vorstellungen, Methoden usw. zuwenden wird und weniger Möglichkeiten des Austausches mit dem Westen bestehen.“
…kontaktow sapadem.“

Erzähler:
Die Angst vor einer solchen Entwicklung ist umso größer, je weiter die Entfernung vom Zentrum Moskau ist. Professor Gennadi Kolotirin aus dem fernen Charbarowsk, zu einem von Viktor Makarow organisierten allrussischen Psychologenkongreß  unter der Frage: „Psychologie im Übergang zum nächsten Jahrtausend.“ eigens nach Moskau angereist, formuliert das so:

O-Tron 27,  Bobby 2/20: Prof. aus Charabarowsk    1,26
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwei 0,50 nach Übersetzer zwischendurch hochziehen,  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Konjeschna, nje smotrja na to…
„Selbstverständlich hat der Krieg Auswirkungen auf uns. Ungeachtet dessen, daß wir im fernen Osten leben, daß uns Japan, China, Korea und die USA näher sind, berührt uns die Frage sehr, weil wir besonders empfindlich sind für separatistische Entwicklungen. Aus der Geschichte ist ja bekannt, daß der Ferne Osten stolz darauf war, eine unabhängige Republik zu sein. Er hatte seine spezielle Pufferrolle  gegenüber Japan. Einige unserer Alten erinnern sich noch selbst daran. Deshalb waren wir sehr beunruhigt, als die Sowjetunion zerfiel, daß in Rußland separatistische Tendenzen entstanden. Die jugoslawischen Ereignisse berühren uns daher äußersten Maße.“
…sadevajut.“

Erzähler:
„Worin unterscheidet sich Serbien von Tschetschenien?“, fragt auch der Professor aus Chabarowsk, „worin der Kaukasus vom Balkan oder von Zentralasien? All diese Gebiete sind Übergänge zum nahen Osten mit alten Verwandschafts- und Völkerbeziehungen. Überall glimmen dieselben Konflikte. Heute bombardiert die NATO Jugoslawien. Wozu ist sie morgen bereit? Deshalb sind bei uns alle katagorisch gegen das Vorgehen  der NATO und für Regelungen durch die UNO.“
…gatownost.“

Erzähler:
Die Vorstellung, der Krieg in Jugoslawien könne sich in einer Balkanisierung des Vielvölkerstaates Rußland fortsetzen, ist die größte Sorge in der russischen Bevölkerung. Weit entfernt von solchen Ängsten ebenso wie vom Hurra-Geschrei der Nationalisten machen Rußlands Analytiker eine verblüffend ruhige Bestandsaufnahme der Situation: Nehmen wir Jussef Diskin, Soziologe, der jüngeren Generation, der unter anderem  demografische und soziale Studien für die Russische Zentralbank durchführt: Die Bombardierung Serbiens nennt er geradeheraus eine Dummheit des Westens. Clinton, witzelt er, habe vielleicht zuviele Sexpostillen und Western gelesen. Das Resultat dieses Krieges werde jedenfalls, da stimme er der Erwartung von „Otetschestwo“ zu,  dem entgegengesetzt sein, das der Westen, speziell Amerika, davon erwarte:

O-Ton 28, Bobby 2/21: Jussef Diskin     1,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Na moi wsglad…
„Aus meiner Sicht, wenn´s auch zynisch klingt, sind die Ereignisse auf dem Balkan für Rußland äußerst nützlich. Und zwar aus verschiedenen Gründen.  Erstens haben sie die ideologische Verfaßtheit unseres Landes verändert. Gab es davor nur Sozialisten oder Demokraten, also Westler, das heißt, Gegner oder Befürworter der Reform, so haben wir jetzt drei politische Plattformen: Erstens Westler, zweitens Ultranationalisten und drittens gemäßigte Nationalisten. Neue Energien für die Entwicklung einer gesunden Mitte von der Art Luschkows entstehen, die den Staat auf Kurs zwischen Abkoppelung und Anbindung an den Westen entwickeln können. Das Zweite ist: Der Westen ist gezwungen die Bedeutung Rußlands neu wahrzunehmen. Nach dem 17. August  war Rußland für den Westen ja schon fast am Horizont verschwunden. Jetzt hat es, zusammen mit China, seine Rolle als Vertreter einer anderen als der von der NATO favorisierten One-World-Ordnung angetreten. Es steht für eine entstehende multipolare Welt.“

O-Ton 29, Bobby 1/8: Rock am roten Platz    1,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Beifall, Musik
Was Diskin formuliert, ist in Rußland zur Zeit analytischer Konsens und als wollte er eben dieses praktisch beweisen, läßt Bürgermeister  Juri Luschkow am Abend des 1. Mai ein Rockkonzert „Stop NATO“ an den Mauern des Kreml  organisieren. Der Zuspruch ist überwältigend: Zu Tausenden strömt Moskaus Jugend auf den Platz. Niemand fordert hier eine militärische Lösung, aber auch niemand ist hier bereit, eine Unterordnung Rußlands unter die NATO zu akzeptieren. Unter dem Einfluß dieses Krieges wächst hier, da ist den Analytikern zuzustimmen, ein Rußland heran, das Kraft aus seiner Rolle als Vermitller des Weltfriedens und für die friedliche Herausbildung einer neuen Weltordnung zieht.

Argumente gegen den Krieg

Zur Beteiligung Deutschlands am NATO-Einsatz gegen Serbien

Was lange befürchtet war, ist eingetreten: Zum erstenmal seit dem Ende des zweiten Weltkrieges geht auch von deutschem Boden wieder ein Krieg aus. Die Bundesregierung begründet ihre Teilnahme an dem NATo-Krieg gegen Serbien als Nothilfe zur Verteidigung der Menschenrechte gegen die ethnischen Säuberungen durch einen Diktator Miloševiç. Die Befürworter des Krieges fühlen sich in der moralischen Offensive. Sie propagieren den Krieg als humanitäre Strafaktion. Wer damit nicht einverstanden ist, setzt sich Zweifeln an seiner moralischen Integrität aus. In einem Kommentar unter der Überschrift „Das Elend des Pazifismus“ bringt Günther Bannas, einer der Chefkommentatoren der „Frankfurter Allgeminen Zeitung“, die deutsche Beteiligung auf die Formel, in dieser Entscheidung habe die Erkenntnis „Nie wieder Auschwitz“ über den Satz „Nie wieder Krieg!“ gesiegt. Das gebe der Haltung Außenminister Fischers den moralischen Grund.

Was für eine Verkehrung! Was für ein Zynismus!
Lange schon war ja zu befürchten, daß die deutsche, genereller auch die europäische Intelligenz im Zuge der Verteidigung ihres materiellen und geistigen Besitzstandes in der Festung Europa eine reaktionäre Wende nehmen würde – daß es nun aber in dieser Form geschieht, ist doch eine Überraschung. Man hat sich, sofern man darüber nachdachte, diese Wende immer in der Form klassischer rechter Positionen vorgestellt – als irgendwie verdrehte Form von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, mit denen man die Grenzen Europas gegen den Ansturm aus den Armenhäusern des Globus abzuschirmen versuchen würde. Nun kommt sie aber in der Form der Verteidigung der westlichen Wertegemeinschaft daher, als Argumentation der Notwehr gegen Angriffe auf die Grundwerte der Menschenrechte und nicht nur alle Mächtigen der Welt, soweit sie die Zustimmung des Westens suchen, stimmen in diesen Chor mit ein, sondern auch eine mit Bildern des Entsetzens überschwemmte Bevölkerung.
Der Protest gegen den Krieg, schreibt der Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, sei um so schwächer, je näher die tatsächliche Bedrohung des Friedens rücke. Gegen die geplante Stationierung der Mittelstreckenraketen in Europa hätten seinerzeit Millionen protestiert; gegen den Golfkrieg nur noch Hunderttausende; nun, da der Krieg direkt vor der Tür stehe und die eigenen Werte betreffe, sei nur noch eine verschwindende Minderheit dagegen. Das klingt plausibel, aber worin mißt sich die Nähe des Krieges in einer Zeit, in welcher Entfernungen auf Intervalle im Internet zusammenschnurren? Nähe oder Nicht-Nähe dieses Krieges kann doch nur aus den Inhalten bestimmt werden, für die er geführt wird. Und da sind wir mit der „Notwehr“ schnell beim Kern der Dinge, allerdings anders als die Urheber dieser Argumentation es glauben machen wollen:  Es handelt sich in der Tat um Notwehr – Notwehr aber nicht gegen einen vermeintlichen Usurpator. Erstens ist Milošewiç kein Usopator, er ist, ob es einem gefällt oder nicht, gewählter und von einem breiten Willen seines Volkes getragener Präsident. Ich sage deutlich, daß seine Politik mir nicht gefällt. Das ändert aber nichts an der genannten Tatsache. Notwehr ist der NATO-Einsatz auch nicht gegen die Verletzung der Menschenrechte – da gäbe es viele Anlässe für solche Einsätze, ganz abgesehen davon, daß das Eingreifen der NATO die humanitäre Katastrophe auf dem Balkan nicht verhindert, sondern die schon vorher erkennbar in diese Richtung weisende Entwicklung nur noch weiter eskaliert hat.
Der Krieg, schreibt Günther Bannas weiter, hat keine erkennbaren ökonomischen Ziele, wie sie der Irak-Krieg noch gehabt habe. Auch diese Behauptung klingt sehr plausibel. Aber erstens ist schon der Krieg gegen den Irak nicht nur ökonomisch zu erklären; schon dort spielen strategische Gründe eine mindestens ebenso entscheidende Rolle, nämlich, die säkulare Herrschaft Saddam Husseins als Bollwerk gegen den „fundamentalistischen Ansturm“ aus dem Osten und dem Orient zu halten, ihn gleichzeitig aber nicht zu stark werden zu lassen. Dahinter wird der grundsätzliche Anspruch der USA auf Weltherrschaft deutlich – die wirtschaftlichen Interessen sind darin enthalten.
Im Kosovo-Krieg sind die strategischen Ziele ganz in den Vordergrund gerückt. Hier wird von der NATO in der Tat nicht für vordergründige ökonomische Interessen gebombt, hier wird ein strategisch orientierter Einsatz exemplarisch vorgeführt. Hier läuft eine Dramaturgie dosierter Einsätze ab, die auf Wirkung in den Medien abgestimmt ist, ja, die ihre eigentliche Wirkung einer demonstrativen Machtentfaltung überhaupt erst und nur mit den Medien entfalten können. Hier wird moderne Kriegführung im Zeitalter der Kommunikation vorgeführt. Es ist ein konditionierter Demonstrationskrieg, der auf Warnung und Einschüchterung durch exemplarische Strafaktionen im Namen einer Weltpolizei setzt. Adressat sind alle diejenigen, die den nach dem Ende der Systemteilung erhobenen Anspruch der USA und der mit ihr verbündeten westlichen Staaten auf eine One-World-Ordnung nicht akzeptieren wollen, vor allem Rußland und China.
Die USA dürften darüberhinaus daran interessiert sein, eine aus ihrer Sicht zu enge Verbindung zwischen Europa und Rußland, insbesondere eine Achse Bonn-Moskau verhindern, bzw. wenigstens relativieren zu wollen. Das ist ihnen mit der Umgehung der UNO, was ja im Kern zunächst einmal eine Umgehung Rußlands ist, bisher weitgehend gelungen. Lange werden Rußland und auch die europäischen Mächte das allerdings so nicht mitmachen können.
Die Struktur der UNO werde offensichtlich den Anforderungen nicht gerecht, ethnische Minderheiten zu schützen, schreibt Günther Bannas weiter. Recht hat er. Das galt und gilt  ja auch schon für andere Konflikte. Aber kann die Schlußfolgerung daraus eine militärische Sellbstmandatierung der NATO sein? Damit wäre der Entwicklung einer gleichberechtigten Völkergemeinschaft der Weg versperrt, der  Übergang zu einer militärischen Weltordnung vollzogen. Es wäre der Übergang von der Zeit der Stellvertreterkriege in eine neue Zeit der exemplarischen Demonstrationskriege unter Führung einer einzigen Weltmacht, der USA und ihrer Verbündeten. Daß dies dem erklärten Ziel der NATO, die Menschenrechte durchsetzen zu wollen, im Wesen widerspricht, liegt auf der Hand. Ein solcher Weg ist prinzipiell nicht zu akzeptieren, abgesehen davon, daß Rußland, China und andere Mächte es politisch nicht hinnehmen können und daraus große Gefahren für den Weltfrieden entstehen. Die richtige Schlußfolgerung aus der Schwäche der UNO kann nur darin bestehen, sie selbst  ggflls. die OSZE zu stärken, nicht sie durch ein Militärbündnis des Westens zu ersetzen. Es ist aber offensichtlich, daß die gegenwärtigen politischen Entscheidungsträger der Westmächte dazu nicht bereit sind. Damit sind die Linien für zukünftige politische Auseinandersetzungen abgesteckt.
In Afrika, Asien und in der Türkei werden Minderheiten ebenso verfolgt, ohne daß die NATO eingegriffen habe, zitiert Herr Bannas weiter die Argumente der Kriegsgegner. Das stimme, räumt er ein, doch solle etwa der Grundsatz gelten, daß vor den Mördern alle Minderheiten gleich seien?
Eine Antwort auf diese Frage gibt Herr Bannas nicht, sowenig wie man sie sonst irgendwo von den Befürwortern des NATO-Krieges gegen Serbien hört. Die Antwort kann aber nur lauten: Ja, alle Minderheiten haben denselben Anspruch auf Schutz! Das ist ein zentraler Bestandteil der Menschenrechte. Eine Relativierung dieses Anspruches ist gleichbedeutend mit seiner Aufhebung. Das gilt ungeachtet,  ja, gerade wegen der traurigen Tatsache, daß die Welt, gleich wo, noch weit von der Verwirklichung dieses Grundsatzes entfernt ist.
Wenn man sich aber schon zum Anwalt der Durchsetzung dieser Rechte erklärt, dann kann es keine Ausnahmen geben, schlimmstenfalls die Unmöglichkeit, sie zu verwirklichen. Die opportunistische Handhabung dieser Prinzipien durch die NATO zeigt nur, daß die humanitären Argumente beliebigen, letztlich legitimatorischen Charakter tragen. Es geht bei den Bomben auf Serbien eben nicht in erster Linie um die Verteidigung der Menschenrechte – da hätte die NATO schon lange ihren Partner Türkei zur Ordnung rufen müssen. Es geht um die Erhaltung der atlantischen Hegemonie. Die Verteidigung der Menschenrechte ist nur die Fahne, unter der gekämpft wird, nicht anders als tausend Jahre zuvor das Kreuz, in dessen Namen die übrige Welt zwei Jahrhunderte lang  in sieben Kreuzzügen mit Krieg und Terror zum wahren Glauben bekehrt werden sollte, während es praktisch darum ging, die Handelswege in den Orient und den fernen Osten abzusichern.
Wer behaupte, es sei wenig mit Miloševiç verhandelt worden, fährt Herr Bannas in seiner Abrechnung mit den Pazifisten fort, der gehe einfach an der Wirklichkeit vorbei. Dem Argument, bei früheren Verhandlungen mit Miloševiç sei das Kosovo vergessen worden, hält er die Frage entgegen, ob man die Beendigung des Mordens in Bosnien-Herzegownia denn an der Frage des Kosovo hätte scheitern lassen sollen.     So reiht sich in der Argumentation der Kriegsbefürworter ein Sachzwang an den nächsten, aus dem schließlich nur noch die Eröffnung des Krieges habe herausführen können; nach derselben Logik ist seine Fortführung bis zur bedingungslosen Kapitulation Miloševiçs jetzt der einzige gangbare Weg, den Krieg zu beenden.
Für die gegenwärtige Lage macht es wenig Sinn, darüber zu rechten, was gewesen wäre, wenn; nur eins ist ein Fakt: Die Verhandlungen von Rambouillet scheiterten letztlich daran, daß die NATO darauf bestand, die Einhaltung der ausgehandelten Bedingungen von einem NATO-Kontrollorgan überwachen zu lassen. Warum konnte die NATO diese Kontrolle nicht der UNO, der OSZE oder einem neu zu bildenden Völkergremium überlassen? Die Antwort ist klar: Weil das alles nicht ohne Rußland gelaufen wäre. Mit Rußland hätten die Verhandlungen anders geführt werden können. Es ist offensichtlich, daß sich der Hund hier selbst in den Schwanz beißt. Ob Rußland jetzt, da die NATO schon tief in ihrer eigenen Falle steckt und nachdem es die ganze NATO-Aktion als Aggression auch gegen sich empfinden mußte, bereit ist, in die Verhandlungen wieder mit einzusteigen und zu welchen Bedingungen, das dürfte die entscheidende Frage beim Fortgang der nächsten Ereignisse sein.
Darüberhinaus ist festzuhalten, daß Eskalationslogiken von der Art des gegenwärtigen NATO-Krieges im Kosovo noch nie dazu geeignet waren, Probleme zu lösen. Wenn nach dem Bombardement aus der Luft zur Bekämpfung der Bodentruppen per Kampfhubschrauber übergegangen wird, so ist die Ausweitung des konditionierten Demonstrationskrieges in einen unkontrollierbaren Bodenkrieg, in dem die NATO gezwungen sein wird, zwischen einem Vernichtungskrieg gegen die ganze serbische Bevölkerung oder einer Kapitulation zu wählen, bald nicht mehr aufzuhalten. Wenn die NATO-Strategen auch nur einen Funken rationalen Verstandes bewahrt hätten, dann müßten sie den  Krieg stoppen, bevor er sich zum Volkskrieg ausweitet. Bedauerlicherweise aber sieht zur Zeit alles so aus, als ob sich nicht die Vernunft, sondern die militärische Eskalationsogik durchsetzt.
Bleibt am Schluß noch die Auseinandersetzung mit dem, was Günther Bannas die Tragik der Pazifisten nennt, nämlich, daß sie angesichts der Gewalt eines „barbarischen Faschischen“ Schuld auf sich lüden, wenn sie schuldlos bleiben wollten. Mit dem Faschisten ist Miloševiç gemeint, wobei Herr Bannas den „barbarischen Faschisten“ aus unerklärlichen Gründen in Anführungsstriche setzt, unerklärlich deshalb, weil die FAZ sich mit dieser Klassifizierung des Serbenführers Miloševiç als „Faschist“ ganz und gar im Sprachgebrauch der NATO-Verlautbarungen aufhält:  Der deutsche Verteidigungsminister Scharping spricht nur noch von dem Kriegsverbrecher Miloševiç, der britische Außenmninister sieht die NATO in einem prinzipiellen „Kampf gegen das Böse“, Außenminister Joseph Fischer beschwört die Gespenster von Auschwitz.
Aber kann man das Böse bekämpfen, indem man die Menschen zum Guten zu zwingen sucht, wie seinerzeit die Kreuzritter? Diese Frage läßt mindestens ein so großes Dilemma deutlich werden, wie das der Pazifisten, die mit ansehen müssen, wie vor ihren Augen Terror verübt wird. Da ist die Frage, wessen Schuld größer ist, derer, die durch ihre pazifistische Haltung womöglich Terror zulassen oder derer, die vorhandenen Terror durch Gegenterror möglicherweise eskalieren, wohl kaum noch zu beantworten. Es bleibt nur eins, nach den Interessen zu fragen, die hinter den Handlungen der Menschen stehen, gleich, ob Pazifist oder nicht. Und was dies betrifft, erhebt sich am Ende aller humanitären Legitimationen dieses Krieges doch die Frage an die NATO: Warum wird Miloševiç ein Faschist genannt und bombardiert, aber andere Staatsoberhäupter, die ebenfalls für Völkermord, Vertreibungen oder die blutige Unterdrückung der Opposition im eigenen Lande verantwortlich sind, nicht? Erst wenn die NATO diese Frage beantworten würde, könnte sie glaubwürdig werden, aber dann wäre sie auch schon nicht mehr die NATO. Statt auf Einsichten in den Reihen der NATO, auch ihrer deutschen Teilhaber zu hoffen, bleibt nur das eigene, unbedingte Nein! zu einer gewaltsam hergestellten NATO-Weltherrschaft und das Ja! zu einem demokratischen, erneuerten Völkerbund, der einer sich wandelnden Welt vielfältigen Ausdruck verleiht.

Babuschka und ihre Töchter – Neue Kraft der Frauen oder alte Klischees? (Text)

Babuschka und ihre Töchter –
Neue Kraft der Frauen oder alte Klischees?

„Bei uns gibt es keinen Sex!“ Wer schmunzelt nicht in Erinnerung an diesen Ausbruch einer sowjetischen Teilnehmerin bei einer der ersten Telebrücken zwischen Rußland, damals noch Sowjetunion, und dem neu erschlossenen Westen? In der Empörung dieses Ausbruches spiegelte sich die ganze beschränkte sozialistische Moral, die sich zwar realistisch gab, der aber jeder Realismus in der Beziehung der Geschlechter verloren gegangen war.
Wer heute auf Rußlands Plätzen, bei Veranstaltungen oder bei Konzerten Jugendliche beobachtet, kann den Eindruck bekommen, eine Generation mit gänzlich neuen Verhaltensweisen wachse heran. Locker, offen, dem Vergnügen und dem Sex zugewandt geben sich die jungen Leute heute: Jungen scheuen sich nicht, auf offener Bühne zu tanzen, Mädchen treten selbstbewußt auf, schon im Teeny-Alter betont weiblich, ja kokett. Das Fernsehen prägt eine Jugendkultur, in der Frei-Sein, Schrill-Sein, Brechen mit der verstaubten Welt des Sowjetischen angesagt ist. Westlich zu sein, das scheint „in“. Ist das die Wirklichkeit?
Beginnen wir in den Schulen. Koedukation war sowjetischer Standard. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Dennoch beginnt sich ein Rollenbild in den Schulen zu etablieren,  von dem nicht sicher ist, was es bedeutet – die Wiederauflage vorsowjetischer Klischees oder eine Emanzipation ganz anderer Art, anders jedenfalls, als sie uns aus dem Westen vertraut ist.
In der Sowjetzeit herrschte das Gleichheitsgebot. Für die Beziehung von Männern und Frauen bedeutete das: Die Maskulinisierung der Frauen führte zur Übernahme schwerster Arbeiten durch sie. Die Verschiedenheit von Mann und Frau wurde geleugnet – zum Nachteil der Frauen, die bei gleichen Anforderungen die Folgen der tatsächlichen Unterschiede zu tragen hatten, nämlich Geburt, Erziehung, Pflege und Ausbildung der Kinder.
Befreit von diesem Gleichheitspostulat suchen Frauen und Mädchen Rußlands heute nach einer neuen Rolle. Wie sieht sie aus? Nehmen wir ein Beispiel, die Schule Nr. 10 in Nowosibirsk: Die Schule, obwohl keine der neuen privaten, gilt als besonders gut und modern, das heißt, westorientiert. Ohne ohne Scheu  geben Schülerinnen und Schüler mehrerer neunter Klassen Auskunft über ihre Beziehung zum anderen Geschlecht; es sind aber vor allem die Mädchen, die sprechen. An den Spruch vom Sex erinnert, der bei ihnen angeblich nicht vorkomme, brechen sie in Lachen aus. „Dafür gibt es nur e i n  passendes Wort“, erklären sie gelangweilt, ganz im neu-russischen Slang.: „Stupid!“ Natürlich gebe es „das“, versichern sie dann, allerdings ohne das Wort Sex auszusprechen. Man rede nur nicht darüber. Aber „das“ sei doch normal, bei ihnen nicht anders als in anderen zivilisierten Ländern auch.
Im übrigen betonen die Mädchen jedoch, daß ihre Beziehung zu den Jungen eine völlig andere als in Amerika sei:  In Rußland könne ein Junge ein halbes oder auch ein ganzes Jahr mit einem Mädchen gehen, ohne daß mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein müsse und ohne daß der Junge deswegen als „Versager oder so“ angemacht werde.
Sie habe kein Interesse an einem Jungen, der nur ihren Körper wolle, ist von einem der Mädchen zu hören. Die anderen pflichten ihr bei. Ein Mädchen sollte weiblich sein, finden sie, der Junge aber sollte sie nicht benutzen, sondern beschützen. Das sei seine Aufgabe als Mann. Die Jungen nicken dazu. Gefragt, ob sich in solchen Ansichten nicht die Klischees wiederholten, über die sie doch eben gerade noch gelacht hätten, antworten die Mädchen selbstbewußt: Natürlich nicht, denn heute seien Frauen wirtschaftlich nicht mehr von den Männern abhängig – als Mutter brauche die Frau aber nun einmal jemanden, der sie unterstütze.
Früh heiraten also, so wie es zu Sowjetzeiten üblich war? Gott bewahre! Nicht vor fünfundzwanzig! Erst das eigene Leben aufbauen! Früher habe man viel zu früh geheiratet, finden die Mädchen; früher habe man sich aber auch keine Sorgen um die Zukunft machen müssen. Man habe ja in einem sowjetischen Land gelebt, in dem noch von keinen Reformen die Rede gewesen sei. Heute dagegen müsse man sich erst wirtschaftlich absichern; danach komme alles andere. Emanzipation heißt für die Mädchen vor allem erst einmal: Abgrenzung vom sowjetischen Gleichheitsgebot. Heute gehe es den Frauen darum, ihren „echten weiblichen Platz“ wieder einzunehmen, dabei aber gleichberechtigt zu sein.
Der „echte weibliche Platz“, erklären die Mädchen, ist die Familie; und die Stellung in der Familie ist es, die das Recht der Frauen auf besondere Verehrung durch den Mann begründet. „Die Frau“, faßt ein Mädchen zusammen, wie  man eine wissenschaftliche Tatsache konstatiert, „ist ja effektiv die Herrin des Hauses, die Herrin der Familie; es geht nicht an, sie so stark zu belasten.“ Die Jungen schweigen dazu; sie haben dem offenbar nichts hinzuzufügen.

Im Direktorenzimmer der Schule wird bei einer Tasse Tee schnell klar, daß die Ansichten der neunten Klassen über Frauen und Männer nicht zufällig sind. Sie entspringen vielmehr den tiefsten Überzeugungen Natalja Raslawzewas, ihrer Direktorin, die mit Beginn der Reformen die Leitung der Schule Nr. 10 in Nowosibirsk übernommen hat.
Frau Raslawzewa gilt als reformfreudig und vorurteilsfrei. Seit sie Direktorin wurde, hat die Schule Nr. 10 den Ruf, ihre Zöglinge als freie, selbstbewußte Staatsbürger und -bürgerinnen zu entlassen, die auch im Ausland als Muster guter Erziehung gelten.
Das Verhältnis von Jungen und Mädchen hat für die Direktorin oberste Priorität. „Wir wollen die Frauen fraulich machen und die Männer männlich“ lautet die pädagogische Leitlinie, der sie folgt. Dafür hat die Schule, wie auch andere Schulen, die etwas auf sich halten, ein spezielles Programm, in dem den Mädchen Unterricht in Kosmetik, Kinderpflege und Kochen, den Jungen handwerkliche und technische Unterweisung, sowie Anleitung in Fragen des guten Benehmens gegeben wird. Sexualkunde ist selbstverständlich. Trotzdem werden die entsprechenden Stunden für Jungen und Mädchen getrennt gegeben. Man müsse die natürliche Scham achten, welche die Kinder mitbrächten, findet die Direktorin, man müsse sie allmählich vorbereiten. Später könne man ihnen dann sagen, daß Sexualität etwas Normales sei.
Letztlich, so die Direktorin, könne natürlich nur die Familie Männer und Frauen erziehen. Wenn ein Junge die Erniedrigung von Frauen in seiner Familie erlebe, dann werde in der Regel kein wohlerzogener Mann aus ihm. Aber die Schule habe eine große Bedeutung für die Korrektur; dafür gebe es viele Beispiele. Das Beispiel, das die Direktorin dann anführt, klingt für westliche Ohren höchst befremdlich, in Rußland kann man es heute überall hören, wo es um grundsätzliche Werte geht: „Wenn die Knaben hier in die Schule kommen“, sagt Frau Raslawzewa, „dann erzieht die Lehrerin sie so, daß sie beim Hineingehen in die Klasse den Mädchen die Tür aufhalten. Mit solchen sanften Schritten versuchen wir den Grund für die Verehrung der Frauen zu legen.“
Noch befremdlicher erscheinen die Argumente, mit denen Frau Raslawzewa die Notwendigkeit der Verehrung begründet: „Wir Frauen“, lächelt die Direktorin, „schaffen die Schönheit, schaffen die Harmonie zwischen den Menschen.“ Und weiter: „Die Frauen denken ja oft, ihre Aufgabe bestünde darin, den Mann umzukrempeln. Ich sage meinen Mädchen dagegen immer: Umkrempeln geht nicht – doch korrigieren kann man sie, allerdings korrigieren mit Milde, mit Liebe, mit Mitleid. Die Frau muß dem Mann die Augen öffnen für die Seiten des Lebens, die ihn veredeln, sie muß ihn erkennen lassen, wo er sich gut verhalten hat, damit er sich auch in Zukunft so verhält. Es kann auch sein, daß sie Probleme lösen muß, dem Mann das Gefühl geben muß, daß er stark und energisch ist.“
In Andschero-Sudschinsk, einem der schwärzesten Kohleorte im schwarzen, krisengeschüttelten Kusbass, antwortete ein fünzehnjähriges, wenig auffallendes, aber wohl recht intelligentes Mädchen auf die Frage, wie sie die Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen heute sehe, mit den Worten: „Er muß akzeptieren, daß ich höher stehe als er. Er muß mir zeigen, daß er mich verehrt und für mich zu sorgen imstande ist. Dann gehe ich mit ihm, anders nicht.“
Die Mutter stand dabei und nickte. Genau! Etwas anderes könne ein Mädchen niemals zulassen bei dem Elend heutzutage, da viele Männer sich einfach durchschleppen ließen.
Kehren wir zurück zu der Direktorin der Schule Nr. 10. Zwei Hauptprobleme für die heutigen Beziehungen der Geschlechter zueinander sieht sie: Das eine klingt ähnlich wie in Andschero-Sudschinsk: Oft könne man heute hören, erklärt Frau Raslawzewa, daß die Männer keine Männer mehr seien, sondern Waschlappen. Die Statistik stütze eine solche Sichtweise leider. Viele Männer seien heute nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu ernähren. Wie könne sich der Mann da noch als Herr der Familie fühlen? Für den Staat gelte dasselbe. Wer solle Politikern vertrauen, die nicht in der Lage seien, die Ernährung des Volkes sicherzustellen? Für die Frau aber öffne sich heute der Käfig, in dem sie vorher gelebt habe. Zwar würden die Frauen eher entlassen und die Männer seien in der Regel die Chefs, schränkt Frau Raslawzewa ein; die eigentlichen Träger der schöpferischen Energie sind ihrer Ansicht nach trotzdem die Frauen, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, außer in der Politik, beim Militär und in der Wirtschaft.
Aber selbst in der Wirtschaft findet die Direktorin die Frauen doch eigentlich besser: Da, wo sie es schafften sich durchzusetzen, seien sie die verständigeren Chefs,  solche, die die Dinge zu Ende brächten, die sehr genau seien, die aufmerksamer mit den Menschen umgingen als die Männer. „Und heute“, so Frau Raslawzewa,  „in diesem krisenhaften Zustand der Gesellschaft, bei dieser Geldnot, bei diesen sozialen Problemen, hat die Beziehung zum Chef eben eine gewaltiges Gewicht.“
Aber gerade weil die Rollen von Frauen und Männern sich heute derart verschieben, will die Direktorin, daß ihre Mädchen anders denken. Sie will, daß ihre Mädchen die, wie sie sagt,  prinzipiell unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft nicht einfach hinnehmen, sondern als Gesetz begreifen. „Sie sollen verstehen“, so Frau Raslawzewa, „daß Männer die schwere Arbeit nicht einfach auf sich nehmen, weil das eben so ist, sondern daß sie es aus Achtung für die Frauen tun, daß sie es tun, damit ihre Frau ruhig und angenehm leben kann.“
Ein zweites großes Problem sieht Frau Raslawzewa in dem, was sie, ganz in Übereinstimmung mit dem offiziellen Sprachgebrauch der Schulbehörden, die Feminisierung der Gesellschaft nennt: Diese Feminisierung resultiert daraus, daß das gesamte Pflege- und Bildungswesen in Rußland in weiblichen Händen liegt – angefangen bei der Geburt über die Versorgung in der Familie, den Kindergarten, die Schule, die Jugendkulturhäuser bis zur Hochschule. Hier erst nehmen Männer, dann aber schon als Spezialisten, die Kinder in Empfang, deren Charakter bis dahin vollkommen von Frauen gebildet wird – zumal die Männer aus ihrem traditionellen, im Sowjetstil noch verstärkten Verständnis heraus häusliche Pflege, Erziehung und Bildung für Frauensache halten. Wenn dann noch hinzukomme, so Frau Raslawzewa, daß der Junge in einer Familie ohne Vater aufwachse, dann verliere er seine Männlichkeit, dann beginne er, Probleme nach Frauenart zu entscheiden. Deshalb sehe sie ihre Aufgabe auch darin, dafür zu sorgen, daß die Jungen ebenfalls ihr Ich entdecken, daß sie das Bewußtsein erlangen könnten: „Ich kann etwas schaffen!“
Wie vorher schon ihre Schülerinnen, kann auch die Direktorin in den Rollen, die sie Männern und Frauen zuweist, keine Wiederholung alter Stereotypen erkennen. Natürlich müsse man heute nicht mehr so scharf zwischen männlichen und weiblichen Arbeiten unterscheiden wie früher, eher gehe es um menschliche oder unmenschliche Arbeiten, meint sie. Letztlich aber gebe es doch immer noch eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die nicht wegzudiskutieren sei, nämlich, so die Direktorin sachlich, „daß die Frauen die Kinder nicht nur bekommen, sondern in der Regel auch aufziehen. Behaglichkeit und Ruhe der Familie stellt die Frau her. In diesem Sinne unterscheiden wir eben doch. Das“, konstatiert Frau Raslawzewa, „ist eben der natürliche Faktor.“
Die Schule, faßt die Direktorin die offizielle pädagogische Linie von heute zusammen, solle die jungen Leute natürlich nicht nur zu Männern oder Frauen, sondern zu Persönlichkeiten erziehen, zu Menschen, die in der Lage seien, in der Gemeinschaft zu leben. So ist es auch in den Grundsätzen der russischen Schulreform von 1992 zu lesen. Aber in der russischen Geschichte, fügt  Frau Rsalawzewa hinzu, habe sich doch immer wieder die grundlegende Bedeutung des weiblichen Prinzips erwiesen. In dessen Betonung liege so etwas wie ein Geheimnis der russischen Nation verborgen. Diese Weiblichkeit, diese Mütterlichkeit werde das russische Volk wohl immer mehr als andere Völker betonen und es sei wichtig, die Männer dazu zu erziehen. Andernfalls drohe eine Brutalisierung der Gesellschaft wie sie sich in der Männerkultur der Mafia oder auch in Kriegen wie dem tschetschenischen bereits ausdrücke.
Obwohl sie doch selbst eine Frau sei, die es liebe, frei und selbstbestimmt zu arbeiten, fügt die Direktorin zuguterletzt noch hinzu, verzichte sie lieber auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wenn dadurch der Mann seine Rolle als Ernährer der Familie wieder wahrnehmen könne. Nur so sei eine stabile Familie und damit eine Stabilität der Gesellschaft erreichbar.

So extrem diese Positionen erscheinen mögen, sowohl die der Jugendlichen als auch die der Direktorin, sind sie doch typisch für die Situation an den heutigen Schulen und Ausbildungsinstituten, gleichgültig  ob staatlich oder privat. Nur ein paar Straßenzüge weiter sind dieselben Töne beispielsweise in der freien Theaterschule „Smile“ (Aussprache: englisch) zu hören, einer der vielen sogenannten Ergänzungsschulen, in denen Kinder heute zusätzlich zum Hauptunterricht an staatlichen Schulen in musikalischen, choreographischen, sportlichen oder sonstigen weiterführenden Fächern ausgebildet werden können. Auch die karrierebewußten jungen Frauen, die aus solchen Schulen hervorgehen, fühlen sich düpiert, wenn ihnen die Türen nicht aufgehalten werden.
Nichts anders in den Dorfschulen Sibiriens, ebenso an der Wolga oder auch in Moskau: Eine gesunde Familie als Basis eines gesunden Staates; der Mann als Ernährer, die Frau als Pflegerin und Bewahrerin, die gemeinsam an den Wiederaufbau des Landes gehen – das ist das schulische Erziehungsideal im heutigen Rußland. Die Krise des Mannes in seiner Rolle als Oberhaupt der Familie wird dabei ebenso als Problem beschrieben, das es zu lösen gilt, wenn die nachkommende Generation nicht verderben soll,  wie die Feminisierung der Bildung.
Aber nicht nur in den Schulen, sondern überall, wo Frauen sich versammeln, ist dieser Grundton zu hören. Auf großen Kongressen, wie denen aus Anlaß des Weltfrauentages, bei kleineren Versammlungen in örtlichen Kulturhäusern quer durchs ganze Land, die meist von Frauen geleitet werden, in informellen Organisationen, die als dritter Sektor inzwischen die Lücke füllen, welche durch den Zusammenbruch der staatlichen sozialen Netze entstanden ist, versammeln sich Frauen, um die Bewältigung der Krise in die eigenen Hände zu nehmen.
Sie tun es, weil die Männer von sich aus dazu nicht in der Lage seien, oder – von manchen Frauen auch schärfer formuliert, weil die Männer mit ihrer Art und mit ihren Mitteln die Krise nur noch vertieften.
Nach Angaben aus dem „Zentrum für Geschlechterforschung der russischen Akademie der Wissenschaft“ ging das Angebot von Dienstleistungen für die Bevölkerung im Umbruchjahr 1991 auf ca. ein Drittel des Standes vor Perestroika zurück; 1992 halbierte sich dieses Drittel noch einmal und von diesem Rest gingen seither noch einmal zwei Drittel verloren. Da bleiben nach Adam Riese rund 5% des Standes von der Zeit vor Perestroika. Das mag übetrieben erscheinen, die rundum im ganzen Lande erfolgte und sich immer noch fortsetzende Schließung von Kindertagesstätten, von Pionier-, Kultur-, Ferien- und Kinder- und Seniorenhäusern und nicht zuletzt der Mehrheit der „stolowajas“, der öffentlichen Kantinen in Sowchosen, Kolchosen, Betrieben und Stadtteilen gibt der Zahl ihre reale Dimension. Dazu kommt der Zusammenbruch des kommunalen Fürsorgenetzes, der medizinischen und der Altersversorgung. Verbunden mit Inflation, mehrfacher Abwertung und explodierenden Preisen entstand eine Situation, die vor allem zur Lasten der Frauen geht, die sich als Mütter in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gekannten Maße wieder an Haus oder Wohnung gebunden sehen.
Dennoch: Nicht gegen die Männer, sondern mit ihnen will die Mehrheit der Frauen ihren Weg gehen. Nach ihrer Strategie befragt, zitiert die Mehrzahl der Frauen irgendwann  im Verlaufe der Gespräche mit geradezu vorhersagbarer Sicherheit und hintergründigem Lächeln die alte russische Redewendung: „Der Mann ist das Haupt der Familie, die Frau ist der Hals, wohin der Hals sich wendet, dahin muß der Kopf folgen.“
Das gilt auch für die Organisatorinnen und Aktivistinnen von Frauenversammlungen. Nehmen wir Marina Tjasto. Sie ist zuständig für Auslandskontakte der staatlichen Verwaltungsfachhochschule in Nowosibirsk, einer der hochangesehenen Kaderschmieden der neuen Bürokratie. Frau Tjasto ist eine kämpferische Frauenrechtlerin. Sie ist häufig im Westen, sie pflegt beste Kontakte zu den dortigen Frauengruppen. Aber klar setzt sie sich vom Feminismus westlicher Prägung ab. Nicht nur als gleichberechtigter Kumpel, sagt sie, als Frau möchte sie geachtet und verehrt werden. „Das andere“ befindet sie leicht ironisch, „hatten wir schon. Wir kämpfen nicht gegen die Männer“, erklärt sie, „wir wollen nichts zerstören. Es reicht bereits, es ist ja schon alles zerstört! Wir wollen unsere weibliche Energie konzentrieren, um die Krise zu überwinden. Wir wollen jetzt bewahren, was noch ist, es stärken und Neues aufbauen. Dann wird es gehen.“ Darin sind andere Aktivistinnen bis auf wenige Ausnahmen mit ihr einig.

Wie dieser Einsatz konkret ausssieht, ist exemplarisch bei Frauen, Müttern, Töchtern, Schwestern und Großmüttern von Trinkern zu beobachten, die ihre Männer, Söhne, Brüder und Väter heute massenhaft zu Entziehungskuren bringen, welche Ärzte aus den nahen Städten nach neuesten, aus Amerika eingeführten Methoden anbieten. Neunzig Prozent der Trinker in Rußland sind Männer. Alkoholismus ist in Rußland mehr als anderswo eine Männerkrankheit. Die neue Zeit treibt viele Männer noch tiefer in den Suff als früher, andererseits verlangt sie Nüchternheit für den hart gewordenen Kampf um die wenigen guten Arbeitsplätze. Achtzig Prozent der Dorfbevölkerung hängen an der Flasche. Ein hoher Prozentsatz geistig gestörter Kinder ist die Folge. Die Last liegt bei den Frauen. „Kartoffeln, Garten, Kinder, Mann – mein Gott, eben alles – das machen wir“, sagen sie.
In den Familien haben die Frauen heute das Kommando. Sie organisieren den Alltag. Von ihrer Improvisationsgabe hängt oft das Überleben der Familie ab, während die Männer durch die Tatsache, daß sie ihre Rolle als Ernährer nicht mehr ausfüllen können, in ihrem Selbstwertgefühl so verletzt sind, daß sie in Lethargie und Suff verfallen.
Wohl den Familien, ob mit männlichem Familienoberhaupt oder nicht, die noch eine Babuschka, eine Großmutter haben oder gar zwei. Babuschka versorgt die Kinder, während die Mütter arbeiten. Babuschka lebt auf der Datscha, solange es die Witterung erlaubt, wo sie die Grundversorgung der Familie durch den Anbau von Kartoffeln, Kohl und anderem sichert. Manch eine der Alten ist mit ihrer Pension, obwohl deren Höhe kaum nennenswert ist, sogar noch der Finanzier der Familie. Frauen, muß man dazu sagen, werden auch in Rußland im Schnitt älter als Männer. Die Familie wurde zur Not- und Überlebensgemeinschaft, die von Frauen geführt wird. Sie ist der letzte Halt in einer auseinanderfallenden Gesellschaft.
Je tiefer man ins Land hineinkommt, um so öfter hört man die Redewendung vom Mann, der das Haupt und der Frau, die der Hals sei. Das klingt verdächtig konservativ; russische Ohren hören darin jedoch zunächst nicht mehr als eine gültige Lebensweisheit, die durchaus nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke der Frauen spricht, die in ihrer Schwäche liege. Je mehr sich der Sachverhalt, der in dem Sprichwort beschworen wird, in der neuen Zeit allerdings von der Realität zu entfernen droht, um so mehr tritt die Gefahr hervor, daß die einfache Volksweisheit sich in ein konservatives Dogma verwandelt, welches einem vom Westen her drohenden Sittenverfall entgegengestellt wird wie seinerzeit die Behauptung, in der Sowjetunion gäbe es keinen Sex. Beispiele für solche Haltungen gibt es genug. So etwa die Dichterin Subota aus Perm, eine Matrone alten sowjetischen Stils, heute Mitglied einer Partei der Ethik, in der die sogenannten alten Werte beschworen werden; Frau Subota scheut sich nicht, einem westlichen Journalisten ins Mikrofon zu diktieren, die Geschichte habe die Russen zu einem kriegerischen Volk werden lassen; das bedeute: starke Frauen, die oft den Platz ihrer Männer einnehmen müßten, Mütter, die ihre Söhne zu wehrhaften Männern erzögen, um sich gegen die beständige Bedrohung von außen zu verteidigen.
Solche Reden passen zu jenen Denkmälern aus der Sowjetzeit, die noch heute an manchen Orten zu sehen sind: Mütter, die ihre Söhne herrisch hinaus an die Front weisen. Die Mutter als Über-Ich der Gesellschaft, die deren moralische Werte bewacht.
Gegen eine solche Fixierung ihrer Rolle wehren sich die jungen Mütter von heute jedoch entschieden. Da ist Natalja, Politologin aus Kemerowo im Kusbass, die sich, fünfundzwanzigjährig, als Mutter von zwei Kindern nach fünf Ehejahren von ihrem Mann trennt, weil er ihr keine eigene berufliche Entwicklung zugestehen will. Da ist Tanja, Massageärztin aus der Kohlestadt Borodino im Gebiet Krasnojarsk, die lieber alleinerziehende Mutter sein möchte, als einen Mann zu heiraten, den sie mit ernähren müßte. Da ist Lena, Dozentin der Wirtschaftswissenschaften aus Tscheboksary an der Wolga, Mutter eines Kindes,  verheiratet, die es vorzieht, bei ihrer Mutter zu leben und dort hin und wieder ihren Mann zu Besuch zu empfangen. Da sind Olga, Tatjana, Mila aus Moskau und St. Petersburg und viele andere, die nach früher Hochzeit als siebzehn- oder achtzehnjährige zwar weiter mit ihren Männern und Kindern in einer engen Wohnung zusammenleben; deren Ehe aber keine Liebes-, sondern nur noch eine Versorgungsgemeinschaft ist.
Das betrifft zunächst  einmal die gemeinsame Wohnung. Ohne Ehe war in der Vergangenheit keine eigene Wohnung zu bekommen und selbst manches frisch verheiratete Paar mußte nach lange warten. Immerhin überließ man ihnen in der elterlichen Wohnung dann wenigstens ein Zimmer, oft auch nur einen abgeteilten Verschlag. Für Dollars ist heute vieles möglich. Aber Singles, Frauen oder Männer, die allein in freigewählten Wohngemeinschaften zusammenleben, sind nach wie vor Exotik. Was es gab und nach wie vor gibt, sind die „Kommunalkas“, staatlich bewirtschaftete Großwohnungen, Zwangswohngemeinschaften, aus denen herauszukommen aber allein schon ein Grund für das Zusammenrücken in einer Ehe ist.
Die russische Gesellschaft, soweit sie die Gemeinschaft vieler Völker ist, hat recht unterschiedliche Formen des Zusammenlebens entwickelt, die von den europäischen Formen der Kleinfamilie bis zur nomadischen Sippe reichen;  insofern verbieten sich Pauschalisierungen. Eines aber ist allen Völkern Rußlands gemeinsam: Der Raummangel! Vom Dorfhaus einer tschuwaschischen, baschkirischen oder tatarischen, ebenso aber auch einer russisch-sibirischen Familie, wo in einem durch Tuchwände unterteilten Blockhaus drei Generationen zusammenleben, bis zur engen Zweizimmerzelle im Fertigbau-Hochhaus, in der mindestens zwei, manchmal aber auch drei Generationen einander aushalten müssen, besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied. Das ist erstaunlich in einem Land, das in die Vorstellungswelt der Völker als Synonym für Weite eingegangen ist
Viele Erklärungen sind dafür möglich: Die nomadische Tradition vieler heute zu Rußland gehörender Völkerschaften, bei der man zwar umherzieht, aber im Zelt oder in der Blockhütte eng zusammenrückt; die dauernde Bedrohung durch das Klima, durch fremde Stämme, durch den übermächtigen Staat; die schlichte Not der hörigen, später schlimmer noch, der befreiten und in die Stadtwüsten verschlagenen Bauern; schließlich auch einfach die Angst vor der Weite, welche die Familien am Feuer und im einzigen geheizten Raum zusammenkriechen läßt.
Unter den heutigen Bedingungen, die den Versorgungsdruck existenziell verschärfen, wandelt sich die Zweckfamilie zur Keimzelle für eine Art des sozialen Zusammenlebens, in der die archaische Gruppenehe zu neuer Bedeutung heraufwächst: Das Kollektiv aller wirtschaftlich und verwandtschaftlich aneinander Gebundenen bildet einen Lebenszusammenhang, in dem alle versorgt sind. Liebesbeziehungen können damit identisch sein, müssen es aber nicht. Statistische Angaben über Eheschließungen und Scheidungsraten haben vor diesem Hintergrund wenig Aussagekraft. Sicher ist nur, daß der Wunsch vieler, vor allem junger Frauen nach stärkerer persönlicher Verwirklichung der Stärkung der familiären Zweckgemeinschaft, wie sie gerade durch die Frauen getragen und gefordert wird, hart gegenübersteht. Was daraus erwächst, ist offen.
Diese Unsicherheit bringt schließlich noch Irina, die Analytikerin, auf den Plan. Irina ist eine von den Frauen, die der Frage, wie sich die Beziehung der Geschlechter zueinander heute verändert, auch theoretisch zu Leibe rückt. Irina, selbst Mutter von zwei Kindern, verheiratet, ist leitende Ärztin einer neuen psychoanalytischen Klinik in Nowosibirsk. Ihrer Ansicht nach ist es nötig, die Rolle genauer anzusehen., welche die Mutter, die große Mama, die Versorgerin der Familie heute in Rußland spielt. Die Überzeugung von der Notwendigkeit dieser Fragestellung hat sie in ihrem Berufsalltag gewonnen, in dem sie seit Eröffnung ihrer Praxis Anfang der Neunziger mehr und mehr auf Psychosen trifft, die daraus resultieren, daß Menschen sich nicht von ihrem Elternhaus lösen können. Auf der Suche nach Erklärungen dafür stieß sie zunächst auf die Theorien Freuds. Je mehr sie sich aber mit Freud beschäftigte, um so weniger konnte dessen patriarchaler Ansatz ihr erklären. Entscheidender als die Abhängigkeit vom Vater, erschien ihr die vonm der Mutter: „Es fängt bei der Geburt an“, so Irina, „über die ganzen Stationen unserer von Frauen getragenen Erziehung und geht bis zu dem jungen neuen Geschäftsmann, der sich nicht von der Mama lösen kann, die ihm beigebracht hat, daß Geschäfte zu machen unmoralisch sei. Ja, es gibt bei uns dies Verständnis von `Matj´, der großen Mutter.“ Vieles in Rußland erkläre sich von daher, so Irina, und so habe sie schließlich begriffen, daß sie zwar in einer patriarchalen Welt lebe, daß diese in Wahrheit aber matriarchal sei. „Ja, im Grunde“, spitzt Irina ihre Erkenntnis zu, „haben wir ein Matriarchat bei uns, nur formal ist ein Patriarchat darauf aufgebaut.“
Doch auch die Analytikerin setzt nicht auf Konfrontation. Ihr geht es nicht darum, ein Patriarchat durch ein Matriarchat zu ersetzen. Auch sie will den Geschlechterkrieg durch gegenseitiges Verständnis überwinden, ohne dabei die Unterschiede zu leugnen. Eine gesunde Entwicklung, so Irina, könne es nur geben, wenn die Gewalt der Urbeziehung zwischen männlichen und weiblichen Prinzipien erkannt und berücksichtigt werde. Ob in solchen Erkenntnissen die Möglichkeit liegt, den Pendelschlag von der sowjetischen Gleichmacherei zur nachsowjetischen Differenzierung, von einer Leugnung der Weiblichkeit zum Weiblichkeitskult unbeschadet zu überstehen und daraus auch noch neue Perspektiven zu gewinnen, ist ebenso wie die gesamte gesellschaftliche Entwicklung Rußlands eine offene Frage. Von ihrer Beantwortung, das ist gewiß, wird die Zukunft Rußlands aber mindestens so sehr abhängen wie von der Wahl des nächsten Präsidenten.

