Autor: Kai

Babuschkas Töchter (Teil 2) Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Falls Kürzung notwendig, dann O-Ton 3 einschließlich Vortext ab: „Dass dies kein Einzelfall ist…“ fünf Zeilen über O-Ton 3. Weiter dann mit: „Die Tür sollen die Jungs…“)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2)
Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Russlands Krise ist nicht nur eine Krise der Wirtschaft. Perestroika hat auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Bewegung gebracht. Die traditionelle Pyramide patriarchaler Vorherrschaft ist erschüttert, zeigt Risse und bröckelt. Aus ihr geht eine neue Generation von Frauen hervor. Wie ist ihr Selbstverständnis? Wohin wenden sie sich?
Kai Ehlers berichtet über Gespräche mit russischen Frauen.

O-Ton 1: Junge Mädchen in Belowo                                    0,50
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, Lachen
Auf dem Paradeplatz von Belowo. Der Tag der Veteranen ist angekündigt. Auf offener Bühne übt die Band. Drei junge Mädchen warten auf einer Bank. Schülerinnen der Abschlussklasse. Gut gehe es ihnen, lachen sie. Sie freuen sich auf das Fest. Probleme? Ja, natürlich. Kein Geld für das Studium, Unsicherheit, ob sie die Arbeit finden, die sie sich wünschen. Psychologie wollen sie studieren. Aber irgendwie werden sie es schon schaffen. Die Menschen brauchen Hilfe finden sie.
… rasbiratsja schisn.“ Musik

Erzähler:
Was sie über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen denken?

O-Ton 2: Mädchen, Forts.                                0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, „Ismenilas…
„Haben sich geändert!“, sagt das Mädchen. “Sind schlechter geworden, Drogen, Alkohol, viele junge Leute sind daran schon gestorben.“ Das sage sie aus eigener Erfahrung, betont sie und als Beobachterin. Zum Umgang von Männern und Frauen miteinander meint sie: „Nun, die Beziehung zwischen Männern und Frauen hat immer von der Frau selbst abgehangen. Wie die Frau sich verhält, so ist die Beziehung des Mannes zu ihr. Darauf hat die Zeit keinen Einfluss, scheint mir.“
…mnje kaschetsja.“, Musik

Erzähler:
Die Freundinnen stimmen zu. Ein fragloses Selbstbewusstsein geht von den drei jungen Frauen aus. Männer sind so, wie sie es zulassen! Das ist der Geist, in dem sie aufgewachsen sind.
Dass dies kein Einzelfall ist, macht ein anderes junges Mädchen klar, das in der Kohle- und Krisenstadt Andschero-Sudschinsk zusammen mit ihrer Mutter den Vater zur Anti-Alkohol-Therapie begleitet. Auf die Frage, ob sie Probleme mit Jungen habe, antwortet sie, obwohl selbst eher unscheinbar und schüchtern, doch unmissverständlich:

O-Ton 3: Junges Mädchen in Andschero-Sudschinsk                 0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nje snaju, mnje…
„Ich weiß nicht. Für mich ist mit Jungs immer alles normal. Wir sind eigentlich immer gleichberechtigt. Aber es gibt natürlich so Jungs, die Mädchen nicht achten, weil sie sich selbst nicht achten, nicht wissen, wie man sich als echter Junge verhalten muss. Und es gibt Mädchen, welche die Jungs nicht achten. Ein Junge sollte ein Junge sein, er soll stark sein, sich nicht schwach zeigen. Mädchen müssen sich ihres Wertes bewusst sein, Stolz zeigen, sich nicht herumtreiben mit Jungs, sich ein bisschen höher stellen als sie.“
…sebja vesti.“

Erzähler:
Die Tür sollen die Jungs aufhalten, ihr in die Jacke helfen und sie einladen. Gleichberechtigt wollen die jungen Mädchen sein, zugleich aber als besonders wertvoll geachtet und sogar „höhergestellt“. Das ist durchgängige Haltung in kleinen und mittleren Städten der russischen Regionen und auf dem Lande, der in Russland etwas abfällig so genannten Provinz. In Moskau, in St. Petersburg und anderen größeren Städten stellen die jungen Frauen andere Ansprüche. Hören wir Marina, waschechte Moskauerin. Sie ist achtzehn, in der Ausbildung als Buchhalterin, wohnt noch bei ihren Eltern, ist nie im Süden oder im Osten Russlands gewesen. Gefragt, ob sie heiraten wolle, antwortet sie:

O-Ton 4: Marina, Moskau                                      0,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje chatschu…
„Nein, ich weiss nicht. Jetzt will ich nicht. Ich will erst einmal meine eigenen Ziele erreichen, kann sein danach.“
…moschit bit patom.“

Erzähler:
Einen Freund hat Marina selbstverständlich; es ist keineswegs platonische Liebe. Aber heiraten? Eine gute Ehefrau werden, wie das heute in den Regionen noch üblich ist? Nein, das entscheidet jeder Mensch für sich selbst, findet sie. Zu die Ansichten ihrer Altersgenossinnen in der Region meint sie:

O-To 5: Marina, Forts.             0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu snaetje, tam..
„Wissen Sie, dort herrschen bis heute sehr starke und alte Traditionen, wie es von Jahrhundert zu Jahrhundert bei diesen Völkern war: dass die Frau in einem bestimmten Alter unbedingt heiraten muss. Sie muss arbeiten, sie soll den Mann versorgen. Ich bin dagegen, ich unterstütze diese Ansicht nicht. Ich denke nicht, dass das so sein muss. Wenn ich irgendwann Familie haben sollte, und das sollte sein, dann wird es aber nicht so sein, dass ich alles für meinen Mann mache und er nichts tut.  Im Prinzip habe ich alles gelernt, ich kann das Haus machen, ich kann kochen, ich kann das alles, aber ich denke nicht, dass das reine weibliche Aufgaben sind. Schließlich hat der Mann auch Hände. Er kann auch etwas tun.“
…eta djelatj.“

Erzähler:
Alle ihre Freundinnen, erklärt Marina, dächten so wie sie. Es sei eine Frage der Generation. Nicht selten habe sie deswegen auch Differenzen mit ihrer Mutter:

O-Ton 6: Marina Forts.                   0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja nemnoga padrugomom…
„Ich betrachte das Leben ein bisschen anders, ein wenig einfacher in jeder Beziehung. Meine Mutter sieht das Leben auch so, dass die Frau alles machen muss und der Mann nichts – nun, vielleicht nicht ganz so, aber fast so. Mir geht so eine Ansicht ab. Ich sehe das anders. Unterschiedlich sehen wir auch den Umgang von Männern und Frauen miteinander, dass eine Frau erst dann mit einem Mann leben darf, wenn sie verheiratet sind. Ich sehe das nicht so. Und so gibt es viele unterschiedliche Sichtweisen in solchen Lebensdingen. Ich sehe es so, dass ich tue, was ich will. Es ist mein Leben und niemand hat das Recht mir irgendetwas zu verbieten. Ich bin  ja schließlich in dem Alter, dass ich selbst mit meinem Leben klarkomme.“
…raspreschatsja schisnju.“

Erzähler:
„Alle meine Freundinnen sehen das so“ schließt sie. Das Einzige, was Marina stört, ist ihre materielle Abhängigkeit von den Eltern, die besteht, weil sie noch keine eigene Arbeit gefunden hat. Sie bemühe sich aber, so Marina, dies noch während der Ausbildungszeit zu ändern. Nur wenige Monate nach diesem Gespräch hat Marina  tatsächlich eine eigene Arbeit gefunden, der sie neben ihrer Ausbildung im Institut für Wirtschaftswissenschaften nachgeht.
Ganz anders die Generation der Frauen, die bei Einsetzen der Perestroika bereits junge Frauen waren und nun bereits Mütter sind.  Sie fühlen sich zwischen Tradition und neue Zeit hin und her gerissen.
Katharina Selesnjowa etwa ist Telejournalsitin in Nowosibirsk. Gereizt weist sie die Frage nach einer „moralischen Wende“ zurück, die mit der Perestroika eingetreten sei:

O-Ton 7: Katharina Selesnjowa, Telejournalistin        0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wy imejete vidu…
„Sie meinen die amoralische Wende, den A-Moralismus. Die Menschen überprüfen ihre Wertvorstellungen, der patriarchale Aufbau der Familie, die Beziehung zwischen Männern und Frauen, gut und schlecht, die alten sowjetischen Muster, das ist alles nicht mehr aktuell. Aber neue Moral-Kodexe können erstens nicht zusammen mit den Nahrungsmitteln aus dem Westen werden, und auch hier lassen sie sich nicht allzu schnell herstellen.“
…slischkom bystra.“

Erzähler:
Es sind bittere Betrachtungen, die Frau Selesnjowa über die Veränderungen anstellt, die sie im Zuge der Perestroika erleben musste:

O-Ton 8: Frau Selesnjowa Forts.            1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, viditje li…
„Nun, sehen Sie, mir scheint, wie ich es nach meiner Familie beurteilen kann, dass es gewisse hergebrachten Strukturen gab, die sich vor allem auf die Frauen stützten. In den letzten siebzig Jahren trug die Frau die Verantwortung für ihre Kinder, für ihre Familie und sie glaubte, das sei das Wichtigste. Sie glaubte, dass man dafür alles opfern könne, das eigene Leben, das eigene materielle Versorgung, sogar sein Äußeres, buchstäblich alles, um nur die Kinder aufzubringen. Mir scheint, die höchste Vorstellung unseres Volkes in den letzten siebzig Jahren war, den Kindern Leben zu geben. Wenn wir auch leiden, so werden doch unsere Kinder besser leben! So dachte unsere Gesellschaft. Nun sind wir aber in einer Periode angekommen, in der klar wird, dass das nicht aktuell ist, dass die Kinder nicht besser leben werden. Auf jeden Fall wird durch unser Opfer nichts besser. Und ich habe deswegen zu nichts weniger Lust, als mich zum Opfer dieser jetzigen Gesellschaft zu machen.“
…schertwa saboi.“

Erzähler:
Sie sei ein `Paraschenits´, ein Nichtsnutz, ein Aussteiger, fasst Frau Selesnjowa die Konsequenzen zusammen, die sie für sich selbst aus der Entwicklung zieht. Sie sei nicht mehr bereit, mich für den Staat zu opfern.  Die Desillusionierung Frau Selesnjowas trägt epochale Züge. Frauen waren immer die Lastesel der Gesellschaft, zürnt sie, sie brauchen ein neues Bewusstsein. Frau Selesnjowas eigene Vision, was aus der Krise der patriarchalen Pyramide folgen solle, verhakt sich jedoch im Niemandsraum zwischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen und  Befangenheit in der  traditionellen Rolle weiblicher Opferbereitschaft:

O-Ton 9: Frau Selesnjowa, Forts.                    1,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Da paschalu…
“Bitte, heut steht ja praktisch die ganze Welt unter männlicher Herrschaft. Aber wissen Sie, was ich denke? Im Grunde würde ich nicht wollen, dass wir zu einer Welt der Frauenherrschaft übergingen. Ich denke oft daran dass es ein Matriarchat gegeben hat, hin und wieder stelle ich mir vor, dass ich die Männer beherrschen könnte wie seinerzeit Medäa. Im Grunde können Frauen die Männer sehr wohl beherrschen. Ich denke sogar, wenn zwei Armeen miteinander kämpfen würden, eine männliche und eine weibliche, dann würde selbstverständlich die weibliche siegen, weil die Frauen nicht saufen würden, weil sie gute Disziplin hätten. Für mich ist es keine Frage, welches Geschlecht stärker ist: Letztlich sind diejenigen stärker, die überleben; es überleben aber die Frauen. Das ist vermutlich so, weil wir psychologisch stärker sind. Deshalb hat Gott wohl der Frau das Kinderkriegen auferlegt, damit sie ihre Kraft noch an das Kind weitergibt, wahrscheinlich so. Aber sollen die Männer doch die Machtspielchen spielen, die noch übriggeblieben sind, nur muss das alles irgendwie geregelt werden, damit es mehr oder weniger zivilisiert abläuft. Mag meinetwegen der Planet der Männer bleiben, wenn nur ein gemütlicher Ort für die Frauen gibt.“
…glja dschjenschina.“

Erzähler:
Ganz anders Tanja. Auch sie gehört zur Generation der Frauen, welche Perestroika als junges Mädchen erlebten. Tanja lebt als Krankengymnastin in Borodino, einem der Kohlestädte Sibiriens. Sie ist unverheiratet; seit kurzem ist sie auch alleinerziehende Mutter eines Töchterchens.
Frauen wie Tanja sind gegenwärtig selten in Russland:

O-Ton 10: Tanja             0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Menja nasiwajet…
„Man nennt mich eine Heldin. Heute leisten sich sogar vollständige Familien keine Kinder. Aber eine alleinstehende Frau, das ist unglaublich, außergewöhnlich, das wird belächelt.“
…smeliwajetsja na eta.“

Erzähler:
Kinder sind heute in Russland eine Belastung. Die Sterberate übersteigt daher die der Geburten. Exakte Zahlen dazu gibt es nicht; zu groß sind Flucht- und Wanderungsbewegungen, die seit der Auflösung der Sowjetunion das Land überfluten. Schon lange aber macht das böse Wort vom „aussterbenden Volk“ die Runde. Besonders die patriotische Presse geht gern mit diesem Slogan hausieren. Tanja hat Geld für die Geburtshilfe in der Klinik bekommen, darüber hinaus bezieht sie ein minimales Kindergeld, das drei Jahre lang gezahlt wird; so lange wird ihr auch der Arbeitsplatz freigehalten. „Das klingt gut“, lacht Tanja, „aber von diesen Geldern kann ich nicht einmal die Windeln bezahlen. Ich muss also irgendwie arbeiten.“ Dass sie es dennoch schafft, hat sie allein ihren Eltern zu verdanken, die ihre Tochter mit Geld unterstützen und das Kind übernehmen, während sie außer Haus ist.
Aber die finanzielle Seite ist nur ein Grund dafür, dass Tanja arbeitet. Im Bus unterwegs zu einer ihrer ambulanten Einsätze erklärt sie den anderen:

O-Ton 11: Tanja, Forts.             0,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Schtobi nje…
„Um nicht zu versauern, nicht immer nur: Kochtopf denken zu müssen.
…kastrjule.“ Lachen

Erzähler:
Das sei wichtig für den Kopf, für das Herz und für das Kind, lacht sie. Sie möchte auf keinen Fall immer am Kochtopf stehen. Generell aber sieht sie es anders, generell hält Tanja es für eine gute Sache, dass Frauen sich heute wieder mehr um ihre Kinder und um ihre Familie kümmern können:

O-Ton 12: Tanja, Forts.            0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschitaju eta…
„Ich denke, das ist gut. Für die Frauen, die das wollen, ist es richtig; sie sollten das bekommen. Ich denke, das wäre nützlich. Es würde mehr nach den Kindern gesehen; es gäbe weniger verwahrloste Kinder. Ich beobachte oft Kinder in unserem Hof, die noch nach um zwölf vor den Türen sitzen. Sie spielen da im Dreck, niemand kümmert sich um sie, sogar sehr kleine. Mama muss kochen, waschen usw., dann morgen früh zur Arbeit.; sie hat einfach keine Zeit, selbst wenn sie möchte. Wenn diese Mama in die Küche will, dann ist das einfach phantastisch, denke ich.“
…sameltschatelno.“

Erzähler:
Alleinerziehende Mutter zu sein, die arbeitet und gleichzeitig für eine heile Familie zu plädieren, mit dieser widersprüchlichen Haltung, steht Tanja ihrer scheinbaren Selbstständigkeit zum Trotz in derselben Zerrissenheit wie ihre verheiratete Altersgenossin aus Nowosibirsk, die es ablehnt, sich als Mutter zu opfern, die aber im selben Atemzug allein den Frauen die Fähigkeit zuspricht, das Überleben der Kinder zu sichern.
Frei von solchen Zweifeln, erst recht von dem aufrührerischen Geist solcher junger Frauen wie der Moskauerin Marina sind jene Frauen, die als Großmütter, Babuschka, hinter dieser mittleren Generation junger Mütter stehen. Sie sind es oft, welche die Familien zusammenhalten. Sie kümmern sich um die Kinder, wenn die Eltern arbeiten. Wohl der jungen Mutter, ob verheiratet oder nicht, die eine solche Großmutter hat. Darüber gibt es in Russland keine zwei Meinungen.
Eine solche Babuschka ist Rosa Schewlewi, pensionierte Lehrerin, Schriftstellerin, Schriftführerin im tschuwaschischen Kulturzentrum, einer Organisation für ethnische Gleichberechtigung, in Tscheboksary an der Wolga. Gebeten sich selbst vorzustellen, beginnt sie:

O-Ton 13. Rosa Schewlewi                              1,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja Rosa…
„Ich bin Rosa. Als Erstes bin ich wohl, wie jede Frau, Mutter. Ich glaube, dass die Natur die Frau zuallererst dafür bestimmt hat, dass sie Mutter ist. Ich jedenfalls verstehe das so. Ich bin Mutter dreier Kinder, zweier Töchter und eines Sohnes, jetzt bin ich Babuschka für vier Enkel. Ich hoffe, dass es noch mehr werden. Das ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Das macht mir sehr große Freude. Weiter: Sehr wichtig ist es, dass der Mensch einen Beruf hat, der er liebt. Darüber hinaus, dass ich Frau, dass ich Mutter, dass ich Babuschka bin, will ich mein Wohlbefinden nicht nur aus dem Zusammensein mit der Familie ziehen, ich will auch in der Gesellschaft Mensch sein, vor allem durch meinen Beruf. Der Beruf, den ich gewählt habe, ist Lehrerin. Ich liebe ihn bis heute, obwohl ich inzwischen pensioniert bin. Jetzt beschäftige ich mich mehr mit Künstlerischem. Ich denke, dass Frauen von Natur aus sehr talentiert sind, aber das Elend ist, dass Männer mehr Möglichkeiten haben, sich mit Künstlerischem zu beschäftigen. Sie sind freier als Frauen. Dafür kann man die Männer wohl sogar beneiden.“
…nawerna muschini.“

Erzähler:
Hier schimmert auch bei Babuschka Schewlewi die Unzufriedenheit mit ihrer Rolle durch. Dass sie jetzt endlich dazu kommt, sich ihrer Schriftstellerei zu widmen, gibt ihr große Genugtuung. Endlich! Das ganze Leben lang habe sie sich immer nur kümmern müssen, um den Mann, um die Kinder. Aber weil sie aus eigenem Erleben wisse, wie schwer es für die jungen Mütter sei, helfe sie ihnen mit den Kindern.
Die generelle Rolle der Babuschka definiert sie so:

O-Ton 14: Rosa, Forts.             0,05
Regie: O-Ton ganz stehen lassen

Übersetzerin:
„Eta sami dobri tschelowjek na swetje“…lachen
„Das ist der allerbeste Mensch auf der Welt.“

Erzähler:
Babuschka ist wie der Fels in der Brandung der neuen Zeit. Babuschka verkörpert die Erinnerung an das, was früher war. Sie vermittelt die traditionellen Werte. Oft ist sie aber auch, fügt Rosa hinzu, der ärmste Mensch im heutigen Russland: .

O-Ton 15: Rosa, Forts.                                          0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Pensi miserni…
„Die Renten sind elend bei dem meisten; von diesen Renten können sie nicht leben. Darüber hinaus versuchen die meisten Alten von diesen Pensionen auch noch ihren Kindern zu helfen, die arbeitslos sind. Und so kommt es, dass viele auch auf den Strassen stehen, um irgendetwas zu verkaufen. Einen anderen Ausweg sehen sie nicht.“
…nje widjat.”

Erzähler:
„Schauen Sie mich an“, sagt Rosa, „ich bin eine arbeitende Babuschka“ und doch habe ich nicht das Geld, meinen Enkeln mal etwas zu schenken. Das einzige, was ich geben kann, ist meine Liebe.
So ist auch die Rolle der Babuschka nicht widerspruchsfrei. Einerseits brauchen die jungen Frauen mehr denn je die Unterstützung der Großmütter, andererseits brauchen viele der Großmütter selbst dringend Hilfe. Letztlich bedeutet dies alles, was Marina, Tanja und Rosa repräsentieren, dass Russlands Frauen durch die Krise der patriarchalen Ordnung in die komplizierte Situation gekommen sind, einerseits mehr Freiheiten zu haben, andererseits weniger materielle Möglichkeiten, diese Freiheiten zu nutzen. Für die einzelne Frau ist es  eine Frage der persönlichen Entscheidung, welcher Seite sie mehr Bedeutung beimisst; aufs Ganze gesehen ist die Entwicklung offen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

China – Russland: Stille Invasion oder strategische Partnerschaf

Vortext:

China neues Mitglied der Welthandelsorganisation, der russische Präsident Wladimir Putin in China, Millionen Chinesen im kleinen Grenzverkehr von China nach Russland, in die Mongolei und nach und Kasachstan: Was geht zwischen China und seinen Nachbarn im Nordwesten vor sich? Eine Hintergrundskizze von Kai Ehlers.

O-Ton 1: Gemurmel, Musik                  1,46
Regie: Musik schnell kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Chinesische Klänge bei einem Kongress der Mongolisten in Ulaanbaator, der Hauptstadt der Mongolei. Seit 1962 finden solche Kongresse im Rhythmus von fünf Jahren statt. Seit dem sechsten dieser Kongresse im Jahre 1992 trifft sich dabei nicht mehr nur die sowjetische Welt, sondern ein internationales Forum von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, denen diese spezielle Region im Schnittpunkt zwischen Asien, Europa und dem Orient besonders am Herzen liegt. Manche Länder, vor allem China und Russland, reisen mit ganzen Delegationen an. Dass dies kein Zufall ist, zeigt der Ablauf des letzten Kongresses im Jahr 1997, in dessen Verlauf sich Russen ebenso wie Chinesen nicht nur wiederholt zu geschlossenen Beratungen abseits setzten. Er war auch thematisch von der russisch-chinesischen Polarität, von Fragen der Neuaufteilung der Einfluss-Sphären in Asien nach dem Ende der Sowjetunion durchzogen, nahezu überschattet.
In der Sektion „Mongolei heute“ hielt Frau Doktor Okujanski, Mitglied der russischen Delegation aus Moskau, einen Vortrag über die schwierige Lage, in welche die Mongolei nach dem Ende der Sowjetunion zwischen China und Russland gekommen ist:

O-Ton 2: Frau Dr. B. Okujanski                                  0,48
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„We itogi…
„Im Ergebnis sieht sich die Mongolei vor die Notwendigkeit gestellt, neue äußere Faktoren zu schaffen, um aus der ökonomischen Krise herauszukommen: Herausgetreten aus dem Schutz des sowjetischen Schirms, muss sie einerseits die Beziehungen zum neuen Russland halten, andererseits neue Beziehungen zu China herstellen und dabei noch ihre Unabhängigkeit wahren. Diese Kooperation mit beiden, Russland und China, ist die einzige Chance, sich dem Westen nicht unterwerfen zu müssen und zugleich der einzige Weg für die Integration der Mongolei und anderer nord-ost-asiatischer Länder, die zur Zeit, wenn auch nur langsam – beginnt.“
…natschinajut skljadewitsja.“

Erzähler:
Russland sei leider nur mangelhaft in der Lage, diese Integration zu unterstützen, klagt Frau Dr. Okujanski. Die Ursachen dafür sieht sie im Niedergang ihres Landes, auch in den, wie sie sagt, immer noch nicht entfalteten Potentialen der russischen Reform, mehr aber noch in der wirtschaftlichen Expansion Chinas, das Russland in letzten Jahren überflügelt habe:

O-Ton 3: B. Okujanski, Forts.                     0,29
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„W´zelom wsjerossiski export…
„Der russische Export macht zur Zeit ungefähr ein Fünftel des mongolischen Imports aus; der chinesische Export in die Mongolei aber wächst. Bei den ausländischen Investitionen halten Russland und China zusammen sechzig Prozent, aber China führt dabei im Umfang der Investitionen vor Russland.“
…investizii Rossije.“

Erzähler:
Chinas Expansion und Russlands Schwäche ist auch Thema in den Foyers des Kongresses. Ein ungebetener Gast, Reporter von „Radio Liberty“ aus der inneren Mongolei, also dem heute zum chinesischen Staatsgebiet gehörenden Teil des von Mongolen bewohnten Landes, agitiert gegen Pekings Politik in der dortigen Region:

O-Ton 4: Awton Bator, Innere Mongolei                        1,04
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Menja sawut…
Er heiße Awton Bator, stellt er sich vor.  Er komme soeben aus New York,  wo eine „Volkspartei Innere Mongolei“ gegründet worden sei – in New York deshalb, weil das in der Inneren Mongolei nicht möglich sei. Die Partei werde den Kampf der Uiguren, einer den Mongolen verwandten Volksgruppe, gegen von Peking ihnen gegenüber betriebene zwangsweise Chinesisierung unterstützen. Erst kurz vor dem Kongress sei es wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf sogar nach offizieller chinesischer Darstellung hunderte Menschen getötet wurden. Man habe auch Kontakt zum Dalai Lama aufgenommen; Tibetaner, Uiguren und andere arbeiteten zusammen; schon bald werde es eine einheitliche Front geben.“
…jedini front.“

Erzähler:
Von einer Front will auf dem Kongress allerdings niemand etwas hören. Teilnehmer der chinesischen Delegation konzentrieren sich auf die Bedeutung Tschingis Chans für China, sie sind sogar bereit, darüber zu reden, dass große Teile der Bevölkerung  des chinesischen Westens Nomaden seien.

O-Ton 5: Prof. Sin Chian                                    0,29
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tja lisi sang…
Fragen nach der Politik Pekings jedoch lassen sie unbeantwortet. Europäische Kollegen, die für sie übersetzen, erklären „solche Fragen“ für unerwünscht. Leute, die Fragen dieser Art stellten, gehörten nicht auf einen wissenschaftlichen Kongress, befinden sie. Man habe das bereits kritisiert:
…critizized them.“

Erzähler:
Damit ist die „chinesische Frage“ für den Kongress vom Tisch. Außerhalb des Kongresses lässt sich die politische Wirklichkeit nicht so einfach verdrängen: Man freut sich über die neue Unabhängigkeit der 1991 ausgerufenen Mongolischen Volksrepublik, aber man ist beunruhigt über die Schwäche Russlands, in deren Folge die Expansion Chinas ungebremst auf die Mongolei drückt. Alarmiert zeigt sich Bayaert Saikhan, Abgeordneter der mongolischen Volkspartei. Er ist leitendes Mitglied einer Kommission zur Kontrolle der auch in der Mongolei seit 1991 durchgeführten Privatisierung:

O-Ton 6: Bayaert Saikhan, Abgeordneter der mong. Volkspartei           0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U  nas otschen…
„Wir haben sehr viele Informationen über die Privatisierung: Da kommt zum Beispiel ein Mongole und kauft, aber hinter ihm stehen in der Regel Leute unserer chinesischen Nachbarn. Das ist ein sehr großes Problem. Äußerlich sieht so aus, als ob es ein Mongole  ist, der sich an der Privatisierung beteiligt, der kauft, der Eigentümer eines Ladens oder einer Gastwirtschaft wird; in Wirklichkeit werden Häuser, Läden, Fabriken jedoch das Eigentum ganz anderer Leute. Das ist bereits eine Frage der wirtschaftlichen Sicherheit. Dieses Problem beunruhigt mich sehr.“
…otschen bespakajet.“

Erzähler:
Tausende von Chinesen ziehe es Jahr für Jahr ins Land, berichtet der Abgeordnete. Angst habe er nicht, schränkt er ein, alles laufe ja ganz ruhig ab, aber der mongolische Staat müsse sich gegen solche Vorgänge schützen, sonst werde er bald von den Chinesen übernommen:

O-Ton 7: Bayaert Saikhan, Forts.                        0,26
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Gossudarstwa dolschen…
„Ein Staat muss selbstständig existieren können. Wenn der Einfluss von außerhalb so bedrohlich anwächst, wie jetzt bei uns, dann ist das schon gefährlich. Das ist eine stille Invasion. So sind die Daten. Der Einfluss Chinas (stöhnt) ist da eben schon sehr fühlbar.“
…tschuwtswoitsja.“

Erzähler:
Die Mongolen stehen mit ihren Ängsten nicht allein. Auch in der sibirischen Stadt Irkutsk, dem nächsten Nachbarn der Mongolischen Volksrepublik, gleich nördlich des Gebirgszuges, der die mongolische Volksrepublik von Russland trennt, rückt die „chinesische Frage“, wie man es auch hier nennt, mehr und mehr in den Vordergrund. Hier bestimmt sie bereits stark das Alltagsgeschehen.
Früher war es die Mongolei, über die man sprach, meint Sergej Ischatarow, ein PKW-Fahrer, der seine Freizeit als Hobby-Politiker verbringt. Positiv oder nicht, das war der Alltag:

O-Ton 8: Sergej Ischatarow, Fahrer                           0,25
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, Mongolie…
„Jetzt spielt die Mongolei in unseren Zeitungen, im Fernsehen kaum noch eine Rolle. Dafür China! China triffst Du auf Schritt und Tritt. Überall in Irkutsk findest Du China. Klar, denn es gibt hier Massen von chinesischen Waren, Massen von chinesischen Händlern.“
…Tschelniki…“

Erzähler:
„Tschelniki“, Weberschiffchen, nenne man sie, Kleinhändler, die Waren niedriger Qualität zu billigen Preisen über die Grenzen schafften. Zu Tausenden seien sie in den letzten Jahren gekommen. Daraus ergebe sich eine vollkommnen neue Situation:

O-Ton 9: Sergej Ischatarow, Forts.                               1,31
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Ah, Kitaizi odin narod…
“Die Chinesen sind so ein Volk: Sie verstehen zu arbeiten, packen ihre Dinge an, was sie anfassen, das machen sie richtig. Bei uns hat man daher, ich meine nicht nur die Intellektuellen, sondern auch die arbeitende Bevölkerung insgesamt, eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber. Wenn etwas schief geht, eine Grippeepidemie oder der Markt bricht zusammen, egal was – immer sind es die Chinesen gewesen.  Nun es ist auch tatsächlich so. Hier gibt es am Baikal so ein Landwirtschaftsinstitut, in seiner Nähe ein paar Dörfer, wo Bauern wohnen. Da gab es so etwas wie eine Kolchose. Während der Perestroika fiel alles auseinander. Da hat man diesen Boden den Chinesen in Pacht gegeben. Als es hier nichts mehr gab, keine Gurken, kein Gemüse, nichts, da haben die schnell ein paar Gewächshäuser gebaut und noch im Winter das Gemüse gebracht. Danach haben sie sich Land angeeignet. Wie ging das vor sich? Sie schlossen fiktive Ehen, schon waren sie Bürger Russlands, konnten das Land privatisieren. Danach begannen sie dort zu siedeln, holten ihre Verwandten und schon gibt es da ein ganzes chinesisches Dorf.“
…passjolok abrasuitsja.“

Erzähler:
Es gebe keine scharfen Konflikte, fährt Sergej fort, aber im Unterbewusstsein der Menschen entwickele sich so etwas wie eine soziale Krankheit:

O-Ton 10: Sergej Ischatarow, Forts.                        0,42   Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden , unterlegen, bei „ras und klapp“ ( 0,37) hochziehen

Übersetzer:
„U nas w` irkutske…
„Wir haben im Irkutsker Verwaltungsbezirk mal gerade zwei Millionen Menschen. Das ist wenig. Das ist fast eine Leere. Und überhaupt leben ungefähr 80 Prozent der russischen Bevölkerung dort, jenseits des Urals, hier diesseits leben sehr wenige. Das ist ja ein riesiges Territorium vom Ural bis nach Kamtschatka am stillen Ozean – es ist praktisch leer, menschenleer. Aber gleich nebenan China! Wo es Milliarden gibt! Das ist den meisten noch nicht ganz klar, es steigt aber langsam in den Köpfen so eine Ahnung auf, dass da gleich nebenan ein Krokodil lauert, das kommen kann und, schnapp, sind wir verschluckt und in fünfzig Jahren ist das hier alles schon China. So ein Gefühl besteht.“
…wot suschustwujet.“

Erzähler:
Seit Einsetzen der Perestroika, also seit Mitte der 80er Jahre, ergänzt Sergei, kommen Chinesen auch als Saisonarbeiter für ein paar Monate über die Grenze. Sie arbeiten gut und für niedrigere Löhne als die russischen Arbeiter. Die verlieren ihre Arbeitsplätze. Dies alles, so Sergei, mache China zum Problem Nummer eins.
Nicht, dass er einen Krieg befürchte, schränkt er ein:

O-Ton 11: Sergej Ischatarow, Forts.                     0,55
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja dumaju…
„Man weiß ja heute, was ein Krieg bedeutet, nein, heut nimmt das den Charakter einer wirtschaftlichen Eroberung an. Diese Bedrohung besteht. So wie Russland früher nach Osten bis zum Pazifik gegangen ist, so wird China mächtiger und mächtiger und geht jetzt nach Westen. Aber es kommt natürlich nicht mit Panzern, nicht mit Kanonen, es kommt mit Handel, wirtschaftlich; es wird auch gemischte Betriebe geben, russich-chinesisch usw. Die Chinesen werden auf diese Weise eine große Rolle in der russischen Wirtschaft spielen und so werden sie es friedlich erobern. Das ist zu befürchten. Das fürchte auch ich.“
…Ja tosche bajus.“

Erzähler:
Das dritte Jahrtausend, so Sergeis Erwartungen, werde ein asiatisches sein:

O-Ton 12: Sergej Ischatarow, Forts.                      0,53
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Da polni…
„Historisch hat es sich so entwickelt, dass bisher die Weißen im Westen die erste Rolle in der Welt gespielt haben, aber nun beginnen die Asiaten sich auf den ersten Platz zu bewegen. Sie lagen lange Zeit zurück, jetzt holen sie auf, jetzt überholen sie und es wird nicht leicht sein, mit ihnen zu konkurrieren. Sie haben eine starke Disziplin, sie haben die Achtung vor den Ältesten, sie haben die Fähigkeit zu arbeiten. Das spielt alles eine große Rolle.  Unsere Werte dagegen sind stark zerstört. Natürlich lieben wir unser Vaterland, unsere Familie, unsere Kinder. Aber in Sachen moralischer Werte, die einen halten, ist es bei uns zur Zeit sehr schlecht.“
…otschen plocha, malawata…“

Erzähler:
An der historischen Fakultät der Universität von Irkutsk hat das Phänomen der „Tschelniki“, der chinesischen Grenzhändler und Wanderarbeiter, zur Gründung eines eigenen Lehrstuhls geführt. „Entstehung und Struktur der Diaspora ethnischer Handelsminderheiten“ nennt Viktor Djadlew, Professor für neuere Geschichte, das Spezialgebiet, in dem er forscht und lehrt.
Die Beziehungen zwischen den Völkern Innerasiens unterliegen einem tiefgreifenden Wandel, erklärt er:

O-Ton 13: Prof. Djadlew                                0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Was uns betrifft, hier im Osten, entwickelt sich eine neue chinesische Diaspora. Es gab eine vor der Revolution, die aber aus unterschiedlichen Gründen verschwand. Die neue Entwicklung beginnt 1980/1982, Perestroika: Die Grenzen zu China wurden geöffnet, katastrophale Wirtschaftslage in unserem Land, absolut leerer Markt, keine Gebrauchswaren, Inflation. In der Situation strömten die Tschelniki herbei, die in ihren Koffern Kleidung, alle möglichen Waren brachten. Das rettete uns damals, denke ich.“
…spassli, ja dumaju.“

Erzähler:
Damals begegnete man ihnen ziemlich freundlich und neugierig, erzählt Professor Djadlew. Es gab praktisch keine Beziehung mit China. Man sah sich von China bedroht. In den sechziger Jahren sah man sich am Rande eines Krieges. Man hatte Angst vor dem chinesischen Staat. Gegenüber dem einzelnen Chinesen aber waren die Beziehungen nicht feindlich. Man schätzte sie als bescheiden, arbeitsam, unaufdringlich.  Deshalb kam man ihnen damals ganz offen entgegen.