Babuschka und ihre Töchter – neue Kraft oder alte Rolle der Frauen?

Rußland befindet sich in einem tiefen Umbruch. Er macht auch vor der Beziehung zwischen Männern und Frauen nicht halt. Die Frauen bewältigen die Hauptlast des Alltags. Damit liegt die Krise vor allem auf ihren Schultern. Werden sie damit tiefer in alte Rollen gedrückt oder wachsen ihnen neue Kräfte und neue Möglichkeiten zu?

Kai Ehlers berichtet aus dem Lande.

O-Ton 1: Platzmusik, schneller Tanz        1,20
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, nach Erzähler hochziehen, danach allmählich abblenden

Erzähler:
Platzkonzert im zentralen Kulturpark in Nowosibirsk, Tag des Wissens. Es wird gefeiert. Jungen und Mädchen aller Altersstufen haben sich vor der Bühne versammelt, viele der Jungen im Anzug, die kleineren Mädchen mit Schleifen, die älteren in hellen Blusen und Rock, manche auch in Hosen, alle aber sonntäglich und modisch herausgeputzt. Bereitwillig folgen sie den Aufforderungen des Animateurs zum Gruppentanz vor der Bühne. Einige Jungen sind zur Bühne hinaufgeklettert und tanzen vor aller Augen um die Wette. Die Mädchen agieren aktiv, selbstbewußt, schon die jüngsten Teenies geben sich betont weiblich, nicht selten geradezu kokett. Selbst neugierige Fragen eines Ausländers bringen sie nicht aus der Fassung. Der Tag des Wissens ist für sie ein tolles Fest! Einfach Klasse! Früher habe es das nicht gegeben!

Regie: kurz hochziehen, allmählich abblenden

Mein Begleiter, Pawel, praktizierender Psychologe, hat seine siebenjährige Tochter zu dem Konzert geführt. Er kann seine Überraschung nicht verbergen:

O-Ton 2: Psychologe        0,22
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, am Ende hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Ja udiwlon…
„Ich bin verblüfft, so etwas war nicht möglich, als wir jung waren. Daß da Jungs und Mädchen gemeinsam in einem Kreis gehen, Hand in Hand und daß sie dann so offen da tanzen. Das ist eine vollkommen andere Generation. Ich bin sehr verblüfft. Oij, schau! Wie das losgeht.“
… chaditje na galowje…

Erzähler:
Pawel hat recht. Wer Festtage dieser Art aus Sowjetzeiten kennt, muß erstaunt sein über die Ungezwungenheit, mit der Jungen und Mädchen sich heute öffentlich begegnen. Wächst eine Generation mit neuen Vorstellungen heran?

O-Ton 3: Kinder, Klasse, Stimmengewirr         0,32
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler abblenden,

Erzähler:
In der Schule Nr. 10, ebenfalls in Nowosibirsk suchen wir nach einer ersten Antwort auf diese Frage. Die Schule, obwohl keine der neuen privaten Anstalten, hat den Ruf, besonders gut und modern zu sein.
Ohne Scheu  geben die Mädchen der Klasse 9 Auskunft über ihre Beziehung zu den Jungs. Der inzwischen oft zitierte Ausspruch „Bei uns gibt es keinen Sex“, den eine empörte sowjetische Teilnehmerin bei einer der ersten einer TV-Brücken Ende der 80ger zwischen Rußland und dem Westen seinerzeit prägte, entlockt ihnen nur ein fröhliches Lachen:

O-Ton 4: Mädchen, Lachen        0,58
Regie: O-Ton kommen lassen, bis „Studpid“ stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler (bei 0,28) vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Lachen…
„Im Englischen gibt es dafür ein Wort: Stupid!“, faßt eins der Mädchen die Meinung aller zusammen: „Natürlich gibt´es das.“ Sie meint Sexualität. „Man spricht nur nicht darüber.“

Regie: bei „…nje gaverjat“ vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Im übrigen, beeilen sich die Mädchen zu betonen, sei ihre Beziehung zu den Jungs aber eine völlig andere als in Amerika. Bei ihnen könne ein Junge ein halbes Jahr oder auch ganzes mit einem Mädchen gehen, ohne daß mehr als Freundschaft zwischen ihnen sein müsse und ohne daß der Junge deswegen angemacht werde, „als Versager oder so.“ Ja, führt eins der Mädchen aus, sie habe kein Interesse an einem Jungen, der nur ihren Körper wolle. Die anderen stimmen ihr zu. Ein Mädchen sollte weiblich sein, finden sie, der Junge sollte sie beschützen. Das sei seine Aufgabe als Mann.
… peregat djewuschku.“

Erzähler:
Gefragt, ob sich in solchen Ansichten nicht die Klischeés widerholten, über die sie gerade so gelacht hätten, antwortet eines der Mädchen:

O-Ton 5 Mädchen, Forts.         0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler
kurz hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Setschas ja saglasna…
„Heute, darin stimme ich zu, sind Frauen nicht unbedingt von Männern abhängig. Auch für Rußland gilt: Jede Frau kann heut leicht dreimal soviel verdienen wie irgendein Mann. Das ist kein Geheimnis, vorausgesetzt, es gibt überhaupt Arbeit. Das ist aber nur die wirtschaftliche Seite. Trotz allem braucht die Frau als Mutter doch jemanden um sich, der sie stützt, vor allem in den ersten sechs, sieben Jahren.“

Erzähler:
Früh heiraten also? Gott bewahre, wehren die Mädchen ab, nicht vor fünfundzwanzig. Erst das eigene Leben aufbauen! Früher habe man viel zu früh geheiratet. Ihre Eltern zum Beispiel. Die hätten sich damals einfach keine Sorgen über die Zukunft gemacht. Sie hätten ja in einem sowjetischen Land gelebt, in dem noch von keinen Reformen die Rede gewesen sei. Heute dagegen müsse man sich erst einmal wirtschaftlich absichern. Dann komme alles andere.
…materialna i..“

Erzähler:
Weibliche Aufgaben, männliche Aufgaben? Platz der Frau? Was verstehen die Heranwachsenden darunter? Bei einer weiteren Gesprächsrunde in einer der Parallelklassen, an der auch zwei Jungen teilnehmen, meint ein Mädchen:

O-Ton 6: zweite Mädchenrunde        0,23
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Mnje kaschetsja, we naschem stranje…
„Mir scheint, in unserem Land ist die Emanzipation geringer entwickelt als in anderen Ländern, wie etwa in Europa oder noch mehr in Amerika. Zur gleichen Zeit gelten die Frauen bei uns aber mehr. Nicht, daß sie mehr Wert wären, aber man begegnet ihnen mit Verehrung, milder, nicht so schroff wie den Männern. Aber natürlich hat da auch jeder Erwachsene seine eigene Art.“
…prostupki sami.“

Erzähler:
Eine anderes Mädchen aus der Runde ergänzt:

O-Ton 7: Mädchen, Forts.         0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, prosta ransche…
„Nun, früher, in den letzten siebzig Jahren war die Frau einfach sehr beladen. Sie wurde in eine Reihe mit den Männern gestellt. Sie mußte Leistungen vorweisen – ja, wie ein Mann, dieselbe Arbeit, manchmal sogar schwerer. Jetzt müht sie sich einfach darum, wieder auf ihren echten weiblichen Platz zu kommen, gleichzeitig aber gleichberechtigt zu sein. Doch eben nicht auf allen Gebieten: Sie will keine Schienen mehr verlegen, sie will etwas Interessantes tun. Sie braucht ja wohl genauso viel Freiheit.“
… stolka sche.“

Erzähler::
Auf nochmaliges Nachfragen, was denn der echte weibliche Platz sei, antwortet eines der Mädchen schließlich:

O-Ton 8: Mädchen, Forts.         0,59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin (bei 0,22) kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, wot, napremjer tschas…
„Nun, heute suchen viele Frauen Arbeit: Einige versuchen, ihre Ziele ohne Hilfe von Männern zu erreichen, andere, wenn die Familie etwas wohlhabender ist, können, aufhören zu arbeiten und sich zu Hause mit den Kindern beschäftigen, wenn es die familiären Verhältnisse erfordern. Das ist heute möglich.“

Regie: bei …vasmoschnost“ zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Möglich ist das, seit die Arbeitspflicht aufgehoben ist, welche die Frauen, ob sie wollten oder nicht, nach anderthalbjähriger Schonfrist wieder an den Artbeitsplatz brachte. „Frauen nehmen sich heute das Recht selbst am Steuer zu sitzen, Ingenieure, Direktoren zu sein und doch als Frauen verehrt zu werden“, ergänzen die anderen Mädchen noch. Die Jungen schweigen. Sie haben den Ausführungen ihrer Mitschülerinnen offenbar nichts hinzuzufügen. „Die Frau“, stellt eines der Mädchen schließlich fest, „ist ja effektiv die Herrin des Hauses, die Herrin der Familie; es geht nicht an, sie so stark zu belasten.“
… silna nagruschatj.“

Erzähler:
Im Direktorenzimmer, bei einer Tasse Tee, wird schnell klar, daß die Ansichten der Neunklässlerinnen über Frauen und Männer keine zufälligen sind. Sie entspringen vielmehr den tiefsten Überzeugungen Natalja Raslawzewas, ihrer Direktorin, die mit Beginn der Reformen die Leitung der Schule übernommen hat. Das Verhältnis von Jungen und Mädchen hat für sie im Schulunterricht oberste Priorität::

O-Ton 9: Direktorin der Schule Nr. 10        1.03
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Besoslowna, swoij  rabote my…
„Selbstverständlich widmen wir dieser Frage große Aufmerksamkeit. Ohne das geht es überhaupt nicht. Wir wollen die Frauen fraulich machen und die Männer männlich. Die Sache ist doch,  die Welt wurde so interessant: Frauen gehen in Männerkleidung, haben sich die harten Manieren von Männern angewöhnt. Das muß man nicht bekämpfen, das muß nicht sein. Jeder muß schließlich seine persönliche Entwicklung machen. Aber wir führen doch ein spezielles Programm durch; darin gibt es die Fächer Kosmetik, Pflege des Kindes, Frisierfragen, Kulinarien. Das heißt, wir begreifen natürlich sehr gut, daß letztlich nur die Familie Männer und Frauen erziehen kann. Wenn ein Mann typische, erniedrigende Haltungen gegenüber Frauen in seiner Familie erlebt, dann gehen daraus in der Regel keine gut erzogenen Männer hervor. Die Schule hat deshalb eine riesige Bedeutung für die Korrektur der Werte. Ich habe viele Beispiele dafür. Nur eins: Wenn die Knaben hier in die Schule kommen, dann erzieht die Lehrerin sie so, daß sie beim Hineingehen in die Klasse den Mädchen die Tür aufhalten. Also, mit solchen sanften Schritten versuchen wir die Verehrung für die Frauen anzulegen.“
… odnaschennije genschin.“

Erzähler:
Sexualkunde ist für Frau Raslawzewa selbstverständlich, ebenso wie Koedukation. Die Direktorin ist eine Verfechterin der Koedukation. Trotzdem sind die entsprechenden Fächer für Jungen und Mädchen zum Teil getrennt. Natürlich, findet Frau Raslawzewa. Natürlich? Warum?

O-Ton 10: Forts. Direktorin        0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Potamuschto we schkolje…
„Weil in der Schule Kinder verschiedenen Alters sind. Und um ein Gespräch mit ihnen über Sexualität zu entwickeln, müssen sie erst vorbereitet werden. Man muß die natürliche Scham achten, welche die Kinder erst einmal
mitbringen. Danach kann man ihnen sagen: Das ist normal, daß ihr euch mit sexuellen Fragen beschäftigt, darüber nachdenkt, den Mädchen den Hof macht; das ist das Leben. Wir sprechen sehr oft hier bei uns – in den höheren Klassen auch im Fach Philosophie, das ich selbst gebe – über den Menschen, über die Seele, über die Lage der Gesellschaft. Natürlich sprechen wir zuallererst darüber, damit fange ich sogar an, daß der Mensch ein biologisches Wesen ist, und zweitens, daß es Männer und Frauen gibt. Denn das ist doch so ein Unterschied, physiologisch, geistig, moralisch, ein so gigantischer Unterschied.“
… gigantskaja rasniza.“

Erzähler:
Im Rußland, so skizziert Frau Raslawzewa die Lage, sind die Männer die Chefs. Die eigentlichen Träger der schöpferischen Energie aber sind die Frauen, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, außer in der Politik, im Militär und in der Wirtschaft. Letzteres ist nach Ansicht der Direktorin aber nur noch ein Tribut an die Tradition. In Wirklichkeit seien die Frauen auch auf dem Gebiet der Wirtschaft heute besser:

„O-Ton 11: Direktorin, Forts.        0,22
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzerin:
„Potamuschto ja snaju…
„Ich weiß doch, daß Frauen die verständigeren Chefs sind. Sie bringen die Dinge in der Regel zu Ende, sie sind sehr genau. Sie gehen aufmerksamer mit den Menschen um als die Männer. Und heute, in diesem krisenhaften Zustand der Gesellschaft, bei dieser Geldnot, bei diesen sozialen Problemen, spielt die Beziehung zum Chef eine gewaltige Rolle.
… imejet agromni snatschennije“

Erzähler:
Frau Raslawzewas Begründung für ihre Sicht der Dinge kommt sanft aber bestimmt:

O-Ton 12: Direktorin, Forts.         0,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„My swje jenschnini…
„Wir Frauen schaffen die Schönheit, die Harmonie zwischen den Menschen. Die Frauen denken oft, ihre Aufgabe bestünde darin, den Mann umkrempeln, wenn sie sich begegnen. Ich sage meinen Mädchen immer: Umkrempeln geht nicht – aber korrigieren kann man sie Doch korrigieren mit Milde, mit Liebe, mit Mitleid. Die Frau muß ihm die Augen öffnen für die Seiten des Lebens, die den Mann veredeln, sie muß ihm zeigen, wo er sich gut verhalten hat, damit er sich in Zukunft weiter so verhält. Kann auch sein, daß sie Probleme lösen muß, dem Mann zeigen muß, daß er stark und energisch ist.“
… tscho on silni o napori.“

Erzähler:
Zwei Hauptprobleme sieht die Direktorin: Zum einen könne man heute oft hören, daß die Männer unfähig seien, kein Geld mehr nach Hause brächten, überhaupt, keine Männer mehr seien, sondern Waschlappen. Objektiv stimme das natürlich, bedauerlicherweise, zu Hause, wie auch im Staat.
Die Statistiken, die Frau Raslawzewa dazu zitiert, stützen solche Sichtweise. Obwohl Frauen die ersten sind, die bei Rationalisierungen vor die Tür gesetzt werden, ist es doch so, daß viele Männer heute nicht mehr in der Lage sind, die Familien zu ernähren. Diese Familien leben vom Einkommen der Frauen, die noch Arbeit haben oder einfach nur von deren Improvisationsgeschick. Wie könne sich der Mann da noch als Herr der Familie fühlen? fragt die Direktorin. Für den Staat gelte dasselbe. Für die Frau aber öffne sich der Käfig, in dem sie vorher gelebt habe. Dennoch, so Frau Raslawzewa, möchte sie, daß ihre Mädchen anders denken:

O-Ton 13: Fortsetzung Direktorin        0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

„Übersetzerin:
„Ja by chatila…
„Ich möchte daß sie, die unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft wirklich verstehen. Sie müssen begreifen, daß Männer die schwere Arbeit nicht einfach so auf sich nehmen, weil es eben so ist, sondern daß sie es aus Achtung für die Frauen tun, daß sie es tun, damit die Frau in einer behaglichen, ruhigen Welt leben kann. Das ist sehr wichtig. „
… eta otschen waschna.“

Erzähler:
Ein zweites großes Problem sieht Frau Raslawzewa in dem, was sie die Feminisierung der Gesellschaft nennt:

O-Ton 14: Fortsetzung Direktorin        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu. I wtaroje…
„Wir haben ein gigantisches Problem der Feminisierung in unserer heutigen Gesellschaft, weil die Jungs von der ersten bis zur letzten Klasse von Frauen erzogen und ausgebildet werden. Stellen Sie sich eine Familie ohne Vater vor: Die Mutter ist zu hause, der Junge lebt beständig im Rahmen weiblicher Stimmungen; wenn dann noch Hysterie dazukommt, dann ist das Leben nur noch schwer. Was wird aus Ihm? Er versteht das Leben nur gefühlsmäßig, wie Frauen. Er verliert seine Männlichkeit. Er beginnt, Probleme wie Frauen zu entscheiden. Ich sehe meine Aufgabe darin, dafür zu sorgen, daß auch die Jungs ihr Ich entdecken, daß sie wissen: Ich kann etwas schaffen! Nicht nur Geld, überhaupt! Das ist auch sehr wichtig.
…tosche otschen waschna.“

Erzähler:
Wie vorher schon ihre Schülerinnen, kann auch Frau Raslawzewa in den Rollen, die sie Männern und Frauen zuweist, keine Wiederholung alter Stereotypen erkennen. Man könne lange darum herum reden, meint sie. Natürlich müsse man heute nicht mehr so scharf zwischen männlichen und weiblichen Arbeiten unterscheiden wie früher, eher gehe es um menschliche oder unmenschliche Arbeiten. Letztlich aber gebe es doch eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die nicht wegzudiskutieren sei:

O-Ton 15: Forts. Direktorin        0,22
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nje, kak prawilna…
„In der Regel ist es doch so, daß die Frauen nicht nur die Kinder bekommen, sondern sie auch aufziehen; Behaglichkeit und Ruhe der Familie stellt die Frau her. In diesem Sinne unterscheiden wir eben doch. Das ist vor allem ein natürlicher Faktor, versteht sich.“
…prirodni Faktor, konjeschna.“

Erzähler:
Die Schule, faßt Frau Raslawzewa ihre pädagogische Mission am Schluß dieses langen Gespräches zusammen, solle selbstverständlich die Menschen nicht nur zu Männern oder Frauen, sondern zu Persönlichkeiten erziehen, das heißt, konkretisiert sie, zu Menschen, die in der Lage seien, in der Gemeinschaft zu leben. Und leise, fast wie für sich selbst fügt sie hinzu:,

O-Ton 16: Direktorin, Schluß        1,09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin zwischendurch hochziehen, abblenden, unterlegen, am Schluß hochziehen, ausblenden

Übersetzerin:
„No, wmestje tjem…
„Aber damit verbunden unterstreicht die russische Geschichte immer wieder vor allem die ursprüngliche Bedeutung des Weiblichen und des Männlichen.
Dem können wir nirgendwohin ausweichen und wir werden das auch in Zukunft betonen, denn darin ist vermutlich so etwas wie ein Geheimnis der russischen Nation verborgen. Diese Weiblichkeit, diese Mutterschaft werden wir wahrscheinlich immer mehr als andere Völker betonen.
Ich weiß nicht, ob das gerecht ist oder nicht, aber ich fühle sogar, daß es sehr wichtig ist, die Männer darin zu erziehen. Und es geht nicht an, die Erziehung zum Menschen von der Erziehung zu Männern und zu Frauen zu trennen. Noch leben wir nicht in einer Gesellschaft, wo man nur Knöpfe drücken muß. Wir müssen sogar neu anfangen. Aber alles was wir jetzt versuchen, können wir nur auf dem weiblichen Ursprung aufbauen.“

Regie: Vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Andernfalls, so Frau Raslawzewa, drohe die Tatsache, daß der Mann nicht mehr in der Lage sei, die Familie zu ernähren, dahin zu führen, daß die Familie zerfalle und die Gesellschaft sich brutalisiere – Egoismus, Mafia, Krieg.
Sie sei ja selbst eine Frau, die frei und selbstbestimmt arbeiten wolle, schließt Frau Raslawzewa, aber lieber verzichte sie auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wenn dadurch der Mann seine Rolle als Ernährer der Familie wieder wahrnehmen könne, denn nur so sei eine stabile Familie und damit eine Stabilität der Gesellschaft erreichbar.
…s pomoschi arusche.“

Erzähler:
Als spiegelverkehrt mag dieses Verständnis von Emanzipation Menschen des Westens erscheinen: Was westliche Frauen als das Ärgste empfinden,  Verdrängung vom Arbeitsplatz, Rückzug  auf Kinder und Küche, das betrachten russische Schulen heute, und das sind vor allem Frauen, als Chance für die Wiedergewinnung der echten weiblichen Bestimmung. Das gilt nicht nur für staatliche Schulen. Das gilt ebenso, wenn nicht noch in mehr, für die Vielzahl privater Ausbildungsstätten. Das neue Bildungsideal ist der junge Mann, der in den Frauen seiner Umgebung die eigene Mutter oder die zukünftige Mutter seiner Kinder verehrt. Die junge Frau wird dazu erzogen, diese Verehrung entgegenzunehmen.

O-Ton 17: Frauenkongress        67
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, Gesang kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, mit Applaus abblenden

Erzähler:
„Musik…
Aber nicht nur in den Schulen, sondern überall, wo Frauen sich versammeln, erklingt derselbe Grundton. Hier singt, auf einem Frauenkongress, ebenfalls in Nowosibirsk, der Frauenchor „Slavian“. In diesem Lied geht es um die Kraft der Liebe, welche das Leiden überwindet. Auf solchen Kongressen versammeln sich Frauen, um sich gegenseitig zu unterstützen. Die Teilnehmerinnen kommen aus Resten ehemaliger oder auch aus neuen staatlichen Frauenorganisationen, vor allem aber kommen sie aus neuen Selbsthilfeinitiativen. Eine ganze Welle von Kongressen gebe es in den letzten Jahren, meint eine Frau enthusiastisch. Sie greifen Themen auf, die früher marginalisiert oder vollkommen tabu waren. So gibt es Gruppen für geschlagene Frauen oder für sexuell mißbrauchte behinderte Mädchen. Religiöse Gruppen setzen sich für eine moralische Erneuerung ein. Auch junge Unternehmerinnen beteiligen sich an dem Kongreß, unter ihnen Kosmetikerinnen, die den anwesenden Frauen Mut machen wollen, ihre weiblichen Vorzüge im Beruf und Alltag bewußter einzusetzen.
… Applaus, Foyer

O-Ton 17: Frauenkongreß        1,23
Regie: O-Ton (mit Applaus) langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden kurz vor Beginn der gesungenen Teils hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„Beifall, Daragije drusija…
Die Initiatorin, Leiterin des größten örtlichen Kulturhauses, begrüßt die Frauen. Sie dankt der UNESCO für deren Unterstützung. In ihrem Lied besingt sie die Kraft der Frauen aller Länder, sich zusammenzuschließen.

Regie: beim Stichwort „…Ja otschen blagodarju“ hochziehen, Singen kurz stehenlassen, abblenden

Erzähler:
„Was kann uns verbinden?“ fragt sie dann und erklärt:

Übersetzerin:
„Es ist die Liebe zu allen, die Kraft zum Mitleiden; es sind unsere Kinder. Und es ist wohl so, daß nur wir, wir Frauen, unsere Männer retten können. Aber nicht mit Gewalt. Es geht nach dem alten russischen Sprichwort: `Der Mann ist der Kopf, die Frau ist der Hals, wohin der Hals sich wendet, dahin muß der Kopf folgen.´ Wir sind hier in allen Altersstufen, ältere, mittlere, junge. Wir wollen in diesen Tagen viel an Erfahrungen zwischen Töchtern, Müttern und Großmüttern austauschen.“

Regie: Rede zwiscchendurch hochziehen

Erzähler:
Mit langem Beifall zeigen die rund dreihundert anwesenden Frauen, wie sehr ihnen diese Worte aus dem Herzen gesprochen sind.

Regie: Mit Beifall abblenden

Erzähler:
Eine der Mitorganisatorinnen ist Marina Tjasto. Sie ist Leiterin der Auslandskontakte in der staatlichen Verwaltungsfachhochschule in Nowosibirsk, einer der hochangesehen Kaderschmieden der neuen Bürokratie. Frau Tjasto ist eine kämpferische Frauenrechtlerin. Sie ist häufig im Westen. Aber klar setzt sie sich vom Feminismus westlicher Prägung ab. Nicht nur als gleichberechtigter Kumpel, als Frau möchte sie geachtet und verehrt werden. Nach den zwei Tagen, die gefüllt waren mit Vorträgen, Arbeitsgruppen und Liedern, zieht sie folgende Bilanz:

O-Ton 18: Marina Tjasto        0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, ausblenden.

Übersetzerin:
„My polutschili, to schto my chatili…
„Wir haben bekommen, was wir wollten. Ohne Hysterie, ohne Geschrei. Frauen haben sich versammelt, die bereit waren, miteinander zu sprechen. Alle hatten ihre Freude, konnten sich austauschen, gegenseitige Hilfe vereinbaren. Und das reicht uns. Wir haben diesen Prozess angestoßen, aber wir wollen, daß er konstruktiv läuft, schrittweise, evolutionär, ohne Krisen und Kämpfe. Wir kämpfen nicht gegen die Männer. Wir wollen nichts zerstören. Es reicht bereits, es ist ja schon alles zerstört! Wir wollen unsere weibliche Energie konzentrieren, um die Krise zu überwinden. Wir wollen jetzt bewahren, was noch ist, es stärken und Neues aufbauen. Dann wird es gehen.“

Regie: zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Wir wollen die Männer nicht beherrschen. Wir wollen nicht ihre Chefs, sondern gleichberechtigte Partner sein“ setzt Frau Tjasto noch hinzu. Viele Männer verstünden das nicht. Einige gäbe es jedoch. „Wenn wir solche Männer finden“,  lacht sie, „dann arbeiten wir mit ihnen zusammen.“ Dafür müßten die Frauen aber natürlich mit allen reden, um herauszufinden, mit wem das möglich sei oder mit wem nicht.
… gadjatsja ile nam ili njet.“

Erzähler:
Auf dem flachen Lande wird sichtbar, wie die von Frau Tjasto und vielen anderen geleistete Aufbauarbeit der Frauen im Alltag aussieht.

O-Ton 19: Kulturhaus in Borodino        0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis zum “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Laserakupunktur wird Trinkern ein Block gesetzt, der sie für ein, zwei oder drei Jahre am Trinken hindert. Neunzig Prozent der Trinker sind Männer. Alkoholismus ist hier in Rußland eine Männerkrankheit. Die neue Zeit treibt viele Männer noch tiefer in den Suff als früher, andererseits verlangt sie Nüchternheit für den hart gewordenen Kampf um die wenigen guten Arbeitsplätze. Die Frauen sind es, die ihre Männer, Brüder, Väter massenhaft zu Entziehungskuren bringen, welche Ärzte aus den nahen Städten nach neuesten, aus Amerika eingeführten Methoden anbieten.
… Nächste Atem- und Laserfolge

Erzähler:
Während die Männer der Reihe nach die Behandlung über sich ergehen lassen, sind von den Frauen draußen verhaltene, aber doch unmißverständliche Kommentare zu hören:

O-Ton 20: Frauen von Alkoholikern        0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„Nu jestestwenna…
„Nun, wahrhaftig!“, sagt diese Frau stockend: „Auf den Frauen bleibt alles hängen. Der Mann weicht in den Alkohol aus. Die Frau hat die Arbeit.“
Nach einigem Zögern kann man von ihr erfahren: Sie selbst arbeitet tagsüber in der Fabrik, abends hat sie die Kinder. Sie macht das Haus, die private Wirtschaft, den Garten, die Datscha. Jetzt hat sie ihren Mann überredet, sich behandeln zu lassen. Sie wirkt müde. Trotz allem hofft sie, daß eine Änderung möglich ist. „Man möchte es einfach glauben“, sagt sie.
284 …chotschitsja verit

Erzähler:
Andere Frauen, die es sich draußen vor der Tür auf dem Boden bequem gemacht haben, sind nicht so zurückhaltend:

O-Ton 21: Frauen von Trinkern        0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Pjut, mnoga pjut …
„Fünfundneunzig Prozent unseres Dorfes hängen an der Flasche“,  meint eine der Frauen. Von denen,  fährt sie fort, hätten laut Statistik siebzig Prozent geisteskranke Kinder. „So ein Dorf ist das bei uns“, fährt sie fort. „Da brauchen wir eine Psychologin an der Schule, weil eine normale Lehrerin da nicht mehr arbeiten kann“.
Fünfundneunzig Prozent, schränken die anderen Frauen ein, sei sicher extrem, aber achtzig Prozent sei auf den Dörfern sicher normal.
… eta totschna.“

Erzähler:
Kein Wunder finden sie: Bei den Zeiten! Schon früher habe es das Problem gegeben, aber jetzt habe sich die Situation doch noch sehr verschlechtert:

O-Ton 21: Frauen von Trinkern, Forts.        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Da uchutschela…
„Früher gab es eine gewisse Angst. Wenn du da einen, zwei Monate nicht auf der Arbeit erschienen bist, hat es Strafen gegeben. Wenn du heute nicht kommst, fliegst du raus. Man vergißt dich. Du bist für niemanden nutze. Wenn dann Familie da ist, dann wird es schwierig. Da sind die Kinder.

Erzähler:
„Wir waren es ja gewohnt, gesagt zu bekommen, was wir tun sollen“, ergänzt eine andere Frau. „Nun stehen wir da, wissen nicht wohin. Und im Dorf da gibt es keine Kultur, keine Abwechslung. Da ist die Flasche das einzige Vergnügen. Einige kommen damit zurecht, andere nicht.“
… schto to nje moschet.“

Erzähler:
Über die Frage, wer die Hauptlasten dieser Situation trage, brechen die drei Dörflerinnen in herzliches Lachen aus.

O-Ton 22: Frauen von Trinkern, Forts.         0.35
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, bei Lachen hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Lachen, …
„Na was denn!? Kartoffeln, den Garten, die Kinder, den Mann, mein Gott, eben alles, das machen wir“, sagt eine,  „Frauen, Mütter und  Großmütter“, ergänzen die anderen, „Männliche und weibliche Arbeit“, setzten sie hinzu.  Und es ist nicht klar, ob sie das als Kritik oder als Feststellung unabänderlicher Tatsachen meinen. „O je, wir wissen natürlich, daß man besser leben kann, zum Beispiel bei euch in Deutschland. Aber hier. Wohin sollen wir gehen? Wir werden so leben, wie wir immer gelebt haben.“
… Lachen

Erzähler:
In der Familie haben die Frauen das Kommando. Wohl den Familien, ob vollständig oder nicht, die darüberhinaus noch eine Babuschka, die Großmutter haben. Babuschka versorgt die Kinder, während die Mütter arbeiten. Babuschka lebt, solange es die Witterung erlaubt, auf der Datscha, wo sie die Grundversorgung der Familie durch Anbau von Kartoffeln, Kohl und anderem sichert. Manch eine der Alten ist mit ihrer Pension, obwohl deren Höhe selbst kaum nennenswert ist, sogar noch der Finanzier der Familie. Frauen, muß man dazu sagen, werden auch in Rußland im Schnitt älter als Männer. Die Familie wird so zur Notgemeinschaft, die von Frauen geführt wird. Sie ist der letzte Halt in einer auseinanderfallenden Gesellschaft.
Wie ist diese Rolle der Frau zu bewerten? Irina Golgowskaja ist eine von den Frauen, die dieser Frage auch theoretisch zu Leibe rücken. Frau Golgowskaja,  selbst Mutter von zwei Kindern, ist leitende Ärztin einer neuen psychoanalytischen Klinik in Nowosibirsk. Sie möchte die Mutter, die große Mama, das Matriarchat in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen rücken. Die Notwendigkeit dafür begründet sie mit ihren Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag. Im Hintergrund läuft der Kühlschrank der Klinikküche:

O-Ton 23: Psychoanalytikerin                        0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Ja smotrila…
„Ich schaute in die umgebende Welt, ich schaute mich selbst an; ich untersuchte die äußere Welt und die innere, das heißt, ich schaute meine Patienten an, meine Freunde, die Gesellschaft um mich. Dabei stieß ich auf unbeantwortete Fragen, undurchlässige Wände. Zäune! Dahinter fand ich das Wort: Mutter, überall Mutter, Mama, Matj! Es gibt dieses Verständnis bei uns: `Matj´, große Mutter. Mir fiel auf, daß es um uns herum sehr vieles gibt, das sich von dort herleitet. Die Menschen lassen die Gedanken daran nicht zu, es ängstigt sie, aber es ist so. Es ist wie die Luft, die uns umgibt. Und so kam mir Wort Matriarchat in den Sinn. Ich habe es nicht theoretisch abgeleitet, ich habe nur auf einmal begriffen, daß wir in einer patriarchalen Welt leben, die in Wahrheit aber matriarchal ist. Ja, im Grunde haben wir ein Matriarchat bei uns, aber formal ist ein Patriarchat darauf aufgebaut.“
… a formalna patriarchat

Erzähler:
Doch auch die Analytikerin setzt nicht auf Konfrontation. Unter «Matj“ Mutter, versteht sie nicht nur die Frau, die Mutter oder die Babuschka. Unter Matj versteht sie weibliche Bildung, Gestaltung, weibliches Verständnis der Welt überhaupt. Und im übrigen gehe es nicht etwa darum, das Patriarchat durch das Matriarchat zu ersetzen:

O-Ton 24: Fortsetzung Psychoanalytikerin                0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, bei „eta schenskaja wsjo“ ausblenden

Übersetzerin:
„Ja wdrug ponila…
«Mir ist klargeworden, daß das Unterbewußtsein weiblich ist, ganz und gar weiblich. Darüber liegt das Schema unseres Staates, der Welt, der von Menschen gebauten Strukturen, das männliche Element. Das ist Ausrichtung, bewußte Erziehung. Wir leben in jenem unterbewußten Weiblichen, in welchem wir uns vor der patriarchalen Welt verstecken. Das ist so, um überhaupt überleben zu können, denn das Unterbewußte ist Leben und Tod in einem Punkt. Wenn es überwiegt, gibt es Chaos, gibt es Schrecken. Mit der bewußten Erziehung kann man überleben. So lebt die Menschheit an der Grenze zwischen diesen beiden Zuständen. Von unseren ersten Vorfahren zu den heutigen Menschen führt so ein Weg mit Hilfe des Geistes; der Geist ist rein männlich, auch Gott ist eine männliche Bildung, Natur, Kreatur, Träume, Fantasie, Kinder, das alles ist weiblich».
… eta schenskaja bsjo

Eine gesunde Entwicklung, so Frau Golgowskaja, könne es nur geben, wenn die Gewalt dieser Urbeziehung erkannt und aus der Konfrontation eines Entweder Oder zu einem neuen, freieren Verständnis vom Menschen herausgebracht werde.

O-Ton 25: Ausklang                                1,15
Regie: O-Ton langsam  kommen lassen, unter dem Erzähler allmählich ganz hochziehen, kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Ob in solchen Erkenntnissen die Möglichkeit liegt, den Pendelschlag von der sowjetischen Gleichmacherei zur nachsowjetischen Differenzierung, von einer Leugnung der Weiblichkeit also zum Weiblichkeitskult, unbeschadet zu überstehen und daraus auch noch neue Perspektiven zu gewinnen, ist eine offene Frage. Von ihrer Beantwortung, das ist gewiß, wird die Zukunft Rußlands abhängen und vielleicht sogar mehr als nur diejenige Rußlands.

Nowosibirsk: Die Eisenbetonfabrik Nr. 4 Musterbetrieb einer möglichen Alternative?

Rußlands Reform ist in die Kritik gekommen. Die Privatisierung hat zu einer kriminellen Aneignung früheren Gemeinschaftsvermögens durch eine kleine Minderheit geführt. An der Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist die Privatisierung abgeprallt oder von ihr nur formal vollzogen worden. Inzwischen breitet sich die Erkenntnis aus, daß Reformen an den vorhandenen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen ansetzen müssen, statt sie nur zu zerstören. Was könnte mit diesen Strukturen gemeint sein? Unser Autor Kai Ehlers geht dieser Frage an einem Beispiel im Lande selbst nach.

O-Ton 1: Stabsquartier der Lebedbewegung                 0,26
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich ausblenden

Erzähler:
„Da, malinka nje tak, Lachen..
Im Stabsquartier der Lebedbewegung in Nowosibirsk. Hier wird
Bilanz gezogen wie zur Zeit überall im Lande. Aber das Lachen hat man noch nicht verlernt. Mit Banken habe er zu tun, hat dieser Mann soeben erklärt; aber nicht als Bankier, sondern als Konkursverwalter. 80% der Betriebe seien bankrott, fährt er fort, nachdem das Lachen abgeklungen ist. Wenn sie dennoch gehalten würden, komme der Impuls dazu in der Regel von unten, aus den Belegschaften, aus den örtlichen Strukturen. Als Musterbeispiel dafür nennt er die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk.
Wenig später sitze ich dem Direktor der Eisenbetonfabrik Nr. 4 in seinem Büro gegenüber.

O-Ton 2: Direktor Matschalin                0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei „jesli po tschesnomu..“ kurz hochziehen, allmählich ausblenden

Erzähler:
Handy piepst. „Matschalin…
Nikolai Matschalin ist Abgeordneter der Partei Alexander Lebeds im Parlament der Stadt Nowosibirsk. Knorrig ist er, wie sein politisches Vorbild selbst, aber gesprächsbereit. Weiß er, daß sein Werk als Musterbetrieb gilt?

O-Ton 3: Direktor Matschalin, Forts.                1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden

Übersetzer:
„Nu, jesli po tschesnomy…
„Ehrlich gesagt, ja. In den letzten Jahren, insbesondere in den letzten vier Jahren, haben wir den Umfang unserer Produktion erweitert. Jetzt arbeiten bei uns ungefähr 500 Leute. Es gibt zwei Etappen, die wir vergleichen können; das ist die Etappe vor Perestroika und die danach: Wir sind wieder auf das Niveau angestiegen, das wir vor dem Niedergang hatten, also auf das Niveau vor Perestroika. Es gibt keine andere Fabrik hier in der Gegend, die in diesem Maße tätig ist wie wir, mehr noch, viele Fabriken, die vom Umfang ihrer Produktion her früher Giganten waren, liegen weit unter der Produktivität der Eisenbetonfabrik Nr. 4. Unsere Fabrik stand ja 1997 und 1996 nach allen Parametern an erster Stelle in Sibirien. Von  der Hauptadministration des Gebietes haben wir einen Preis erhalten – für „Erfolgreiche Entwicklung von Geschäftstätigkeit in Sibirien“.
…bisnes we sibirje“

Erzähler:
In einer Mischung aus Sarkasmus und Stolz zeigt der Direktor bei diesen Worten auf eine Vitrine, in der einige handtellergroße Medaillons hinter Glas ausgestellt sind. Das seien allerdings nur die äußeren Daten, schränkt er gleich darauf ein. Von innen sehe alles natürlich noch etwas anders aus:

O-Ton 4: Direktor, Forts.                0,51
Regie: Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

„U nas wsjo teleschelo…
„Bei uns in Rußland ist alles sehr schwierig und alles nicht so ganz richtig. Alles ist irgendwie durcheinander. Bei uns wird jedes Unternehmen in die Enge getrieben, vor dem Staat, vor den Budgetfonds, in  gegenseitige Verrechnungen und Verschuldungen. Lebendiges Geld gibt es nur sehr wenig. Das lebendige Geld reicht gerade eben für den Fond zur Bezahlung der Arbeit. Alles andere chinchen wir irgendwie aus, mit dem Staat, mit der Stadt, mit dem Verwaltungsgebiet, mit unseren Kunden, tauschen irgendwie…“
…schila na mila, tak.“

Erzähler:
Was der Direktor beschreibt, ist eine Wirtschaft im Zustand des Naturaltausches. Nicht freier Geldverkehr auf offenem Markt, sondern der direkte Tausch von Produkten, Dienstleistungen und Arbeitskraft hält die  russische Gesellschaft heute am Leben. Partner des Austausches sind nicht nur Fabriken, landwirtschaftliche oder gewerbliche Betriebe untereinander, sondern auch Betriebe auf der einen und Behörden, im großen Maßstabe der Staat auf der anderen Seite. Man ist in einem stillschweigenden Konsens miteinander verbunden, den der Volksmund zehn Jahre nach Beginn der Reformen auf die Formel gebracht hat: Ihr zahlt keinen Lohn und wir keine Steuern. Ein Geldkreislauf ist praktisch nicht existent. Auf die Frage, wie es möglich ist, unter solchen Umständen erfolgreich einen Betrieb zu führen, antwortet der Direktor:

O-Ton 5: Direktor, Forts.                 1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Uspexi schto li…
„Die Erfolge kommen nur aus sehr großer Anstrengung. Seinerzeit wurde die Aufgabe gestellt: Rettung des Unternehmens, Rettung der Arbeitsplätze, nicht zulassen, daß die Leute arbeitslos werden – Wir haben nicht nur den Produktionsumfang erhöht, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze. Dabei resultiert die Steigerung des Produktionsumfangs aber nicht nur aus einer Erhöhung der Zahl der Arbeitsplätze, sondern auch aus einer Produktivitätssteigerung. Das bedeutet: Die Arbeit wurde intensiver; die Arbeiter müssen sich mehr rühren, mehr arbeiten. Ich fordere von ihnen den vollen Einsatz.“
…trebuju polnu otdatschu.“

Erzähler:
Im Sommer, wenn die Bautätigkeit boomt, wird 10 oder 12 Stunden gearbeitet, ebenso am Samstag und am Sonntag. In gesonderten Produktionen zieht sich die Arbeit manchmal sogar über mehrere Monate ohne einen einzigen Tag Pause hin.

O-Ton 6:                    1,39  Regie: Kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
„Nu snatschala ja im jesdestwenna…
Dafür, fährt der Direktor fort, gebe er seiner Belegschaft aber praktisch auch alles, was sie brauche, um zu leben:  kostenlose Wohnungen, kostenlose Ernährung, kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Kindergartenplätze, kostenlose Kuraufenthalte, Ausbildung im Betrieb, allgemeine Weiterbildung. Alle diese sozialen Vergünstigungen gebe es umsonst. Mehr noch, die Fabrik gewähre eine Betriebspension für rund hundert Leute, die früher dort gearbeitet hätten. Jeden Monat erhielten sie eine ganze Palette von Produkten, von denen sie lebten. Und das sei nicht wenig. Es klingt ehrlich besorgt, wenn der Direktor diese Aufzählung mit den Worten beschließt:

Übersetzer:
„Diese Menschen gaben der Fabrik ihre ganze Jugend. Einige haben hier vierzig oder mehr Jahre gearbeitet. Nach der Privatisierung blieben sie auf der Abfallseite des Lebens. Außer uns hilft ihnen niemand. So mache ich, was ich kann, versuche es.“
..nikto nje pamoschit, putajus.“

Erzähler:
Der Rubel sei wichtig, findet der Direktor, der materielle Anreiz, die materielle Hilfe. Auch wichtig, vielleicht sogar wichtiger findet er den moralischen Stimulus: „Daß die Menschen“, so formuliert er es, „an einer gemeinschaftlichen Sache beteiligt sind.“ Soeben hat er deswegen ein schwarzes Brett eingerichtet, das Auskunft über Einkünfte und Ausgaben des Betriebes gibt.