O-Ton 14: Prof. Djadlew, Forts.                         1,03
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Potom stala otnaschennije…
„Dann änderte sich die Beziehung. Jetzt ist das Verhältnis zu den Chinesen schwierig. Auf der einen Seite ist ihr Handel von Nutzen,  das gilt auch heut noch: Der Verbrauchermarkt ist gesättigt, es gibt, für unser Verständnis, viele Waren, der Markt hat sich differenziert; es gibt reiche Schichten, gibt Arme in verschiedenen Abstufungen. Die Chinesen beliefern jedoch nach wie vor den Markt der Armen mit Billigprodukten und Arme, die sich westliche Produkte nicht leisten können, für die es aber auch immer noch keine billigen russischen gibt, sind bei uns nach wie vor die Mehrheit. Deshalb spielen die Tschelniki eine große soziale Rolle. Gäbe es sie nicht, wäre das eine soziale Katastrophe und würde zu sozialen Spannungen führen.“
…sozialni naproschonnost.“

Erzähler:
„Sie werden gebraucht, betont der Professor. Andererseits, fährt er fort, liebe man die Chinesen nicht, weil sie Fremde seien.
In einer Region, in der Russen mit vielen anderen Völkern zusammenleben, bedarf eine solche Feststellung natürlich einer Erklärung; de Erklärung, die der Professor gibt, lässt die „chinesische Frage“ in grellem Lichte erscheinen:

O-Ton 15: Prof. Djadlew, Forts.                            0,55
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Esli skaschem, nu…
„Nun, wie soll ich sagen? Mit den Burjaten leben wir hunderte von Jahren zusammen. Wir sind verschieden – nach nationalem Charakter, nach der Art zu leben usw. Aber wir leben schon lange mit ihnen. Wir kennen einander, verstehen einander; Konflikte gibt es, aber die kann man verstehen, das ist die eigene Welt trotz allem. Die zugereisten Chinesen sind eine andere Welt. Darüber hinaus sind sie in sich abgeschlossen. Sie öffnen sich nicht kulturell. Oder nehmen wir die Kaukasier, auch Händler: Sie sind hier in der russischen Provinz sehr unbeliebt, sie werden beneidet, manchmal sogar gehasst. Aber man kennt sie; es ist die eigene Welt. Die Chinesen kommen einfach aus einer fremden Welt wie Marsmenschen.“
…kak Marsian.“

Erzähler:
Aber auch der Professor hegt keine feindlichen Gefühle gegenüber den Chinesen. Er sieht seine Aufgabe darin, die Entstehung der chinesischen Diaspora in Sibirien wissenschaftlich zu beobachten, um daraus Perspektiven zu gewinnen, wie der Prozess der Chinesisierung Sibiriens, den er für unaufhaltsam hält, so konfliktfrei wie möglich und zum Nutzen aller ablaufen kann. Neutral, eher schon kritisch gegenüber seinem eigenen Land, stellt er daher ruhig fest:

O-Ton 16: Prof. Djadlew, Forts.                          0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Glja utschonnich…
„Für russische Wissenschaftler ist das alles ein Geschenk: Wir können die Entwicklung der Diaspora von Null an beobachten. So etwas gibt es in der ganzen Welt nicht. Als wissenschaftliches Problem ist das einzigartig: eine Sache im Prozess ihrer Entstehung zu untersuchen! Das ist natürlich interessant, wichtig und alles – eine andere Sache ist, dass wir es schlecht untersuchen.“
…plocha isutschajem.“

Erzähler:
Kein Geld, stöhnt er, kein Material, schlechte Archive, keine Unterstützung aus Moskau:

O-Ton 17: Prof. Djadlew, Forts.                        0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ponimajetje polutschajetsja tak…
„Es ist ja so: Für Moskau sind einige hunderttausend Chinesen in Sibirien und im fernen Osten ein geringeres Problem als die Möglichkeit zwei, drei Dutzend moderne Torpedoboote zu verkaufen. Das heißt, es gibt eine Hierarchie der Ziele. Die `strategische Partnerschaft´ mit China im 21. Jahrhundert ist um vieles wichtiger als die Rettung  der fernöstlichen Menschen vor dem Eindringen der Chinesen – und das ist richtig. Das ist die Position Moskaus, sie ist logisch, sie ist erklärlich. Aber die Position der Menschen im fernen Osten  hat auch ihre Logik, die ist auch richtig.“
…tosche prawilna.“

Erzähler:
Abwehr der stillen Invasion im Osten zum einen, eine „strategische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert“ mit Peking zum anderen – die Moskauer Politik befindet sich ganz offensichtlich in einem Dilemma. Das wird aber nicht nur im Osten so gesehen. Auch in Moskau wird die Problematik erkannt. Professor Maslow, Chinaspezialist an der „Moskauer Universität für Völkerfreundschaft“, der auch als Berater für die Regierung tätig ist, skizziert den aktuellen Stand der russisch-chinesischen Beziehungen so:

O-Ton 18: Prof. Maslow, Moskau                        1,34
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja skaschu tak…
„Sie werden schwieriger. Man kann nicht sagen, ob sie gut oder schlecht sind. Man kann nur sagen, sie sind äußerst, äußerst schwierig. Es gibt ein offizielles und ein nicht offizielles Gesicht. Das offizielle Gesicht sieht zur Zeit so aus, dass sich die Beziehungen zwischen China und Russland in einem gewissen Stillstand befinden: Im Moment beträgt der Handel zwischen China und Russland sechs Milliarden Dollar. Das kommt vor allem durch Waffenlieferungen Russlands an China zustande. Zum Vergleich: Der Handelsumfang zwischen China und den USA beträgt mehr als neunzig Milliarden Dollar, der zwischen Japan und China mehr als fünf Milliarden Dollar. Das heißt, Russland, das doch die längste Grenze mit China hat, hat nur einen  kleinen Anteil an diesen Umsätzen. Als Jelzin nach China ging, wurde mit Jiantsemin, dem Präsidenten der chinesischen Volksrepublik ein Handelsvolumen bis grade einmal 20 Milliarden projektiert, selbst das nur auf lange Sicht. Russland findet einfach keinen Platz auf dem chinesischen Markt. Bei seinem kürzlich erfolgten Besuch, versuchte Putin in China diesen Stillstand in Bewegung zu bringen. Aber bisher sind keine Ergebnisse zu erkennen.
…nje jasni.“

Erzähler:
Man wisse also nicht, ob sich die offiziellen Beziehungen zwischen Russland und China zum Guten oder zum Schwierigen wenden werden, so der Professor. Dies, fährt er fort, sei aber ohnehin nur die äußere Seite der Ereignisse:

O-Ton 19:  Prof. Maslow, Forts.                          1,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nutrije strana…
„Die innere Seite der Ereignisse ist, dass China sich zur Zeit scharf nach Westen wendet. Wenn die alte Generation der chinesischen Kommunisten abtritt, wird sich dieser Kurs noch verschärfen. Ich erwarte Ereignisse, ähnlich den Vorgängen in Russland 1991: Öffnung der Grenzen, scharfer Anstieg der Kriminalität, Anwachsen der Korruption. Es ist wie ein Drache, der sich wendet und dessen Schwanz dabei sehr viele Länder streifen kann. Vor allem wird sich das alles auf das Territorium Russlands auswirken; Russlands Grenzen sind schlecht geschützt, praktisch offen. Aus diesen Gründen ist es mit der `strategischen Partnerschaft´ äußerst schwierig. Sie wird rundum als antiamerikanische Partnerschaft verstanden. Aber hier hat der Balken, wie man bei uns sagt, zwei Seiten: Erstens ist China gewohnt, immer die erste Geige zu spielen; sie werden nie gemeinsam auf gleicher Ebene mit jemandem spielen. Wenn es ihnen nützt, dann werden sie mit Russland gehen, wenn es ihnen nicht nützt, werden sie Freundschaft mit Amerika halten. Chinesisches Denken ist pragmatisches Denken. Das Verständnis von ehrlich oder unehrlich, Vertrag unterschrieben oder nicht unterschrieben gibt es da nicht. Das chinesische Verständnis heißt: Nützlich oder nicht nützlich. Das ist das Erste, was man begreifen muss: Wenn nötig, wird China immer seine eigene Rolle spielen.“
…igratj swoi rol.“

Erzähler:
Das Zweite, was man beachten müsse, fährt der Professor noch im selben Atemzug fort:

O-Ton 20: Prof. Maslow, Forts.                         1,15
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Priblischajus Kitaju…
„Wenn wir uns China auf der antiamerikanischen Welle nähern, entfernen wir uns zugleich vom Westen und nähern uns dem Osten. Das ist für Russland vielleicht auch nicht immer richtig. Russland hat ja gerade eben begonnen aus der imperialen Logik heraus- in eine andere einzutreten. Es gibt ja zwei Logiken, wenn man es allgemein fassen will, die imperiale, das alte Russland, China, einige Länder Afrikas. Und es gibt die Logik der wirtschaftlichen Entwicklung wie die Europas. China und Russland folgen zur Zeit einer anderen als der europäischen Entwicklungslogik. Warum hat sich Russland plötzlich so stark China zugewandt, sogar Nord-Korea und nicht etwa Frankreich oder Deutschland? Weil es psychologisch näher an China liegt. Offiziell werden wirtschaftliche Interessen, Handelsaustausch, Kulturaustausch usw. für die Beziehungen deklariert, dahinter steht aber noch etwas anderes, die gemeinsame imperiale Denkweise.“
…raswitje mischlennije.“

Erzähler:
Trotz der imperialen Denkweise Chinas ist die chinesische Expansion aus der Sicht des Professors aber keine einfache Aggression, der man mit gleichen Mitteln entgegentreten könnte, die man vielleicht – und sei es mit Gewalt – sogar aufhalten könne. Es ist alles viel schwieriger, betont der Professor: Die Expansion Chinas ist für ihn ein objektiver Prozess, der nicht aufzuhalten sei:

O-Ton 20: Prof. Maslow, Forts.                         0,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Predstawftje. tscho jest…
„Stellen Sie sich eine Biomasse vor, einen biologischen Prozess. Die Masse vermehrt sich. In einer Biomasse gibt es kein gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch. Ihre Logik ist die des Überlebens, sie muss alles tun, um zu überleben. So entwickelt sich China. Deshalb sind Absprachen nicht möglich, kann man nichts kontrollieren.
…nelsja kontrollirowatj.“

Erzähler:
Nach unterschiedlichen Berechnungen, so der Professor nüchtern, halten sich auf dem Territorium Russlands zur Zeit sechs bis sieben Millionen Chinesen auf. Für China seien das wenig, für Russland werde daraus die größte nationale Minderheit, größer als die der Tataren mit fünf Millionen. Nicht nur in Irkutsk, nicht nur in der Mongolei, so der Professor,  im gesamten fernen Osten von Kasachstan bis nach Wladiwostok nehme diese Minderheit starken Einfluss auf die Wirtschaft. Wie in Irkutsk springen sie da ein, wo die russischen Kapazitäten nicht ausreichen: Sie sanieren ökologisch gefährliche Kohlegruben, um sie nachher zu bewirtschaften, sie bieten Investitionen an, wenn sie dafür Einsicht in die regionalen Planungsdaten erhalten; sie sind die besten Steuerzahler der Regionen:

O-Ton: Prof. Maslow, Forts.                                             1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wsjo eta na konjetschnam….
„Das alles bedeutet schließlich, dass die Chinesen Einfluss nehmen auf die örtlichen Machtorgane. Sie haben sich angesiedelt, das heißt, sie nehmen Einfluss auf die örtlichen Wahlen, auf die Finanzströme, auf die Steuern, auf die Sozialpolitik usw. Dazu kommt, dass die Chinesen, wenn sie sich im Ausland ansiedeln, im Unterschied zu anderen Völkern, ihre Kultur mitbringen. Wenn ein Chinese nach Chabarowsk kommt, beginnt er dort mit chinesischen Waren zu handeln, wenn er nach, sagen wir, Brighton Beach kommt, handelt er dort ebenfalls mit chinesischen Waren. Das bedeutet, jeder Chinese, der ins Ausland geht, stimuliert seine eigene Wirtschaft. In diesem Sinne geht es jetzt in den russischen Grenzbereichen nicht nur darum dass dort Chinesen einwandern, sondern es verändert sich die dortigen Bedingungen der Zivilisation, es verändert sich der Typ der Zivilisation.“
…Typ zivilisatii.“

Erzähler:
Den anderen Typ der Zivilisation, den er erwartet, charakterisiert der Professor mit den Worten:

O-Ton: Prof. Maslow, Forts.                                1,25
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A ja imeu vidu…
„Ich will sagen, es gibt eine chinesische Zivilisation. Sie wirkt nur nach ihren eigenen Gesetzen und beachtet die Gesetze anderer Zivilisationen nie. Die heutige politische Welt ist gegründet auf Verträge. China ist keine Kultur der Verträge, das ist eine Kultur der Entwicklung. Ich will damit nicht sagen, dass die Politik Chinas aggressiv sei. Nein, es ist die Zivilisation, es ist das, was sich in fünftausend Jahren entwickelt hat. Charakteristisch dafür ist, was die Chinesen unter China verstehen. China ist nicht ein Land, wo es Grenzen für das Land gibt, sondern dort, wo Chinesen wohnen, dort ist China. Für Chinesen in Kalifornien ist dort China. Für Chinesen in Irkutsk ist Irkutsk China. Jeder Chinese fühlt Loyalität einzig mit China. Und seine Präferenz in der Loyalität ist immer China. Der Europäer denkt ein bisschen anders. Ein Chinese baut um sich herum ein kleines China auf. Das ist die Besonderheit der chinesischen Zivilisation: Sie reproduziert sich beständig selbst. Das heißt, das sie gegebenenfalls nicht besiegbar ist, könnte man sagen. Das ist der andere Typ einer Zivilisation.“                                                                    …drugoi tip zvilisatii.“

Erzähler:
Die politische Perspektive, die sich aus all dem ergibt, ist klar und kompromisslos: „Wir müssen erkennen“, betont der Professor mit Blick auf  die Grenze zwischen China und Russland, „dass wir diese Regionen bereits verloren haben, dass wir diese Vorgänge nur noch regulieren können. Wir müssen uns arrangieren.“ Die politische Perspektive, die sich aus all dem ergibt, klingt bei ihm klar und kompromisslos:

O-Ton 21: Prof. Maslow, Forts.                                            1,16
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen (oder wahlweise auch schon O-Ton 22 – Musik – hochkommen lassen)

Übersetzer:
„Protiwostanne meschdu…
„Der Widerspruch zwischen Russland und den USA, der sich jetzt entwickelt, stärkt notwendigerweise China. Die USA hat heute sehr große soziale Probleme, das ist bekannt. Viele Analytiker sagen, dass die USA noch zehn, höchsten fünfzehn Jahre auf dem jetzigen Level existieren kann, dann beginnt eine Währungskrise, Produktionskrise, soziale Krise. In China dagegen ist das Potential der Reform noch nicht einmal erschöpft. Was folgt daraus? Bei einer absehbaren Schwächung von Russland und den USA wird solch ein Gigant wie China sich erheben. Die USA begreifen heute nicht, dass Russland der einzige Puffer zwischen China und der übrigen Welt ist. Russland befindet sich nicht nur in einer Übergangssituation, es ist auch selber ein Übergang, eine Brücke zwischen den Kulturen – und ein Puffer, ein Puffer, der in gewissem Maße das Überrollen der übrigen Welt durch China kompensiert. Je schwächer Russland, desto stärker China und umso größer seine Möglichkeiten, den ersten Platz unter den Zivilisation der Welt einzunehmen.
…wot eto zivilisatii.“

Erzähler:
Diesem Bild muss nichts hinzugefügt werden.

O-Ton 22: Musik
Regie: Ton langsam kommen lassen, nach dem Erzähler hochziehen und mit Beifall ausblenden.

Erzähler:
Eine multizentrale Welt, die nicht nur eine herrschende Macht kennt, sondern auf gleichberechtigten Beziehungen der Völker basiert, wie sie gegenwärtig als Inhalt der strategischen Partnerschaft zwischen China und Russland propagiert wird, hat selbstverständlich nur dann eine Chance, wenn Russland seine gegenwärtige Schwäche überwindet.

Themenheft 5: Babuschkas Töchter

THEMENHEFT 5:
Babuschkas Töchter

Texte zur Lage der Frauen in Russland

Juni 1999
Russlands Frauen –
neue Kraft oder alte Rolle? S. 1

Oktober 2000
Überlebensgemeinschaften – Frauensache S. 8

Oktober 2000
Tanja, Marina, Rosa – auf der Suche nach der neuen Frau S. 10

Aufbruch in eine multipolare Welt?

Thesen für ein Seminar in Sankelmark
vom 6. – 8. 10. 2000

1. Das Ende der Sowjetunion ist gleichbedeutend mit dem Ende der bipolaren Weltordnung, welche die Welt seit 1917 in zwei Systemlager teilte.

2. Die Aufhebung der Systemteilung ist ein Wachstumsprozess, der die Grenzen der Systemteilung von innen heraus sprengte. Das gilt für die Sowjetunion selbst, deren Regionen eine eigene Entwicklungsdynamik entfalteten und es gilt für Gebiete der sog. 3. Welt, die sich im Schutz des System-Patts entwickeln konnten.

3. Mit der Auflösung der bipolaren Weltordnung treten die bisherigen Sub-Zentren aus den Schutzräumen zwischen den Blöcken in die freie Konkurrenz des Weltmarktes hinaus. Diese Entwicklung bezeichnet man heute gemeinhin als Globalisierung.

4. Ergebnis ist eine vorübergehende Anarchisierung der internationalen Beziehungen und ein Kampf um die Neuaufteilung der Welt, der an exemplarischen Konflikten wie Kossovo, wie Tschetschenien ausgetragen wird.

5. Wichtigste Konfliktlinie im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, die sich zur Zeit abzeichnet, ist die zwischen China als der kommenden asiatischen Führungsmacht und den USA, die heute den Anspruch auf Weltherrschaft stellen, nachdem sie aus dem kalten Krieg der Systeme als Sieger hervorgegangen sind.

6. Europa, speziell Deutschland, wird im Zuge dieser Entwicklung tendenziell auf den dritten, die bisherige Großmacht Russland auf den vierten Platz der Weltmächte verwiesen. Für beide, Europa wie Russland, besteht die Gefahr, zukünftig auf ein Bollwerk zwischen den großen Kontrahenten China und USA reduziert zu werden.

7. Europäischer Politik, speziell deutscher, fällt somit die historische Rolle zu, eine erneute Polarisierung der Welt, dieses mal entlang der chinesischen und der amerikanischen Interessen, östlicher und westlicher Kultur durch Herausbildung eines dritten Pols im Gleichgewicht zu halten. Darin treffen sich russische und europäische, insonderheit deutsche und russische Interessen..

8. Zu dem Kräftedreieck China, USA, Russland-Europa kommt als zukünftige Potenz noch die orientalisch-arabische, die indische, die afrikanische, die australisch-neuseeländische und die südamerikanische Welt, die sich aber noch in unterschiedlichen Graden der Abhängigkeit von den drei großen Macht- und Wirtschaftszentren befinden.

9. Die Gesamtentwicklung drängt auf eine multizentrale globale Ordnung. Ihre Protagonisten sind aber weder die USA, die verbal als Hüter globaler Demokratie auftreten, noch China, das propagandistisch aggressiv für eine multipolare Welt eintritt. Die multizentrale Ordnung wird gegen die Interessen dieser beiden Supermächte, der gegenwärtigen und der kommenden, von den übrigen Völkern und Ländern des Globus, gruppiert um die alten Mächte Russland und Europa durchgesetzt werden.

Kai Ehlers. Publizist, www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78, Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482

Putin und Beresovski – zwei Reformer der besonderen Art

Rückwärts zum Zentralstaat?

Regionen, Föderalismus, Völker, Globalisierung.
Rückwärts zum Zentralstaat?

Anfang Juni 2000 legte die Kreml-Administration der Staatsduma eine Gesetzesvorlage vor, der zufolge der russische Präsident zukünftig das Recht haben soll, die Gouverneure der Regionen zu ernennen und abzusetzen, wenn sie gegen Föderationsgesetze verstoßen. Die gewählten Gouverneure sollen aus ihrem seit 1993 bestehenden Machtzentrum, dem Oberhaus der russischen Volksvertretung, Föderationsrat genannt, ausziehen und durch ständige Vertreter ersetzt werden. Zudem sollen sie durch Generalgouverneure überwacht werden, die in sieben Super-Regionen herrschen sollen, welche der russische Präsident per Erlass vor kurzem geschaffen hat. Dazu soll auch ein eigener neuer Überwachungs- und Polizeiapparat in den sieben Regionen aufgebaut werden. Als Ausgleich erhalten die Gouverneure das Recht, mit den Lokalgrößen entsprechend zu verfahren. Das Ganze läuft unter dem Label der Fortsetzung der Demokratisierung durch Einführung einer „Diktatur des Gesetzes“ im Kampf gegen Korruption und Kriminalität. Die Mehrheit der Duma stimmte begeistert zu. Selbst aus den Reihen der Gouverneure gab es kaum offenen Widerstand. Doch dann geschah das für viele Unerwartete: Vladimir Beresovski, vor der Wahl des Senkrechtstarters Vladimir Putin zum neuen russischen Präsidenten als dessen Sponsor, Gönner und Manager aktiv hervorgetreten, stellte sich öffentlich gegen die Politik des neuen Präsidenten. Die von Putin betriebene Rezentralisierung beseitige die Gewaltenteilung, erklärte er. Sie führe zu einer Wiederbelebung des sowjetischen Systems, bringe eine korrumpierte Elite hervor und zerstöre die Selbstverwaltung sowie jegliche Initiative von unten.
Dass Beresovskis Interesse weniger demokratisch als eher geschäftlich begründet ist, dürfte klar sein. Dafür hat er in den Jahren der kriminellen Privatisierung reichlich Zeugnis abgelegt. Er hat in vielen Regionen Russlands wirtschaftliche Interessen, was er gerade wieder bei Übernahme der Krasnojarsker Aluminiumwerke bewiesen hatte, nachdem deren erster privater Besitzer Sergej Bykov vom Gouverneur Krasnojarks, Alexander Lebed, hinter Schloss und Riegel gebracht worden ist. Beresovski braucht gute Beziehungen zu den Gouverneuren und den örtlichen Machthabern; er braucht freie Hand für seine Geschäfte. Das ist alles andere als demokratisch. Doch eben dadurch ist Beresovskis Opposition, obwohl nicht ohne paradoxe Züge, auch grundsätzlicher Natur. Er wendet sich gegen das von Vladimir Putin angestrebte Herrschaftsmodell, das auf dem Primat der Bürokratie und der Sicherheitsdienste, einschließlich des Militärs beruht. In einem solchen Staat, so muss Beresovski offenbar fürchten, wäre für die Oligarchen kein Platz mehr. Könnte es sein, dass er sich dieses Mal verrechnet hat? Jetzt gibt es nämlich keinen Boris Jelzin mehr, der wie bei den Präsidentenwahlen 1996 einen zu sehr emporgekommenen Ordnungspolitiker Alexander Lebed durch seinen anarchischen Autoritarismus wieder relativiert. Spielt Putin vielleicht sogar mit dem Gedanken, sich von Jelzins „Familie“ loszusagen und auf andere Kräfte zu stützen? Wie auch immer, dieses Mal, so scheint es, muss Beresovski die Geister, die er rief, selbst wieder bannen.
Die Antwort aus den Reihen des Präsidenten ließ nicht lange auf sich warten. Putin müsse gegen Beresovski vorgehen, tönte einer der Berater Putins, Pavlovskij, aus dem Kreml. Putin solle noch in diesem Jahr die „Schattenregierung“ der russischen Oligarchen beseitigen, andernfalls könne es sein, dass er schon im kommenden Jahr nicht mehr Präsident sein werde. Putin müsse die demokratischen Institutionen vom „Druck eines privaten Clubs“ einiger Großunternehmer zu befreien. Diese hätten einen parallelen, verfassungsfeindlichen Schattenstaat geschaffen. Während Vladimir Putin vom Volk gewählt sei, würden die Massenmedien von Leuten wie Beresovski und Gussinskij kontrolliert, die immer dann als Retter der russischen Demokratie aufträten, wenn sie sich gefährdet fühlten. Nun müsse die Mehrheit, die Vladimir Putin unterstützt, verhindern, dass sich die Gegner des Präsidenten zu einer Front zusammenschlössen.

Front gegen Putin?
Mit diesem Schlagabtausch bricht der Burgfriede auf, unter dem Vladimir Putin Anfang des Jahres 2000 zum Präsidenten gewählt wurde. Der Burgfriede war durch drei Faktoren begründet: Durch Vladimir Putins Bereitschaft, die „tschetschenische Frage“ zu lösen, durch sein Versprechen, Boris Jelzin und seiner „Familie“ Immunität zu garantieren und durch die politische Leerstelle, die der Newcomer Vladimir Putin anstelle eines Programms präsentierte. Der Konflikt tritt nun just an jener Stelle zutage, an der alle drei Elemente miteinander verzahnt sind – an der Frage der föderalen Struktur des Landes.
Laut Verfassung hat Russland 89 sogenannte föderale Subjekte – Verwaltungsgebiete, autonome, meist nach Ethnien benannte Republiken, autonome Gebiete und die Städte Moskau und St. Petersburg. Unter Boris Jelzin, dessen Amtsantritt als russischer Präsident gleichbedeutend war mit der Auflösung des sowjetischen Zentralstaates, setzte sich die Regionalisierung auf dem Gebiet der nunmehr Russländische Föderation genannten vormaligen Russischen SSR, fort. Gleichzeitig wuchsen die Tendenzen der Rezentralisierung. Der erste tschetschenische Krieg war der krasseste Ausdruck dieser widersprüchlichen Entwicklung. Er löste das Problem nicht, sondern verschob es und verschärfte es damit. Im zweiten tschetschenischen Krieg geht es nicht mehr hauptsächlich um Tschetschenien – weder um dessen Unabhängigkeit noch deren Verhinderung –, sondern um den inneren Zusammenhalt Russlands, um die Stiftung einer neuen Identität. Am Beispiel Tschetscheniens versuchen Vladimir Putin und sein „Kommando“ eine doppelte Sinngebung: Den einen wird mit der Lösung der „tschetschenischen Frage“ ein identitätsstiftendes kollektives Ziel und eine Ablenkung von der eigenen Dauermisere angeboten; den anderen wiederum wird demonstriert, was mit jenen geschieht, die sich dem Anspruch Moskaus auf Wiederherstellung seiner Machtstellung nicht beugen wollen. Mit dem Vorstoß gegen die Gouverneure soll der durch den tschetschenischen Krieg erzeugte politische Druck nun auch formal auf das ganze Land übertragen werden. Das trifft insbesondere diejenigen Teile des Landes, die sich, wie die ethnischen Republiken an der mittleren Wolga, allen voran Tatarstan, in den letzten Jahren eine relative wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit gegenüber der Zentralregierung erkämpfen konnten.

Wie russisch ist Russland?
In Russland leben, auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, immer noch rund hundertfünfzig verschiedene Völker. Das ist Russlands Konstituante. Wer Russland verstehen will, muss sich mit diesen Tatsachen beschäftigen. An der mittleren Wolga beispielsweise, in dem Gebiet, das in der Regel für den russischsten Teil Russlands gehalten wird, leben auf einem Raum von der Größe Frankreichs oder der Türkei sechs nicht-slawische Völker in sechs sich überschneidenden Siedlungsgebieten nebeneinander. Die Kerne ihrer Siedlungsgebiete bilden jeweils eine autonome Republik: Tatarstan, Baschkortastan, Utmurtien, Mordawien, Tschuwaschien und El Mari. Die Angehörigen dieser Völker stellen rund die Hälfte der in dem Gebiet lebenden Einwohner, die andere Hälfte sind slawische Russen. In den einzelnen Autonomen Republiken wicht die prozentuale Zusammensetzung leicht voneinander ab.
Diese Völker, die heute an der Wolga leben, sind im fünften Jahrhundert mit den Hunnen, im dreizehnten noch einmal mit den Mongolen nach Westen gezogen und nach deren Rückzug dort geblieben. Mit der Eroberung Kasans durch Iwan IV., den sogenannten Schrecklichen, kamen sie unter russische Oberhoheit. Seitdem ist die Staatssprache der Völker russisch. In den Dörfern aber werden nach wie vor die Sprachen gesprochen, die sie aus dem Altai, aus der Mongolei und aus Sibirien mitgebracht haben. Das sind turk-tatarische Dialekte bei den Tataren, Baschkiren, Utmurten, Mordawiern sowie den Tschuwaschen, und finnougrische Varianten bei den Mari. Die Mehrheit der Völker, bis auf die Tschuwaschen und Teile der Mari, gehört heute dem Islam an, soweit sie sich religiös orientieren. Die Tschuwaschen sind in ihrer Mehrheit christlich, haben jedoch starke naturreligiöse Elemente bewahrt. Bei den Mari finden sich Islam, Christentum und naturreligiöse Anschauungen in unentschiedener Mischung. Der russische, später sowjetische Lebensstil hat vor allem die Städte geprägt. In den Dörfern aber konnte sich viel mehr der traditionellen Kultur – wie es sich im Gebrauch des Tatarischen, Baschkirischen, Utmurtischen, Mordawischen, Tschuwaschischen und Marizischen ausdrückt – erhalten. Starke nationale Bewegungen seit Mitte der Achtziger Jahre forderten vor allem die Gleichberechtigung der eigenen Sprache mit dem Russischen. Den Tataren ist es gelungen, Moskau die Gleichberechtigung der Sprachen abzutrotzen. Seit 1991 sind in Tatarstan Russisch und Tatarisch gleichermaßen Amtssprache. Die anderen Republiken haben dieses Ziel nicht erreicht oder sind, wie die Tschuwaschen, auf halbem Wege stehen geblieben. So liest man heute in Tschuwaschien Straßennamen auf Tschuwaschisch und Russisch, es gibt auch tschuwaschische Schulen, aber Amtssprache ist allein Russisch. Ähnlich ist es in den übrigen Republiken.
Ende der Achtziger und Anfang der neunziger sorgten Vorstellungen einer unabhängigen Wolga-Ural-Republik für Unruhe. Sie zielten auf eine Vereinigung der turk-tatarischen und finnougrischen Wolgavölker unter tatarischer Führung. Diese Ideen sind heute weitgehend abgeklungen. Tatarstan aber ist für die übrigen Wolgavölker nach wie vor ein Vorbild. Mehr noch, das „Modell Tatarstan“ wurde zum erfolgreichen Gegenentwurf gegenüber dem unglücklichen Tschetschenien, dem es aber zugleich in religiöser, ethnischer und politischer Solidarität verbunden ist. Gemeinsam mit Türken und Aserbeidschanern orientieren sich die nationalen Bewegungen der turk-tatarischen Republiken ebenso wie die tschuwaschische an der Entwicklung eines einheitlichen turksprachigen Kulturraumes, zu dem sie nicht nur sich selbst, den Kaukasus (insbesondere Tschetschenien) und Zentralasien, sondern auch verschiedene Republiken Sibiriens zählen. Altai, Chakasien, Burjatien sind die kleineren unter ihnen, Jakutien die größte, die fast den gesamten Nord-Osten Sibiriens einnimmt. 1990 fand der erste „Alltürkische Kongress“ in Moskau statt, 1991 in Kasan; 1992 gab es in der Hauptstadt Aserbaidschans, Baku, den ersten allgemeinen großen „Kurultai“, die Beratung der turksprachigen Völker. Seitdem trifft man sich zu jährlichen Kurultais in Baku oder Ankara, auf denen über eine einheitliche Entwicklung des turksprachigen Kulturraumes betraten wird. Ähnliches vollzieht sich auf der finnougrischen Linie: Die nationale Bewegung El Maris zielt auf die Vereinigung der finnougrischen Völker, der Finnen, Esten, Ungarn und versprengter Gruppen. Einmal im Jahr trifft man sich in Tallin zum finnougrischen Festival.
All dies, sowohl die turksprachige als auch die finnougrische Erneuerungsbewegung wird teils offen, teils versteckt von den Republikführungen unterstützt; am stärksten tritt Tatarstan hervor, das sich als Zentrum turk-tatarischer Kultur in Russland und als Begegnungsstätte zwischen Ost und West versteht. Versuche der politischen Einflussnahme von außen bleiben bei dieser Konstellation nicht aus. Das betrifft die Türkei zum einen, Finnland und Estland zum anderen. Über die Religion versucht auch der Iran Einfluss zu nehmen. Mit der neuen Gouverneursverfassung, welche die Sonderrechte, die sich Republiken wie Tatarstan im Laufe des Jahrzehnts Jelzinscher Politik sichern konnten, nivelliert, versucht Moskau dieser Entwicklung entgegenzutreten. Kurzfristig könnte dem Zentrum das gelingen, wenn es die immer noch bestehenden zentralen Monopole wie GASPROM oder den Elektroriesen RAO EUS sowie die Eisenbahn, von denen die regionale Produzenten abhängig sind, als Druckmittel einsetzt. Auf Dauer wird es aber die Entwicklung, die auf eine größere Selbstständigkeit der in 70 Jahren Sowjetindustrialisierung allen Mängel zum Trotz herangereiften Regionen sowie auf neue eigenständige Beziehungen zwischen ihnen hinausläuft, nicht aufhalten können. Auch nicht mit Polizeigewalt. Dafür ist das Land zu weit und die Zahl der darin lebenden Völker sowie der Trassen und Pipelines, die inzwischen nicht mehr nur in Richtung Moskau, sondern in alle anderen Himmelsrichtungen gebaut werden, zu groß. Der Stalinismus, das heißt, die Zeit der militärisch organisierten Zwangsindustrialisierung ist irreversibel am Ende. Neue Lebens- und Wirtschaftsräume sind entstanden, die jetzt zu intensiver Entwicklung übergehen müssen – wenn sie nicht verrotten wollen. Wer aber will das.

„Heute Tschetschenien – morgen wir?“ – Bericht von einer Rundreise an der Wolga
Ein aktueller Streifzug durch die Wolgarepubliken kann einige Antworten auf die Frage geben, welche Folgen der Krieg in Tschetschenien auf die innere Verfassung Russlands und konkret auf die mit den Tschetschenen ethnisch verwandten und zudem in ihrer Mehrheit auch noch religiös verbundenen Wolgavölkern hat. In Čšeboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik, verlaufen die Gespräche informativ, ruhig, ohne große Überraschungen. Im Grunde ist alles wie erwartet: Das kleine tschuwaschische Kulturzentrum, konkret sein Vorsitzender Michail Juchma – als Nationaldichter nicht nur in Tschuwaschien bekannt und geachtet –, müht sich redlich, sich der großen Zustimmung, welche die Politik Vladimir Putins hier erfährt, entgegenzustellen. Aber es ist ein Kampf gegen den Strom. Die Mehrheit der Bevölkerung liebt den undurchdringlichen Geheimdienstler Putin zwar nicht und verurteilt den von ihm in Tschetschenien geführten Krieg, hat aber doch mit gut 40 Prozent der abgegebenen Stimmen für die von ihm verheißene Ordnung gestimmt. Die andere Hälfte stimmte für den kommunistischen Kandidaten. Vieles, was zum Krieg in Tschetschenien, was zur Wahl und anderen politischen Ereignissen gesagt wird, trägt daher den Charakter folgenloser Klagen. Am Stärksten tritt das in einer Figur wie dem Rentner Rosov zutage, der ein zu Sowjetzeiten regional bekannter Filmemacher ist. Er wurde mir als jemand vorgestellt, der schon zum ersten tschetschenischen Krieg 1994–96 ein Bataillon von Freiwilligen aufstellen wollte. Er macht viele heiße Worte um diese Sache, spricht von Genozid, von russischem Neo-Kolonialismus, von der Gefahr eines allgemeinen Bürgerkrieges; man spürt, dass ihm das Gemüt kocht – aber gefragt, ob er denn tatsächlich Leute aufstelle und dorthin verbringe, antwortet er, das werde ihm erstens durch die Behörden der tschuwaschischen Republik verboten und zweitens habe er kein Geld. Seine Pension reiche nicht einmal für eine Reise nach Kasan.
Auf demselben Niveau bewegen sich auch die übrigen Positionen, die ich bei meinen Gesprächen im tschuwaschischen Kulturzentrum zu hören bekomme – einschließlich der von Michail Juchma, obwohl er mit seiner eigenen Arbeit und über das „Tschuwaschische Kulturzentrum“ immerhin einigen Einfluss auf die öffentliche Meinung nimmt. Soeben wurde er vom aserbaidschanischen Präsidenten Alijew wieder einmal zu einem Treffen nach Baku eingeladen, das dem Kulturaustausch zwischen den turksprachigen Völkern dienen soll, weshalb wir unsere Besuche in den Nachbarrepubliken ohne seine Begleitung bewerkstelligen mussten. Immerhin blieb uns der von Michail Juchma organisierte Fahrer erhalten. Ohne ihn wären die Entfernungen nicht zu bewältigen gewesen. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass einer der Sponsoren des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“, Nikolai (ein Bienenzüchter, den ich schon lange den Bienenkönig nenne) soeben zum Vorsitzenden der tschuwaschischen Sektion der von Michail Gorbatschov gegründeten Sozialdemokratischen Partei wurde. Man traf sich in Moskau. Nikolai zeigte Bilder von der gerade eben vollzogenen Gründungsversammlung der Partei in Moskau, bei der die in Moskau ansässigen Tschuwaschen in einer Reihe mit den aus Tschuwaschien angereisten Delegierten rund um Gorbatschow herumstehen.
Viele Details wären hier zu berichten, nur eins noch: Es herrscht wieder Angst! Nach einem Gespräch mit dem Assistenten des obersten Mufti der tschuwaschischen Republik, der sich gegen den, wie er sagte, Missbrauch des Islam durch Extremisten wie Bassajev, Chattab und andere tschetschenische Warlords wandte und Putins Politik verteidigte, äußerten die Mitglieder des Kulturzentrums ihre Befürchtung, dass der junge Mann nun schnurstracks beim FSB, dem Inlandgeheimdienst, ausplaudern werde. Man fühlt sich wieder bespitzelt. Auch wenn diese Befürchtungen übertrieben sein sollten, so ist doch der Wandel gegenüber den Vorjahren, wo frank und frei agitiert wurde, doch sehr deutlich zu spüren.
Nicht viel anders ist es in Joschkar Olar, der Hauptstadt der Nachbarrepublik El Mari. Im Gegensatz zum tschuwaschischen Kulturzentrum wird das marizische immerhin staatlich unterstützt. Freundlich werden die Gäste begrüßt und mit großer Bereitschaft wichtige Gesprächspartner herbeitelefoniert. Man ist empört über den Krieg gegen die Tschetschenen: Genozid – lautet auch in El Mari das eindeutige Urteil. Aber man ist doch weit entfernt von irgendeiner politischen, gar effektiven politischen Einflussnahme. Selbst der sehr radikale Ethnologe, dem wir dort begegnet sind, Teilnehmer vieler westlicher Symposien über Minderheitenschutz in Russland, kommt wohl letztlich, wie es scheint, über starke Worte nicht hinaus. Er äußert sich sarkastisch und resigniert über die zahnlose Republikverwaltung, die zwar das Kulturzentrum unterstütze, ansonsten aber vor Moskau, aktuell vor allem vor Putin, kusche. Eine rührende politische Hilflosigkeit offenbart sich beim Treffen im „Haus des Druckes“ der Union der marizischen Schriftsteller, die ebenfalls staatlich unterstützt wird. Sie begnügen sich mit Toasts auf die literarische Selbstverwirklichung in marizischer Sprache und mit harmlosen folkloristischen Ritualen.
In Kasan aber weht ein anderer Wind. Das tatarische Kulturzentrum „TotZ“, wo ich 1992 erstmalig, dann wieder vor zwei Jahren zusammen mit Michail Juchma anlässlich der Rundreise zu den Gedenkstätten tschuwaschischer Geschichte war, machte noch einen im Gegensatz zu damals etwas vernachlässigten, abseitigen Eindruck. Dann aber: Das Islamische Zentrum – da ist man doch gleich mitten im Leben, mitten in den Widersprüchen zwischen orthodoxer und islamischer Kirche! Vom Assistenten des obersten Mufti Tatarstans wird mir eine Äußerung Putins übermittelt, die er vor einem Kreis eingeweihter FSBler getan haben soll: „Wenn wir mit den Tschetschenen fertig sind nehmen wir uns die Chane vor.“ Das, fügt der Mufti-Assistent hinzu, könne nur die Tataren, bzw. die an der Wolga ansässigen Mohammedaner meinen, allen voran natürlich Tatarstan selbst, das Moskau mit den von ihm abgerungenen Sonderrechten ein Dorn im Auge sei. Im „Haus der Freundschaft“ wird uns dann das „Modell Tatarstan“ vorgeführt: entschlossener auf dem Weg zur Eigenständigkeit, aber im engen Zusammenhalt der alten euroasiatischen Strukturen; Gleichberechtigung der russischen und tatarischen Sprache, Verfügung über die eigenen materiellen Ressourcen, selbstständige Kultur- und Religionspolitik – bei all dem aber friedliches Zusammenleben zwischen tatarischer und russischer, zwischen christlicher und islamischer Bevölkerung. Kasan – so die stolze Selbsteinschätzung meiner Kasaner Gesprächspartner und auch mein eigener Eindruck – ist Drehscheibe zwischen Osten und Westen, halb russisch, halb tatarisch in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht. Sie ist auch Klammer zwischen kaukasischem und zentralasiatischen Süden, und eine Stadt mit Geschichte und Zukunft.
Zentrum der nationalen Bewegung Tatarstans ist dennoch nicht Kasan, sondern Naberežnaja Čellni, eine Industriestadt mit 500.000 Einwohnern und Einwohnerinnen im Herzen Tatarstans, an der Kama gelegen, 250 km östlich Kasans. Naberežnaja Čellni ist eine künstlich angelegte Agglomeration von Plattenbauten, die wesentlich von der Produktion schwerer LKWs vom Typ „KAMA“ lebt. „Stadt der Verbrechen“ wird der Ort vom Volksmund zur Zeit genannt. Der Stillstand der KAMA-Werke bringt Arbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit Armut, Drogenmissbrauch, Aids und Kriminalität.
Das örtliche „TotZ“ in Naberežnaja Čellni erweist sich als Zentrum des tatarischen Nationalismus. Rafis Kasapov, sein Leiter, gilt als ein energischer Kämpfer für ein „Einheitliches Wolga-Ural unter tatarischer Führung“. Er bemüht sich – und das mit Erfolg – die tatarisch orientierte Intelligenzija des Ortes zum Gespräch einzuladen und vermittelt uns gleich dazu noch ein Treffen mit den russischen Nationalisten der Stadt. Das gibt es wohl nur in Russland! Die Gewerkschafter, die auch noch kamen, schickt er – weil zu spät – leider wieder fort. Schade, sie hätten viel erzählen können, über den Zusammenhang zwischen sozialer Entwurzelung und nationaler Radikalisierung. Kern aller Gespräche in Naberežnaja Čellni ist der tschetschenische Krieg – Verurteilung als Genozid, exemplarischer Charakter des Krieges, konkrete Hilfe bis hin zum effektiven Aufgebot von Freiwilligen. Es versammelten sich im „TotZ“ mit uns: Rafis Kasapow selbst, der humanitäre Hilsexpeditionen nach Tschetschenien, aber auch die jährlichen Feierlichkeiten und Umzüge zum Gedenken an den Fall Kasans im Jahre 1152 organisiert; ein Wahabiter“, Vorsitzender des örtlichen „Islamischen Komitees“, ein vollbärtiger junger Mann, der Freiwillige in den „Heiligen Krieg“ nach tschtschenien schieckt,; ein Baschkire, Vorsitzender des örtlichen Baschkirischen Kulturzentrums, ein Exil-Tschetschene, Chef der tschtschtschenischen Diaspora an der Wolga; ein Chef einer Bulgar-Gesellschaft, die sich die Aufarbeitung der vor-mongolischen Geschichte des Woplgaraumes zur Aufgabe gesetzt hat, und noch einige – alles in allem eine mächtig beeindruckende Versammlung von Menschen, die mit Vladimir Putins Krieg in Tschetschenien nicht einverstanden sind, weil sie sehen, dass er auch gegen sie gerichtet ist. „Heute die Tschetschenen, morgen wir“ steht hier über jedem Gespräch, das wir führen. Der Unterschied ist nur“, so Rafis Kasapow, „daß wir nicht so heißblütig sind wie die Tschetschenen. Sonst hätte der Krieg uns auch bereits eingeholt.“
Ein Höhepunkt ist die Begegnung mit dem Vorsitzenden der tschetschenischen Gesellschaft,. Er lässt ein krasses Bild von der tschetschenischen Diaspora entstehen. Bei seinen Erzählungen nimmt das Gespenst des KGB-Staates beängstigend reale Formen an: Als Vladimir Putin kürzlich im Rahmen seiner Wahlkampfreisen seinen Besuch in Nabereschnaja Tschlni angekündigt hatte, wurden die männlichen Mitglieder der in der Stadt lebenden achtundzwanzig Familien samt und sonders und ohne Angabe von Gründen für drei Tage inhaftiert und erst wieder auf freien Fuß gesetzt, nachdem Vladimir Putin die Stadt verlassen hatte.
Insgesamt hinterlässt der Streifzug entlang der Wolga den Eindruck, dass der tschetschenische Krieg nicht nur in Tschetschenien geführt wird. „Heute bekämpfen sie die Tschetschenen, morgen uns“, ist die häufigste Formulierung, die man zu hören bekommt. Weniger schroff ist die Variante, dass der tschetschenische Krieg Rassismus und Diskriminierung in den ethnischen Republiken fördere. Putins Erklärung, sich die Chane vornehmen zu wollen, wird so verstanden, dass er den Republiken, insbesondere den ethnischen Ihre hart errungenen Sonderrechte wieder nehmen will. Der Besuch im „Russischen Zentrum“ macht das dankenswert klar: Mit erhobener Stimme wird dort die Wiederherstellung einer einheitlichen russischen Gesetzlichkeit gefordert. „Wofür brauchen wir 89 Präsidenten“, lärmt der Vorsitzende der Gesellschaft, der im Übrigen mit seinen Kontakten zur DVU in Deutschland protzt, „wir haben doch unseren Präsidenten in Moskau!“ Es ist klar, dass solche Positionen auf eine Revision des „ Modells Tatarstan“ und darüber hinaus auf eine Kündigung des Völkerkonsenses in der russischen Föderation hinauslaufen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der mongolische Vorhang –
Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?
Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanittät? – Solche Eingrenzung der Fragen sind ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.
Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.
Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.
Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.
An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.
Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Veröffentlicht in:  Ost-West-Gegeninfo

“Wir arbeiten wie die Spione” Oleg Panfilow, Moskau, über die Gründung eines „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen.“

Kasten
Oleg Panfilow lebte bis zur Auflösung der Sowjetunion in Tadschikistan, wo er sich als Lehrer, Journalist und Kulturmanager einen Namen machte. Seit 1991 hält er sich als tadschikischer Staatsbürger in Moskau auf, wo er als Korrespondent an verschiedenen Zeitungen arbeitete. Von 1994 an leitete die Dokumentations- und Monitoring-Abteilung  der 1992 von Alexej Simonow gegründeten Moskauer „Stiftung zum Schutze von Glasnost“. Nebenbei war er für „Radio freies Europa“, Prag und für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften in Moskau und in Tadschikistan tätig, von 1994 bis 1997 außerdem als Experte der OSZE für Menschenrechte in Tadschikistan. Anfang des Jahres 2000 schied Oleg Panfilow mit einigen Mitarbeitern aus der „Stiftung zum Schutz von Glasnost“ aus und gründete unter den Namen „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ eine eigene Organisation.