O-Ton 7:                      0,59
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Ponimaetje, snatschit tje ludi…
„Verstehen sie, die Menschen sind sehr verschieden. Viele von ihnen sind noch Zeitgenossen des Sozialismus, als alles unser war – nicht meins, sondern alles unseres. Sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen, ist sehr schwierig. Ich sage meinen Leuten immer wieder, daß wir jetzt alle Eigentümer sind, daß wir für uns selbst arbeiten. Das verstehen sie. Aber nicht jeder will Eigentümer sein. Manche wollen nur einfach ihren Lohn; das ist normal. In moralischer Hinsicht aber fühlen die meisten ihre Mitbeteiligung. Ich sage ihnen: `Dank eures Einsatzes geschieht das hier alles.´ Auch Feste führen wir durch, bei allen Anlässen, alten wie neuen.“
…starije, nowije, lächeln

Erzähler:
Sich selbst versteht der Direktor als Teil dieser Gemeinschaft. Auch von sich verlangt er den härtesten Einsatz:

O-Ton 8: Matschalin, Forts.                    2,25
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nu, odno djela…
„Die eine Sache ist, auf den Staat oder auf Gott zu hoffen, nun , das kommt auf das Gleiche raus: Weder von dem einen noch von dem anderen kannst du etwas erwarten. Hier auf dem Direktorensessel hilft dir keiner. Da kannst du nicht klagen, da mußt du Entscheidungen treffen. Die Aufgabe hieß, ein Kommando zur Lösung der Probleme zu bilden – das Kommando gibt es; wir ziehen Aufträge an uns, wir tauschen unsere Produkte über lange, lange Ketten. Irgendwie kommen wir mit den Steuern zurecht, mit den Nahrungsmitteln, mit Bargeld für die Löhne usw. usw.
Ich will sagen: Hier sitzen und auf irgendwelche Aufträge vom Staat zu warten, das ist nicht seriös. Die Direktoren, die vor drei, vier Jahren saßen und auf Aufträge aus der Budgetfinanzierung gewartet haben, die haben verloren. Sie haben sich verspätet. Der Zug ist abgefahren: Rekonstruktion, Modernisierung, Reorganisation der Produktion kostet jetzt ein irrsinniges Geld. Darüber hinaus ist der Markt besetzt und da Eingang zu finden, ist sehr schwierig. Worum geht es also? Um die Qualität der Produkte bei gleichzeitigen Niedrigpreisen. Der Gewinn, den wir dabei herausholen, ist minimal. Wir bekommen ihn nur durch den Umfang der Produktion herein. Da kann man nicht mehr lange reden. Die Dinge ändern sich schnell, da muß schnell gehandelt werden. Der Direktor muß sein Wort halten. Das Wort des Direktors garantiert die Zukunft der Fabrik. Wenn heute ein Direktor ein einziges Mal jemanden auflaufen läßt, dann kommt der nicht wieder. Darüber hinaus erzählt dieser Klient das allen anderen und aus ist es. Das heißt, für denjenigen ist es mit dem Markt zuende. Heute gilt: Wort halten und seine Pflichten erfüllen! Alles übrige – daß die Fabrik nur unter schweren Bedingungen arbeiten kann: Ja, wir haben es schwer! Ja, wir haben hier diese formlose Wirtschaft! Aber was weiter? Wir leben doch hier in Rußland und werden nirgendwohin auswandern.“
…nje sabirajem nikuda uischats.“

Erzähler:
Marktwirtschaft, aber unter russischen Vorzeichen, das ist Nikolai Matschalins Credo; Rußland muß stark sein:

O-Ton 9:                     1,09
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Rossija dolschna bit silnaja…
„Man darf nicht zulassen, daß wir auf  Kosten anderer existieren müssen. Es geht nicht an, daß wir nach Aufträgen des Internationalen Währungsfonds leben. Heute schwatzen unsere Leute beim Gouverneur davon, Mähdrescher aus Deutschland zu kaufen. Ich meine, daß man Mähdrescher hier bauen muß. Auch wenn sie schlechter sind, wird Iwan Iwanowitsch durch sie doch seine Arbeit haben, durch sie wird die Schlage auf dem Arbeitsmarkt kleiner. Es ist vielleicht ein bißchen grob, aber ich denke so: Wenn wir heute russische Schuhe machen können, die vielleicht etwas fest sind, sollen wir sie machen und darin gehen, aber so können dann alle unsere Leute, die Arbeit suchen, arbeiten, unsere Pensionäre erhalten Pension, unsere Lehrer ihren Lohn, Steuern werden gezahlt usw. usw.“
… tagdali, tagdali

Erzähler:
Für eine Verwirklichung seiner Vorstellungen im großen Rahmen setzt Direktor Matschalin auf einen russischen Pinochèt. Nur ein Diktator könne die nötige Kontinuität aufbringen, meint er, nur ein Diktator, dem ohnehin alles zur Verfügung stehe, sei nicht darauf angewiesen, sich bestechen zu lassen:

O-Ton 10:                     1,05
Regie: Ton direkt anschließen. kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„Kak prawadil parjadok…
„Wie hat Pinochèt die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß es da den Guitarrenspieler Viktor Jara gab, dem sie die Hände zerschlagen haben usw. Ja, er zerschlug möglicherweise die Hände von Viktor Jara, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land und es war General Pinochèt, der das Land zur Blüte brachte. Er ist dann ja von selbst gegangen: Schluß, ich habe meine Sache gemacht. Und wer machte es in Deutschland? Eisenhower! Und de Gaulle in Frankreich! Das waren Generäle, starke Generäle, welche die Autorität des Volkes benutzten.“

Erzähler:                                                                    Leider, setzt der Direktor bedauernd hinzu, sei Alexander Lebed nicht bereit, eine solche Rolle für Rußland zu übernehmen.
… etu tjemu gawaroril.“

Erzähler:
Die Belegschaft der Fabrik teilt die politischen Ansichten ihres Direktors nicht:

O-Ton 11: Betriebskollektiv, divers                                0,49
Regie: Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen und ausblenden

Übersetzer:
„Ponimaetje, my nawerna…
„Wir sind alle müde von der Politik“, sagt dieser Mann. Er ist der jüngste aus einer Runde von vier Männern unterschiedlichen Alters und einer älteren Frau, die ich gleich im Anschluß an das Gespräch mit dem Direktor über ihre Meinung zu den Ansichten ihres Chefs befragen kann. Wenn der Direktor Lebed unterstütze, meint der junge Mann, sei das seine persönliche Angelegenheit. Andere im Betrieb seien für die Kommunisten, wieder andere für den Liberalen Jawlinski, selbst für Lyschkow, den Moskauer Bürgermeister. Verschieden eben, stimmt die Runde zu. „Bloß nicht für Jelzin“, ergänzt die Frau. Und wieder nicken alle.
…sa Jelzina, Stimmen“

Erzähler:
Im übrigen aber bestätigt die Runde stolz das Bild, das der Direktor von der Lage des Betriebes hat entstehen lassen. Vor allem in der Frage der Gemeinschaft stimmt man voll mit ihm überein:

O-Ton 12                    0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen,  abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Die ältere Kollegin erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 13                         1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur versprechen und dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deswegen ist die Stimmung bei uns häufig sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über 12 Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“                                …i mi djelajem“

O-Ton 15:                    1,38
Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Woanders kann man vielleicht mehr bekommen, aber man bekommt es nicht rechtzeitig. Und dann muß man ins Krankenhaus, das Essen  bezahlen usw. Bei uns gibt es Milch kostenlos, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus bei uns gab, und die gab es, die haben wir jetzt um so besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“
… prinisli sewodnischi.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. An der Spitze wurde alles von einer Troika aus Partei, Betriebsführung und Gewerkschaft zusammengehalten. In diesen Verhältnissen lebte die alte russische Bauerngemeinschaft in ihrer industriellen Form fort. Mit Einsetzen von Perestroika zerfiel diese Pyramide in ihre Bestandteile. Ist in der Eisenbetonfabrik Nr. 4 also alles nur einfach beim Alten geblieben? Nein, keineswegs, antwortet die Kollegin für alle:

O-Ton 16:                     1,38
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen.

Übersetzerin:
„Stimmen, my prosta tech ludej…
„Heute halten wir die Leute, die nicht arbeiten wollen, nicht mehr. Wenn es früher während des Sozialismus so viele freie Arbeitsplätze gab, daß ein Mensch von einer Fabrik zur anderen gehen konnte, in drei, vier Fabriken eine Arbeit finden konnte, so ist es heute sehr schwierig, eine Arbeit zu finden, wissen Sie. Und so hält man sich an die Arbeit und gibt sich Mühe. Mußte man früher erst lange besprechen, ob am Samstag gearbeitet werden soll, dann ist jetzt einfach klar: Nur wenn ich arbeite, kriege ich Geld, wenn man überhaupt etwas kriegt. Bei uns kriegt man etwas.“

Erzähler:
Entlassungen also als neue Errungenschaft? Wer nicht funktioniert, kann gehen? „Nein, nein“, schränkt einer der älteren Männer ein, „wir werfen hier niemanden einfach hinaus“:

Übersetzer:
„Wir sagen ihm nur: `Gut, wenn Du nicht so arbeiten willst – ruh dich aus. Aber die Arbeit an deinem Platz muß von jemanden gemacht werden. Also müssen wir einen anderen finden. Pardon, mein lieber, geh Dich erholen, wir suchen einen anderen Arbeiter für den Platz.“
…Drugim rabotschim

Erzähler:
Eine Gewerkschaft, die gegen Entlassungen protestieren könnte, gibt es nicht. Sie sei auch nicht nötig, meinen die Kollegen. Heute entscheide das alles der Betriebsrat selbst, meint der junge Kollege, schneller, schlanker, besser:

O-Ton 17: Kollegen, Forts.                 0,56
Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Sdjes, widitje kak…
„Wie ist es bei uns? Früher entschied die Gewerkschaft. Früher gab es auch einen Plan. Entschieden wurde in Nowosibirsk, in Moskau. Jedenfalls alles von oben. Wenn heute in der Eisenbetonfabrik Nr. 4 den Selbstschutz organisiert wird, dann wissen wir doch wofür.“

Erzähler:
Wenn es also keine Gewerkschaft im Betrieb gibt und keine Zentralplanung, wenn man sich politisch vom Direktort absetzt aber doch mit ihm zusammen die Geschicke des Betriebes bestimmt und gemeinsam mit ihm über Einstellungen und Entlassungen entscheidet, wer ist dann das „Wir“, in dessen Namen die vier Kollegen und die Kollegin sprechen?

O-Ton 18: Kollegenrunde, Forts. , Frau                        2,11
Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,20 kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach kurz Erzähler hochziehen, danach abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.

Regie: beim Stichwort „jest sabrannije“ vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten also jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet der Aktionäre: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht zur Zeit individuell davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
… kollektivni sobstwebbost.“

O-Ton 19:                         0,26
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Stichwort „kollektiv“ hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Da, sowerschenna vera…
„Ja, genau so!“ antworten die Kollegen. „Das haben Sie richtig verstanden. Ein Komitee von Eigentümern, die miteinander ihr Überleben sichern.“
Hier habe nicht ein Einzelner ein Riesenpaket Aktien, bekräftigt der junge Mann noch einmal; hier werde gemeinsam entschieden.
… vladejet Kollektiv…

Erzähler:
Auch in der Eisenbetonfabrik Nr. 4, heißt das, wurde privatisiert. Aber die Privatisierung brachte nicht hervor, was die Reformer beabsichtigt hatten. Ihnen galt die kollektive Betriebsorganisation als das Haupthindernis der Modernisierung und einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes. Daher wollten sie die Betriebskollektive entmachten. Das Privatisierungsproramm von 1991 sah vor, daß Direktoren und Belegschaften gemeinsam bei der Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiongesellschaften auf keinen Fall in den Besitz von Aktienmehrheiten kommen sollten, die ihnen eine Kontrolle über die Betriebe erlauben würden. In der Eisenbetonfabrik lief es genau umgekehrt: Die Privatisierung schweißte das Betriebskollektiv zu einer Überlebensgemeinschaft zusammen, die sämtliche Aktien in ihrer Hand hält. Das hebt den Betrien aus der Masse anderer hervor. Aber eine Insel im allgemeinen Chaos wollen die Kollegen nicht sein. Sie verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Belegschaften empfehlen:

O-Ton 20: Kollegenrunde                    0,47
Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, ausblenden

Übersetzerin:
„My, otschen plocha atnochimssja…
„Eine Insel zu sein, das finden wir ganz schlecht. Wir sind ja eine Fabrik für Eisenbetonbau. Wir können nicht gut leben, wenn es dem Baugewerbe um uns herum nicht gut geht. Wenn keine Häuser gebaut werden, ist unsere Produktion auch nicht gefragt. Das heißt, wir wünschen  uns und tun alles dafür, daß um  uns herum die Industrie arbeitet. Und nicht nur die Fabriken. Wir sind ja auch Menschen: Wenn wir sehen, daß neben uns eine Familie im Elend lebt, die kein Brot hat, wie kann ich da ruhig leben.
… prawilna, sie, ich…

Erzähler:
Aktiv versucht man daher andere Betriebe einzubinden:

O-Ton 21: Kollegenrunde, Frau                          0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und allmählich abblenden

Übersetzerin:
„I jeschtscho, schto my djelalem…
„Was machen wir? Unsere Werber gehen nach Norden zum Beispiel. Da holen sie Aufträge; aber sie holen die Aufträge nicht nur für uns, sondern gleich für andere Fabriken mit. Es gibt einen Rat, in dem einer von uns aktiv ist. Es ist der frühere Leiter des Betriebes. Er leitet heute einen Rat der Fabrikdirektoren. Sie überlegen, wie man die Betriebe entwickeln kann. Ohne so etwas geht es ja nicht.“
… bes etwawa nelsja

Erzähler:
Das Beispiel der Eisenbetonfabrik Nr. 4 setzt Maßstäbe. Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten, aber starken Direktor als Grundelemente einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft scheinen für Rußland ein Weg zu sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum ODER Privatisierung hinausführt.
Andrej Betz ist einer von denen, die dem von der Eisenbetonfabrik Nr. 4 initierten Rat der Direktoren  angehören. Er leitet einen Betrieb gleicher Größenordnung, „Stankosib“, eine Fabrik für Maschinenbau, ebenfalls in Nowosibirsk. Notwendig zu sagen, daß Alexander Lebed für Betz nur insoweit interessant ist, als er in der Lage ist, zwischen Boris Jelzin und den Kommunisten eine dritte Kraft aufzubauen. Von den Vorlieben seines Kollegen Matschalin für Pinochèt distanziert Andrej Betz sich entschieden, an den Erfolgen Matschalins aber mißt et sich:

O-Ton 22:     Direktor Betz, STANKOSIB,                  0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden , unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas taksche…
„Bei uns ist es genauso. Wir haben ca. 500 Aktionäre, die Aktien des Betriebes besitzen. Das heißt, es ist eine ganz normale Aktiengesellschaft, in der es kein staatliches Kapital gibt, 100% privates Kapital, darunter eine Gruppe von 16 Menschen, die ein Kontrollpaket von 51% halten. Es gibt einen Sowjet, es wird ein ausführender Direktor gewählt, der arbeitet.
Allerdings ist es bei uns nicht ganz so gut wie bei der Eisenbetonfabrik Nr. 4. Wir haben Lohnrückstände von zwei Monaten, der Lohn ist nicht sehr hoch, doch ausreichend denke ich. Die Fabrik arbeitet aber, und arbeitet stabil. Das heißt zur Zeit habe ich Hoffnung, daß wir die geforderten Produkte produzieren und auch verkaufen können.“
…neobchadimi produkti i prodawat.“

Erzähler:
Auch außerhalb von Nowosibirsk erregt das Beispiel der Eisenbetonfabrik Nr. 4 Aufmerksamkeit. Die Mehrheit der in Aktiengesellschaften umgewandelten Kolchosen und Sowchosen ist ohnehin nach wie vor kollektiv organisiert. Viele ehemalige Staatsbetriebe hat die Privatisierung handlungsunfähig gemacht. Sie suchen nach Alternativen. Wie schmal der Grat dennoch ist, auf dem die Alternative sich konkret entwickeln kann, macht ein Besuch bei „Kras-Les-Masch“, der größten Waldmaschinenfabrik Sibiriens in Krasnojarsk deutlich. Auch dieser Betrieb hat eine ca. fünfhundertköpfige Belegschaft. Auch für Viktor Schmidt, den Direktor dieses Betriebes, ist die Eisenbetonfabrik Nr. 4 eine Orientierung. Ihr Erfolg sei kein Zufall, betont er, sondern ein Musterbeispiel für rechtzeitige Orientierung am Markt:

O-Ton 23: Direktor Schmidt, Krasnojarsk                  0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, auslaufen lassen bis zum Schluß (ist ausgeblendet)

Erzähler:
„Njet, on videmo charascho rabotajet…
„Nein, sie arbeitet offensichtlich gut., und zwar einfach, weil sie sich rechtzeitig orientiert hat.  Sie hat ihre Belegschaft auf ein Minimum reduziert. Wenn sie für die Industrie bauen würde, wäre Schluß, da steht die Bautätigkeit; dasselbe für die Eisenbahn. Sie haben sich jedoch auf den privaten Bereich konzentriert – und da boomt es zur Zeit.“

Erzähler:
Dennoch hält er es nicht für möglich, dem Beispiel einfach zu folgen:

O-Ton 24: Direktor Schmidt, Fortsetzung                         0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Pritschina otschen prastaja..
„Wir machen es nicht so, weil das allgemeine Niveau unseres Alltags das nicht zuläßt. Nun gut, man könnte es tun, dann gäbe es da eine Fabrik, die gut lebt. Es ist offensichtlich, daß das nur ginge, wenn es allgemeine Linie wäre. Es muß ein staatliches Programm geben. Wir Direktoren sind ja keine dummen Leute, wir wissen, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie man profitabel arbeitet. Aber wohin mit den anderen? Sie werden vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben. Sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…  videmo gossudarstwa.“

Erzähler:
Die Alternative, die sich heute in Rußland andeutet, ist die einer Wiederherstellung der engen Verbindung zwischen Betriebsgemeinschaften nach Art der Eisenbetonfabrik Nr. 4 und staatlicher Lenkung, ausgehend von Maßnahmen auf lokaler und regionaler Basis. Theoretisch skizzierte ein Analytiker wie Boris Kagarlitzki, Aktivist der frühen Perestroika und heute freischwebender Reformsozialist, die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklung bereits 1996, als nach den letzten Präsidentenwahlen die Schwäche des russischen Staates gegenüber der kriminellen Privatisierung und dem wild wuchernden neurussischen Spekulationskapital unübersehbar wurde:

O-Ton 25: Boris Kagarlitzki                        2.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, gelegentlich vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geht ungefähr vor? Alles wurde privatisiert, nicht? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe vor Ort zu `nationalisieren´, das heißt neu als Gemeinschaftsbesitz zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Obschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in neuer Form, in spontaner Weise – für die Betriebe besteht nur einfach diese desolate Situation; also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie in dieser Weise zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer, und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen ganzen kleinen neuen Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt vom Herankommen und von der politischen Entwicklung ab.“
… otchoda polititschiskowo raswitje.“

Erzähler:
Praktisch beginnt die Alternative sich inzwischen in den Programmen zu konkretisieren, mit denen die Kandidaten für die Wahl eines neuen russischen Präsidenten im Jahre 2000 gegenwärtig antreten: Sowohl der nach der Sommerkrise amtierende neue Ministerpräsident Jefgeni Primakow, als auch potentielle Präsidentschaftskanidaten wie der Moskau Bürgermeister Juri Lyschkow wie ebenso der zur Zeit als Gouverneur von Krasnojarsk amtierende Alexander Lebed versprechen eine Wirtschaftspolitik, welche die gewachsenen sozialen Strukturen des Landes nicht weiter nur ausbeute oder zerschlage, sondern auf ihnen aufbauen oder gar deren Entwicklung befördern soll. Diese gewachsenen Strukturen sind eben jene gemeinschaftlichen, korporativ-paternalistischen Strukturen, deren Regeneration in der Eisenfabrik Nr. 4. zu beobachten ist. Die Frage ist inzwischen nicht mehr, ob das geschehen wird, sondern wie, das heißt, ob es als Zusammenschluß auf freiwilliger Basis heranwächst oder ob es mit Gewalt erzwungen wird. Von der Entscheidung dieser Frage hängt Rußlands weiteres Schicksal ab.

Rußland nach der Privatisierung – Kapitalismus oder was?

Vortext:

Gut fünfzehn Jahre befindet sich Rußland nun  im Zustand der Transformation, die Hälfte davon, seit Anfang 1991 Boris Jelzin die Macht übernahm, im beschleunigten Übergang zur freien Marktwirtschaft. So lautet jedenfalls die Theorie. Alle bisherigen Krisen wurden mit Übergangsschwierigkeiten erklärt. Die letzte Krise zwingt dazu, genauer zu fragen, was erreicht wurde und wo Rußland heute steht.
Kai Ehlers hat sich bei Direktoren, Unternehmern, Soziologen und im Lande selbst nach Antworten zu dieser Frage umgesehen.

Analytiker:
Eine Stichwortgeberin der Perestroika Ende der achtziger Jahre war Tatjana Saslawskaja. Von ihrer ”Nowosibirsker Schule” gingen seinerzeit erste Impulse zur wissenschaftlichen Begründung der Perestroika aus. Vorübergehend war Frau Saslawskaja danach als Beraterin Gorbatschows tätig. Heute ist sie Co-Rektorin im ”Institut für Sozialwissenschaften” in Moskau. In ihrem Buch, die Gorbatschow-Strategie von 1989, hatte Frau Saslawskaja die Gellschaft der Sowjetunion als eine Mischung aus Sozialismus und Kapitalismus bezeichnet:

Zitator:
”Das beschriebene System  stellt eine Art Hybridprodukt  aus dem zentralisierten  planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen  System dar, wobei  es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht  mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird,  sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.”

Analytiker:
Schon damals waren diese Begriffe recht vage. Immerhin lösten sie aber die nichtssagenden Worthülsen vom wissenschaftllich-technischen Fortschritt unter Führung der Arbeiterklasse durch vorstellbare Beschreibungen ab. Heute aber scheinen Frau Saslawaskaja ihre damaligen Beschreibungen nicht mehr stimmig:

O-Ton 1:     0,34
”Ja vo pervie usche…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
”Ich glaube nicht, daß der Begriff Hybrid noch zutrifft. Auch die Begriffe Kapitalismus oder Sozialismus können nicht mehr richtig erklären, womit wir es hier zu tun haben. Man braucht neue Begriffe. Insgesamt würde ich unsere Gesellschaft heute allerdings eher als kapitalistisch beschreiben. Aber was für ein Typ von Kapitalismus? Man verkauft das eigene Land unter Wert. Man stiehlt und verschleudert es; Fabriken, Parkplätze, Wälder; es gibt genug zu verkaufen. So ein Kapitalismus ist das: kriminell, antipatriotisch. Aber das ist auch wieder nicht richtig. Wie soll man es nennen? Am Ende ist es einfach so etwas wie ein Monster.”
…Monster polutschetsja.”

Analytiker
Intensivierung, also Übergang von massenhafter zu qualifizierter Produktion – so lautete die Hauptlinie, die Frau Saslawskajas für die einsetzende Perestroika vorschlug. Was ist nach ihrer Meinung daraus geworden?

O-Ton 2: Tatjana Saslawskaja    0,24
”Ja dumaju schto…
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Übersetzerin:
”Ich denke, wir befinden uns jetzt in einer ”Gesellschaft im sozialen Umbruch”. So habe ich es in meinem letzten Buch genannt. Alte Institutionen zerfallen, neue bilden sich erst heraus. Deshalb ist die Gesellschaft zerbrochen, befindet sich in diesem intensiven Prozeß der Transformation. Auf die Frage, gab es eine Intensivierung? kann ich deshalb nur antworten: Ja und auch nein. Hier kann es keine eindeutige Antwort geben.”
.. i da i njet.”

Erzähler:
Auf die Tatsache angesprochen, daß in der russischen russischen Öffentlichkeit heute kaum noch von Reform, dafür umso mehr von krimineller Privatisierung gesprochen, ja, die Regierung selbst als kriminell bezeichnet werde, antwortet sie:

O-Ton 3:  Saslawskaja, Fortsetzung                    0,34
”Kriminalni, eta fakt…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
”Kriminell – das ist ein Fakt, kriminelle Charakter der Gesellschaft, kriminelle Macht, kriminelles Eigentum. Das ist natürlich das erschreckendste Resultat. Daß die Produktion steht, daß die Leute keine Arbeit haben, daß alles zusammenbricht. Das ist alles wahr. Das ist sehr schlecht. Aber der das ist das Schlimmste. Wir haben nicht nur keinen Schritt in Richtung auf einen Rechtsstaat geschafft, sondern uns viele Schritte von ihm entfernt. Das scheint mir das Problem Nummer eins zu sein. Wie das Problem gelöst werden kann, weiß ich nicht, gerade wegen der Kriminalisierung der Macht.”
… kriminalisatia wlasta.”

Analytiker:
Jussev Diskin, nach eigenen Angaben Eliteforscher, tätig am ”Insititut für regionale Volkswirtschaft”, zwei Generationen jünger als Frau Saslawskaja, hält die Begriffe von Kapitalismus und Sozialismus ebenfalls nicht füpr ausreichend zur Beschreibung der heutigen russischen Gesellschaft. Aer er begnügt sich nicht mit dem Erschrecken über das entstandene kriminelle Monster; er versucht es analytisch zu packen:

O-Ton 4: Dimitri Diskin, Transofrmationswissenschaftler        1,05
”Nu, jesli goworits stroga…
Regie: Kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt

Analytiker:
Auf dieser Basis, erklärt Diskin weiter, habe sich ein System oligarchischer Clans herausgebildet, in denen sich politische Macht immer mit dem Zugriff auf das Budget verbinde. Die Clans konzentrieren sich, so Diskin, in Moskau, wo sie um den Einfluß auf das Budget kämpfen. Dort haben sie sich mit den transnationalen Monopolen verbunden. Es sind dies die großen Finanzimperien wie das der Oneximbank, der Bank Minotep, der riesige Clan um den Moskauer Bürgermeister Juri Lyschkow, den Ol-Gas-Konzern Gasprom, der als drittgrößtes Monopol der Welt gelten könne usw. In den Regionen  herrsche ein anderes System.

O-Ton 5: Diskin, Forts.                         0,35
”I u etawa dabawit…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
”Regionale Elite und Moskauer Clans repräsentieren unterschiedliche Interessen: Die Moskauer Oligarchen hängen mit den außenwirtschaftlichen Belangen zusammen, die regionalen Clans, vertreten durch die Gouverneure, eher mit weiterverarbeitender Industrie vor Ort, mit dem, was nicht so viel Geld bringt. In gewissem Sinne halten sich beide Typen von Clans gegenseitig in Schach. Wirtschaftlich gesehen heißt das, sie behindern sich gegenseitig und schaffen so selbst die Voraussetzungen dafür, die Marktentwicklung zu behindern. ”
… rinotschni perspektiwi”

Analytiker:
Die neuen oligarchischen Strukturen entstanden  aus dem Zerfall der Nomenklatura. Die aktiveren und jüngeren Mitglieder, vornehmlich Leitungskader des Jugendverbandes der Kommunistischen Partei Komsomol, rissen jene Teile des Parteivermögens an sich, die sie vorher verwaltet hatten. Gebäude, Liegenschaften, Transportmittel. Vor allem aber verstanden sie es, Beziehungen zu nutzen. Dies wurde für viele der Ausgangspunkt, von dem aus sie um Anteile an dem enstehenden ”Markt” den Kampf aufnahmen. Auf der anderen Seite, wesentlich in den nicht so einträglichen oder veralteten Betrieben, blieben die Direktoren der großen Betriebe ohne die früheren Verbindungswege der Partei zurück. Sie sahen sich vor die Aufgabe gestellt, für einen bis dahin von Aufträgen und Zuteilungen lebenden Betrieb eigene, oft illegale Beziehungen herzustellen.
In diese Gemengelage mischte sich die Mafia. Aber Mafia – das waren nicht nur Schutzgelderpresser, offene Kriminelle oder korrupte Bürokraten. Mafia – das waren die Bosse der Schattenwirtschaft und die Autoritäten einer in langer Tradition herangewachsenen Gegengesellschaft. Beobachter im Lande erklären das so:

O-Ton 6: Jefim, Forts.                0,56
”Jest sakoni zoni…
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Übersetzer:
„Die Sache ist die: Rußland hat seine Tradition der Zonen, der Lager. Sie haben ihre eigenen Gesetze. In der Stalinzeit, als zeitweilig 50 Millionen Menschen in den Zonen lebten, jetzt Gulags genannt, entwickelten sie sich zur Gegenwelt des Staates. Diese Gegenwelt umfaßte nicht nur Kriminelle, sondern aller Gegner der Sowjetmacht. Im Zuge der Liberalisierung ist der Staat schwächer geworden. Das begann gleich nach dem Tode Stalins; mit Gorbatschow hat es sich nur fortgesetzt; jetzt ist die Mauer gegenüber der Zone ganz eingebrochen. Dabei ist das Gesetz des Staates aber nicht zu dem der Zone, sondern das der Zone zu dem des Staates geworden, wesentlich stärkere Gesetze hat. Sie sind nicht einmal geschrieben, sie wirken nur einfach in den Köpfen der Menschen. Heute herrschen im Geschäftsleben, in dem, was allgemein Demokratie genannt wird, und was Kohl und Clinton so sorgsam unterstützen, die Gesetze der Zone. Wir leben im Lager!“
… schiwjom Lagerje

Analytiker:
Der so spricht, ist Jefim Berschin, lange Zeit Sonderberichterstatter an sog. ”heißen Punkten” der nachsowjetischen Transformation, Transnistrien, Tschetschenien, wo er das Wirken der Mafia vor Ort studieren konnte.
Am Besten begreife man die Entwicklung an dem, erklärt er, was in der Sowjetzeit, aber auch im heutigen Rußland mit einem Zonenausdruck „Obschag“ genannt werde, was soviel wie Gegengemeinschaft bedeute:

O-Ton 7: Jefim, Forts.                    1,06
”Obschag, ransche…
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Übersetzer:
„`Obschag´ – Das ist so: Zur Zeit der Sowjetmacht gab es die sogenannte `Kasse´. Nehmen wir an, wir haben zusammen geklaut; dann hat man dich geschnappt und du sitzt im Lager; mich haben sie aber nicht geschnappt. Was mache ich? Ich nehme einen Teil des Geldes, das wir gemeinsam geklaut haben, ich benutze es, um deine Familie zu ernähren, deine Kinder, um dir Freßpakete ins Lager zu schicken. Allmählich hat sich aus solchen Aktionen eine ganze Organisation entwickelt. In neuerer Zeit ist es einfach nicht mehr sinnvoll, das Geld nur in Kassen zu halten und dann daraus einzusetzen. Heute gilt: Geld  muß es kreisen, und kreisen heißt: Geschäft! Ein Teil des Geldes im heutigen Geschäftsleben Rußlands ist deshalb Geld aus der `Obschag´. Und hier herrscht natürlich eine harte Disziplin. Wenn du dich nicht beugst, wirst du bestraft, ganz zu schweigen davon, daß dir schon niemand mehr hilft. Das bedeutet, die Gesetze dieser Lagerbrüderschaft werden von niemanden übertreten. Letztlich sind alle diese Gesetze faktisch auf den Staat übergegangen.“
…i tagdali,tadgali.”

Analytiker:
In den ersten Jahren der Privatisierung wurde der Kampf mit dem Messer und der Automatischen ausgetragen. Heute sind die großen Geldleute interessiert daran, die zusammengerafften Gelder zu legalisieren. Dafür brauchen sie Dokumente, legale Genehmigungen, legale Konten, Lizensen, Registrierungen usw. Wer glaubt ohne sie auszukommen, wird immer noch kaltgestellt. „Aber inzwischen“, so Jefim Berschin, „geht man zum Bürgermeister, wo man die Lizensen für die Geschäfte ausgibt, und schwupp, gibt es keine Lizens mehr.“ So wie es dem Benzin-König von Moskau ergangen sei:

O-Ton 8: Jefim, Forts.                    0,49
”Menja prosta posnakomja odin…
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Übersetzer:
„Ich kenne ihn; er hatte alle Tankstellen unter sich. Er ist ein kluger, wohlerzogener Bursche, ehemaliger Komsomloliz, sehr jung noch, hat da ehrlich im Komsomol gearbeitet, dann im Busyness, na, eben auf diesem üblichen Weg. Er hatte ein Dach, natürlich. Dann begann er ziemlich eigenständig aufzutreten. Als der Krieg in Tschetschenien begann, weigerte er sich, Steuern zu zahlen, um den Krieg nicht zu unterstützen. Er bot Tschernomyrdin riesige Geldsummen an, wenn bloß der Krieg aufhöre; er weigerte sich, Geld für den Bau der Erlöserkriche in Moskau zu geben. Ergebnis: Am Ende des Jahres lief seine Lizenz für die Tankstellen ab – eine neue hat er nicht bekommen. Das war´s dann. Er ist einmal Benzin-König gewesen.“
…benzinom Karolom.”

Analytiker:
In einer kürzlich durchgeführten Konferenz im Internet zum Thema ”Rechtspolitik und Sicherheit in Rußland” faßten Alexander Rahr, Leiter der Arbeitsstelle Rußland/GUS der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, und sein Kollege Philippp Pachomow diese Entwicklung in die Worte:

Zitator:
”Mit der Reformpolitik von Michael Gorbatschow wurden in den Staaten Osteuropas revolutionäre politische, soziale und wirtschaftliche Prozesse ausgelöst. Doch die Liberalisierung und die damit verbundene Schwächung des Staates führten auch in der kriminellen Welt der ehemaligen Sowjetunion zu Veränderungen. Die russische organisierte Kriminalität ist keine vorübergehende und schon gar nicht eine zufällige Erscheinung. Die kriminelle Welt, die Jahrzehnte lang vom KGB kontrolliert, zuweilen auch kultiviert wurde, war während der siebzigjährigen Herrschaft der kommunistischen Nomenklatura längst zu einem Staat im Staate mit eigenen Gesetzen und Verhaltensregeln geworden. Mit dem Beginn der Reformen strömte das Verbrechen in die sich nun öffnenden Freiräume, verschmolz mit dem korrumpierten teil des Staatsapparats und strebt heute nach Einfluß auf die Politik und das öffentliche Leben Rußlands. Nicht nur für die junge russische Demokratie, sondern auch für die westlichen Industrieländer wird das organisierte verbrechen der ehemaligen Sowjetunion, oft auch als ”Russenmafia” bezeichnet, zu einer aktuellen Bedrohung. Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität ist inzwischen zu einem weltpolitischen Thema größter Tragweite auf dem Gipfeltreffen der G-8 Staaten geworden.”

Analytiker:
80% des russischen Kapitals seien heute mafiotisch, erklären Alexander Rahr und Philipp Pachomow; zwei Szenarien halten sie für möglich:

Zitator:
”Das negative Szenario sieht vor, daß sich Rußland zu einem halb kriminellen Staat entwickelt, dessen führende Kräfte die zentralen Bürokraten, Unternehmenskartelle und die kriminelle Elite sein werden. Eine solche Entwicklung könnte schließlich mit der Machtergreifung eines autoritären Anführers enden, der gegen Korruption und Kriminalität zwar hart durchgreifen, aber auch die Freiheitsrechte und demokratische Bestrebungen einschränken würde. Das zweite, positive Szenario geht von einer Legalisierung des kriminellen und halb-kriminellen Kapitals in Rußland aus. Dabei müssen die illegalen Vermögen in destruktives und konstruktives Kapital unterschieden werden. Das destruktive Kapital wird weiterhin für illegale Operationen eingesetzt und kann unter den Bedingungen der staatlichen Schwäche und der Instabilität im Lande rentabel eingesetzt werden. Sein Einsatz unterminiert jegliche Anfänge der Schaffung eines Rechtsstaates. Der bei weitem größere Teil des illegalen russischen Kapitals dürfte jedoch dem konstruktiven Kapital zugerechnet werden. Das konstruktive Kapital ist an stabilen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen interessiert und strebt zivilisierte Wirtschaftsformen an. Diese Rahmenbedingungen zu schaffen ist Aufgabe des Staates. Die russischen Fluchtgelder, die derzeit auf ausländischen Banken geparkt werden, werden gerade aufgrund der instabilen Situation im Inland abgezogen und stammen oft nicht unmittelbar aus illegalen Geschäften. Die Rückführung und Reinvestition dieser Gelder könnte der russischen Wirtschaft zum erhofften Aufschwung verhelfen. …Auf dieser Grundlage könnte in der Perspektive ein russischer Rechtsstaat wachsen. Rußlands zukünftige Entwicklung wird sich sicherlich im Rahmen dieser beiden Szenarios vollziehen. Welche Tendenz die Prozesse annehmen werden, ist heute noch nicht abzusehen.”

Analytiker:
Fast alles Mafia also?  – und doch Hoffnung? Werden die Verbrecher von heute die weißen Kragen von morgen sein, so wie es in Europa und in den USA war? Welche soziale und politische Kraft könnte diese Wende bewirken?
Auf diese Frage gibt die Mehrheit der russischen und ausländischen Analytikerinnen und Analytiker keine Antwort. Hinweise gibt Boris Kagarlitzki. Kagarlitzki war seit Mitte der 80er Aktivist der Perestroika, danach Abgeordneter der Volksfront im Moskauer Sowjet bis zu dessen Auflösung 1993, danach Berater der entstehenden unabhängigen Gewerkschaftsbewegung. Seit deren Einschwenken auf den Kurs Boris Jelzins ist er Radikaldemokrat ohne politische Heimat.
Auf die Frage, warum die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbreche, antwortete er bereit 1994 vollkommen eindeutig:

O-Ton 9:  Boris Kagarlitzyky                                 0,59
”No, wo pervich Rossije…
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Übersetzer:
„Nun, erstens ist Rußland kein kapitalistisches Land. Aber ich sage noch mehr: Heute ist Rußland in seinem wirtschaftlichen Mechanismus weitaus weiter vom Westen entfernt, als, sagen wir, 1991. Das ist spürbar. Es findet eine Primitivisierung der Wirtschaft statt. Der einheitliche innere Markt ist zusammengebrochen. Elementare Bedingungen der, sagen wir, Vermittlung von nichtselbständiger Arbeit entfallen, wenn die Menschen keinen Lohn mehr bekommen. Es gibt keinen Arbeitsmarkt. Die Menschen arbeiten nicht, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern aus anderen Gründen. Aus Abhängigkeit, aus Tradition usw. Das heißt, in diesem Sinne hat sich Rußland in den letzten zwei Jahren allgemein vom westlichen Modell entfernt.“
… ot sapadnem modellom otdalilas”

Analytiker:
Aber Boris Kagarlitzki bleibt nicht dabei stehen, diese Tatsachen als Rückständigkeit Rußlands zu beklagen. Er sieht dahinter historisch gewachsene soial-ökonomische und politische Besonderheiten, die Rußland von der westlichen Welt unterscheiden. Wäre es in einem westlichen Industrieland möglich, daß die Bevölkerung über Monate, sogar Jahre keinen Lohn bekomme und doch nicht verhungere? Fragt er und antwortet selbst:  Nein, das wäre nicht möglich. Das ist keine kapitalistische Beziehung zur Arbeit.

O-Ton 10: Boris Kagarlitzki, Forts.            1,05
”Na u nas wasmoschna…

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Übersetzer:
”Aber bei uns ist das möglich, das ist normal. Das sind die Strukturen der Obschtschina, der Produktions- und Lebensgemeinschaft. Die Menschen leben auf Kosten der Solidarität der Gemeinschaft. Das ermöglicht dem Staat, seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen – aber sie bezahlen auch dem Staat nicht die Steuern, das muß man im Kopf behalten. Also, das ist die kompakte wechselseitige Haftung. Das ist der korporative Bau der Obschtschina, der nicht nur alte Elemente, vermischt mit sozialistischen bewahrt, sondern einfach aufgrund anderer Gesetzmäßigkeiten als die kapitalistische Welt existiert: das sind die Gesetze der naturalen Wirtschaft, einer Wirtschaft des unmittelbaren geldlosen Tauschhandels. Lohn wird nicht gezahlt, aber dafür werden Produkte ausgehändigt. Bei uns im Obschtschinatyp ist die Beziehung der Menschen zueinander von kollektiven Verpflichtungen geprägt und nicht individuellen. Das ist eine völlig andere Beziehung zwischen Staat und Individuum als im Westen. Bürgerliche Rechte existieren im Prinzip bei uns nicht und können nicht existieren. Insofern die Beziehungen in der Regel zwischen Korporationen bestehen und der Austausch über sie läuft, ist das keine bürgerliche Gesellschaft.”
…nje graschdantwo obschestwo.”

Analytiker:
Die Privatisierung, so Kagarlitzkis These, habe auf die Auflösung Obschtschina gezielt. Die katastrophalen Folgen der Privatisierung aber ließen zunehmend eine Gegenbewegung entstehen. Sie gehe von den Regionen aus, die am härtesten unter dem Zerfall der bisherigen Strukturen zu leiden hätten, und würden dort von der örtlichen Elite im Einvernehmen mit der Bevölkerung getragen. Politisch erscheine vielen dieser Vorgang als Rückkehr zur Sowjetzeit. Eine gewisse restaurative Dynamik liege aktuell sicher darin. Aber auf lange Sicht entstünden dort zur Zeit offenbar jene Formen des Kapitalismus, die Rußland heute hervorbringen könne: ein durch demokratische Wahl legitimierter bürokratischer Korporativismus auf der Basis kollektiven Privateigentums.

Die Thesen von Kagarlitzki überraschen: Solche Strukturen sind bisher in keinem Lehrbuch der Ökonomie zu finden. Aber Gespräche vor Ort zeigen, daß Kakagrlitzky recht hat: Die von den Reformern seit 1991 propagierte Selbstregulierung des Marktes stößt an Grenzen der real existierenden sozialen Strukturen, das heißt, der Obtschschina, und zwar in mehrfacher Hinsicht:  Zum einen ist der privatisierte Sektor ist zu großen Teilen auf Kosten des Gemeinschaftseigentums entstanden und lebt von ihm. Investiert wurde nicht. Klar gesprochen, die neue privatistische Elite lebt vom Speck des früheren und noch existierenden Gemeineigentums. Das ist nicht ewig fortsetzbar, auch wenn Rußlands Ressourcen unendlich erscheinen. Die neueste Krise hat das deutlich hervortreten lassen. Wer nicht vom Speck lebte, sondern mit eigener Hände Arbeit in den letzten Jahren ein kleines mittelständisches Unternehmen aufgebaut hat, sieht sich durch die aktuelle Krise in den Ruin, mindestens wieder in die Bereiche krimineller Geschäfte gedrängt, weil die Bevölkerung kein Geld hat, Waren oder Dienstleistungen zu bezahlen, weil die Steuern nicht zu bezahlen sind, weil die Schikanen einer mafiotischen Bürokratie, die sich Lizenzen mit Bestechungsgeldern bezahlen läßt, den Spielraum für Geschäfte allzusehr einengen.
Zum zweiten erweisen sich die Gemeinschaftsstrukturen der großen Betriebe als weitgehend resistent gegenüber ihrer Auflösung. Den Grund dafür kann man von Männern wie Viktor Alexandrowitsch Schmidt hören.
Schmidt ist Direktor der ”Kras-Les-Masch”, der Krasnojarsker Waldmaschinenfabrik. Rund sechshundert Beschäftigte hat das Werk. Obwohl der Direktor möchte, kann auch er die Löhne nicht ordnungsgemäß zahlen, Teile der Belegschaft stehen auf Kurzarbeit, die sozialen Leistungen sind eingeschränkt. Aber entlassen wird nicht. Warum nicht?

O-Ton 11: Direktor, ”Kras-les Masch”                           0,57                                                                                 ”Mi ne moschem…
Regie: O-Ton kur stehen lassen,  abblenden, unterlegen, hochziehen

Analytiker:
”Wir können nicht auf einmal alle Leute rauswerfen und zum Kapitalismus übergehen. Ich habe in Deutschland gelernt;  ich habe schon vor meheren Jahren gesagt, daß wir in diese Richtung gehen. Aber siebzig, achtzig Prozent der Menschen einfach rausschmeißen, das geht nicht! Umsoweniger als sie zum Teil fünfundzwanzig, dreißig, vierzig Jahre hier arbeiten. Der allgemeine Alltag um uns herum läßt das nicht zu. Nehmen wir an, wir täten es: dann bekämen wir eine Fabrik, die gut lebt, während rundum alles schlecht ist. Nein, so geht es nicht! Es muß schon eine allgemeine Entwicklung sein. Dafür muß ein staatliches Programm her. Wir sind ja Direktoren, keine dummen Leute, wir wissen natürlich, daß man letztlich nur verbrauchen kann, was man erarbeitet; und nur soviel Menschen kann man ernähren. Aber wohin mit den Übrigen? Die stehen dann vor dem Zaun, vergreifen sich an den Leuten, die hier noch verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Nein, diese Frage kann nur auf staatlichem Wege entschieden werden.”
… videmo gossudarstvom.”

Analytiker:
In Nowosibirsk schließlich gilt die ”Eisenbetonfabrik Nr 4” als Musterbetrieb für eine mögliche zukünftige Entwicklung. Mit knallharten Rationalisierungen und Arbeitszeiten bis zu 12 Stunden täglich für die Verbliebenen hat es der dortige Direktor geschafft, den Betrieb wettbewerbsfähig zu machen und nicht nur die Löhne zu zahlen, sondern zudem noch die soziale Versorgung seiner Belegschaft bis hin zu einer, allerdings in Naturalien ausgezahlten, Betriebsrente für ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu garantieren. Die Belegschaft stützt seinen Führungsstil. Direktor und Belegschaft fühlen sich als Kollektiv, das in gemeinschaftlichem Interesse miteinander verbunden ist.
Alles wie gehabt also? Keineswegs! erklären Vertreter und Vertreterinnen der Belegschaft des Eisenbetonwerks. Niemand wolle zurück in die Sowjetzeit. Darüberhinaus gebe es entscheidende Unterschiede. Der erste: Wer nicht mit vollen Einsatz arbeiten wolle, müsse gehen. Der zweite:

O-Ton 12: Betriebsbelegschaft                    35
”A sewodnja mi…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblernden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, abblenden, allmählich ausblenden

Übersetzerin:
”Heute sind wir eine Aktiengesellschaft, eine eigene Wirtschaft. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unsere Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung…”
..jest sabrannije”, Stimmen

Erzähler:
Von vierhundert Menschen, die in der Fabrik arbeiten,  sind achtzig Aktionäre. Sie halten, einschließlich des Direktors,  jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet, einen Rat der Aktionäre: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Seine politischen Ansichten sind Privatangelegenheit; sie werden in der Belegschaft keineswegs von allen geteilt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht jedoch zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet.
Die Aktionäre verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Betrieben empfehlen. In der Tat: Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten Direktor könnten ein Weg sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum und Privatisierung hinausführt.
Die Frage ist nur, welches Mischungsverhältnis das paternalistische und das demokratische Element darin miteinander eingehen, einfach gesprochen, wer in dieser Gemeinschaft bestimmt – und wie.

Kann man Rußland noch verstehen? Eine Momentaufnahme der aktuellen russischen Krise

Vortext
Rußland wieder in der Krise. Diesmal  scheint es schlimmer als je zuvor. Der Rubel fiel in den Keller, die Preise schnellten ins Uferlose, die Regale sind leer. Die Bergarbeiter revoltierten, die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf. Sie fordern eine neue Politik. Präsident und Duma blockierten sich wochenlang gegenseitig, bis man sich auf eine Kompromißregierung unter dem neuen Premier Jewgeni Primakow einigen konnte. Präsident Jelzin mußte zwar nicht gehen, wie von vielen gefordert; in Zukunft wird er sich aber vor allem damit beschäftigen müssen, die Zeit nach Jelzin zu organisieren. Entscheidende Wahlen stehen bevor: Ende 1999 soll die Duma, im Jahr 2000 soll ein neuer Präsident gewählt werden. Kann dieser Schritt gelingen? Und mit welchen neuen Programmen?
Kai Ehlers hat sich während der Krise im Lande umgeschaut.

O-Ton 1: Kinderfest        0,40
Musik beim Kinderfest
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Kinderfest im Kulturpark einer Republikhauptstadt. Tscheboksary an der Wolga. Ungeachtet der Krise wird Fröhlichkeit für die Kinder organisiert. Das städtische Puppentheater gibt eine Gratisvorstellung für Familien, die sich die teuren Kindergartenplatze nicht mehr leisten können. Auch die Karussels, Raupen und vieles anderes Vergnügungsgerät, das in diesem Park einst kostenlos zur Verfügung stand, steht verödet.
Geladen ist auch die Dichterin Raissa Sarpi, früher als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit ausgezeichnet. Sie ist Vorsitzende der regionalen Frauenorganisation, Redakterurin einer Frauen- und einer Kinderzeitung. Auch sie tritt kostenlos auf. Am Rand ihres Auftritts aber schüttet sie ihr Herz über den Zustand ihres Landes aus:

O-Ton 2: Raissa Sarpi        0,30
”Setschas w Rossije…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
“Zur Zeit gibt es in Rußland keinen Staat. Es gibt nur die Parodie eines Staates. Worin zeigt sich das? Der Mensch braucht Lohn, bei uns werden die Menschen zur Zeit aber rücksichtlos auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen. Sie bekommen keinen Lohn. Selbst die Sklaven, die die Pyramiden bauen mußten, wurden versorgt. Wir dagegen schuften Monate, Jahre und erhalten nicht eine Kopeke.  Der Mensch kann eine Woche ohne Wasser sein, ohne Nahrung, wie Christus kann er vierzig Tage überstehen. Aber wie oft sind wir schon vierzig Tage lang nicht mehr versorgt worden! Wenn wir nicht die Dörfer hätten, Verwandte, wären alle Leute schon vor Hunger umgekommen.”
… umerli bi.”

Erzähler:
Es werde große Veränderungen geben, fährt sie fort. Nicht nur vor Rußland, vor der gesamten Menscheit stehe die Frage des Überlebens. Aber was tun?

O-Ton 3: Raissa, Forts.        0,55
“Po swjem parametrom…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin bei 0,25 hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
“Allen Anzeichnen nach wollen die höheren Kräfte, die uns erschaffen haben,  uns vernichten. Aber insofern es auf der Welt einige hundert rechtschaffende, reine Leute gibt, die an Gott glauben und nach den göttlichen Gesetzen leben, entschieden diese Kräfte, ihretwegen den Planeten Erde zu erhalten. Die Apokalypse, die in der Bibel angekündigt ist, wird eintreten und das wird in nächster Zeit sein; was ist die Apokalypse…?”

Regie: Hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Atemlos treibt es die Dichterin voran. Sie hat eine Offenbarung zu verkünden. Es bleibt wenig Zeit: Schon im August 1999 werde die Ozonschicht des Planeten sich auflösen. Überleben können nur Menschen mit reiner Seele, erklärt sie, die keine negativen Energien anziehen, die einander lieben und sich gegenseitig helfen. Die üblen dagegen, die auf Kosten anderer Millionen und Milliarden an sich gerissen haben, werden vernichtet. Für sie ist keine Vergebung möglich. Die Demokratie, setzt Frau Sarpi noch hinzu, habe den Menschen die Wahl zwischen Gut und Böse gegeben. Man müsse wählen.
…nada delatj vibor

Erzähler:
Frau Sarpi ist beliebt in der Republik.  Ihre Gedichte werden vertont. Es ist ihre radikale Vision einer gerechten ökologischen Gesellschaft,  welche die Menschen bisher zu ihr zog. Aber ihre Auftritte, die noch vor wenigen Jahren im Dienst des erwarteten demokratischen Aufbruchs und der Souveränität der ethnisch geprägten tschuwaschischen Republik, ihrer Heimat, standen, werden mehr und mehr zu Verkündigungen jenseitiger Hoffnungen. Zwölf neue Propheten gebe es heute, meint Frau Sarpi, die auserkoren seien, die Menschheit zu retten. Sie zählt sich dazu. Die Offenbarungen eines anderen liegen auf ihrem Schreibtisch – ein dickleibiger Schmuckband unter dem Titel „Das letzte Testament,  dessen aufwendige Aufmachung auf potente Finanziers verweist. “Konjez swjeta”, das Ende des Lichtes und die Sammlung aller Gerechten wird auch darin verkündet.
Allerorten strömen die Menschen heute solchen Propheten zu, die Ersatz für die verlorene „lichte Zukunft des Sozialismus“ und Heilung vom Streß der neuen Wolfsgesellschaft versprechen.

O-Ton 4: Platzmusik in Andschero Sudschinsk     0,55
Musik
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam lassen, nach Erzähler kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Feiern, um die Weltuntergangsstimmung zu vertreiben, das gilt auch für Andschero Sudschinsk. Andschero Sudschinsk ist jener Ort im sibirischen Kemerowo, von dem im Sommer die Streiks der Bergleute und die Blockierung der Transsibirischen Eisenbahnstrecke ausging. Auch frühere Streiks hatten hier ihren Ursprung. Andschero Sudschinsk ist mit fünf Zechen, von denen drei stillgelegt sind und zwei die Löhne zurückhalten, Kern des sibrischen Krisengebietes und Auslöser der letzten Krise. Den Statistikern gilt Andschero Sudschinsk als sterbende Stadt mit der höchsten Selbstmordquote in der russischen Föderation. Heute wird, allen Veränderungen der letzten Jahre und der aktuellen Krise zum Trotz, der “Tag des Bergarbeiters” gefeiert.

Regie: hier ausblenden
Erzähler:
Zwei Ecken weiter, gerade weit genug, um das laute Treiben nicht mehr zu hören, stehen die Menschen Schlange vor einem kleinen Kiosk, an dem Brot verkauft wird. Hier geht es ganz um den Alltag, den Anstieg der Preise, die fehlenden Löhne. Haben die Streiks einen Sinn? Kann man an der Situation etwas ändern?

O-Ton 5: Frau in der Schlange         0,25
“Nu vot jelesni…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Daß die Gleise blockiert wurden, das war natürlich schon nicht mehr gut.”, meint diese Frau, die selbst an den Aktionen nicht teilgenommen hat. „Aber andere Mittel hat man ja nicht mehr“, fährt sie fort. „Kein Geld, die Menschen hungern schon. Selbst Brot für die Kinder können manche schon nicht mehr kaufen.” So etwas habe es selbst im Krieg nicht gegeben.
Und wenn die Regierung jetzt Verbesserungen verspreche?
… takowa nje bila”

O-Ton 6: Mehrere Menschen, Schlange        0,16
„Nje veru ja…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Ich glaube nicht ein Wort“, sagt der Mann. Die Frau stimmt ihm zu. Immer wieder Versprechungen, immer wieder dasselbe. So könne es nicht weitergehen, meint ein anderer. Das Wort Revolution klingt auf.

O-Ton 7: Schlange in Andschero-Sudschinsk     0,16
„Ne snajau, normalno…
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
“Ja, das wäre normal”, sagt der Mann. “Man muß möglichst bald eine Revolution machen. Dann gibt es vielleicht wieder Ordnung.”
Unter Revolution versteht er: “Oben muß aufgeräumt werden; ein Umsturz muß her!”
…djelat nada, Straße

O-Ton 8  Forts. Schlange        0,16
“Nam mnoga krowje…
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Erzähler:
“Viel Blut wird es geben“, wendet ein anderer ein. “Man muß alles auf friedlichem Wege machen.” Vorstellungen wie das geschehen könnte, hat er nicht. “Wir sind die Arbeiterklasse, “sagt er, “darüber sollen die da oben nachdenken.” Die Umstehenden stimmen ihm zu.
…tam verhach”, Stimmen

Erzähler:
Die Geduld der Menschen ist am Ende. Die Regierung ist ratlos. Aber eine Revolution findet nicht statt. Warum nicht? Ein junger Mann, Facharbeiter in der Maschinen-Fabrik des Ortes, erklärt das so:

O-Ton 9: Facharbeiter, Forts.         0,41
„Da,  potschti revolutionni
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Übersetzer:
„Ja, es ist eine nahezu revolutionäre Situation. Ich weiß nicht, wie das zustandekam, aber daraus erwächst jedenfalls nichts Gutes. Deshalb hat die Macht begriffen, daß Gewaltanwendung hier nicht möglich ist. Es gab keine Polizeieinsätze. Selbst die Sondertruppen hielten sich zurück. Sie sind ja selbst in der gleichen Lage. Sie kriegen ihren Lohn auch nicht. Sie wissen, daß die Leute gegen das Elend aufstehen. Deshalb sind sie mindestens neutral. Einige haben sich sogar offen solidarisch erklärt. …
Es müssen Maßnahmen her, die die Menschen beruhigen. Jelzin hat die Bergarbeiter betrogen, er muß weg. Das ist klar. Aber ob das nützt? Ich weiß es nicht, schwer zu sagen. Es ist eine nicht vorhersagbare Situation.“
…nje pedskasuimaja situatia“

Erzähler:
In der Verwaltung klingt es nicht viel anders: Nach den Streiks wurde der Administrator der Stadt Andschero-Sudschinsk ausgewechselt. Viktor Ifschan, der neue Mann, früher Direktor der größten Maschinenfabrik des Ortes, hat jetzt die Hinterlassenschaft der Streiks zu bewältigen. Sein Urteil ist so zweideutig wie die ganze Situation:

O-Ton 10: Administrator von Anschero-Sudschinsk    0,34
„No, objektivna…
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Übersetzer:
„Außer negativen Folgen haben die Streiks für die Stadt nichts gebracht. Das muß man sagen. Man muß aber auch sagen, daß die Bevölkerung sich in einer ziemlich schwierigen Lage befindet, insbesondere mit dem nicht gezahlten Löhnen, offener und versteckter Arbeitslosigkeit. Jeder Mensch hat das Recht dagegen zu protestieren, wenn er sich an die Gesetze hält. Warum dagegen einschreiten? Ich habe, noch als Direktor der Maschinenfabrik, meinen Leuten erlaubt, sich für drei Stunden am Tag an den Aktionen zu beteiligen.“

Erzähler:
Überdies hätten die Ereignisse auch Nützliches gebracht, findet der Administrator. Moskau habe sich endlich um die Region kümmern müssen.

O-Ton 11: Administrator, Forts.         0,32
„Obsche korne problemi..
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Übersetzer:
„Die allgemeine Ursache der Probleme liegt ja darin, daß wir gegenwärtig nicht wissen, was wir aufbauen, wohin wir gehen. Der Staat hat sich aus der Verantwortung gezogen. Verschuldung beim IWF,  innere Verschuldung, also Einbehaltung der Löhne, Sparpolitik. Das alles wird der Bevölkerung aufgelastet. Würde jemand  sagen, wohin der Zug geht, würde die Bevölkerung noch lange aushalten, nicht ewig, aber lange. Objektiv sind die Menschen bei uns ja bereit, auszuhalten, wenn sie nur wissen wofür.“
… kudasche mi idjom“
Erzähler:
Der Administrator sucht deshalb den Dialog. Im Dialog zwischen Betrieben und Arbeitenden möchte er einen Weg finden. Das Gleiche gilt für den Gouverneur der Republik Kemerowo, Tulejew, der sich klar gegen jede gewaltsame Lösung des Konfliktes ausgesprochen hat.
An Orten, die an den Aktionen nicht unmittelbar beteiligt, aber doch von ihren Auswirkungen betroffen waren, ist man nicht so nachsichtig. So etwa  in Nowosibirsk. Dort wettert Nicolai Matschalin, der Direktor der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“ in Nowosibirsk hart gegen die Streiks der Bergleute. Aus seiner Sicht sind das Provokationen gegen das russische Volk:

O-Ton 12: Fabrikdirektor Matschalin        0,31
„Oni tam sedeli…
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Übersetzer:
„Sie haben da gesessen und blockiert – wir haben keinen Zement bekommen, keine Bauteile usw.  Wir konnten die Steuern nicht zahlen, weil wir nicht produzieren konnten; unsere Pensionäre kriegten ihre Rente nicht, meine Arbeiter keinen Lohn, weil sie ihn nur bekommen, wenn sie arbeiten.  Wie kann da die Beziehung zu den Streikenden sein! Nun, natürlich extrem negativ! Das geht fast bis zum Haß. Der Staat, der Polizei und Spezialtruppen hat, OMON, wäre verpflichtet gewesen, die Bergarbeiter da wegzuräumen.“
…ubratj schachtörow srelzow“

Erzähler:
Moskau habe seine Schwäche gezeigt, fährt der Direktor fort, um sich gleich darauf wieder zu korrigieren – vielleicht ja auch seine Stärke,  indem es die Aktionen einfach ignoriert habe. Für die, die arbeiten wollten, wende sich die Lage durch solche Aktionen aber noch weiter zum Schlechteren. Ein Pinochet müsse her, ein entschlossener Diktator, meint der Direktor:

O-Ton 13 Direktor, Forts.    0,31
„Kak nowodil parajadok… Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Wie hat Pinochet die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß er dem Giutarrenspieler Viktor Jara die Hände  zerschlug; ja, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land! Und es war General Pinochet, der es zum Blühen brachte; dann ist er von selbst gegangen. Eisenhower, de Gaulle! Sie waren starke Generale, welche die Autorität des Volkes nutzten. Wenn ein paar hundert Leute im Stadion ohne Essen und Wodka zusammengetrieben würden, dann gäbe es ein bißchen Aufruhr und sonst nichts.“
… i nitschewo nje bila“

Erzähler:
Bedauerlicherweise, schließt der Direktor, gebe es im heutigen Rußland keine Führungspersönlichkeit, die dazu bereit wäre, diese Rolle zu übernehmen. Auch der von ihm verehrte General Alexander Lebed, obwohl für einen starken Staat, sei leider nicht bereit, den Weg der Diktatur zu gehen.
Eine revolutionäre Situation ohne Revolutionäre, das ist Rußland am Ende von sieben Jahren Jelzinscher Reform-Politik. Wie beurteilen russsiche Analytiker diese Situation? Hören wir dazu Tatjana Saslawaskaja, die große alte Dame der russischen Soziologie. Von ihrer „Nowosibirsker Schule“ gingen seinerzeit erste Impulse zur wissenschaftlichen Begründung der Perestroika aus. Heut ist Frau Saslawskaja Co-Rektorin im „Institut für Sozialwissenschaften“ in Moskau. Intensivierung – so lautete damals ihre Hauptforderung. Was ist ihrer Ansicht nach daraus geworden?

O-Ton 14: Tatjana Saslawskaja        0,25
„Ja dumaju schto…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Ich denke, wir befinden uns jetzt in einer „Gesellschaft im sozialen Umbruch“. So habe ich es in meinem letzten Buch genannt. Alte Institutionen zerfallen, neue bilden sich erst heraus. Deshalb ist die Gesellschaft zerbrochen, befindet sich in diesem intensiven Prozeß der Transformation. Auf die Frage, gab es eine Intensivierung? kann ich deshalb nur antworten: Ja und auch nein. Hier kann es keine eindeutige Antwort geben.“
… i da i njet.“

Erzähler:
Auf den kriminellen Charakter der Privatisierung angesprochen, antwortet sie:

O-Ton 15:  Saslawskaja, Fortsetzung        0,35
„Kriminalni, eta fakt…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Kriminell – das ist ein Fakt: krimineller Charakter der Gesellschaft, kriminelle Macht, kriminelles Eigentum. Das ist das Schlimmste. Daß die Produktion steht, daß die Leute keine Arbeit haben, daß alles zusammenbricht – das ist alles wahr. Das ist sehr schlecht. Aber die Kriminalisierung unserer Gesellschaft ist natürlich das erschreckendste Resultat. Wir haben nicht nur keinen Schritt in Richtung eines Rechtsstaates geschafft, sondern uns viele Schritte von ihm entfernt. Das scheint mir das Problem Nummer eins zu sein. Wie das Problem gelöst werden kann, weiß ich nicht, gerade wegen der Kriminalisierung der Macht.“
… kriminalisatia wlasta.“

Erzähler:
In ihren frühen Veröffentlichungen hatte Frau Saslawskaja die Gellschaft der Sowhetunion als Hybrid beschrieben: nicht Sozialismus, aber auch nicht Kapitalismus. Sie fand dafür den Begriff einer „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“. Für die nach der Privatisierung entstandene Situation scheint ihr aber selbst dieser vage Terminus noch zu bestimmt:

O-Ton 16:         0,35
„Ja vo pervie mje verju…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Ich glaube nicht, daß der Begriff Hybrid noch zutrifft. Auch die Begriffe Kapitalismus oder Sozialismus können nicht mehr richtig erklären, womit wir es hier zu tun haben. Man braucht neue Begriffe ……….Insgesamt würde ich unsere Gesellschaft heute eher als kapitalistisch beschreiben. Aber was für ein Typ von Kapitalismus? Man verkauft das eigene Land unter Wert. Man stielt und verschleudert es; Fabriken, Parkplätze, Wälder; es gibt genug zu verkaufen. So ein Kapitalismus ist das: kriminell, antipatriotisch. Aber das ist auch wieder nicht richtig. Wie soll man es nennen? Am Ende ist es einfach so etwas wie ein Monster.“
… Monster polutschajetsja.“

Erzähler:
Nicht mehr Kapitalismus, sondern weniger sei entstanden, meinen andere Analytiker. In einem aber sind sich alle einig: Das ehemalige staatsmonopolistische Eigentum wurde auf räuberische Weise privatisiert; die dabei erzielten Gewinne  wurden jedoch nicht investiert, sondern zu großen Teilen ins Ausland transferiert. Die zerfallende Nomenklatura verband sich mit ihrem Gegenstück, der mafiotischen Schattenwirtschaft zu neuen Oligarchien, die miteinander kämpfen.  Präsident Jelzin, obwohl von der Verfassung 1993 mit nahezu diktatorischen Vollmachten ausgestattet, beschränkte sich auf die Erhaltung eines status quo. Der Schwächung der Zentralmacht aber entsprach die wachsende Bedeutung der Regionen. Kommen von dort die zukünftigen Alternativen?
Auf diese Frage antwortet Pjotr Fjodossow, Berater für den Vorsitzenden des 1993 neu geschaffenen Föderationsrates:

O-Ton 17: Pjotr Fjodossow        0,47
„Alternative..  (deutscher Text)
Regie: O-Ton  durchlaufen lassen

Pjotr Fjodosswo (deutsch):
„Alternative ist vielleicht nicht das optimale Wort, aber es steht für meine Begriffe fest, daß a)  der Schwerpunkt der Entscheidungsfassung sich zunehmend in die Regionen verlagert, also die Regionalisierung, die Föderalisierung findet real statt. Innerhalb von fünf Jahren, – vor fünf Jahren gab es diese Institution  hier gar nicht  – ist dieser Prozess sehr fortgeschritten. In den letzten zwei Jahren erst recht, weil in den letzten zwei Jahren die russischen Regionen sich diesem Prozess massiv angeschlossen haben. Damit verliert der Prozess der Regionalisierung und Föderalisierung seine ethnische Komponente, was ihn zu einer Normalität, zu einer wünschenswerten macht.“
…wünschenswerten macht.“

Erzähler:
Das zweite Argument Fjodossows ist nicht minder wichtig:

O-Ton 18 Pjotr Fjodossow        0,48
„Alternative..  (deutscher Text) Regie: O-Ton  durchlaufen lassen

Pjotr Fjodosswo (deutsch):
„Das andere ist, daß in vielen Regionen inzwischen eine wirtschaftliche, sozialwirtschaftliche Eigendynamik entstanden ist, daß Lösungen gesucht und auch gefunden werden, die oft landesweit sich nicht umsetzen lassen, aber in den Regionen doch umgesetzt werden können und die Regionen auf der Oberfläche halten. Die Lage ist sehr ungleich in verschiedenen Regionen, aber es gibt durchaus Regionen, in denen heute schon ein Wachstumstrend erkennbar ist. Ich glaube, daß mittelfristig die stärksten Impulse für die Sanierung der allgemeinen Situation aus den Regionen kommen werden.“
… kommen werden“

Erzähler:
Wie diese Impulse aussehen, läßt sich im Kleinen gut an der bereits erwähnten „Eisenbetonfabrik Nr. 4“ in Nowosibirsk studieren. Ungeachtet, möglicherweise aber auch dank der kruden Ansichten des Direktors gilt die Fabrik weit über Nowosibirsk hinaus als Musterbetrieb. Zu ihr werden Besucher geführt, denen man eine Alternative zeigen möchte.
Bereitwillig erklärt Direktor Matschalin, wie es dazu kam:

O-Ton 19: Direktor        0,34
„Nu, jesli po tschestnemu …
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nun, geradeheraus gesagt: In den letzten Jahren, insbesondere in den letzten vier Jahren, haben wir den Umfang unserer Produktion erweitert. Wir sind wieder auf das Niveau angestiegen, daß wir vor dem Niedergang hatten, also auf das Niveau vor Perestroika. Es gibt keine andere Fabrik hier bei uns, die in diesem Umfang tätig ist, mehr noch, viele Fabriken, die vom Umfang ihrer Produktion her früher Giganten waren, liegen weit unter der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“. Von  der Hauptadiministration des Gebietes haben wir daher Preise  für „Erfolgreiche Entwicklung von Geschäftstätigkeit in Sibirien“ erhalten.“
… w Sibirje.“

Erzähler:
Lässig zeigt er auf die Preise, die in dem modernisierten Büro augestellt sind. Dann schränkt er ein:

O-Ton 20: Direktor        0,38
„Nu, njeschni pokasateli…

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nun, das sind die äußeren Anzeichen. Im Innern sieht es anders aus. Es ist alles sehr schwierig, es stimmt alles irgendwie nicht, vor allem mit den Steuern. Bei uns in Rußland wird jedes Unternehmen in die Enge trieben – dem Staat gegenüber, dem Budgetfonds, in gegenseitige Verrechnungen und Verschuldungen. Lebendiges Geld gibt es nur sehr wenig. Das lebendige Geld reicht gerade eben für den Fond zur Bezahlung der Arbeit. Alles andere chinchen wir irgendwie aus, mit dem Staat, mit der Stadt, mit dem Verwaltungsgebiet, mit unseren Kunden, tauschen irgendwie, mogeln uns durch.“
… schion no milo, tak.“

Erzähler:
Wie die Erfolge erzielt wurden? Die Antwort des Direktors läßt nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig:

O-Ton 21: Direktor        0,59
„Nu, rabotschi stali…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem 2. Übersetzer bei 0,25 hochziehen

Übersetzer:
„Die Arbeiter müssen mehr arbeiten. Ich fordere von ihnen vollen Einsatz. Zu Boomzeiten arbeiten sie 10 bis 12 Stunden, auf manchmal zwei, drei Monate überhaupt ohne Pause. Dafür gebe ich ihnen praktisch auch alles, was sie brauchen, um zu leben. Was kann man da nennen: freie Wohnung, Mahlzeiten, medizinische Versorgung, Kindergartenplätze, Kuraufenthalte.“

Regie: hier kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen
Erzähler:
Lang ist die Liste, die der Direktor aufzählt: Sogar eine persönliche Pension gibt es, die ehemalige Mitarbeiter in Form von Nahrungsmitteln bekommen.

Übersetzer:
„Diese Menschen gaben der Fabrik ihre ganze Jugend. Einige haben hier vierzig oder mehr Jahre gearbeitet. Nach der Privatisierung blieben sie auf der Abfallseite des Lebens. Außer uns hilft ihnen niemand. Ich versuche, was ich kann.“
015 … nikto ne pomoschet“ putajus..

Erzähler:
Auf den Staat oder auf Gott zu hoffen“, so bringt Matschalin sein Credo auf den Punkt, „da kannst du lange warten. Du mußt selber entscheiden.“

O-Ton  22: Direktor        1,02
„To est, sidit…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzung:
„Das heißt, hier sitzen und auf irgendwelche Aufträge vom Staat zu warten, das ist nicht seriös. Die Direktoren, die saßen und auf Aufträge aus dem Budget gewartet haben, aus Budgetfinanzierung, drei, vier Jahre zurück, die haben verloren. Sie haben sich verspätet. Der Zug ist abgefahren. Rekonstruktion, Modernisierung, Reorganisation der Produktion kostet jetzt ein irrsinniges Geld. Darüber hinaus ist der Markt besetzt und da Eingang zu finden, ist sehr schwierig. Worum geht´s also? Die Qualität der Produkte bei gleichzeitigen Niderigpreisen! Der Profit den wir dabei rausholen, ist minimal. Das heißt, wir bekommen den Profit auf Grund des Umfangs unserer Produktion herein. Da geht es dann auch nicht mehr an, daß man lange redet. Die Dinge ändern sich schnell, da muß schnell eingeschlagen werden. Der Direktor muß sein Wort halten. Das Wort des Direktors garantiert die Zukunft der Fabrik. Wenn heute ein Direktor ein einziges Mal jemanden reinlaufen läßt, dann kommt der nicht wieder, darüberhinaus erzählt der Klient das allen anderen und aus ist es. Alles übrige, daß die Fabrik nur unter schweren Bedingungen arbeiten kann – ja, wir haben es schwer! Ja, wir haben hier diese formlose Wirtschaft. Aber was, bitte!? Wir leben nun mal hier in Rußland und werden nirgendwohin auswandern.“
… nikuda uischats.“

Erzähler
Die Belegschaft fühlt sich von solchen Worten keineswegs getroffen. Im Gegenteil: Stolz bestätigt sie den Kurs ihres Direktors:

O-Ton 23: Betriebsbelegschaft        0,10        Kollektiv u nas otschen…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer ausblenden

Übersetzer:
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut. Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand  nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin, Veteranin des Betriebes, wie sie sagt, ergänzt:

O-Ton 24: Betriebsbelegschaft        0,55
„Nu, schto to Kollektiv…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes.. Wir wissen:  Um heute arbeiten und überleben zu können,  sind folgende Bedingungen notwendig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten:  Nicht nur versprechen und dann nicht tun; man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch ziemlich geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? machen wir!´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, wir erfüllen die Aufträge, die die Stadt heute braucht, verstehen Sie?  Klagen hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren? In Norden werden Röhren gebraucht? Also arbeiten wie Samstag und Sonntag über 12 Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
… i mi djelajem.“

Erzähler:
Die Arbeitsplätze der „Eisenbetonbafrik Nr. 4“ sind begehrt. Hier fühlt man sich sozial aufgehoben und geschützt. Alles beim Alten also? Was unterscheidet diese Organisation des Betriebes und diese Haltung zur Arbeit noch von Sowjetzeiten? Die Antwort der Belegschaft ist unmißverständlich: Zurück will niemand. Erstens: Wer so nicht so arbeiten will, kann gehen. Das war früher anders. Noch wichtiger aber:

O-Ton 25: Betriebsbelegschaft        1,52
„Kto my? My aktionernoe…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,25 hochziehen, abblenden, unterlegen, zwischendurch beliebig hochziehen, weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzerin:
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unsere Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung…“
… jest sabrannije, Stimmen

Regie: Zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Von vierhundert Menschen, die in der Fabrik arbeiten,  sind achtzig Aktionäre. Sie halten, einschließlich des Direktors,  jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Die Aktionärsversammlung wählt einen Aktionärssowjet: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Seine politischen Ansichten sind Privatangelegenheit; sie werden in der Belegschaft keineswegs von allen geteilt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht jedoch zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet.
Die Aktionäre verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Betrieben empfehlen. In der Tat: Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten Direktor könnten ein Weg sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum und Privatisierung hinausführt. Die Frage ist nur, welches Mischungsverhältnis das paternalistische und das demokratische Element darin miteinander eingehen, einfach gesprochen, wer in dieser Gemeinschaft bestimmt – und wie.

Erzähler:
In Krasnojarsk kann man die Impulse, die sich in der Aktiengesellschaft der „Eisenbetonfabrik Nr. 4“  nur andeuten,  im Großen verfolgen.

O-Ton 26: Straße in Krasnojarsk         0,32
„Straße, Frage, Kak vam…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach dem Erzähler bei 0,8 hochziehen,  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:
Nach seiner Wahl zum dortigen Gouverneur von Stadt und Gebiet Krasnojarsk versucht der ehemalige General Lebed sich dort als Alternative zu Präsident Jelzin aufzubauen:

Regie: aufblenden, kurz stehen lassen

Erzähler:
„Lebed gefällt mir gut“, sagt diese Frau, die am Straßenrand Obst und Gemüse verkauft.  Mit Lebed werde Ordnung und Disziplin einkehren. „ Er ist ja Soldat“, sagt sie. Er wird die Preise stoppen, meint sie; er wird dafür sorgen, daß die Löhne und die Pensionen gezahlt werden. Eine Diktatur? Nein, die befürchte sie nicht. Sie habe ohnenhin nichts zu verlieren.
…gjla atwetow, Straße

Erzähler:
Gouverneur Lebed und seine Leute verstehen Krasnojarsk als Modell. Alexander Poluschin, Biograf Lebeds und nach dessen Wahl enger Mitarbeiter des Gouverneurs in der Administration, erklärt das so:

O-Ton 26: Poluschin, Forts.        0,30
„Sserze w etom smislom…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Es ist das Herz Rußlands. Hier gibt es erstens große Ressourcen. Und die Menschen haben gelernt, unter schweren Bedingungen zu leben. Die einheimische Bevölkerung und auch die, die hierher von der sowjetischen Macht verschleppt wurden. Diese Menschen sind fähig, Probleme zu lösen. …
Hier kann man zeigen, wie man die Ausplünderung, auch die durch Moskau, stoppen und eine elementare Ordnung herstellen kann. Das bedeutet, eine Diktatur des Gesetzes zu errichten.“
…diktaturu sakonna

Erzähler:
Ob das in Krasnojarsk gelingt oder ob Lebeds Hauptkonkurrent, der Moskauer Bürgermeister Juri Lyschkow, das Rennen gewinnt, macht kaum einen Unterschied. Beide treten für einen starken Staat ein, der den weiteren Ausverkauf Rußlands stoppen soll. Beide kommen aus der Regionalpolitik, Lyschkow allerdings mit dem Makel, aus Moskau, das heißt für viele, aus dem Zentrum  der bürokratischen Mafia zu sein, die das Land ausraubt.
Entscheidend ist, ob es gelingt, den bevorstehenden Machtwechsel zu vollziehen, ohne daß jemand meint, sich zu einem russischen Pichochet aufschwingen zu müssen. Dies ist eine Frage, die nicht nur Rußland angeht.

Krasnojarsk – Modell für ein neues Rußland? Auf den Spuren des Krisenmanagers Alexander Lebed

Vortext:
In Rußland beginnt ein Wahlkampf besonderer Art: Die Sommerkrise des Jahres 1998 hat die politische Ablösung des jetzigen Staatspräsidenten Boris Jelzin eingeleitet. Doch nicht nur ein neuer Präsident, auch eine Alternative zum politischen Kurs Boris Jelzins wird gesucht. Einer der möglichen Kandidaten, der ehemalige General Alexander Lebed, führt seine Alternative, die eines starken Staates, seit kurzem als Gouverneur von Krasnojarsk vor.
Kai Ehlers hat sich vor Ort umgeschaut, was das bedeutet.

O-Ton 1: Glocken von Osianko            0,56
Glocken….

Regie: Langsam kommen lassen, frei stehen lassen, unterlegen.

Erzähler:
Politischer Alltag Krasnojarsk. Ein Spätsommertag in Osianko, einem Dörfchen am Ufer des Jenessej nur wenige Kilometer vor der Stadt. Hier lebt der Schriftsteller Viktor Astawjew, einer der radikalsten Vertreter der „russischen Idee“ unter den zeitgenössischen russischen Autoren.
Passend zum „Tag der Literatur und der Bibliothek der russischen Provinz“ wird in seinem Heimatort eine von ihm gestiftete Kirche, ein Holzbau im altrussischen Stil, feierlich eingeweiht. Wer sich zum Krasnojarsker Kulturleben zählt, ist vertreten. Dazu viele Gäste aus anderen Regionen. Ebenso die Dörfler aus der Umgebung. Der General-Gouverneur, wie Alexander Lebed hier genannt wird, und seine Frau Inna sind ebenfalls erschienen. Nach dem Besuch der Kirche versammelt man sich am Ufer des Flusses vor der früher schon von dem Dichter gestifteten Bibliothek, einem Wunderwerk altrussischer Kultur. Nach freundlicher Begrüßung durch Inna Lebed spricht der Gouverneur selbst:

O-Ton 2: Alexander Lebed, live            1,03
„Dorogie Drusja….

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Liebe Freunde, in der heutigen Zeit teilen sich die Menschen in zwei ungleiche Teile; der größere Teil hofft auf Wnder. Das ist schon in Ordnung, denn anders kann man das Leben heute nicht ertragen. Ein kleinerer Teil aber, ruhig, klar, nimmt die Dinge in die eigene Hand. Vor vier Jahren hat Viktor Astawjew diese Biliothek hier gegründet. Auf solches Zeichen sibirischen Nationalbewußtseins kann man nur stolz sein. Jetzt hat er diese schöne Kirche gestiftet. Sie steht an einem Ort, wo Menschen gut und menschlich leben. So ist es richtig. Das sollte man allen zugänglich machen, die heute unter den materiellen Verhältnissen leiden. Eine große Treppe sollte man hier vom Jennessei herauf bauen, damit alle kommen und das sehen können. Das Wichtigste ist das Vertrauen in sich selbst, die Gewißheit, daß nach einem Winter 1941 auch ein Fühjahr 1945 folgt. Mit Gott dann!“
….c bocham“, Beifall

Erzähler:
Die Versammelten zeigen sich zufrieden mit dem Auftritt des Gouverneurs. Roman Solnzew, Vorsitzender des Krasnojarsker Schrifstellerverbandes, der mir tags zuvor noch seine Skepsis mitgeteilt hatte, ist voll des Lobes:

O-Ton 3: Roman Solnzew        0,26
„Nu, konjeschno choroscho…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach Übersetzer kurz hochziehen, nach Lachen abblenden

Übersetzer:
„Na klar ist das gut. Da tritt einer auf, mit dessen Hilfe dieses Fest hier zustande kam. Er selbst half; seine Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“ half. Das ist eine erste große Sache für die Kultur; hoffen wir, daß es nicht die letzte ist. Wir hatten das nicht erwartet. Wenn alle Militärs sich mit Kultur, Poesi  und Kunst befassen würden. Das wäre vortrefflich.“
…eta bila prekrasna.“

Eine Mitarbeiterin Solnzews findet den Vorschlag des Gouverneurs, eine Treppe vom Jenessei ins Dorf hinauf zu bauen, eher beängstigend:

O-Ton 4: Sekretärin des Schriftstellerverbandes        0,22
„Jesli Tschelowjek…“

Regie: Allmählich unter Übersetzerin kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Erzählerin:
Das  bedeute doch nichts anderes, meint sie schaudernd, als daß die Menschen, die jetzt dort am Ufer wohnten, umgesiedelt und das Ufer betoniert werden müßte; gräßlich, daß jemand die Macht bekommen könne, ganz Rußland mit solchen Vorstellungen zu überziehen.
„Andererseits“,  tröstet sie sich, „hat er eine sehr milde Frau. Mag sein, daß sie auf ihn Einfluß nimmt.“ Ihre Begleiterinnen stimmen ihr zu.
…na jewo powlejat“, Stimmen

Die Dorfbewohner sind einfach ergriffen und selbst  wo ihre Sorgen durchschlagen, überwiegt doch die Hoffnung, die der neue Gouverneur in ihnen erweckt:

O-Ton 5: Alte Frauen        0,44 (2X22)
„Nadeschda est? Gong…

Regie: Kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach Erzähler hochziehen und mit 2. Frau verbinden

Erzähler:
Gut, daß die Kirche gebaut wurde, findet eine Frau: Gut, daß der Gouverneur persönlich gekommen sei, um sie einzuweihen. Sie habe ihn zwar nicht gewählt, aber jetzt glaube sie doch, daß durch ihn etwas besser werden könne.

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:

„Nein, alles wird schlechter“, meint eine andere. Doch auch für sie ist Lebed ein guter Mann. Gut, wie er in Transnistrien Frieden gemacht habe, gut auch in Tschetschenien. Was er jetzt in Krasnojarsk erreichen könne, müsse sich aber erst zeigen. Das, betont sie, sei ihre ganz persönliche Meinung.
… moja mnenje,“ Glocke

Erzähler:
Und der Gouverneur zeigt sich. Er weiß, was er dem Volk schuldig ist. Während in Moskau um eine neue Regierung gefeilscht wird, während der Rubel stürzt und die Preise hochpreschen, zieht er unter dem Motto  „Hundert Tage seit der Wahl“ öffentliche Bilanz aus den ersten drei Monaten seiner Amtszeit. Ausführlich spricht er im örtlichen Fernsehen:

O-Ton 6: Lebed-TV        0,50
„Samie bolnoie wapros…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
„Das Problem des Lohnes ist gelöst“, versichert Alexander Lebed. Im Gebiet Krasnojarsk werde gezahlt. Für Pensionen gelte das Gleiche. es Verzögerungen höchsten von vier bis sechs Tagen. Dem Produktionstillstand rücke man im Gespräch mit den Unternehmen zu Leibe. „Wenn der Wille zum rechten Denken vorhanden ist“, erklärt der Gouverneur, „können alle Schwierigkeiten überwunden werden.“ Auf Rußland erstrecke sich der Einfluß dieses Willens noch nicht, aber für die Bevölkerung des Krasnojarsker Gebietes wirke er sich bereits in einer Verbesserung ihrer Lage aus. „Die Ernte im Gebiet ist eingebracht“, so Lebed, „die Schulen werden eröffnet, die Alten hungern nicht und werden nicht hungern, die Preise für Brot, Butter und Fleisch bleiben durch staatliche Kompensationen stabil.“
… produktami petannije“

Erzähler:
Was unter dem „Willen zum  rechten Denken“ zu verstehen ist, erfahre ich am nächsten Tag bei Sergei Scherkow, einem agilen Mann mittleren Alters, bei dem ich mich nach dem Wahrheitsgehalt von Lebeds Angaben erkundige. Andrej Scherkow muß es wissen; er hat soeben als neuer Chef des Krasnojarsker Pensionsfonds sein Amt angetreten.

O-Ton 7: Chef des Pensionsfonds        0,26
„Pensi sa Awgustje…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Ja, die Pensionen wurden gezahlt“, bestätigt Scherkow, ganz so wie Lebed es gesagt habe. Wie das möglich sei? Krasnojarsk befinde sich in einer günstigen Lage: Entwickelte Industrie, Produkte, für die es Nachfrage im Ausland gebe wie etwa Nickel; darüberhinaus sei sie die Wirtschaft im Gebiet Krasnojarsk so vielseitig zusammengesetzt, daß sie bei einer vernünftigen Politik, wie Lebed sie jetzt machen könne, beste Entwicklungschancen habe:
449 …Dwigilcja i tagdali.“

Erklärung:
Meinem Erstaunen über diesen verblüffenden Optimismus begegnet er mit einer noch verblüffenderen Offensive:

O-Ton 8:         0,39
„Nu, vidite, Kak…

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nun sehen Sie, das ist wohl genau der Grund, warum man mich hierher geholt hat. Ich sehe die Dinge sehr grundsätzlich. Ich sehe, wo man etwas machen kann und wo nicht: Wenn nicht gezahlt wird, gibt es natürlich reichlich Möglichkeiten von Sanktione, aber ich habe ein anderes Herangehen an die Betriebe, ein komplexes. Wenn ich hier sehe, daß uns ein Holzkombinat nicht bezahlt, und da zahlt ein Zelluslosekombinat nicht, dann überlege ich, wie man beide zusammenbringen kann, um ihnen zu helfen. Und da ich eine reiche Fantasie und reiche Erfahrung habe, fällt mir in der Regel dazu etwas ein.“
594 ..mne udajotsja.“

Erzähler:
Das Bewußtsein: „Wir räumen auf“ treffe ich bei allen an, die ich in den Wochen meines Krasnojarsker Aufenthalts in der Nähe Alexander Lebeds  kennenlerne. Da ist zum Beispiel Roman Ignatow, in dessen „Kwartir“ ich während meines Aufenthalts wohnen kann. Roman ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er ist in Nowosibirsk zuhause, wo er einen Videoladen aufgebaut hat. Er unterstützte Alexander Lebed in der Organisation seiner krasnojarsker Wahlkampagne. Jetzt ist er Leiter der Kontrollkomission, welche die Durchführung der Erlasse der Gebietsadministration zu überwachen hat. Romans junge Frau blieb in Nowosibnirsk zurück.
Wie er so plötzlich in die Politik gekommen ist, kann Roman selbst nicht beantworten. Aber eins ist für ihn klar:

O-Ton 9: Roman Ignatow        0,22
„ Nu prosta, w Prinzipje…

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Übersetzer:
„Alexander Iwanowitsch hatte gar keine andere Chance. Er hatte die Möglichkeit, in diesem Gebiet anzutreten, einer starken, reichen Region, die sich jetzt im Verfall befindet, und sie zu entwickeln. Hier hat er die Möglichkeit zu zeigen, daß er das kann. Das stärkt erstens seine Popularität und bringt zweitens großen Nutzen für ganz Rußland; drittens gibt es eine Plattform für den nächsten Kampf ab, den um den Sessel des Präsidenten.“
…presidentskaje kreslje.“

Erzähler:
Roman öffnet mir den Weg in die Administration. Alexander Lebed ist gut bewacht. Ohne „Propusk“, eine Zugangserlaubnis, kommt niemand in das Gebäude der Bezirksverwaltung. Eine weitere Kontrolle ist am Eingang zu dem Flügel im dritten Stock zu passieren, in dem Alexander Lebed mit seinem Kommando residiert. Dieser Stil hebt sich kaum von dem ab, was man heute aus den Etagen der Moskauer Macht kennt, allerdings erheblich von anderen Städten in der Region, etwa Nowosibirsk. Einmal durch die Kontrolle hindurch, erinnern Klima und Gesprächsbereitschaft allerdings eher an die Tage der frühen Perestroika als an das Hauptquartier eines Generals. Bereitwillig antwortet man auf alle Fragen.
Erste Auskünfte erhalte ich von Wladimir Poluschin, dem anerkannten Biografen Lebeds. In der neuen Administration betraute Alexander Lebed ihn mit der Leitung der Kulturverwaltung. Poluschin charakterisiert seinen, wie er sagt, Freund und Vorgesetzten, mit den Worten:

O-Ton 10: Wladimir Poluschin        0,33
„Alexander Iwanowitsch…
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Übersetzer:
„Alxander Iwanowitsch ist der Kapitän. Kapitän ist der Mensch, der die Situation beherrscht. Das Leben stellte Alexander Iwanowitsch an kritische Punkte, wo er Entscheidungen treffen mußte.
… Er selbst sagt: „Ich bin Spezialist für Krisenlagen.“ Jetzt brauchen wir gerade einen solchen Spezialisten für Krisenlagen. Denn was in Rußland seit 1917 geschah und was heute geschieht, ist eine Schande.“
684, …kuschunswenno“.

Erzähler:
Krasnojarsk ist für Wladimir Poluschin ein Modell. Krasnojarsk sei das Herz Rußlands, begründet er:

O-Ton 12: Poluschin, Forts.        0,40
„Sserze w etom smislom…

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Übersetzer:
„Herz in dem Sinn, daß es schon vom Territorium her viermal so groß ist wie Frankreich. Fast wie ein Staat im Staate. Aber es geht nicht um Abtrennung. Im Gegenteil, hier kann man zeigen, wie man die Ausplünderung, auch die durch Moskau, stoppen und eine elementare Ordnung herstellen kann. Das bedeutet, eine Diktatur des Gesetzes zu errichten. … Der Mensch muß klar wissen: Gesetz ist Gesetz. Er hat kein Recht es zu brechen. Wenn es unserem Kommando hier gelingt, diese elementare Ordnung herzustellen …. dann kann Krasnojarsk der Punkt der Umkehr in der Geschichte Rußlands werden, an dem eine echte Wende vom Bolschewismus und anderen Ismen in Richtung eines zivilisiertem Staates erfolgen kann.“
… gossudarstwom.“

Erzähler:
Beiläufig fällt hier der Name Pjotr Stolypins. Stolypin versuchte die Modernisierung Rußlands Anfang des Jahrhunderts mit einer gewaltsamen Agrarreform zu erzwingen, durch die er einen unternehmerischen Mittelstand schaffen wollte. Alexander Lebed sprach lobend von Pinochet, der Chiles Wirtschaft wieder in Gang gebracht habe. Sind dies die Vorbilder der „elementaren Ordnung“, die Lebed und sein Kommando im Sinn haben?

Erzähler:
Da müsse man differenzieren, antwortet Poluschin ohne jede Verlegenheit. Die wirtschaftlichen Erfolge seien doch unbestreitbar.  Den politischen Weg Pinochets aber könne Lebed niemals beschreiten:

O-Ton 11: Poluschin        0,44
„Eta wot drugaja strana…

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Übersetzer:
„Dieser Weg ist für Rußland nicht möglich, weil Rußland in der Zeit des Bolschewismus mehr als 100 Millionen Menschen verloren hat. Wenn jetzt blutige Kämpfe inszeniert werden, dann ist das das Ende für Rußland. Das versteht Alexander Iwanowitsch sehr gut. Und von daher wird er keinen Pinochet oder vergleichbare andere kopieren ….
Sehen Sie doch: 1991 war Lebed am weißen Haus – er ließ nicht zu, daß es Tote gab; in Transnistrien stoppte er den Konflikt, der viel Blut kostete; in Tschetschenien  beendete er das sinnlose Morden. Nein, nein, Alexander Iwanowitsch ist doch gerade der Mensch, der an all diesen heißen Punkten dafür eintritt, daß nicht blutige, sondern friedliche Lösungen der Probleme gefunden werden.“
…rischennije waprossow.“

Erzähler:
Eine besondere Variante fügt eine Mitarbeiterin Poluschins, jung und selbstbewußt, ebenfalls erst seit kurzem im Amt, diesem Bild ein paar Tage später hinzu, als sie ihre Beziehung zu Alexander Lebed mit den Worten beschreibt, ihr gefalle dessen patriotische Richtung, und dann fortfährt:

O-Ton 12:         0,26
„Kagda bili wibori…

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Übersetzerin:
„Als dann vor zwei Jahren die Präsidentenwahlen kamen, da war für mich sofort klar, daß Alexander Iwanowitsch mein Präsident ist. Er gefällt mir einfach als Mann. In Rußland gibt es zur Zeit sehr wenige starke, gesunde Männer, an denen sich die Augen einfach freuen können. Ich bin Frau im ganzen Sinne des Wortes und ich schätze Männer wegen ihrer männlichen Würde. Er ist starker Mann, ein Führer.“
…tschelowjek, on lider“

Erzähler:
Zur Beantwortung weiterer Fragen verbindet man mich aus der Administration heraus mit der Lebed-Bewegung. Das sind die Delegierten der „Republikanischen Volkspartei“ und die Aktivisten der Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“. Gleich neben der Administration haben sie ihr Stabsquartier eingerichtet. Igor Sacharow, ein junger Mann, ehemaliger Offizier, hat hier das Kommando. Hier geht es entschlossen zu. er soll der Wahlsieg Alexander Lebeds in politische Bewegung umgesetzt werden. Handeln ist angesagt. Zwei Ventilatoren sorgen für frische Luft.
Umso bemerkenswerter, wie der junge „Kommandir“ den zivilen Charakter der Bewegung und der eigenen Person in den Vordergrund stellt:

O-Ton 13:         0,44
„Djla w om schto, mi borilis..

Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
Im Wahlkampf, erzählt er, hätten sie als lebendiger Organismus etwas Metallischem, der Maschine des Staates gegenübergestanden. Es sei ein ungleicher Kampf gewesen, meint er:

Übersetzer:
„Aber am Ende war es uns gelungen, den Mythos aufzubauen, daß wir in der Lage sind, die Maschine von innen anzugreifen. Es war uns gelungen, deutlich zu machen, daß der Mensch in dieser Maschine nur ein Schräubchen ist; bei uns dagegen ist der Mensch eine Persönlichkeit – Fahrer, Chef einer Abteilung, Chef des Wahlkampfstabes, jeder!“
…isberateli staba.“

Erzähler
„ür Lebed sei jeder Mensch wichtig“ fährt der „Kommandir“ fort, „Lebed ist mit jedem zu reden und von jedem zu lernen.“ Auf dieses Lob Lebeds folgt die verblüfffende Wendung:

O-Ton 14:         0,22
„Ja skasal, Lebed mnje…

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Übersetzer:
„Aber Lebed ist keine Ikone für mich. Ich bin kein Fanatiker. Meine Ikone ist Rußland, danach meine Familie, kann sogar sein, erst meine Familie und dann Rußland. Wenn man das heute sagt, wird das von vielen nicht akzeptiert und wer so denkt oder so fühlt, tut das noch mit Scham. Das ist natürlich nicht richtig, aber so üblich. Es wird wohl noch einige Generationen brauchen.“
…neskelki pakalanije“

Erzähler:
„Nicht mehr Soldat, aber noch kein Bürger“ – auf diese Formel bringt der „Kommandir“ sein gegenwärtiges Lebensgefühl. Seine bürgerlichen Träume nähren sich aus seiner Dienstzeit in Deutschland. Mit Wärme spricht er von der Kindlichkeit, welche die Deutschen sich bewahrt hätten. Ja, so eine entspannte Art. Alexander Lebed ist für ihn die letzte Hoffnung, einen solchen wie die Deutschen Weg auch für Rußland einschlagen zu können. Die Aufgaben, die nach der Wahl Lebeds zum Gouverneur für die mit ihm verbundene Bewegung daraus folgen, beschreibt der „Kommandir“ so:

O-Ton 15: Igor Sacharow        0,25
„Glawnije sadatsche…

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Übersetzer:
„Für die Struktur, die jetzt aufgebaut werden muß, ist die Hauptaufgabe, Lebed dabei zu helfen, sein Programm zu verwirklichen. Im Prinzip geht es darum, beständig Einfluß auf die Verwaltungsstrukturen zu nehmen, auf der Ebene der Mitarbeiter, der Exekutive, bei Chefs von Abteilungen usw. usf., wo immer es möglich ist. Auf dieser Basis können dann Wahlkampagnen gemacht werden, sei es für lokale Wahlen, sei es für die des Präsidenten.“
…presidjent i tag dali.“

Erzähler:
Wie man die Chancen einschätzt, dieses Programm zu verwirklichen, also Krasnojarsk tatsächlich zum Modell eines künftigen Rußland zu machen, erläutert ein weiterer Igor im Stabsquartier der Bewegung. Er wurde mir als „unser Ideologe“ vorgestellt:

O-Ton 16: „Ideologge“ Igor        0,55        „Nu, mi otschen nadejimcja..

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Übersetzer:
„Nun wir hoffen natürlich sehr, daß es so wird. Aber um das zu realisieren,muß noch sehr, sehr viel gemacht werden. Bedauerlicherweise sind all die Pläne und Maßnahmen, die wir hatten, alle sehr stark von der allgemeinen Finanzkrise Rußlands betroffen. Und so werden wir einiges korrigieren müssen. Wir können die Zeit, die wir brauchen, um das Modell zu verwirklichen, jetzt schon gar nicht mehr genau angeben. Aber wir hoffen natürlich auf ein Ende der Krise. Dann können wir wir Mitte 99 schon einiges realisiert haben. Der Plkan, wie er auf der letzten Sitzung der Partei angenommen wird, ist sehr einfach: Wir müssen ganz Rußland zeigen, wie man in einem einzelnen Subjekt der Föderation Ordnung herstellen kann, Ordnung in allen Sphären: In der Wirtschaft, in der Politik, das heißt in den Beziehungen zwischen Partei und Regierung, und besonders, in den Organen der Verwaltung.  Diese sehr große Aufgabe steht vor Alexander Lebed und seiner Bewegung. Ich denke, wir werden sie erfüllen. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
…wapros tolka wremeni.“

Erzähler:
Hauptproblem sind nach Igors Darstellung die „Giganten. Das sind jene Mammutbetriebe für zigtausende Beschäftige, die heute als totes Erbe als der Sowjetzeit stillstehen und verrotten. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen soll. Weniger problematisch sei die Entwicklung von Mittelbetrieben:

O-Ton 17:  Ideologe, Forts.    Band 27, B, 490
„Bce problemi

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Übersetzer:
„Um die Vorhaben Alexander Lebeds zu entwickeln, braucht es vor allem aber stabile politische Verhältnisse, damit nicht nur die Bevölkerung der Macht vertraut, sondern auch die Partner, Partner innerhalb Rußlands, außerhalb, also Länder der ehemaligen Union und die Lände des Westens, des Ostens usw.  Bei den Dingen, die jetzt bei uns vorgehen, investiert hierher niemand. Die Situation wird sich erst ändern, wenn eine stabile Macht antritt, die ein verläßlicher Partner ist. Solange das nicht so ist, geht es abwärts.“
… i budit rasruschatsja.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf den Kern des Lebedschen Programms wirft ein Besuch bei der gerade in Gründung befindlichen Lebed-Jugend. Man findet sie im fünften Stock im Hotel „Tourist“, einer der ersten Adressen in Krasnojarsk.
Anders als in den kleinen Amststuben der Administration, anders auch als in den engen Räumen, in denen sich die Aktivisten von Bewegung und Partei drängeln, riecht es in dieser Etage nach Geld: Elegante Geschäftsräume, reichlich mit nagelneuer Elektronik bestückt, modische junge Männer, wie man sie in den letzten Jahren im Kreise des illegalen „bisness“ zu sehen gewohnt ist. Was ist das für eine Jugend? Was spielt sich hier ab?

O-Ton 18:    0,45
„Mi natschinajem…

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Übersetzer:
„Wir beginnen aus eigenen Mitteln“,  erklärt Nikolai Werner, der mir ein Interview im Chefzimmer gewährt. Fünfunddreißig Jahre ist er alt, erfolgreicher Unternehmer. Wir, das ist eine Gruppe junger Leute, die in den letzten Jahren zu Geld gekommen sind. Sie haben sich zusammengeschlossen, um Lebed zu unterstützen; jetzt wollen sie ihren Einfluß auf ganz Rußland ausweiten. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Jugend aus den Fängen der Sucht und des Verbrechens zu befreien, ihr Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu zeigen und sie wieder an geistige Werte, vor allem russische Kultur heranzuführen:
„Wir fragen heut nicht“, faßt Nikolai Werner schließlich das Programm seiner Organisation zusammen, „wir machen Vorschläge, was man tun kann. Wir schlagen vor, der Schmied des eigenen Glückes zu werden“
..mechka gaworja.“

Erzähler:
Die Organisation einer Lebed-Jugend, das wird auf dieser Edeletage klar,  ist der Versuch, Jugendlichen, die bisher im kriminellen oder halbkriminellen Mileu hängenblieben, einen legalen Weg zu politischer Verantwortung und wirtschaftlichem Erfolg zu ermöglichen. Dahinter schimmert die Absicht Alexander Lebeds hervor, Korruption und Mafia zu bekämpfen, indem er sie legalisiert und in die politische Verantwortung zieht.

O-Ton 19:  Unterwegs mit der Bewegung             0,20            Radiomusik im Auto…

Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen,  unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Wenige Tage später verschafft mir „Kommandir“ Igor die Gelegenheit, die Arbeit der Bewegung außerhalb von Krasnojarsk zu studieren. Im leeren Kulturhaus eines kleinen Ortes, wo wir einen Zwischenhalt machen,  erlebe ich meine erste Überraschung. Auf die Frage, ob sie mit dem neuen Gouverneur zufrieden sei, antwortet eine der dort anwesenden Frauen:

O-Ton 20: Alte im Kulturhaus        0,10        „Nu, Kak skasatj…

Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden,  allmählich abblenden

Übersetzerin:
„Nun, wie soll ich es sagen: Bisher hat er sich noch mit nichts offenbart. Aber die Pension zum Beispiel hält man zurück hier bei uns.“

O-Ton 21: Unterwegs, Forts.         0,17
„Kakoi Odnoschennije…

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Erzähler:
Draußen dasselbe Bild: „Lebeds Versprechungen sind nur Worte“, klagt der Alte. Woanders habe man die Preiserhöhungen gestoppt, nicht so bei ihnen.
…abblenden

Erzähler:
In einem finsteren Seitenräumchen des riesigen Kulturhauses hat eine soeben entstehende Ortsgruppe ihr Büro eingerichtet. Was sagt ihr Leiter, ein ehemaliger Soldat, zu dem Widerspruch zwischen Lebeds Angaben zur Pension und den Klagen der Ortsansässigen?

O- Ton 22:         0,34
„Nu, ja snaju…

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Übersetzer:
„Nun, ich weiß, daß die Verzögerungen nicht groß sind. Davor, buchstäblich für Juli, August gab es keine Verzögerungen. Alles war normal. Aber was zur Zeit in Moskau vorgeht, hat sich hier wohl niedergeschlagen.“
… bil, nemnoschka“.

Erzähler:
Ich verstehe: Auch der entschlossenste Krisenmanager mit einem ausgesuchten Team von Spezialisten ist heut nicht in der Lage, den Dschungel der Filzokratie vor Ort zu durchbrechen. „Es bleibt uns nichts anderes“, so der Vorstand, „als die örtliche Bürokratie mit politischen Mitteln zu überzeugen Mit Lebed können wir es vielleicht schaffen. Wir vertrauen ihm. Er ist der Einzige, mit dem es möglich ist, Rußland wieder auf die Beine zu stellen.“
…moschno rossije vestits.“

Erklärung:
Eine Überraschung ganz anderer Art erwartet uns tags darauf in Podjessewo, einem kleinen Flußhafen am Jenessei nördlich von Krasnojarsk.
Zu Sowjetzeiten war Podjossowo eine sogenannte „Basis“. Hier wurden Kriegsschiffe repariert; ein Raumhafen war angegliedert; gut 5.000 Menschen lebten hier gut versorgt in militärischer Abgeschiedenheit.
Heut rostet die Basis vor sich hin, der Raumhafen ist zur Hälfte stillgelegt, Arbeitslosigkeit ist in die ehemals wohlhabende Ortschaft eingezogen.
In den Räumen der örtlichen Administration empfangen uns fünf Uniformierte, das „Aktiv“ der örtlichen Lebed-Bewegung. Sie nehmen die Informationen aus Krasnojarsk wie militärische Instruktionen entgegen. Ungeachtet der Anwesenheit eines westlichen Beobachters erörtern sie, wie  aus ihrer Sicht zur Rettung Rußlands vorzugehen sei:

O-Ton 23: Uniformierte in Podjossowo        42,5            „Moskwa korrumpirowaani…
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Übersetzer:
„Moskau ist eine korrumpierte Stadt. Auf keines der Moskauer Organe ist Verlaß. Sie sind Gegner, Feinde unserer Gesellschaft. Dann die Investitionen: Der Internationale Währungsfond  plündert das Land aus zusammen mit dem Präsidenten und seiner Umgebung, bestimmte Leute, Minister. Von denen ist nichts zu erwarten; das ist doch alles total korrumpiert. Es muß etwas geschehen, aber was? Bürgerkrieg? Wollen wir nicht. Militärdiktatur? Ich bin dafür. Je eher, desto besser. Aber Bürgerkrieg brauchen wir nicht, nicht dieses Blut. Über Pinochet haben wir gesprochen. Ich denke, das war ganz in Ordnung, wie er es gemacht hat. Er klärte die Situation, übergab die Macht danach dem bürgerlichen Präsidenten. Wieso können wir es in Rußland nicht auch so machen?“
…vesti w Roccije

Erzähler:
„gor, der Ideologe,  in dessen Begleitung ich fahre, müht sich während der Fahrt zu nächsten Gruppe, den schlimmen Eindruck zu mildern:

O-Ton 24: Komissar Igor    0,23
„Nu, na tschot Pinotscheta…

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Übersetzer:
„Was Pinochet betrifft, so kam das mehr aus dem Gefühl. Letztlich fühlt jeder bei uns, daß Pinochet, auch wenn er die Wirtschaft geordnet hat und die Macht dann einem Präsidenten übergab, dies doch nur auf sehr blutigem Wege machte. Das unterstützt natürlich niemand von uns. Das kommt nur so aus dem Herzen, wie man bei uns sagt, wenn man derart gequält wird, hier vor Ort.“
… na mestach“

Erzähler:
Die nächste Gruppe in Lesnisibirsk, einer Stadt am Jenessei, die von der Holzverarbeitung lebt, schlägt genau in die andere Richtung aus. Igor hat sie als „Volksfrontgruppe“ angekündigt. In der Tat erinnert die Runde, in die wir nun kommen, stark an die wilden Versammlungen der ersten Perestroikajahre. Nur eines ist anders: der spürbare Wille zu einer gemeinsamen Disziplin.

O-Ton 25:         0,27
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen

„Da ich regieren soll“, so der zur Wahl des Vorsitzenden vorgeschlagene Kandidat in seiner knappen Wahlrede, „werde ich regieren. Alles geht über mich. Wenn ihr damit einverstanden seid, wählt mich.“
Nach kurzer Debatte wird er gewählt und die Tagesordnung nimmt ihren Lauf: Wahl eines Büroleiters; Wahl einer Person, welche die Verbindungen zur Verwaltung hält. Fragen werden diskutiert, beschlossen, zur Ausführung delegiert. Als die Frage auftaucht, wie man sich gegenüber den für den gewerkschaftlichen Protesttag angekündigten Streiks verhalten soll, erhebt sich Igor, der sich bis dahin nicht eingemischt hatte, und trägt vor, was im Umkreis von Alexander Lebed dazu beschlossen wurde:

O-Ton 26: Komissar Igor        0,23            „W aktie protestow…

Regie: Kurz kommen lassen stehen lassen, abblenden, Unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„An den Protesttaktionen nimmt die Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“ als eine der wichtigsten Initiatorinnen und Organisatorinnen teil und wird, wo es möglich ist, versuchen, sie zu führen. Denn wo die Mehrheit der Bevölkerung ihren Unwillen über das ausdrückt, was  bei uns vorgeht, da muß unsere Bewegung nicht nur teilnehmen, sondern diese Bewegung leiten“.
… eto dweschennije.

Erzähler:
Gefragt, ob er nicht Angst habe, daß Lebed zu stark werden könnte, betont der frischgewählte Vorstand:

O-Ton 27: Vorstand in Lesnisibirsk            0,27
„Mi dumajem…
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Übersetzer:
„Wir meinen, die Frage ist nicht: Lebed, sondern wer auf Lebeds Richtung  einwirkt. Er entscheidet nicht allein, es entscheidet sein Kommando. In unserem Glauben heißt es: Vorsehung Gottes. Es wird so, wie Gott es will. Das ist eine Frage von Gut oder Böse. Kommt es so, kommt es so, kommt es anders, kommt es anders. Aber wir hier bemühen uns, die Sache im Namen des Guten zu entscheiden.“
557 …dobra; Lachen
Erzähler:
Am 7. Oktober sah man Alexander Lebed in Krasnojarsk an der Spitze von 20.000 Menschen gegen die gegenwärtige Moskauer Politik demonstrieren. Gleichzeitig meldete er seinen Anspruch als Kandidat für die Präsidentenwahlen an. Der Weg Pinochets, so viel ist klar, ist das nicht. Ob es aber der Weg einer unblutigen Erneuerung werden kann, ist eine offene Frage. Das hängt in der Tat nicht allein von Alexander Lebed ab.

Eigene Bücher

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Wanderer am Weltenrand – Blick in den unbekannten Kosmos jenseits der bekannten Wahrheiten.Was Camnille Flamarion umtrieb, treibt auch uns wieder um: der Kulturbruch nach der Öffnung des sowjetischen und danach auch des mongolischen Vorhangs.Hier finden Sie die Liste meiner eigenen Bücher. Ich wünsche Ihnen eine anregende Wanderung.

Auf den Spuren Attilas – Die Wiederentdeckung eines historischen Mythos. (Text)

Attila war der Zertrümmerer Roms. Vor ihm erzitterte Byzanz; er trieb die Germanen vor sich her, die ihrerseits die Völker des heutigen Westeuropa überrannten und erst haltmachten, als die Mauern Roms nicht mehr standen. Kein Limes konnte die Gewalt aufhalten, die da aus den Steppen des Ostens herangestürmt kam, nicht die heldenhaften Burgunder, später bekannt als die Nibelungen, nicht die frühen Franken, welche die Eroberung von Paris durch Attilas Reiter erdulden mußten.
Aber Attila war auch der,  an dem Europa zum erstenmal eine eigene Kontur gewann. Mit der Schlacht auf den katalaunischen Feldern in Südfrankreich im Jahre 451, die Attila weiteres Vordringen nach Westen stoppte, beginnt die eigenständige Geschichte Europas.
Die Reste der hunnischen Scharen ziehen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründen sie das bolgarische Reich. Es erlebt seine größte Blüte am Ende des 7. Jahrhunderts. Nach seiner Zertrümmerung durch die Chasaren, einem weiteren asiatischen Volk, gründet ein Teil der Bolgaren  das donaubolgarische Reich, ein anderer Teil das wolgabolgarische. Beide Reiche werden im dreizehnten Jahrhundert von den Mongolen und den mit ihnen verbündeten Völkern  zerschlagen, die damit ihre eigenen, seßhaft gewordenen Vorfahren überrannten.
Viele Mythen, Legenden und Sagen unserer europäischen Kultur ranken sich um diese Völkerzüge und Kämpfe,. Es ist die Zeit der Helden, die Jugendgeschichte Europas. Es ist die Zeit der Nibelungen, die Zeit der Rache Kriemhilds, welche die Ihren an den Hof Attilas lockt, um sie dort niedermetzeln zu lassen. Die westliche Seite dieser historischen Mythe ist uns allen bekannt. In ihr spielt Attila die Rolle eines Erfüllungsgehilfen für Kriemhild, den Hintergrund für die Heldentaten der Nibelungen. Wer aber kennt ihre östliche Variante?
Ja, es gibt auch eine östliche Variante des Nibelungenliedes. Besser gesagt, es gibt ein östliches Heldenepos, das die Taten  und das Leben Attilas und sein Zusammentreffen mit den Völkern des Westens besingt. Lange Zeit war es so gut wie verloren,  war erst durch die mongolische Eroberung, nach der Zurückdrängung der Mongolen durch Moskau dann durch die russische, später durch die sowjetische, insgesamt durch die westliche Geschichtsschreibung auf die Nachtseite der Geschichte gedrängt. Jetzt, nach dem Ende der Sowjetunion, taucht  – wie so vieles – auch das fast vergessene Epos von Attila wieder auf: Mitten im Herzen Rußlands, am russischsten aller Flüsse, der Wolga, lebt ein Volk in einer autonomen Republik, die nach diesem Volk autonome Tschuwaschische Republik heißt. Dieses Volk, mit ca. 3 Millionen Menschen in der heutigen russischen Föderation seiner Größe nach an dritter Stelle nach den Russen und den Tataren zu nennen, leitet seine Geschichte über die Wolgabolgaren direkt von den Hunnen ab. In diesem Volk wird seit „urdenklichen Zeiten“  das Epos von „Atil und Krimkilte“ erzählt. Es ist eine moralische Geschichte darüber, wie Attila unter seinen aus dem Westen stammenden Gefangenen die schöne Kriemhilde entdeckt, sich in sie verliebt und an ihr zugrundegeht.
Bis  ins 18. Jahrhundert wurde dieses Epos nur mündlich weitergeben. Im 18. Jahrhundert wurde es von dem tschuwaschischen Dichter Petraw erstmals aufgeschrieben, jedenfalls ist das die einzige erhaltene schriftliche Fassung. Um die Jahrhundertwende erlebte das tschuwaschische Volk eine kulturelle Renaissance, nachdem es in seiner Identität als eigenständiges Volk erst durch die Mongolen im dreizehnten Jahrhundert, in den folgenden Jahrhunderten durch die russische Ostkolonisation fast ausgelöscht worden war. Wladimir Iljitsch Lenin, der Begründer der Sowjetunion, stammte aus Simbirsk, einer der Kultstätten des tschuwaschischen Volkes. Er war selbst zu einem Drittel Tschuwasche, er unterstützte die Renaissance der tschuwaschischen Selbstständigkeit und versuchte sie solange wie möglich auch gegen Stalins Angriffe zu schützen. Spätestens mit Lenins Tod aber war es auch mit der tschuwaschischen Eigenständigkeit vorbei. Die tschuwaschische Sprache wurde auf die Dörfer verbannt,  das Epos verschwand in privaten Archiven und Truhen.
In einer dieser Truhen entdeckte ich es, als ich 1992 mit dem tschuwaschischen Schriftsteller, Sammler von Legenden und Mythen seines Volkes, Mischa Juchma, in der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik Tscheboksary zusammentraf. Da saßen wir uns unvermittelt gegenüber, ein Nachfolger der Hunnen und ein Nachfolger westlicher Völker, verwundert darüber, daß der eine von der Existenz eines Epos der jeweils anderen Seite bis dahin nichts wußte; Mischa Juchma kannte die Nibelungensage nicht und ich nicht das Epos „Atil und Krimkilte“. Soviel aber war sofort klar: Beide Epen berichten  über denselben historischen Zeitraum,  denselben Attila und dieselbe Krimhilde,  atmen denselben Geist der Helden – nur hier aus östlicher, dort aus westlicher Sicht. Über diese Entdeckung berichtet dieses Stück.

Kai Ehlers

Ankündigung im Programmheft des Bayerischen Rundfunks, Schulfunk

Siehe: Auf den Spuren Attilas unter Feature


Auf den Spuren Attilas – Die Wiederentdeckung eines historischen Mythos.

Als sich vor Jahren der eiserne Vorhang hob, wurde ein anderer, viel älterer Vorhang sichtbar –  jener, der sich über die asiatische Geschichte Rußlands, genauer über den nomadischen Ursprung seiner Vielvölkerrealität gelegt hat. Heute kommt diese Realität wieder in Bewegung und damit die Erinnerung an die Helden dieser Bewegung, an, Attila, später, auch Tschingis Chan. Unser Autor Kai Ehlers folgt den Spuren dieser Erinnerung im heutigen Rußland.

O-Ton 1:  Klagelied im Bus            1,34

Regie:
Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden.

Erzähler:
Unterwegs an der mittleren Wolga.. Eine kleine Reisegesellschaft, zusammengestellt vom „Twuschwaschischen Kulturzentrum“ in Tscheboksary, befindet sich auf der Fahrt entlang des „Silbernen Ringes der alten tschuwaschischen Geschichte“. Tscheboksary ist die Hauptstadt der tschuwaschischen Republik an der mittleren Wolga. Zusammen mit fünf weiteren autonomen Republiken bildet sie dort einen ethnischen Flickenteppich nicht-russischer Völkerschaften im Herzen der russischen Föderation. Das Lied, das die kleine Reisegesellschaft singt, ist eine uralte tschuwaschische Volksweise. Es beklagt den Verlust der Heimat. Dasselbe Lied empfängt uns an allen Orten, wo uns kleine Komitees in Landestracht erwarten. Die mobile Geschichtskunde ist ein Ereignis, das gemeinschaftlich begangen wird. Früher wäre soetwas als nationalistische Abweichung unmöglich gewesen. Jetzt wird Geschichte erstmals wieder aus tschuwaschischer, nicht aus russischer Sicht erlebt:  Der Ring, den der Bus in drei Tagen erst flußabwärts, dann am anderen Ufer zurück in einem Gebiet von der Größe Süddeutschlands abfährt, beinhaltet eine Reise zu den vergessenen  Städten des mittelalterlichen Bolgarstan, dem Staat der Wolgaubolgaren. Von ihm leiten die heutigen Tschuwaschen ihre Herkunft ab.
…Ende des Liedes, Lautsprecher

Regie:            bei 1,04
Allmählich hochziehen,  kurz stehen lassen und wieder abblenden

Erzähler:
Tajabo, Tikesch, Bolgar, Püler heißen die alten Städte, zu denen die Reise führt. Vergessene Namen. Über 70 befestigte Städte habe es in Bolgarstan in der Zeit vom siebten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts gegeben, erklärt der Schriftsteller Mischa Juchma, der als Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“ die Reise leitet. Sie wurden von den Bolgaren gegründet, die nach der Niederlage Aittlas auf den katalaunischen Feldern im Jahre 451 dort ein neues Zuhause fanden, nachdem sie vorher als Teil der Hunnen nach Westen gestürmt waren. Es waren stolze Festungen, die die Bolgaren bauten, aber nicht eine davon blieb erhalten, als Anfang des dreizehnten. Jahrhunderts eine zweite nomadische Völkerwelle nach Westen stürmte, die Mongolen:

O-Ton 2: Mischa Juchma            0,35

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
„“Kagda Mongoli prischli….
„Als die Mongolen kamen, war Püler die Hauptstadt unserer Vorfahren. Viele Lieder über den Untergang Pülars sind überliefert, lange, lange Epen. (…) Zar der Tschuwaschen war damals Ultenbyk. Fünfundvierzig Tage hielt er die Stadt. Ultenbyk fiel im Kampf, aber seine Tochter und ihr Mann kämpften noch fast zwei Jahre gegen die Mongolen. Für die Mongolen war das ganz und gar ungewohnt. Die asiatischen Städte, auch die festesten Burgen waren ihnen innerhalb von Tagen zugefallen. Darüber ist bis heute nichts bekannt, es ist fast vergessen; das wird unseren Kindern nicht erzählt.“
… nje goworili sowim djetim“

Erzähler:
Vieles ist nach Mischa Juchmas Ansicht am gängigen westlichen Geschichtsbild zu korrigieren, das sich auf russische Geschichtsschreibung stützt: Nicht die Russen, sondern die Vorfahren der Tschuwaschen, die Bevölkerung Bolgarstans,  hätten das Land gegen die Mongolen verteidigt., erklärt er der Reisegruppe. Die russischen Fürsten waren vereinzelt, sie halfen sich nicht gegenseitig, verrieten einander sogar an die Mongolen. Bolgarstan dagegen war ein einheitliches Reich. Die Mongolen, so Juchma, wußten genau, daß nicht die vereinzelten russischen Fürsten, sondern das vereinigte Königtum Bolgarstan das Bollwerk war, welches sie nehmen mußten, wenn sie auf ihrem Weg nach Westen den Rücken freihaben wollten. So hätten sie ihre Kräfte darauf  konzentriert, die bolgarischen Städte vollkommen dem Erdboden gleich zu machen. Russische Fürsten dagegen seien bereit gewesen, sogar Tribut für die Mongolen einzusammeln. Auf diese Weise habe auch Moskau zur neuen Macht heranwachsen können.
Und nicht nur das! Das neue Moskau wurde bald zur neuen Bedrohung für die verbliebene nicht-russische Bevölkerung. Sie geriet zwischen die Fronten des zerfallenden mongolischen Weltreichs und der mächtiger werdenden Russen.
Bei einer zweiten Fahrt des Tschuwaschischen Kulturzentrums auf das jenseits der Wolga liegende benachbarte Gebiet der autonomen Republik El Mari, dem Siedlungsbereich einer weiteren ehemals aus der Steppe kommenden Völkergruppe, erklärt Michail Juchma:

O-Ton 3:  Marschroute „Mala Kalzo“            1.05

Regie:
Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Etot marschroute nasiwajetsja…
„Diese Reiseroute nennt sich `Kleiner Ring des alten Tschuwaschien“; die Ereignisse auf diesem  Ring gingen im sechzenten Jahrhundert vor sich. Sie waren nicht nur für die Tschuwaschen wichtig, sondern für das ganze zukünftige Rußland. Damals gab es ja noch kein Rußland: Es gab das Moskauer Zarentum; es gab die harten Konflikte zwischen dem Moskauer und dem Kasaner Zarentum, das heißt den Mongolen. Hier waren die Tschuwaschen entscheidend daran beteiligt, wie sich der euroasiatische Kontinent entwickelte. Sie stellten sich zunächst auf die Seite Moskaus gegen die Mongolen, indem sie sich aktiv an der Eroberung Kasans beteiligten und unterstützten so die Expansion Moskaus nach Osten. Aber Iwan der Schreckliche erfüllte das Versprechen nicht, das er den Tschuwaschen gegeben hatte und buchstäblich anderthalb Monate nach der Eroberung Kasans begann ein Krieg der tschuwaschischen Völker gegen das Moskauer Zarentum. Dieser Krieg dauerte zweiunddreißig Jahre.Er wurde mit dem Fall von Tjala entschieden. Diese Stadt werden wir uns heute ansehen. Ihr Name steht für die Kämpfe um die Unabhängigkeit der tschuwaschischen und marizischen Völker.“
… i marizich narodow“

Erzähler:
Was wir nach Ankunft in dem entsprechenden Bezirk der Republik El Mari dann sahen, waren kahle Steilhänge an der Wolga, unter deren Bewuchs nur noch die historische Phantasie zu erkennen vermochte, was sich dort einst abgespielt haben mochte, als Iwan IV. seinen Krieg gegen die Mari, Tschuwaschen, Baschkiren und andere an der Wolga siedelnde Nachkommen ehemaliger Steppenvölker führte, nachdem sie ihm zuvor den Sieg über das mongolische Restchanat Kasan ermöglicht hatten. Als Krönung seines Sieges ließ Iwan den Adel der besiegten Völker verschleppen oder töten. Die übrige – nicht-russische Bevölkerung sah sich in Grenzgebiete gedrängt, wo sie als vorgeschobene Posten des expandierenden Zarenreiches, Kosaken genannt, in halber Unabhängigkeit vom Moskauer Hofe und halb in seinen Diensten lebten. In periodisch wiederkehrenden Abständen erhoben sie sich; in ebendenselben Rhytmen wurden sie blutig niedergeschlagen. Die sog. großen Bauernaufstände des Stenka Rasin  im 17. Jahrhundert, des Jemeljan Pugaschow im 18. Waren sicher auch Unruhen von Bauern; noch mehr aber waren sie Erhebungen nicht-russischer, halbnomadischer Völker gegen den Siedlungs- und Kolonisationsdrang des zaristischen Moskau.

O-Ton 4: Stimmen, Lied            0,46
Regie:
Ton allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Beim Treffen im „tschuwaschischen Kulturzentrum“ geht es noch tiefer hinein in die Geschichte:  Mischa Juchma, selbst Restaurator eines fast vergessenen tschuwaschischen Epos über Attila, den „großen Zar der Hunnen“, wie er ihn nennt,  stellt – nach dem geselligen Teil der Versammlung – Fachleute zur tschuwaschischen Geschichte vor.
Da ist zunächst der greise Dichter Alexander Iwanowitsch Terentjew. Er ist von Haus aus Ingenieur, hat aber ein Buch über die Geschichte Tschuwaschiens und – was das Aufregendste ist – eine Ballade über Attila als tschuwaschischen Zaren verfaßt.
Wie kommt ein Ingenier, der eine tschuwaschische Geschichte schreibt, dazu, ein Ballade über Attila zu verfassen? Die Antwort des alten Mannes ist verblüffend:

O-Ton 5: Alexander Terentjew                0,24
Regie:
Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje o pomminannije tolka…
„Nach meiner Einnerung begann die Geschichte Tschuwaschiens mit der großen chinesischen Mauer: Stiller Ozean, China, Altai, danach die kaspische Steppe, das asowsche Meer; dann kommen schon die Bolgaren, noch nicht die Tschuwaschen. Die kommen später  – alles hunnische Geschichte, Attila. Die Bolgaren teilten sich; die einen wandten sich zur Donau, die anderen kamen an die Wolga.“
…na Wolgu“

Und Attila? drängte ich ihn. Wie entstand die Idee, über Attila zu schreiben?

O-Ton 6: Terentjew 2            0,14

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei Imperator hochziehen, wieder abblenden, weiter unterlegen
HIER O-TON ERGÄNZEN AUS BAND 5/A/330: bis Lenin

Übersetzer:
„Tschuwstwo gordostje…
„Das Gefühl des Stolzes! Keine Geschichte – und auf einmal war da ein berühmter Vorfahr! Auf einmal gab es da unseren eigenen Imperator.
…swoi Imperator“

Regie:
Nach Imperator wieder abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden.

Erzähler:
Jemand anderes habe es ja nicht gegeben,  fügt der dichtende Ingenieur noch hinzu, höchstens noch Lenin. Lenin stamme ja auch aus einer tschuwaschischen Stadt, aus Simbirsk. Er sei selbst zu einem Drittel Tuschwasche gewesen. Er habe versucht, den Tschuwaschen zu helfen, auch gegen Stalin. Auf Lenin seien die tschuwaschischen Intellektuellen natürlich auch immer stolz gewesen.                             …Text…

Regie:
O-Ton kurz hochziehen, danach abblenden

Erzähler:
Prof. Dr. Dimitri Wassili Dimitriwtsch, ebenfalls nicht der Jüngste, ist Dozent an der Fakultät für die mittlere und neuere Geschichte Tschuwaschiens an der Universität von Tscheboksary. Für ihn sind die Hunnen nicht von den Mongolen zu trennen. Sie haben beide dieselbe Wurzel, meint er:  die Völkerwiege des Altai. Sie habe immer wieder die unterschiedlichsten nomadischen Völker hervorgebracht, alle irgendwie ethnisch, sprachlich und kulturell miteinander verwandt. Auf die Frage, warum Attila und später Tschingis Chan so große Siege erringen konnten, antwortet der Professor:

O-Ton 7: Prof. Dimitri Wassili        1,09
Regie:
Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach (erstem) Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„O Attileje eschtscho bil… „
Unter Attila gab es das System der kriegerischen Demokratie: Starke militärische Führer, große Nähe zum Volk, Lebensgemeinschaft. Ihre Ausbildung für den Krieg begann schon im Alter von zwei Jahren. Sie waren sehr gute Kämpfer. Sie kannten das chinesische Kriegshandwerk, besonders Belagerungstechniken, sie hatten sogar chinesische Strategen bei sich. Die Hunnen haben ja beständig Krieg mit den Chinesen geführt. Auch ihre Bögen waren den anderen ihrer Zeit überlegen. Mit den Mongolen war es nicht viel anders. Auch sie holten sich viele Kenntnisse von den östlichen Techniken.“

Erzähler:
„Das wichtigste aber“, widerholt der Professor, mehrere Male,  „war ihr starker Zusammenhalt, die kriegerische Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Völker, sowohl bei den Hunnen, als auch später bei den Mongolen. Man war nicht einfach untergeordnet, man stand für ein und dasselbe Ziel, man gehörte zusammen, Unterschiede gab es nicht, kaum feudale Schranken. Nomaden haben zwei Ziele“, faßt der Professor zusammen: „die Herden zu hüten und Kriegsbeute zu machen. Der Krieg gilt bei ihnen als Arbeit. Das ist der Grund, warum sie so gut kämpfen konnten.“
…magli woiewat“

Erzähler:
Damit war ich, mitten in Rußland, ganz in die Geschichte der euroasiatischen Steppenvölker eingetaucht. Ein Weiteres tat noch Mischa Juchma, als er zum Abschied in die Truhe seiner literarischen Schätze griff, um mir das tschuwaschische Epos von „Atil und Krimkilte“ zu zeigen. Bedächtig knüpfte er die Schleifen auf, mit denen das Manuskript eingebunden war und begann feierlich vorzutragen:

O-Ton 8:            0,31
Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, sehr allmählich runterziehen, abblenden

Erzähler:
„Chir chir urolo utrom…

Regie:
Kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen,

Zwölf Heldengesänge hat das Epos: Sie berichten über die Kämpfe der Hunnen mit den Völkern des Westens. Eines Tages entdeckt Attila die blonde Schönheit Kriemhilde unter den von seinen Truppen eingebrachten Gefangenen. Er verliebt sich in sie, wirbt um die Widerstrebende, vergißt alle seine Kriergs-Staats- und Familienpflichten, bis sie schließlich einwilligt, als Nebenfrau in seine Jurte zu ziehen. In der Hochzeitsnacht kommt Attila ums Leben. Es beginnt die Zeit der Verwirrung für die von ihm geführten Völker, die erst mit deren Ansiedlung in den neuen Siedlungsräumen endet.
Auf dem Weg in Mischa Juchmas Heimatdorf Sugut, wo er mir zeigen will, wie die tschuwaschische Tradition und die Erinnerung an Attila heute lebt, habe ich Gelegenheit, Mischa nach weiteren Einzelheiten des Epos zu fragen. In welchem Zustand ist es?

O-Ton 9: Im Auto nach Sugut: über Attila    1995, Band 16 A, 571 – 592

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Ü*bersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Eta rasrusnjene raskasi…
„Es sind einzelne Gedichte, einzelne Strophen, Prosaerzählungen, ein unzusammenhängender Text. Der allgemeine Inhalt ist ungefähr so: Da wird erzählt, daß Attila anfangs ein guter Herrscher war. Er bemühte sich um das Volk. Später, als er schon viele Völker besiegt hatte, wandelte er sich sehr stark zum Schlechten. Er brachte seinen Bruder um, begann die Gesetze seines Volkes zu mißachten, seine Frau zu beleidigen. Er machte seinen zweiten Sohn zum Lieblingssohn, das heißt zum Erben. Darüber entstand Streit zwischen den  Völkern, die im hunnischen Bund waren. Es entstanden Kämpfe, aber Attila kümmerte sich nicht darum. Er fand Gefallen daran, sich immer aus Neue mit jüngeren und noch jüngeren Frauen zu verheiraten.“
…na maladix genschin“
Erzähler:
Die ganze Zeit? Immer aufs Neue? Wunderte ich mich.

O-Ton 10: Über Attila, Forts.     1995, Band 16 A, 592 – 634

Regie:
O-ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Aha, wsjo wremia…
„Ja, immer aus Neue! Und er feierte die ganze Zeit Feste, statt sich um die Stärkung des Staates zu kümmern. So verlor er seine Mannschaften. Sie verließen ihn. Da entschied einer seiner Verwandten, ihn zu beseitigen. Aber das war nicht möglich, weil Attilas Autorität, auch seine Leibwache groß war. Später verliebte sich dieser Verwandte in Kriemhilde. Als Attila dieses Mädchen sah, forderte er von dem Verwandten, daß er ihm dieses Mädchen abtrete. Der verabredete daraufhin mit Kriemhilde, daß sie Attila täuschen solle, also ihm Liebe verspreche und so weiter. Am Ende kommt es dann so, daß sie zustimmt, seine Frau zu werden. Aber als die Hochzeit war und sie schon in die Gemächer Attilas gehen sollten, sagte sie: Ich liebe dich nicht, ich werde mit deinem Verwandten fortgehen. Über diese Ungeheuerlichkeit regt er sich so auf, daß er stirbt. So die Erzählung. (…618… ) Die Moral des Epos lautet also: Wenn Du ein großer Herrscher bist, dann liebe dein Volk, hilf ihm und fordere es nicht sinnlos heraus. So wird erklärt, warum Attila starb. Er starb, weil er unmäßige Macht wollte, unmäßig alle jungen Frauen haben wollte und unmäßig trank. Es ist eine interessante Lehre, die die Erzählung gibt: Sie rechtfertigt den Verwandten, der ohne Gewalt, auf geschickte Weise mittels der Frau den hart und brutal gewordenen Attila zu beseitigen versteht.“
..ot jestokowa Attila“

Erzähler:
Krimhild hilft, sich von dem Tyrannen zu befreien. Sie zeichnet sich durch Schönheit, Verstand und Glaubwürdigkeit aus. Das ist eine andere Bewertung ihrer Rolle als die, welche sie im Kied der Burgunder zugewiesen bekommt. Auch die Beziehung der Hunnen zu den übrigen Völkern erscheint in etwas differenzierterem Licht:

O-Ton 11: Attila, Forts.     1995, Band 16 A, 640 – 653

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„…(Neuer Ton) Voskowlaetja krassata…
„Der Verwandte Attilas ist der Ansicht, mit den Völkern müsse man in Frieden leben. Aber Attila meint: `Nein, wir sollten die Eroberer sein: Alle sollten sich uns unterordnen!´ So streiten sie sich die ganze Zeit. Attila sagt: `Sie sollen sie unsere Sprache lernen, sie sollen sie sich in unserer Sprache verständigen.´ Der Verwandte sagt: `Nein, wir sollten Übersetzer haben, laß sie doch in ihrer eigenen Sprache sprechen.“ Dieser interessante Streit geht beständig zwischen ihnen ab.“
…swjo wremia idiot“

Erzähler:
Viele Einzelheiten erzählt Mischa Juchma noch. Woher er das alles wisse? Von Babuschka, seiner Großmutter,  antwortet Mischa, wie übrigens auch all die anderen frühen Mythen, Legenden und Erzählungen der Tschuwaschen, ebenso wie die der anderen Völker an der Wolga. Mischas Großmutter war Geschichtenerzählerin im Dorf Sugut:

O-Ton 12: Mischa über seine Großmutter    Band 17, 1995, S. B., 652 – 673

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach Übersetzen hochziehen.

Übersetzer:
„U Babuschke sabiralis…
„Bei Babuschka versammelten sich, als ich noch sehr jung war, die Alten des Dorfes, um sich miteinander zu besprechen. Das war die Gilde der Erzähler. Ich saß zwischen ihnen und hörte zu. Sie stimmten einige Dinge miteinander ab: Hier muß man etwas so, da etwas anders erzählen.; über dieses Dorf muß man das sagen, anders ist es nicht richtig, so geht es nicht! Ich erinnere mich gut an diese Gespräche, die mich sehr beeindruckt haben. Besonders erinnere ich mich daran, wie sie eine Erzählerin aus einem entfernteren Nachbardorf kritisierten, die sagte, daß Ultenbyk gestorben sei. Sie stellten klar, daß man das so nicht sagen dürfe, daß man sagen müsse: Er verschwand; wohin er verschwand, ist nicht bekannt, aber er erscheint manchmal Leuten am Horizont auf weißem Pferd und umgeben von seinen Kriegern, tschuwaschischen Truppen.“
…tschuwaski atrjadi

Erzähler:
Heute ist Michail Juchma selbst Babuschka. So werden Schriftsteller gelegentlich im Volksmund genannt. Die wirkliche Babuschka könne er natürlich niemals ersetzen, wehrt er ab. Sie habe unermeßlich viel mehr gewußt als er, denn sie sei die Bewahrererin des tausendjährigen Wissens. Zwischen ihr und ihm fehle eine ganze Generation, die Kriegsgeneration, die Stalingeneration.  Außerdem habe sie besondere Kräfte gehabt:

O-Ton 13: Mischa über  Babuschka, Forts.         Band 17, 1995, S. B. (703 – 733    )

Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Sie war mehr als nur eine Märchenerzählerin. Sie bewahrte das ganze Erzählgut (…) Sie hatte auch religiöse Aufgaben. In die Kirche konnte sie natürlich nicht gehen, die waren ja niedergerissen. Aber in ihren Erzählungen gab es immer alte tschuwaschische Götter. … Sie kannte alle Götter und Mythengestalten. Aber sie erzählte nicht nur, daß es sie gab, sondern auch wo sie sich aufhielten, auf einem bestimmten Berg, an einem bestimmten Ort. Da waren große Drachen, riesige Schlangen. Und ich fragte: Großmutter, warum gibt es diese Schlangen in unserer heutigen Welt nicht? Und sie sagte: `Das war damals, lang zurück, lange zurück zur Zeit unserer Vorfahren.´  Diese Erinnerung an die alte Natur hat sich bei Großmutter sehr gut erhalten.“
…otschen charascho sakranilas“

Erzähler:
Unter solchen  Gesprächen erreichten wir die kleine Druckerei, in denen die von Mischa aufgeschrieben Geschichten, auch das Epos von Attil und Krimkilte heute in kleine Broschüren gepreßt werden. Im Bleisatz wird hier noch jede Zeile gesetzt – eine Technik, die selbst schon fast zu Vergessen verurteilt ist.

O-Ton 14: Druckerei                Band 16, A, 215

Regie:
Während der letzten Worte langsam kommen lassen, stehen lassen, unterlegen, allmählich abblenden

Sammler, Stimmen, Druckerpresse

Erzähler:
Das Stampfen der Druckerpressen noch im Ohr, komme ich in Nowosibirsk, einer späteren Station meiner Reise zu neuen, überraschenden Blicken hinter den hunnisch-mongolischen Vorhang der russischen Geschichte: 90% Prozent der Namen sibirischer Flüsse, Berge und Landschaften, höre ich, seien mongolischen, tatarischen, turksprachigen oder sonstigen nomadischen Ursprungs. Bei einem guten Bekannten,Juri Gorbatschow, Journalist, Poet und Liedermacher, den ich bei einer früheren Begegnung als gemäßigten russischen Nationalisten kennengelernte, stoße ich auf  eine Überraschung besonderer Art. Ich finde ihn beschäftigt damit, ein Lied über die zu schreiben, die er die neuen Hunnen oder auch die neuen Wikinger nennt. Befragt, wie das zu verstehen sei, antwortete er:

O-Ton 15: Juri Gorbatschow                0,59
Regie:
O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, slowa nowi Gunni…
„Nun, das Wort neue Hunnen benutze ich, um die Strukturen des heutigen Verbrechens zu kennzeichnen. Es ist ungefähr so wie bei Tschgis Chan: Es sind Krieger. Nimm die  gut organisierten Brigaden von Schutzgelderpressern, (…) die überall ihre Gelder eintreiben. Sie sind nach dem Prinzip der Kampfgemeinschaften organisiert. Die kann man mit den Wikingern, mit den Hunnen oder mit den Horden Tschingis Chans vergleichen. Das sind Banden, Banditen, Kämpfer, die sich versammeln, um Beute zu machen. Töten ist für sie kein Problem. Die Wikinger hatten ihre Schiffe; danach bestimmte sich die Größe ihrer Brigade. Die Hunnen hatten ihre Jurtengemeinschaft. Heute bilden sich Minibrigaden nach der Menge der Leute, die in ein Auto passen, fünf, sechs Leute und noch ein gewisses Hilfspersonal. Alles nach alten Prinzipien.“

O-Ton 16: Juri, Guitarre            0,28
Regie:
Unter dem Erzähler langsam kommen lassen

Erzähler:
Mit diesen Worten hat Juri zur Guitarre gegriffen, um mir seine neueste Schöpfung vorzuspielen.