Herr Panfilow, Sie haben ein „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ gegründet. Was ist die Idee dabei?

OLEG PANFILOW: Der Gründungsgedanke besteht darin, Journalisten zu helfen, die unter extremen Bedingungen arbeiten, also im Krieg und in den Ländern der GUS, wo unstabile Verhältnisse herrschen, wo Journalisten unter Bedingungen arbeiten müssen, in denen es keine Freiheit der Presse gibt. Wir führen Monitoring über die Verletzung der Rechte von Journalisten auf dem Gebiet der GUS durch. Wir arbeiten zu fünft hier im Moskauer Büro, ein Jurist, der Koordinator des Programms, der Büromanager, ein Übersetzer und ich; außerdem arbeiten noch acht Korrespondenten in Ländern der GUS; das ist Moldawien, Georgien, Armenien, Azerbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan und zwei Korrespondenten in Tadschikistan.

Warum haben Sie die „Stiftung Glasnost“ verlassen?

OLEG PANFILOW: Es gab private Gründe, die entscheidenden aber waren die beruflichen. Sie liegen vor allem darin, dass die Stiftung sehr wenig Aufmerksamkeit auf die Detailarbeit des Monitoring verwandte. In Russland, überhaupt in der GUS kommen jedes Jahr fünfzehn bis zwanzig Journalisten um. Die Stiftung gab Erklärung ab, wenn wieder einer umgebracht wurde, aber es gab keinerlei Untersuchungen.     Darüber hinaus ist die „Stiftung Glasnost“ einfach zu gigantisch geworden; eine Organisation von solchen Ausmaßen kann nicht mehr sinnvoll arbeiten, dafür braucht man eine kleine Organisation mit einer sehr engen Ausrichtung. Wir haben nun eine solche Ausrichtung  gewählt, das ist das Monitoring. Wir beabsichtigen Bücher und Ratgeber herauszugeben. Wahrscheinlich werde ich ein drittes Buch   schreiben, wie Journalisten während des zweiten Tschetschenischen Krieges arbeiten. Es wird auch ein Buch über Andrej Babizki geben, außerdem Bücher über Journalisten, die lange in Kriegsgebieten der Sowjetunion tätig waren. Alle diese Bücher sollen zeigen, wie man als Journalist im Krieg richtig arbeitet. Journalisten wissen schlecht darüber bescheid, wie man erste Hilfe leistet; sie kennen die Waffen nicht, die im Krieg benutzt werden, sie wissen wenig darüber, wie man vermeidet auf Minen zu treten, sie wissen nicht, wann man einem Offizier eine Flasche Wodka geben muss, oder den Soldaten Feuerzeuge, dafür, dass sie einen Journalisten durchlassen. Wir wollen wir Lehrseminare geben, in denen man den Journalisten beibringen muss, sicher zu arbeiten. Das Wichtigste, worüber man reden muss, ist der Hang russischer Journalisten, Gesetze nicht zu beachten. Ich denke, ein gut Teil, vielleicht ein viertel der Probleme von russsischen Journalisten, aber auch von Journalisten aus anderen Ländern der GUS, lassen sich vermeiden, wenn sie lernen, Gesetze zu beachten und richtig zu nutzen.

Sie haben mit der Arbeit bereits begonnen?

OLEG PANFILOW: Ja, aber man muss sagen, im Unterschied zur „Stiftung Glasnost“, die sich in letzter auf Prozesse gegen Journalisten konzentriert hat, befassen uns nur mit ernsthaften Vorfällen, also Mord, Überfälle auf Journalisten, Drohungen, Zensur. Wir verbreiten unsere Informationen wöchentlich ONLINE. Praktisch geben wir die Informationen schon in dem Moment weiter, wenn wir sie erhalten. Über 500 Menschen bekommen unsere Informationen. Das sind Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Radio in vielen Ländern der Welt, nicht nur in Russland und nicht nur in der GUS. Pressekonferenzen habe ich auch schon durchgeführt, mit Andrej Babizki und zu verschiedenen anderen Anlässen. Seit Mitte April haben sich in unserem Archiv ungefähr anderthalbtausend Vermerke zu Übergriffen auf Journalisten in der GUS angesammelt. Man kennt uns schon ziemlich gut und man bezieht sich viel auf unser Material oder schreibt Artikel über uns und zwar sowohl in der russischen als auch in der westlichen Presse. Seit Anfang Oktober läuft auch ein  neues Programm bei „Radio liberty“ unter dem Titel: „Macht contra Presse.“ Diese Sendung basiert auf unserem Material.

Wie kommen Ihre Untersuchungen zustande?

OLEG PANFILOW: Unsere Korrespondenten sind Leute, die niemand außer uns kennt. Sie arbeiten nicht legal. Sie befinden sich in dauernder Gefahr, weil…

…. sie fast wie Spione arbeiten? (beide lachen)

OLEG PANFILOW: Jaja, wenn man uns nach unserer Arbeit fragt, dann antworten wir: „Wir sind eine normale Spionageorganisation!“ Wir sammeln ja wirklich wie geheime Informationen, wir arbeiten sie auf, ja, wir arbeiten wie Spione…

Und veröffentlichen sie unter Pseudonymen?

OLEG PANFILOW: Nein, unsere Korrespondenten arbeiten weder unter Pseudonym, noch unter ihrem Namen. Wenn wir die Informationen verbreiten, die wir von ihnen erhalten, schreiben wir darunter, dass uns der Name der Korrespondenten bekannt ist, wir ihn aber aus Sicherheitgründen nicht nennen können.

Wie sieht das Bild aus, das Sie auf diese Weise gewinnen?

OLEG PANFILOW: Der erste Indikator ist Russland.
Ich glaube, dass die Lage in Russland sich zur Zeit grundlegend verändert. Ich meine in bezug auf das Verhältnis von Macht und Presse. Die Verhältnisse, die unter Gorbatschow geschaffen wurden, als das erste Pressegesetz verabschiedet wurde, wurden unter Jelzin erhalten, aber nicht verbessert. Jelzin war im Vergleich zu Putin ein stärkerer Demokrat, wenn man so sagen kann, jedenfalls hat Jelzin öffentlich nie die Presse gerügt. Putin ist ein ganz und gar anderer Mensch: er ist ein Mensch der Spezialdienste, ein Mensch, der im Geist der Gewalt aufgezogen wurde und nicht dem der Klugheit. So waren das Erste, was er neben einer gewissen der Reform wirtschaftlichen Machtverhältnisse tat, Schritte zur Einschränkung der Presse. Dabei ist es ohnehin in Russland  schon beängstigend  geworden, als Journalist zu arbeiten, vor allem auf zwei Gebieten, dem der politischen Kommentare und dem der journalistischen Untersuchungen. Das Genre der Untersuchungen verschwindet in Russland schon fast, denn erstens ist es sehr gefährlich und zweitens haben Beamte an höchsten Stellen, zum Beispiel die Assistentin des Vorsitzenden der Staatsduma, Sliska  Ljubow, öffentlich erklärt, dass man Journalisten untersagen müsse, Untersuchungen zu machen. Der Minister für das Pressewesen, Michail Lessin, erklärte, dass man das Pressegesetz ändern müsse. Untersuchungen sollen nur noch nach Gerichtsbeschluß möglich sein und Quellen nur Forschern eröffnet werden dürfen. Das würde auf der Stelle zehntausende von Anklagen gegen Journalisten nach sich ziehen. Man könnte jeden Journalisten zwingen zu erklären, woher er die Informationen hat.
Die Lage ist sehr ernst, besonders nachdem der Sicherheitsrat eine neue Sicherheitsdoktrin vorgelegt hat. Das ist eine absolut sowjetisches Dokument. Dort gibt es diese schwammigen Floskeln wie „Informationskrieg“, „Waffen der Information“, man müsse „dem Einfluss ausländischer Medien Widerstand leisten“. Mit Letzterem sind offensichtlich Radiostationen gemeint wie „Deutsche Welle“, „BBC“, „Stimme Amerikas“, „Radio liberty“. Es ist klar, dass die Macht davon träumt, die Sender mundtot zu machen, denn wenn sie wieder Staatspropaganda betreibt, werden die Leute wieder in der Küche sitzen und westliche Sender hören.

Putin hat kürzlich Journalisten zu einem Gespräch eingeladen. Was wurde dort beschlossen?

OLEG PANFILOW: Es wurde nichts beschlossen. Die Informationen über dieses Treffen waren äußerst dürftig. Offenbar hat Putin die Versammlung gebeten, öffentlich nicht verlauten zu lassen, worüber man dort gesprochen hat. Aber dieses Treffen war natürlich ein sehr bezeichnender Vorgang.

Welchen Einfluß hat Putin in Sachen Medien auf die GUS?

OLEG PANFILOW:  Er ist ein Mensch mit imperialen Sichtweisen und selbstverständlich will er den Einfluß Russlands auf die GUS erneuern. Das gelingt ihm jedoch ebenso schlecht wie vielen anderen russischen Politikern vorher. Mir scheint, dass die GUS ohnehin stirbt. Aber leider ist es nicht Putin, der sich mit der Politik gegenüber der GUS beschäftigt, es sind nicht einmal die Ministerien des Landes, sondern die Militärs. Darin liegt das Problem. Die Länder, in denen es keine russischen Militärbasen gibt, sind ziemlich schnell von Russland weggekommen, aber da, wo es Militärbasen gibt, werden die Länder noch einige Zeit unter dem Einfluss Russlands stehen.

Und welches Bild bieten die Länder der GUS?

In Russland wird es schlechter, aber dort wird es noch schlechter. Die Lage in Zentralasien wird schwieriger und schwieriger. In Kirgisien, das man die Insel der Demokratie in Zentralasien nannte, haben die Journalisten heut sehr viele Probleme. Es gibt nur zwei Länder in der GUS, wo es weniger Probleme gibt, Armenien und Maldowien. Nur in diesen beiden Ländern, wo die Präsentenwahl einen demokratischen Wechsel des Präsidenten gebracht hat, kann man ansatzweise von Freiheit des Wortes reden. Alle anderen Länder durchleben zur Zeit eine sehr starke Krise im Verhältnis von Macht und Presse.

Wenn man nicht nur abstrakt reden will, womit können Sie helfen?

OLEG PANFILOW: Nun, praktisch, also dorthin Computer zu schaffen oder Möbel, das ist Unsinn. Man muss den Leuten einfache Dinge erzählen: Wenn ich Seminare in Kirgisien oder Kasachstan durchführe, dann sehe ich, was Journalisten brauchen. Das ist Erstens: Kenntnis von Gesetzen. Zweitens, in Ländern wie Kirgisien oder Kasachstan, wo man Meetings oder picketing-lines durchführen kann, wird die Situation nicht genutzt, weil die Journalisten nicht wissen, wie man das anstellt. Ich habe im letzten Jahr den Journalisten von Kasachstan beigebracht, wie man eine Demonstration, wie man eine richtige picketing-line  durchführt. Dazu kommt rein professioneller Unterricht:. Viele Journalisten wissen ja nicht, was Management ist, was modernes Design usw.

Das klingt nach einem Aktivisten für Menschenrechte. Ich könnte mir denken, dass staatliche Stellen das nicht besonders schätzen.

OLEG PANFILOW: Das ist wahr. Ich habe mich in dieser Sache praktisch nicht ein einziges Mal mit staatlichen Vertretern getroffen. Ich bin mit einigen Präsidenten von Ländern  der GUS bekannt, aber ich traf sie nur, als ich Experte der OSZE für Menschenrechte war. Damals habe ich mich mit Präsidenten Turkmeniens, Kirgisiens, Kasachstans, Tadschikistans getroffen. Aber jetzt, wo ich mich mit Fragen der Medienfreiheit befasse, gehen mir alle diese offiziellen Leute aus dem Wege. Sie schicken ihre Assistenten vor, Pressesekretäre usw., die Dinners organisieren, und sich dann bemühen, mich während des Dinners davon zu überzeugen, dass es da nichts zu schützen gebe, dass die Journalisten Idioten seien usw. usf. – Wenn es ein gutes Essen war, sage ich Danke. (lacht) Das war´s dann aber auch.

Ihre Organisation befindet sich hier in Moskau, bearbeitet aber den GUS-Raum. Wie verbindet sich das?

OLEG PANFILOW: Im Grunde ist die Lage der Journalisten in Russland, in Kasachstan,  der Ukraine oder in Armenien die gleiche. Wir kommen ja alle aus der früheren Sowjetunion. Die Probleme sind rundherum absolut identisch. Was wir für die Journalisten Kasachstans tun, ist also genauso nützlich für die Journalisten Moldawiens. Natürlich gibt es Details. In Moldawien entwickelt sich sehr schnell eine Presse in rumänischer Sprache, also in der Sprache des Landes. Auch in Usbekistan schreibt man jetzt mehr in Usbekischer Sprache als in russischer. In Kasachstan und in Kirgisien ist es genau umgekehrt. Dort kehrt die Presse zur russischen Sprache zurück. Dort fühlt sich die Presse in kirgisischer oder kasachischer Sprache sehr schlecht. Dann gibt es noch finanzielle Varianten: Wenn es in Kirgisien zwei Zeitungen gibt, die sich durch Verkauf selbst tragen, so gibt es solche Zeitungen in Kasachstan nicht. In Moldawien ist das Geschäft mit der Presse sehr gut entwickelt, in Azerbeidschan dagegen wieder nicht. Da sind die unabhängigen Zeitungen äußerst arm. In Azerbeidschan gibt es überhaupt nur die Aufteilung in staatliche und oppositionelle Presse, unabhängige gibt es kaum.

Befassen Sie sich nur mit Zeitungen?

OLEG PANFILOW: Nein, mit allen Medien. Ich denke, dass wir uns demnächst auch noch mit dem Internet beschäftigen werden, denn es ist zu erwarten, dass der russische Geheimdienst demnächst die Provider kontrollieren will und die elektronische Post.

Welche Pläne haben Sie für die nächste Zeit?

OLEG PANFILOW: Sagen wir: Geld zu bekommen, um gut arbeiten zu können. Unser aktuelles Monitoring-Programm wird von der Stiftung SOROS finanziert, dem „Institut für eine offene Gesellschaft“ aus Budapest. Für die Zukunft hoffen wir auf deutsche Stiftungen. In Moskau ist eine sehr anormale Situation entstanden, in der viele Organisationen vor allem aus amerikanischen Fonds finanziert werden., einige immer aus denselben Quellen. Für Neue ist der Zugang da sehr schwer. Das ist schon fast eine Mafia. Deshalb bemühen wir uns um Finanzierung aus anderen Ländern.

Die „Stiftung zum Schutze von Glasnost“ hat zwei Bücher zum ersten Krieg in Tschetschenien herausgegeben, die große Beachtung in den russischen, auch in internationalen Medien fanden.

Das neue Russland – Glasnost adè?

Kai Ehlers,  Publizist, Email: info@kai-ehlers.de  Website: www.kai-ehlers.de   Datum:
Rummelsburger Str. 78, D – 22147 Hamburg,  Tel/Fax: 040 / 64 789 791  (64 821 60 priv.)
© Kai Ehlers, Abdruck gegen Honorar (einschl. MwSt) Kto: 1230/455980 BLZ: HaSpa  20050550
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Das neue Russland – Glasnost adè?

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Töne bitte alle leicht an- und abblenden

Falls Kürzungen notwendig sein sollten, schlage ich vor:
1.    Kleine Variante: O-Ton II,16 und den davor stehenden Erzähler: „Die neue Präsenz…“
2.    Große Variante: O-Ton 16, II plus Erzähler, dazu noch O-Ton 17, II sowie den zwischen O-Ton 16. II und 17, II stehenden Erzähler.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Das neue Russland – Glasnost adè?

Russlands neuer Präsident Wladimir Putin macht internationale Schlagzeilen – allerdings nicht unbedingt zu seinen Gunsten. In letzter Zeit sind es vor allem, nicht gerechnet die Meldungen über die Fortdauer des Krieges in Tschetschenien, die Aktionen gegen die Medien, mit denen der neue Herr des Kreml von sich reden macht: Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes 1999 waren es die Jubelberichte für den neuen starken Mann, verbunden mit Diffamierungskampagnen gegenüber seinen politischen Gegnern, die ins Auge stachen. Im Februar 2000 war es die provokative Verschleppung des Kriegsberichterstatters Sergej Babizkis, die mit Wissen des neuen Präsidenten geschah. Im April 2000 überfiel eine Horde Maskierter die Büros des Medienkonzerns „Mediamost“, zu dem der regierungskritische Fernsehsender NTW, „Radio Moskau“ und die Zeitung „Sewodnja“ gehören. Lürzlich sorgte die Verhaftung des Eigentümers der Mediamost, Wladimir Gussinskis, für internationale Proteste. Sind die Zeiten von Glasnost für Russland endgültig vorbei? Dieser Frage geht unser Autor Kai Ehlers mit einer Skizze der letzten Monate nach.

I, O-Ton 1: Presseausstellung, Verkaufsstand    1,10
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen und verblenden mit Bobby zwei, O-Ton 1

Erzähler:
(Musik, Lied…
Moskau. Organisierte Fröhlichkeit am Ausstellungs-Stand der „Komsomolskaja Prawda“. Kein halbes Jahr ist es her, da fand sich alles, was im Medienbereich Rang und Namen hat, zur großen Medienmesse auf dem zentralen Moskauer Ausstellungsgelände ein. Es heißt immer noch „WDNCHA“, auf deutsch „Ausstellung der volkswirtschaftlichen Errungenschaften der UdSSR“. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die schmutzigen Kampagnen zur Duma-Wahl über das Land schwappten, demonstrierte die Stadt Moskau eine Woche lang Pressevielfalt.
Hier, am Stand der „Komsomolskaja Prawada“, dem auflagenstärksten Boulevardblatt Russlands, werden Luftballons und T-Shirts mit dem Namenszug der Zeitung verteilt. Per Video kann man sich selbst singen hören. Junge Frauen agitieren mit Lobliedern auf die Zeitung. Eine von ihnen nimmt sich eifrig des ausländischen Besuchers an:

II, O-Ton 1: Gespräch mit Redakteurin am Stand    0,46
Regie: O-Ton ganz stehen lassen, am Schluss allmählich ausblenden

Redakteurin, O-Ton deutsch: Hier haben wir eine Ausstellung. Das ist eine Ausstellung – natürlich wissen Sie das – „Presse 2000“. Unsere Zeitung ist die größte Zeitung in Russland. Wir haben Mehrheit in Moskau, und auch in Russland. Deshalb haben wir eine interessante Zeitung, die schon im nächsten Jahr fünfundsiebzig sein wird…“
Nach dem Stichwort „wird“ langsam ausblenden

Erzähler:
Von Problemen mit der Pressefreiheit will man an diesem Stand nichts hören. Auf Fragen zum schmutzigen Wahlkampf antwortet die junge Frau:

II, O-Ton 2: „Komsomolskaja Prawda“, Forts.    0,34
Regie: O-Ton ganz stehen lassen, am Schluss allmählich ausblenden

Redakteurin, O-Ton deutsch:
„Wir sind keine staatliche Zeitung, wir sind selbstständig. Wir erzählen in unserer Zeitung alle Nachrichten. Wir gehören zu keiner Partei und wir schreiben das, was für die Leute interessant ist. Was Politik betrifft: Wir haben verschiedene Meinungen, viele Leute kommen zu uns…“
Bei Stichwort „zu uns“ langsam ausblenden

Erzähler:
Und nicht nur das:

II, O-Ton 3: „Komsomolskaja Prawda“, Forts.    0,31
Regie: O-Ton ganz stehen lassen, am Schluss leicht abblenden

Redakteurin: O-Ton deutsch
„Es ist auch interessant, dass wir unseren Chefredakteur selbst wählen. Und das Kommando entscheidet, wem wir unsere Emotionen, unsere Möglichkeiten in der Zeitung geben oder nicht. Es ist nicht käuflich. Einer kann kommen und sagen, ich bezahle das und das. Aber wir werden das nicht schreiben, wenn wir nicht einverstanden sind.“
…einverstanden sind.“
Erzähler:
Die organisierte Munterkeit am Stand der „Komsomolskaja Prawda“ verweist alle Klagen über den Verlust der Pressevielfalt in den Bereich von Vorurteilen. An anderen Ständen ist es nicht anders: Ein paar Gänge weiter, einträchtig zwischen der „Iswestija“ auf der einen, der liberalen „Njesawissimaja Gazjeta“ auf der anderen und der vaterländischen „Sowjetskaja Rossija“ gegenüber kann man auf den Stand von „Kommerssant“ stoßen. „Kommerssant“, zu Zeiten der Perestroika und während der Jelzin-Ära, als unabhängiges Wirtschaftsblatt hoch angesehen, wurde im Zuge des Wahlkampfes von Wladimir Beresowski, dem finanziellen Sponsor der Jelzin-Familie und Förderer Wladimir Putins aufgekauft. Von vielen wurde dies als Signal für das Ende der Pressefreiheit in Russland verstanden, mit der Vorgänge wie die Eingliederung der „Sewodnja“ in die Most-Gruppe Gussinskis, die Übernahme der „Literaturnaja Gasjeta“ durch die Luschkow-Gruppe und andere vergleichbare Ereignisse mehr ihren Höhepunkt fänden. Aber auch am Stand des „Kommerssant“ gibt man sich nach wie vor frei:

II, O-Ton 4: Am Stand von „Kommersant“    0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wir sind hier, um weitere Leser für unser Blatt zu werben und dafür, dass unsere Leser sehen, dass wir uns an dieser Ausstellung beteiligen, dass wir lebendig sind. Dies um so mehr, als es Gerüchte gibt, dass unser Blatt an Herrn Beresowski verkauft wurde und unsere Sache sich dadurch verschlechtere. Tatsächlich hat der Verkauf an Beresowski keinerlei Veränderungen für das Blatt gebracht, insofern er am Status unseres Hauses nichts geändert hat. Wir sind nach wie vor eine unabhängige Zeitung. Auch wenn Beresowski die Mehrheit unserer Aktien besitzt, bleiben wir eine unabhängige Presse, im Kern unabhängig.“
…njesawissimi pressi.“

Erzähler:
Das klingt alles sehr munter. Wer noch die grauen Kioske der späten Sowjetunion erinnert, wähnt sich bei dieser Ausstellung „Presse2000“ mitten im Leben. Die weit über hundert Stände, welche die riesige Halle füllen, vermitteln den Eindruck eines blühenden Pluralismus.
Was tatsächlich innerhalb der Blätter geschieht, die 1999 in den Monaten vor und während der Wahl aufgekauft wurden, schildert Jefim Berschin, langjähriger Redakteur der „Literaturnaja Gasjeta“, die ein ähnliches Schicksal erlitt wie der „Kommerssant“. Seine Begründung, warum er soeben, schweren Herzens, seine langjährige Tätigkeit bei der Zeitung aufgegeben hat, klingt bitter:

II, O-Ton 5: Jefim Berschin    0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Potamu schto literaturnaju…
„Weil Leute die Zeitung gekauft haben, die deren Tradition nicht verstehen, nicht verstehen, wie sie früher war, wie sie heute und morgen sein sollte. Man hat die Besten rausgeworfen, weil sie störten, weil sie nicht wollten, wie sie sollten. Im Ergebnis hat man die Zeitung zerschlagen. Sie ist keine literarische Zeitung mehr. Eine eigene Konzeption für die Zeitung haben sie aber auch nicht, weder wirtschaftlich noch kulturell.
…twortschestwa soderschannije.“

Erzähler:
Sie – das ist im Fall der „Literaturnaja Gasjeta“ eine Moskauer Finanzierungskompanie, hinter der Bürgermeister Lyschkow steckt. Mit den neuen Eigentümern zu reden, so Jefim Berschin,  habe sich als zwecklos erwiesen. Ein Jahr lang habe er gekämpft. Schließlich habe er aufgegeben, nicht zuletzt weil er keine Mitkämpfer gefunden habe. Die Mehrheit seiner ehemaligen Kollegen habe sich ihren Widerstand durch hohe Lohnversprechungen abkaufen lassen. „Und so wie bei uns“, schließt Jefim Berschin,“ ist es auf der gesamten Linie“:

II, O-Ton 6: Jefim Berschin, Forts.     0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Typitschna, c`Iswestija…
„Mit der `Iswestija´ ist es genau dasselbe. Dort haben sie das Team innerhalb eines Jahres zweimal gewechselt. Gekauft wurden sie von der ONEXIM-Bank, irgenwelchen Ölfirmen, Lukoil, glaube ich. Dann wurden sie wieder verkauft. Überall derselbe Vorgang. Beim Fernsehen ist es ähnlich: Was haben wir da? RTR – russisches Staatsfernsehen, dann NTW, das Gussinski gehört und schließlich, ebenso privat ORT, Beresowski. Der einzige unabhängige Kanal ist der  `Kanal der Kultur´, aber der ist so arm, hat keine Reklame; da kriegen die Leute auch keinen Lohn.“
…nje polutschajut.“

Erzähler:
Redakteur Berschin spricht aus, was sich hinter der Fassade der Ausstellung „Presse 2000“ verbirgt. Die Medienlandschaft Moskaus zerfällt in privatwirtschaftlich gesteuerte Clans. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Sendern, Zeitungen, auch Zeitschriften oder Verlagen müssen sich dem entweder beugen oder selbst in die Privatwirtschaft gehen, das heißt sich eine  neuen Job suchen.
Noch deutlicher als in der persönlichen Beobachtung des Redakteurs Jefim Berschin wird das in der „Öffentlichen Expertise“ welche die „Stiftung Glasnost“ zusammen mit der „Russischen Journalistenunion“ und einigen kleineren Rechtshilfegruppen auf einer Veranstaltung während der Ausstellung vorstellte. In ihr sind die Ergebnisse einer langfristig angelegten  Studie niedergelegt, in welcher die Lage der regionalen Medien Russlands entlang von drei Kriterien untersucht wird: Freiheit im Zugang zu Informationen, Freiheit bei der Herstellung und Freiheit der bei Verbreitung von Informationen. Die wichtigste Erkenntnis, welche die Experten bei der Vorstellung der Expertise, zu ihrem Bedauern vor fast leerem Saal, allen anderen Ausführungen vorausstellten, lautete:

II, O-Ton 7: Vortrag zur „Öffentlichen Expertise“    0,21
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, in der Mitte O-Ton anhalten, danach weiter, am Ende hochziehen

Übersetzer:
„Wywod perwie…
„Schlussfolgerung eins: der Unterschied zwischen den Subjekten der Föderation in Bezug auf das Niveau der Pressefreiheit und der Menschenrechte erwies sich als so gewaltig, dass man im Grunde davon sprechen kann, dass in Russland – in einem Lande also (!) –  neunundachtzig verschiedene politische Regimes tätig sind.“
… regimow.“

Erzähler:
Die USA etwa, führt der Redner aus, unterscheide sich, was die Verwirklichung von Rechten zur Freiheit der Presse und der Person betreffe, von Polen weniger als St. Petersburg von Moskau, ganz zu schweigen von anderen Gegenden Russlands, etwa Baschkortastans an der Wolga oder Tscheljabinsk`s hinter dem Ural und anderen Verwaltungsbezirken. Deren Administrationen hätten es gar nicht erst für nötig befunden, auf die Anfragen zu reagieren. „Sie sind einfach ein schwarzes Loch auf der Landkarte der Information und der Freiheit der Medien“, schleßt der Redner.    Erst nach dieser Feststellung geht er zu einer Bewertung der eigentlichen Ergebnisse über. Die fällt allerdings nicht erfreulicher aus:

II, O-Ton 8: „Öffentliche Expertise“, Forts.    0,53
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„Jesli gaworit o…
“Was die staatliche Unterstützung anbetrifft, so hat die erdrückende Mehrheit der Subjekte der Föderation ihre eigene, ganz besondere Art entwickelt, die im Ergebnis der Idee der staatlichen Unterstützung, wie sie in den Gesetzen der Föderation niedergelegt ist, vollkommen widerspricht,.“

Erzähler:
Im Verwaltungsbezirk von Kirow beispielsweise, so der Redner, habe die Administration die Unterstützung der örtlichen Presse direkt von deren Eingliederung in die städtischen Unternehmen abhängig gemacht. In anderen Regionen laufe es ähnlich. „Im Kern“, schließt der Experte, „läuft es also genau umgekehrt wie es soll! Du hältst die Tasche auf, die wirst einer von uns  – dann unterstützen wir dich.“
…tebja paderschim.“

Erzähler:
Nicht nur in Moskau, heißt das, sondern in ganz Russland zerfällt die Medienlandschaft in regionale Fürstentümer, in  wirtschaftliche oder politische Clans. Alexej Simonow, Vorsitzender der Moskauer „Stiftung zum Schutz von Glasnost“, und Mit-Initiator der Expertise, antwortet auf die Frage, wie er angesichts dieser Entwicklung heute seine Aufgabe als Beschützer der Pressefreiheit verstehe, mit einem sarkastischen Bild:

II, O-Ton 9: Alexej Simonow     0,46
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, in der Mitte O-Ton kurz anhalten, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas wasnikla…
„Bei uns hat sich eine absolut paradoxe Situation ergeben. Im Prinzip gibt es in Moskau nichts mehr zu schützen. In Moskau kann man nur noch die Idee beschützen. Warum? Früher gab es klare Linien, da standen sich die Macht oben und die Presse unten gegenüber, da konnte man kleine Anmerkungen schreiben, dass die Macht die Presse nicht unterdrücken solle und ähnliches. Aber jetzt sind es vier Mächte – stellen Sie sich vor, da stehen vier Gruppen von Feuerwehrleuten, die mit ihren Wasserspritzen aufeinander einschlagen – und Sie stehen dazwischen und versuchen jemanden zu helfen trocken zu bleiben. Das ist die Situation.
…wot situazije.“

Erzähler:
Die vier Gruppen, von denen Alexej Simonow spricht, sind die vier großen Sender: er regierungskritische NTW Gussinskis, der regierungsnahe ORT Beresowskis, der Regierungs-Sender RTR sowie der Moskauer Kanal der Luschkow-Gruppe und die zum jeweiligen Clan gehörende Presse sowie Radiosender.  Die Schlachten, welche die vier Clans sich während der Dumawahl lieferten, bezeichnet Alexej Simonow als schmutzig, ineffektiv und absurd. Mit dem Verlust von Pressefreiheit habe das jedoch nicht viel zu tun. Schon der Begriff der Pressefreiheit sei auf Russland nicht anwendbar. Überhaupt führe jeder Vergleich mit dem Westen nur in die Irre.

II, O-Ton 10: Simonow, Forts.                                        0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela wklutschajetsja w´tom…
„Die Sache ist liegt so, dass alle diese Vergleiche Ihrer Situation mit der unseren absolut unzutreffend sind. Die Situation wird ja nicht nur durch Aufteilung der Macht charakterisiert, sondern auch durch die Zusammensetzung ihrer Inhaber, deren Erziehung, deren Bildung, deren Mentalität, deren Fähigkeit oder Unfähigkeit zum Dialog usw.
Ihr im Westen seid mit dem Dialog aufgewachsen, keinem leichten, wenn man die Beziehung BRD-DDR bedenkt, aber doch einem normalen, wir dagegen mit siebzig Jahren Totalitarismus und überhaupt unserer russischen Geschichte. Das ist eine vollkommen andere Erfahrung.
…drugoi oput.“

Erzähler:
Alexej Simonow ist kein Satiriker von Beruf,  auch kein Russophile, der auf die Unvergleichlichkeit des russischen Wesens pocht. Er ist ein   aufgeklärter Westler, der Russland auf den Weg der Demokratie bringen möchte. „Die Stiftung zum Schutze von Glasnost“,1991 mit europäischen und amerikanischen Geldern gegründet und seitdem vom Ausland finanziert, entwickelte sich zu einem wichtigen demokratischen Kontrollorgan des neuen Russland. Im ersten tschetschenischen Krieg war die „Stiftung Glasnost“ Drehscheibe des Medienwiderstandes gegen den Krieg. Sie dokumentierte nicht nur die Übergriffe der Staatsmacht gegen die freie Berichterstattung, sie unterstützte mit Broschüren wie „Journalisten an heißen Punkten“ und anderen Ratgebern die Arbeit der Reporter vor Ort. Selbst vor der Ausgabe von Gasmasken für den Einsatz der Reporter an der Frontlinie schreckte Simonows Büro nicht zurück. Simonows Urteil ist also das eines Insiders, der weiß, wovon er redet. Wie kommt ausgerechnet er zu der Aussage, der Begriff Pressefreiheit sei auf Russland nicht anzuwenden und es gäbe nichts mehr zu beschützen?
Die Antwort Simonows auf diese Frage verblüfft: Zunächst beklagt er den moralischen Niedergang der Medien seit dem Ende des tschetschenischen Krieges und der darauffolgenden Wiederwahl Boris Jelzins zum Präsidenten im Jahr 1996. Vieles habe sich seitdem verändert:

II, O-Ton 11: Simonow, Forts.    1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ismenilas otschen mnoga…
„Der erste Krieg fand statt, als die Presse im Aufwind war. Ohne die Presse wäre das Volk kopfüber auch in den Krieg gestürzt. Damals war die Presse von der Macht getrennt, sie widerstand der Macht, sie erlaubte ihr nicht, bis ans Ende und bis zum Absurden zu gehen. Heute haben wir eine andere Presse; ihr moralischer Zustand ist vollkommen anders. Das ist das Eine. Und dann: Die moralische Verfassung der Gesellschaft verschlechtert sich insgesamt. Ohne die Presse einen nationalen Konsens für den Krieg zu erzielen, war damals nicht möglich. Heute ist das möglich und es gibt kaum einen Politiker, der nicht die nationale Karte spielt. Und schließlich Drittens: 1994, 1995 war, bitte sehr, Tschetschenien noch ein anderes Tschetschenien. Damals konnte man wirklich glauben, dass Tschetschenien um seine Freiheit kämpft. Als aber Raub, Banditismus und Geiselnahme dort Alltag wurden, habe ich selbst den Journalisten abgeraten, dort noch zu arbeiten. Es war lebensgefährlich, es hatte keinen Sinn, das waren schon keine Informationen mehr, sondern Heldentaten, um die es dort ging. Kurz, Tschetschenien hat auch das Vertrauen der journalistischen Gemeinschaft verloren.“
…saobschestwa tosche.“

Erzähler:
Nach dieser Klage über den moralischen Verfall der letzten Jahre fährt Alexej Simonow dann jedoch fort, der Grund für die Entwicklung, die eigentliche Ursache für die heutigen Probleme mit der Presse lägen allerdings nicht in der Tagespolitik, sondern in den prinzipiellen Verhältnissen Russlands, die sich von denen des Westens diametral unterschieden:

II, O-Ton 12: Simonow, Forts.     1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, snatschit nasche situazije…
„An unserer Situation wäre im Grund nichts besonders erschreckend, wenn es so etwas wie eine annehmbare gesunde Wirtschaftlichkeit der Massenmedien gäbe. Ich will sagen, es könnte alles so sein, wie es ist, wenn nur die Teilnehmer dieser Informationsschlachten ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen würden und nicht durch Geschenke, die sie erhalten.“

Erzähler:
Nicht die Ausrichtung der Medien an Marktinteressen ist aus Simonows Sicht das Problem, sondern im Gegenteil, die Missachtung und Unterlaufung dieser Interessen durch die traditionellen russischen Strukturen. Erfolg oder Misserfolg von Redaktionen, so Simonow, müsse doch vom Leser, vom Hörer oder vom Zuschauer abhängen. Dann könnte es Oligarchen geben. Kein Problem, sie würden sich gegenseitig Konkurrenz machen. Das wäre normal, kein Grund sich zu fürchten:
…nje pugajet.“

Erzähler:
In Russland aber gelte das Gegenteil, dort hänge, betont Alexej Simonow, die absolute Mehrheit der Redaktionen von den jeweiligen Geldgebern ab. Anders als im Westen und anders als es in einer Demokratie sein sollte:

II, O-Ton 13: Simonow, Forts.                                           0,45 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wasche gasjeta..
„Ihre Zeitungen, also die im Westen, wenn sie nichts mehr einbringen, werden entweder verkauft oder der Redakteur und  das Kollektiv, die es nicht packen, werden ausgewechselt. Oder die Zeitung wird geschlossen. Äußerlich ist alles wie bei Ihnen, aber im Kern eben nicht, denn im Kern sind 90% westlicher Zeitungen rentabel. Bei uns dagegen bringen 90% der Zeitungen keinen Gewinn! Und mehr noch: wenn in der Provinz rentable Zeitungen erscheinen, werden sie von allen gehasst.“
…nenavidjet wsje.“

Erzähler:
„Werden von allen gehasst“, das bedeutet – werden von allen Obrigkeiten, lokalen wie regionalen, mit Lizenzverweigerung, mit der Steuerpolizei und Ähnlichem unter Druck gesetzt. Das Ergebnis, so Simonow, sind Redaktionen, die durchweg käuflichen Gefälligkeitsjournalismus betreiben. Das Schlimmste aber liege darin,, schließt Simonow, dass unter den Monopolisten, welche die Redaktionen auf diese Weise von sich abhängig machten, der Staat der allergrößte Monopolist sei. Er besitze 40% der Aktien aller Zeitungen. Was dabei herauskomme, sei nicht einmal totalitär. Es sei einfach absurd.

II, O-Ton 14: Meeting            1,53
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verschiedentlich zwischendurch hochziehen, am Ende ganz hochziehen, verblenden

Erzähler:
„Musik, Prawdu a Babizka…
Nur wenige Monate später ist diese Einschätzung, so pessimistisch sie ist, bereits überholt: Die „Wahrheit über Babizki“ fordern die Demonstranten dieser Moskauer Kundgebung. Die inzwischen von Wladimir Putin geführte russische Regierung, nicht mehr zufrieden mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Medien, ist zu offener politischer Einschüchterung übergegangen: Am 15. Januar wurde der Kriegsberichterstatter des „Radio Liberty“, Sergej Babizki in Grosny wegen angeblich unzureichender Papiere festgenommen Babizki verschwand spurlos für mehrere Wochen. Die Militärische Führung warf ihm Kollaboration mit tschetschenischen Truppen vor. Mitte Februar wurde er in einer spektakulären Geheimdienstaktion, die dem Fernsehen per Video zur Veröffentlichung zugespielt wurde, gegen tschetschenische Gefangene ausgetauscht. Sein Aufenthaltsort blieb aber weiter unbekannt. Babizki war der einzige Reporter, der es zu der Zeit noch wagte, hinter den russischen Linien selbstständig zu recherchieren und mit seinen Berichten die Propaganda der Regierung über die angeblich saubere antiterroristische Aktion in Tschetschenien Lügen zu strafen.
Etwa zweihundert Menschen sind gekommen um Auskunft über den Verbleib von Babizki zu fordern:

I, O-Ton 2: Kundgebungsredner    0,18
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, während des ausklingenden Beifalls mit Erzähler einsetzen

Erzähler:
„Menschen sind frei, wenn sie innerlich frei sind“, erklärt der Redner. „Dafür sind wir hier. Ein freier Mensch, der für viele heute ein Symbol des Widerstandes geworden ist, ist Andre Babizki.“
…Babizki“, Beifall

Erzähler:
Der Beifall aus den Reihen der Kundgebung ist dem Redner sicher.
Im Büro der „Stiftung Glasnost“ ist die Stimmung gedrückt. Die Stiftung hat sich gespalten. Den Chef Alexej Simonow hat eine schwere Krankheit niedergeschlagen. Oleg Panfilow, als unermüdlicher Dokumentarist bis dahin tragender Bestandteil der Stiftung, hat sich im Streit von Simonow getrennt. Die Stiftung ist aktionsunfähig, Ein Ausdruck der Situation. Finster kommentiert Panfilows die Ereignisse um Babizki:

II, O-Ton 15: Oleg Panfilow    0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nowi russki…
„Die neue russische Tragödie heißt Putin, Ja, wenn ich sehe, wie Journalisten schon nach dieser kurzen Zeit der Regierung Putins arbeiten, dann muss ich sagen, dass die russische Presse eine Tragödie durchlebt. Eine Tragödie durchlebt sie nicht nur deshalb, weil ein neuer Mensch, sondern weil eine neue Ideologie an die Macht kam, die im wesentlichen auf die alte sowjetische Ideologie gegründet ist. An die Macht kommen Leute mit KGB-Erfahrung und mit einer Haltung den Journalisten gegenüber wie zu Zeiten des KGB.
…vremion KGB.“

Erzähler:
Die neue Präsenz der alten Strukturen, so Oleg Panfilow, sei bereits während der Wahlkampagne sichtbar geworden, besonders aber im Verlauf des zweiten tschetschenischen Krieges:

II, O-Ton 16: Oleg Panfilow    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Schurnalisti…
„Die Journalisten sind in diese Lage verfallen, weil die Generale am Ende begriffen haben, wer den ersten tschetschenischen Krieg gewonnen hat. Das waren nicht nur die Tschetschenen; eine große Rolle dafür, dass der Krieg eingestellt wurde, spielten vielmehr die Journalisten. Sie zeigten der ganzen Welt, wie dieser Krieg ablief, die Bombardierungen, die Repression, den Terror der Spezialtruppen. Die Generale haben begriffen, dass der zweite Hautfeind neben den Tschetschenen die Journalisten sind und sie tun alles, damit die Journalisten nicht selbstständig dort arbeiten können.“
…eta journalisti.“

Erzähler:
Dafür, so Oleg Panfilow, sei der Fall Babizki der Indikator; er sei aber auch Indikator dafür, dass die Mehrheit der Journalisten die neue Linie bereits akzeptiert habe. Was denn, bitte sehr, davon zu halten sei, wenn ganze 200 von 20.000 Moskauer Journalisten dem Aufruf zu einer Kundgebung folgten? Nur wenige Zeitungen erlaubten sich eine eigene Meinung, so etwa die „Nowaja Gasjeta“, die „Moskowski Nowosti“ oder „Sewodnja“; die meisten diffamieren Babizki als Verräter. Echten Widerstand gebe es nur aus den Menschenrechtsgruppen und von  Seiten einiger Liberaler. Noch könnten sie ihre Kritik vorbringen:

II, O-Ton 17: Oleg Panfilow    0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Paka u nich jest…
„Zur Zeit können sie das mit Hilfe der einzigen Fernsehgesellschaft Russlands, NTW, die ihnen diese Möglichkeit gibt und mit Hilfe einiger Rundfunksender wie „Echo Moskaus. Es gibt auch noch einige westliche Radiosender wie „Radio Liberty“ oder Deutschlandsender, die allerdings nur wenige Leute hören.“
…ludej.“

Erzähler:
Andrej Babizki selbst sieht sich als Held wider Willen. Am 1. März 2000 kann er sich dem Versuch entziehen, ihn mit falschem Pass über die Azerbeidschanische Grenze abzuschieben. Seitdem lebt er frei, aber ohne Papiere und unter unbestimmter Anklage in Moskau. Er muss sich verfügbar halten und darf die Stadt nicht verlassen.
Er fühle sich persönlich eingeengt, erklärt er Ende April bei einem Gespräch zu Haus in seiner Wohnung. In Bezug auf Wladimir Putin gibt er sich jedoch, allen Erfahrungen zum Trotz,  ganz gelassen. Wladimir Putin ist für ihn ein kulturloser Emporkömmling, der nicht wisse, was wer wolle; er werde die Presse nicht anrühren. Die werde von selber jeden Tag schlechter. Die Zeit des  Kommunismus, fasst Babizki seine Sicht der Lage zusammen, sei glücklicherweise vorbei:

II, O-Ton 18: Sergej Babizki      0,59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta wlast nje stawit
„Diese Macht zielt nicht auf unmittelbare Vernichtung von Menschen wie die Kommunisten oder Faschisten. Sie nutzt dieselben Methoden der Regierung, aber nicht logisch, nicht konsequent, nicht per Doktrin, der sie folgen würde. Sie bewegt sich noch, sucht noch, ist noch nicht als Doktrin formuliert. Sie ist auf der Suche nach einer passenden und ihr selbst verständlichen Ideologie., aber sie kann sie nicht finden und nicht danach handeln. Ich denke, dass ist eine rezessive Bewegung, die kann fünf Jahre dauern, zehn, fünfzehn. Aber dann wird das schon eine ganz andere Situation sein, eine ganz andere Art der Kontrolle, ein ganz anderes Leben. Das ist dann eine wesentlich freiere Situation, natürlich.“           …swabodna situazia, konjeschna.“

I, O-Ton 3: NTW-Programmusik      1,19
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Mitte Juni schlägt das Pendel erst einmal zur rezessiven Seite aus: Wladimir Gussinski, Besitzer der Media-Most wird  verhaftet, nachdem wenige Wochen zuvor bewaffnete Spezialkommandos bereits die Büroräume des Medien-Konzerns überfallen und durchwühlt hatten. Wladimir Gussinski wird vorgeworfen, sich im Zuge der Privatisierung Millionenvermögen durch Schiebung widerrechtlich angeeignet zu haben. Die Nachrichten verstehen es als Schlag gegen die Presse. Wladimir Putin, zu der Zeit zu einem Besuch in Deutschland, erklärt, er wisse von Nichts:

II, O-Ton 19: Wladimir Putin    0,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, in der Mitte Ton anhalten, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sakonnom totschna…
„Im Gesetz ist genau, klar und konkret die Sphäre der Kompetenzen des Präsidenten der russischen Föderation erklärt; die Leitung der Generalstaatsanswalt fällt nicht unter diese Kompetenz. Ich bin nicht unbedingt davon überzeugt, daß die Staatsanwaltschaft so eine Maßnahme wie Arrest ergreifen musste. Aber ich habe auch keine Veranlassung anzunehmen sagen, dass sie ungesetzlich gehandelt hätte.“izkis und danach des Polizei-Überfalles auf die Büros der Media-Most den Eindruck zu erwecken, alles vollziehe sich streng nach Gesetz. Jefgeni Kisseljow, Chef-Kommentator des NTW kommentiert in der von ihm geführten wöchentlichen Sendung „Itogi“, Ergebnisse diese Vorgänge mit den Worten:

II, O-Ton 20: Jefgeni Kisseljow     0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, Ton in der Mitte anhalten, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wosrasschajus…
„Um noch einmal auf die Staatsanwaltschaft zu kommen, möchte ich folgendes ergänzen: In der Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts gab es ein epochales Ereignis: Die Nürnberger Prozesse. Dort wurde ein fundamentales Prinzip niedergelegt: Das Vorliegen eines kriminellen Befehls enthebt die Ausführenden nicht der Verantwortung. Daran möchte ich die Staatsanwälte erinnern, die jetzt bei uns ungesetzliche Durchsuchungs- und Haftebefehle ausstellen und absurde Anklagen erfinden. Sich hinter einem Auftrag des Vorgesetzten oder einem Anruf aus dem Kreml zu verschanzen wird nicht gelingen; man wird sich verantworten müssen, früher oder später.“
…posna.“

Erzähler:
Jewgeni Kisseljow schließt mit der Mahnung, sich der Lehren der deutschen Weimarer Republik zu erinnern:

II, O-Ton 21: Jefgeni Kisseljow     1,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

„Übersetzer:
„Njemzi tejelo…
„Die Deutschen durchlebten die Niederlage des ersten Weltkrieges, den Zusammenbruch des imperialen Kaiserreiches: Inflation, Hunger, soziale Spannungen, Krise, die dazu führte, dass die Eliten glaubten, nur noch die starke Hand könne Deutschland aus dem Zusammenbruch führen. – Und bei uns? Niederlage im kalten Krieg, Zusammenbruch des sowjetischen Systems, Zerfall der UdSSR, wirtschaftliche Krise Anfang der 90ger, Inflation, politische Konflikte, Schießereien im Zentrum Moskaus, Panzer gegen das Parlament, der erste Tschetschenische Krieg, die Krise des 17. August 1998 – und genau wie damals in Deutschland verlangt die Gesellschaft nach der starken Hand, auch um den Preis der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten. Die Masse der russischen Elite ist bereit, die Macht in die Hand der lange geschmähten 3. Macht zu legen, Das sind nicht die Kommunisten, das sind nicht die Liberalen, das sind die Pragmatiker mitsamt den früheren Geheimdiensten, die bereit sind, von den Liberalen die Freiheit des Eigentums und von den Kommunisten die blutige Unterdrückung der Bürgerrechte zu übernehmen. Nur könnte es sein, dass wir alle sehr viel dafür bezahlen müssen.“
…doroga saplatit“, Musik
Erzähler:
In dieser Mahnung trifft der Kommentator des NTW sich mit unterschiedlichsten Leuten, die von dem bisherigen Sponsor Wladimir Putins, Boris Beresowski, bis hin zu zum prinzipiellen Gegner Wladimir Gussinskis, dem Chef der Kommunisten Gennadij Szuganow reichen. Sie alle äußern die Befürchtung, dass von von Wladimir Putin heute propagierte „Diktatur des Gesetzes“ morgen mit einem Gesetz zur Ermächtigung eines neuen Diktators enden könnte.
Noch sind solche Befürchtungen nur Befürchtungen. Drei Tage nach seiner Verhaftung war Wladimir Gussinski wieder auf freiem Fuß. Aber schon brachte die Staatsanwaltschaft weitere Namen potentieller Opfer der von ihnen beabsichtigten Säuberungsaktionen ins Spiel. Schon liegt ein neues Gesetz zur Erweiterung der Kompetenzen der Staatsanwaltschaft vor, nachdem gerade eben erst das System der gewählten Gouverneure durch vom Kreml eingesetzte Verwalter ersetzt wurde. Die von Wladimir Putin angestrebte Rezentralisierung des Staates nimmt erkennbare Züge an. Die Zeichen in Russland stehen auf Sturm. Die Angriffe auf die Presse sind nur Vorläufer davon.

Islam in Russland17

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Anmerkung
zu den Verbindungen zwischen den O-Tönen:
Alle Töne haben eine Ende zum Hochziehen – bei den längeren Gesprächspassagen mit mehreren O-Ton-Fortsetzungen könnte es aber auch reichen, einfach auszublenden und zum nächsten Ton überzugehen.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Islam in Russland

Die Selbstmordkommandos in Tschetschenien schrecken die Welt auf. Wie reagieren die russischen Völker? Ist der militante Islam die Antwort auf die gescheiterten westorientierten Reformen? Entwickelt sich eine Kulturfront mitten in Russland?     Wer an die mittlere Wolga fährt, nach Kasan, in die Hauptstadt der tatarischen Republik und von dort weiter nach Osten ins Innere bis in die Industriestadt Nabereschnye Tschelni an der Kama, einem Nebenfluss der Wolga, könnte dort, im Herzen Russlands, einen solchen Eindruck bekommen.
In einer mehr als 500.000 Menschen umfassenden Industrie-Agglomeration von beklemmender Plattenbautristesse, die einst von der Produktion der berühmten sowjetischen Lastwagen Marke „KAMA“ lebte,  heute aber an katastrophaler Arbeitslosigkeit leidet, verbindet ein „tatarisches Zentrum“ den Kampf um kulturelle Eigenständigkeit und Souveränität der Republik Tatarstans mit dem, auch militanten, Einsatz für die Wiedergeburt und Ausbreitung des Islam in Russland.

O-Ton 1: Frauen in der Koranschule     26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
Freimütig wird dem Gast die Koranschule vorgestellt, in der gerade eine Gruppe Frauen unterrichtet wird. „Wir lernen den Islam“, sagt die Lehrerin. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“

O-Ton 2: Koranschule, Forts.                                     559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden

Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, erklärt die Lehrerin weiter. Männer blieben für sich, Kinder ebenso. „Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“  Eine andere Frau zeigt ein Heft. „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“, „Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.

Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, sagen die Frauen. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, meint eine, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo

Erzähler:
Rafis Kaschapow, der Vorsitzende des Zentrums, ein agiler Mittdreißiger, bemüht sich anschließend, uns die Aufgaben des Zentrums zu erklären, nachdem er zuvor eine halbe Stunde lang sein Notizbuch durchtelefoniert hat, um Gesprächspartner für die ausländischen Gäste ins Zentrum zu bitten:

O-Ton 3: Rafis Kaschapow, tatarisches Zentrum    34,4
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen

Übersetzer:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre.  Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“

Erzähler:
In dieser Republik, setzt er gleich noch hinzu – der nächsten Frage zuvorkommend – sollen orthodoxe Christen, Katholiken, ebenso wie verschiedene Ethnien gleichberechtigt miteinander leben wie in anderen entwickelten Ländern.
Der Zusatz war wichtig, denn die Plakate, die im Zentrum aufgehängt sind, ebenso wie die Fotos, die er seinen Gästen zeigt, haben vor allem zwei Themen: die Unterstützung des tschetschenischen Volkes und den Kampf um die eigene Identität in einem freien Tatarstan. Der Kampf gegen die russische Kolonisation, die Rafis Kaschapow von der Eroberung Kasans durch Igor den IV., den sog. Schrecklichen im Jahre 1552 an datiert, und die Stärkung des Islam scheinen darin eine untrennbare Einheit zu sein, jedenfalls überwiegen Moscheen als Motive auf den Plakaten und Berichte vo Treffen mit „Islamischen Brüdern“ in den Erzählungen Rafis Kaschapows. Einmal im Jahr organisiert das Zentrum zudem landesweite Aktivitäten zum Gedenken an den Tag der Eroberung Kasans durch Moskau, ebenso wie mindestens einmal im Jahr einen Hilfskonvoi für Tschetschenien, humanitär, wie Rafis betont. Dabei zeigt er allerdings nicht nur Bilder von den Konvois, sondern voller Stolz auch solche, auf denen er mit den tschetschenischen Warlords zu sehen ist. Sogar Fotos der umstrittenen weiblichen Scharfschützen zeigt er vor.
Ist tatarische Identität für ihn also doch identisch mit muslimischer? Auf diese Frage antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 4: Rafis Kaschapow, Forts.     1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – das sind zur Zeit mehr als rund 20 Millionen, vielleicht nicht sehr gläubig, aber doch immerhin, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während die orthodoxen Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen klagen. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“

Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende allerdings nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatar-turkischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands  gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural  habe man geträumt, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Zaren oder später der Partei. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.

O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts.     0,22
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer:
„Idjot dawlennije…
„Es wird Druck ausgeübt von Seiten der russischen Föderation, denn je mehr Selbstbewusstsein die Völker entwickeln, je stärker die Tendenzen zur Wiedergeburt – angefangen im Kaukasus, aber auch an der Wolga bei den Tataren, Utmurten, Mari, Tschuwaschen, Baschkiren – umso eher fällt das russische Imperium auseinander.“
…russiski imperii.“

Erzähler:
Das Spektrum der Menschen, die Rafis Kaschapows Telefonaten Folge leisten und für ein Gespräch mit den Ausländern ins Zentrum kommen, ist überwältigend – es reicht vom bekannten Kulturfilmer der Region über den Gewerkschaftssekretär bis hin zu Historikern, die mit der Aufarbeitung der in den russischen Geschichtsbüchern vergessenen Geschichte des Wolgaraumes befasst sind. Das ist die Geschichte der Hunnen, deren Nachkommen hier über sieben Jahrhunderte das Reich der Wolgabolgaren beherrschten; das sind die Mongolen-Tataren, die dieses Reich der Bolgaren zerschlugen, als sie nach Westen vordrangen, und daraus das Khanat Kasan machten, bis Iwan IV. es 1552 eroberte. Es ist eine Zeit der wechselnden nicht-christlichen religiösen Orientierungen. Die Mongolen brachten den Islam, Ivan IV. eroberte Kasan im Namen des Christentums. Heute existieren an der mittleren Wolga Christentum, Islam und naturreligiöse Bekenntnisse nebeneinander.
Als letzten in der langen Reihe kündigt Rafis Kaschapow schließlich lachend einen „Wahabiten“ an. Es erscheint ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart nach Art der tschetschenischen Warlords. Er selbst stellt sich als Scheich Adin vor, Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabereschnye Tschelni. Gefragt, was er von der Charakterisierung als „Wahabit“ halte, antwortet er:

O-Ton 6: „Wahabit“ Scheich Adin     1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden

Übersetzer:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“

Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden

Übersetzer: Forts.
Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…Fundamentalistom i protsche.“

Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben. Was er darunter verstehe?

O-Ton 7: Scheich Adin, Forts.     1,16
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jesdestwenna tschelowjek…
F: Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus ist im Prinzip ein Gesandter Allahs; wir erkennen ihn als Gesandten Allahs an, der seine Gesetze gebracht hat. Vor ihm gab es sehr viele andere, zum Beispiel auch Moses. Aber der letzte Gesandte Allahs ist Mohammed. Mit Mohammed beschloss Allah seine Offenbarung. Der Koran ist das abschließende heilige Buch und bis zum heutigen Tag gibt es kein weiteres Buch von Allah. Alles was heute an Büchern erscheint wie die vom Typ Himalaja, Brahmanismus, Hinduismus usw., alles das ist schon auf dieser letzten Offenbarung begründet; das ist alles schon nicht mehr direkt von Allah. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“

Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Ob er das selbst als Fundamentalismus verstehe?

O-Ton 8: Scheich Adin, Forts.     0,53
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja nje snaju…
„Ich weiß nicht, was man unter dem Wort Fundamentalismus verstehen soll. Ich verstehe darunter, dass ein jedes Gebäude, das man bauen möchte, mit dem Fundament beginnt. Unser Fundament ist der Koran und die Sunna, das heißt, die uns überlieferten Aussprüche und Lebensgewohnheiten des Propheten  Mohammed, die als Richtschnur des islamischen Lebens gelten. Selbstverständlich sagen wir, dass es nötig ist, zum  Echten zurückzukehren, frei von den späteren Zusätzen, die jedes islamische Volk, jeder islamische Staat mit seinen Gewohnheiten hinzufügte. Das muss man alles aus dem Islam hinaussäubern und wenn die Menschheit diesen Weg geht, die ideale Gesellschaft aufbauen.“
…postroit idealno obschestwo.“

Erzähler:
Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland:

O-Ton 9: Scheich Adin     0,33
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun, my staraimsja….
„Wir bemühen uns natürlich irgendwie; man muss darüber nachdenken. Aber verstehen Sie, schon der Prophet hat vorausgesagt, dass Juda sich in 71 Sekten spalten wird, die Christen in 72 und die Muslime in noch mehr, nämlich 73. Das ist also schon Bestimmung und deshalb wird es nie geschehen, dass die Muslime sich in einer Gemeinde vereinigen.“
…adnu Ummu kakuju.“

Erzähler:
Auch in Russland nicht, setzt er hinzu. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?

O-Ton 10: Scheich Adin; Forts.     0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims –  uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumitarnom pomotschom.“

Erzähler:
Viele junge  Männer, die hinunterfuhren, kam aus dem Umkreis des Komitees, erklärt Scheich Adin, von ihnen fuhr keiner für humanitäre Hilfe:

O-Ton 11: Scheich Adin, Forts.    0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen wir Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“

Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
… olje Allacha.“

Erzähler:
All dies aber scheint Scheich Adin noch nicht ausreichend. Gut ausgehen könne der Krieg nur, meint er, wenn er insgesamt im Namen Allahs geführt werde. Bisher sei er aber ein rein kolonialer gewesen, der um Unabhängigkeit von Moskau geführt wurde:

O-Ton 12: Scheich Adin, Ende    0,18
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No, tam vot imena…
„Die eigene Mission hat das tschetschenische Volk noch gar nicht erkannt, sonst hätten schon nach dem ersten Krieg, der ihnen doch den Sieg brachte, die Gesetze Allahs eingeführt. Aber das ist leider nicht gelungen.“
310 …nje polutschilos.“

Erzähler:
In Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan will man von solchen radikalen Tönen nichts hören.

O-Ton 13: Innenstadt von Kasan    0,40
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Eine Dummheit sei dieser Krieg“ meint dieser junge Passant in der Innenstadt. „Ausdruck mangelnder Bildung.“ Man müsse sich um seine eigenen Dinge kümmern. „In Tatarstan gibt es keine Basis für Nationalismus und religiösen Extremismus“, erklären ein paar Studenten. „Wir leben hier in gemischter Ehe“, lacht dieses Paar. „Da weiß man gar nicht mehr, was woher kommt.“ Im Übrigen haben sie ihre privaten Sorgen.
…spassiba, Auto, Musik

Erzähler:
Auch im tatarischen Zentrum, das es hier in Kasan ebenfalls gibt, schlägt man leisere Töne an als in Nabereschnye Tschelni. Ja, Freiwillige für Tschetschenien gebe es, bestätigt Ildus Sadikow,  Präsident des Zentrums:

O-Ton 14: I. Sadikow, Tatarisches Zentrum, Kasan    0,41,5
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No, eta nje na…
„Aber das ist nicht auf staatlicher Ebene, das ist der Wunsch von Einzelnen, die – sei es aus religiösen, sei es aus moralischen Gründen – ihren muslimischen Brüdern helfen wollen. Unsere Organisation ist dagegen! Wir sind gegen jede Gewalt! Wir setzen unsere Kraft dafür ein, entsprechend der internationalen Rechte und denen der Verfassung zu handeln. Man darf uns allerdings auch nicht zwingen Gewalt einzusetzen – sagen wir so.
…tak gawarim.“

Erzähler:
Schon im ersten Krieg 1994 – 96 habe das Zentrum die Regierung Tatarstans aufgefordert, keine Rekruten für den Krieg zu stellen, erklärt Ildus Sadikow. Schließlich habe das tatarische Parlament ein entsprechendes Gesetz beschlossen. Jetzt im zweiten Krieg habe Moskau den Präsidenten Tatarstans, Schamijew aber gezwungen, die Verordnung zurückzunehmen, sodass jetzt muslimische Rekruten auf muslimische Tschetschenen schießen müssten. Das könne nicht ohne Folgen für die innere Situation Tatarstans bleiben, denn selbstverständlich spiele der, wie Ildus Sadikow sich ausdrückt, islamische Faktor eine bedeutende Rolle für Tatarstan:

O-Ton 15: Ildus Sadikow, Forts.      1,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W Islamje, kak wy snaetje..„
„Im Islam, wie Sie wissen, betrachten sich die Muslime als Brüder. Der Islam ist eine friedliche Religion. Zumindest der hanafizische Islam unserer Region fördert die friedliche Beziehung zwischen den Völkern. Wir haben kein Feindbild von anderen Nationen, obwohl die Russen uns bekriegt haben. Aber wir sind duldsamer als unsere Eroberer.  Was die Beziehung zwischen Tatarstan und anderen muslimischen Staaten betrifft wie Kasachstan, Usbekistan, Azerbeidschan, sogar Tschetschenien, so sind wir natürlich durch den Islam miteinander verbunden. Wir sind Anhänger des Islam! Aber ich betone noch einmal, wir sind Anhänger des friedlichen Zusammenlebens mit anderen Völkern.
Leider gibt es Leute, die sehr wenig vom Islam verstehen und ihn für ihre Ziele benutzen; ich meine den Wahabismus. Durch die Aktionen der Wahabiten in Dagestan wurden die Beziehungen zum Islam insgesamt belastet. Allerdings muss man sagen: In Saudi-Arabien gibt es auch Wahabiten, der ganze Staat ist wahabitisch, aber niemand in Russland kommt – bisher – auf die Idee, sie zu bombardieren. So gesehen hat sich das russische Zentrum also ein neues Feindbild geschaffen; es findet eine bewusste Verzerrung des Islam durch die Regierungspropaganda statt. “
… propaganda i agitatii.“

Erzähler:
Die Gründe dafür, so Ildus Sadikow, seien nicht religiöser, sondern wirtschaftlicher Natur. Das Feindbild Islam eigne sich ausgezeichnet, um den Zugriff auf die Gebiete mit großen Öl- und sonstigen Naturstoffreserven zu rechtfertigen. Interesse daran hätten nicht nur Russland, sondern auch die USA und andere imperiale und koloniale Mächte.
Noch klarer wird die Zurückhaltung im „Geistlichen Zentrum des Islam“. Das ist das höchste religiöse Organ und zugleich die Verwaltungsspitze des Islam Tatarstans. Über 1000 Moscheen, Kulturstätten und Schulen sind in diesem Zentrum durch den von ihnen gewählten obersten Mufti vertreten. Waljulla Yaghub, des Muftis Assistent, ein beleibter junger Geistlicher in schwarzer Robe, distanziert sich namens des Zentrums mit sanfter, fast unhörbarer Stimme, aber definitiv von dem, was in Russland Wahabismus genannt wird. Dies sei nicht mehr als ein Ausdruck der Unkenntnis des Islam nach den langen Jahren seines Verbotes, erklärt er:

O-Ton 16: Waljulla Yaghub,
Geistliches Zentrum des Islam in Kasan.    1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, schto kassajetsja…
„Der Wahabismus ist eine Strömung des Islam, in der Sprache von heute gesprochen, eine Sekte, die ihre theologisches Besonderheiten hat. Im Prinzip stellt sie selbst keine besondere Bedrohung dar. Jetzt breitet sie sich besonders auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion aus, wo Religion überhaupt siebzig Jahre lang verboten war und wo die dort lebenden Muslime von ihrer Religion sehr wenig wissen. So stoßen  die Rezepturen des Wahabismus auf das Unwissen vom Islam, so führt seine Ideologie zu einer Primitivisierung, das heißt zu einer Disziplinierung des Islam, was Extreme und Gewalttätigkeiten hervorbringt. Im Prinzip gibt es überall wahabitische Tendenzen, aber dort, wo der Islam nicht so heruntergekommen ist, gibt es keinerlei Exzesse. Im Kaukasus gibt es aber besondere Bedingungen, die dem Wahabismus Aufmerksamkeit verschaffen. In unserer Republik hat er praktisch kaum Einfluss. Seine Ideen verbreiten sich natürlich, aber außer in engen Gruppen junger Leute, vielleicht einige Dutzend, gibt es keine Anhänger.“
…adeptow njet.“
518… adeptow njet.“

Erzähler:
Auf Nabereschnyre Tschelni hingewiesen, von wo aus doch sogar Freiwillige für den heiligen Krieg angeworben würden, antwortet Waljulla Yaghub:

O-Ton 17: Waljulla Yaghub, Forts.    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jest, no ich otschen mala…
„Gibt es, aber sehr wenige und vor allem in der Stadt Nabereschnije Tschelni. Das ist eine künstliche, eine riesige Stadt. Sie wurde für die Produktion der KAMA-Laster praktisch aus dem Wald geschlagen. Dort versammelten sich Menschen, vor allem junge Menschen, die der KOMSOMOL, der kommunistische Jugendverband dorthin organisiert hatte. Da gibt es keine ältere Generation. Es kamen nur die Komsomolzen. Sie bekamen Kinder, so leben dort heute nur junge Leute. In Kasan, wo die Strukturen nicht zerstört sind, gibt es unter den jungen Leuten praktisch keine Wahabiten. In Nabereschneje Tschellni gibt es sie. Aber die Gründe sind nicht vornehmlich religiös, sie liegen in den sozialen Strukturen, in dem Verfall der Generationsbeziehungen, der sozialen Harmonie. Es steht alles sehr scharf: AIDS, Prostitution, dort ist natürlich auch der Wahabismus.“
… tosche tam jest.“

Erzähler:
Noch mehr als zuvor schon der Vorsitzende des Kasaner tatarischen Zentrums bemüht sich auch Waljulla Yaghub darum, die Bereitschaft des Islam zu Koexistenz hervorzuheben und dem Eindruck einer entstehenden Front zwischen Islam und der christlichen Welt entgegenzutreten. Auf die Frage, worin sich das „Geistliche Zentrum des Islam“ vom Patriarchat der russischen Kirche unterscheide, antwortet er:

O-Ton 18: Waljulla Yaghub, Forts.    0,40
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, demokratitschni patriarchat…
„Nun, es ist ein demokratisches Patriarchat. Bei uns ist die ganze Hierarchie gewählt: die Imams in den Moschen werden von den Gläubigen gewählt, in den Regionen die Mufti, die allgemeine republikweite Versammlung der regionalen Muftis wählt den obersten Mufti. 1998 wart bei uns die letzte Versammlung. Es gab sechs Kandidaten, aus deren Reihe der jetzige oberste Mufti in geheimer Wahl bestimmt wurde – also alles analog, aber alles in demokratischer Weise.“
…demokratitschnom putjom.“

Erzähler:
Kooperation mit dem Staat, Kooperation mit der christlich orthodoxen Geistlichkeit, Koexistenz des tatarisch-islamischen Teils der Bevölkerung mit dem christlichen, das sind die Maximen, von denen das „Geistliche Zentrum des Islam in Kasan“ sich leiten lasse, erklärt Waljulla Yaghub. Zur Begründung greift auch er tief in die nationale Geschichte: Seit dem vierzehnten Jahrhundert lebten Russen und Tataren miteinander, das heiße im Kern, Christen und Muslime; mit der russischen Kirche habe man zudem die gleiche Leidensgeschichte während der Sowjetzeit; der Zusammenbruch des sowjetischen Regimes hinterlasse ein geistiges und moralisches Vakuum, bei dessen Auffüllung der Staat auf die Hilfe der Geistlichkeit, muslimischer wie christlicher angewiesen sei; die Bevölkerung habe es gelernt, sich gegenseitig zu akzeptieren, ja, christliche und islamische Kultur hätten sich zu einer eigenen tatarischen Kultur miteinander verbunden. Deshalb, so der Mufti, gebe es für die Tataren keinen anderen Weg als russische Moslems zu sein.
Auf die Frage, ob er diese Art des Zusammenlebens als Modell verstehe, antwortet Waljulla Yaghub:

O-Ton 19: Waljulla Yaghub, Forts.    1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My otschen chatim, schtoby…
„Wir hätten es sehr gern, dass unser Beispiel ein Modell wäre oder irgendwie ein Vorbild, weil – wie Sie richtig bemerken – eine solche Erfahrung einzigartig ist. Wir kennen die spanische Erfahrung, wo die Mohammedaner nicht mit den Christen leben konnten und vernichtet wurde. In Russland versuchte man ebenfalls uns zu vernichten, das ist zweifellos klar, im Laufe von zwei, drei Jahrhunderten. Aber am Ende des 18. Jahrhunderts unter Katharina II., sie war ja übrigens Deutsche, wurde der Islam legalisiert. Vor Katherina II. war es verboten, Moscheen zu bauen, sie wurden immer wieder zerstört. Sie wurden aus Holz gebaut, dann kamen russische Soldaten und brannten sie ab. Über dreihundert Jahre war der Islam verboten. Aber seit Katharina II., der wir sehr dankbar sind und die in unserer Folklore sogar Großmütterchen genannt wird, den Islam, legalisierte, ihm eine geistliche Verwaltung hab, den Mufti zum Kopf der islamischen Hierarchie in Russland ernannte, haben wir sehr interessante Erfahrungen im Zusammenleben gesammelt. Das kann man vielleicht als Muster für alle anderen Länder nutzen, wo  Mohammedaner und Christen aneinandergrenzen, wo diese beiden Zivilisationen sich treffen.“
…wot eta dwe Zivilisazii.“

Erzähler:
Schön wäre es, in der Tat! In der Theorie stimmen damit auch die Hitzköpfe aus Nabereschnye Tschelni überein. Aber selbst dieser auf Kooperation und Koexistenz bedachte Mufti kann nicht verschweigen, dass das Modell Tatarstan keineswegs gänzlich verwirklicht und erst recht nicht verbindlich für ganz Russland ist. Auf gesamtrussischer Ebene hat die russisch-orthodoxe Kirche faktisch die Stelle einer Staatskirche eingenommen, für den Islam gilt das nicht. Von einer Gleichberechtigung zwischen russischem Islam und russisch-orthodoxer Kirche kann keine Rede sein:
Diese Tatsache bewegt Waljullla Yaghub zu dem Zugeständnis:

O-Ton 20: Walyulla Yaghub, Forts.    1,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„I wot eta nas otschen…
„Das ist etwas, was uns sehr beunruhigt und wir setzen uns dafür ein, dass nicht zu imperialen Methoden zurückgekehrt wird, dass die orthodoxe Kirche sich nicht zur Staatskirche entwickelt, sich nicht, sagen wir, in russischen Verwaltungsbezirken in extremer Ablehung zu den Moscheen entwickelt. Wir kennen solche Vorfälle in Murmansk, wo der Bau von Moscheen mit Bulldozern verhindert wurde. Das ist unakzeptabel! In Wolgograd wurde der Bau einer Moschee verboten. In der Nähe Moskaus gibt es Städte, wo nach von zwanzig Jahren noch keine Erlaubnis für den Bau von Moscheen erteilt wurde. Das gibt es alles. Aber in unserer Republik gehen wir ganz klar diesen Weg nicht. Und in unserer Republik wird das Vermögen nicht ungerecht aufgeteilt, sondern gleichermaßen beiden Seiten zugeteilt. Wir setzen uns selbstverständlich dafür ein, dass die Russische Föderation in nächster Zeit nicht den Weg des Isolationismus gehen wird, sondern sich an die Vorbilder der allgemeinen europäischen Werte hält.“             …obsche ewropeski zenosti.“

Erzähler:
Diese Kritik gilt dem neuen russischen Präsidenten Wladimir Putin, dessen tschetschenischer Krieg im „Geistlichen Zentrum des Islam von Kasan“ ungeachtet seiner Verurteilung der Exzesse der tschetschenischen Warlords auch als Krieg gegen eine muslimische Bevölkerung verstanden wird:

O-Ton 21: Waljulla Yaghub, Forts.    0,53
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzen:
„Nu, my konjeschna protif…
„Wir sind natürlich gegen solche Methoden. Und wir haben im Namen des `Geistlichen Zentrums´ protestiert. Wir halten diese gewaltsame Vorgehensweise nicht für richtig, nicht diese doppelten Maßstäbe: Was die Banditen betrifft, die gibt es nicht nur in Tschetschenien. Banditen gibt es auch in St. Petersburg; wir nennen sie die kriminelle Hauptstadt Russlands. Dort agiert eine organisierte kriminelle Gesellschaft. Warum wird dann St. Petersburg von niemanden bombardiert und nicht in Dresden verwandelt? Dieser doppelte Maßstab der Politiker ist eine Tragödie für das tschetschenische Volk und es wäre Heuchelei zu sagen, dass man die Tschetschenen nicht auch deswegen bombardiert, weil sie Mohammedaner sind.“        ..potamuschto ani Muselmani….(nuschelt)…eta tosche jest.“

Erzähler:
Die Sprache des Terrors hat, wie man hört, auch in die Rede der Gemäßigten Einzug gehalten. Eine einheitliche Islamische Front gegen Wladimir Putin oder gar gegen den Westen werde es aber nicht geben, schließt Waljulla Yaghub. Zu groß seien die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen des Islam:

O-Ton 22: Waljulla Yaghub, Forts.
2000/4 , Band 6, S. B, 014
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„Wy snaetje…
„Die islamische Konfession ist ihrer Natur nach demokratisch, wie ich gesagt habe, ihre ganze Hierarchie ist eine wählbare. Einer der Gründe dafür ist vermutlich die unbezweifelbare Zersplitterung des Islam. Sogar im Rahmen Russlands sind wir zur Zeit nicht in der Lage uns zu vereinigen. Bei uns existieren mehrere höhere Muftis und unter ihnen solche, die sich gegenseitig als Feinde hassen. Gott sei Dank können wir uns im Rahmen der Republik vereinigen! In der sowjetischen Zeit gab es zwei Lehranstalten, in denen Lehrpersonal ausgebildet wurde, das mittlere Institut in Buchara und das taschkentische Islamische Institut, beide in Usbekistan. Deshalb kommt also die ganze höhere Geistlichkeit des Islam aus der früheren UdSSR; sie sind Klassenkameraden, kann man sagen, sie kommen alle aus einer Alma Mater. Auf persönlicher Ebene gibt es daher Beziehungen, aber nur da. Arbeitskontakte gibt trotzdem es leider überhaupt nicht.“
… sawsjem njet.“

Erzähler:
Für den Kaukasus gilt das Gleiche. Der südliche kaukasische Islam zerfällt in vier sunnitische Richtungen. Tataren und Baschkiren gehören zur Hannafizischen Richtung, die nördlichen Kaukasier sind Sufisten. Die theologischen Unterschiede zwischen ihnen sind so groß, dass sich enge Kontakte zwischen ihnen verbieten. Verbindungen und Treffen finden auch hier auf persönlicher Ebene statt.
Eine Ausweitung des „heiligen Krieges“ aus den tschetschenischen Bergen auf ganz Russland, auf Europa oder gar auf den gesamten Westen, heißt das, ist schon deswegen eine blanke Fiktion. Dazu kommt, dass auch in Tschetschenien nicht nur Muslime leben; andererseits ist Russland ist in seinem Kernbestand an der Wolga zur Hälfte muslimisch, Russlands Südflanke von wird von muslimischen Nachbarn gebildet. Eine Entmischung nach konfessionellen Zugehörigkeiten ist nicht möglich. Deshalb gibt es, um die Worte Waljulla Yaghubs aus Kasan zu variieren, für Russland keinen anderen Weg als das tatarische Modell zu akzeptieren und damit ein Zeichen für die mögliche Koexistenz zwischen Christen und Muslimen zu setzen.

Der mongolische Vorhang – Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der mongolische Vorhang –

Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?

Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanität? – Solche Eingrenzung der Fragen ist ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.

Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.

Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.

Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.

An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.

Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

Russlands Wahl: Gibt es eine Opposition zu Putin?

Am 26.3. wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Das Wahlergebnis scheint bereits festzustehen: Nicht um Programme unterschiedlicher Kandidaten wird diskutiert, sondern für oder wider Wladimir Putin: Was bringt der Mann, der durch den Krieg in Tschetschenien populär wurde, für die Zukunft? Fortsetzung der Reformen, Abwendung vom Westen oder beides zugleich? Die Erwartungen sind so geteilt wie sein Programm offen nach allen Seiten ist. Gibt es eine Opposition gegen den neuen starken Mann? Parlamentarisch? Außerparlamentarisch? Wie setzt sie sich zusammen? Über diese Fragen berichtet Kai Ehlers direkt aus Moskau.

*
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies; das Überspielband beginnt mit B

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann am besten eine von den Einführungsszenen der Kundgebung.

Russlands Wahl:
Gibt es eine Opposition gegen Wladimir Putin?