Regie:
Nach Erzähler kurz stehen lassen, abblenden Allmählich abblenden

Erzähler:
Prof. Derewianko, Leiter des Instituts für Archäologie der Universität von Novosibirsk, den ich auf Juris Empfehlung hin anschließend aufsuchte, ist gar nicht einverstanden mit solchen neuen Begriffen. Er hält sie für modisches Gerede, Verfälschung der wirklichen Geschichte, Ausdruck der Oberflächlichkeit der neuen Zeit. Sicher seien sie alle Räuber gewesen, so der Professor. Die Wikinger aber seien bezahlte Söldner, dazu noch Händler und von Haus aus seßhaft und bald in die einheimische Bevölkerung integriert gewesen; Hunnen und Mongolen dagegen nomadische Krieger, die sich fremde Völker unterwarfen. Das gelte es strikt zu unterscheiden, betont der Professor, auch wenn die einen wie die anderen tiefe Spuren in der russischen Geschichte hinterlassen hätten. Daß die Tschuwaschen Attila für sich reklamieren, quittiert der Professor mit einem gemütlichen Lächeln: Die Herkunft der Hunnen aus dem nordchinesischen Raum unterliege keinem Zweifel, meint er, ebenso auch die hunnischen Wurzeln der Mongolen. Welche Völker aber im Einzelnen zu den Hunnen gehörten und wie sie sich im Zuge der verschiedenen Wanderungswellen mischten,  könne niemand bisher mit wissenschaftlicher Genauigkeit sagen. Das herauszufinden sei Sache zukünftiger Forschung, findet er. Wichtiger ist ihm, bei aller Gleichartigkeit auch die Unterschiede zwischen der hunnischen und der mogolischen Bewegung herauszuarbeiten:

O-Ton 17:        1,48
Regie:
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Dschweschennije Mongolow…
„Die Bewegung der Mongolen hatte einen anderen Charakterals die der Hunnen. Nach der Bildung des Imperiums durch Tschingis Chan war die mongolische Bewegung schon nicht mehr spontan, wie die hunnische zuvor. Die setzte sich wie ein Schneeball durch die Steppe fort. Die mongolische war bereits auf Eroberung gerichtet, trug klar politische Züge: Die Unterwerfung Nord-Chinas, des Hsi-reiches, das den Westen Chinas beherrschte, die Vernichtung der zentralasiatischen Reiche, schließlich, Ost-, dann Westeuropa. Alles nacheinander. Das zielte bewußt auf Weltherrschaft, wie es das vorher nur unter Alexander von Macedonien und Rom gegeben hatte.“

Erzähler:
Aus heutiger Sicht, so der Professor, müsse man Attila, ebenso wie Tschingis Chan wohl als brutale Tyrannen bezeichnen, doch müsse man zu verstehen versuchen:

Übersetzer:
„Das war jene Welt; das war jene Zeit – die Brutalität, der Mord an Verwandten, die Tötung von Ehefrauen, sogar des Vaters, der Mutter; das alles war üblich in der damaligen nomadischen Welt und nicht nur bei ihnen, auch in der römischen oder der griechischen Zivilisation. Unter dem Aspekt der Weltgeschichte würde ich daher die Rolle der Hunnen, erst recht die der Mongolen nicht vollkommen negativ bewerten. Die Millionen an Toten, die sie hinterließen, sind vom Standpunkt menschlicher Moral nicht zu vertreten, aber in beiden liegt eine gewisse Unausweichlichkeit der Menschheitsentwicklung; das war sozusagen die Rückseite der menschlichen Geschichte. Darin aber, daß das Imperium Tschingis Chans schließlich zwei Welten, die östliche und die westliche, engstens zusammenbrachte, lag natürlich sehr viel Positives.“
…mnoga polaschitelno.“

Erzähler:
Die Hunnen zertrümmerten die römische Welt und schufen so die Voraussetzungen für die Entstehung der europäischen Zivilisation, so der Professor. Hauptsächliche Erben des mongolischen Weltreiches aber wurden die Russen. „Schritt für Schritt“, so der Professor, „vollzog sich unter dem Einfluß der Mongolen die Entwicklung der russischen Staatlichkeit, während Moskau die Herrschaft der Chane weiter und weiter nach Osten zurückdrängte. Mongolisches Tribut- und Gefolgschaftsprinzip, ethnischer Pluralismus bei zentralisierter Führung, Sprache und nicht zuletzt nomadische Mentalität gingen so in das entstehende russische  Imperium ein. Aber nicht nur Mongolen und Russen, nicht nur zwei Ethnien, betont der Professor, zwei Welten trafen so aufeinander, die nomadische und die seßhafte. Der Konflikt zwischen ihnen habe die Geschichte der Menschheit begleitet und sei heute im Begriff neu aufzubrechen.

O-Ton 18: Musik

Regie:
Musik allmählich kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, stehen lassen, mit Applaus abblenden

Erzähler:
Damit hat der Professor ein Stichwort genannt, das über die Schwelle des Jahres 2000 hin Gültigkeit haben wird. Wenn es wohl auch keinen neuen Attila oder Tschingis Chan geben wird, so kommt doch mit Sicherheit eine neue Begegnung von Ost und West auf uns zu.

gesendet in:  Bayerischer Rundfunkk, Schulfunk

Normalisierung oder Mafianisierung? Eine Skizze zu Rußlands neuen Eliten

Vortext:
Erneuerung der Führungsstrukturen, Schaffung eines selbstständigen Mittelstandes und Anhebung des allgemeinen Konsumniveuas auf westliche Standards war das Ziel der als Perestroika bekanntgewordenen sowjetischen, später russichen Reformen. Eine Modernisierung für das kommende Jahrtausend sollte es werden. Anfang 1997, nach seiner Bestätigung als Präsident, kündigte Boris Jelzin eine zweite Reformwelle an. Sie werde, versprach er, den wilden Kapitalismus durch einen zivilisierten ablösen. Nur ein Jahr später tauschte er die gesamte Regierung aus – mit derselben Begründung.
Was geht in Rußland vor? Unser Autor Kai Ehlers berichtet.

O-Ton 1: Metro, Straßenagitation        1,20
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Moskau. Immer noch Zentrum der politischen Macht in Rußland. Im Rednereck auf dem Platz der Revolution agitieren Ultralinke gegen die „kommunistische Partei Rußlands“. Kompromißlertrum wirft man ihr vor, Beteiligung am Ausverkauf des Landes, Klassenverrat. Werte aus der Zeit werden beschworen, als die kommunistische Partei noch die einzige politische Kraft war. Vergeblich: Die Partei der alten Nomenklatura gibt es nicht mehr. Vielfalt ist anstelle des früheren Machtmonopols getreten. Auch die direkten Erben der alten Staatspartei haben sich in mehr als ein Dutzend Nachfolger gespalten. Die „Kommunistische Partei Rußlands“, mit rund zwanzig Millionen Mitgliedern die größte unter ihnen, ist zugleich die größte Partei im Lande. Umstürzlerische Töne sind von ihr jedoch kaum noch zu vernehmen. Was ist geschehen?
Iossif Diskin, Soziologe am Institut für regionale Volkswirtschaft, nach eigenen Aussagen Spezialist für Transformation und darüberhinaus Eliteforscher, glaubt eine Erklärung zu haben:

O-Ton 2: Iossif Diskin        1,20
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer (bei 0,20) vorübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer:
Schto presaschlo? Na moi wsglad…
„Was geschehen ist? Meiner Ansicht nach verwandelte die Kommunistische Partei sich in einen Teil des russischen Establishments. Sie ist nicht mehr an grundlegenden Veränderungen interessiert. Sie ist einfach zu einer starken Opposition geworden.“

Regie: vorübergehend hochziehen
… stala Opposizii uwelitschii.

Erzähler:
Die Fakten sprechen für Diskins Sicht: 1994 stimmte die Kommunistische Partei Rußlands der Verfassung zu, danach dem von Boris Jelzin ausgerufenen Burgfrieden; ihre Mitglieder sind in allen regionalen Verwaltungen aktive Träger der offiziellen Politik. Die soziale Rolle der Partei hat sich verändert: 1991, nach ihrem Verbot, war sie marginalisiert; seit den Wahlen, die sie als stärkste Kraft der Opposition auswies, ist sie wieder attraktiv. Sie bietet Zugänge zum gesamten Verwaltungsapparat Rußlands auf allen Ebenen. Damit finden auch junge Leute dort wieder Aufstiegsmöglichkeiten.
„So funktionieren doch linke Parteien in ganz Europa!“, wehrt Diskin  Zweifel in die Glaubwürdigkeit der Partei ab: Mit einer Hand beteilige man sich an der Macht, mit der anderen führe man politische Meetings durch; in diesem Sinne, setzt er ganz ohne Ironie nach, baue sich im heutigen Rußland ein westliches politisches System auf.
..sapadni polititschni system.

Erzähler:
Der anderen, der regierenden Seite dieses von Diskin so genannten westlichen Systems kann man nur wenige Schritte vom Platz der Revolution entfernt im Büro Jefgeni Proschtschetschins etwa begegnen. Jefgenei ist einer der 33 Abgeordneten der Moskauer Stadtduma. Vor der Wende 1991 arbeitete er als Heizer in einem der Moskauer Hochhauskeller. Das war seinerzeit einer der typischen Berufe für kritische Intellektuelle. Der Keller diente auch als Anlaufpunkt für das dort entstehende „Antifaschistische Moskauer Zentrum“. Als dessen Chef wurde Jefgeni nach der gewaltsamen Auflösung der Sowjets durch Boris Jelzin 1993 in den Moskauer Stadtsowjet gewählt. Dort übernahm  er die „Kommission für nationale Fragen und Extremismus“. Ein Jahr später zog er aus dem Ein-Zimmer-Loch, in dem er mit Frau und Kind gehaust hatte, in eine neue, komfortable Drei-Zimmer-Wohnung.
Im Büro herrscht hektische Aktivität. Neben dem Abgeordneten selbst befinden sich noch weitere fünf Personen in dem Raum, die dort vier Telefone, FAX, Computer, dazu noch mehrere Mobiltelefone bedienen. Jefgeni erklärt seine Arbeit; zu den Führungsstrukturen des Staates befragt, antwortet er:

O-Ton 3: Jefgeni Proschtschetschin        0,50
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Tut nektorie njepominannije…
„Hier gibt es einige Unklarheiten: Ob liberaler, ob sogenannter liberal-demokratischer Staat! – In Rußland ist es vollkommen unmöglich, vom Staat als einem Ganzen zu sprechen. Das sind zwanzig, dreißig verschiedene Richtungen. Allein schon Moskau! Da sind die Bezirke, da sind Subpräfekturen mit eigenen Stabsquartieren. Ist das die Macht? Das ist die Macht! Die kontrolliert niemand. Bei uns in Rußland herrscht zur Zeit solch ein Chaos! Zu denken, daß es da irgendwelche Strukturen gäbe, die direkt vom Präsidenten zu irgendeinem Dorf gingen, nein!“
…passiolka, njet.

Erzähler:
Seinen eigenen Platz als Abgeordneter in diesem Chaos beschreibt Jefgeni mit einem Ausflug in die Physik:

O-Ton 4: Jefgeni Proschtschetschin, Forts.    1,11
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Wy snaetje, we Rossije…
„Wissen Sie, in Rußland treffen wir heute auf das, worauf die Physik stieß, als sie vom Makrokosmos auf den Mikrokosmos vordrang. Dort gelten schon andere Gesetze als die Newtons. Wo befindet sich das Elektron? fragten die Physiker damals. Aber wer die Quantenmechanik auch nur ein wenig kennt, der weiß, daß die Frage einfach nicht korrekt gestellt war. Es ist eben nicht klar, wo das Teilchen sich befindet; unklar ist auch, was Wirklichkeit und was Möglichkeit ist; man kann es nicht sagen! Genausowenig weiß ich, wo ich mich befinde. Im tschetschenischen Krieg war ich in der Opposition; jetzt ist Boris Nemzow Vizepremier, da bin ich für ihn. Wo ich morgen stehe, weiß ich nicht. Wir hängen weiter zwischen Himmel und Erde. Wir ähneln den Alpinisten, die abstürzen und von denen einer zum andern sagt: `Was denn, das soll das Ende sein? Hände und Füße sind doch noch ganz; wir fliegen ja noch!´“
… my jeschtscho letim.

Erzähler:
Man müsse weiter beobachten wie seinerzeit Niels Bohr, fährt der Abgeordnete fort, müsse sich selbst als Teil des Experiments begreifen, dessen Fortgang durch eigene Aktivitäten zu beeinflussen suchen. Nur Schritt für Schritt könne man heute in Rußland in Richtung rechststaatlicher Strukturen vorankommen.
Teil des von Jefgeni beschriebenen Experiments ist offenbar auch eine attraktive junge Frau, die sich ebenfalls in dem Büro aufhält. Sie fällt zunächst nur dadurch auf, daß sie rundherum freundlich Tee einschenkt, Gebäck reicht, im Hintergrund telefoniert und mit den Anwesenden schwatzt. Sie scheint selbst Gast zu sein. Sekretärin ist sie jedenfalls nicht; Sekretärin ist Olga, die den Computer bedient. Aber niemand kümmert sich besonders um die Unbekannte. Direkt befragt, erweist sich ihre Identität als im höchsten Maße erstaunlich:

O-Ton 5: Vera                0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
Menja sawut Vera…
„Ich heiße Vera, ich bin Managerin. Ich bin noch Studentin, aber gerade im Abschlußsemester. Ich habe fünf Jahre an der Moskauer humanistischen Universität studiert. Ich schreibe soeben mein Diplom. Da ich Zeit über habe, kann ich noch arbeiten.“

Erzähler:
Vera ist in einer Baugesellschaft tätig. Im Büro der Duma sucht sie praktische Erfahrung. Sie gehe in dieses Busyness nur hinein, sagt sie, um Nuancen kennenzulernen, Beziehungen herzustellen, Verhandlungen anzubahnen, Treffen einzuleiten.
…delawoi stretschi, Bürogeräusche.

Erzähler:
Dem Erstaunen, was sie als Managerin eines Baugeschäftes in einem Büro der Stadtduma zu tun habe, begegnet sie mit der entwaffnenden Erklärung:

O-Ton 6: Vera, Forts.        0,29
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen.

Übersetzerin:
Nu, potamutschta…
„Nun, weil das in unserem Lande so – (lacht) – das Passende ist. Hier im Büro kann man legal tätig sein. Hier kann man sich mit dem großen Geschäft befassen. Das ist ja äußerst schwierig. Firmen, die eben erst anfangen, die gerade ein Büro aufmachen wollen, wie die unsere, müssen ja immer darauf achten, daß sie gut angesehen sind, vor allem in der kriminellen Welt – in diesem Gebäude gibt es diese Welt nicht.“
… eta sdannje nje nachoditsja.

Erzähler:
Ruhige Arbeit, Verbindungen, Beziehungen zu Amtsstellen, das alles suchen Vera und ihre Auftraggeber in diesem Büro. Beziehungen seien schon immer wichtig gewesen, erklärt Vera. Aber heute könne ein junger Mensch und auch eine Firma ohne Verbindungen überhaupt nicht mehr existieren. Eine allgemeine Struktur kann Vera in dieser Art der parlamentarischen Büroorganisation aber nicht erkennen. Heftig wehrt sie derartige Vermutungen ab:

O-Ton 7: Vera, Forts.        0,32
Regie: Ton stehen lasssen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
Njet, njet, eta…
„Nein, nein, das ist zufällig. Kann sein, daß es das woanders auch gibt. Aber das kommt einfach daher, daß man gute, freundschaftliche Verbindungen hat. Es sind rein persönliche Verbindungen, rein persönliche Interessen. Man kennt sich lange und versucht sich gegenseitig weiterzuhelfen. Aber ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen darf.“
..ne snaju, lacht

Erzähler:
Dabei bleibt es. Einzelheiten mag Vera, aller Liebenswürdigkeit zum Trotz, nicht mitteilen. Weitere Elemente des Freundschaftsgeflechtes läßt jedoch ein Besuch in der Wohnung des Abgeordneten erahnen: Zu Gast ist an diesem Tage auch Sergei, ein recht beleibter und unter den Anstrengungen des Essens schwitzender leutseliger Mann mittleren Alters. Sergei ist Mitarbeiter in dem eigens vom Präsidenten geschaffenen Kontrollapparat, dem die Überprüfung der präsidialen Erlasse im Lande obliegt. Gefragt, wofür eine solche Kontrolle nötig sei, wenn es doch schon die Administration, die föderativen-, die Landes und die Ortsparlamente gebe, dazu noch die allgemeine Rechtsaufsicht, Prokura genannt, die Staatsanwaltschaft und die Polizei, schließlich noch den Geheimdienst des Innenministeriums als Nachfolger des KGB, antwortet Sergei:

O-Ton 8: Sergei, Kontrolleur        1,10.
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden

Übersetzer:
Nu, potamuschta u nas…
„Nun, weil es bei uns, bei der Mehrheit der Menschen keine automatische Erfüllung der Gesetze gibt. Schon Lenin sagte ja, Sozialismus ohne Kontrolle kann es nicht geben. Heute ist es nicht anders: Solange wir noch in dem Zustand sind, einen Rechtsstaat zwar zu wollen, ihn aber noch keineswegs haben, brauchen wir diese Kontrolle.“

Erzähler:
Als Organ der Führungskontrolle soll Sergeis Amt im Hintergrund wirken, die juristische Abwicklung der Fälle dagegen den öffentlichen Stellen überlassen; faktisch müßten sie deren Tätigkeit jedoch noch mit überwachen, klagt Sergei.
… do konza

Erzähler:
Die Privatisierung hat all die feinen Unterscheidungen zwischen `öffentlich´ und `nichtöffentlich´ hinfällig werden lassen, klagt Sergei. Daß er selbst Teil des Filzes ist, sieht er nicht. Die informelle Hilfe, die sich die Büros der Dumas und jene der Verwaltungen über Amts-, Partei- und Ortsgrenzen, ja, sogar über die politischen Flügel hinweg leisten, irritiert ihn in keiner Weise. Anders könne man heute in Rußland nicht arbeiten; da ist auch Jefgeni mit ihm ganz einer Meinung.

O-Ton 9: Metro, Gesang        0,15
Regie: Allmählich hochziehen, kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Die Karriereleiter der kommunistischen Partei, die Bürofreundschaften der Stadtduma repräsentieren nur Ausschnitte der neuen russischen Wirklichkeit. Auf der Suche nach dem ganzen Bild stoßen wir auf Jefim Berschin und Kyrill Swetitschki. Beide sind Redakteure der „Literaturnaja Gaseta“ in Moskau. Als Berichterstatter in Grosny waren sie intime Beobachter des tschetschenischen Krieges und enge Gesprächspartner Alexander Lebeds, des Generals, der den Krieg schließlich beendete und der im anschließenden Präsidentenwahlkampf 1996 zum großen Saubermachen aufrief. In Grosny hatten Jefim und Kyrill Gelegenheit, das ganze Ausmaß der Verfilzungen ihres Landes kennenzulernen.
Allem voran, so die beiden, sei nach den Ergebnissen der großen Umverteilung, der Privatisierung des Partei- und Volksvermögens zu fragen. Nur so lasse sich erkennen, wer jetzt im Lande die Kommandogewalt habe:

O-Ton 10: Jefim Berschin, Kyrill Swetitschki    0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
Na samom delje Sowjetskom Sojuse…
„Im Wesen war die Sowjetunion ja so aufgebaut, daß die Partei das Geld hatte. Aber das große Geld lag natürlich nicht irgendwie herum, es war den Strukturen zugeschrieben – durch bestimmte Betriebe, durch Erholungsanlagen, durch soziale Versorgungseinrichtungen usw., die zur Partei, vor allem aber auch zum Komsomol, ihrer Jugendorganisation gehörten. Als die Privatisierung begann, mußte man sich nur nehmen, was man schon hatte.“

Erzähler:
Im Grunde seien all die neuen Besitzer kriminell, befindet Kyrill, denn die Formierung der neuen Klasse, genauer, die Neuformierung der alten rund um das Geld, habe da begonnen, wo das Volk mit undurchsichtigen Methoden enteignet worden sei. Letztlich sei alles nur eine Frage des Daches erklärt Jefim:

O-Ton 11: Jefim, Forts.        0,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Kryscha, eta to….
„Ein Dach, Kryscha, ist das, was dich beschützt. Der Schutz wird heute von kriminellen Banden gestellt. Privatunternehmer können heute ohne solche Beschützer nicht überleben.
…bes akrana ti ne vysawisch

Erzähler:
Das gelte sogar für die früheren Komsomolzen. Sie hätten ja früher nicht nur über die Vermögen verfügt, sondern auch besondere Verbindungen zum KGB und zu Spezialdiensten gehabt. Deshalb werde ihr Dach heute vornemlich aus diesen alten Kreisen des Staatssicherheitsdienstes gestellt. Steuergesetze, Zoll – das seien für sie alles keine Probleme. Sie hätten überall ihre Leute. Aber auch für sie seien die Kämpfe in den ersten Jahren brutal gewesen:

O-Ton 12: Berschin, Forts.        0,39
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Perwie Moment…
„Anfangs wurde jeden Tag erschossen, gemordet, irgendjemand aufgehängt. Es ging um die Aufteilung der Einflußsphären. Jetzt ist das schon nicht mehr so. Jetzt hat man sich schon irgendwie miteinander arrangiert. Im Kern wird heute nicht mehr auf dem Niveau von Banditen mit Pistolen entschieden, sondern auf der Ebene großer Leute, einschließlich der Regierung. Man trifft sich im Restaurant, unter großen Mafiosi; man nimmt sich eine Flasche guten Spirit und redet miteinander.“
…i dogawariwatsja.

Erzähler:
Diese Leute hätten vor nichts mehr Angst, so Jefim weiter, anders als die frühere Nomenklatura, die die Kontrolle der Partei befürchten mußte. Auch die Presse sei ihnen gleichgültig; die meisten Zeitungen gehörten inzwischen ohnehin dem einen oder anderen Clan. Das einzige, was noch Wirkung zeige, seien Kompromate, kompromittierende Informationen. Aber auch sie tauchten nur kurfristig in den Medien auf, um politische Änderungen zu erzwingen; danach seien sie schnell vergessen:

O-Ton 13: Kyrill, Forts.        0,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Eta proischodit tak…
„Das geht so: Iwan Iwanow klaut am Kiosk fünf Flaschen Wodka. Das Kompromat verkündet nun, daß Iwanow eine Flasche Wodka klaute. Iwanow weiß, daß es fünf Flaschen waren und er weiß auch, daß der Präsident es ebenfalls weiß. Also macht er sich ruhig davon, sonst könnte es geschehen, daß auch die anderen vier Flaschen noch erwähnt werden…“
…(lachen)

Erzähler:
Die Orgnanisation der Dächer ist streng geregelt. Es gibt offizielle Bewachungsfirmen mit großem Einfluß. In ihnen sind vor allem die früheren Spezialdienste tätig. Daneben existieren die mafiotischen, rein kriminellen Formen. Auch sie haben eine feste Struktur: Da gibt es eine Leitung – das sind die Leute, die irgendwie im Geschäft sind, und es gibt die unten – sie werden „Byki“, Bullen genannt. Sie haben nichts zu sagen, erfüllen Lohnaufträge. Dazu kommen Verbindungen zur Bürokratie, der man bestimmte Gelder zahlt:

O-Ton 14: Berschin, Forts.        1,14
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Jesli ti atkriwaesch…
„Wenn Du eine Firma eröffnest, kommen sie von selbst. Auch wenn da nichts Geschriebenes ist, kommen sie. Sie wissen so oder so bescheid. Da kommen dann Leute zu dir, so nette Leute, im Schlips und mit intelligenten Umgangsformen. Lieber Iwan, sagen sie zu dir, wir möchten gern mit dir zusammenarbeiten. Wir schließen mit dir folgenden Vertrag für den Bezirk, in dem wir arbeiten: Du arbeitest ruhig, bezahlst uns 10%, möglicherweise 20, dann bist du sicher, dann wird dich niemand anfassen. – Daneben gibt es noch die andere Variante: Da fordert man keine Prozente, du mußt auch nichts für sie erledigen, da geht es nur noch um schwarzes Geld. Sie sagen dir: `Iwan, du hast ein Konto, hier nimm unser Geld, damit es gemeinsam in den Kreislauf kommt.´ Und die Prozente, die dir nicht gehören, die nehmen sie für sich. In diesem Fall nützt das allen. Sie nehmen keine Kopeke von dir, sie verschaffen dir Sicherheit und Euer Geld arbeitet gemeinsam. Es gibt also unterschiedliche Mechanismen.“
…raslitschni mechanismi

Erzähler:
Die großen Geldleute, erklärt Jefim, sind heute interessiert daran, die zusammengerafften Gelder zu legalisieren. Dafür brauchen sie Dokumente, legale Genehmigungen, legale Konten, Lizensen, Registrierungen usw. Wer glaubt ohne sie auszukommen, wird kaltgestellt. „Aber inzwischen“, so Jefim, „gehen sie zum Bürgermeister, wo man die Lizensen für die Geschäfte ausgibt, und schwupp, gibt es keine Lizens mehr.“ So wie es dem Benzin-König von Moskau ergangen sei:

O-Ton 15: Jefim, Forts.        0,49
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Menja prosta posnakomja odin…
„Ich kenne ihn; er hatte alle Tankstellen unter sich. Er ist ein kluger, wohlerzogener Bursche, ehemaliger Komsomloliz, sehr jung noch, hat da ehrlich im Komsomol gearbeitet, dann im Busyness, na, eben auf diesem üblichen Weg. Er hatte ein Dach, natürlich. Dann begann er ziemlich eigenständig aufzutreten. Als der Krieg in Tschetschenien begann, weigerte er sich, Steuern zu zahlen, um den Krieg nicht zu unterstützen. Er bot Tschernomyrdin riesige Geldsummen an, wenn bloß der Krieg aufhöre; er weigerte sich, Geld für den Bau der Erlöserkriche in Moskau zu geben. Ergebnis: Am Ende des Jahres lief seine Lizenz für die Tankstellen ab – eine neue hat er nicht bekommen. Das war´s dann. Er ist einmal Benzin-König gewesen.“
…benzinom Karolom

Erzähler:
Methoden wie im Westen, spöttelt Jefim. Kyrill ist skeptisch: Rußland ist nicht der Westen, findet er. Im Westen seien die Verhältnisse seinerzeit völlig andere gewesen. Da habe es einen starken Staat, Imperatoren, Monarchen, Landesherrn und soziale Schichten gegeben, die den Prozess der Kapitalisierung insgesamt trugen. Mit ihnen konnte die kriminelle Welt nicht konkurrieren. Rußland habe dagegen heute eine schwache Regierung, doch eine starke kriminelle Struktur:

O-Ton 16: Jefim, Forts.        0,33
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Jest sakoni zoni…
„Die Sache ist die: Rußland hat seine Tradition der Zonen, der Lager, der Verbannung; die ist schon sehr alt. Das sind bisweilen ganze Landstriche. Sie haben ihre eigenen Gesetze. In der Stalinzeit, als zeitweilig 50 Millionen Menschen in den Zonen lebten, jetzt Gulags genannt, entwickelten die Zonen sich zur Gegenwelt des Staates. Sie umfaßte nicht nur Kriminelle, sondern aller Gegner der Sowjetmacht oder solche, die dazu erklärt wurden. Im Zuge der Liberalisierung ist der Staat schwächer geworden. Das begann gleich nach dem Tode Stalins; mit Gorbatschow hat es sich nur fortgesetzt. Jetzt ist die Mauer gegenüber der Zone ganz eingebrochen. Dabei ist das Gesetz des Staates aber nicht zu dem der Zone, sondern das der Zone zu dem des Staates geworden, weil die Zone wesentlich organisierter ist als der Staat, weil sie wesentlich stärkere Gesetze hat. Sie sind nicht einmal geschrieben, sie wirken nur einfach in den Köpfen der Menschen. Heute herrschen im Geschäftsleben, in dem, was allgemein Demokratie genannt wird, und was Kohl und Clinton so sorgsam unterstützen, die Gesetze der Zone. Wir leben im Lager!“
… schiwjom Lagerje

Erzähler:
Eine ganze Gesellschaft im Lager? Doch, doch! beharrt Jefim.
Am Besten begreife man es an dem, was in der Sowjetzeit, aber auch im heutigen Rußland mit einem Zonenausdruck „Obschag“ genannt werde, was soviel wie Gegengemeinschaft bedeute. .

O-Ton 17: Jefim, Forts.        1,06
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende kurz hochziehen

Übersetzer:
Obschag, ransche…
„`Obschag´ – Das ist so: Zur Zeit der Sowjetmacht gab es die sogenannte `Kasse´. Nehmen wir an, wir haben zusammen geklaut; dann hat man dich geschnappt und du sitzt im Lager; mich haben sie aber nicht geschnappt. Was mache ich? Ich nehme einen Teil des Geldes, das wir gemeinsam geklaut haben, ich benutze es, um deine Familie zu ernähren, deine Kinder, dir Freßpakete ins Lager zu schicken. Allmählich hat sich aus solchen Aktionen eine ganze Organisation entwickelt, Leute, von denen schon nicht mehr allein ein Mensch abhängt, sondern schlicht die ganze kriminelle Welt. Sie bestimmen die Summen, die zu zahlen sind, sammeln das Geld ein und von diesen Geldern werden die Familien derer unterstützt, die im Gefängnis sitzen oder im Lager leben usw.usw.“
…i tagdali, tagdali.

Erzähler:
In der sowjetischen Zeit waren diejenigen, die aus dem Lager kamen, praktisch vogelfrei! Sie bekamen keine Papiere, ohne Papiere bekamen sie keine Arbeit, ohne Arbeit kein Zuhause. Mit dem Geld der „Obschag“ wurde ihnen ein Überleben ermöglicht. Man kaufte eine Wohnung, man kaufte Bürokraten, um die nötigen Unterschriften unter die Dokumente zu besorgen. So wurde „Obschag“ ein ganzes System. Es gab Leiter, „Derschateli“ genannt, die „Halter“. Das waren diejenigen, welche die Kasse verwalteten. „In neuerer Zeit“, so Jefim, „ist `Obschag´ ins Geschäfstleben übergegangen; es war einfach nicht mehr sinnvoll, das Geld nur in Kassen zu halten und dann daraus einzusetzen. Heute gilt: Wenn Geld vorhanden ist, muß es kreisen, und das heißt: Geschäft!“

O-Ton 18: Jefim, Forts.        0,48
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
To est, Tschast sowodnischewa…
„Ein Teil des Geldes im heutigen Geschäftsleben Rußlands ist deshalb Geld aus der `Obschag´. Und hier herrscht natürlich eine harte Disziplin. Wenn du dich nicht beugst, wirst du bestraft, ganz zu schweigen davon, daß dir schon niemand mehr hilft. Das bedeutet, die Gesetze dieser Lagerbrüderschaft, die jeder kennt, der irgendeine Beziehung dazu hat, ohne das sie aufgeschrieben werden müßten, werden von niemanden übertreten. Und letztlich sind alle diese Gesetze faktisch auf den Staat übergegangen.“
…faktitschiski gossudarstwa.

Erzähler:
Das gilt sogar für die Sprache, meint Kyrill. So heiße Boris Jelzin bei vielen Menschen heute „Pachan“. Das bedeute so viel wie Chef und sei der Zonenausdruck für Papa. Auch in den Zeitungen, im Fernsehen, in den staatlichen Strukturen tauchten mehr und mehr Zonenausdrücke auf. Die Hauptaufgabe der Juristen der Zone, so Jefim, bestehe heute darin, keine Gesetze durchzulassen, welche die der Zone durchkreuzten. Deshalb unterhalte die Zone eine ziemlich starke Lobby in der Duma. Sie finanziere die Wahl von Delegierten, sie kaufe Entscheidungen, indem sie Abgeordnete besteche. Das laufe alles auf hohem Niveau. Selbst ein neuer Stalin könne diese Verhältnisse heut schon nicht mehr ändern. Es fehlten die entsprechenden staatlichen Strukturen. Der tschetschenische Krieg habe gezeigt, was von den Staatsorganen heute zu halten sei. Um die Gesellschaft von den Gesetzen der Zone zu befreien gebe es heute nur zwei Wege:

O-Ton 19: Jefim, Forts.        0,58
Regie: Ton stehen lassenm, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Putj pervi…
„Der Erste Weg: Die ganze Bevölkerung Rußlands aus diesem Staat zu vertreiben. Aber wohin? Der zweite: Warten, bis sich die Gesetze der Zone in mehr oder weniger zivilisierte Umgangsformen verwandelt haben – wenn das überhaupt möglich ist; auf jeden Fall kann das lange dauern. Mit Gewalt ist nichts zu wollen, solange das Gesetz der Zone in achtzig, neunzig Prozent der Gesellschaft wirkt.“

O-Ton 20: Metro, Musik            0,38
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Was für ein Bild! Entspringt es nur der professionellen Schwarzmalerei zweier, zudem eher koservativer Redakteure? Kehren wir zu dem Eliteforscher und Transformationswissenschaftler Diskin zurück. Er konstatiert zunächst:

O-Ton 21: Dimitri Diskin            (1,05)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Was aber noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende. Geld im Kriegsgeschäft war wichtig, um Aufträge zu bekommen. Geld in der Leichtindustrie war etwas völlig anderes. Geld in der Hand des Volkes war noch etwas anderes. Bargeld war wieder etwas anderes. Viele verschiedene Gelder gab es. Auch heute gibt es in der Wirtschaft ganz unterschiedliche Gelder: Geld, das dir zum Beispiel von Budget aus zusteht, ist kein Geld, bevor es nicht bei dir angekommen ist. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird usw., dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt.“

Erzähler:
Dennoch sieht Diskin Rußland im Übergang vom traditionellen zum modernen. Was für den traditionellen Staat typisch sei –  Mechanismen scharfer Kontrolle, unmittelbarer Sanktionen usw. – sei in den letzten zehn Jahren der sowjetischen, jetzt auch in der russischen Gesellschaft abgebaut worden. Andere Mechanismen hätten mehr Einfluß bekommen, solche wie die Freiheit der Wahl, des Vertrauens vor Kontrolle, der allgemeinen Wohlfahrt, der persönlichen Freiheit usw. Das Ganze sei aber ein langwieriger Prozess, der zudem nicht nur eine soziale Schicht betreffe. Er erfasse alle gesellschaftlichen Bereiche und sehr unterschiedlich entwickelte Regionen. Von daher könne es keinen geradlinigen Verlauf geben:

O-Ton 22: Diskin, Forts.        0,58
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer vorübergehend hochziehen, abblenden unterlegen

Übersetzer:
Na moi wsglad…“
„Meiner Ansicht nach hat sich in Rußland zur Zeit ein politisches System wie in den südamerikanischen Übergangsgegesellschaften entwickelt, ein System oligarchischer Clans, die auf der Basis finanzieller Vermögen und im Zugriff auf das Budget aufgebaut sind. Sie haben sich auch mit den transnationalen Monopolen verbunden. Diese Clans sind Banken, das sind ganze Imperien, auch der riesige Clan Michail Lyschkows zum Beispiel, des Moskauer Bürgermeisters; Gasprom, der Öl-Gas-Konzern, von dem so viel die Rede ist, kann als drittgrößtes Monopol der Welt gelten. Dazu kommen große Auslandsvermögen. Die Zusammenarbeit und die Widersprüche dieser Clane konzentrieren sich auf Moskau; dort kämpfen sie miteinander um den Einfluß auf das Budget. In den Regionen gibt es ein anderes, ein zweites System: Dort herrscht soetwas wie ein bereichsweiser Autoritarismus.“
…segmentirowannije awtoritarism.

Erzähler:
Die Führer der regionalen Elite und die Oligarchien, konkretisietisiert Diskin, repräsentierten unterschiedliche Interessen. Die Oligarchie hänge weithin mit Export, mit den außenwirtschafdem Belangen zusammen, die Gouverneure dagegen eng mit der weiterverarbeitenden Industrie, mit dem, was nicht so viel Geld bringe. Zwei antidemokratische Kräfte hielten sich auf diese Weise im heutigen Rußland die Waage. Machtbalance eines oligarchischen Pluralismus, lautet das Stichwort des Eliteforschers Diskin. Dabei faßt er die Kommunistische Partei als Clan unter Clans auf. Die Aufgabe des russischen Präsidenten sieht er darin, dieses Machtgleichgewicht zu erhalten.
Andere russische Soziologen haben andere Begriffe für diesen Zustand gefunden: So Tatjana Saslawskaja, die große alte Dame der neuen russischen Soziologie: Sie beschrieb die sowjetische Gesellschaft früher als „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“, als eine undefinierbare Mischung aus Kapitalismus und Sozialismus. Die jetztigen Verhältnisse bezeichnet sie als „Monster krimineller Verfilzung“. Der Leiter des „Zentrums für Meinungsforschung“ in Moskau, Juri Lewada, spricht von „kriminellen Clans, die sich gegenseitig stabilisieren“. Das Ergebnis nennt er Normalität. Der im Westen bekanntere Grigorij Jawlinksi, unterlegener Kandidat in der Präsidentenwahl 1996, faßt die Situation unter dem Begriff des „Korporativismus“ zusammen. Kaum jemand erklärt jedoch, was diese Struktur trotz allem zusammenhält.
Einen Ansatz dazu macht Boris Kagarlitzki, radikaldemokratischer Reformsozialist, Perestroikaaktivist, Abgeordneter des Moskauer Stadtsowjets bis zur gewaltsamen Auflösung der Sowjetstruktur 1993.
Gefragt, was heute in Rußland umgebaut werde, antwortet er:

O-Ton 23: Boris Kagarlitzki        1,30
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali

Erzähler:
Boris Kagarlitzki sieht die russische Gesellschaft heute in drei Sektoren aufgeteilt: einen engen sog. formellen, vor allem in Moskau, St. Petersburg oder anderen Großstädten; man könne ihn auch als Enklave westlicher Wirtschaft bezeichnen; einen zweiten sog. nichtformellen, das, was gemeinhin als kriminell oder mafiotisch bezeichnet werde. Den dritten Sektor bilde die `Óbschtschina´, allerdings im Stadium der Auszehrung. Die Staatsmacht setze heute bewußt auf deren Zersetzung mittels Privatisierung, sozialer Differenzierung und Vernachlässigung der Gemeinschaftseinrichtungen; mit der Reformwelle von 1997, der sogenannten 2. Privatisierungs, sei ein erneuter Vorstoß dieser Art bebsichtigt gewesen. Als Antwort auf die Zerstörung der Lebensgrundlage der Bevölkerung entwickle sich aber schon seit geraumer Zeit eine Gegenbewegung direkt aus den Gemeinschaftsstrukturen heraus und es sehe so aus, als ob auch die aktuellen Angriffe an ihren Strukturen breche, weil die Óbschtschina, selbst in ihrer zerstörten Form, für viele die einzige Möglichkeit sei zu überleben.
Dazu kommt, so Boris Kagarlitzki, daß inzwischen auch in den Enclaven westlicher Wirtschaft Unzufriedenheit entstehe; dort komme jetzt ebenfalls Arbeitslosigkeit auf. Sie gefährde den neuen Lebensstandard, der sich daraus ergeben habe, daß man dort in westlicher Währung verdiente, aber in russischen Preise zahlte.
Wenn der Protest aus den Strukturen der Obschtschina, so Kagarlitzki, sich mit der Unzufriedenheit aus dem Bereich des modernisierten Sektors verbinde, könne daraus eine explosive Kraft erwachsen, die umso stärker sein werde, je mehr sich auch die örtliche Nomenklatura einmische. Worin solche Erwartungen begründet seien?

O-Ton 24: Kagarlitzki, Forts.        0,53
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
No, primerno, schto…
„Nun, etwa so: Alles wurde doch privatisiert! Alle wissen, daß viele Betriebe eben deswegen nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben! Es gibt keine unternehmerische Bourgeoisie, also gibt es auch keine Investitonen und keine Ausssicht darauf. Es droht Hunger, Elend, Unruhe im Bezirk, in einigen Bezirken ist es schon so. Was machen die örtlichen Bürokraten? Sie beginnen die Betriebe vor Ort zu `nationalisieren´, wie wir sagen, d.h., erneut zu vergemeinschaftlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten monolithischen Staatssektors nunmehr dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen, gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Und das bedeutet: die Óbschtschina beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren.“
…sebja rekonstruirowats.

Erzähler:
Außer Direktoren und höheren Bürokraten, so Boris Kagarlitzki, würden aus den Gemeinschaften auch die hinausgedrückt, die man heute in Rußland die „neuen Russen“ nenne. Demgegenüber bilde sich ein Mittelstand aus jenen neuen kleinunternehmerischen Kräften, welche die Interessen der Gemeinschaften bedienten, statt sie nur zu verbrauchen, also ihren privaten Profit aus der Befriedigung der Bedürfnisse der Gemeinschaft, statt aus deren Zerstörung erwirtschafteten:

O-Ton 25: Boris Kagarlitzki, Forts.        1,13
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen.

Übersetzer:
Tschem asobenost novich ruskich…
„Denn was macht den `neuen Russen´ aus? Daß er die Óbschtschina im Ganzen ausbeutet! Die neuen Russen sind daran interessiert, die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Russsiche Betriebe sind bisher generell nicht auf Arbeitsbeziehungen westlicher Art, also der Ausbeutung von angestellter Arbeitskräfte, gegründet; sie sind aufgebaut auf Ausbeutung bestehender Ressourccen oder bestehender Kollektive. Und daran ändern die `neuen Russen´ nichts. Die meisten Betriebe dieser Art arbeiten zudem als äußerst spezialisierte Kollektive, die Geld von großen Kollektiven erhalten, die ihrerseits aus früheren staatlichen Betrieben zurückgeblieben sind, die jetzt privatisiert wurden. Die neuen Betriebe sind nur wie Transistoren, die Geld aus dem einen, alten Sektor der Wirtschaft, in den anderen, neuen schaffen. Darin besteht die Funktion dieser Firmen.“
…funkti etich firm.

Erzähler:
Damit, muß ergänzt werden, machen sie schnelles Geld, tragen aber wenig, bzw. nichts zur Investition in neue wirtschaftliche Strukturen bei. Kein Wunder, wenn die Gemeinschaften sich dagegen zu wehren beginnen und nach eigenen Wegen suchen.
Einen aktuellen Einblick in Vorgänge dieser Art vermittelt ein Ereignis im sibirischen Regierungsbezirk Irkutsk:

O-Ton 26: Versammlung Irkutsk        0,56
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Ba uriwinje antimoskowskowo…
Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die hier auf einer Versammlung von gut zwanzig Vertretern aus Wirtschaft, Justiz und örtlichem Busyseness am Rande eines historischen Gedenktages der Region Irkutsk Ende 1997 verhandelt wird. Einer der Anwesenden, Oleg Woronin, ehemaliger Aktivist der Perestroika, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und erfolgreicher Geschäftsmann zugleich, spricht unter dem Thema: „Kompromiß als Weg“.
Ohne Mikrofon, heftig und mit oft überkippender Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Interessengegesätze der Moskauer Finanzclans für den Aufbau der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab zur Unterstützung der örtlichen und regionalen Bürokratie, ganz in dem von Boris Kagarlitzki skizzierten Sinne, will man bilden, der den regionalen Beamten zur Hand gehen soll. Nach der Veranstaltung erläutert der akademische Neuunternehmer genauer, was er unter „Kompromiß als Weg“ versteht:

O-Ton 27: Oleg Woronin        0,54
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzung:
Nu, ä, smisle dakladow…
„Nun, was ist der Gedanke des Vortrags? Ich denke schon lange und sehe es immer mehr so, daß die marxistischen Termini auf Rußland nicht zutreffen. Die Aufteilung in Klassen korrespondierte nicht mit der Realität, wie wir Soziologen sagen. Als Ergebnis der Stalinzeit hatten wir vielmehr, abgesehen von der Nomenklatura, eine destrukturierte, eine amorphe Gesellschaft. Reale, klar abgegrenzte soziale Strukturen gab es nicht; sie veränderten sich zu Quasi-Strukturen, die den von der Partei gezogenen Privilegiengrenzen folgten. Jetzt geht es darum, wie eine Wiedergeburt sozialer Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft erfolgen kann.“
…sowremennom obschestwo.

Erzähler:
Dieser Vorgang, so Oleg Woronin, könne sich nur auf der Grundlage realer Interessen vollziehen, die Menschen verschiedener sozialer Schichten mittelfristig miteinander verbinde. Solche Interessenbündnisse gebe es zur Zeit nur bei den Kommunisten und bei den marginalisierten Randgruppen der Rechten bis hin zu Wladimir Schirinowski. Das Stillhalteabkommen zwischen ihnen und der Macht könne man wohl einen Kompromiß nennen; nur durch Ihn könne die Gesellschaft zur Zeit existieren, aber dieser Kompromiß beruhe auf Korruption und sei daher sehr brüchig:

O-Ton 28: Oleg, Forts.        0,38
Regie: Toon stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Glawna eta..
„Das Wichtigste ist natürlich, daß die eigentlichen grundlegenden Strukturierungsprozesse in der Elite vor sich gehen. Das ist die finanzindustrielle Elite, die Unternehmerlite usw. In der Bildung der großen, korporativen, ich wiederhole: korporativen Monopole von der Art Gasproms, von der Art des russischen oder des Irkustker Energieverbunds und anderer vollziehen sich die Strukturierungen dringender mittelfristiger wirtschaftlicher Interessen.“
… interessom

Erzähler:
Gut zwei Dutzend solcher Industrie-Finanzgruppen sieht Oleg Woronin gegenwärtig miteinander darum kämpfen, wie die russische Torte endgültig aufgeteilt wird. Aber nicht große Privateigentümer sieht er an ihrer Spitze, sondern Top-Manager, die einem kollektiven sozialen Körper verpflichtet seien. Von der Gemneinschaft losgelöste Privatinteressen, so Oleg Woronin, hätten in diesem korporativen Zusammenhang keinen Platz. Den Ursprung dieser Strukturen sieht auch Woronin in der Óbschtschina; die heutigen Produktions- und Lebenszusammenhänge seien allerdings größer als die ihre klassischen Vorgänger; sie seien heute nicht mehr ans Dorf, ja, nicht einmal mehr  mehr an einen Ort gebunden, sondern überregional, sogar international organisiert. In diesen Korporationen jedoch entwickle sich heute der soziale Kompromiß, den Rußland zum Überleben brauche:

O-Ton 29: Oleg Woronin, Forts.        0,54
Regie: O-Ton kommen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochzziehen

Übersetzer:
To est, strukturirowannije…
„Das alles heißt: Die Strukturierung der Gesellschaft läuft in den Bahnen sozialer Bindung von oben und unten. Selbstverständlich bilden die großen Banken, nachdem sie in der Privatisierung die staatlichen Vermögen an sich gerissen haben, zunächst Holdings usw. Aber danach sehen sie, daß sie ohne politische Versorgung der Bevölkerung nicht wirklich agieren können. Sie müssen Rücksicht auf die bestehenden sozialen Strukturen nehmen. Also kaufen sie Leute ein, Lobbyisten in der Duma, in der Regierung, in den Massenmedien; es ist vollkommen klar, daß sie in nicht allzuferner Zeit auch politische Parteien entweder selbst aufbauen oder finanzieren.“
…polititschiski strukturi.

Erzähler:
Gewerkschaften, so Oleg Worin, würden schon jetzt von ihnen finanziert. So unterhalte Gasprom eine Gewerkschaft der Gasarbeiter. Die Elektrogewerkschaft befinde sich unter der Kontrolle des russischen Energieverbundes, ähnliches gelte für den Irkustker Oblast. Die Mehrheit der Streiks im Kusbass, in Workuta und andernorts., so Oleg, seien direkt von den Direktoren dieser Werke inspieriert worden, von den Managern also. Es geht, so Oleg, um die soziale Legitimierung der neuen Machtstrukturen. Die immer neuen Umbesetzungen in Moskaus Regierungsetagen sind für ihn nur Ausdruck dieser Entwicklung:

O-Ton 30: Oleg Woronin, Fortsetzung        1,15
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzung:
Wosnawnoi takoi obsche smisl…
„Kern ist der Kampf um die reicheren, mehr Perspektive aufweisenden Unternehmen der Region. Aber das ist nur der erste Schritt. Die Kontrolle kann man sich leicht aneignen. Die Frage ist dann, wie können diese Betriebe arbeiten, insofern die Mehrheit von ihnen moralisch und physisch überaltert ist und, was die Hauptsache ist, über keinerlei Investitionsmittel verfügt? Die Banken fordern Rationalsierungen: Das bedeutet Einsparung des Personals, Abbau sozialer Strukturen wie Kindergärten, Kinderclubs, Lager für Kinder, Krankenhäuser usw. Alles, was früher die Unternehmen aus ihrem Gewinn unterhielten, wird jetzt den Gemeindebudgets zugeschoben. Die haben aber kein Geld; es wird praktisch der Vernichtung anheimgegeben. Das heißt, dieser aktuelle Prozess in der Übereignung des Eigentums läuft ziemlich krank ab.
…dstatischno bolesno.

Erzähler:
Trotz dieser Kritik gibt sich auch Oleg Woronin zuversichtlich, daß langfristig eine entscheidungsfähige Elite und ein lebensfähiger Mittelstand aus diesen Kämpfen enstehen werde. Aber kann die Bevölkerung solche Langfristigkeit ertragen?

O-Ton 31: Oleg, Ende        1,18
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach erstem Erzähler hochziehen, abblenden

Nu, nawerna…
„Nun, wahrscheinlich! Das Niveau des Konsums steigt zwar nur langsam, für einige Teile der Bevölkerung fällt er sogar, weil sie einfach kein Geld haben; das ist natürlich gefährlich; aber die Menschen gewöhnen sich daran, daß es besser ist, sich um das Eigene zu kümmern. Sie kümmern sich um die kleine Gemeinschaft, die Familie, möglicherweise auch die große Familie im Dorf, in der Stadt, auch um die große kooperative Familie der Stadt, auf dem Lande, schließlich um die große Wirtschaft. Das heißt nur, daß die Menschen mehr und mehr an sich glauben und nicht an den Staat. Und wenn sie mit ihren eigenen Dingen beschäftigt sind, werden immer weniger protestieren und so werden allmählich normale Arbeits- und Lebensstrukturen entstehen.“

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Die weitestreichenden Veränderungen sehen André Fursow und Juri Perawar kommen. Sie sind Dozenten an der Afanasjew-Universität in Moskau. Dort werden nicht nur Manager und Managerinnen ausgebildet wie Vera, die wir im Büro des Abgeordneten der Moskauer Duma antrafen. Die Humanistische Universität Moskau versteht sich gerenell als Elite-Schule. Ihr Motto lautet: Bildung ist Macht. Neuerdings wurde dort ein gesondertes Institut für russische Geschichte eingerichtet. André Fursow und Juri Perawar leiten dieses Insitut. Auf die Frage, wie angesichts des Zerfalls der früheren Zentralmacht in Zukunft in Rußland gesellschaftliche Kontrolle ausgeübt werden könne, verweist André Fursow auf die beschleunigte Computerisierung des Landes:

O-Ton 32: Afanasjew-Uni        0,39
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Ponimaetje,tak. Vot scomputerom…
„Verstehen Sie, mit den Computern ist das so: Mit dem Computer sind zentralsisierte Strukturen schon nicht mehr notwendig, um Menschen zu kontrollieren. Die bolschgewistische Diktatur hat, als sie zur Macht kam, die Unterschiede zwischen privater und öffentlicher Sphäre aufgehoben. Dasselbe macht heute schon der Computer. Durch ihn kann die Macht direkt auf dein Leben zugreifen. Jetzt braucht man keinen KGB, keine Gestapo mehr; man braucht nur noch den Computer; das ist alles.“
… i wsjo

Erzähler:
Der Befürchtung, dies könne in neuer Diktatur oder heilloser Anarchie enden, widerspricht sein Kollege Juri Parawar. Seit Anfang des Jahrhunderts, erklärt er, sei auch der russische, dann der sowjetische Mensch, wenn auch in brutalen Formen, so doch durch eine ähnliche historische Schule gegangen wie die Westeuropäer. Weiterhin von elementarem Anarchismus des russischen Menschen zu sprechen, der nur durch äußere Macht gezügelt werden könne, sei nicht mehr vertretbar:

O-Ton 33: Afanasjew, Forts.        0,48
Regie: Ton stehen lassen, abblendeb, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

potamuschta smotritje……
„Denn sehen Sie! Alles brach seit 1990 zusammen, und doch hat kein allgemeiner Bürgerkrieg eingesetzt, keine weiteren Katastrophen vom Typ Tschernobyls usw. Das spricht, bei aller Skepsis, die ich für die nächste Zukunft unseres Landes habe, davon, daß während des Kommunismus bei uns doch ein historisches Subjekt entstand, das man dem europäischen oder westlichen der Richtung nach vergleichen kann. Es ist noch nicht in dem Maße rechtsstaatlich orientiert – wie die Deutschen beispielsweise. Aber es ist doch schon nicht mehr der wilde Mensch, der es im 19. Jahrhundert war.“
…datnatzatom wekje

Erzähler:
Damit ist eine Hoffnung formuliert.

O-Ton 34: Musik
Regie, langsam kommen lassen, nach Ende des Textes hochziehen, allmählich abblenden.

Erzähler:
Ob sie Wirklichkeit werden kann, hängt nicht nur von denen ab, die die Computer programmieren oder verkaufen, sondern auch von denen, die sie benutzen. Eine Elite, oder die, die sich dafür halten, kann letztlich nur so kriminell sein, wie die Bevölkerung es zuläßt. Wie mächtig die neue russische Elite ist und wie sehr sie den traditionellen Gemeinschaftstrukturen verpflichtet bleiben wird, genauer gesagt, wieder verpflichtet werden kann, ist eine Frage, die noch nicht entschieden ist.

Von dieser Sendung existieren außerdem unterschiedlich lange Kurzfassungen

Aufruf: Jenseits von Moskau – Informationen über eine neue Welt.

Die Grundsituation ist einfach und klar: Der Zerfall des sowjetischen Imperiums ist gleichbedeutend mit einem neuen anti-imperialistischen Schub. Man kann ihn durchaus mit Recht als dritten Entkolonialisierungsschub der industriellen Moderne bezeichnen. Sein Wesen ist die endgültige Umwandlung der mono-, im Kern eurozentristisch beherrschten Welt in eine mulitizentrale, nachdem die ersten beiden Schübe steckengeblieben sind. Wir befinden uns mitten in diesem Übergang, der sich als weltweite Krise vollzieht.

Was in Moskau, was in St. Petersburg und mit einem weltanschaulich verwandten und durch dieselben Grundinteressen geleiteten Blick auch aus der BRD üblicherweise als Zerfall und als Bedrohung der monozentralen Ordnung erlebt und beschrieben wird, erscheint von den Peripherien der ehemaligen UdSSR aus in einem ganz anderen Licht, nämlich in dem Licht der Befreiung von einem nicht nur jahrzehntelangen, sondern jahrhundertelangen kolonialen Druck. Die Emanzipationsbewegungen der nicht eurozentralisierten Völker nach dem ersten und nach dem zweiten Welkrieg werden dadurch auf eine völlig neue Stufe gebracht.

Auch in den Peripherien, auch in den langjährigen russischen Kolonien, auch in den ehemaligen Republiken und „autonomen Gebieten“ herrscht Ungewißheit und Ratlosigkeit, schließlich auch Angst darüber, was kommen wird. Aber die Grundfrage, die an der Wolga, im Altai, in den Regionen Sibiriens oder anderen Teilen des euroasiatischen Raums gestellt wird, lautet nicht wie in Moskau oder St. Petersburg: „Was wird, wenn alles zusammenbricht?“ Sie wird von der anderen Seite gestellt: „Was wird, wenn Moskau den Zusammenbruch nicht akzeptiert?“

Was „Moskau“ in erster Linie als Verlust erlebt, erleben die kolonisierten Völker des zerfallenden russisch-sowjetischen Imperiums umgekehrt als Möglichkeit der Befreiung, als Möglichkeit, sich auf ihre geschichtlichen, kulturellen, religiösen Wurzeln zu besinnen, ihre Ressourcen selbst zu nutzen und insgesamt einen selbbestimmten Weg einzuschlagen. Lange gebundene Kräfte und Reichtümer werden frei. Die bange Frage lautet nur: Wird das russische Zentrum seine Vorherrschaft mit Gewalt wieder herzustellen versuchen, wie dies schon oft in der Geschichte der Fall war? Und welche Haltung wird Europa und der Westen dazu einnehmen?

Die Situation ist epochal. Sie beginnt sich erst zu entfalten. Es geht nicht einfach um Neuordnung. Der Begriff „Neuordnung“ verschleiert eher die Konflikte. Es geht um die Zuspitzung der schon lange andauernden Auseinandersetzung zwischen imperialen und föderalen Tendenzen in unserer heutigen der Welt. Die Zeit der territorialen Imperien, die nach dem ersten und zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion stellvertretend für die zerbrochenen westlichen Imperien nicht nur konserviert, sondern paradoxerweise bis zum „System“ aufgeblasen wurde, geht zuende.

Der Zusammenbruch war schon längst überfällig. Er konnte so lange ausbleiben, weil der russische Imperialismus im euro-asiatischen Raum einen territorialen Zusammenhang ohne natürliche Grenzen bildete und so seinen imperialen Charakter länger verschleiern, legitimieren und praktisch leichter aufrechterhalten konnte. Man kann dies im Gegensatz zu den sonst bekannten Imperialismen als „innere Kolonisierung“ bezeichnen. Der Zusammenbruch wurde weiter dadurch hinausgezögert, daß die Sowjetunion nach dem ersten Weltkrieg als Heimatland der Welt-Revolution und durch den zweiten Weltkrieg als Hauptgegner des Faschismus zur Stütze der Völker wurde, die sich gegen die westlichen Imperialismen auflehnten. Im Ergebnis wuchs die Sowjetunion paradoxerweise zum größten territorialen Imperium heran, das unsere Welt jemals gesehen hat. In wachsendem Widerspruch zu ihrer Idelogie als antiimperialistisches Bollwerk wurde sie zum Statthalter der von ihr bekämpften eurozentrierten imperialen Weltordnung.

Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums erreicht der Prozess der Entkolonialisierung dieses Jahrhunderts daher einen neuen, wenn nicht überhaupt den Höhepunkt: Er geht von der äußeren Entkolonisierung zur inneren über. Im euroasiatischen Raum steht heute nicht nur die Befreiung von äußerer Herrschaft über das eigene Gebiet auf der Tagesordnung. Es geht um die Emanzipation der Völkervielfalt, aber mehr noch kultureller, religiöser und staatlicher Vielfalt gegen das in Gestalt der ehemaligen Sowjetunion bis ins äußerste Extrem gesteigerte monolithische Weltbild des eurozentrierten Industrialismus. Man kann es auch positiv formulieren: Auf Grundlage des erreichten Grades der industriellen Nivellierung des Globus ist nunmehr eine Weiterentwicklung der Menschheit nur in der kulturellen, religiösen und staatlichen Differenzierung möglich.

Es folgt daraus, was auch schon aus den ersten beiden Wellen der Entkolonisierung folgte: Die Entwicklung von nationalen Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen. Sie enthält die Anlage für die Entwicklung föderaler, gleichberechtigter Lebensverhältnisse auf unserem Globus. Das ist eine epochale Chance.

Der besondere Charakter des russisch-sowjetischen Imperialismus macht es allerdings schwer, das Wesen dieses Prozesses zu erkennen, zumal er von interessierter Seite verschleiert und verzerrt wird. Zudem haben sich durch die lange Verschleppung und die Übernahme des westlichen imperialen Erbes aufs Konto der ehemaligen UdSSR die Widersprüche derart verschärft, daß der Ausbruch jetzt umso heftiger und unkontrollierter zu werden droht. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die Befreiung nicht in der kulturellen Differenzierung, Demokratisierung und Föderalisierung gesucht wird, sondern sich in einer bloßen Verfielfältigung der bisherigen zentralistischen Ordnung und der reaktionären Verfestigung fundamentalistischer Denkweisen in den Teilstücken des früheren Imperiums Luft macht. Das Ergebnis wäre eine globale Jugoslawisierung, bzw. deren Gegenstück, der Versuch, die imperiale Ordnung mit Gewalt wiederherzustellen. Dabei könnten wir „Moskau“ mit dem „Westen“ Seite an Seite erleben. Die gegenwärtige Politik der westlichen Zentren läßt diese Richtung schon klar erkennen. Bundeskanzler Kohl scheute sich bei seinem letzten Besuch in Moskau beispielsweise nicht, dort finanzielle Versprechungen für Kiew zu machen. Busch beeilt sich, Moskau weiter in die neudefinierten NATO-Verpflichtungen hineinzuziehen.

Wir haben die große Chance, unsere Welt neu zu gestalten, aber nur, wenn auch in den Zentren verstanden wird, daß die Zeit monozentristischer Weltbilder mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperialismus endgültig zuende geht und eine entsprechende Politik von den einheimischen Regierungen eingefordert wird. Jeder Versuch, den verlebten Zentralismus zu verteidigen oder an seine Stelle neue Zentren zu setzen, werde es nun pan-islamistisch, pan-slawistisch, pan-arabisch, eurozentristisch oder pan-asiatisch begründet, kann nur in einem ungeheuren Blutbad enden.

Im Einzelnen bedeutet das:

Erstens: Was in den Peripherien als Aufbruch und Hoffnung erlebt wird, macht in den Zentren Angst. Dieser Tatsache muß abgeholfen werden. Die Angstbarriere, die die Menschen daran hindert, den emanzipatorischen Charakter der Entwicklung wahrzunehmen, ist eine Informationsbarriere. Sie besteht zum Teil aus einfacher Unkenntnis über das, was jenseits von Moskau geschieht. Kaum jemand unserer Korrespondenten, geschweige denn einfachen Staatsbürger oder -bürgerinnen kommt in der Regel über Moskau hinaus. Zum Teil wird die Barriere aber auch bewußt aufgebaut, indem nur über die „Nationalismen“ und Kriegsgeschehen berichtet wird, sodaß die Unabhängigkeitsbewegungen in den Augen der Durchschnittswestler schlicht als Gefahr für die Zivilisation erscheinen. Diese Barriere muß durchbrochen werden, indem über den Reichtum der Entwicklung jenseits von Moskau, Geschichte, Land und Leute und ihre Vorstellungen informiert wird.

Zweitens: Bei aller Dynamik der jetzigen Unabhängigkeitsbestrebungen im euroasiatischen Raum fehlt doch auf Grund der jahrhundertelangen zentralistischen Entwicklung, zugespitzt durch die Sowjetzeit, die sozial-ökonomische Infrastruktur vor Ort, um eigene initiativen gegen die herrschenden zentralistischen und monopolistischen Verhältnisse entwickeln zu können. Der Zusammenbruch des monopolisierten Industriegiganten hinterläßt Wüsten, in denen eine tiefe Verelendung droht, wenn es nicht gelingt, sie infrastrukturell zu bewässern. Die bisherige westliche „Hilfe“ setzt diese Verwüstung in der Regel fort. Durch materielle und personelle Hilfe soll beim Aufbau dieser Infrastrukturen vor Ort mit angefaßt werden.

Drittens: Nach dem Abtreten der zentralistischen Macht fehlen die – in West-Europa entwickelten – Mechanismen der Konfliktbewältigung, ja, mehr noch, sie wurden durch den zaristischen, später auch den sowjetischen Imperialismus systematisch zerschlagen. Ein politischer Dialog zur Entwicklung solcher Mechanismen muß ermöglicht und gefördert werden. In diesen Zusammenhang gehört die gemeinsame Arbeit zu Fragen des Faschismus, der Demokratie und antiimperialistischer Politik, Geschichte und Kultur, konkret auch die schlichte Übersetzung bereits vorhandener Literatur zu diesen Themen, die Durchführung von gemeinsamen Seminaren und Herausgabe von Publikationen, bzw. ihre Unterstützung vor Ort.

Um Irrtümern und falschen Bündnissen vorzubeugen, sei klar gesagt: Aufklärung über die Politik der westlichen Zentren, die entgegen anderslautenden Worten den post-sowjetischen, genauer russischen Zentralismus unterstützen, um ihre eigene Kolonisierung des euroasiatischen Raumes umso besser verfolgen zu können, ist notwendiger Bestandteil der zu entfaltenden Arbeit. Westliche Kredite führen bisher in der Regel nicht zur Stärkung von Initiativen und dem Aufbau sozio-ökonomischer Infrastruktur vor Ort, sondern nach altem imperialem Rezept im Gegenteil zur Herstellung oder Vertiefung von Abhängigkeiten.

Im Gegensatz dazu muß in Bezug auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auch in der Frage dessen, was allgemein Entwicklungspolitik genannt wird, Neuland beschritten werden. Der ehemalige Gigant, der sich als Bollwerk des industriellen Fortschritts sah, sieht sich heute auf die Ebene eines „Dritt-Welt-Landes“ gedrückt. Was für die Länder der sog. Dritten-Welt gilt, gilt uneingeschränkt auch für die Länder, die jetzt aus der ehemaligen Union hervorgehen. Auch hier muß allerdings konkretisiert werden: Es ist sinnlos, über Moskau von oben Geld ins Land zu schütten, während zugleich die Infrastruktur vor Ort nicht nur nicht gestützt, sondern weiter abgebaut wird. Dies ist die materielle Seite der notwendigen Arbeit: Vor Ort sozio-kulturelle Infrastruktur zu stützen. Wie kann das aussehen?

Ein paar Beispiele mögen das erläutern:

Wer sich ennagieren will, kann den Wunsch eines ökologisch orientierten ornitologischen Jugendklubs an der Wolga aufgreifen, mit hiesigen Jugendlichen zusammenzukommen, die sich mit demselben Thema befassen. Es können gegenseitige Ausstellungen in die Wege geleitet werden. Nicht nur diese, auch andere Jugendgruppen brennen darauf.

Man oder frau kann die Herausgabe einer Kinderzeitung „Putenje“ in der tschuwaschischen Republik sichern, indem man sie finanziell unterstützt, aber auch für deren Bekanntwerden hier sorgt, Austausch mit hiesigen Kinderzeitungen organisiert und in ihr schreibt. Ähnliches gilt für die dortige Frauenzeitungen „Pike“. Solche Produkte können in den Republiken und Regionen heute nur unter äußerstem Einsatz örtlicher Redakteurinnen und Redakteure erscheinen, weil sie von der herrschenden ÜPolitik nicht gefödert werden.

Forschungsprojekte sind unterstützenswert, die der Erkundung der Geschichte der kolonisierten Völker an der Wolga, in Sibirien oder anderen Teilen der ehemaligen Union dienen. Gegenwärtig muß soetwas. soweit die Länder nicht schon ihre Unabhängigkeit praktizieren, häufig als „Einmannbetrieb“ laufen, weil es von der offiziellen Lehre immer noch geschnitten wird.

Ein Erfahrungs-Austausch mit post-sowjetischen Psychologen über neue Methoden der Heiltherapie wäre zu organisieren, zu partizipieren und zu helfen bei der neuerlichen Erforschung der so lange ins Vergessen gedrückten reichen Naturheilmethoden der verschiedenen euro-asiatischen Völker.

Die finanzielle und publizistische Unterstützung einer antifaschistischen Zeitung in Moskau/St. Peterburg steht an, um der „patriotisch“ nationalistischen Propaganda in den Zentren und von ihnen aus entgegenzuwirken. (* siehe Beilage)

Das Gleiche gilt für Vortragsreisen mit Vertretern der neuen Kultur- und Unabhängigkeitsbewegungen aus den Peripherien des post-sowjetischen Imperiums hier im Land.

Schließlich, aber nicht zuletzt, muß die Unterstützung auch Initiativen gelten, die dazu führen können, die ökonomische Infrastruktur von unten aufzubauen. So kann man jungen Leuten, die eine Bienenzuchtkooperative gegründet haben, aber nicht wissen, wo sie ihr Bienengift zu Medizin verarbeiten lassen können, schon damit helfen, die von ihnen erwünschten Verbindung mit deutschen Verarbeitern zu finden.

Die Reihe läßt sich mühelos fortsetzen. Letztlich geht es darum, Menschen dazu zu bewegen, sich aus den Zentren hinauszubegeben und vor Ort mit anzupacken, sagen wir, eine Art Kooperations-Tourismus zu entwickeln. Mindestens aber können Menschen aus den Zentren dort Erfahrungen sammeln, die sie verstehen lassen, daß die Probleme unserer heutigen Welt nicht gelöst werden, indem sie in den Zentren ihre Privilegien und ihren Reichtum gegen die übrigen Völker der Welt mit Zähnen und mit Klauen verteidigen, sondern indem sie diesen Reichtum mit diesen Völkern teilen – nicht als Mildtätigkeit, sondern indem sie in aktiver Kooperation ihre Qualifikation und ihre Mittel für die Entwicklung dort bereitstellen. Das hilft den Menschen vor Ort mehr als Lebensmittelpakete zum einen oder Kredite, die in den oberen Etagen der Zentren-Bürokratie auf nimmerwiedersehen versickern. Das ist zugleich ein aktiver Weg aus dem Widerspruch, als Bewohner eines der reichsten Länder der Welt einerseits diesen Reichtum nicht verlieren, andererseits aber gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und imperiale Ausbeutung etwas unternehmen zu wollen. Schließlich liegt auf dem beschriebenen Weg die Chance, eine Verbindung zur früheren anti-imperialistischen Solidaritätsbewegungen zu finden.

Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russischen Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.

Um die russischen Reformen ist es still geworden. Ohne großen Lärm stimmte die Duma nach einem Appell Boris Jelzins noch Ende letzten Jahres dem Haushaltsplan für 1998 zu. Mit einer weiteren Entmachtung Anatolij Tschubajs Ende Januar dieses Jahres scheint Ruhe in die Regierungspolitik einzukehren. Boris Jelzin sucht neues Glück in der Außenpolitik. Die Bewertungen der internationalen Kommentatoren schwanken zwischen Stabilität und Stillstand. Es ist Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Anfang des Jahres 1997 wechselte Boris Jelzin die Mannschaft. Die neuen Favoriten waren: Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes und in dieser Funktion auch Organisator des Wahlkampfes für seinen Präsidenten; er wurde stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Hinter ihnen tauchten auch einige jener neuen Geldmagnaten wie Wladimir Potanin und Boris Beresowski in der Regierung auf, die Jelzins Wahlkampf finanziert hatten.
Die neue Mannschaft war im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung an, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus. Ihre wichtigsten Stichworte lauteten: Etat-Konsolidierung, Reform des Steuer-, des Renten- und des Sozialsystems, Regulierung der sog. natürlichen Monopole, also solcher wie Energie, Wasser, Post, Bahn Wohnungsbau usw. und Durchsetzung des Konkursrechtes.
Bis 1997 umfaßte die Privatisierung vier Schübe: Erstens die „wilde Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog; zweitens die „kleine Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche Phase der Privatisierung begann – sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe; drittens die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994 – sie war als Volksprivatisierung deklariert, die das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte; viertens die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Aktienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte. Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Ergebnis der Privatisierung war aber nicht Entmonopolisierung, nicht ein freier Markt konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht die Entlastung des Staatsbudgets, sondern neue Monopole, Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufteilten. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte. Der Staat ist praktisch bankrott. Die Mafia wurde zum festen Bestandteil der russischen Gesellschaft; statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen, von Staatszuwendungen und von der Mafia abhängiger Bereich von Dienstleistungen. Der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen schließlich führte nicht zu deren Ersetzung durch neue Träger, sondern zur Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
Kein Wunde, daß sich die Reformen schließlich an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brachen: der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten, die mit formaler Umbenennung der Privatisierung Genüge taten, im übrigen aber weitermachten wie bisher. Deren größte sind solche korporativen Vereinigungen wie der Öl- und Gas-Riese GASPROM oder andere der „natürlichen Monopole“. Die Verweigerung führte bis zu Widerstand, zur bewußten Aufrechterhaltung oder gar bis zur Wiederherstellung der geschädigten kollektiven Strukturen.
Als Anfang 1997 die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ in Ausssicht gestellt wurde, bedeutete das, daß jene kollektiven Strukturen jetzt endgültig beseitigt werden sollten. Aber auch diesmal stand nicht Entmonopolisierung dabei im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollten die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr, Bahn, Post und diverse andere Dienstleistungen, die in vielen Fällen immer noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für ein solches Programm stand der jugendliche Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer Privatisierung dieser Art Modellpolitik gemacht hatte.
Der Westen nahm die neuen Signale erleichtert auf. Sie öffneten Boris Jelzin im Juni ´97 die Tür zur „G-8“. Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen seit jahren eingeforderten „grundlegenden Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Wenige Monate danach war von einem zweiten  „Reformschub“ schon nicht mehr die Rede, stattdesen schon im Mai von einem drohenden Zusammenbruch des Investitionsmarktes, von der Budgetkrise, von einem zu erwartenden „heißen Herbst“, von „deja vues“ usw. Ende des Jahres zitierte das „Handelsblatt“, sonst eher zu Ermutigungen potentieller Investoren geneigt, Ergebnisse westlicher Experten, die sich gezwungen sahen, eine „beträchtliche Deindustrialisierung“ in Rußland zu konstatieren.
Der neue Reformschub verwirklichte sich vor allem als „Krieg der Banken“, deren Vertreter sich und ihre Lobby in der Regierung mit „Kompromaten“, also öffentlich vorgetragenen Korruptionsvorwürfen, gegenseitig diskreditierten. Im Ergebnis mußten mehrere der neuen Reformer, allen voran der Privatisierungsminister Alfred Koch, ihren Hut nehmen. Anatolij Tschubajs behielt seinen Posten als Vizepremier, verlor aber sein Amt als Finanzminister; Boris Nemzow wurde aus dem Ministerium für Energie gedrängt. Präsident Jelzin enthob den Geldmann Beresowski seines Amtes als Chef des Sicherheitsrates, die anderen finanziellen Hintermänner der Tschubajs-Mannschaft mußten sich von ihm zu „zivilisiertem“ Handeln ermahnen lassen.
Gewinner des Gerangels wurde Premierminister Viktor Tschernomyrdin, der als ehemaliger Chef von GASPROM den institutionellen Widerstand gegen die neue Entflechtungswelle repräsentiert. Die von ihm im Januar vorgenommene neuerliche Regierungsumbildung, die Anatoli Tschubajs nunmehr auf den Bereich des Sozialen, Boris Nemzow auf Transport- und Wohnungswirtschaft zurückgedrängt, war der bisher letzte Ton im Abgesang der neuen Reformer.
Die Privatisierungen der „natürlichen Monopole“ sind damit vorerst verschoben, die Steuer-, die Sozial- und Rentenreform blieb stecken. Von der Durchsetzung des Konkursrecht hört man nichts.
Der von der Opposition angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus oder verzehrt sich in lokalen und regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Im Januar 98 wurde nach öffentlichem Säbelrasseln Ende 1997 im „Vierergremium“ zwischen Präsident Jelzin, Vizepremier Viktor Tschernpmyrdin und den Präsidenten der beiden Duma-Kammern zwar eine Eingung zum Haushalt ´98 getroffen. Dies ähnelt aber eher einem Stillhalte-Abkommen zwischen Teilen des Establishments, mit dem die Öffentlichkeit beruhigt werden soll, denn beim Stand der Dinge sind die in dem Entwurf vorgesehenen Ausgaben weder – wie früher geplant – aus der Privatisierung, noch aus einem erhöhten Steueraufkommen zu bestreiten, noch durch Regorganisation des Sozial- und Rentensystems einzusparen. Das zu erwartende Defizit wird allein durch ausländische Kredite zu decken sein.
Dies alles erweckt den Eindruck, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Nicht einmal die seit Anfang des Jahres stattfindende „Denominierung“, wie die Abwertung des Rubel um drei Nullen genannt wird, kann die Bevölkerung gegenwärtig aufregen. „Drei Nullen mehr oder weniger“, lauten die Kommentare“, „wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“, das ist die zweite, oft sogar die dritte schwarz ausgeführte Arbeit, dazu noch die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Was heißt also Normalisierung? Endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie von Seiten der Regierung immer noch behauptet? Endgültiger Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung eines kriminellen Korporativismus, wie etwa Grigori Jawlinski es nennt?
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich zu mehr als der Hälfte als Barter-, Tausch- und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft der russischen Föderation auch unter den letzten Experimenten nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze lebt.
Mafia? Ja, es gibt die „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russische Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen inzwischen so durchdrungen, als wäre das völlig normal. Nach dem Scheitern der b´neuen reformwelle ist das noch offensichtlicher als zuvor.
Doch erklärt der Hinweis auf die Mafia nicht alles: Es gibt den legalen Sektor eines im westlichen Sinne modernisierten, neuen Busyness; es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes; es gibt kontrollierte Staatsbetriebe; es gibt kommunale Wirtschaftseinheiten in den Regionen; Zahlen dazu bewegen sich zwischen zehn und dreißig Prozent – aber auch diese Kräfte arbeiten nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen Bürokratismus, wildem Kapitalismus und organisierter Kriminalität.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika, Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nannte und was Rußlands Soziologen heute als „bürokratisch-korporatives Clanregime“ bezeichnen. Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus. Die Basis dafür bilden die in der russischen Geschichte wurzelnden Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs erst von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurde sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen. Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Tatjana Saslawskajas eine „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, ist Pluralismus der oligarschischen Korporationen statt Markt und Demokratie, sind regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen, ist das Wiedererstarken gemeineigentümlicher Elemente der Wirtschaft im Gewande der Privatisierung. Paradebeispiel ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die „Boom-town Moskau“, wie die Stadt von manchen heut genannt wird, ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.
Ein anderes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau, bzw. die von Moskau aus agierenden korporativen Monopole organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt. Der Kuhhandel um den Haushalt ist ein weiterer Ausdruck dieses Kompromisses, in dem sich die gewachsenen korporativen Strukturen auswirken. Ihre Auflösung könnte nur unter Einsatz rohester Gewalt geschehen. Wem aber könnten solche Reformen nützen?

Mongolei – Heimat der letzten Indianer oder Chance zur Modernisierung?

O-Ton 1:    Applaus, Foyer, Instrumentalmusi    1,37
Regie:    Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden und unterlegt halten

Erzähler:
Ulaanbaator, Hauptstadt der Mongolei. Der mongolische Präsident empfängt den Kongreß der Mongolisten zu einer Arbeitspause im Winterpalast des Bogd Chan, so genannt nach dem ersten geistlichen Oberhaupt der lamaistischen Staatskirche. Es ist der siebte Kongreß dieser Art. Die Tagungen selbst finden in dem neuen Luxushotel namens Tschingis Chan statt, dem größten Vorzeigebau an dem architektonisch im übrigen tristen Ort.
Mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind aus fast allen Teilen der Welt angereist: Chinesen, Japaner, Süd-Ost-Asiaten, Russen, Amerikaner, Ost- und Westeuropäer. Auch Australien ist vertreten. Dazu kommen über 100 örtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nur der schwarze Kontinent, Afrika, fehlt.
Das ist bedauerlich, weil auch die Afrikaner zum Thema des Kongresses einiges beizutragen hätten. Letztlich geht es um die Frage, wie ein nomadisches Land modernisiert werden kann, ohne seine Kultur zu zerstören. Drei Tage harter Kongreßdiziplin liegen bereits hinter den Teilnehmern. Die Pause kommt allen recht, um sich in lockerer Athmosphäre über die Sektionen hinaus auszutauschen.

Regie: Ton 1 (Musik) allmählich hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen

Erzähler:
Stoff für Gespräche haben die ersten Tage des Kongresses reichlich geliefert. Drei Grundlinien traten besonders hervor:
Zunächst die Bewertung Tschingis Chans: Ihm begegnet man auf dem Kongreß nicht, wie gewohnt, als Barbar, Despot oder Geißel der Menschheit. Ihn lernt man als Begründer einer „Pax Mongolika“ kennen, die Ost und West über hunderte von Jahren in fruchtbarem kulturellem Austausch verband. Dann die Ergebnisse der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung: Sie hat nicht, wie erwartet, zur endgültigen Auflösung des nomadischen Lebensstils geführt, sondern zu dessen Wiederbelebung.
Das Dritte ist eine Tatsache, die auch das äußere Bild des Kongresses mit prägt: Mehr als die Hälfte der heute 2,5 Millionen zählenden mongolischen Bevölkerung ist unter fünfundreißig Jahre alt; vor einer Generation waren es noch 1,5 Millionen.

O-Ton 2: Foyer, Gespräch mit Jugendlichen     1,05
Mongolisch, Russisch…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
Im Gespräch mit jungen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Kongresses wird denn auch am deutlichsten, welchen Problemen sich die Mongolei heute gegenübersieht: Auf die Frage, was sie von der Wiederbelebung des Nomadentums halten – russisch gestellt, mongolisch beantwortet, von einem aus der Gruppe ins Russische zurückübersetzt –  antworten sie hitzig:

Übersetzer:
„Wir gehen jetzt zur Marktwirtschaft über. Wir übernehmen sehr viel aus der westlichen Zivilisation. Einer der allernächsten Schritte wird das Privateigentum an Land sein. Das Wichtigste bei den Nomaden ist ja der Weideplatz; deswegen verändert sich nomadisches Leben natürlich, wenn man den Hirten bestimmte Plätze als Eigentum übergibt. Wir könnten ja weitermachen wie in den letzten tausend Jahren – Tiere weiden, hin und her ziehen. Möglich ist das, unsere nomadische Kultur ist einmalig auf der Welt, wir verehren unseren Urahn Tschingis Chan, wir haben eine große Geschichte. Aber wir können uns heute nicht abseits von der Welt entwickeln; vor uns steht die Wahl: Ein moderner Staat zu sein und eine modernisierte Nation zu werden oder all die alten Traditionen zu erhalten, die wir hatten.“
…sakranitz wsjo schto u nas bila.

O-Ton 3: Junge Leute, Forts.    0,31
Dumaitje eta vibor…?
Regie: direkt verblenden, kurz weiter stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen und abblenden

Erzähler:
Ein Entweder-Oder wollen die jungen Leute darin aber nicht sehen. Sie lieben die Freiheit der Steppe. Teile der Tradition müßten jedoch geopfert werden, finden sie, etwa die „zu starke Orientierung auf nomadische Tierhaltung“. Das Land brauche intensivere Produktion. Wie zu Sowjetzeiten. Nicht alles sei damals falsch gewese; man müsse differenzieren. Selbstverständlich müsse auch die Natur geschützt werden. Aber energisch wenden sie sich dagegen, ihr Land in eine Art, wie sie sagen, ethnografisches Museum für westliche Touristen zu verwandeln. „Der erste Schritt muß die Ausgabe von Hochtechnologie sein“, faßt der Übersetzer zusammen: „Wir müssen unsere natürlichen Reichtümer nutzen und gleichzeitig unsere Natur schützen.“
…kak sakranitz unikalni prirodu…

Erzähler:
Damit sind, allen Relativierungen zum Trotz, die Grundprobleme der heutigen Mongolei benannt; das Land droht in in zwei Teile zu zerfallen: Renomadisierung hier, Verstädterung da; Naturschutz hier, Industrialisierung da, Tradition hier und Jugend da.

O-Ton 4: Jurte bei Ulaanbaator, Athmo    0,44
Kuh, Melken, Kinder, Motrrorad…
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:
Wenige Tage nach dem Kongreß bin ich draußen. Hier kann ich mit eigenen Augen sehen, wovon vorher die Rede war: Kühe, Schafe, Pferde, Hunde, zahllose Kinder, drei Jurten, jene nach oben offenen Rundzelte der Nomaden – das ist alles, was es hier gibt, keine Straße, kein Wasser, kein elektrischer Strom, nicht einmal ein Plumsklo. Geheizt wird mit Arà, dem getrockneten Dung der Tiere. Die Steppe ist auch die Toilette für die Menschen. Dabei sind wir nicht einmal hundert Kilometer von Ulaanbaator entfernt. Ein älteres Ehepaar, beide pensioniert, bewirtschaftet diesen Platz. Er war Techniker, sie Krankenschwester. Nach der Reform von 1991 kauften sie eine Jurte und verließen die Stadt. In den beiden Nachbarjurten leben Kinder und Enkel von ihnen. Zur nächsten Jurtengemeinschaft führt ein Ritt von 15 Minuten mit dem Pferd, gegebenenfalls auch mit dem beiwagenbewehrten Motorrad.

O-Ton 5: Jurte, Forts.        0,23
Löffelklappern, Gesprächsfetzen, Schlürfen
Regie: langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Wir werden erst einmal leiblich versorgt: Kumys, die berüchtigte gegorene Stutenmilch, grüner Tee, fette Hammelsuppe werden abwechselnd gereicht. Derweil füllt sich die Jurte. Man kommt, die neuen Gäste zu sehen. Nach dem Essen antworten die beiden Alten auf meine Fragen. Was hat sie veranlaßt, hier in die Steppe zu ziehen?

O-Ton 6: Jurte, Forts.        0,47
Tschisti Vosduch…
Regie: allmählich hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und wieder abblenden

Erzähler:
Die Antwort kommt Mongolisch, dazwischen russische Brocken: „Frische Luft! Gesundheit!“ Darja, die Frau der Familie, die mich hierher mitgenommen hat, übersetzt zwischendurch:

Darja:
„Die Frau lag nur noch in der Klinik – zu hoher Blutdruck. Ihr Mann war auch krank. Jetzt sind sie beide gesund. Seine Eltern waren auch Hirten, sagt er. Deshalb wollte er unbedingt ein paar Tiere haben und hier mit den Tieren leben. Jetzt kann er seine Kinder ernähren und die Verwandten kommen zu Besuch.“

Regie: kurz aufblenden (Mann: mongolisch, Frau: russisch), abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Natürlich ist das Leben schwer, sagt er. Wegen der vier Jahreszeiten. Im Winter gibt es viel Schnee. Deshalb arbeiten sie ohne festgelegte Zeiten, abhängig vom Wetter. Mit den Tieren ist es sehr schwierig; man muß alles für sie tun. Am Anfang hatten sie nur fünfzehn Köpfe, jetzt sind es ungefähr zweihundert, dazu guter Nachwuchs. Darauf ist der Zeltvater besonders stolz.
…Mongolisch, Geplätscher

Erzähler:
Von der neuen Zeit halten die beiden Alten trotzdem nicht viel. Vieles müßte sich ändern, meint der Alte:

O-Ton 7: Jurte, Forts.        0,42
Mann und Frau, mongolisch…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß kurz hochziehen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Die Mongolei ist ja ein ländliches Land. Man müßte vor allem die Tierwirtschaft gut entwickeln. Aber die Organisation der Tierwirtschaft ist nicht besonders. Unserer Meinung nach wäre es besser, im ganzen Land kleine Betriebe und kleine Produktiuonsstätten zu haben, die landwirtschaftliche Produkte an Ort und Stelle weiterverarbeiten könnten und sie dann erst zum Markt zu schaffen. Dann könnten unsere Waren, Tiere und Tierprodukte,  vielleicht einen gewissen Preis bekommen. Die Weiterverarbeitung am Ort ist das Wichtigste. Aber die Organisation ist schlecht. Das ist das Schlimmste.“
…Mongolisch, jemu kaschtetsja….

Erzähler:
Nach diesem unerfreulichen Thema gleitet das Gespräch schnell zu angenehmeren Fragen: Dort, der Jurtenaltar! Wer und was wird dort verehrt? Der Alte antwortet, ohne zu zögern:

O-Ton 8: Gespräch Jurte, Mann    0,42
…Mongolisch…

Darja übersetzt:
„Wir haben zwei Götter. Einer bewahrt vor Dürre, Gewitter und anderen Naturgewalten, der andere steuert den Kreislauf des Jahres. Wir glauben an Astrologie. Wir achten sehr auf den Himmel, um frühzeitig zu wissen, ob Schnee, Regen oder anderes Wetter kommt. Im Himmel gibt es auch eine Göttin, die Schutzgöttin der fünf Tierarten. Das sind Pferde, Kühe oder Yaks, Schafe, Ziegen und Kamele. Zu den Jahresfesten wird den Göttern geopfert. Da bereiten wir alles vor, was an Milchspeisen und Fleisch haben. Die Hälfte eines Ochsen, von jeder Art Milchspeise opfern wir immer dem Himmel, auch wenn Milchschnaps getrunken wird. Der ist ja auch ein Produkt des Himmels; alles was gut tut..“
…Mongolisch, Frauenstimme: Nowi god…

Erzähler:
Darüber reden wir lange. Das Wichtigste, erklärt der Alte schließlich noch einmal, seien die Kinder und Darja faßt zusammen:

O-Ton 9: Jurtenvater        0,29
Mongolisch….
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, dann allmählich abblenden.

Übersetzer:
„Er hat selbst sechs, dazu kommen die der Verwandten. Er ist jetzt froh und stolz, daß sie alle bei ihm leben, daß sie sich alle hier von der Stadt erholen können und daß es auch seinen Verwandten gut geht, weil er ihnen helfen kann.“
…Mongolisch, Gemurmel, Frauenstimme…

Erzähler:
Einer von diesen Verwandten ist Zegur Dortsch, ein außerordentlich beleibter Herr im Trainingsanzug, ebenfalls Pensionär. Zegur Dortsch war, wie sich zu meiner Verblüffung herausstellt, früher Direktor im Ministerium für mongolische Volkserziehung. Jetzt hält er sich samt Familie für einen späten Sommermonat zur Erholung bei seinem Verwandten auf dem Lande auf. Sichtlich zufrieden.
Nach anfänglichem Zögern ist auch Zegur Dortsch bereit, in meinen Recorder zu sprechen. Die Reformen waren unvermeidlich, erklärt er. Einige Folgen jedoch seien nicht gut:

O-Ton 10: Zegur Dortsch        0,28
Sewodnja conjeschna u nas…
Regie: Direkt anfahren, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Heue haben wir ja den Markt. Das muß so sein. Aber nicht alles ist gut. Zu Zeiten des Sozialismus waren alle gleich. Heute dagegen sind einige sehr reich, während die Mehrheit mehr oder weniger verarmt. Das ist natürlich nicht das Wahre. Warum ist das so? Weil die Einführung der Marktwirtschaft nur eine Überganghsphase sein sollte, die zehn oder zwanzig Jahre dauert. Bei uns hatte man es aber zu eilig; deswegen diese Schwierigkeiten.“
…takoi trudnosti

Meine Frage, ob er in der Wiederbelebung des nomadischen Lebens ein Problem sehe, versteht er überhaupt nicht. Er sieht die Schwierigkeiten ganz woanders:

0-Ton 11: Forts. Zegur Dortsch             0,29
Samie glawnie..
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das größte Problem für die Stadt sind die Kinder und die Rentner. Denen hilft der Staat heute überhaupt nicht. Die Viehzüchter haben noch andere Probleme, es gibt ja keinen wirklichen Markt, aber denen hilft auch keiner. Früher gab es alle möglichen Koooperativen, Initiativen und Gemeinschaften. Der Staat hat immer allen geholfen. Heut muß man alles alleine schaffen, egal ob in der Stadt oder auf dem Lande. Das ist das Problem.“
…gorodski Ludi

Erzähler:
Mongolbaiar ist ein weiterer Verwandter. Er ist in Ulaanbaator als Verkehrspolizist tätig. Bei ihm verstehe ich, daß Verwandtschaft auch die des zweiten, dritten oder noch vielfacheren Grades sein kann. Insgesamt werden neun Generationen zurückgerechnet. Entscheidend ist so nicht die Familien-, sondern die Stammeslinie. Mongolbaier sieht die Dinge in hellerem Licht. Daß jeder heut machen könne, was er wolle, sei eine Chance, meint er. Zwar beklagt er, schon aus Profession, daß sich mit den Reformen eine unziemliche Regellosigkeit im Lande ausbreite. Aber Mafia wie in Rußland?

O-Ton 12: Polizist Mongolbaiar            0,25
U nas Mafia paka…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Bei uns ist die Mafia zur Zeit nicht so offen zu sehen. Später vielleicht; kann sein, daß wir demnächst auch so etwas bekommen. Aber jetzt? Nein! Warum? Warum kann man bei uns nicht von Mafia sprechen? Nun, hier in der Mongolei sind wir nur wenige Menschen. Deswegen kann die Mafia nicht agieren.“
..nje destwuit

Erzähler:
Im Verlaufe des dritten Tages kündigt sich ein besonderes Ereignis an: Die Hauptjurte wird ausgeräumt; alles, was zwei Beine hat, strömt in ihr zusammen. Was geht da vor?

O-Ton 13: Umsetzen einer Jurte        118
Hurra, Geschrei, Kinder….
Regie: Ton kommen lassen, etwas länger stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, hin und wieder hochziehen

Erzähler:
Nun ist es klar! Männer, Frauen und die schon etwas größeren Kinder haben sich rund um die Innenwände der leeren Jurte aufgestellt. Auf Kommando heben sie das ganze Gestell und setzen es zwanzig Meter weiter wieder auf den Boden. Am Morgen sei ein Fohlen tot aufgefunden worden, erklärt man mir. Nach geltender Tradition müsse die Familie danach den Ort wechseln, da der Boden, auf dem sie lebe, nun als verunreinigt gelte. Mit dem Versetzen um zwanzig Meter ist dieser Regel offenbar Genüge getan. Die Alte besprengt den Innenkreis der Jurte rundum mit frischer Milch. So bittet sie die Götter um Segen. Das Einräumen vollzieht sich in Windeseile. Zuerst wird das Faß mit Kymis hineingetragen, dann die Herdstelle eingerichtet, das zur Mittelöffnung hinausragende Ofenrohr wieder aufgesteckt. Zwei Betten, zwei Schränkchen, der Hausaltar, das flache Tischchen davor, die paar schlichten Hocker – schon ist die Einrichtung wieder perfekt. Das Ganze hat nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Während die Jurtenwirtin zusammen mit anderen Frauen noch dabei ist, die Herdstelle wieder anzuheizen, Wasser für Tee aufsetzt, Trockenfleisch und andere Nahrungsvorräte unter den Betten verstaut, wo sie bei hochgeschlagenen Jurtenboden im Sommer am kühlsten lagern, lassen die Männer bereits den Becher mit Kymis kreisen. So wird der neue Platz eingeweiht. Der Mann ist das Haupt der Familie, heißt es. Erst nach ihm trinken die Frauen.
…Stimme: „Sami perwi Kumis“, Stampfen

Erzähler:
Das Stampfen des Kumys noch im Ohr, finde ich mich wenig später bei Dr. Nalgar Erdennetsogt in der Universität für Landwirtschaft der Stadt Ulaanbaator wieder. Dr. Nalgar Erdennetsogt ist ökologischer Berater an der biologischen Fakultät der Universität. Er hat sich bereit erklärt, mir die Grundzüge nomadischen Lebens wissenschaftlich zu erläutern. Echte nomadische Tierhaltung gebe es praktisch nur in der Mongolei, erklärt er.
Dafür nennt er mehrere Gründe:

O-Ton 14: Nalgar Erdennetsogt            0,52
Smisle tom, schto…
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Erstens das kontinentale Klima: Alle Gebiete der Mongolei erheben sich weit über den Meeresspiegel; davon sind nur einzelne Stellen ausgenommen. Aus dieser Lage ergibt sich eine besondere Pflanzendecke. Auf dieser ökologischen Decke hat sich, das ist das Zweite, die fünfache Tierhaltung entwickelt: Pferde, Schafe, Ziegen, Rinderarten und Kamele. Diese fünfgegliederte Tierwelt ist wie eine einzige Rasse, die in symbiotischen Beziehungen miteinander und mit den Menschen lebt. Das Dritte ist die gänzliche Entlegenheit des Landes von jeglichen Meeren. Das Vierte ist: Das mongolische Land ist umgeben von hohen Gebirgen. Ein solches Land gibt es vermutlich nicht noch einmal in der Welt. Das ist eine entlegende, wilde, in sich geschlossene, eine ganz und gar andere höhere Welt. Andersartigkeit durch und durch!“
…sowsjem inaja.