O-Ton 1 A: Kundgebung der  Kriegsgegner     1,35
Regie: Musik langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Moskau. Vorwahlzeit. Ein „Antimilitaristisches Komitee“ hat zu einem „Meeting“ gegen den Krieg in Tschetschenien aufgerufen. Rund zweihundert Menschen versammeln sich unter einem Denkmal von Karl Marx in der Innenstadt. Spruchbänder und Tragschilder fordern den Schutz der Menschenrechte, warnen vor einer KGB-Diktatur; vereinzelt sind auch rote Fahnen zu sehen. Hauptadressat des Protestes ist Wladimir Putin. Er wird verantwortlich gemacht für den Krieg. An ihn, obwohl bisher nur vorübergehend amtierender Präsident, richten sich die Forderungen für eine sofortige Beendigung des Krieges und den Aufbau einer zukünftigen Zivilgesellschaft in Russland, als wäre die Wahl für den neuen Präsidenten schon entschieden. Gibt es keine Alternativen zu Putin? Oder entsteht doch eine neue Opposition? Ein Teilnehmer der Kundgebung, der sich als Mitglied einer „Vereinigung für revolutionäre Kontakte“ vorstellt, antwortet auf die Frage, was er zu diesem Problem denke:

O-Ton 1 B: Junger Mann     0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Musik, Snaetje, ja nje dumaju…
„Wissen Sie, ich denke nicht nur, dass es eine Opposition geben wird, ich weiß, dass es sie bereits gibt: Wir sind es! Ich zum Beispiel stehe in
Opposition zu Putin; die Leute da drüben ebenfalls. Wir können Ihnen gleich einen Flugzettel geben, den wir gegen Putin geschrieben haben.  Im Moment ist die Opposition gegen ihn klein, das ist ein Fakt. Bedauerlich. Aber Putin selbst wird dafür sorgen, dass sie wächst, Je stärker er seine Politik gegen das Volk richten wird, umso stärker wird die Position der Bevölkerung gegen ihn werden.
…0pposizia narodow.“, Musik

O-Ton 2 A: Weiterer Teilnehmer des „Meetings“    0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Budit, li…
„Ob es eine Opposition gegen Putin gibt? Ja, wird es wohl, wenn Putin den anderen Kräften weiterhin so wenig Raum lässt“, meint dieser Mann. Er ist gekommen, um gegen die Einschränkung der Pressefreiheit zu  protestieren, die sich an der Festsetzung des Kriegsberichterstatters Babizki durch die Armeeführung zeige. „Ich bin ebenfalls Journalist“, meint er, „wenn auch kein politischer. Morgen kann es mich treffen wie schon früher, als man nicht die Wahrheit über die Genforschung sagen durfte.“ Aber ob Putin wirklich den Kurs fortsetzen werde, den er jetzt eingeschlagen habe? „Er hat bisher kein Programm“, meint der Mann, “es ist alles nicht so ganz klar.“
…nje otschen.“ Trommeln

O-Ton 2 B: Trommeln    0,22
Regie : O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Die Trommeln  führen zu einer Gruppe gelbgekleideter buddhistischer Mönche, junge Russen mit einem japanischen Lehrer. Man sieht sie auch ohne Anlass mit ihrer Trommel durch Moskau ziehen. Heute verstehen sie sich als Bestandteil des „Meetings“. Bereitwillig erklärt der japanische Meister ihre Motive:

O-Ton 3 A: Buddhistischer Mönch     0,30
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We as buddhistic…
„Wir als buddhistische Mönche können nicht akzeptieren, was in Tschetschenien geschieht. Das ist ein wirkliches Verbrechen, ein sehr beschämendes Verbrechen gleich zu Anfang des 21. Jahrhundert. Und wir schließen uns diesem Meeting mit der Forderung an: Stoppt den Krieg in Tschetschenien! Hört auf die Menschen dort zu töten!“
… Tschetnja“, Musik

O-Ton 3 B: Plakatträger    1,00
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Eta moi litschni..
Dieser Mann hat sich ein Zitat von Montesquieu auf sein Tragschild geschrieben. „Die schlimmste Tyrannei“, übersetzt er, „ist diejenige, welche unter dem Zeichen des Gesetzes und der Flagge der Gerechtigkeit daherkommt.“ Was man denn wohl unter Diktatur des Gesetzes verstehen solle, die Putin ankündige? fragt er. Nur bei den Faschisten habe es so etwas gegeben. Selbstverständlich werde es eine Opposition gegen Putin geben! Es müsse sogar mehrere Oppositionen geben. Seine Partei, die „Pazifistische Assoziation“ gehöre dazu. Ja, und auch die Buddhistische Bewegung, natürlich.
…dweschennije”, Trommeln

Erzähler:
In einer Gruppe älterer Frauen ist man nicht so zuversichtlich. Die Frauen wettern gegen Wladimir Putins Kriegspolitik, gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Zusammenarbeit Putins mit den Kommunisten in der Duma. Sie fürchten eine neue KGB-Herrschaft. Schließlich komme Putin doch von dort. Doch an die Möglichkeit, dass eine Opposition gegen den neuen starken Mann entstünde, glauben sie nicht:

O-Ton 4 A: Frauengruppe    0,30
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, der Übersetzerin unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje budit…
„Nein, die wird es nicht geben“, meint eine der Frauen. „Bei der Uneinigkeit der Kräfte!“ ergänzt eine andere. „Leute, die wirklich verstehen, was in unserem Land heute geschieht, gibt s nur sehr wenige“, setz die erste fort.“ Da gibt es keinen wirklichen Weg. Aus meiner Sicht ist das einzig Richtige: Gegen alle zu stimmen. Ich kann keinen von denen unterstützen.“
… paderschewaju“, Musik

Erzähler:
In den Beiträgen vom Podium wird Klartext gesprochen. Das Wort zur Eröffnung hat die Rangälteste unter den sogenannten Menschenrechtsgruppen, Memorial. Bei Einsetzen der Perestroika Anfang der 1980er entstand die Gruppe direkt aus dem dissidentischen Untergrund heraus. In den Jahren unter Gorbatschow und Jelzin wuchs Memorial zu einer moralischen Instanz des neuen Russland heran, insbesondere durch ihre Aufarbeitung des Stalinismus. Jetzt sieht sich die Organisation wieder an den Rand gedrängt. Ihr Sprecher, Oleg Orlow, findet scharfe Worte gegen den aktuellen Kurs der Regierung, speziell gegen Wladimir Putin:

O-Ton 5 A: Oleg Orlow, Memorial    1,00
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nassilije, krow, losch…
„Gewalt, Blut, Lüge – ein Weg von der Unfreiheit zur Unfreiheit, von Imperium zu Imperium, vom zaristischen Imperium zum kommunistischen, vom kommunistischen zum heutigen, dem putinschen. Die letzten Ereignisse könnten uns dahin bringen zu glauben, dass Russland nicht fähig sei, aus diesem entsetzlichen Hexenkreis herauszutreten. Stattdessen sind wir aber hierher gekommen, um Nein zu sagen zu diesem Wahnsinn! Das `Antimilitaristische Komitee´, das dieses Meeting heute organisiert, vereint zwanzig politische Organisationen. Wir mögen in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, aber in einem sind wir einig: in der Forderung, diesen verbrecherischen Angriffskrieg sofort zu beenden.
… etu prestubnu woinu.“

Erzähler:
Von einem Angriffskrieg spreche er deswegen, erklärt der Redner, weil ein ganzes Volk mit Krieg überzogen und aus seiner Heimat vertrieben werde,  statt dass mit den Verbrechern tatsächlich aufgeräumt werde.
Von einem Angriffskrieg und von bewusster Irreführung der Bevölkerung durch die Regierung Putins, insbesondere durch die in Tschetschenien kriegführende Generalität, spricht auch der nächste Redner. Es ist eine offizielle Stimme, Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten:

O-Ton 6 A: Waleri Barschiow, Menschenrechtler    2,00
Regie:  O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,
bei 117 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dorogie drusja…
“Liebe Freunde, man hat uns anfangs gesagt, dass eine anti-terrorististische Operation durchgeführt werde. Natürlich haben wir alle diese Operation unterstützt, denn alle waren daran interessiert, dass dem Banditismus in unserem Lande endlich ein Ende bereitet wird. Man hat auch noch zugestimmt, als es hieß, dass ein sanitärer Kordon dafür nötig sei, dass das Militär den Terek überschreiten müsse. Aber das waren alles Lügen! Die Terroristen machten in aller Ruhe, was sie wollten; Bassajew zelebrierte in aller Seelenruhe eine Hochzeit mitten in Grosny, während rund herum unsere Truppen standen. Er lebte und war gesund und um ihn herum starben friedliche Einwohner. Nicht Banditen wurden in Tschetschenien verfolgt, sondern die  zivile Bevölkerung terrorisiert. Mitglieder der Sondertruppe ALPHA wurden kürzlich gefragt, ob sie in der Lage wären, den Auftrag zur Liquidierung der Terroristen zu erfüllen. `Ja, das könnten sie´, antworteten sie, `wenn ihnen eine solche Aufgabe gestellt würde; aber niemand habe ihnen eine solche Aufgabe gestellt.´“

Erzähler:
Nicht gegen den Terrorismus, sondern gegen den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft werde dieser Krieg geführt, fährt er fort und schließt mit den Worten: „Unser Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat das Land dem Militär eine Weiße Karte ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
…Faschism“, Beifall

Erzähler:
Starke Worte findet Ludmilla Wrassowi vom Komitee der Soldatenmütter Russlands. Das Komitee erfreut sich starker moralischer Autorität, die noch aus ihrem erfolgreichen Widerstand gegen den ersten tschetschenischen Krieg von 1994 – 96 herrührt. Damals holten vom Komitee unterstützte Mütter ihre Söhne direkt aus dem Kampfgebiet nach Hause. Solche Aktionen sind heute nicht möglich. Heute sieht sich das Komitee darauf beschränkt, die künstlich niedrig gehaltenen offiziellen Opferstatistiken durch Angaben nach eigenen Recherchen zu korrigieren und durch Veröffentlichung der wirklichen Opferzahlen der Kriegsbereitschaft entgegenzuwirken:

O-Ton 7 A: Komitee der Soldatenmütter
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 113 vorrübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Nas wosmuschajet…
“Uns empört, dass dieser Krieg gegen unsere eigenen Bürger durch die Hände unserer Söhne geführt wird, achtzehn- und zwanzigjähriger Jungs. Uns empört, dass es unsere Kinder sind, die zehntausenden friedlichen Menschen den Tod bringen. Und das Erschreckendste: Sie lernen zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben im eigenen Land! Nach Kriegsrecht darf so etwas nirgends geschehen, aber besonders schlimm ist es, wenn es mit unseren eigenen Einwohnern geschieht. Wir sind kategorisch gegen eine Fortsetzung dieses Krieges! Wir sehen doch, wie diese Jungs zurückkommen. Der Staat lässt sie allein: keine Prothesen, keine medizinische Hilfe, keine Rehabilitierung, Pensionen zum Verhungern. Wenn solche Menschen, unfähig, ein eigenes Leben zu führen, dennoch eine Familie gründen – was bringen sie ihren Kindern bei?! Unterdrückung Anderer! Mißachtung der Menschenwürde! Was wird das für eine Gesellschaft!? Deswegen fordern wir von der Regierung, diesen Krieg einzustellen: Hört auf die jungen Männer Russlands zu vernichten.“

Erzähler:
„Und noch etwas“, fährt sie fort, „wenn wir eine professionelle Armee fordern, dann wird uns seit Jahren geantwortet, es gebe kein Geld, Russland sei wirtschaftlich nicht bereit, zu einer Berufsarmee überzugehen. Da möchte man fragen: Aber für diesen Krieg waren die Milliarden da?! Und für den vorherigen auch?! „Veranlassen wir also unsere Regierung, das zu tun, was wir wollen!“ schließt die Rednerin, „damit wir gesunde, junge Leute haben, glückliche Familien und gesunde Jugendliche. Anders wird Russland keine Zukunft haben.“
… buduschewa.“, Beifall

Erzähler:
Ganz aus der Deckung wagt sich Nicolai Kramow, der sich als Sekretär einer „Antimilitaristischen radikalen Assoziation“ vorstellt. Die Assoziation ist eine kleine Organisation, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Ungeachtet möglicher drastischer Folgen, die er zuvor beschreibt, ruft Kramow öffentlich zur Verweigerung des Kriegsdienstes auf:

O-Ton 8 A:Nikolai Kramow, Kriegsdienstverweigerer     0,40
Regie: (Achtung O-Ton sehr knapp!) Kurz stehen lassen, abblenden,  unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Beifall, “Nas otschen mala…
“Wir sind sehr wenige, umso wichtiger ist die Mission, die wir haben: Deshalb appelliere ich an alle Einberufenen, an alle jungen Bürger im einberufungsfähigen Alter: Verweigert den Kriegsdienst aus Überzeugung! Ich appelliere an alle Offiziere, Reservisten, Wehrpflichtige, die jetzt eingezogen werden sollen, um die Lücke in der Armee aufzufüllen, welche durch die Politik im Kaukasus geschlagen wurde: Verweigert Euch aus Überzeugung! Krieg in Tschetschenien – ohne uns, bitte!
… bes nas paschalsta!“

Erzähler:
Nikolai Kramow hat recht: Zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einer Kundgebung gegen den Krieg, zu der mehr als zwanzig Organisationen aufgerufen haben und die bekannt gemacht wurde durch den vielgehörten Stadtsender „Echo Moskaus“ – das ist ein mageres Ergebnis. Da ist man nahezu unter sich. Zu Zeiten des ersten Krieges in Tschetschenien waren es mehr Menschen, die protestierten, ganz zu schweigen von den Massendemonstrationen für Perestroika in den Zeiten Gorbatschows, der Volksbewegung für die Verteidigung des „Weißen Hauses“ gegen den versuchten Staatsstreich der alten Parteinomenklatuta 1991, der Boris Jelzin an die Macht brachte.
Nicht ein Vertreter aus den Reihen der Parlamentsparteien, nicht einer derer, die mit Wladimir Putin um den Präsidentensessel konkurrieren, ist dem Aufruf gefolgt. Allerdings hält sich auch die Polizei vollkommen zurück. Nur die Lauscher des Inlandgemeindienstes demonstrieren offen ihren Einsatz; ihre sichtbare Präsenz genügt der Regierung offenbar zur Einschüchterung. Die herrschende Politik, Duma ebenso wie die Regierung Putin, einschließlich der Verwaltung der Stadt Moskau, straft die Versammlung mit Nichtbeachtung.
Nur einer aus der Reihe der etablierten Politiker, Grigori Jawlinksi, Chef der westlich orientierten Partei „Jabloko“, einer aus der Reihe der elf Konkurrenten Wladimir Putins um den Sessel des Präsidenten, lässt noch eben vor Schluss der Veranstaltung ein Telegramm aus der nur 200 Meter entfernten Duma an die Versammelten übermitteln. Die Leiterin der Veranstaltung liest vor:

O-Ton 9 A: Telegramm von Grigori Jawlinski     1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,45 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Drusja…
„Freunde, ich verstehe diejenigen gut, die zu diesem Meeting gekommen sind.  Ich tue alles, um diesen Krieg anzuhalten, den sinnlosen und grausamen. Verbrechern und Banditen muss das Handwerk gelegt, aber das Volk muss geschützt werden. Die Soldaten sollen lebendig nach Hause zurückkehren und mit reinem Gewissen. Unterschrift: Grigori Jawlinksi.

Erzähler:
Die Kundgebung endet mit der Aufforderung an die Versammelten, sich an der Organisation einer Unterschriftenliste zu beteiligen, die ein Ende des Krieges fordert und zur Kriegsdienstverweigerung aufruft. Danach werden hundert blaue Lufballons als Boten des Friedens in den kalten Moskauer Spätwinter-Himmel entlassen:
…tri, tschetirije!“, Beifalll

Erzähler:
Wenige Tage nach der Kundgebung veröffentlicht die Partei Jawlinskis, „Jabloko“, selbst einen Aufruf gegen den Krieg. Die Staatsmacht, allen voran der ungeliebte, aber unbestrittene Champion der bevorstehenden Präsidentenwahl, Wladimir Putin, zeigt sich indessen von solchen Protesten ganz unberührt. Die kritischen Töne, vor allem aber die in der Bevölkerung aufkommenden Ängste vor einer Rückkehr zum KGB-Staat oder auch vor dem Übergang zu einer zur Diktatur der Reichen kontert Wladimir Putin mit populistischen Auftritten an den verschiedensten Orten des Landes, bei denen er allen alles verspricht. Zu besten Sendezeiten füllen seine Auftritte die Programme aller, selbst der kritischeren Fernsehanstalten.
Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Besuch Wladimir Putins im fernen sibirischen Irkutsk. Dort habe der „Amtierende“, wie er im Sprachgebrauch der russischen Medien genannt wird, nach Ansicht politischer Kommentatoren erstmals programmatische Perspektiven erkennen lassen, die über seine bei Amtsantritt Anfang 2000 im Internet veröffentlichten Absichtserklärungen, kollektive Traditionen des Landes mit Marktwirtschaft irgendwie verbinden zu wollen, hinausgehe. Vor Studentinnen und Studenten der Irkutsker Universität beantwortete Wladimir Putin Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 10 A : Wladimir Putin    0,15
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß., hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes beliebige Programm muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa.“

Erzähler:
Zur Frage von Diktatur oder Demokratie beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 11 A: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana..
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, den Kommunismus, jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Entwickeln soll diese Perspektiven eine Strategiekommission, in die Wladimir Putin vornehmlich liberale Intellektuelle aus seinem St. Petersburger „Kommando“, wie man in Russland sagt, berufen hat. Anlässlich des Besuches einer Ausstellung von Bildern in Irkutsk, welche Kinder zum Thema Zukunft gemalt hatten, empfahl der „Amtierende“ dem Leiter dieser Kommission, German Gref, vor laufender Kamera schließlich noch, sich in seiner Arbeit an den Fantasien der Kinder zu orientieren. Nicht wenige von ihnen, so wurde dem Fernsehpublikum gleich darauf mitgeteilt, haben sich als Helden gemalt, die, bewaffnet mit MG, die Gesellschaft von Räubern und Banditen befreien.

O-Ton 12 A: Gemurmel, Klavier    0,30
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen, mit Klavier hochziehen, (noch vor ersten Worten) abblenden

Erzähler:
Ansage, Klavier….
Mit einer Referenz an die Intellektuellen, die immer die ersten bei Reformen, aber oft auch, wie die nach seinerzeit nach Sibirien verbannnten Dekabristen, deren Leidtragende seien, endete dieser Aufftritt Wladimir Putins in Irkutsk.
…Klavier

Erzähler:
Angesichts solcher Auftritte überrascht es kaum, wenn Juri Lewada, altgedienter Chef des zentralen Meinungsfroschungsinstituts (WZIOM) in Moskau, der schon die Regierung Gorbatschows, dann Jelzins mit Daten zur Volksmeinung versorgte, die Situation so beschreibt:

O-Ton 13 A: Juri Lewada
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    1,20
“Opposizia jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Das heißt, die Frage stellt sich anders, nämlich, ob es eine organisierte Opposition gibt. Wird sie so stark sein, dass sie bemerkbar wird? Nach den gegenwärtigen Daten der letzten Zeit ist eine solche Opposition nicht erkennbar. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
546 ..sawjedoma.“

Erzähler:
Gründe für diese Situation liegen nach Lewadas Erkenntnissen darin, dass trotz nicht mehr zu verheimlichender steigender Opferzahlen nach wie vor 60% der Bevölkerung den Kriegskurs Wladimir Putins bis zu einem „siegreichen Ende“ unterstützen. Dagegen habe keiner der übrigen Kandidaten eine Chance. Anwärter wie Luschkow, Primakow, Tschernomyrdin hätten sich daher zurückgezogen. Wer trotzdem gegen Putin antrete wie Szuganow, der Kandidat der Kommunisten, wie Jawlinski tue das aus anderen Gründen, vielleicht aus langfristigen Erwägungen, jedenfalls nicht um jetzt Präsident zu werden. Das gelte umso mehr noch für Kadidaten wie Schirinowski. Noch wesentlicher aber sei möglicherweise, dass die Bevölkerung – die Politiker eingeschlossen – Putin als Blackbox erlebe, als Mr. Nobody, dessen einziges Geheimnis vielleicht darin bestehe, dass er keins habe. Aber wer wisse das schon?
Und so stellten sich eben offensichtlich alle darauf ein, abzuwarten und zu sehen, was für sie in dieser Box liegen könnte.
Viel Gutes sei von einem Mann, der durch den Krieg an die Macht gekommen sei, allerdings nicht zu erwarten; andererseits auch nicht viel Neues:

O-Ton 14 A: Lewada, Forts.    1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei  0,35 vorübergehend hochziehen (sodaß man das Stöhnen hört) weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
“Ponimaetje, nitschewo…
„Verstehen Sie, nichts kommt von Nichts. Natürlich ist Putin ein anderer Typ Mensch als Jelzin und auch als Gorbatschow. Aber er fällt ja nicht vom Himmel. Er wurde von der Situation hervorgebracht, die sich bei uns entwickelt hat. Deshalb wird er sie also fortsetzen – oder irgendetwas zerstören. Im Moment zerstört er das Bild Russlands in der internationalen Meinung, das ist offensichtlich, und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Viel aber kann er auch wieder nicht zerstören, denn er kein unabhängiger Mensch. Er wurde letztlich doch von denselben Händen aufgezogen und geformt, in denen Jelzin sich befand, Kräfte, die aus dem Hintergrund kommandieren, Bankiers, die regieren oder sonst noch Leute, die Einfluß nehmen. Aber es sind auf jeden Fall dieselben Leute.“
…tesche samije ludie.“

Erzähler:
Die Ankündigungen Wladimir Putins, eine neue Staatsmoral aufbauen zu wollen, beantwortet Juri Lewada mit müder Gelassenheit:

O-Ton 15 A: Lewada, Forts.    0,30
Regie: O.Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnogim nrawitza…
„Vielen gefällt es, dass bei uns alles stromlinenförmig werden könnte. Aber ich glaube nicht, dass etwas daraus wird. Doch schauen wir; Teile werden vielleicht verwirklicht. Und was die Zukunft betrifft: Wer versuchen zu überleben! Wir haben schon viel überlebt; versuchen wir es wieder! Das wird harte Kost sein für das Land, für die Menschen, aber irgendwie werden wir es lernen.“
319…  utschitsja“

Erzähler:
Im Hauptquartier der Gegner Putins, in der Fraktion der Kommunistischen Partei, will man von solchen Tönen nichts hören. Auf die Frage, warum Gennadij Szuganow, der Sekretär der Kommunistischen Partei, gegen Wladimir Putin antrete, obwohl man überall höre, dass er sich keine Chancen auf einen Sieg ausrechnen könne, antwortet Andrej Filippow, Beauftragter der Fraktion für internationale Beziehungen:

O-Ton 16 A: In der Fraktion der KPRF    0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Jestdestwena…
“Natürlich haben wir unseren Kandidaten für diese Wahlkampagne ausdrücklich deswegen aufgestellt, weil wir in der Opposition sind. Wir wollen zeigen, dass ein beachtenswerter Teil unserer Bevölkerung mit dem gegenwärtigen Kurs der Regierung nicht einerstanden ist. Und wir hoffen natürlich, dass wir keine schlechte Resultate erzielen, andernfalls bräuchten wir nicht anzutreten: Wir nehmen an den Wahlen Teil, um zu siegen.
…schtobi pobeschdat.“

Erzähler:
Anrdej Filippow erinnert daran, dass 1996 auch Jelzin erst nach dem zweiten Wahlgang gesiegt habe, nachdem Alexander Lebed, der seinerzeit als dritter durch Ziel ging, Jelzin seine Stimmen zuführte. Etwas ähnliches werde es diesesmal aber nicht geben, denn einen vergleichbaren Kandidaten, der bei einer eventuell. notwendigen Stichwahl mit Wladimir Putin in ähnlicher Weise koalieren könne, werde es diesesmal nicht geben. Lebed selbst habe verzichtet; für den dieses mal möglichen Anwärter eines dritten Platzes, Grigorij Jawlinski sei  eine Koalition mit Putin undenkbar. Also, müsse man sich durchaus auf ein Kopf an Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Konkurrenten, Putin und Szuganow einstellen. Hinter dem einen stehe die gegenwärtige Partei der Macht, die vor der Duma-Wahl im Dezember aus dem Nichts geschaffene Partei „Einheit“; auf der anderen stünden solide 30% kommunistischer Stammwähler. Dazu kämen noch die Verbündeten der „patriotischen Front“. Das, versichert Filippow, seien doch die allerbesten Voraussetungen für einen Sieg, oder nicht?
In einem allerdings sieht Filippow ernsthafte Schwierigkeiten, die große Herausforderungen an seine Partei stellten:

O-Ton  17 A: Filippow, Forts.     1,35
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun dela w`tom…
“Nun, das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muß es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. Man hat unsere Losungen übernommen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Eine andere Sache ist, dass der Inhalt ein anderer ist. Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn man ihn reden hört, kann man sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Aber es gibt einige prinzipielle Positionen, wo man nichts von ihm hört: Etwa der Kampf mit der Korruption. Nichts! Die Frage der Überprüfung krimineller Auswüchse der Privatisierung – Nichts! Entscheidend ist schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden. Er ist dafür und weiß doch zugleich, dass das nicht akzeptiert werden wird. Gemeinschaftliche Nutzung des Bodens hat bei uns tiefe Wurzeln in der Geschichte. Auch die von einigen geforderte Privatisierung der natürlichen Monopole, Gasprom, R-A-O-U-ES, also des landesweiten Energiemonopols, der Eisenbahn und anderer wird für ihn sehr problematisch. All diese wirtschaftlichen, diese prinzipiellen Fragen werden für ihn das Examen sein.“
.. budit Examen.“

Erzähler:
Die schärfste Differenz zu Putin kommt bemerkenswerter Weise nicht von der kommunistischen, auch nicht von neulinker Seite, sondern von der nationalbolschwisten Rechten, den sogenannten „patriotischen Kräften“. Die Kommunistische Partei begnügt sich mit dem Platz einer etablierten Opposition. Das entspricht der Rolle, die sie bereits unter dem Präsidentschaft Boris Jelzins angenommen hat. Ein Präsident Szuganow ist, allen Selbstermutigungen aus diesem Lager zum Trotz, nicht zu erwarten. Die neulinken Kräfte nähren, soweit sie nicht in den radikaldemokratischen Protesten gegen den Krieg aufgehen, Hoffnungen auf kommende Kämpfe einer unzufriedenen Arbeiterschaft.
Im Vergleich zu solchen Hoffnungen erscheint die Position der Nationalbolschewisten ernüchternd realistisch. Von kommenden Kämpfen könne keine Rede sein, meint beispielsweise Alexander Prochanow, Herausgeber der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen). Mit ihm in ein Horn stoßen die „Sowjetskaja Rossija“ und ein paar andere Blätter, deren Linie irgendwie zwischen Neo-Stalinismus, Marktwirtschaft und Nationalismus schlingert. Ein Teil unterstützt die KP, ein anderer nicht. Eine richtige Bewegung bekommen sie zur Zeit auch nicht zustande.
Mehr als lokale Proteste seien zur Zeit nicht zu erwarten, meint Prochanow; zudem habe die Regierung begonnen, die Lohn- und Pensionsrückstande der letzten Jahre auszugleichen. Diese Aussagen Prochanows stimmen mit den Erwartungen des Präsidenten der Moskauer Gewerkschaft, Michail Nagaitzew und Prognosen aus Geschäftskreisen überein, die eine allmähliche Entwicklung eines innerrussischen Marktes erwarten. Auf Dauer aber, so Alexander Prochanow weiter und besteht dabei auf klassischer marxistischer Terminologie, werde Wladimir Putin den Widerspruch zwischen Basis und Überbau nicht aushalten:

O-Ton 18 A: Alexander Prochanow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Erzähler:
Alexander Prochanows Urteil, wenn auch aus extremer Position, in dogmatischer Sprache, kommt den Tatsachen wohl am nächsten: Wladimir Putin, wenn er zum Präsidenten gewählt wird, wird einen Kurs zwischen Liberalismus und imperialem Dirigismus suchen. Dafür sprechen auch seine neuesten Äußerungen über einen möglichen Beitritt Russlands zur NATO. Faktisch ist ein solcher Schritt unter heutigen Bedingungen unmöglich. Wladimir Putins Auslassungen zu dem Thema zeigen aber, auf welcher Schlangenlinie er zwischen imperialer Orientierung Russlands und Abhängigkeit vom Westen steuert. Sollte Wladimir Putin nicht gewählt werden, was unwahrscheinlich ist, wird aber doch jeder andere Präsident demselben Kurs folgen müssen. Einen anderen Weg gibt es für Russland zur Zeit nicht. Opposition wird, wie am Protest gegen den tschetschenischen Krieg erkennbar, darin bestehen, die Zahl der Opfer auf diesem Kurs so weit zu begrenzen, wie möglich.

Was ist das Russische an Russland?

Einführung in die Besonderheiten der russischen Geschichte und Gegenwart: Vielvölkerstaat zwischen Asien und Europa. Multireligiöse, multikulturelle Geschichte.Asiatische Produktionsweise. Geschichte und Aktualität der russischen Gemeinschaftsstrukturen. „Experimentierfeld“ für die Verwirklichung des Sozialismus. Heutige Situation zwischen Nicht-Mehr-Sozialismus, aber Auch-Nicht-Kapitalismus. – Kurz, sachliche Auseinandersetzung mit dem, was landläufig im Westen „rusissche Seele“ genannt wird.

Dazu Texte: Was ist das Russische an Russland? Geschichte und Aktualität des russischen Korporativismus und Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen und   Warum Russland nicht verhungert – Russlands andere, extrapolare Ökonomie. außerdem: Weltmacht im Wartestand – ? Oder: Angst vor Russland, warum? Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Von meinen Büchern insbesondere: Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation. außerdem: Russland – Herzschlag einer Weltmacht sowie: Kartoffeln haben wir immer – (Über)leben in Russland zwischen Supermarkt und Datscha

Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung

An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden.

In seinen bisher seltenen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert Dmitri Medwjedew auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte zum Beispiel der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man natürlich abwarten müsse, was tatsächlich geschehe. Wer wissen möchte, was auf Russland zukommt und was sich hinter den wohl klingenden Ankündigungen der „Entbürokratisierung“ andeutet, muss genauer hinschauen.
Schon Michail Gorbatschow versprach: Uskorennije, Perestroika und Glasnost, wirtschaftliche Beschleunigung, Umbau und Transparenz. Boris Jelzin puschte Gorbatschows Ansatz zum „Schockprogramm“ der uneingeschränkten Privatisierung hoch, gab die Preise frei, setzte auf Selbstregulation des Marktes, flankierte das Ganze mit den Aufforderungen „Nehmt Euch soviel Souveränität wie ihr braucht!“ und „Bereichert Euch!“ Ein „Volk von Kapitalisten“ sollte so entstehen.     Ergebnis war die wilde bis kriminelle Privatisierung, war  das Ende der Sowjetunion bis hin zur katastrophalen Zersetzung der sozialen Netze des Landes – insonderheit der betriebsbasierten Gemeinschaften, die als kommunale Basisstruktur die soziale Versorgung der Bevölkerung getragen hatten. Gleichzeitig wurde der bis dahin unentgeltliche Wohnraum privatisiert. Versuche Jelzins auch für kommunale Leistungen wie Miete, Gas, Wasser, Strom uä. individuelle Zahlung einzuführen, scheiterten jedoch.
Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden; es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, um zu verstehen, was unter Putin im sozialen Bereich geschah und was nun geschehen kann.
Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sich entzogen hatten. Das hieß auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug er mehrere mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Übertreibungen, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige bereiche wieder her und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.
Putins Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Eine Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde derzeit nicht diskutiert. Gesundheitswesen ebenso wie das Bildungswesen verwandelten sich, verursacht durch katastrophale Unterfinanzierung, in ein El Dorado der Korruption. Wer damals durchs Land fuhr, konnte erleben, dass Menschen in Krankenhäusern von ihren eigenen Verwandten verpflegt und mit Medikamenten versorgt werden mussten.
Als Putin nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 nun auch an die Privatisierung der sozialen Sphäre gehen lassen wollte, musste er vor massiven landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus, der sich auch Studenten, Lehrer und Ärzte anschlossen. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen blieb in halben Maßnahmen stecken.
Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern.
Kern der putinschen Vorschläge war ein Finanzierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte Medwjedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Millairden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Die Reaktion Putins im Herbst 2005 war eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwjedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem man nun wirklich keine besondere Liebe für Putin nachsagen kann, zum Ende der Ära Putin kurz vor den Duma- und Präsidentenwahlen,  könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“.
Das Problem der putinschen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte. „Im Großen und Ganzen“, fasst Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums  darauf beschränken, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es muss nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wird nach ihnen gesucht. Hier treten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und gerade eben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird.
Da war beispielsweise in den monatlich erscheinenden „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa kurz nach Propagierung der „nationalen Programme“ Anfang 2006 zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten zur Produktionsstruktur auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte.
Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.
Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.
Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von den älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden.
Im Übrigen ist hier noch anzumerken: Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.
Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern eine Frage der Lebensweise sein, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.
Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen.    Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw. , die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, selbst nicht die angekündigte Entbürokratisierung. Neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles in Zukunft im Zentrum eines Regierungshandelns stehen soll, welches seinerseits erklärtermaßen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen will.
In dieser Perspektive kündigt sich die Entschlossenheit der russischen Führung an, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften und schließlich, selbstverständlich, ein zweiter Versuch, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen. Dies klingt in der Tat „spektakulär“.
Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung des erreichten Standes der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht.
Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwjedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die nicht nur von steigenden Öl- und Gaspreisen beantwortet wird.      Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur     indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen dieser Monetarisierung könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Themenheft 4: Wie weit reicht der Balkan?

THEMENHEFT 4:
Wie weit reicht der Balkan?

Teil 2: Tondokumentationen gegen den Krieg auf dem Balkan, in Tschetschenien und auf dem eurasischen Steppengürtel

Juni 1999
Rußland im Schock –
Folgen des Kosovokrieges für Rußland

Dezember 1999
Tschetschenien –
Rußlands Krieg gegen sich selbst

Januar 2000
Unruhe auf Eurasiens Steppengürtel –
Krieg der Kulturen oder Entstehung einer Alternative
Oder auch: Wo einst die Hunnen zogen…
Skizzen aus dem Krisengürtel zwischen Asien und Europa.

Themenheft 3: Wie weit reicht der Balkan?

THEMENHEFT 3:

Wie weit reicht der Balkan?

Teil 1: Texte gegen den Krieg

April 1999
Argumente gegen den Krieg

Mai 1999
Bericht aus Moskau: Rußland im Schock

Juni 1999
Wie weit reicht Kosovo?
Stichworte zum Wesen des jugoslawischen Krieges

August 1999
Aufruhr auf dem Hunnengürtel oder wie weit reicht der Balkan?

September 1999
Nach dem eisernen nun der kaukasische Vorhang

Januar 2000
Kriegsherr Putin – ein Fisch ohne Wasser.

Januar 2000
Kohl und Jelzin – alte Freundschaft in neuem Licht.

Januar 2000
Tschetschenische Notizen

Januar 2000
Schwarzes Loch Rußland?

Themenheft 2: Was ist das Russische an Russland?

THEMENHEFT 2:
Was ist das Russische an Russland?

Tondokumentationen von Kai Ehlers

28. März 2000
Putins Wahl:
Russland auf dem Weg zu sich selbst?

8.Oktober 1999
Sibirien –
Ursprung der Völker und Land der Zukunft?

5. Mai 1998
Das andere Russland:
Eine Reise hinter den mongolischen Vorhang

18 Februar 1995
„Druschba“, Freundschaft – oder jeder für sich?
Zu Gegenwart und Geschichte der russischen Gemeinschaftsstrukturen

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THEMENHEFT 1:

Was ist das Russische an Russland?

Texte von Kai Ehlers

März 93
Was ist das Russische an Russland?
Geschichte und Aktualität des russischen Korporativismus

Oktober 1999
Russland Heute
Thesen: Russlands Krise ist eine Wachstumskrise

Oktober 1999
Das Gesetz der Zone
Gespräch über Ursachen der Korruption in Russland.

27. März 2000
Putins Wahl:
Russland auf dem Weg zu sich selbst?

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Putins Wahl: Russland auf dem Weg zu sich selbst?

Besetzung:

Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben. (Manche Töne könnten trotzdem auf Grund der Tatsache, dass ich erst schneiden musste, bevor ich schreiben konnte, etwas zu lang sein; da bitte ich Sie um Regulierung.)

Freundliche Grüsse

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Putins Wahl:
Russland auf dem Weg zu sich selbst?

Wladimir Putin, ist, wie vorauszusehen, neuer Präsident Russlands. Mit 52,52 Prozent aller abgegebenen Stimmen hat er die Erwartungen all derer auf sich vereinigt, die Russland retten, die ihr Land wieder als bestimmendes Mitglied der Völkergemeinschaft sehen wollen. Der neue Präsident hat kein Programm veröffentlicht, wenn es aber nach den verstreuten Äußerungen geht, die er auf dem Weg vom stellvertretenden zum rechtmäßig gewählten Präsidenten hinterlassen hat, soll Schluß sein mit dem Kopieren westlicher Reform-Vorstellungen, soll Russland seinen eigenen, russischen Weg zwischen Marktwirtschaft und traditionellem kollektiven Lebens- und Wirtschaftsformen finden. Gibt die Wahl Wladimir Putins den Startschuß für Russlands Rückkehr zu sich selbst? Was wäre darunter zu verstehen?
Unser Autor Kai Ehlers geht dieser Frage in Gesprächen mit russischen Ideologen, Politikern und Analytikern nach.

Regie: Aufbruchstimmung,
Musikalische Einführung aus Studiomaterial (Bethovens 5.)
Ton ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, allmählich abblenden

Zitator: (getragen)
„Die Erfahrung der 90 Jahre bezeugt eindrucksvoll, dass eine erfolgreiche Erneuerung unseres Heimatlandes  nicht erreichbar ist, wenn abstrakte Modelle und Schemata aus ausländischen Lehrbüchern auf den russischen Boden übertragen werden. Es bringt auch wenig, wenn die Erfahrungen anderer Staaten mechanisch nachgeahmt werden. Jedes Land – und Russland ist keine Ausnahme – muss seinen eigenen Erneuerungsweg finden. Wir haben dabei noch keine großen Erfolge erzielt. Erst in den letzten ein, zwei Jahren sind wir auf unseren eigenen Weg der Umgestaltung, auf unser eigenes Modell gestoßen“

Erzähler:
Das verkündet ein Text, den der soeben gewählte Präsident Wladimir Putin per Internet verbreiten ließ, nachdem er durch den durch den überraschenden Rücktritt Boris Jelzins in der Neujahrsnacht des Jahres 2000 zum provisorischen Staatspräsidenten aufgerückt war.
Und weiter hieß es zur Begründung:

Zitator:
„Es ist eine Tatsache, dass in Russland immer eine Neigung zu kollektiven Formen der Lebensgestaltung über den Individualismus dominiert hat, dass paternalistische Stimmungen in Russland tief verwurzelt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet die Verbesserung ihrer Lage nicht mit eigenen Anstrengungen, mit Initiative und Unternehmungslust, sondern vielmehr mit der Hilfe und der Unterstützung des Staates und der Gesellschaft.“

Erzähler:
Aus der Verschmelzung dieser Traditionen mit den „universellen, allgemein menschlichen Werten“, so die Erklärung weiter, entstehe eine neue russische Idee. Ihr Kern: Die Verbindung von Privateigentum und Patriotismus.
Wie der jetzt als Präsident bestätigte Wladimir Putin den Patriotismus stärken will, hat er in Tschetschenien vorgeführt. Wie er Patriotismus und Privateigentum versöhnen möchte, ließ er bis heute offen. Seine Äußerungen dazu  blieben auf Kommentare zur Tagespolitik beschränkt. Am deutlichsten wurde er bisher bei seinem besuch in der sibirischen Hauptstadt Irkutsk. Vor Studentinnen und Studenten antwortete er dort auf Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 1: Wladimir Putin    0,17
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes Programm, gleich welches, muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa, Gemurmel.“

Erzähler:
Zur Frage der Beziehungen von Zentrum und Regionen beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 2: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana…
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, danach den Kommunismus und jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form der Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Zum gefflügelten Wort avancierte Putins mahnung, die er vor der Strategiekommission aussprach, welche sein Programm ausarbeiten soll:

O-Ton 3: Wladimir Putin, Forts.    0,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Pomnitje…
„Erinnern Sie sich daran, die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns unterwerfen müssen. Der Verlust der Rechtsordnung führt zu Chaos und Grenzenlosigkeit.“
…bespredelju.“

Erzähler:
Den starken Staat und die Demokratie – beides will Wladimir Putin fördern. Russland will er stärken – und zugleich mit der NATO versöhnen. Ja, er scheute sich nicht, vor laufenden Kameras der BBC einen russischen NATO-Beitritt für möglich zu erklären.
Größten Beifall im Lande selbst bekommt Wladimir Putin nichtsdestoweniger von patriotischer Seite – so etwa von Alexander Dugin. Dugin ist einer der aktivsten Ideologen dieses Lagers, seinem Selbstverständnis nach Geopolitiker des Euroasiatismus, der die Welt in einem Grundkonflikt zwischen Russland und Amerika begreift. Zu Zeiten der Perestroika galt Alexander Dugin als nationalistischer Extremist, inzwischen ist er als Berater des kommunistischen Dumapräsidenten Selesnjow ins Zentrum der Macht aufgerückt. Alexander Dugin ist von Wladimir Putins Machtantritt geradezu begeistert:

O-Ton 4: Alexander Dugin     0.53
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Übersetzer:
„Putin eta…
„Putin – das ist ein gigantischer Erfolg meines Projektes. Was heißt: meines Projektes? Das heißt nur, ich gewissermaßen eine historische Konstante verdeutliche: Zu einem gewissen Zeitpunkt bestanden in der Gesellschaft zwei Ideologien, die alte ausgehende kommunistische, und die genau entgegengesetzte feindliche liberale, westliche. Notwendig war, eine dritte Variante zu erdenken, einen dritten Weg. Um diesen dritten Weg zu ersinnen, musste man frei sein vom sowjetischen, aber auch vom westlichen Dach. Solche Leute hatten Seltenheitswert. Man hatte entweder eine sowjetische Bildung oder gleich das Gegenteil. Aber ich war einer von diesen Leuten und jahrelang habe ich um die Verwirklichung dieses Projektes gekämpft. Jetzt sehe ich die Resultate.“        …resultatow.“

Erzähler:
Mit Selesnjow, mit verschiedenen Ministern, mit Militärs habe er über lange Jahre gearbeitet, erzählt Dugin. Der Krieg in Tschetschenien habe jetzt Erklärungen gefordert. Doch kein Modell, weder das altsowjetische, noch das liberal-westliche sei imstande, Begründungen zu liefern, warum dieser Krieg geführt werden müsse. Die Sichtweise des Euro-Asiatismus dagegen könne das leisten. Der Euro-Asiatismus liefere die Begründung, warum separatistische Prozesse unbedingt beendet werden müssten.

O-Ton 5: Dugin, Forts.     0,39
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Übersetzer:
„Ssetschas w mirje…
„Zur Teit entwickelt sich eine beängstigende geopolitische Situation: Es entsteht eine unipolare Welt unter vollkommener Herrschaft der USA. Die einzige Struktur, die dem nach geopolitischen Gesetzen widerstehen kann, ist die Erde Russlands. Wenn wir unsere russische Erde an der Peripherie verlieren, verlieren wir unsere Möglichkeit, eine planetare Alternative zu bilden. Wir verraten auf diese Weise nicht nur unsere historische Mission, sondern hindern auch noch andere Völker, Europa, Asien, eine freie Wahl zwischen dem atlantischeschem Modell und anderen zu treffen.“
…kakoito inoi.“

Erzähler:
Der Wahabitismus, wie er sich gegenwärtig in Tschetschenien zeige, so Dugin weiter, sei eine kriegerische Einflussnahme des Atlantismus, so wie alle anderen separatistischen Prozesse, die mit der Auflösung der Sowjetunion begonnen hätten. Die Bildung eines einheitlichen euro-asiatischen Zusammenhangs sei deshalb nicht nur Aufgabe Russlands, sondern aller Länder des euroasiatischen Kontinents. Sie müssten Russland bei dem Bemühen um einen einheitlichen Raum unterstützen, wenn sie es begriffen. Europa allerdings sei dazu momentan nicht in der Lage, denn es stehe selbst zu sehr unter amerikanischem Einfluss.

O-Ton- 6: Dugin, Forts.     0,18
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Übersetzer:
„Liberatia…
„Die Befreiung Europas, die Entwicklung eines europäischen Bewußtseins, ist ebenfalls eine euro-asiatische Aufgabe: Wir müssen Europa nach Europa zurückbringen! Dafür müssen wir zweifellos stark und mächtig werden, unser strategisches Potential entwickeln und dann aus einer Position der Stärke mit den USA reden.“
…Amerika.“

Erzähler:
Der tschetschenische Krieg ist in Dugins Augen nur ein Teil des großen Konfliktes zwischen Amerika und Russland:

O-Ton 7: Dugin. Forts.    0,57
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Übersetzer
„Ta woina…
„Dieser Krieg ist ein Krieg zwischen Amerika und Russland, so wie es der in Afghanistan war; so wie die Sprengung des Warschauer Vertrages eine diplomatische Provokation von innen war; so wie die Abspaltung einzelner Staaten der GUS eine Fortsetzung des Krieges zwischen Amerika und Russland oder auch zwischen maritimer und territorialer Zivilisation ist. Es ist wie ein ewiger punischer Krieg, sagen die Geopolitiker. Jeder Konflikt auf der Welt von einigem Umfang, selbst der auf den Phillippinen, der um das Kosovo sowieso, ist – auch nach der Auflösung des sowjetischen Blocks – eine Fortsetzung dieses Krieges  der Kontinente, der Zivilisationen oder, wenn man so will, zwischen Amerika und Russland.“
…i rossije.“

Erzähler:
Aber nicht nur Patrioten vom Zuschnitt Alexander Dugins, auch die Kommunisten zeigen sich angezogen von dem Kurs, den Putin zwischen Patriotismus und Privateigentum steuern will. Der Kurs entspricht der Linie, die sie ihrer zehnjährigen Opposition der Privatisierungspolitik Boris Jelzins entgegengehalten haben: Patriotismus, starker Staat, Rettungs Russlands vor dem Ausverkauf an das Ausland. Putins Einschwenken auf diese Linie stürzt die Kommunistische Partei allerdings in Abgrenzungsprobleme. Andrej Filippow. Beauftragter für Internationale Beziehungen in der DUMA-Fraktion der Kommunistischen Partei, fasst das in die Worte:

O-Ton 8: Andrej Filippow    1,15
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Übersetzer:
“Nu dela w`tom…
“Das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muss es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn er redet, braucht man nur einfach zu sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Klar, Putin versteht die gegenwärtige Situation, die gegenwärtige Stimmung und hat sehr viele Losungen von uns übernommen.
… Losungi.“

Erzähler:
Eine andere Sache sei, fährt Filippow fort, dass der Inhalt ein anderer sei, dass den Worten keine Taten entsprächen: Nichts höre man bei Putin vom Kampf mit der Korruption, nichts von der Überprüfung der kriminellen Auswüchse der Privatisierung. Entscheidend werde schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden sein. Putin spreche sich dafür aus, obwohl er doch wisse, dass das nicht akzeptiert werden könne. Zu tief seien die historischen Wurzeln der gemeinschaftlichen Nutzung des Bodens. „Alle diese Fragen“, so Filippow, „werden für Putin das Examen werden.
Ähnlich sehen es auch die Anhänger Alexander Lebeds. Auch sie sehen ihre Losungen, mit denen Alexander Lebed bei der letzten Präsidentenwahl Dritter wurde, von Wladimir Putin vereinnahmt. Der Bedeutungsverlust Alexander Lebeds ging soweit, dass sie weder als Partei an den Duma-, noch in der Person Lebeds an den Präsidentenwahlen teilnahmen. Wladimir Kuschnirenko, Vorstandsmitdlied der lebedschen Bewegung „Ehrlichkeit und Heimat“ wie auch der „Republikanischen Volkspartei“ tröstet sich allerdings mit dem Gedanken:

O-Ton 9: Wladimir Kuschnirenko    1,19
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Übersetzer:
„Moschno bila…
„Man kann reichlich Beispiele bringen, wie Lebeds Losungen von anderen Parteien übernommen wurden. Das zeigt ja eigentlich nur die Progressivität unseres Führers, der solche Linien vorlegt. Und er hat ja auch nicht nur Worte gemacht. Er kann heute konkrete Beispiele vorweisen, dass er die richtigen Grundlagen gelegt hat. Aber es scheint eine Besonderheit unseres Führers zu sein, andere Politiker dadurch zu überragen, dass er die Dinge vorhersieht, dass er die Möglichkeit besitzt, dass er die Fakten kennt, um die Entwicklung zu prognostizieren.“

Erzähler:
Die Zeit werde kommen, da Putin an seine Grenzen stoßen werde. In diesem Punkt stimmt Wladimir Kuschnirenko mit den Erwartungen der Kommunisten vollkommen überein. Dann werde man auch Alexander Lebed wieder rufen, der über entsprechendes Auftreten verfüge, so Kuschnirenko „für Taten in diese oder jene Richtung.“
…naprawlennije.“

Erzähler:
So viel ist sicher: Kernfragen der weiteren russischen Entwicklung stehen an, die nicht durch nationalistische Propaganda, auch nicht durch Fortsetzung des Krieges gegen die Tschetschenen gelöst werden können: Das ist die Frage der Überprüfung der Privatisierung und, wenn nötig, der Korrektur ihrer kriminellen Ergebnisse. Das ist die Privatisierung von Grund und Boden, die seit 1991 immer wieder am Einspruch der Duma und der regionalen Parlamente gescheitert ist. Das ist die Frage, was mit den sogenannten natürlichen Monopolen geschehen soll. Gemeint sind damit vor allem GASPROM, der Gigant der Gasverwertung, RAOUES, der allrussische Energiekonzern und die Eisenbahn. An dem Versuch, auch diese Monopole zu privatisieren, sind Regierungen Boris Jelzins in den letzten Jahren mehrfach gescheitert. Gegenwärtig gibt es Anzeichen dafür, dass die Clans, die Boris Jelzin gestützt haben, einen erneuten Anlauf zur Aufteilung dieser Monopole und zur Freigabe des Kaufs und Verkaufs von grund und Boden unternehmen wollen. Statt einer Versöhnung von Privatkapital und Patriotismus, heißt das, steht eine Verschärfung des Konfliktes zwischen Staats- und Gemeinschaftsinteresse und dem Interesse der Oligarchen bevor. Wie Wladimir Putin diesen Konflikt mit friedlichen, demokratischen Mitteln entwickeln will, ist vollkommen offen.
Entsprechend skeptisch bis verschreckt sind die Erwartungen der demokratischen und liberalen Teile der Gesellschaft. Auf die Frage, was er unter Wladimir Putins Ankündigung eines „eigenen russischen Entwicklungsweges“ verstehe, antwortet Valentin Otskotski, Präsident des „Moskauer Schriftstellerverbandes“, Gallionsfigur der West-orientierten schriftstellerischen Intelligenz Moskaus:

O-Ton 10: Valantin Otskotski    1,19
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Übersetzer:
„Ja litschna…
„Ich glaube nicht an einen besonderen russischen Weg. Meiner Ansicht nach kennt die Welt bei aller Vielfalt doch nur zwei hautsächliche Wege: den Weg in Richtung Demokratie, von geringer entwickelter zu höher entwickelter Demokratie und den Weg der totalitären Gesellschaft. Der ganze sogenannte besondere Weg Russlands, der vor dem liegt, reduziert sich darauf, dass Russland ein totalitärer, ein imperialer Staat war – die Besonderheit Russlands war die der Selbstherrschaft! Darüberhinaus gab es nichts Besonderes. Wenn jetzt nach einem besonderen Weg Russlands geschrien wird, dann wird das bloß eine Wiederholung dessen, was war.
Ich bin weit davon entfernt zu glauben, dass die westliche Demokratie schon das Beste sei. Aber wie Churchill sagte: Etwas Besseres hat die Menschheit bisher nicht erdacht. Gehen wir also den demokratischen Weg. Das ist kein besonderer, das ist der allgemein menschliche Weg.“
…obsche put.“

Erähler:
Einen neuen Totalitarismus, eine faschistische Diktatur befürchten Valentin Otskotski und mit ihm die Mehrheit der westorientierten Intelligenz, zu der auch Jegor Gaidar, Boris Nemzow, Sergej Kirijenko und andere der früher so genannten „Jungen Radikalreformer“ gehören.  Während alterfahrene Dissidenten, junge antifaschistische Aktivisten oder einfach unorganisierte Radikaldemokraten sich auf einen außerparlamentarischen Kampf gegen die von ihnen befürchtete Diktatur einstellen, gehen die Führer der liberalen Bewegung jedoch auf Schmusekurs mit dem neuen Mann im Kreml. Sie hoffen immer auf neue Impulse für die von ihnen nach wie vor geforderten radikalen Reformen. Eine klare Alternative zu Wladimir Putin bildet allein „Jabloko“, die Partei des Mannes, der den dritten Platz bei der Präsidentschaftswahl vom 24. März einnahm. Grigorij Jawlinski forderte schon während der Dumawahl im Dezember die Einstellung des Krieges in Tschetschenien, genauer die Reduzierung des Krieges auf die auch von „Jabloko“ für unumgänglich erachtete „antiterroristische Aktion“. Noch kurz vor dem Termin zur Präsidentenwahl solidarisierte er sich öffentlich mit einem Meeting der Kriegsgegner.
Auf die Frage, ob er eine antiwestliche Politik von Wladimir Putin erwarte, antwortet Alexejew Melnikow, Abgeordneter der Partei „Jabloko“ und Assistent Grigorij Jawlinskis:

O-Ton 11: Alexejew Melnikow    1,22
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Übersetzer:
„Ja dumaju…
„Ich glaube, dass die Politik Russlands gegenüber dem Westen schärfer werden wird unter Herrn Putin, aber ich denke nicht, dass Schärfe ein Synonym für Vernünftigkeit ist. Ich halte Herrn Putin nicht für einen erfahrenen Politiker. Es ist sehr gut möglich, dass Putin einige sehr ernsthafte Fehler gegenüber dem Westen machen wird. Anzeichen einer isolationistischen Politik gibt es bereits.“

Erzähler:
Allerdings, fügt der Abgeordnete hinzu, werde dieser Isolationismus nicht allein durch subjektive Ursachen diktiert, sondern auch durch die Fehler, die der Westen in seiner Beziehung zu Russland mache. Einer seiner schwereren Fehler sei der Krieg im Kosovo.
…Kosovo.“

Erzähler:
Gelassen reagiert die konservative Mitte auf den neuen Mann im Kreml.     Im Hauptquartier von „Vaterland“, der Parteizentrale des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, der im Dumawahlkampf auf  Platz drei verwiesen wurde, wartet man ab. Hier versammeln sich die politischen Kräfte, die in Russland „zentristisch“ genannt werden – Personen und Organisationen, die ohne besonderes eigenes Programm an einer stabilen bürokratischen Macht interessiert sind, gleich, wer sie repräsentiert.
Das ist der Moskauer Bürgermeister und seine Verwaltung samt den Resten der regionalen Nomenklatura, die nach der Wahlniederlage Juri Luschkows im Dezember nicht aus dem Bündnis „Vaterland – das ganze Russland“ abgesprungen sind. Das sind Übertreter aus der ehemaligen „Partei der Macht“, „Unser Haus Russland“. Das sind die neuen gewerkschaftliche Kräfte wie die „Moskauer freien Gewerkschaften“ oder die allrussische „Union der Arbeit.  Das sind kleine Gruppen wie die „Sozialistische Volkspartei“, die Juri Luschkows „Vaterland“ als Kollektivmitglieder beigetreten sind.
Nur ein müdes Lächeln für den neuen Kurs Wladimir Putins hat Wassili Lipitzki, Chef der „Sozialistischen Volkspartei“. Er bekleidet jetzt den Rang eines „Assistenten des Politsowjets“ in der Organisation „Vaterland“:

O-Ton 12: Wassili Lipitzki    0,48
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Übersetzer:
„My snajem…
„Ja, wir sind mit dem Text bekannt, auf den Sie sich beziehen. Er trägt einen sehr allgemeinen Charakter. Es fällt mir schwer, darin irgendwelche konkreten Bedingungen zu finden, die man diskutieren könnte. Das sind, sagen wir, alles sehr schöne Wünsche, kaum etwas, über das man streiten könnte. `Wir gehen unseren Weg´ – nun gut, alle Länder gehen ihren Weg; das ist ziemlich klar. Gleichzeitig findet man Ausführungen zur Globalisierung, auch zur nachindustriellen Gesellschaft. Das sind auch wieder so allgemeine Dinge, die man nicht diskutieren kann. Das Wichtigste ist: Was ist mit diesem eigenen Weg gemeint? Das ist mir nicht klar.“
…ne jasna.“

Erzähler:
Russland sei ein Land mit sehr unterschiedlichen Bedingungen, fährt Wassili Lipitzki fort, für das man kein allgemeines Programm aufstellen könne. Da müsse alles nach Ort, Zeit und Bedingungen konkret entschieden werden. Zudem, wenn man schon von eigenem Weg reden wolle, die „besonderen russischen Methoden“ berücksichtigen, die in diesem Lande üblich seien.
Gefragt, was er denn darunter verstehe, wenn er doch einen eigenen russischen Weg nicht sehe, antwortet Wassili Lipitzi:

O-Ton 13: Forts. Lipitzki    0,32
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Übersetzer:
Lacht “U nas…
„Bei uns ist die Trennung von Politik und Geschäft nicht so sehr erkennbar wie in Europa. Und so eine Situation wie sich zur Zeit in Deutschland rund um die CDU entwickelt, ist einem Russen, nicht nur Beobachtern der politischen Elite, absolut unverständlich. Wenn man Politik macht, muss man Geld nehmen. Das ist die Lebensnorm.“
…norma schisni.“

Erzähler:
Und unvermittelt sehr ernst, setzt er hinzu:

O-Ton 14:    0,43
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Übersetzer:
„Predstawtje sebje…
„Stellen Sie sich vor  Putin würde beginnen, wenn er als Präsident freie Hand hat, den Kampf gegen die Korruption zu führen. Bei unseren Bedingungen wäre das ein neues `36, denn wenn für alle gleiche Kriterien gelten würden, dann müssten alle dran glauben. Dann würde in Russland einfach keine politische Elite mehr übrigbleiben.“

Erzähler:
D a s  sind die Besonderheiten, lacht er, diese Art des Kampfes wird Russlands noch in die Zukunft  begleiten wird.
… budusche“, lachen

Erzähler:
Geradezu aufreizend wirk die Ruhe, die der Analytiker Wjatscheslaw Nikonnow, in der Beurteilung des „putinschen Fiebers“, wie er es nennt, an den Tag legt. Nikonnow ist Chef eines „Fonds für Politik, versteht sich selbst als konservativ. Der Krieg in Tschetschenien werde vorbeiziehen, meint er. Dessen Ausgang sei für die zukünftige Entwicklung ohnehin nur von peripherer Bedeutung. Solche Kriege hätten Russland durch seine ganze Geschichte hindurch begleitet. Ja, Russlands Geschichte bestehe aus solchen Kriegen. Worüber rege man sich also auf; die Führung dieses Krieges bedeute nur die Rückkehr zur Norm. Aus Wjatscheslaw Nikonnows Sicht ist Wladimir Putin eine auswechselbare Figur in einem objektiv unvermeidbaren Prozess:

O-Ton 15: Wjatscheslaw Nikonnow    0,45
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Übersetzer:
„U Putina njet…
„Putin hat kein Konzept. Er hat nichts von russischem Weg oder dergleichen gesagt. Für mich ist allerdings klar, dass es das westliche Entwicklungsmodell für Russland nicht geben wird. Russland hat ein paar spezieller Besonderheiten, sowohl im nationalen Charakter, als auch im wirtschaftlichen System und in der Geografie, durch die es sich vom Westen sehr unterscheidet. Das ist hinreichend bekannt. Klar ist, dass es hier bei uns immer ein großes Ausmaß staatlicher Einmischung, dass es Staatswirtschaft geben wird. Russisch – das heißt: Bürokraten mischen sich ins Geschäft! Das ist es. In dieser Hinsicht hat sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts bei uns nicht viel geändert.“
…rasniza“, lacht
Erzähler:
Was in den Erklärungen Wladimir Putins über Kollektivismus gesagt werde, sei ebenfalls Unsinn. „Es geht um korporative Strukturen“, so Nikonnow, „nicht um Kollektivismus“:

O-Ton 16: Nikonnow, Forts.    0,58
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Übersetzer:
„Korporativism, konjeschna..
„Korporativismus ist natürlich kein Kollektivismus, von dem immer die Rede ist, also dieses angebliche kollektive Bewusstsein. Umgekehrt: Russland ist ja gerade ein sehr individualistisches Land. Bei uns sagt man oft, wir hätten den Kollektivismus aus dem Osten und die Arbeitsliebe aus dem Westen. Ich denke aber eher, aus dem Westen haben wir den Individualismus, das Einzelgängertum, aus dem Osten den Despotismus. Despotismus auf individueller Grundlage – das ergibt eine einzigartige Mischung. Sie ist dem westlichen Menschen wenig verständlich. Mit Sicherheit aber gibt es keine puritanische protestantische Arbeitsethik in Russland und wird auch keine geben. Es ist ganz offensichtlich, dass es hier andere Spielregeln geben wird.“
…prawili igri.“

Erzähler:
Russland ist nicht Europa, konstatiert Wjatscheslaw Nikonnow, allerdings auch nicht Asien:

O-Ton 17: Nikonnow, Forts.     0,15
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Übersetzer:
„Rossije eta…
„Russland ist nicht Osten und nicht Westen – Russland ist Russland. Es liegt auch nicht irgendwie zwischen etwas – es ist eine eigene Zivilisation, die sich von östlicher und westlicher unterscheidet und so wird es auch in Zukunft sein.“
..i tak budit.“

Erzähler:
Russlands Eigenes, das kann man nach diesen Ausführungen des konservativen Analytikers ergänzen, ist seine besondere Lebens- und Arbeitsorganisation, die östliche und westliche Einflüsse, die Individualismus und Despotismus miteinander verbindet. Darin sind sich alle einig., Kommunisten, Anhänger Lebeds bis hin zu den Liberalen. In der Sowjetunion war es das Arbeitskollektiv, das als Sowchose oder Kolchose, als Fabrik- Lern- oder Forschungskollektiv das gesellschaftliche Leben bestimmte. In ihm waren Arbeitswelt und außerbetriebliche Realität untrennbar miteinander verwoben. Unterschiedlich sind allein die Bewertungen dieser Tatsache: Im Privatisierungsprogramm Boris Jelzins von 1991 wurde diese korporative Grundorganisation des Alltags als „schädlicher Kollektivismus“ zur Ursache der Krise und zum Hauptgegner Fortschritts erklärt und seine Auflösung verordnet. Die Mehrheit der Gemeinschaftsbetriebe und der damit verbundenen Lebenszusammenhänge erwies sich jedoch als resistent, versank unter dem Druck der forcierten Privatisierung allerdings zunehmend in arbeitsunfähiger Lähmung.
Kritiker der beschleunigten Privatisierung wiesen daher in den letzten Jahren immer wieder daraufhin, dass dieser Grundstruktur Beachtung geschenkt werden müsse, wenn die Reformen sozialen Bestand haben sollten. So etwa  Boris Kagarlitzki, einer der jüngeren Reformsozialisten.
Es gebe einen Aspekt der früheren sowjetischen Strukturen,  erklärte er schon bald nach Beginn der Schockprivatisierung, der immer wieder vergessen werde: Die Gemeinschaft der sowjetischen Arbeitskollektive:

O-Ton 18: Boris Kagarlitzki    1,22
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Übersetzer:
„Schto takoje..
„Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Obschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali.“

Erzähler:
Heute, so Boris Kagarlizkii, zeichne sich von der Basis und von den Regionen der russischen Föderation her eine Reorganisation der Obschtschina-Strukturen ab. Blanker Überlebensdruck bringe diese Entwicklung hervor. Bloße Existenznot zwinge die Menschen, sich für die Erhaltung ihrer Betriebe und der darauf basierenden außerbetrieblichen Gemeinschaftsstrukturen einzusetzen, deren weiterer Zerfall sie sonst in absehbarer Zeit dem Hunger preisgeben werde. Die Politik Wladimir Putins, meint Kagarlitzki, treibe diese Entwicklung voran:

O-Ton 19: Kagarlitzki, Forts.            1,27
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Übersetzer:
„Na samom delje…
„Im Kern“, kommentiert Kagarlitzki die neueste Entwicklung, „hilft Putin den Linken.“ Einerseits grabe Putin der Kommunistischen Partei Russlands das Wasser ab, indem er sie als überflüssiges Anhängsel seiner eigenen Politik erscheinen lasse, andererseits stärke die von ihm weiter favorisierte Privatisierung und seine weitere Orientierung am marktwirtschaftlichen Modell die sozialen Spannungen unter Jugendlichen, in den Regionen und nicht zuletzt in der Arbeiterschaft, die um den Erhalt ihrer Betriebe kämpfe. Mehr noch, die Ablösung des liberalen Jelzin durch den Zentralisten Putin sei sogar ein Zeichen dafür, dass die herrschenden Kreise, eine schärfere politische Gangart gegen die Bevölkerung einzuschlagen beabsichtigtene.
…bolje schoski.“

Erzähler:
Man muss nicht Boris Kagarlitzkis Hoffnungen auf  die Entstehung einer linken Alternative teilen, um zu erkennen, dass seine Kennzeichnung der „Obschtschina“ als die Zelle, in Wladimir Putins Politik ihre soziale Wirkung zeigen wird, die gegenwärtige Situation am rationalsten beschreibt. Man muss andererseits auch nicht die düsteren Prognosen Alexander Dugins auf zukünftige Konfrontationen zwischen Russland und dem Westen oder die Befürchtungen des liberalen Lagers vor einem Diktator Putin teilen. Gerade in Russland, noch mehr im Russland der gegenwärtigen Transformationsphase, wird vieles heißer gekocht, als es gegessen wird. Das wird nicht zuletzt deutlich, wenn gerade die schärfsten Gegner der putinschen Kriegspolitik ausdrücklich davor warnen, Putin zu dämonisieren. So etwa Ludmilla Alexejewa. Als Präsidentin der russischen Helsinkigruppen, die sich die Verteidigung der Menschenrechte gegen russische Soldateska in Tschetschenien zur Aufgabe setzt, weiß sie, mit wem sie es zu tun hat. Sie antwortet auf die Frage, ob Putin sich vom Westen abwenden werde:

O-Ton 20: Ludmilla Alexejewa                0,59
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Übersetzerin:
„Wy snaetje…
„Wissen Sie, das ist nicht möglich. In der alten Welt war das möglich, in der heutigen schon nicht mehr. Die Welt hat sich sehr globalisiert, die Grenzen sind heute sehr durchlässig. Ich denke, in der heutigen Welt würde selbst Stalin das nicht mehr schaffen. Und Putin – ich dämonisiere ihn nicht. Ich glaube nicht, dass er es kann und deshalb denke ich, dass er es auch nicht will. Es ist zu dumm, einfach zu dumm. Russland kann ohne die Welt nicht existieren, weder wirtschaftlich noch psychologisch.“
…psychologitschskom.“
Erzähler:
Nach kurzem Zögern fügt Frau Alexejewa noch hinzu:

O-Ton 21: Ludmilla Alexejewa, Forts.    0,55
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Übersetzung:
„Na swoi abrasnom…
„Und was den eigenen Weg betrifft: Wir gehen doch alle unseren eigenen Weg! Natürlich werden wir nie so sein wie Deutschland oder Frankreich. Wir sind ja nicht Deutschland oder Frankreich, wir sind Russland. Ist Holland so wie Frankreich? Ist Spanien so wie Schweden? Nein! Also werden wir auch nicht gleich sein. Jedem den seinen Weg! Aber wir sind alle auf dem Weg der Menscheit. Dazu kommt: Russland ist ein europäisches Land. Ja stimmt, wir sind um siebzig Jahre verspätet. Aber wir kommen wieder. Und sehen Sie doch diesen kleinen, zarten Putin. Kann der uns denn diesen Weg verstellen? Nein, selbstverständlich.“

Erzähler:
Vermutlich, wäre noch zu ergänzen, will Wladimir Putin es auch tatsächlich nicht, denn eine Eigenheit Russlands gilt heute vor allen anderen: Ohne die Hilfe reicherer Staaten, ohne die Einbindung in die globale Völkergemeinschaft kann Russland seine Probleme des Übergangs aus der sowjetischen in eine zeitgemässe gesellschaft nicht lösen. Darin liegt die Hoffnung, dass auch der von Wladimir Putin jetzt propagierte eigene Weg Russlands nicht zum Dauerkrieg, sondern  zur Herausbildung demokratischer Regeln einer offenen Gesellschaft auf Grundlage der traditionell gewachsenen korporativen Verhältnisse führt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russlands Wahl: Gibt es eine Opposition zu Putin?

Am 26.3. wird in Russland ein neuer Präsident gewählt. Das Wahlergebnis scheint bereits festzustehen: Nicht um Programme unterschiedlicher Kandidaten wird diskutiert, sondern für oder wider Wladimir Putin: Was bringt der Mann, der durch den Krieg in Tschetschenien populär wurde, für die Zukunft? Fortsetzung der Reformen, Abwendung vom Westen oder beides zugleich? Die Erwartungen sind so geteilt wie sein Programm offen nach allen Seiten ist. Gibt es eine Opposition gegen den neuen starken Mann? Parlamentarisch? Außerparlamentarisch? Wie setzt sie sich zusammen? Über diese Fragen berichtet Kai Ehlers direkt aus Moskau.

*
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies; das Überspielband beginnt mit B

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann am besten eine von den Einführungsszenen der Kundgebung.

Russlands Wahl:
Gibt es eine Opposition gegen Wladimir Putin?

O-Ton 1 A: Kundgebung der  Kriegsgegner     1,35
Regie: Musik langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Moskau. Vorwahlzeit. Ein „Antimilitaristisches Komitee“ hat zu einem „Meeting“ gegen den Krieg in Tschetschenien aufgerufen. Rund zweihundert Menschen versammeln sich unter einem Denkmal von Karl Marx in der Innenstadt. Spruchbänder und Tragschilder fordern den Schutz der Menschenrechte, warnen vor einer KGB-Diktatur; vereinzelt sind auch rote Fahnen zu sehen. Hauptadressat des Protestes ist Wladimir Putin. Er wird verantwortlich gemacht für den Krieg. An ihn, obwohl bisher nur vorübergehend amtierender Präsident, richten sich die Forderungen für eine sofortige Beendigung des Krieges und den Aufbau einer zukünftigen Zivilgesellschaft in Russland, als wäre die Wahl für den neuen Präsidenten schon entschieden. Gibt es keine Alternativen zu Putin? Oder entsteht doch eine neue Opposition? Ein Teilnehmer der Kundgebung, der sich als Mitglied einer „Vereinigung für revolutionäre Kontakte“ vorstellt, antwortet auf die Frage, was er zu diesem Problem denke:

O-Ton 1 B: Junger Mann     0,50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Musik, Snaetje, ja nje dumaju…
„Wissen Sie, ich denke nicht nur, dass es eine Opposition geben wird, ich weiß, dass es sie bereits gibt: Wir sind es! Ich zum Beispiel stehe in
Opposition zu Putin; die Leute da drüben ebenfalls. Wir können Ihnen gleich einen Flugzettel geben, den wir gegen Putin geschrieben haben.  Im Moment ist die Opposition gegen ihn klein, das ist ein Fakt. Bedauerlich. Aber Putin selbst wird dafür sorgen, dass sie wächst, Je stärker er seine Politik gegen das Volk richten wird, umso stärker wird die Position der Bevölkerung gegen ihn werden.
…0pposizia narodow.“, Musik

O-Ton 2 A: Weiterer Teilnehmer des „Meetings“    0m50
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Budit, li…
„Ob es eine Opposition gegen Putin gibt? Ja, wird es wohl, wenn Putin den anderen Kräften weiterhin so wenig Raum lässt“, meint dieser Mann. Er ist gekommen, um gegen die Einschränkung der Pressefreiheit zu  protestieren, die sich an der Festsetzung der Kriegsberichterstatters Babizki durch die Armeeführung zeige. „Ich bin ebenfalls Journalist“, meint er, „wenn auch kein politischer. Morgen kann es mich treffen wie schon früher, als man nicht die Wahrheit über die Genforschung sagen durfte.“ Aber ob Putin wirklich den Kurs fortsetzen werde, den er jetzt eingeschlagen habe? „Er hat bisher kein Programm“, meint der Mann,“es ist alles nicht so ganz klar.“
…nje otschen.“ Trommeln

O-Ton 2 B: Trommeln    0,22
Regie : O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Die Trommeln  führen zu einer Gruppe gelbgekleideter buddhistischer Mönche, junge Russen mit einem japanischen Lehrer. Man sieht sie auch ohne Anlass mit ihrer Trommel durch Moskau ziehen. Heute verstehen sie sich als Bestandteil des „Meetings“. Bereitwillig erklärt der japanische Meister ihre Motive:

O-Ton 3 A: Buddhistischer Mönch     0,30
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We as buddhistic…
„Wir als buddhistische Mönche können nicht akzeptieren, was in Tschetschenien geschieht. Das ist ein wirkliches Verbrechen, ein sehr beschämendes Verbrechen gleich zu Anfang des 21. Jahrhundert. Und wir schließen uns diesem Meeting mit der Forderung an: Stoppt den Krieg in Tschetschenien! Hört auf die Menschen dort zu töten!“
… Tschetnja“, Musik

O-Ton 3 B: Plakatträger    1,00
Regie: Verblenden, O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Eta moi litschni..
Dieser Mann hat sich ein Zitat von Montesquieu auf sein Tragschild geschrieben. „Die schlimmste Tyrannei“, übersetzt er, „ist diejenige, welche unter dem Zeichen des Gesetzes und der Flagge der Gerechtigkeit daherkommt.“ Was man denn wohl unter Diktatur des Gesetzes verstehen solle, die Putin ankündige? fragt er. Nur bei den Faschisten habe es so etwas gegeben. Selbstverständlich werde es eine Opposition gegen Putin geben! Es müsse sogar mehrere Oppositionen geben. Seine Partei, die „Pazifistische Assoziation“ gehöre dazu. Ja, und auch die Bhuddistische Bewegung, natürlich.
…dweschennije”, Trommeln

Erzähler:
In einer Gruppe älterer Frauen ist man nicht so zuversichtlich. Die Frauen wettern gegen Wladimir Putins Kriegspolitik, gegen die Einschränkung der Pressefreiheit, gegen die Zusammenarbeit Putins mit den Kommunisten in der Duma. Sie fürchten eine neue KGB-Herrschaft. Schließlich komme Putin doch von dort. Doch an die Möglichkeit, dass eine Opposition gegen den neuen starken Mann entstünde, glauben sie nicht:

O-Ton 4 A: Frauengruppe    0,30
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, der Übersetzerin unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje budit…
„Nein, die wird es nicht geben“, meint eine der Frauen. „Bei der Uneinigkeit der Kräfte!“ ergänzt eine andere. „Leute, die wirklich verstehen, was in unserem Land heute geschieht, gibt s nur sehr wenige“, setz die erste fort.“Da gibt es keinen wirklichen Weg. Aus meiner Sicht ist das einzig Richtige: Gegen alle zu stimmen. Ich kann keinen von denen unterstützen.“
… paderschewaju“, Musik

Erzähler:
In den Beiträgen vom Podium wird Klartext gesprochen. Das Wort zur Eröffnung hat die Rangälteste unter den sogenannten Menschenrechtsgruppen, Memorial. Bei Einsetzen der Perestroika Anfang der 1980er entstand die Gruppe direkt aus dem dissidentischen Untergrund heraus. In den Jahren unter Gorbatschow und Jelzin wuchs Memorial zu einer moralischen Instanz des neuen Russland heran, insbesondere durch ihre Aufarbeitung des Stalinismus. Jetzt sieht sich die Organisation wieder an den Rand gedrängt. Ihr Sprecher, Oleg Orlow, findet scharfe Worte gegen den aktuellen Kurs der Regierung, speziell gegen Wladimir Putin:

O-Ton 5 A: Oleg Orlow, Memorial    1,00
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nassilije, krow, losch…
„Gewalt, Blut, Lüge – ein Weg von der Unfreiheit zur Unfreiheit, von Imperium zu Imperium, vom zaristischen Imperium zum kommunistischen, vom kommunistischen zum heutigen, dem putinschen. Die letzten Ereignisse könnten uns dahin bringen zu glauben, dass Russland nicht fähig sei, aus diesem entsetzlichen Hexenkreis herauszutreten. Stattdessen sind wir aber hierher gekommen, um Nein zu sagen zu diesem Wahnsinn! Das `Antimilitaristische Komitee´, das dieses Meeting heute organisiert, vereint zwanzig politische Organisationen. Wir mögen in einzelnen Fragen unterschiedlicher Meinung sein, aber in einem sind wir einig: in der Forderung, diesen verbrecherischen Angriffskrieg sofort zu beenden.
… etu prestubnu woinu.“

Erzähler:
Von einem Angriffskrieg spreche er deswegen, erklärt der Redner, weil ein ganzes Volk mit Krieg überzogen und aus seiner Heimat vertrieben werde,  statt dass mit den Verbrechern tatsächlich aufgeräumt werde.
Von einem Angriffskrieg und von bewusster Irreführung der Bevölkerung durch die Regierung Putins, insbesondere durch die in Tschetschenien kriegführende Generalität, spricht auch der nächste Redner. Es ist eine offizielle Stimme, Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten:

O-Ton 6 A: Waleri Barschiow, Menschenrechtler    2,00
Regie:  O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,
bei 117 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dorogie drusja…
“Liebe Freunde, man hat uns anfangs gesagt, dass eine anti-terrorististische Operation durchgeführt werde. Natürlich haben wir alle diese Operation unterstützt, denn alle waren daran interessiert, dass dem Banditismus in unserem Lande endlich ein Ende bereitet wird. Man hat auch noch zugestimmt, als es hieß, dass ein sanitärer Kordon dafür nötig sei, dass das Militär den Terek überschreiten müsse. Aber das waren alles Lügen! Die Terroristen machten in aller Ruhe, was sie wollten; Bassajew zelebrierte in aller Seelenruhe eine Hochzeit mitten in Grosny, während rund herum unsere Truppen standen. Er lebte und war gesund und um ihn herum starben friedliche Einwohner. Nicht Banditen wurden in Tschetschenien verfolgt, sondern die  zivile Bevölkerung terrorisiert. Mitglieder der Sondertruppe ALPHA wurden kürzlich gefragt, ob sie in der Lage wären, den Auftrag zur Liquidierung der Terroristen zu erfüllen. `Ja, das könnten sie´, antworteten sie, `wenn ihnen eine solche Aufgabe gestellt würde; aber niemand habe ihnen eine solche Aufgabe gestellt.´“

Erzähler:
Nicht gegen den Terrorismus, sondern gegen den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft werde dieser Krieg geführt, fährt er fort und schließt mit den Worten: „Unser Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat das Land dem Militär eine Weiße Karte ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
…Faschism“, Beifall

Erzähler:
Starke Worte findet Ludmilla Wrassowi vom Komitee der Soldatenmütter Russlands. Das Komitee erfreut sich starker moralischer Autorität, die noch aus ihrem erfolgreichen Widerstand gegen den ersten tschetschenischen Krieg von 1994 – 96 herrührt. Damals holten vom Komitee unterstützte Mütter ihre Söhne direkt aus dem Kampfgebiet nach Hause. Solche Aktionen sind heute nicht möglich. Heute sieht sich das Komitee darauf beschränkt, die künstlich niedrig gehaltenen offiziellen Opferstatistiken durch Angaben nach eigenen Recherchen zu korrigieren und durch Veröffentlichung der wirklichen Opferzahlen der Kriegsbereitschaft entgegenzuwirken:

O-Ton 7 A: Komitee der Soldatenmütter
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 113 vorrübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Nas wosmuschajet…
“Uns empört, dass dieser Krieg gegen unsere eigenen Bürger durch die Hände unserer Söhne geführt wird, achtzehn- und zwanzigjähriger Jungs. Uns empört, dass es unsere Kinder sind, die zehntausenden friedlichen Menschen den Tod bringen. Und das Erschreckendste: Sie lernen zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben im eigenen Land! Nach Kriegsrecht darf so etwas nirgends geschehen, aber besonders schlimm ist es, wenn es mit unseren eigenen Einwohnern geschieht. Wir sind kategorisch gegen eine Fortsetzung dieses Krieges! Wir sehen doch, wie diese Jungs zurückkommen. Der Staat lässt sie allein: keine Prothesen, keine medizinische Hilfe, keine Rehabilitierung, Pensionen zum Verhungern. Wenn solche Menschen, unfähig, ein eigenes Leben zu führen, dennoch eine Familie gründen – was bringen sie ihren Kindern bei?! Unterdrückung Anderer! Mißachtung der Menschenwürde! Was wird das für eine Gesellschaft!? Deswegen fordern wir von der Regierung, diesen Krieg einzustellen: Hört auf die jungen Männer Russlands zu vernichten.“

Erzähler:
„Und noch etwas“, fährt sie fort, „wenn wir eine professionelle Armee fordern, dann wird uns seit Jahren geantwortet, es gebe kein Geld, Russland sei wirtschaftlich nicht bereit, zu einer Berufsarmee überzugehen. Da möchte man fragen: Aber für diesen Krieg waren die Milliarden da?! Und für den vorherigen auch?! „Veranlassen wir also unsere Regierung, das zu tun, was wir wollen!“ schließt die Rednerin, „damit wir gesunde, junge Leute haben, glückliche Familien und gesunde Jugendliche. Anders wird Russland keine Zukunft haben.“
… buduschewa.“, Beifall

Erzähler:
Ganz aus der Deckung wagt sich Nicolai Kramow, der sich als Sekretär einer „Antimilitaristischen radikalen Assoziation“ vorstellt. Die Assoziation ist eine kleine Organisation, die Kriegsdienstverweigerer unterstützt. Ungeachtet möglicher drastischer Folgen, die er zuvor beschreibt, ruft Kramow öffentlich zur Verweigerung des Kriegsdienstes auf:

O-Ton 8 A:Nikolai Kramow, Kriegsdienstverweigerer     0,40
Regie: (Achtung O-Ton sehr knapp!) Kurz stehen lassen, abblenden,  unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Beifall, “Nas otschen mala…
“Wir sind sehr wenige, umso wichtiger ist die Mission, die wir haben: Deshalb appelliere ich an alle Einberufenen, an alle jungen Bürger im einberufungsfähigen Alter: Verweigert den Kriegsdienst aus Überzeugung! Ich appelliere an alle Offiziere, Reservisten, Wehrpflichtige, die jetzt eingezogen werden sollen, um die Lücke in der Armee aufzufüllen, welche durch die Politik im Kaukasus geschlagen wurde: Verweigert Euch aus Überzeugung! Krieg in Tschetschenien – ohne uns, bitte!
… bes nas paschalsta!“

Erzähler:
Nikolai Kramow hat recht: Zweihundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei einer Kundgebung gegen den Krieg, zu der mehr als zwanzig Organisationen aufgerufen haben und die bekannt gemacht wurde durch den vielgehörten Stadtsender „Echo Moskaus“ – das ist ein mageres Ergebnis. Da ist man nahezu unter sich. Zu Zeiten des ersten Krieges in Tschetschenien waren es mehr Menschen, die protestierten, ganz zu schweigen von den Massendemonstrationen für Perestroika in den Zeiten Gorbatschows, der Volksbewegung für die Verteidigung des „Weißen Hauses“ gegen den versuchten Staatsstreich der alten Parteinomenklatuta 1991, der Boris Jelzin an die Macht brachte.
Nicht ein Vertreter aus den Reihen der Parlamentsparteien, nicht einer derer, die mit Wladimir Putin um den Präsidentensessel konkurrieren, ist dem Aufruf gefolgt. Allerdings hält sich auch die Polizei vollkommen zurück. Nur die Lauscher des Inlandgemeindienstes demonstrieren offen ihren Einsatz; ihre sichtbare Präsenz genügt der Regierung offenbar zur Einschüchterung. Die herrschende Politik, Duma ebenso wie die Regierung Putin, einschließlich der Verwaltung der Stadt Moskau, straft die Versammlung mit Nichtbeachtung.
Nur einer aus der Reihe der etablierten Politiker, Grigori Jawlinksi, Chef der westlich orientierten Partei „Jabloko“, einer aus der Reihe der elf Konkurrenten Wladimir Putins um den Sessel des Präsidenten, lässt noch eben vor Schluss der Veranstaltung ein Telegramm aus der nur 200 Meter entfernten Duma an die Versammelten übermitteln. Die Leiterin der Veranstaltung liest vor:

O-Ton 9 A: Telegramm von Grigori Jawlinski     1,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,45 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
“Drusja…
„Freunde, ich verstehe diejenigen gut, die zu diesem Meeting gekommen sind.  Ich tue alles, um diesen Krieg anzuhalten, den sinnlosen und grausamen. Verbrechern und Banditen muss das Handwerk gelegt, aber das Volk muss geschützt werden. Die Soldaten sollen lebendig nach Hause zurückkehren und mit reinem Gewissen. Unterschrift: Grigori Jawlinksi.

Erzähler:
Die Kundgebung endet mit der Aufforderung an die Versammelten, sich an der Organisation einer Unterschriftenliste zu beteiligen, die ein Ende des Krieges fordert und zur Kriegsdienstverweigerung aufruft. Danach werden hundert blaue Lufballons als Boten des Friedens in den kalten Moskauer Spätwinter-Himmel entlassen:
…tri, tschetirije!“, Beifalll

Erzähler:
Wenige Tage nach der Kundgebung veröffentlicht die Partei Jawlinskis, „Jabloko“, selbst einen Aufruf gegen den Krieg. Die Staatsmacht, allen voran der ungeliebte, aber unbestrittene Champion der bevorstehenden Präsidentenwahl, Wladimir Putin, zeigt sich indessen von solchen Protesten ganz unberührt. Die kritischen Töne, vor allem aber die in der Bevölkerung aufkommenden Ängste vor einer Rückkehr zum KGB-Staat oder auch vor dem Übergang zu einer zur Diktatur der Reichen kontert Wladimir Putin mit populistischen Auftritten an den verschiedensten Orten des Landes, bei denen er allen alles verspricht. Zu besten Sendezeiten füllen seine Auftritte die Programme aller, selbst der kritischeren Fernsehanstalten.
Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Besuch Wladimir Putins im fernen sibirischen Irkutsk. Dort habe der „Amtierende“, wie er im Sprachgebrauch der russischen Medien genannt wird, nach Ansicht politischer Kommentatoren erstmals programmatische Perspektiven erkennen lassen, die über seine bei Amtsantritt Anfang 2000 im Internet veröffentlichten Absichtserklärungen, kollektive Traditionen des Landes mit Marktwirtschaft irgendwie verbinden zu wollen, hinausgehe. Vor Studentinnen und Studenten der Irkutsker Universität beantwortete Wladimir Putin Fragen nach seinem Programm:

O-Ton 10 A : Wladimir Putin    0,15
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Schluß., hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Lubaja Programma dolschna…
“Jedes beliebige Programm muss – nicht mit Steuern oder Ausgaben, sondern mit der Entwicklung von moralischen Werte des Staates beginnen.“
… gossudarstwa.“

Erzähler:
Zur Frage von Diktatur oder Demokratie beschied er sein junges Publikum und damit die Bevölkerung vor den Fernsehschirmen:

O-Ton 11 A: Wladimir Putin, Forts.     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana..
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, den Kommunismus, jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form Verwaltung begründen, dass sie das Wichtige, dass sie die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Entwickeln soll diese Perspektiven eine Strategiekommission, in die Wladimir Putin vornehmlich liberale Intellektuelle aus seinem St. Petersburger „Kommando“, wie man in Russland sagt, berufen hat. Anlässlich des Besuches einer Ausstellung von Bildern in Irkutsk, welche Kinder zum Thema Zukunft gemalt hatten, empfahl der „Amtierende“ dem Leiter dieser Kommission, German Gref, vor laufender Kamera schließlich noch, sich in seiner Arbeit an den Fantasien der Kinder zu orientieren. Nicht wenige von ihnen, so wurde dem Fernsehpublikum gleich darauf mitgeteilt, haben sich als Helden gemalt, die, bewaffnet mit MG, die Gesellschaft von Räubern und Banditen befreien.