Erzähler:
Dr. Erdennetsogts wissenschaftliche Erkenntnisse gingen von der Streßforschung aus, die er bei den in der Mongolei gehaltenen fünf Tierarten durchgeführt hat. Dies übrigens schon 1973, also lange vor Beginn der aktuellen privatwirtschaftlichen Wende. In diesen Forschungen hat er eine Erklärung für die Besonderheiten des mongolischen nomadischen Lebens gefunden:

O-Ton 15: Erdennetsogt, Forts.        ?? 0,30 ??
Eta tak, eta tak…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Das ist so: Die Menschen, Intellektuelle vornehmlich, denken, daß die nomadischen Tierhalter kein Wissen haben, daß sie äußerst bararisch und sehr primitiv seien. In der Praxis ist den Hirten der Streß jedoch bekannt. Sie wissen genau, wann ihre Tiere stressen und wann nicht, wann sich der Streß legt, wann nicht und wie man den Streß abbaut. Sie machen es durch das Hin-und-Herziehen, eben das Nomadisieren: Nicht Nomadisieren – das ist der Tod.“
…jest i smert.

Erzähler:
Die streßhaftesten Situationen habe es dann wohl gegeben, vermute ich, als sowjetische Wissenschaftler seinerzeit einreisten, um die Herden für eine industrialisierte Tierwirtschaft zu spezialisieren? „Genau!“ ruft der Doktor, „diese gesonderte Zucht ist Streß in Vollkommenheit!“ und wenn Streß auftauche, dann verschlechtere sich die Fähigkeit zur Adaption. Wenn das geschehe, träten sehr leicht Krankheiten auf. Viele Tierärzte seien dann hilflos und die Herden gingen verloren.
Mein Hinweis, daß auch westliche Ökologen heute das Prinzip der gestaffelten biologischen Lebensräume dem der industrieorientierten Spezialisierungen entgegenstellten, sich hier also offenbar uraltes Wissen mit modernsten ökologischen Erkenntnissen treffe, entlockt dem Doktor erst ein Stöhnen. Dann platzt er begeistert los:

O-Ton 16: Erdennetsogt, Forts.        1,15
Stöhnen! O,tak, kak istik…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oh, wie wahr! Wie das zusammenkommt! Da kann ich Ihnen nur eine Sache sagen, über das Nomadisieren: Nomadisieren – das ist Ökologie! Die universellste Art der Wandlung, das ist das Nomadisieren. Was bedeutet denn Nomadisieren? – Das ist die universelle ökologische Situation ständiger Veränderung! Es bedeutet, daß du die ökologischen Verhältnisse an jedem beliebigen Ort kennst, so machst du deine Umzüge zusammen mit den Tieren. Wenn du diese Bewegung mit den Tieren richtig machst, dann sind sie produktiv, dann sind sie gesund, dann leiden sie nicht unter Krankheiten. Aber klar ist auch, wenn ich nicht zur rechten Zeit umziehe, dann treffe ich auf widrige, unangenehme und manchmal sogar gefährliche Naturverhältnise. Bei richtiger nomadisierender Bewegung aber wird es in dem ganzen riesigen Territorium der Mongolei nicht ein einem einzigen Bezirk bedrängende Armut geben.“
…takoi betstwi.

Erzähler:
Die Frage, wie Industriewelt und ursprüngliche ökologische Lebensweise sich in der heutigen Mongolei treffe, will der Doktor jedoch nicht mehr beantworten. Hier ende das Gespräch, erklärt er kategorisch. Heute gebe es zwei Zivilisationsformen, kann ich ihm nur noch entlocken, die europäische und die asiatische, genauer, die nomadische und die nicht-nomadische. Beide hätten Vor- und auch Nachteile. Was wir bräuchten, sei eine dritte Zivilisation. Wenn ich dies aber zitieren wolle, wiederholt er mehrmals, dann müsse ich angeben, woher diese neue Idee komme: Diese dritte Zivilisation beginne nämlich auf mongolischem Boden.
Ich bin verblüfft. Es scheint, daß ich auf verletzten Nationalstolz, mindestens aber auf ein Trauma langandauernder Unterdrückung gestoßen bin. Offensichtlich will er geistiges Eigentum der Mongolei vor fremdem Zugriff schützen. Um genauere Antworten zu finden, muß wohl selbst weiter auf die Suche gehen.

O-Ton 17: Autofahrt, Athmo        0,53
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen vor Erzähler (2) hochziehen, danach wieder abblenden

Erzähler:
Wenige Tage später habe ich Gelegenheit, mit Saja und Sarja, zwei mongolischen Frauen, in die Jurtenvororte von Ulaanbaator zu fahren. Saja und Sarja, beide um die vierzig, verteilen im Namen einer von Deutschen gegründeten Hilfsorganisation namens „Die Jurte“ Spendengelder an Bedürftige, vor allem an unvollständige Familien. Das sind alleinstehende Frauen mit Kindern, manchmal auch Väter ohne Frauen oder Großeltern, die allein für ihre Enkel sorgen. Zwanzig Deutsche Mark pro Kind geben die Frauen an insgesamt 110 Kinder; das sind ungefähr dreißig Familien. Die Zahl schwankt, da immer wieder Veränderungen auftreten. Eine Familie zieht einfach fort, ohne daß man wüßte wohin; Kinder verlassen die Familien, um auf der Straße zu leben. Zwischen fünf und zehntausend Straßenkinder werden in Ulaanbator zur Zeit vermutet. Die Adressen erhalten Saja und Saja von den Bezirksverwaltungen. Das Geld muß persönlich übergeben werden. Dabei überprüfen die Frauen seine Verwendung. Das ergibt rund dreißig, manchmal mehr Besuche im Monat, die die Frauen mit einem gemieteten Fahrer absolvieren.
…Autogeräusche, zweimal Türenschlagen

Regie: hochziehen, wiederabblenden

Erzähler:
Die erste Adresse – Fehlanzeige: Wo im letzten Monat noch eine Jurte stand, ist der Platz leer. Die Nachbarn wissen nichts über den Verbleib. Unter der zweiten Adresse finden wir eine fast leere Jurte, darin drei halbwüchsige Kinder, eins davon ein Krüppel. Einen Vater gibt es nicht, erklärt Saja. Die Mutter arbeitet für 9000 Togrö als Putzfrau. Das sind rund zehn Mark, gerade genug, ein Brot pro Tag zu kaufen.
Wie lange sie schon hier leben, frage ich die Kinder.

O-Ton 18: Vorortjurte            0,25
Kinder: „Tin,Tin“ – Mongolisch…
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Zehn Jahre. Früher haben sie außerhalb der Stadt gewohnt. Die Kinder erinnern sich noch. Da war es besser, meint das Mädchen. Da hatten wir Oma und Opa, ergänzt der Junge. Da hatten wir auch Kühe und andere Tiere, fährt er fort. Aber Oma und Opa sind gestorben. Ob sie zurück wollen? Die Antwort ist kaum zu verstehen, aber doch ein unmißverständliches: „Ja“.
… gehaucht Aha

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir eine Bretterhütte, eingerichtet wie eine Jurte: Ein Ofen, zwei Betten, zwei Schränkchen. Hier wohnt eine Frau, die neun Kinder geboren hat, drei davon noch immer schulpflichtig. Wovon sie lebe, frage ich. Saja übersetzt mir ihre Antworten:

O-Ton 19: Mutter von 9 Kindern        0,37
Frau: Mongolisch…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abbblenden

Übersetzerin:
„Sie arbeitet als Inspektorin für Hygiene. Dafür bekommt sie ebenfalls 9000 Togrö. Das ist kein festes Gehalt. Sie bekommt Prozente, wenn sie Strafen verhängt. Sie kann natürlich nicht immer Strafen verhängen, sagt sie, weil die Menschen eben so leben. Sie tun ihr leid. Aber das bedeutet auch, daß sie nur auf 9000 kommt. Dazu kommen noch 9000 Leibrente von ihrem verstorbenen Mann. Davon kann sie nicht leben, erst recht die Schule nicht bezahlen.  Sozialhilfe gibt es nicht. Von dem Hilfsgeld hat der älteste Sohn Holz gekauft und Möbel gebaut. Das gibt ihr Kraft. Daraus kann vielleicht etwas Neues entstehen, meint sie.“
…Frau, Russisch: pomogaet…

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir einen ca. 12jährigen Jungen. Er sitzt apathisch auf einem fast nackten Bettgestell zwischen vier ebenso nackten Dünnbetonwänden. Der Junge müßte in die Schule gehen, erklärt Saja. Aber die Mutter kümmert sich nicht um ihn, sie verkauft Wodka an einem nahen Kiosk. Als die Frauen sie dort aufsuchen, ist sie betrunken. Schweren Herzens entscheiden Saja und Sarja, das Geld diesesmal zurückzuhalten. Vielleicht nächstesmal, sagen sie. Hoffnungsvoll klingt das nicht.

O-Ton 20: Fahrt                0,52
Türenklappen, Fahrgeräusche….
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzählung:
Wieder sind wir unterwegs. Noch drei Familien schaffen wir an diesem Tag. Die Muster wiederholen sich: Die Wohnverhältnisse sind primitiv, kein Wasser, keine sanitären Anlagen. Die Freiheit der Jurte wird hier zur Katastrophe: Kein Licht, kein Wasser, kein Klo, statt der Steppe ein zugesiedeltes, verbrettertes und versifftes Vorstadtgelände. Ungefähr 400.00 Familien leben unter solchen Verhältnissen. Das sind 250.000 Menschen, ein Drittel der Stadtbevölkerung. Saja ist bedrückt:

Übersetzerin:
„Sie machen einfach so weiter wie früher. Warum versuchen sie es nicht zu ändern? Ich habe auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Man muß doch seine Art zu leben verändern! Die Leute haben TV, sie schauen Filme, warum müssen sie in der alten Weise weiterleben? Ich verstehe es nicht. Mag sein, daß sie einfach müde sind vom Leben, von ihrer Armut. Sie haben keinerlei Verlangen nach irgendeiner Zukunft, ihnen ist schon alles egal, wahrscheinlich.“
…nawerna

Erzähler:
Von Modernisierung kann auch in der Stadt unter solchen Umständen keine Rede sein. Nötig wäre die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse der Nomadenwirtschaft orientierten Industrie, um das technische Niveau der Nomadenwirtschaft zu heben und den Städtern sinnvolle Arbeit zu schaffen. Faktisch entwickeln sich Stadt und Land aber auseinander: Die Hirten kehren zu vorindustrieller Tauschwirtschaft zurück, in der sich ihr Reichtum an Tieren in die Armut des unverkäuflichen Überangebots zu verwandeln droht. Das Wachstum der Stadt Ulaanbaator, die jetzt bereits mehr als ein Viertel der mongolischen Bevölkerung umfaßt, schreitet andererseits unaufhaltsam voran – aber nicht die Produktion steigt, sondern die Arbeitslosigkeit, nicht der Ausbau der Infrastruktur geht voran, sondern ihr Zerfall. Daß beides zugleich möglich ist, Rückkehr aufs Land und weitere Verstädterung, hat seine Ursache in dem enormen Geburtenüberschuß, der die Bevölkerung in der Stadt und auf dem Lande zugleich wachsen läßt. Darin liegt eine gro0e Kraft der mongolischen Bevölkerung, darin liegt aber auch der Keim einer möglichen Katastrophe, die nur solange ausbleibt, wie Hirten und Städter Tierprodukte und Industriewaren  auf dem Wege der gegenseitigen Verwandtschaftshilfe bargeldlos tauschen. Eine Geld- bzw. Marktwirtschaft westlichen Typs ist das jedoch nicht.
Am Tag meiner Abreise hatte ich Gelegenheit, mit Professor Bira, dem Sekretär der „Internationalen Assoziation der Mongolisten“ in Ulaanbaator über diese Beobachtungen zu sprechen.

O-Ton 21: Prof. Bira            0,50
This is the…

Übersetzer:
„Ja, das ist das Problem, das in der Mongolei zur Zeit am schwierigsten zu lösen ist. Es ist sehr wichtig, diese Situation in der Mongolei zu erkennen. Vor allem auch für diejenigen, die kommen, um uns Mongolen zu helfen. Mir scheint, das die ausländischen Ratgeber ohne jede Kenntnis darüber zu uns kommen. Sie kommen mit Autorität von oben, sie geben uns Modelle, die für seßhafe landwirtschaftliche Länder ausgearbeitet sind, für osteuropäische oder für Rußland. Fast dasselbe wurde seinerzeit von den russischen Kommunisten gemacht. Natürlich gab es einige Verbesserungen, aber so konnten keine wirklich guten Ergebnisse erzielt werden. Das gilt auch für die jetzigen sog. demokratischen Reformen. Nichts ist wirklich besser geworden. Mir scheint, all das Geld und all diese wirtschaftliche Hilfe geht in eine falsche Richtung. Deshalb ist davon auch nicht mehr zu sehen…“
…not sovisible results

Erzähler:
Als Beispiel verweist der Professor auf  die beabsichtigte Privatisierung des Weidelandes. Da werde man einen Weg finden müssen, der den nomadischen Bedingungen entspreche:

O-Ton 22: Prof. Bira, Forts.        0,25
There are only two ways…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das ist eine Frage des Überlebens für dieses kleine Land. Es gibt nur zwei Wege: Entweder werden wir, wie der Historiker Toynbee meinte, ähnlich wie andere kleinere nomadische Nationen vom Erdboden verschwinden oder wir finden einen Weg, auf eigener Basis zu überleben.“
..survive

Erzähler:
Die Gefahren für die Mongolei sind groß. Die Tatsache allerdings, daß die Mongolei anders als andere nomadische Nationen im Schnittpunkt geostrategischer Interessen zwischen Ost und West liegt, eröffnet die Chance, daß hier der Weg für eine Modernisierung gefunden wird, die ursprüngliche nomadische Ökologie und industriellen Fortschritt miteinander verbindet.

O-Ton 24: Musik        0,20
Regie: allmählich unter dem Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, mit Applaus abblenden.

Erzähler:
Das Bild dafür ist die Jurte, die durch einen Sonnenkollektor oder
durch mobile Windgeneratoren mit elektrischem Strom versorgt wird. Vereinzelt kann man solche Bilder in der heutigen Mongolei bereits sehen.


Mongolei – Heimat der letzten Indianer oder Chance zur Modernisierung?

O-Ton 1:    Applaus, Foyer, Instrumentalmusi    1,37
Regie:    Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden und unterlegt halten

Erzähler:
Ulaanbaator, Hauptstadt der Mongolei. Der mongolische Präsident empfängt den Kongreß der Mongolisten zu einer Arbeitspause im Winterpalast des Bogd Chan, so genannt nach dem ersten geistlichen Oberhaupt der lamaistischen Staatskirche. Es ist der siebte Kongreß dieser Art. Die Tagungen selbst finden in dem neuen Luxushotel namens Tschingis Chan statt, dem größten Vorzeigebau an dem architektonisch im übrigen tristen Ort.
Mehr als 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind aus fast allen Teilen der Welt angereist: Chinesen, Japaner, Süd-Ost-Asiaten, Russen, Amerikaner, Ost- und Westeuropäer. Auch Australien ist vertreten. Dazu kommen über 100 örtliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nur der schwarze Kontinent, Afrika, fehlt.
Das ist bedauerlich, weil auch die Afrikaner zum Thema des Kongresses einiges beizutragen hätten. Letztlich geht es um die Frage, wie ein nomadisches Land modernisiert werden kann, ohne seine Kultur zu zerstören. Drei Tage harter Kongreßdiziplin liegen bereits hinter den Teilnehmern. Die Pause kommt allen recht, um sich in lockerer Athmosphäre über die Sektionen hinaus auszutauschen.

Regie: Ton 1 (Musik) allmählich hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen

Erzähler:
Stoff für Gespräche haben die ersten Tage des Kongresses reichlich geliefert. Drei Grundlinien traten besonders hervor:
Zunächst die Bewertung Tschingis Chans: Ihm begegnet man auf dem Kongreß nicht, wie gewohnt, als Barbar, Despot oder Geißel der Menschheit. Ihn lernt man als Begründer einer „Pax Mongolika“ kennen, die Ost und West über hunderte von Jahren in fruchtbarem kulturellem Austausch verband. Dann die Ergebnisse der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung: Sie hat nicht, wie erwartet, zur endgültigen Auflösung des nomadischen Lebensstils geführt, sondern zu dessen Wiederbelebung.
Das Dritte ist eine Tatsache, die auch das äußere Bild des Kongresses mit prägt: Mehr als die Hälfte der heute 2,5 Millionen zählenden mongolischen Bevölkerung ist unter fünfundreißig Jahre alt; vor einer Generation waren es noch 1,5 Millionen.

O-Ton 2: Foyer, Gespräch mit Jugendlichen     1,05
Mongolisch, Russisch…
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler:
Im Gespräch mit jungen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Kongresses wird denn auch am deutlichsten, welchen Problemen sich die Mongolei heute gegenübersieht: Auf die Frage, was sie von der Wiederbelebung des Nomadentums halten – russisch gestellt, mongolisch beantwortet, von einem aus der Gruppe ins Russische zurückübersetzt –  antworten sie hitzig:

Übersetzer:
„Wir gehen jetzt zur Marktwirtschaft über. Wir übernehmen sehr viel aus der westlichen Zivilisation. Einer der allernächsten Schritte wird das Privateigentum an Land sein. Das Wichtigste bei den Nomaden ist ja der Weideplatz; deswegen verändert sich nomadisches Leben natürlich, wenn man den Hirten bestimmte Plätze als Eigentum übergibt. Wir könnten ja weitermachen wie in den letzten tausend Jahren – Tiere weiden, hin und her ziehen. Möglich ist das, unsere nomadische Kultur ist einmalig auf der Welt, wir verehren unseren Urahn Tschingis Chan, wir haben eine große Geschichte. Aber wir können uns heute nicht abseits von der Welt entwickeln; vor uns steht die Wahl: Ein moderner Staat zu sein und eine modernisierte Nation zu werden oder all die alten Traditionen zu erhalten, die wir hatten.“
…sakranitz wsjo schto u nas bila.

O-Ton 3: Junge Leute, Forts.    0,31
Dumaitje eta vibor…?
Regie: direkt verblenden, kurz weiter stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen und abblenden

Erzähler:
Ein Entweder-Oder wollen die jungen Leute darin aber nicht sehen. Sie lieben die Freiheit der Steppe. Teile der Tradition müßten jedoch geopfert werden, finden sie, etwa die „zu starke Orientierung auf nomadische Tierhaltung“. Das Land brauche intensivere Produktion. Wie zu Sowjetzeiten. Nicht alles sei damals falsch gewese; man müsse differenzieren. Selbstverständlich müsse auch die Natur geschützt werden. Aber energisch wenden sie sich dagegen, ihr Land in eine Art, wie sie sagen, ethnografisches Museum für westliche Touristen zu verwandeln. „Der erste Schritt muß die Ausgabe von Hochtechnologie sein“, faßt der Übersetzer zusammen: „Wir müssen unsere natürlichen Reichtümer nutzen und gleichzeitig unsere Natur schützen.“
…kak sakranitz unikalni prirodu…

Erzähler:
Damit sind, allen Relativierungen zum Trotz, die Grundprobleme der heutigen Mongolei benannt; das Land droht in in zwei Teile zu zerfallen: Renomadisierung hier, Verstädterung da; Naturschutz hier, Industrialisierung da, Tradition hier und Jugend da.

O-Ton 4: Jurte bei Ulaanbaator, Athmo    0,44
Kuh, Melken, Kinder, Motrrorad…
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegt halten

Erzähler:
Wenige Tage nach dem Kongreß bin ich draußen. Hier kann ich mit eigenen Augen sehen, wovon vorher die Rede war: Kühe, Schafe, Pferde, Hunde, zahllose Kinder, drei Jurten, jene nach oben offenen Rundzelte der Nomaden – das ist alles, was es hier gibt, keine Straße, kein Wasser, kein elektrischer Strom, nicht einmal ein Plumsklo. Geheizt wird mit Arà, dem getrockneten Dung der Tiere. Die Steppe ist auch die Toilette für die Menschen. Dabei sind wir nicht einmal hundert Kilometer von Ulaanbaator entfernt. Ein älteres Ehepaar, beide pensioniert, bewirtschaftet diesen Platz. Er war Techniker, sie Krankenschwester. Nach der Reform von 1991 kauften sie eine Jurte und verließen die Stadt. In den beiden Nachbarjurten leben Kinder und Enkel von ihnen. Zur nächsten Jurtengemeinschaft führt ein Ritt von 15 Minuten mit dem Pferd, gegebenenfalls auch mit dem beiwagenbewehrten Motorrad.

O-Ton 5: Jurte, Forts.        0,23
Löffelklappern, Gesprächsfetzen, Schlürfen
Regie: langsam hochkommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Wir werden erst einmal leiblich versorgt: Kumys, die berüchtigte gegorene Stutenmilch, grüner Tee, fette Hammelsuppe werden abwechselnd gereicht. Derweil füllt sich die Jurte. Man kommt, die neuen Gäste zu sehen. Nach dem Essen antworten die beiden Alten auf meine Fragen. Was hat sie veranlaßt, hier in die Steppe zu ziehen?

O-Ton 6: Jurte, Forts.        0,47
Tschisti Vosduch…
Regie: allmählich hochkommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und wieder abblenden

Erzähler:
Die Antwort kommt Mongolisch, dazwischen russische Brocken: „Frische Luft! Gesundheit!“ Darja, die Frau der Familie, die mich hierher mitgenommen hat, übersetzt zwischendurch:

Darja:
„Die Frau lag nur noch in der Klinik – zu hoher Blutdruck. Ihr Mann war auch krank. Jetzt sind sie beide gesund. Seine Eltern waren auch Hirten, sagt er. Deshalb wollte er unbedingt ein paar Tiere haben und hier mit den Tieren leben. Jetzt kann er seine Kinder ernähren und die Verwandten kommen zu Besuch.“

Regie: kurz aufblenden (Mann: mongolisch, Frau: russisch), abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Natürlich ist das Leben schwer, sagt er. Wegen der vier Jahreszeiten. Im Winter gibt es viel Schnee. Deshalb arbeiten sie ohne festgelegte Zeiten, abhängig vom Wetter. Mit den Tieren ist es sehr schwierig; man muß alles für sie tun. Am Anfang hatten sie nur fünfzehn Köpfe, jetzt sind es ungefähr zweihundert, dazu guter Nachwuchs. Darauf ist der Zeltvater besonders stolz.
…Mongolisch, Geplätscher

Erzähler:
Von der neuen Zeit halten die beiden Alten trotzdem nicht viel. Vieles müßte sich ändern, meint der Alte:

O-Ton 7: Jurte, Forts.        0,42
Mann und Frau, mongolisch…

Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß kurz hochziehen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Die Mongolei ist ja ein ländliches Land. Man müßte vor allem die Tierwirtschaft gut entwickeln. Aber die Organisation der Tierwirtschaft ist nicht besonders. Unserer Meinung nach wäre es besser, im ganzen Land kleine Betriebe und kleine Produktiuonsstätten zu haben, die landwirtschaftliche Produkte an Ort und Stelle weiterverarbeiten könnten und sie dann erst zum Markt zu schaffen. Dann könnten unsere Waren, Tiere und Tierprodukte,  vielleicht einen gewissen Preis bekommen. Die Weiterverarbeitung am Ort ist das Wichtigste. Aber die Organisation ist schlecht. Das ist das Schlimmste.“
…Mongolisch, jemu kaschtetsja….

Erzähler:
Nach diesem unerfreulichen Thema gleitet das Gespräch schnell zu angenehmeren Fragen: Dort, der Jurtenaltar! Wer und was wird dort verehrt? Der Alte antwortet, ohne zu zögern:

O-Ton 8: Gespräch Jurte, Mann    0,42
…Mongolisch…

Darja übersetzt:
„Wir haben zwei Götter. Einer bewahrt vor Dürre, Gewitter und anderen Naturgewalten, der andere steuert den Kreislauf des Jahres. Wir glauben an Astrologie. Wir achten sehr auf den Himmel, um frühzeitig zu wissen, ob Schnee, Regen oder anderes Wetter kommt. Im Himmel gibt es auch eine Göttin, die Schutzgöttin der fünf Tierarten. Das sind Pferde, Kühe oder Yaks, Schafe, Ziegen und Kamele. Zu den Jahresfesten wird den Göttern geopfert. Da bereiten wir alles vor, was an Milchspeisen und Fleisch haben. Die Hälfte eines Ochsen, von jeder Art Milchspeise opfern wir immer dem Himmel, auch wenn Milchschnaps getrunken wird. Der ist ja auch ein Produkt des Himmels; alles was gut tut..“
…Mongolisch, Frauenstimme: Nowi god…

Erzähler:
Darüber reden wir lange. Das Wichtigste, erklärt der Alte schließlich noch einmal, seien die Kinder und Darja faßt zusammen:

O-Ton 9: Jurtenvater        0,29
Mongolisch….
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, dann allmählich abblenden.

Übersetzer:
„Er hat selbst sechs, dazu kommen die der Verwandten. Er ist jetzt froh und stolz, daß sie alle bei ihm leben, daß sie sich alle hier von der Stadt erholen können und daß es auch seinen Verwandten gut geht, weil er ihnen helfen kann.“
…Mongolisch, Gemurmel, Frauenstimme…

Erzähler:
Einer von diesen Verwandten ist Zegur Dortsch, ein außerordentlich beleibter Herr im Trainingsanzug, ebenfalls Pensionär. Zegur Dortsch war, wie sich zu meiner Verblüffung herausstellt, früher Direktor im Ministerium für mongolische Volkserziehung. Jetzt hält er sich samt Familie für einen späten Sommermonat zur Erholung bei seinem Verwandten auf dem Lande auf. Sichtlich zufrieden.
Nach anfänglichem Zögern ist auch Zegur Dortsch bereit, in meinen Recorder zu sprechen. Die Reformen waren unvermeidlich, erklärt er. Einige Folgen jedoch seien nicht gut:

O-Ton 10: Zegur Dortsch        0,28
Sewodnja conjeschna u nas…
Regie: Direkt anfahren, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Heue haben wir ja den Markt. Das muß so sein. Aber nicht alles ist gut. Zu Zeiten des Sozialismus waren alle gleich. Heute dagegen sind einige sehr reich, während die Mehrheit mehr oder weniger verarmt. Das ist natürlich nicht das Wahre. Warum ist das so? Weil die Einführung der Marktwirtschaft nur eine Überganghsphase sein sollte, die zehn oder zwanzig Jahre dauert. Bei uns hatte man es aber zu eilig; deswegen diese Schwierigkeiten.“
…takoi trudnosti

Meine Frage, ob er in der Wiederbelebung des nomadischen Lebens ein Problem sehe, versteht er überhaupt nicht. Er sieht die Schwierigkeiten ganz woanders:

0-Ton 11: Forts. Zegur Dortsch             0,29
Samie glawnie..
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das größte Problem für die Stadt sind die Kinder und die Rentner. Denen hilft der Staat heute überhaupt nicht. Die Viehzüchter haben noch andere Probleme, es gibt ja keinen wirklichen Markt, aber denen hilft auch keiner. Früher gab es alle möglichen Koooperativen, Initiativen und Gemeinschaften. Der Staat hat immer allen geholfen. Heut muß man alles alleine schaffen, egal ob in der Stadt oder auf dem Lande. Das ist das Problem.“
…gorodski Ludi

Erzähler:
Mongolbaiar ist ein weiterer Verwandter. Er ist in Ulaanbaator als Verkehrspolizist tätig. Bei ihm verstehe ich, daß Verwandtschaft auch die des zweiten, dritten oder noch vielfacheren Grades sein kann. Insgesamt werden neun Generationen zurückgerechnet. Entscheidend ist so nicht die Familien-, sondern die Stammeslinie. Mongolbaier sieht die Dinge in hellerem Licht. Daß jeder heut machen könne, was er wolle, sei eine Chance, meint er. Zwar beklagt er, schon aus Profession, daß sich mit den Reformen eine unziemliche Regellosigkeit im Lande ausbreite. Aber Mafia wie in Rußland?

O-Ton 12: Polizist Mongolbaiar            0,25
U nas Mafia paka…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Bei uns ist die Mafia zur Zeit nicht so offen zu sehen. Später vielleicht; kann sein, daß wir demnächst auch so etwas bekommen. Aber jetzt? Nein! Warum? Warum kann man bei uns nicht von Mafia sprechen? Nun, hier in der Mongolei sind wir nur wenige Menschen. Deswegen kann die Mafia nicht agieren.“
..nje destwuit

Erzähler:
Im Verlaufe des dritten Tages kündigt sich ein besonderes Ereignis an: Die Hauptjurte wird ausgeräumt; alles, was zwei Beine hat, strömt in ihr zusammen. Was geht da vor?

O-Ton 13: Umsetzen einer Jurte        118
Hurra, Geschrei, Kinder….
Regie: Ton kommen lassen, etwas länger stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, hin und wieder hochziehen

Erzähler:
Nun ist es klar! Männer, Frauen und die schon etwas größeren Kinder haben sich rund um die Innenwände der leeren Jurte aufgestellt. Auf Kommando heben sie das ganze Gestell und setzen es zwanzig Meter weiter wieder auf den Boden. Am Morgen sei ein Fohlen tot aufgefunden worden, erklärt man mir. Nach geltender Tradition müsse die Familie danach den Ort wechseln, da der Boden, auf dem sie lebe, nun als verunreinigt gelte. Mit dem Versetzen um zwanzig Meter ist dieser Regel offenbar Genüge getan. Die Alte besprengt den Innenkreis der Jurte rundum mit frischer Milch. So bittet sie die Götter um Segen. Das Einräumen vollzieht sich in Windeseile. Zuerst wird das Faß mit Kymis hineingetragen, dann die Herdstelle eingerichtet, das zur Mittelöffnung hinausragende Ofenrohr wieder aufgesteckt. Zwei Betten, zwei Schränkchen, der Hausaltar, das flache Tischchen davor, die paar schlichten Hocker – schon ist die Einrichtung wieder perfekt. Das Ganze hat nicht länger als eine halbe Stunde gedauert. Während die Jurtenwirtin zusammen mit anderen Frauen noch dabei ist, die Herdstelle wieder anzuheizen, Wasser für Tee aufsetzt, Trockenfleisch und andere Nahrungsvorräte unter den Betten verstaut, wo sie bei hochgeschlagenen Jurtenboden im Sommer am kühlsten lagern, lassen die Männer bereits den Becher mit Kymis kreisen. So wird der neue Platz eingeweiht. Der Mann ist das Haupt der Familie, heißt es. Erst nach ihm trinken die Frauen.
…Stimme: „Sami perwi Kumis“, Stampfen

Erzähler:
Das Stampfen des Kumys noch im Ohr, finde ich mich wenig später bei Dr. Nalgar Erdennetsogt in der Universität für Landwirtschaft der Stadt Ulaanbaator wieder. Dr. Nalgar Erdennetsogt ist ökologischer Berater an der biologischen Fakultät der Universität. Er hat sich bereit erklärt, mir die Grundzüge nomadischen Lebens wissenschaftlich zu erläutern. Echte nomadische Tierhaltung gebe es praktisch nur in der Mongolei, erklärt er.
Dafür nennt er mehrere Gründe:

O-Ton 14: Nalgar Erdennetsogt            0,52
Smisle tom, schto…
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Erstens das kontinentale Klima: Alle Gebiete der Mongolei erheben sich weit über den Meeresspiegel; davon sind nur einzelne Stellen ausgenommen. Aus dieser Lage ergibt sich eine besondere Pflanzendecke. Auf dieser ökologischen Decke hat sich, das ist das Zweite, die fünfache Tierhaltung entwickelt: Pferde, Schafe, Ziegen, Rinderarten und Kamele. Diese fünfgegliederte Tierwelt ist wie eine einzige Rasse, die in symbiotischen Beziehungen miteinander und mit den Menschen lebt. Das Dritte ist die gänzliche Entlegenheit des Landes von jeglichen Meeren. Das Vierte ist: Das mongolische Land ist umgeben von hohen Gebirgen. Ein solches Land gibt es vermutlich nicht noch einmal in der Welt. Das ist eine entlegende, wilde, in sich geschlossene, eine ganz und gar andere höhere Welt. Andersartigkeit durch und durch!“
…sowsjem inaja.

Erzähler:
Dr. Erdennetsogts wissenschaftliche Erkenntnisse gingen von der Streßforschung aus, die er bei den in der Mongolei gehaltenen fünf Tierarten durchgeführt hat. Dies übrigens schon 1973, also lange vor Beginn der aktuellen privatwirtschaftlichen Wende. In diesen Forschungen hat er eine Erklärung für die Besonderheiten des mongolischen nomadischen Lebens gefunden:

O-Ton 15: Erdennetsogt, Forts.        ?? 0,30 ??
Eta tak, eta tak…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Das ist so: Die Menschen, Intellektuelle vornehmlich, denken, daß die nomadischen Tierhalter kein Wissen haben, daß sie äußerst bararisch und sehr primitiv seien. In der Praxis ist den Hirten der Streß jedoch bekannt. Sie wissen genau, wann ihre Tiere stressen und wann nicht, wann sich der Streß legt, wann nicht und wie man den Streß abbaut. Sie machen es durch das Hin-und-Herziehen, eben das Nomadisieren: Nicht Nomadisieren – das ist der Tod.“
…jest i smert.

Erzähler:
Die streßhaftesten Situationen habe es dann wohl gegeben, vermute ich, als sowjetische Wissenschaftler seinerzeit einreisten, um die Herden für eine industrialisierte Tierwirtschaft zu spezialisieren? „Genau!“ ruft der Doktor, „diese gesonderte Zucht ist Streß in Vollkommenheit!“ und wenn Streß auftauche, dann verschlechtere sich die Fähigkeit zur Adaption. Wenn das geschehe, träten sehr leicht Krankheiten auf. Viele Tierärzte seien dann hilflos und die Herden gingen verloren.
Mein Hinweis, daß auch westliche Ökologen heute das Prinzip der gestaffelten biologischen Lebensräume dem der industrieorientierten Spezialisierungen entgegenstellten, sich hier also offenbar uraltes Wissen mit modernsten ökologischen Erkenntnissen treffe, entlockt dem Doktor erst ein Stöhnen. Dann platzt er begeistert los:

O-Ton 16: Erdennetsogt, Forts.        1,15
Stöhnen! O,tak, kak istik…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Oh, wie wahr! Wie das zusammenkommt! Da kann ich Ihnen nur eine Sache sagen, über das Nomadisieren: Nomadisieren – das ist Ökologie! Die universellste Art der Wandlung, das ist das Nomadisieren. Was bedeutet denn Nomadisieren? – Das ist die universelle ökologische Situation ständiger Veränderung! Es bedeutet, daß du die ökologischen Verhältnisse an jedem beliebigen Ort kennst, so machst du deine Umzüge zusammen mit den Tieren. Wenn du diese Bewegung mit den Tieren richtig machst, dann sind sie produktiv, dann sind sie gesund, dann leiden sie nicht unter Krankheiten. Aber klar ist auch, wenn ich nicht zur rechten Zeit umziehe, dann treffe ich auf widrige, unangenehme und manchmal sogar gefährliche Naturverhältnise. Bei richtiger nomadisierender Bewegung aber wird es in dem ganzen riesigen Territorium der Mongolei nicht ein einem einzigen Bezirk bedrängende Armut geben.“
…takoi betstwi.

Erzähler:
Die Frage, wie Industriewelt und ursprüngliche ökologische Lebensweise sich in der heutigen Mongolei treffe, will der Doktor jedoch nicht mehr beantworten. Hier ende das Gespräch, erklärt er kategorisch. Heute gebe es zwei Zivilisationsformen, kann ich ihm nur noch entlocken, die europäische und die asiatische, genauer, die nomadische und die nicht-nomadische. Beide hätten Vor- und auch Nachteile. Was wir bräuchten, sei eine dritte Zivilisation. Wenn ich dies aber zitieren wolle, wiederholt er mehrmals, dann müsse ich angeben, woher diese neue Idee komme: Diese dritte Zivilisation beginne nämlich auf mongolischem Boden.
Ich bin verblüfft. Es scheint, daß ich auf verletzten Nationalstolz, mindestens aber auf ein Trauma langandauernder Unterdrückung gestoßen bin. Offensichtlich will er geistiges Eigentum der Mongolei vor fremdem Zugriff schützen. Um genauere Antworten zu finden, muß wohl selbst weiter auf die Suche gehen.

O-Ton 17: Autofahrt, Athmo        0,53
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen vor Erzähler (2) hochziehen, danach wieder abblenden

Erzähler:
Wenige Tage später habe ich Gelegenheit, mit Saja und Sarja, zwei mongolischen Frauen, in die Jurtenvororte von Ulaanbaator zu fahren. Saja und Sarja, beide um die vierzig, verteilen im Namen einer von Deutschen gegründeten Hilfsorganisation namens „Die Jurte“ Spendengelder an Bedürftige, vor allem an unvollständige Familien. Das sind alleinstehende Frauen mit Kindern, manchmal auch Väter ohne Frauen oder Großeltern, die allein für ihre Enkel sorgen. Zwanzig Deutsche Mark pro Kind geben die Frauen an insgesamt 110 Kinder; das sind ungefähr dreißig Familien. Die Zahl schwankt, da immer wieder Veränderungen auftreten. Eine Familie zieht einfach fort, ohne daß man wüßte wohin; Kinder verlassen die Familien, um auf der Straße zu leben. Zwischen fünf und zehntausend Straßenkinder werden in Ulaanbator zur Zeit vermutet. Die Adressen erhalten Saja und Saja von den Bezirksverwaltungen. Das Geld muß persönlich übergeben werden. Dabei überprüfen die Frauen seine Verwendung. Das ergibt rund dreißig, manchmal mehr Besuche im Monat, die die Frauen mit einem gemieteten Fahrer absolvieren.
…Autogeräusche, zweimal Türenschlagen

Regie: hochziehen, wiederabblenden

Erzähler:
Die erste Adresse – Fehlanzeige: Wo im letzten Monat noch eine Jurte stand, ist der Platz leer. Die Nachbarn wissen nichts über den Verbleib. Unter der zweiten Adresse finden wir eine fast leere Jurte, darin drei halbwüchsige Kinder, eins davon ein Krüppel. Einen Vater gibt es nicht, erklärt Saja. Die Mutter arbeitet für 9000 Togrö als Putzfrau. Das sind rund zehn Mark, gerade genug, ein Brot pro Tag zu kaufen.
Wie lange sie schon hier leben, frage ich die Kinder.

O-Ton 18: Vorortjurte            0,25
Kinder: „Tin,Tin“ – Mongolisch…
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen

Erzähler:
Zehn Jahre. Früher haben sie außerhalb der Stadt gewohnt. Die Kinder erinnern sich noch. Da war es besser, meint das Mädchen. Da hatten wir Oma und Opa, ergänzt der Junge. Da hatten wir auch Kühe und andere Tiere, fährt er fort. Aber Oma und Opa sind gestorben. Ob sie zurück wollen? Die Antwort ist kaum zu verstehen, aber doch ein unmißverständliches: „Ja“.
… gehaucht Aha

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir eine Bretterhütte, eingerichtet wie eine Jurte: Ein Ofen, zwei Betten, zwei Schränkchen. Hier wohnt eine Frau, die neun Kinder geboren hat, drei davon noch immer schulpflichtig. Wovon sie lebe, frage ich. Saja übersetzt mir ihre Antworten:

O-Ton 19: Mutter von 9 Kindern        0,37
Frau: Mongolisch…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abbblenden

Übersetzerin:
„Sie arbeitet als Inspektorin für Hygiene. Dafür bekommt sie ebenfalls 9000 Togrö. Das ist kein festes Gehalt. Sie bekommt Prozente, wenn sie Strafen verhängt. Sie kann natürlich nicht immer Strafen verhängen, sagt sie, weil die Menschen eben so leben. Sie tun ihr leid. Aber das bedeutet auch, daß sie nur auf 9000 kommt. Dazu kommen noch 9000 Leibrente von ihrem verstorbenen Mann. Davon kann sie nicht leben, erst recht die Schule nicht bezahlen.  Sozialhilfe gibt es nicht. Von dem Hilfsgeld hat der älteste Sohn Holz gekauft und Möbel gebaut. Das gibt ihr Kraft. Daraus kann vielleicht etwas Neues entstehen, meint sie.“
…Frau, Russisch: pomogaet…

Erzähler:
Unter der nächsten Adresse finden wir einen ca. 12jährigen Jungen. Er sitzt apathisch auf einem fast nackten Bettgestell zwischen vier ebenso nackten Dünnbetonwänden. Der Junge müßte in die Schule gehen, erklärt Saja. Aber die Mutter kümmert sich nicht um ihn, sie verkauft Wodka an einem nahen Kiosk. Als die Frauen sie dort aufsuchen, ist sie betrunken. Schweren Herzens entscheiden Saja und Sarja, das Geld diesesmal zurückzuhalten. Vielleicht nächstesmal, sagen sie. Hoffnungsvoll klingt das nicht.

O-Ton 20: Fahrt                0,52
Türenklappen, Fahrgeräusche….
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzählung:
Wieder sind wir unterwegs. Noch drei Familien schaffen wir an diesem Tag. Die Muster wiederholen sich: Die Wohnverhältnisse sind primitiv, kein Wasser, keine sanitären Anlagen. Die Freiheit der Jurte wird hier zur Katastrophe: Kein Licht, kein Wasser, kein Klo, statt der Steppe ein zugesiedeltes, verbrettertes und versifftes Vorstadtgelände. Ungefähr 400.00 Familien leben unter solchen Verhältnissen. Das sind 250.000 Menschen, ein Drittel der Stadtbevölkerung. Saja ist bedrückt:

Übersetzerin:
„Sie machen einfach so weiter wie früher. Warum versuchen sie es nicht zu ändern? Ich habe auf diese Frage noch keine Antwort gefunden. Man muß doch seine Art zu leben verändern! Die Leute haben TV, sie schauen Filme, warum müssen sie in der alten Weise weiterleben? Ich verstehe es nicht. Mag sein, daß sie einfach müde sind vom Leben, von ihrer Armut. Sie haben keinerlei Verlangen nach irgendeiner Zukunft, ihnen ist schon alles egal, wahrscheinlich.“
…nawerna

Erzähler:
Von Modernisierung kann auch in der Stadt unter solchen Umständen keine Rede sein. Nötig wäre die Entwicklung einer auf die Bedürfnisse der Nomadenwirtschaft orientierten Industrie, um das technische Niveau der Nomadenwirtschaft zu heben und den Städtern sinnvolle Arbeit zu schaffen. Faktisch entwickeln sich Stadt und Land aber auseinander: Die Hirten kehren zu vorindustrieller Tauschwirtschaft zurück, in der sich ihr Reichtum an Tieren in die Armut des unverkäuflichen Überangebots zu verwandeln droht. Das Wachstum der Stadt Ulaanbaator, die jetzt bereits mehr als ein Viertel der mongolischen Bevölkerung umfaßt, schreitet andererseits unaufhaltsam voran – aber nicht die Produktion steigt, sondern die Arbeitslosigkeit, nicht der Ausbau der Infrastruktur geht voran, sondern ihr Zerfall. Daß beides zugleich möglich ist, Rückkehr aufs Land und weitere Verstädterung, hat seine Ursache in dem enormen Geburtenüberschuß, der die Bevölkerung in der Stadt und auf dem Lande zugleich wachsen läßt. Darin liegt eine gro0e Kraft der mongolischen Bevölkerung, darin liegt aber auch der Keim einer möglichen Katastrophe, die nur solange ausbleibt, wie Hirten und Städter Tierprodukte und Industriewaren  auf dem Wege der gegenseitigen Verwandtschaftshilfe bargeldlos tauschen. Eine Geld- bzw. Marktwirtschaft westlichen Typs ist das jedoch nicht.
Am Tag meiner Abreise hatte ich Gelegenheit, mit Professor Bira, dem Sekretär der „Internationalen Assoziation der Mongolisten“ in Ulaanbaator über diese Beobachtungen zu sprechen.

O-Ton 21: Prof. Bira            0,50
This is the…

Übersetzer:
„Ja, das ist das Problem, das in der Mongolei zur Zeit am schwierigsten zu lösen ist. Es ist sehr wichtig, diese Situation in der Mongolei zu erkennen. Vor allem auch für diejenigen, die kommen, um uns Mongolen zu helfen. Mir scheint, das die ausländischen Ratgeber ohne jede Kenntnis darüber zu uns kommen. Sie kommen mit Autorität von oben, sie geben uns Modelle, die für seßhafe landwirtschaftliche Länder ausgearbeitet sind, für osteuropäische oder für Rußland. Fast dasselbe wurde seinerzeit von den russischen Kommunisten gemacht. Natürlich gab es einige Verbesserungen, aber so konnten keine wirklich guten Ergebnisse erzielt werden. Das gilt auch für die jetzigen sog. demokratischen Reformen. Nichts ist wirklich besser geworden. Mir scheint, all das Geld und all diese wirtschaftliche Hilfe geht in eine falsche Richtung. Deshalb ist davon auch nicht mehr zu sehen…“
…not sovisible results

Erzähler:
Als Beispiel verweist der Professor auf  die beabsichtigte Privatisierung des Weidelandes. Da werde man einen Weg finden müssen, der den nomadischen Bedingungen entspreche:

O-Ton 22: Prof. Bira, Forts.        0,25
There are only two ways…
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Das ist eine Frage des Überlebens für dieses kleine Land. Es gibt nur zwei Wege: Entweder werden wir, wie der Historiker Toynbee meinte, ähnlich wie andere kleinere nomadische Nationen vom Erdboden verschwinden oder wir finden einen Weg, auf eigener Basis zu überleben.“
..survive

Erzähler:
Die Gefahren für die Mongolei sind groß. Die Tatsache allerdings, daß die Mongolei anders als andere nomadische Nationen im Schnittpunkt geostrategischer Interessen zwischen Ost und West liegt, eröffnet die Chance, daß hier der Weg für eine Modernisierung gefunden wird, die ursprüngliche nomadische Ökologie und industriellen Fortschritt miteinander verbindet.

O-Ton 24: Musik        0,20
Regie: allmählich unter dem Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, mit Applaus abblenden.

Erzähler:
Das Bild dafür ist die Jurte, die durch einen Sonnenkollektor oder
durch mobile Windgeneratoren mit elektrischem Strom versorgt wird. Vereinzelt kann man solche Bilder in der heutigen Mongolei bereits sehen.

Mongolei – Schweiz Asiens

Unter diesem Thema setze ich mich für einen Austausch mit dem Kulturraum Altai/Mongolei und dessen Stärkung als Katalysator einer kulturellen und ökologischen Erneuerung zwischen ein. Das schließt das russisch-sibirische Burjätien sowie die sog. Innere Mongolei in Nordchina mit ein. Es geht mir dabei

  1. um die gegenseitige Transformation von nomadischem Kultur und industrieller Modernisierung,
  2. um die politische Rolle der Mongolei als eines möglichen neutralen Raumes zwischen den politischen Giganten Asiens,
  3. um direkte Hilfe für die Entwicklung modernen nomadischen Lebens und den konkreten Austausch von Know-how und Kultur zur Frage. Stichwort: Jurte mit Sonnenkollektor auf Basis kooperativer nomadischer Versorgungsgemeinschaften.

    Stationen dieses Projektes waren ausgedehnte Forschungsreisen im Altai., der Mongolei, Sibirien und Nord-China seit 1992, verstärkt seit meiner Teilnahme am 7. internationalen Kongress derMongolisten1997 und 2002; Zur Entwicklung einer konkreten Projektarbeit habe ich im Frühjahr 2004 eine Jurte in Hamburg aufgebaut, in der inzwischen ein Initiativkreis „Kultur der Jurte“ aktiv ist. Im Winter 2004/2005 gründete sich eine Partner-Initiative in der Mongolei, mit der die Hamburger Initiative kooperiert. 2006 organisierten beide Seiten erstmalig gegenseitige ausgedehnte Arbeitsbesuche. Genaueres dazu finden Sie auf den Seiten von Nowostroika e.V.

    Begleitend zu diesen Aktivitäten entstanden

    Zu den gesonderten Aktivitäten der Initiative unter: Kultur der Jurte