O-Ton 12 A: Gemurmel, Klavier    0,30
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen, mit Klavier hochziehen, (noch vor ersten Worten) abblenden

Erzähler:
Ansage, Klavier….
Mit einer Referenz an die Intellektuellen, die immer die ersten bei Reformen, aber oft auch, wie die nach seinerzeit nach Sibirien verbannnten Dekabristen, deren Leidtragende seien, endete dieser Aufftritt Wladimir Putins in Irkutsk.
…Klavier

Erzähler:
Angesichts solcher Auftritte überrascht es kaum, wenn Juri Lewada, altgedienter Chef des zentralen Meinungsfroschungsinstituts (WZIOM) in Moskau, der schon die Regierung Gorbatschows, dann Jelzins mit Daten zur Volksmeinung versorgte, die Situation so beschreibt:

O-Ton 13 A: Juri Lewada
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:    1,20
“Opposizia jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Das heißt, die Frage stellt sich anders, nämlich, ob es eine organisierte Opposition gibt. Wird sie so stark sein, dass sie bemerkbar wird? Nach den gegenwärtigen Daten der letzten Zeit ist eine solche Opposition nicht erkennbar. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
546 ..sawjedoma.“

Erzähler:
Gründe für diese Situation liegen nach Lewadas Erkenntnissen darin, dass trotz nicht mehr zu verheimlichender steigender Opferzahlen nach wie vor 60% der Bevölkerung den Kriegskurs Wladimir Putins bis zu einem „siegreichen Ende“ unterstützen. Dagegen habe keiner der übrigen Kandidaten eine Chance. Anwärter wie Luschkow, Primakow, Tschernomyrdin hätten sich daher zurückgezogen. Wer trotzdem gegen Putin antrete wie Szuganow, der Kandidat der Kommunisten, wie Jawlinski tue das aus anderen Gründen, vielleicht aus langfristigen Erwägungen, jedenfalls nicht um jetzt Präsident zu werden. Das gelte umso mehr noch für Kadidaten wie Schirinowski. Noch wesentlicher aber sei möglicherweise, dass die Bevölkerung – die Politiker eingeschlossen – Putin als Blackbox erlebe, als Mr. Nobody, dessen einziges Geheimnis vielleicht darin bestehe, dass er keins habe. Aber wer wisse das schon?
Und so stellten sich eben offensichtlich alle darauf ein, abzuwarten und zu sehen, was für sie in dieser Box liegen könnte.
Viel Gutes sei von einem Mann, der durch den Krieg an die Macht gekommen sei, allerdings nicht zu erwarten; andererseits auch nicht viel Neues:

O-Ton 14 A: Lewada, Forts.    1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei  0,35 vorübergehend hochziehen (sodaß man das Stöhnen hört) weiter unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:
“Ponimaetje, nitschewo…
„Verstehen Sie, nichts kommt von Nichts. Natürlich ist Putin ein anderer Typ Mensch als Jelzin und auch als Gorbatschow. Aber er fällt ja nicht vom Himmel. Er wurde von der Situation hervorgebracht, die sich bei uns entwickelt hat. Deshalb wird er sie also fortsetzen – oder irgendetwas zerstören. Im Moment zerstört er das Bild Russlands in der internationalen Meinung, das ist offensichtlich, und die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Viel aber kann er auch wieder nicht zerstören, denn er kein unabhängiger Mensch. Er wurde letztlich doch von denselben Händen aufgezogen und geformt, in denen Jelzin sich befand, Kräfte, die aus dem Hintergrund kommandieren, Bankiers, die regieren oder sonst noch Leute, die Einfluß nehmen. Aber es sind auf jeden Fall dieselben Leute.“
…tesche samije ludie.“

Erzähler:
Die Ankündigungen Wladimir Putins, eine neue Staatsmoral aufbauen zu wollen, beantwortet Juri Lewada mit müder Gelassenheit:

O-Ton 15 A: Lewada, Forts.    0,30
Regie: O.Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnogim nrawitza…
„Vielen gefällt es, dass bei uns alles stromlinenförmig werden könnte. Aber ich glaube nicht, dass etwas daraus wird. Doch schauen wir; Teile werden vielleicht verwirklicht. Und was die Zukunft betrifft: Wer versuchen zu überleben! Wir haben schon viel überlebt; versuchen wir es wieder! Das wird harte Kost sein für das Land, für die Menschen, aber irgendwie werden wir es lernen.“
319…  utschitsja“

Erzähler:
Im Hauptquartier der Gegner Putins, in der Fraktion der Kommunistischen Partei, will man von solchen Tönen nichts hören. Auf die Frage, warum Gennadij Szuganow, der Sekretär der Kommunistischen Partei, gegen Wladimir Putin antrete, obwohl man überall höre, dass er sich keine Chancen auf einen Sieg ausrechnen könne, antwortet Andrej Filippow, Beauftragter der Fraktion für internationale Beziehungen:

O-Ton 16 A: In der Fraktion der KPRF    0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Jestdestwena…
“Natürlich haben wir unseren Kandidaten für diese Wahlkampagne ausdrücklich deswegen aufgestellt, weil wir in der Opposition sind. Wir wollen zeigen, dass ein beachtenswerter Teil unserer Bevölkerung mit dem gegenwärtigen Kurs der Regierung nicht einerstanden ist. Und wir hoffen natürlich, dass wir keine schlechte Resultate erzielen, andernfalls bräuchten wir nicht anzutreten: Wir nehmen an den Wahlen Teil, um zu siegen.
…schtobi pobeschdat.“

Erzähler:
Anrdej Filippow erinnert daran, dass 1996 auch Jelzin erst nach dem zweiten Wahlgang gesiegt habe, nachdem Alexander Lebed, der seinerzeit als dritter durch Ziel ging, Jelzin seine Stimmen zuführte. Etwas ähnliches werde es diesesmal aber nicht geben, denn einen vergleichbaren Kandidaten, der bei einer eventuell. notwendigen Stichwahl mit Wladimir Putin in ähnlicher Weise koalieren könne, werde es diesesmal nicht geben. Lebed selbst habe verzichtet; für den dieses mal möglichen Anwärter eines dritten Platzes, Grigorij Jawlinski sei  eine Koalition mit Putin undenkbar. Also, müsse man sich durchaus auf ein Kopf an Kopf-Rennen der beiden wichtigsten Konkurrenten, Putin und Szuganow einstellen. Hinter dem einen stehe die gegenwärtige Partei der Macht, die vor der Duma-Wahl im Dezember aus dem Nichts geschaffene Partei „Einheit“; auf der anderen stünden solide 30% kommunistischer Stammwähler. Dazu kämen noch die Verbündeten der „patriotischen Front“. Das, versichert Filippow, seien doch die allerbesten Voraussetungen für einen Sieg, oder nicht?
In einem allerdings sieht Filippow ernsthafte Schwierigkeiten, die große Herausforderungen an seine Partei stellten:

O-Ton  17 A: Filippow, Forts.     1,35
Regie : O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“Nun dela w`tom…
“Nun, das Problem ist – für den einfachen Beobachter unserer Politik muß es gegenwärtig so scheinen, als ob Szuganow und Putin das Gleiche sagen. Man hat unsere Losungen übernommen. In Putins Aufsatz vom Anfang des Jahres glaubte man die KPRF zu hören: dieselben Worte! Eine andere Sache ist, dass der Inhalt ein anderer ist. Er sagt: Staatlichkeit – wir auch; er sagt: Imperium –wir auch. Wenn man ihn reden hört, kann man sagen: Szuganow, Buch soundso, Seite soundso. Aber es gibt einige prinzipielle Positionen, wo man nichts von ihm hört: Etwa der Kampf mit der Korruption. Nichts! Die Frage der Überprüfung krimineller Auswüchse der Privatisierung – Nichts! Entscheidend ist schließlich die Frage des Verkaufs von Grund und Boden. Er ist dafür und weiß doch zugleich, dass das nicht akzeptiert werden wird. Gemeinschaftliche Nutzung des Bodens hat bei uns tiefe Wurzeln in der Geschichte. Auch die von einigen geforderte Privatisierung der natürlichen Monopole, Gasprom, R-A-O-U-ES, also des landesweiten Energiemonopols, der Eisenbahn und anderer wird für ihn sehr problematisch. All diese wirtschaftlichen, diese prinzipiellen Fragen werden für ihn das Examen sein.“
.. budit Examen.“

Erzähler:
Die schärfste Differenz zu Putin kommt bemerkenswerter Weise nicht von der kommunistischen, auch nicht von neulinker Seite, sondern von der nationalbolschwisten Rechten, den sogenannten „patriotischen Kräften“. Die Kommunistische Partei begnügt sich mit dem Platz einer etablierten Opposition. Das entspricht der Rolle, die sie bereits unter dem Präsidentschaft Boris Jelzins angenommen hat. Ein Präsident Szuganow ist, allen Selbstermutigungen aus diesem Lager zum Trotz, nicht zu erwarten. Die neulinken Kräfte nähren, soweit sie nicht in den radikaldemokratischen Protesten gegen den Krieg aufgehen, Hoffnungen auf kommende Kämpfe einer unzufriedenen Arbeiterschaft.
Im Vergleich zu solchen Hoffnungen erscheint die Position der Nationalbolschewisten ernüchternd realistisch. Von kommenden Kämpfen könne keine Rede sein, meint beispielsweise Alexander Prochanow, Herausgeber der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen). Mit ihm in ein Horn stoßen die „Sowjetskaja Rossija“ und ein paar andere Blätter, deren Linie irgendwie zwischen Neo-Stalinismus, Marktwirtschaft und Nationalismus schlingert. Ein Teil unterstützt die KP, ein anderer nicht. Eine richtige Bewegung bekommen sie zur Zeit auch nicht zustande.
Mehr als lokale Proteste seien zur Zeit nicht zu erwarten, meint Prochanow; zudem habe die Regierung begonnen, die Lohn- und Pensionsrückstande der letzten Jahre auszugleichen. Diese Aussagen Prochanows stimmen mit den Erwartungen des Präsidenten der Moskauer Gewerkschaft, Michail Nagaitzew und Prognosen aus Geschäftskreisen überein, die eine allmähliche Entwicklung eines innerrussischen Marktes erwarten. Auf Dauer aber, so Alexander Prochanow weiter und besteht dabei auf klassischer marxistischer Terminologie, werde Wladimir Putin den Widerspruch zwischen Basis und Überbau nicht aushalten:

O-Ton 18 A: Alexander Prochanow    0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Erzähler:
Alexander Prochanows Urteil, wenn auch aus extremer Position, in dogmatischer Sprache, kommt den Tatsachen wohl am nächsten: Wladimir Putin, wenn er zum Präsidenten gewählt wird, wird einen Kurs zwischen Liberalismus und imperialem Dirigismus suchen. Dafür sprechen auch seine neuesten Äußerungen über einen möglichen Beitritt Russlands zur NATO. Faktisch ist ein solcher Schritt unter heutigen Bedingungen unmöglich. Wladimir Putins Auslassungen zu dem Thema zeigen aber, auf welcher Schlangenlinie er zwischen imperialer Orientierung Russlands und Abhängigkeit vom Westen steuert. Sollte Wladimir Putin nicht gewählt werden, was unwahrscheinlich ist, wird aber doch jeder andere Präsident demselben Kurs folgen müssen. Einen anderen Weg gibt es für Russland zur Zeit nicht. Opposition wird, wie am Protest gegen den tschetschenischen Krieg erkennbar, darin bestehen, die Zahl der Opfer auf diesem Kurs so weit zu begrenzen, wie möglich.

RUSSLAND nach der Wahl:: Ruhe vor dem Sturm? Probleme in den Regionen?

Die Machtübergabe ist reibungslos erfolgt. Doch weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, könnte das Programm der neuen Führung direkt in neue Konflikte münden. Denn nachdem die Privatisierung der Produktionsmittel weitgehend abgeschlossen ist, muss nun das kommunale und soziale Leben privatisiert werden. Dies könnte zu schweren Auseinandersetzungen in den russischen Regionen führen.

Am Wahlsonntag überraschte die Meldung, dass nicht nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zur gleichen Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und zusätzlich 106 Volksentscheide in 18 „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden. Worum es dabei ging, blieb im Dunkeln. Aber die Tatsache, dass mehr als hundert Volksentscheide in den Regionen an diesem Tag so gut wie nicht ins öffentliche Bewusstsein drangen, zeigt, worum die neue Führung sich zu kümmern haben wird: Um die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen Staatsspitze und Basis der Bevölkerung in den Regionen..

Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber nach Protesten auf Eis gelegt wurden. Dazu gehören die Entwicklung des Gesundheitswesens, das allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, die Durchführung eines Wohnungsbauprogramms, um die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum zu versorgen, die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung in der russischen Bevölkerung.

Der gegenwärtige Zustand in diesen vier Bereichen ist durchweg mangelhaft, teilweise sogar katastrophal. Im Gesundheitswesen hat eine Zwei-Klassen-Medizin die früher kostenlose medizinische Versorgung verdrängt. Die Preise auf dem derzeit chaotischen Wohnungsmarkt -einer Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und Häusern in Staatsbesitz – sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt wie für das Gesundheitswesen: Die Zwei-Klassen-Gesellschaft ist Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve schließlich hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; viel wurde dadurch allerdings bisher nicht erreicht.

Es könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung der von Medwedew angekündigten „Vier I’s“ – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – den angeblichen sozialen Intentionen der „nationalen Programme“ diametral entgegenläuft. Große Teile der Bevölkerung sind nach wie vor nicht bereit, viele auch materiell nicht in der Lage, den in diesen Programmen angelegten Übergang vom Prinzip der gemeinschaftlichen Grundversorgung, einschließlich darin enthaltener besonderer Zuwendungen für besondere Gesellschaftsschichten, in eine Geldordnung mitzumachen, in der jeder allein für sich sorgen, das heißt vor allem, zahlen muss.

Ein Blick auf das Programm Gennadi Sjuganows, des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwedews, der trotz der Wahlniederlage über starken Rückhalt in der Bevölkerung vor allem in den Regionen verfügt, verdeutlicht den Konfliktstoff: Sjuganow fordert die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das: Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das Wohn- und das Wassergesetz, das Gesetz zur Privatisierung des Bodens, des Waldes sowie das Arbeitsgesetz, das Streiks faktisch illegalisierte. Das alles sind Gesetze, welche die traditionellen Elemente der Gemeinschaftsversorgung durch Geldwirtschaft ersetzen sollen.

Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet daher nicht: Putin oder Medwedew. Sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial? Durchsetzung „europäischer Normen“, wie die Liberalen es nach wie vor fordern, oder Bewahrung eigener russischer Strukturen? Anders gesagt: Es stellt sich die Frage, auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet, was unwahrscheinlich ist. Die Antwort wird nicht lange auf sich warten lassen.

veröffentlicht in: Deutsche Zeitung Moskau

Themenheft 1: Was ist das Russische an Russland?

THEMENHEFT 1:
Was ist das Russische an Russland?

Texte von Kai Ehlers

März 93
Was ist das Russische an Russland?
Geschichte und Aktualität des russischen Korporativismus

Oktober 1999
Russland Heute
Thesen: Russlands Krise ist eine Wachstumskrise

Oktober 1999
Das Gesetz der Zone
Gespräch über Ursachen der Korruption in Russland.

27. März 2000
Putins Wahl:
Russland auf dem Weg zu sich selbst?

Vabanque

Vabanque – Bankraub, Theorie,
Praxis Geschichte.

Verlag Libertäre Assoziation, Schwarze Risse, Rote Strasse
Herausgegeben von Klaus Schönberger, Kontakt:
www.klaus-schoenberger.de

Darin der Aufsatz:
Russland – Bankraub ohne Perspektive

Unruhe in Eurasiens Steppengürtel Krieg der Kulturen oder Entstehung einer Alternative?

Kosovo, Tschetschenien, Tadschiskistan, Afghanistan – die Namen dieser Länder stehen für Kriege, die heute um ethnische Fragen geführt werden. Alle diese Konflikte liegen auf der Linie des großen euroasiatischen Steppengürtels, auf dem die Völker seit Jahrtausenden zwischen den Kulturen wandern. Auf dem selben Gürtel liegen auch Tatarstan, Tschuwaschien, Baschkortastan und andere nicht-slawische Republiken Rußlands an der Wolga, dazu kommen Burjätien, Chakasien, die Völker des Altai bis hinein in die Mongolei. Auch hier gibt es ethnische Konflikte, die bisher jedoch im Großen und Ganzen friedlich verliefen. Welche Linie wird sich durchsetzen?

(Wahlweise:
Wo einst die Hunnen zogen…
Skizzen aus dem Krisengürtel zwischen Asien, Rußland und Europa)

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit sind 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne so geschnitten, daß Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5. Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Achtung: Zwei Bobbies

B 1, O-Ton 1: Nachrichten, Kampfhubschrauber                                 2,01
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen, auslaufen lassen

Erzähler:
Kaukasus: Kampfhubschrauber im Anflug. Zerbombte Dörfer. Flüchtende Menschen. Eine immer perfektere Maschinerie der Zerstörung trägt den Krieg in die Bergdörfer. Wie sich die Bilder wiederholen! Tschetschenien, Kosovo, Afghanistan, Kaukasus, Balkan, Zentral- und Innerasien. Worum geht es?
Aus der Sicht der betroffenen Völker geht es um eine Befreiung vom Kolonialismus. Das Ende der Sowjetunion war für sie das Signal, ihre eigenen Geschicke bestimmen zu wollen. Der Us-amerikanische Ideologe Samuel P. Huntington spricht vom „Krieg der Kulturen“, der zwischen Asien und dem Westen ausgetragen werde. Moskau deklariert den tschetschenischen Krieg als Verteidigung gegen den Terrorismus islamischer Fundamentalisten.
Gegen diese Position machen selbst patriotische Kritiker der Regierung Front, denen an einer Widerherstellung des russischen Vielvölkerimperiums gelegen ist. So der Moskauer Publizist Alexander Dugin..Vor der Wahl der neuen russischen Duma war er Berater des Dumapräsidenten Selesnjow. Befragt, was er von der Deklaration des Gottesstaates durch die tschetschenischen Muslims halte, antwortet er:

B 1, O-Ton 2: Alexander Dugin, Geopolitiker                    1,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wa perwich…
„Ich würde das zuallererst in die geopolitischen Koordinaten einordnen. Der Hauptgedanke der Geopolitik ist der Widerspruch zwischen maritimen und und territorialen Reichen,Thalassokratie und Tellurokratie. Dieser Gegensatz drückt sich nicht in Ideologien, religiösen oder ethnischen Faktoren aus, sondern in einer Grundkonstellation, in der sich atlantische und euroasiatische Interessen heute gegenüberstehen. Die Verbreitungszone des Islam liegt in der sogenannten Übergangszone, die sich vom Süden Spaniens bis zu den Phlippinen erstreckt. Das ist die typische Zwischenzone. Das heißt, es gibt überhaupt keine einheitliche Geopolitik des Islam und es gibt keine einheitliche Vorstellung von einem einheitlichen islamischen Staat, nicht einmal unter den Radikalen. Die Rede ist vielmehr von zwei Tendenzen des Islam, einer atlantischen und einer euroasiatischen.
„…drugaja jewrojasiskaja.“

Erzähler:
Atlantisch – das heißt für Dugin: Amerika, euro-asiatisch im Kern: Rußland. In diesem Dualismus, so Dugin, werde sich die nächste Zukunft entwickeln.
Auch wenn man dieser einfachen Polarisierung nicht zustimmen mag, ist doch eines offensichtlich: Der Zerfall der sowjetischen Pyramide, in welche die Völker Euroasiens im Laufe eingebaut wurden, hat eine Vielfalt von Staaten hervorgebracht, die sich heute in der Übergangszone zwischen westlichem, also US-dominiertem, und russischem Einfluß befinden. Das beginnt in der Mongolei, umfaßt alle südlichen Staaten der GUS und endet auf dem Balkan. Aber nicht nur das. Unter dem Stichwort der „nationalen Widergeburt“ setzte sich dieser Prozess schon 1991 mit ständig zunehmender Intensität auch im im russischen Kernland fort:

B 1, O-Ton 3: Tatarisches Kulturzentrum                        1,04
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zentrum dieser Bewegungen ist Kasan, die Hauptstadt des islamisch geprägten Tatarstan, einer der sechs ethnisch bestimmten Republiken an der mittleren Wolga, also im Herzen Rußlands. Im Büro des „Tatarischen Kulturzentrums“ (TOZ) liefen alle Fäden zusammen. Von sieben Millionen Tataren der russischen Föderation leben etwa zwei Millionen in diesem Gebiet. Mit 48% Anteil an der Gesamtbevölkerung sind sie in Tatarstan fast gleichstark mit den Russen, die ihrerseits 47 Prozent der Bevölkerung stellen. Die übrigen fünf Prozent werden von den Völkern der umliegenden Republiken gestellt: Tschuwaschen, Baschkiren, Urmurten, Mordawier und Marie. Bis auf die Marie, die finnisch-ugrischen Ursprungs sind, sind alle anderen turk-tatarische Völkerschaften.
…ruski imperii.“

Erzähler:
Vizepräsident Raschit Jageferow erläutert die Ziele des Zentrums. Er überreicht seinem Besucher Statut und Programm des „TOZ“. Er legt Wert auf die Feststellung, daß das Zentrum eine staatliche Einrichtung der Republik sei. Dann erzählt er:

B 1, O-Ton 4: Forts. TOZ                                    0,41
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Sam u nas…
„Alles begann bei uns als Volksbewegung vor zwei Jahren, 1989. Zu Anfang waren es vielleicht elf Leute, Wissenschaftler, Historiker, eben tatarische Intellektuelle. Es gab einfach das Verlagen, eine solche Volksbewegung zu schaffen, um für die Souveränität der Republik zu kämpfen. Erste Aufgabe war die Gründung einer Republik, ähnlich wie früher Usbekistan, Kasachstan. Das war das erste Ziel.“
… sadatscha nascha bila.“
Erzähler:
Am 13.8.91 erklärte Tatarstan seine staatliche Souveränität. Das Referendum zu dieser Frage im März `92 brachte eine Mehrheit von 61 Prozent dafür. Anfang Juni 92 trafen sich Tataren aus aller Welt zum All-tatarischen Kongreß in Kasan. Er bekräftigte Forderungen nach staatlicher Souveränität, nach Gleichstellung von russischer und tatarischer Sprache und nach Schaffung eines übergreifenden tatarischen Kultturraumes. Im August `92 wurde ein Gesetz über die Gleichberechtigung der Sprachen verabschiedet.

B 1, O-Ton 5: Tschuwaschischer Kongreß, Applaus, Musik         2,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, O-Ton 6 darauf einblenden, weiter unterlegen, danach mit O-Ton 6 gemeinsam ausblenden

Erzähler:
Aber keineswegs nur die islamischen, auch die nicht-islamischen Republiken an der Wolga kamen in Bewegung. Dem all-tatarischen Kongreß vom Mai 1992 folgte ein all-tschuwaschischer im Juli desselben Jahres in Tscheboksary, ebenfalls an der Wolga. Tscheboksary ist die Haupstadt der tschuwaschischen Republik. Die Tschuwaschen sind nach den Tataren mit 4 Millionen die zweitggrößte Minderheit in der heutigen russischen Föderation. In der Republik selbst bilden sie mit sechzig Prozent die Mehrheit. Das Wort auf dem Kongreß führte Atner Chusangai, Sohn eines Literaten, der die Auseinandersetzung um die politische Macht in den Vordergrund rückte:

B 2, O-Ton 6: Atner Chusangai                            1,01
Regie: O-Ton 6 in Ton 5 einblenden,  beides kurz stehen lassen, unterlegen, hochziehen, mit O-Ton 5 (Musik) zusammen ausblenden

Übersetzer:
„Systema dolschna…
„Das System muß anders werden, das Budgetsystem, das Steuersystem, nicht so wie jetzt, nicht so zentralisiert. – Nun, bestimmte Vollmachten sind wir ja bereit der russischen Föderation zu überlassen, bitte sehr – aber wir sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das, das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist eueres, das ist unseres usw. Aber sie kennen unsere Situation hier nicht. Es muß umgekehrt sein: Das ist eueres, das fassen wir nicht an. Das müssen sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der Militärindustrie: Das ist Eueres – aber das ist unseres, unseres, unseres. Diese Politik gibt es zur Zeit bedauerlicherweise nicht. Das heißt, es muß eine härtere, unbeugsamere Position für die realisierung des Schutzes unserer Souveränität der Republik her. Diese Position gibt es zur Zeit leider nicht.“
…tam tagdali.“

Regie: Erst Sprache, dann Musik ausblenden

Erzähler:
Besonnene Stimmen relativierten. Professor Alfred Hwalikow, selbst Tatare, Ethnologe und Archäologe in Kasan von internationalem Ruf, inzwischen verstorben, sah eine kompliziertere Zukunft voraus:

B 1, O-Ton 7: Prof. Hwalikow                                1,23 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta snatschitelnaja…
„Das ist alles entschieden schwieriger! Es könnte sich alles so entwickeln, wenn sich die Sowjetunion auflösen würde. Aber die Union wird sich nicht auflösen, denn das, was wir die Sowjetunion nannten, ist ja nicht erst in den letzten siebzig Jahren entstanden. Es ist vor vierhundert und mehr Jahren entstanden als die Kasan erobert wurde, als die Eroberung Sibieriens begann. Dann der Kaukasus, danach Mittelasien. Das waren doch nicht die Bolschewiki.! Das ist imperiale Geschichte wie die Englands in Indien, wie die der Holländer. Die Oktoberrevolution brachte nur neue Schwierigkeiten, denn die Dinge entwickelten entgegen der Ideologie. Als Ergebnis erhielten wir dieses Mosnter vom Typ der Sowjetunion. Das mühte sich, alles mit schönen Worten zusammenzukleistern, Es blieben aber letztlich nur leere Phrasen. Der eigentliche Kitt war die alte russische Vorstellung vom Imperium. Diese imperialen Vorstellungen haben sich bis heute erhalten. Wie das rauszukommen ist – das weiß zur Zeit keiner und das kann niemand. .                                                    …i nje moschet.“
Erzähler
Noch tiefer in die Verwicklungen der Geschichte führen die Forschungen des tschuwaschischen Kulturzentrums. Da ist zunächst der greise Dichter Alexander Terentjew. Er ist von Haus aus Ingenieur, hat aber ein Buch über die Geschichte Tschuwaschiens und, was noch interessanter ist – eine Balldade über Etel, also Attila, den Hunnenkönig, als Zar der Tschuwaschen verfaßt. Den Zusammenhang, den er zwischen tschuwaschen und den Hunnen sieht, beschreibt er so:

B 1, O-Ton 8: Alexander Terentjew                            0,23 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje o pomminanije tolka…
„Nach meiner Erinnerung begann die Geschichte Tschuwaschiens mit der großen chinesischen Mauer: Stiller Ozean, China, Altai, danach die kaspische Steppe, das asowsche Meer; dann kommen schon die Bolgaren, noch nicht die Tschuwaschen, die kommen später. Alles das ist hunnische Geschichte: Attila! Die Bolgaren teilten sich dann, die einen wandten sich zur Donau, die anderen an die Wolga.“
…na Wolgu.“

Erzähler:
Die Tschwuaschen, zeigt sich, verstehen sich als Nachfolger Attilas, und zwar der Teile der Bolgaren, die sich beim Rückzug der Hunnen an der Wolga festsetzten. Zusammen mit den Donaubolgaren gründeten das Bolgarische Reich, das erst vom nächsten großen Völkersturm, dem der Mongolen unter Tschingis Chan im 13. Jahrhundert zertrümmert wurde. Im Chanat Kasan, einem Teilfürstentum des mongolischen Weltreiches, verbanden sich tschuwaschische und tatarische Geschichte sowie die Geschichte weiterer mit Hunnen, Türken und Mongolen nach Westen gezogener Völker unentwirrbar miteinander. Mit der Eroberung Kasans, die 1552 das russische Rolback des Mongolischen Weltreiches einleitete, wurden die einen wie die anderen Objekt russischer Ostkolonisation, von der sie sich immer wieder durch erfolglose Aufstände zu befreien suchten. Hinzu traten unterschiedliche Einflüsse von Islam und Christentum. Vor der Revolution von 1917 stand die Mehrheit der nicht-russischen Völker an der Wolga in islamischer, die Tschuwaschen dagegen,  abgesehen von starken Resten naturreligiöser Anschauungen, in christlicher Tradition. Für heute, das heißt, in einer Phase der weltanschalulichen und religiösen Neuorientierung, ergibt sich daraus eine Situation, die der tschuwaschische Schriftsteller und Mythenforscher Michail Juchma mit den Worten beschreibt:

B 1, O-Ton 9: Michail Juchma                                  1.08 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wsjo sawissit…
„Alles hängt jetzt von der Position des Islam ab, davon, wie sich der Islam entwickelt. Wenn der Islam sich als taktisch geschickt erweist, das heißt, mit Schmeichelei vorgeht, dann kommt er hier durch. Das wiederum hängt aber ganz von den Tschuwaschen ab. Was die Tschuwaschen machen, das machen auch die Marie, Utmurten und die Mordawier. Warum das so ist? Alle übrigen turkstämmigen Völker an der Wolga sind Mohammedaner. Nur die Tschuwaschen, ebenfalls turkstämmig, sind christlich; aber auch bei ihnen wächst das Interesse am Pantürkismus und sie wenden sich ihm mehr und mehr zu. Russen, Türken, Iraner, alle anderen sehen das: Das schwächste Glied der russisch-orthodoxen Kirche an der Wolga sind die Tschuwaschen. Deshalb wird die islamische Welt jetzt die Tschuwschen attakieren.“
…slabaja fronta.“

Erzähler:
Michail Juchma weiß, wovon er spricht. Er ist nicht nur Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“ , sondern auch zweiter Vorsitzende der „Demokratischen Partei der türkisch-sprachigen Völker“, die auch mit türkischen Kräften außerhalb der russischen Föderation eng zusammenarbeitet. Auch von islamischen Fundamentalisten werden Juchma und seine Freunde gedrängt, sich für den Islam zu entscheiden. Ganz undenkbar wäre das nicht, da es in der tschuwaschisch-tatarischen Geschichte Perioden gab, in denen die Tschuwaschen mehrheitlich dem Islam anhingen. Kehrten sie heute dorthin zurück, würde ein zusammenhängendes islamische Gebiet wie ein Keil von Süden ins christliche Herz Rußlands hineinragen.
Aus Moskau reiste deshalb im Sommer 1992 Boris Jelzin persönlich mitsamt seinem „Kommando“ an, wie seine Regierung in Rußland genannt wurde. Man bot den Tschuwaschen an, sie könnten bei der Umwandlung der zentralen Staatsbetriebe 35 Prozent der Aktienanteile übernehmen. Dabei blieben die Betriebe zwar immer noch in Moskauer Hand. In der Hierarchie der Angebote, das die „Moskauer“ den übrigen Gebieten machten, war dies einmalig. Außerdem versprach Boris Jelzin hohe Subventionen für die vor dem Bankrott stehenden Großbetriebe der Republik. Das macht deutlich: Moskau wollte die Tschuwaschen als Gegengewicht gegen Tatarstan und seine islamischen Freunde stabilisieren.

B 1, O-Ton 10: Musik                                                1,45    (bricht ab)
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden mit O-Ton 11, danach gemeinsam ausblenden

Erzähler:
Zwei Jahre später, im Sommer 1994, und zweitausend Kilometer weiter im Osten. Abakan in Chakasien, eine der südsibirischen ethnischen Provinzen am Fuße des Altai. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen die Provinzen Altai und Tuwa, in denen, wie in Chakasien noch, ja mehr als das, jetzt wieder vermehrt nomadische Wirtschaftsweise praktiziert wird. Auch hier haben, mit etwas Verspätung, die Impulse der „nationalen Widergeburt“ inzwischen Früchte getragen. Im Kulturbüro der Provinzverwaltung ist man allerdings eher zurückhaltend. Eine der dort arbeitenden Frauen erklärt:

B 2, O-Ton 11: Kulturverwaltung in Abakan                        1,50
Regie: O-Ton verblenden, mit Musik im Hintergrund kurz stehen lassen , beides abblenden, unterlegen, bei 0,44 (Stichwort: weschej )  vorübergehend hochziehen, unterlegen , hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Da konjeschna …
„Ja, selbstverständlich, Widergeburt der chakasischen Nation sollte sein.  Allerdings machen wir uns mehr Sorgen um die Kultur. Früher hatten wir Folklore, früher hatten wir eigene, sehr schöne Kopfbedeckungen, Lieder usw. Das ist alles verloren. Für diese Wiederburt  sind wir. Für kulturelle Wiedergeburt, nicht so sehr nicht für politische. Natürlich ist es gut, daß wir eine Republik wurden. Aber daß da irgendwas mit den Russen so quer läuft – nein, ich bin ganz und gar gegen solche Sachen.“
… etich weschej.“

Erzähler:
Kulturelle Wiedergeburt, fahren die Frauen fort, sei  dagegen sei eine große Sache, die man mit zwei Worten gar nicht beschreiben könne: Verehrung der Alten, Achtung der alten Sitten, der Überlieferung, Bewahrung der Sprache. Vor allem die Welt der alten Epen müsse gepflegt werden, das Brauchtum der Volkserzähler. Viele junge Leute gebe es inzwischen, die mit professionellen Mitteln die alten Geschichten neu erzählten. Nach wenigen Augenblicken sprechen alle Versammelten begeistert von der Eigenart und der Vielfalt des nomadischen Lebens und seiner uralten Kultur. „Kommen Sie zu unserem nächsten Fest“,  schließen sie, “ da können Sie alles sehen.“
…  lachen, Genmurmel

Regie: Ton 11 Sprache zusammen mit Ton 10 abblenden

Erzähler:
Im regionalen Heimatmuseum gibt es politischere Töne zu hören. Dort arbeitet der Archäologe Uwan Dostangonow, sechsundzwanzig Jahre alt. Er ist Mitglied in der „Chakasischen Gesellschaft für Wiedergeburt“. Nachdem er die Geschichte der Chakasen als Teil einer großen Völkerbewegung der Hunnen, Turk-Tataren und Mongolen zwischen Asien und Europa skizziert hat, erklärt er:

B 1, O-Ton 12: Uwan Dostangonow                                 1.05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My jawlajem Tschast…
„Wir sind Teil der Wiedergeburt der turkstämmigen Völker. Das hat sich so entwickelt: Zuerst haben sich die kleineren Völker Sibiriens, neunundzwanzig sind es, zu einer Assoziation  zusammengeschlossen; das war 1988, 1989 und 1990. Die turkstämmigen Völker des Altairaumes haben einen eigenen südsibirischen Zusammenschluß gebildet. Da der nicht sehr aktiv war, haben wir eigene, aktivere Formen der Zusammenarbeit mit vergleichbaren Organisationen im nördlichen Kaukasus gesucht, so mit der „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Das führte zur Gründung einer Jugendorganisation unter den türkischen Völkern. Schließlich wurde 1991 in Kasan der erste Kurultai der TurkJugend durchgeführt.
… kurultai turkskich maladjosch.“

Erzähler:
Kurultai hieß die Versammlung, auf der im Jahre 1206 Tschingis Chan zum Herrscher ausgerufen wurde, und von der aus die turk-mongolischen Stämme sich unter seiner Führung zur Eroberung der Welt aufmachten. Fünfzig Jahre später war nahezu die gesamte damals bekannte Welt von China bis nach Europa unterworfen. Es begann die Zeit, die Marco Polo als „Pax Mongolica“ beschreibt, während der eine Karawane, wenn sie unter dem Schutz des Mongolenchans stand, die monatelange Reise von Europa bis nach China zurücklegen konnte, ohne ausgeraubt zu werden.
Kurultai heißen heut die Versammlungen turk-tatarischer Völker. Mehrere Kurultais, an denen russische wie nicht-russische Turkvölker Inner- und Zentralasiens, des Kaukasus, des vorderen Orients und des Balkan teilnahmen, haben seit 1991 stattgefunden: 1992 in UFA, 1993 in Baku, danach in Ankara. Bei diesen Versammlungen gerieten pantürkische, auch islamisch fundamentalistisch motivierte  Expansionsvorstellungen und gemäßigte Forderungen nach der Entwicklung eines einheitlichen turkstämmigen Kulturrraums immer öfter aneinander. Härtere Konflikte mit der russischen zentralmacht, wie sie dann im ersten tschetschenischen Krieg zum Ausbruch kamen, deuteten sich an.
Im Sommer 1994 lag dies alles noch in Zukunft. Gefragt, welche Linie sich durchsetzen werde, antwortete der junge chahasische Aktivist:

B 1, O-Ton 13: Forts. Uwan Dostangonow                    0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No, mnje kaschetsja…
„Ich glaube, daß der Pantürkismus keine Gefahr ist, weil jedes Gebiet, in dem Turkvölker leben, ihre Spizifika besitzt: Chakasien, Tatarstan, nördlicher Kaukasus, andere. Eine große Rolle spielt auch die Tatsache, daß nicht alle turkstämmigen Völker Anhänger des Islam sind.“
… Islama“.

Erzähler:
Er hoffe jedenfalls, daß Pantürkismus ebensowie Panslawismus oder andere Fundamentalismen der Vergangenheit angehörten. Andernfalls, schließt er,  werde es große, langandauernde Konflikte geben.

B 1, O-Ton 14:  Beifall, Musik                                  2,01
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit O-Ton 15 verblenden, zusammen mit O-Ton 15 hochziehen und ausblenden

Erzähler:
Von der gleichen Hoffnung war der siebte Kongreß der Mongolisten getragen, der 1997 rund 400 Wissenschaftler aus aller Welt für eine Woche in Ulaanbaator, der Hauptstadt der Mongolei, zusammenführte, die sich ein Bild über die Entwicklung der Mongolei, Inner- und Zentralasiens nach dem Ende der Sowjetunion machen wollten.

B 2, O-Ton 15: Foyer, Prof. Lhagwa                            0,46
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen und zusammen mit O-Ton 14 ausblenden

Erzähler:
„Ah, inowa mongol.. (Mongolisch)…
„Die Mongolisten“, erklärt ein Teilnehmer des Kongresses, Prof. Lhagwa, Physiker vor Beginn der Eröffnung voller Erwartung, erst mongolisch, dann russisch, „betreten heute neues Gelände.“ Die Mongolei habe sich für die Welt geöffnet. Jeder Mongole, jeder mongolische Wissenschaftler könne jetzt seine Meinung über die Geschichte äußern und über die weitere Entwicklung. Das habe eine sehr große Bedeutung.“
…snatschennije

Regie: Erst Sprache, dann Musik ausblenden

Erzähler:
Auf internationalem wisssenschaftlichen Niveau wurde auf diesem Kongreß von internationalen Wissenschaftleren und Wissenschaftlerinnen bestätigt und vertieft, was tatarische, tschuwaschische, chakasische, mongolische und turk-tatarische Heimatforscher, Ethnologen und Kulturpolitiker seit Öffnung des eisernen Vorhangs zur Frage des einheitlichen turk-tatarischen Kulturrraumes ausgegraben haben. Dr. Eva Tschaki von der Universität Budapescht zum Beispiel ist Altaistin. Als Sprachforscherin hielt sie sich jahrelang in Kasan auf, um die Verwandtschaft zwischen den in ihrer Heimat Ungarn, den turk-tatarischen Völkern Rußlands, denen des Kaukasus sowie Mittel- und Zentralsiens zu studieren. Ihre gemeinsame Wurzel, so Frau Tschaki, haben diese Völker alle im Gebiet des Altai. Von dort verbreiteten sie sich in alle Richtungen:

B 1, O-Ton 16: Eva Tschaki, Budapescht                        0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Really, the Mandschu Tungus….
„Die Mandschu-Tungisen gingen sehr weit nach Norden. Schon bei ihnen gibt es viele Völker und Sprachen wie das Mandschurische, das Tungisische; das Turkische ist dem sehr ähnlich. Wenn Sie an die Karaims in Polen denken, an die Tschuwaschen oder an die Tatar-Baschkiren. Auch das Jakutische in Westsibirien ist solch eine Sprache. Selbst in der Mongolei gibt es solche turksprachigen Gruppe. Die Mongolen und auch die Ungarn haben dieselbe Sprachstruktur: das Agglomerative, die Bildung der Sprache durch Anhängen von Suffixen und sie denken sehr ähnlich, wenn man die Unterschiede von Religion und Politik mal beiseite läßt, wenn man an den Grund kommt.“
…to the buttom.“

Erzähler:
Der Grund, erläutert Frau Tschaki dann , ist die nomadische Lebensweise:

B 1, O-Ton 17: Forts. Dr. Tschaki                            0,19
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„I´m speaking about…
„Ich spreche über die Steppenzone von Euro-Asien. Es ist äußerst wahrscheinlich, daß Völker dort in dieser Weise in Netz gelebt haben und sich ständig gegenseitig beeinflußten.“
… each other.“

Erzähler:
In dieser ethnischen Skizze sind sich die Forscher und Forscherinnen, die sich mit der Geschichte der Altaivölker, der Hunnen, Türken, Mongolen und anderer befassen, weitgehend einig – gleich ob sie aus China, Japan, Rußland, Europa Amerika oder auch mit den Augen der erforschten Völker seber auf die Geschichte schauen. Der Sprach- und Kulturraum, der so entstand, reicht vom Landinneren Chinas bis auf den Balkan. In ihm überlagern sich die Folgen der Westzüge asiatischer Reitervölker, insbesondere die Nachwirkungen der hunnischen und der mongolischen Reiche, später das osmanische Reich mit der Ostkolonisation der Russen und der Kolonialpolitik des imperialen Westens. Nomadische und seßhafte Lebensweise, Schamanismus und Hochreligionen – Bhuddismus, Islam, Christentum – östliche und westliche Kulturen trafen immer wieder aufeinander, bekämpften, überlagerten, durchdrangen einander, bildeten eine eigene Zone von ständig sich im Übergang befindenden Kulturen heraus. Seit dem Ende der Sowjetunion ist sie wieder erneut in Bewegung geraten.
Professor Bira, als Leiter der „Assoziation der Mongolisten“ von Ulaanbaator Gastgeber des Kongresses, brachte es auf den Punkt:

B 1, O-Ton 18: Prof. Bira                                     1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„There is a…
„Es gibt eine mehr oder weniger allgemein akzeptierte Konzeption der Geschichte unter Wissenschaftlern, es ist die     Konzeption des großen britischen Geschichtswissenschaftslers Raynold Toynbee. Er hat ein vielbändiges Buch über die     Weltzivilisation geschrieben. In seinem Buch schließt er das Nomadentum als eine Art der Zivilisation mit ein, und er war sehr besorgt über das verschwinden des Nomadentums in der Welt. Er benutzte sogar so eine Wendung wie: „Die letzte Stunde des Nomadentums hat geschlagen.“ Er meinte das deshalb, weil das Nomadentum als Ergebnis der westlichen Industrieentwicklung in den arabischen und anderen Ländern fast verschwunden ist. Was das mongolische Nomadentum betrifft, sagte er, daß es als Ergebnis von russischem und chinesischem Kommunismus verschwinden werde. So ungefähr drückte er sich aus. Er war ja ein sehr großer Wissenschaftler, aber es scheint, daß diese Schlußfolgerung zu früh kam, wenn man die Mongolei und andere Länder betrachtet.“
…mongolia and some other contries.“

Erzähler:
Faktisch strebe die Mongolei zu ihren nomadischen Wurzeln zurück, so wie viele andere Länder des Steppengürtels, natürlich in einer modernisierten Form. Viele Konflikte in den heutigen eurrasischen Krisenzonen seien aus dieser grundlegenen Problematik zu erklären. Wie der neue Weg ausssehen könne, sei aber offen. Viel wissenschaftliche und politische Anstrengung der internationalen Gemeinschaft sei nötig, um diesen Weg friedlich gehen zu können. Die UNESCO habe sich des Themas deshalb bereits angenommen; auch der Kongreß stehe unter diesem Zeichen.
So sehr sich Professor Bira, ebenso wie seine wissenschaftlichen Gäste aber auch mühten, politische Streitfragen aus dem Kongress fernzuhalten, dauerte es doch keinen halben Tag, da hatten die aktuellen Konflikte die wissenschaftliche Ruhe bereits durchbrochen. Ein Mitglied einer soeben gegründeten “ „Volkspartei für die innere Mongolei“, Mitarbeiter bei „Radio Liberty“ agitierte in den Gängen der Krongreßhalle für die Freiheit der Inneren Mongolei:

B, 1, O-Ton 19: Awton Bator, Innere Mongolei                        1,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja Awton Bator
„Ich bin Awton Bator“, stellt er sich vor, gebürtig in den inneren Mongolei, die heute zu China gehöre. Er komme soeben aus New York,  wo eine „Volkspartei Innere Mongolei“ gegründet worden sei – in New York deshalb, weil das in der Inneren Mongolei nicht möglich sei. Sie werde aber vor Ort tätig werden. Schon seit fünfzig Jahren, so Awton Bator, leben die Uiguren der Inneren Mongolei, eine den Mongolen verwandte Bevölkerungsgruppe, unter der Repression Chinas. Schon lange strebten sie nach Unabhängigkeit.  Neuerdings hätten sich die Aktivitäten unter den Intellektuellen, aber auch unter einfachen Nomaden verstärkt. Sie kämpften für eine echte Autonomie, dafür daß sich die Kultur der „mongolischen Nation“ erhalte. Erst kurz vor dem Kongreß sei es wieder zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, in deren Verlauf sogar nach offizieller chinesischer Darstellung hunderte Menschen getötet wurden. Das Zentralkomitee der Partei habe auch Kontakt zum Dalai Lama aufgenommen. Tibetaner, Uiguren und andere arbeiteten zusammen; schon bald werde es eine einheitliche Front geben..
…jedini front.“

Erzähler:
Von einer Front wollte auf dem Kongreß ebenso wie zuvor in Tatarstan, bei den Tschuwaschen, Chakasen oder anderen Völkern, die seit dem Ende der Sowjetunuion von der großen historischen Unruhe erfaßt wurden, niemand etwas hören. Teilnehmer der chinesischen Delegation äußerten sich zwar bereitwillig über Tschingis Chans Bedeutung für China, klärten ihre Zuhörer sogar darüber auf, daß große Teile der Bevölkerung  des chinesischen Westens Nomaden seien:

B 1, O-Ton 20: Prof. Sin Chian                                0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Tja lisi sang…
Die Frage nach den Verhältnissen in der inneren Mongolei jedoch lassen sie unbeantwortet. Ihre eurpäischen Kollegen, die für sie übersetzen, erklären „solche Fragen“ für unerwünscht. Leute, die solche Fragen stellten, gehörten nicht auf den Kongreß. Man habe das bereits kritisiert:
… critizized them.“

Erzähler:
Die politische Wirklichkeit aber läßt sich nicht ausgrenzen. Schon der erste tschetschenische Krieg von 1994 bis 1996 zeigte die Grenze, von der ab das Streben nach Autonomie und Selbsbestimmung außerhalb der bisher geltenden imperialen Grenzen zu Zusammenstößen mit der in Frage gestellten russischen  Zentralmacht führte. Er hinterließ ein verwüstetes Tschetschenien und wurde mit einem faulen Frieden beendet. Den Krieg um das Kosovo führte nicht Rußland, sondern die NATO, das heißt, die Europäische Union unter Führung der USA. Das Ergenis ist jedoch nicht weniger faul. Seit September 1999 tobt der zweite tschetschenische Krieg. Er hat sich von einem lokalen Konflikt zu einem Vernichtungsfeldzug Moskaus gegen jeden „Separatismus“ gesteigert.
Die Ratlosigkeit ist groß. Pessimistische Stimmen, sei es, daß sie den Thesen Samuel Huntingtons oder solchen wie Alexander Dugins von Dualismus amerikanischer und russischer Interessen folgen, malen schwarze Szenarios.
So etwa Gaidar Aschemal, Vorsitzender des „Islamischen Komitees“ Rußlands. Er sieht sich, obwohl seinem Selbstverständnis nach russsicher Patriot wie sein Gesinnungsfreund Alexander Dugin, als Opponent des gegenwärtigen Kriegskurses der russischen Regierung. Eine friedliche Lösung wäre besser, betont er:

O-Ton 21: Gaidar Aschemal                                0,55
Regie: O-Ton ein bißchen höher ziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„No, is moja…
„Jedoch! Aus meiner Sicht ist heute ein dritter Weltkrieg unausweichlich. Er ist aus einer ganzen Reihe von Gründen ausausweichlich. Er kann unterschiedliche; aber für Euroasien und dabei auch Europa sehr schwere Formen annehmen: Schema der Vierziger Jahre, aber ausgeweitet bis nach China! Das heißt, die Front geht durch den Balkan, den Kaukasus, weiter durch Mittelasien nach China hinein. Danach wird sich Euroasien so entwickeln wie Europa nach dem zweiten Weltkrieg:Eeine Ruine, Stagnation der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung! Sagen wir, ganz Eurasien wird sein wie ein großes Afghanistan, Afghanistan hundertmal vergrößert.“
…sto ras.“

Erzähler:
Die Perspektive ist düster. Aber wenn es auch so scheinen mag, so ist sie doch nicht die Einzige. Aus Transnistrien, zwar gute tausend Kilometer von den Kämpfen in Tschetschenien entfern, aber ebenfalls mitten in der Konfliktzone des euroasiatischen Steppengürtels gelegen, ebenfalls ein Vielvölkerteppich, ebenfalls Krisengebiet, kommen zur Zeit ganz andere Meldungen. Transnistrien löste sich nach vorangegangenen militärischen Auseinandersetzungen 1993 als autonomes Gebiet von der Republik Moldawien. Seitdem besteht ein ungeklärter Schwebezustand, der jederzeit wieder zu neuen Konflikten führen kann. Dort versammelten sich im Oktober, parallel zur Eskalation der Kämpfe in um Tschetschenien Russen, Ukrainer, Rumänen, Moldawier, Transnistrier – und Vertreter der „Organisation für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit“ (OSZE), um einen Vorschlag zur  Lösung des Problems zu erörtern, den Transnistriens Vertreter vorgelegt hatten. In  Orientierung an den Prinzipien der europäischen Integration sieht er vor, eine Gemeinschaft aus zwei selbstständigen Staaten zu bilden. Jefim Berschin, Moskauer Journalist, selbst in Transnistrien gebürtig, ist von der Idee begeistert:

B 1, O-Ton 22: Jefim Berschin                                   0,39 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tscho eta sa problem…
„Also worum geht es? Wichtig ist: Was soll, bei weiterer Existenz zwei voneinender getrennter Staaten, das Verbindende sein? Sie fanden fünf Punkte: Erstens die gemeinsame Grenze, zweitens einen gemeinsamen Wirtschaftsraum drittens einen gemeinsamen Rechtsraum, viertens einen gemeinsamen sozialen Raum. Fünftens gemeinsame Verteigungsausgaben.“
… oborodinne prastranstwa.“

Erzähler:
Die ersten vier Punkte, gemeinsame Grenze, gemeinsamer Wirtschafts-, Rechts-, und Sozialraum, so Jefim Berschin, seien ohnehin faktisch gegeben. Der fünfte Punkt, gemeinsame Verteidigungsausgaben machte schon allein deswegen einen Sinn, weil es in der geografischen Lage der beiden Länder, eingefaßt von Rußland, Rumanänien und der Ukraine, keinerlei Sinn ergebe, gegen irgendjemanden Krieg zu führen. Neutralität, so Jefim, sei der einzig sinnvolle Status für diese Übergangsgebiete zwischen Europa und Rußland, zu denen auch Moldau und Prednestrowien zählten:

B1, O-Ton 23: Jefim Berschin, Forts.                      0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Stichwort „Tschtschnju“ hochziehen, dann langsam ausblenden

Übersetzer:
„Poetamu jest idea…
„Deswegen besteht die Vorstellung, soweit ich es verstanden habe, dieses Modell zwischen Moldau und Transnistrien auszuprobieren, um es dann für Kosovo zu übernehmen – und dann nicht nur für das Kosovo, sondern auch für andere Konfliktherde wie das Südlliche Ossetien, Abchasien, Berg Karabach usw. und – mag sein – am Ende sogar für Tschetschenien – wenn dort kein Krieg mehr geführt wird und sich die Situation normalisiert hat.“
…Tschschnju….bis …normalisuetsja.“

Erzähler:
Rußland, Rumanänien, Ukraine, ebenso wie die OSZE haben den Vorschlag Prednestrowiens für gut befunden. Nur Moldawien muß noch zustimmen. Wenn politische Vernunft  die Entwicklung bestimmt, dann wird diese Zustimmung Moldawiens nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das könnte ein Signal für eine Entwicklung werden, die für eine Neuordnung des Übergangsraums zwischen Asien und Europa nicht auf Unterdrückung von Autonomiewünschen, nicht auf ethnische Säuberungen und nicht auf Zwangsintegrationen sondern auf  Förderung der neuen Entwicklungsimpulse in  kooperativer Vielfalt setzt.
Wenn nicht politische Vernunft bestimmt, wird die Vielfalt sich trotzdem durchsetzen. Aber dann wird sie blutige Umwege nehmen. Hoffen wir also! „Die Hoffnung stirbt immer zuletzt“, lautet ein russisches Sprichwort.

Skizze zur Lage: Warum es richtig ist, die Situation eine revolutionäre zu nennen.

1) Der Zerfall des Staatssozialismus ist gleichbedeutend mit der Krise des bisherigen kollektiven Selbstverständnisses der Menschheit. Er führt zu einer Brutalisierung der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen bis in den letzten Winkel der Welt und konfrontiert die Menschen derart mit der Notwendigkeit, soziales Verhalten individuell neu zu bestimmen.

2) Der Staatssozialismus war eine Enteignung des natürlichen Kollektivismus im Namen des Menschheitsfortschritts, der sozialen Gerechtigkeit und höheren Moral. Der „homo sowjeticus“ sollte den „homo faber“ moralisch, ethisch und sozial überflügeln. Faktisch hat der Staatssozialismus zur Entwürdigung und Entrechtung des Menschen geführt.

3) Als Alternative wird vom Westen eine Neuauflage des Liberalismus angeboten, obwohl er hier schon lange durch umfassende Steuerungssysteme eingegrenzt ist. Was prinzipiell schon von Anfang an klar war, zeigt sich inzwischen in den konkreten Ergebnissen der Reformen realsozialistischer Systeme überall auf der Welt, allen voran in ihrem Kern, der früheren Sowjetunion: Die weltweite Entwicklung der Industrie- und Massengesellschaft, ihrer Normen und der aus ihr für den Bestand des Globus resultierenden Gefahren lässt Liberalismus auch als Krisenlösung für den sich wandelnden Realsozialismus nicht mehr zu.

4) Die Alternative kann nur ein privatisierter Kollektivismus sein, der der Gleichmacherei von oben, die föderative Gemeinschaft selbstbestimmter Kollektive von unten entgegensetzt – und so einen Schritt über das bisherige Entweder-Oder von Kollektivismus oder Liberalismus hinaussetzt. Im Konkreten bedeutet das: es müssen alternative Formen der Privatisierung gefunden werden, die das Privateigentum innerhalb der kollektiven Strukturen entwickeln, statt die kollektiven Strukturen alternativlos zu liquidieren. Umgekehrt gilt, dass auf der Basis der privateigentümlich organisierten Gesellschaft westlicher Prägung kollektive Formen des Privateigentums entwickelt werden müssen.

5) Eine solche Umwandlung geschieht aber nicht automatisch. Wenn dem Zerfall des Staatskollektivismus nicht mit bewusst vorgebrachten Alternativen begegnen wird, birgt er die Gefahr der Rückkehr zu Ersatzkollektiven rassistischer, nationalistischer und fundamentalistischer Prägung, die sich nach Außen abschließen und nach innen ihre Minderheiten unterdrücken.

6) Dies alles bedeutet, dass die herrschenden Wertevorstellungen unserer heutigen industriellen Welt von Grund auf in Frage gestellt sind. Das gilt für ihre staatskollektivistische wie auch für ihre privatwirtschaftliche Variante. In Frage gestellt sind auch fundamentalistische Alternativen zur Massengesellschaft, also solche rassistischer, nationalistischer oder religiöser Art. Indem sie der verabsolutierten Gleichheitsideologie die verabsolutierte Ungleichheit entgegensetzen, führen sie nur zu einer Vervielfältigung und Verschärfung der Konflikte auf breiterer und unkontrollierbarer Basis, statt Antworten auf die Frage zu geben, wie das Leben auf dem Globus angesichts der zunehmenden Enge in Zukunft zu organisieren sei.

7) Die Antwort kann aber auch nicht darin liegen, ein bestimmtes Modell der gesellschaftlichen Organisation für allgemein verbindlich zu erklären, vielleicht gar mit Gedealt durchzusetzen. Verbindlich können nur die Modelle der zwischenstaatlichen Konfliktregulierung sein. Im Übrigen müssen die einzelnen Staaten in ihrer inneren Organisation den Besonderheiten ihrer Geschichte und konkreten Gegebenheiten Rechnung tragen. Allgemeine Verbindlichkeit kann nur aus der Schaffung einer neuen Moral, einer neuen Ethik – eben der Ethik des selbstbestimmten Kollektivs entstehen, das sich als Teil des ökologischen Ganzen begreift. Diese Ethik herauszuarbeiten, hervorzubringen und die Entwicklung vor dem Abgleiten in organisatorische und fundamentalistische Scheinlösungen zu bewahren ist unsere heutige Aufgabe.

8) Wenn wir sie nicht lösen, wird die Welt die Krise nicht überstehen, weil sowohl der Rückfall in staatskollektivistische oder in liberalistische wie auch in fundamentalistische Strukturen die sozialen und ökologischen Probleme des Globus nur verschärfen wird.

9) Ein wesentlicher Bestandteil des Kampfes für die Entwicklung der neuen Ethik wird in dem Bemühen bestehen, in den Umbrüchen, Konflikten und selbst den Kriegen die Keime der Selbstbestimmung wie auch die Möglichkeiten ihrer Fehlentwicklung herauszuarbeiten, um der Gefahr entgegenzutreten, dass sich die Krise aus bloßer Angst vor der Krise zur Katastrophe eskaliert.

10) Im Besonderen bedeutet das, dass den Menschen der heutigen industriellen Zentren der Welt deutlich gemacht werden muss, dass ein Abrücken von der eurozentristischen, generell von der monozentristischen Weltordnung auch in ihrem und ihrer Kinder Lebensinteresse liegt, weil nur die Entfaltung der Vielfalt unterschiedlicher selbstbestimmter Kräfte das Überleben des Globus ermöglicht. Die Menschen der bisher als Peripherien oder Kolonien definierten Teile der Welt dagegen gilt es mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu ermutigen, sich von kolonialer, imperialer Vorherrschaft zu befreien und ihre Interessen in einem föderativen Verbund freier Staaten selbst zu or

Tschtschenien- Rußlands Krieg gegen sich selbst.

Pressevortext:

Rußland führt wieder Krieg in Tschetschenien. In der Sprachregelung der russischen Regierung handelt es sich bei den Bomben, die auf tschetschenische Dörfer und Städte niedergehen, ja, selbst bei der angedrohten vollkommenen  Zerstörung der Hauptstadt Grosny nicht um einen Krieg, sondern um eine Aktion zur Vernichtung tschetschenischen Terrorismus. Je länger der Krieg dauert, um so deutlicher, daß dieser Krieg nur weiteren Terrorismus hervorbringen kann.

Kai Ehlers über Hintergründe des Krieges in Rußland.

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.

Besetzung: Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

***

Erzähler:

Rußland führt wieder Krieg in Tschetschenien. In der Sprachregelung der russischen Regierung handelt es sich bei den Bomben, die auf tschetschenische Dörfer und Städte niedergehen, ja, selbst bei der vollkommenen Zerstörung der Hauptstadt Grosny nicht um einen Krieg, sondern um eine Aktion zur Vernichtung tschetschenischen Terrorismus. Ihn macht die Regierung für die Serie von Bombenanschlägen auf russische Wohnhäuser verantwortlich, die im Spätsommer 1999 hunderte von Toten forderten. Die ca. 250.000 Frauen, Kinder und Greise, die Tschetschenien seitdem verlassen haben, sind nach Moskauer Sprachregelung keine Flüchtlinge, sondern „zeitweilig Umgesiedelte.“

Medien und sonstige Öffentlichkeit halten sich an diese Sprachregelung. Man will den Krieg nicht als Krieg zur Kenntnis nehmen, sondern möchte ihn als Wiederherstellung von Normalität begreifen. Die Insignien dieser Normalität sind das Erste, was einem auffällt, wenn man dieser Tage nach Moskau kommt:

O-Ton 1: flotte Musik                                                                              1,11

Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, gegen Ende des Erzählers allmählich hochziehen, verblenden mit O-Ton 2

Erzähler:

Musik….

„Wir heben ab, mein Sonnenfreund“, jubelt diese Sängerin. Sie ist eine von vielen Stars, die beim großen Konzert „Jugend für Vaterland“ auftreten, das zu bester Sendezeit im Fernsehen für die Politik des Moskauer Bürgermeisters Luschkoff wirbt. „Steh auf, fang an, alles wird gut!“ versprechen weitere Stars. Rockkonzerte sind auch live Alltag in dieser Stadt. Ein Titel Gruppe provoziert mit dem Titel: „Eijeijei eij, töten wir einen Neger!“. Der Song ist verboten, wurde aber der Hit des Sommers. „Doch sind wir natürlich keine Rassisten!“, witzeln die Veranstalter, „das ist doch alles nur Spaß“.

O-Ton 2: Musik auf dem Pressefest

Regie: verblenden, hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:

Musik…                                                                                                     ,125

Ein Urbild alltäglichster Normalität vermittelt auch das große Pressefest auf dem immer noch so genannten „WDNCHA„; dechiffriert und übersetzt heißt das: „Ausstellung für volkswirtschaftliche Errungenschaften der UdSSR“. Was Rang oder auch nur einen eigenen Namen in der Medienbranche hat, ist dort mit einem eigenen Stand vertreten. Pluralistische Geschäftigkeit wird hier demonstriert. Kein Wort vom Krieg, selbst im Beiprogramm nicht, das den Stand der Pressefreiheit in Rußland kritisch beleuchtet. Am Stand der „Komsomolskaja Prawda“, gewissermaßen Moskaus Bildzeitung, wird mit Aktualität geworben, mit T-Shirts, mit einer Anti-Aidskampagne, mit einer Videobox, in der man sich selbst singen hören kann. Nur vom Krieg ist auch hier nicht die Rede sowenig wie in der Zeitung selbst. Gleich nebenan, beim „Kommerssant“, der als kritisches Blatt gilt, kommentiert dessen junger Vertreter das „Paßregime“, das Bürgermeister Luschkoff nach den Bombenanschlägen im Sommer in Moskau einführte und in dessen Folge ca. 80.000 Menschen, vor allem Kaukasier und andere „Schwarze“, wie die Kaukasier und Zentralsiaten in Rußland heißen, die Stadt verlassen mußten:

O-Ton 3: Junger Mann am Stand von „Kommerssant“                      0,46

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Wy snajetje, wobsche…

„Wissen Sie, das ist einfach nicht angenehm: Wenn ich mit dem Hund auf die Straße gehe oder mein Mädchen nach Hause bringe, dann kommen Polizisten, umstellen mich, verlangen Papiere. Oft sind sie nicht nüchtern und das Ganze geht in so einem brutalen Ton vor sich – das ist natürlich nicht angenehm. Aber wie auch immer – ich habe mich daran gewöhnt, meinen Paß bei mir zu tragen. Ich halte mich für jemand, der die Gesetze beachtet und dann gibt es keine Schwierigkeiten. Also fühle ich mich ganz ruhig.“

… spakoina wschuwstwuju.“

Erzähler:

Moskauer Analytiker betrachten den Krieg gar als politischen Nebenschauplatz. So etwa Andrej  Kolganoff, Ökonom, der das „Modell Moskau“, also die verblüffende wirtschaftliche Blüte Moskaus studiert, die Juri Luschkoff zur Zeit als Wahlschlager auf die russische Provinzz exportieren möchte. Auf die Frage, wie der Krieg das Modell beeinflusse, antwortet der Wirtschaftswissenschaftler ohne zu zögern:

O-Ton 4: Andrej Kolganoff                                                                     0,45

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Dumaju, ni kak…

„Ich denke: Überhaupt nicht. Im Kern hängen diese Dinge nicht zusammen. Das Einzige ist: Der Krieg in Tschetschenien gibt dem Staat die Möglichkeit, seine Einflußnahme auf die Wirtschaft zu verstärken. Der Krieg schafft Gelegenheiten für Modelle, die mit der Stärkung staatlicher Regulierung und ebenso des staatlichen Paternalismus zusammenhängen. Aber ich glaube nicht, daß das ohne den Krieg anders wäre.“

… nje bila by.“

Erzähler:

Mit spöttischem Unterton seziert Josseff Diskin die Lage. Er ist Generaldirektor der Finanzkorporation „Wostok“, Osten, außerdem politischer Experte des Föderationssowjets:

O-Ton 5: Josseff Diskin                                                                           1,22

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Na moi sljad …

„Meiner Ansicht nach hat sich die Situation nur für Journalisten geändert; für politische Analytiker dagegen ist seit dem Bankenkrach `98 nichts Entscheidendes anders:  Nach wie vor fällt der Rubel leicht, ist aber einigermaßen stabil. Im Ergebnis finden Auslandsimporte nur schwer Absatz und der heimische Markt kann sich weiter entwickeln. Auch in der Politik hat sich nichts Dramatisches verändert: Nach wie vor wirken die gleichen Mechanismen der Macht wie zu Zeiten Primakoffs, nach wie vor ist die Politik von der Auseinandersetzung zwischen nationalen Monopolen und regionalen Eliten bestimmt; dahinter stehen die Oligarchen; Das einzig Neue ist der Krieg – aber der kommt nicht unerwartet und kann auch nicht ewig dauern. Er ist für Jelzin der einzige Weg, seine Macht, bzw. das Regime Jelzins ohne Jelzin zu erhalten.“

…Jelzina bes Jelzin.“

Erzähler:

In vollkommenem Kontrast zu dieser Art der Normalität steht die Medienpolitik der Regierung, stehen die Auftritte der führenden Politiker, die sich fast darin überschlagen, den Krieg populär zu machen. Die Medien, vor allem die Fernsehanstalten spreachen fast nur noch mit einer Stimme, obwohl doch die zu verschiedenen Clans gehörenden Sender sich in Fragen, welche die Wahlen betreffen, gleichzeitig erbitterte Schlammschlachten liefern. Die Stimme, in der sie sprechen, ist die des Armeehauptquartiers. Es gibt, ganz nach dem Muster des NATO-Hauptquartier im Kosovokrieg, tägliche Lageberichte heraus. Darin werden die eigenen Verluste und Opfer systematisch verschwiegen:

O-Ton 6: TV, Erkennungsmelodie, Trompete, Kommentatorin           1,32

Regie: O-Ton bis zur Kommentatorin frei stehen lassen, danach abblenden, unterlegen, zwischendurch mehrere Mal (jeweils zum Einsatz der männlichen Stimme) hochziehen, abblenden, am Schluß (zur männlichen Stimme) hochziehen und frei stehen lassen.

Erzähler:

Star aller Nachrichtensendungen  ist Wladimir Putin, gestern in Wladiwostok, morgen im Krjeml, heute im Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten. In knappen Sätzen, energischen Sätzen wirbt er um Zustimmung für den von der Regierung erklärten antiterroristischen Feldzug:

Regie: bei 0,35 zur männl. Stimme) zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Außenminsier Sergej Iwanoff weist vor allem die Kritik des Westens zurück. Er warnt vor Rückfällen in die Muster des kalten Krieges.

Regie: bei 1,00 (zur männl. Stimme) zwischendurch hochziehen

Erzähler:

Die „Aktion“ versichert Ministerpräsident Wladimir Putin immer wieder, sei nicht gegen die Bevölkerung gerichtet, sondern gegen Banditen. Sie trage keinerlei ethnischen oder religiösen Charakter.

… meschdunarodnowo konflikta

Erzähler

Die Medien halten sich an Wladimir Putins Vorgaben. Das unterscheidet die Situation vom ersten tschetschenischen Krieg in den Jahren 1994, 1995 und 1996. Anders als vor drei Jahren ergreifen diesesmal auch Militärs das Wort in der Öffentlichkeit. Eine Legende vom Dolchstoß der Regierung, die der Generalität mit einem faulen Frieden in den Rücken gefallen sei, hat sich entwickelt. Prominentestes Opfer dieser Stimmung ist Ex-General Alexander Ljebed, der 1996 den Waffenstillstand erwirkte. Nicht ein Tag vergeht, daß nicht einer der kommandierenden Generale im Fernsehen versicherte, diesesmal werde man das Land nicht wieder räumen, sondern für immer bleiben. Wenn „die Politik“ anders entscheide, werde man demissionieren. Auch bei politischen Veranstaltungen ergreifen Militärs das Wort, so etwa General Rodionow beim traditionellen Festumzug der Kommunisten zum Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917:

O-Ton 7: General Rodionow                                                                   1,42

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Uwaschajemi tawarischtschi…

„Werte Genossen und Freunde. Heute sind die Verhältnisse im Lande härter und gefährlicher als 1941 vor Moskau und 1942 vor Stalingrad. Damals war klar: Es gab die faschistische Aggression. Eine Abwehrfront wurde aufgebaut; da stand das Hinterland;  da stand die Armee; man mußte nur die Lage richtig erkennen und das Volk um die Partei zusammenschließen. Heute ist auch Krieg; aber es ist ein Krieg anderen Typs: Wir fühlen ihn nicht und wir sehen ihn nicht. Er soll uns alle zerstören. Doch der Widerstand gegen die Aggression wächst und der Aggressor fühlt es und sieht es. Schauen Sie nur, wie der Westen sich aufregt, seit er sieht, daß wir in der Lage sind, dem Chaos im südlichen Kaukasus ein Ende zu setzen! Sehen Sie, was man für einen Druck auf uns ausübt! Es würde dem Westen passen, wenn diese blutige Spur sich über den Kaukasus und von da über ganz Rußland ausbreiten würde und man es dann nach dem Beispiel Jugoslawiens ´befreien´ könnte.“

Erzähler:

„Es gibt nur einen Ausweg“, schließt der General. „Alle Patrioten müssen sich um die KPRF versammeln, um die Aggression gemeinsam abzuwenden. Unsere Sache ist richtig! Der Sieg wird unser sein!“

…Hurra! Beifall!“

Erzähler:

Aber nicht nur die Kommunisten stehen in der Kriegsfrage zum Kurs der Regierung. Fest zu den erklärten Kriegszielen stehen auch die ehemaligen liberalen Reformer, die gegen den ersten tschetschenischen Krieg 1995/96 noch entschieden Front gemacht hatten. Auf einer Pressekonferenz erklärte Jegor Gaidar, als Initiator der Schocktherapie, an der er bis heute nichts Falsches erkennen kann, nach wie vor Leitfigur der Liberalen:

O-Ton 8: Jegor Gaidar                                                                            1,40

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja abratilby wnimannije…

„Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf den grundlegenden Unterschied lenken zwischen der Situation, die sich in Jugoslawien ergeben hatte, und der, die sich heute in Tschetschenien ergibt. In Jugoslawien wurden Menschenrechte verletzt. Das hat die Weltgemeinschaft zu Recht veranlaßt, Druck auf Jugoslawien auszuüben – aber Jugolsawien ist nicht über einen souveränen Staat hergefallen. Der NATO-Angriff war deshalb die ernsthafteste Verletzung des Völkerrechtes.

In Tschetschenien , 1999, unternahmen große Verbände von Truppen einen direkten Überfall auf russisches Territorium, auf eine Bevölkerung, die absolut kein Verlangen hatte, für sich einen extremistischen, wahabitischen islamischen Staat aufzubauen. In dieser Situation war es Aufgabe jeder verantwortungsbewußten russischen Macht, von der niemand sich hätte drücken können, dem Überfall entgegenzutreten, die territoriale Unversehrheit wieder herzustellen und eine Wiederholung der Überfälle nicht zuzulassen. “

Erzähler:

Opfer unter der friedlichen Bevölkerung ebenso wie bei den russischen Truppen, setzt Gaidar auf Nachfrage hinzu, müßten natürlich so weit wie möglich vermieden werden. Daran gebe es keine Zweifel. … sojusniki.“ Saal

Erzähler:

Die Wirklichkeit sieht auch bei den Liberalen anders aus. Ausgerechnet Jegor Gaidars stärkster Verbündeter war es, Anatoly Tschubajs, ehemals Vollstrecker der Jelzinschen Privatisierungspolitik, heute Direktor des allrussischen Energieverbundes „RAOUS„, welcher der tschetschenischen Republik in seiner Eigenschaft als Direktor dieses Konzerns gleich zu Beginn des russischen Feldzuges die Strom- und Gaslieferungen sperren ließ. Davon betroffen waren selbstverständlich nicht in erster Linie die tschetschenischen Kämpfer, sondern die zivile Bevölkerung. Diese Aktion liegt vollkommen auf der Linie der russischen Generalität, welche die Bevölkerung veranlassen will, sich von den Kämpfern zu distanzieren, um diese dann vernichten zu können. Als Grigorij Jawlinski, im Westen beliebter Chef der gemäßigten Reformergruppe „Jabloko“ nach anfänglicher Zustimmung zu dem Krieg dann Ende November aus der Front der Vaterlandsverteidiger ausscherte, indem er erklärte, nun seien die Bedingungen erreicht, unter denen man zu Verhandlungen übergehen könne, wurde er von den „ROAUS„-Chef Tschubajs öffentlich als Verräter bezichtigt. Der Positionswechsel der Liberalen zeigt am krassessten, welcher Wandel sich in Rußland gegenüber Tschetschenien seit 1996 vollzogen hat.

Jefim Berschin, bei Abschluß des Waffenstillstands 1996 als Berichterstatter in der unmittelbaren Umgebung Alexander Ljebeds tätig, danach Initiator einer Selbsthilfegruppe „Journalisten an heißen Punkten“, erklärt diese Veränderung so:

O-Ton 9: Jefim Berschin                                                                         1,30

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:

„Wa perwich eta…

„Erstens ist da, von der Qualität her, im Vergleich zu 1995/96 etwas ganz anders. Zweitens gibt es unheimlich viele Faktoren, die der Westen vermutlich nicht versteht. Ich bin 1995/96 auch gegen den Krieg gewesen. Damals wirkte noch der Impuls von 1991, mit dem Jelzin selbst an die Macht kam. Man sah die Tschetschenen stellvertretend für alle, die Jelzin beim Wort nahmen, sich so viel Freiheit zu nehmen, wie nötig. Darüberhinaus war der Krieg kein Krieg. Er war eine banditische Zerstückelung, ein mafiotischer Excess, ein verantwortungsloser Mord an der zivilen Bevölkerung ebenso wie an den russischen Wehrpflichtigen, die man zu Tausenden krepieren ließ, ein Verbrechen, was Du willst, nur kein Krieg, Der Waffenstillstand, den Ljebed aushandelte, war damals, das kann ich bezeugen, der einzig mögliche Schritt, diesen Wahnsinn zu stoppen. Aber dann, nach Abschluß des Waffenstillstands hat Tschetschenien sich in eine Enklave verwandelt, in der es keine Macht gab.“

…gossudarstvenni wlast                                                       .“

Erzähler:

Schuld daran, so Jefim Berschin, sei nicht zuletzt die russische Regierung, die Tschetschenien im Niemandsland zwischen Zugehörigkeit zur russischen Föderation und Selbstständigkeit allein gelassen habe. So sei das Land wirtschaftlichem, rechtlichem und moralischem Chaos versunken.

Gleich 1996 hätte man die Frage der Selbstständigkeit entscheiden müssen, meint Jefim, fügt allerdings gleich hinzu, er bezweifle auch, ob das wirklich etwas geändert hätte. Zuviele objektive Probleme gebe es, über die verfehlte Politik des Zentrums hinaus, die auf diesem Stückchen Land in den letzten Jahren zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengekommen wären:

Von den 1,5 Millionen Tschetschenen, die vor dem ersten Krieg in der kleinen Republik lebten, war die Hälfte nach dem Ende der Kämpfe tot oder abgewandert. Noch einmal die Hälfte verließ das Land bis zum Beginn des jetzigen Krieges. Zurück blieb eine Bevölkerung, die sich um eine Handvoll Warlords herum organisieren mußte, um zu überleben. Die finanzierten ihren Lebensunterhalt, sofern sie nicht von ausländischen Geldgebern ausgehalten wurden, aus Menschenhandel, illegalen Geschäften und einfachem Raub: Über 1000 Menschen wurden seit Ende 1966 entführt; für ihre Freilassung wurden Lösegelder in Millionenhöhe erpreßt. Einige der Entführten mußten auch mit dem Leben, viele mit ihrer Gesundheit bezahlen, gut 500 werden noch unter zum Teil bestialischen Umständen gefangengehalten. Die aus Azerbeidschan herüberführenden Öl-Pipelines wurden systematisch illegal angezapft, das Öl in ungezählten Minidestillen zu Benzin verarbeitet und schwarz verschoben. Das Land entwickelte sich zum schwarzen Loch des Rauschgifthandels und der Geldwäsche. Zunehmend gingen Banden von tschtschenischem Terrain aus dazu über, das Vieh der Nachbarn zu stehlen. Die heranwachsende Generation blieb unter diesen Umständen ohne Schul- und Berufsausbildung, ihr männlicher Teil wurde stattdessen sie in den Verbänden der Warlords zu Kämpfern herangebildet. Ergänzt durch Freiwillige aus anderen Krisengebieten  – Vorderer Orient, Balkan, Zentralasien – wuchs so in den letzten drei Jahren eine schlagkräftige Guerillatruppe heran. Angaben zur Zahl der so herangebildeten Kämpfer schwanken zwischen 20- 25.000 Mann. Sie werden durch Gelder aus den Raubkassen – also durch Menschenhandel, illegale Ölverarbeitung, Drogenhandel usw. – aber auch durch private Gönner aus dem Ausland finanziert. Der Einfall von Teilen dieser Truppen in die Nachbarrepublik Dagestan, die sich anders als Tschetschenien als fester Bestandteil der russischen Föderation versteht, kam einer Aufkündigung des Waffenstillstand zwischen russsicher Föderation und Tschetschenien gleich. Die Erklärung Bassajews, Chattabs und anderer Führer dieser Truppen, in Tschtschenien und Dagestan einen islamischen Staat im Kaukasus aufbauen zu wollen, verstand die Regierung in Moskau als Angriff auf das Territorium der russischen Föderation.

Diese Situation, so Jefim, habe die russische Regierung, nachdem sie die Entwicklung seit Jahren habe schleifen lassen, schließlich zum Handeln gezwungen. Jefims Begründung dafür kommt heftig:

O-Ton 10: Jefim Berschin, Fortsetzung                                                 1,00

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Übersetzer:

„Rossije bolsche nje…

„Rußland hat kein Recht mehr, Niederlagen hinzunehmen! Es kann sich nicht erlauben, weitere Kriege zu verlieren. Wenn es noch einmal  verliert, wird es Rußland nicht mehr geben. Es wird in Stücke zerfallen, denn eine weitere Niederlage würde eine gewaltige negative Dynamik in der Bevölkerung haben. Das Volk hat in den letzten Jahren zu viel verloren: Es verlor den kalten Krieg, es verlor den einheitlichen Staat, es verlor seine Wirtschaft – es hat fast alles verloren. In diesem Zustand der Erniedrigung können Menschen nicht leben.“

..schitj nje mogut.“

Erzähler:

Viktor Makarow, Leiter der psychotherapeutischen Fakultät der russischen medizinischen Akademie, auch Präsident der Berufsliga der Psychotherapeuten und Vizepräsident der europäischen Assoziation der Psychotherapie, 1995/6 noch ein scharfer Gegner des ersten tschetschenischen Krieges, stimmt dieser Diagnose zu. Unter beruflichen Gesichtspunkten fügt er jedoch  hinzu:

O-Ton 11: Viktor Makarow                                                                    1,15

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Übersetzer:

„My nje dolschni

„Wir dürfen nicht vergessen, daß es in unserem Land – im Unterschied zu Europa – bis zum kommunistischen Regime und auch währenddessen noch Sklaverei gab. Eine große Anzahl von Menschen bauten diese großen Gebäude, die man hierzulande sieht. Sie waren ja letztlich Sklaven, Menschen ohne jegliche Rechte. Noch in meiner eigenen Generation hatten wir diese Tradition. Und was in Tschetschenien jetzt vorgeht – und nicht nur dort, nein, direkt in Moskau werden Menschen entführt! Es mehrere Fälle. Dann schafft man sie nach Tschetschenien und fordert Lösegeld. Glatter Menschenhandel! Das wuchert alles auch über die Grenzen der tschetschenischen Republik hinaus. Sie können ja in ihrem eigenen Innern nicht existieren, weil sie nichts produzieren, außer dem Benzin, das sie gestohlenem Öl gewinnen. Deshalb müssen sie sich von außen Ressourcen beschaffen.“

… potreblat ressours

Erzähler:

Die Motive für die Zustimmung zum Krieg charakterisiert Makaroff mit den Worten:

O-Ton 12: Viktor Makarow, Forts.

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Übersetzer:

„Ludi potjerali pokoi…

„Die Menschen haben ihr Vertrauen verloren. Sie fürchten für ihr Leben, für das Leben ihrer Angehörigen, für den Verlust ihres privaten Vermögens. Das letzte, was in unserem Land geblieben war, ist das Haus, das Haus eines Menschen, wohin er gehen, die Tür hinter sich schließen kann, wo er ganz zu hause ist und wo ihn niemand anfaßt. Jetzt kommt diese Angst auf, die auch die Ängste von früher, aus der sowjetischen Zeit wieder mobilisiert, daß Terroristen kommen können, das Haus in die Lust sprengen und wenn der Mensch schon nicht stirbt, dann verliert er mindestens sein Vermögen. Für die Mehrheit der Menschen ist es heute nicht möglich, das Vermögen wieder zu ersetzen. Also solche Spannungen und Ängste haben die Menschen heute.“

…strach u ludej.“

Erzähler:

Das unwiderlegbarste Zeugnis darüber, wie sich nicht nur Rußland, sondern auch Tschetschenien seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1996 gewandelt hat, legt Alexej Simonow ab. Als Chef der „Stiftung zum Schutze von Glasnost, also der Stiftung zur Verteidigung der Presse- und Medienfreiheit, war er 1995/6 einer der schärfsten Kritiker des Krieges in Tschetschenien. Der Fond veröffentlichte laufende Informationen über die Behinderung der Berichterstattung durch russische Behörden, er gab eine Dokumentation dazu heraus, die er auch im Ausland vorstellte, er  vermittelte konkrete Tips und Hilfe für die journalistische Arbeit vor Ort, er  vermittelte konkrete Tips und Hilfe für die journalistische Arbeit vor Ort. Jetzt erklärt Alexej Simonow nach ausführlicher eigener Schilderung dessen, was auch er das „schwarze Loch“ Tschetschenien, nennt:

O-Ton 13: Alexej Simonow                                                                      0,55

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Übersetzer:

„I na konjez treti…

„Und schließlich das Dritte: 1994/1995 gab es noch ein anderes Tschetschenien. Anders in dem Sinne, daß man wirklich noch glauben konnte, daß Tschetschenien für seine Freiheit kämpft. Nachdem Tschetschenien begann, hauptsächlich von Geiseln und von Raub zu leben und das zum Dauerzustand wurde, wurde ich einer von denen, die dafür eintraten, daß Journalisten nicht nach Tschetschenien reisen. Das kann man sich nicht antun, das ist schon keine Information mehr, daß ist ja schon eine Kasteieung. Man muß sich keinen Kasteieungen mehr unterziehen, wo alles schon mehr oder weniger klar ist. Kurz gesagt, sie haben auch das Vertrauen der journalistischen Öffenntlichkeit verloren.“

obschestwa tosche.“

Erzähler:

Rußland verteidigt seine Existenz gegen die drohende wirtschaftliche, politische und moralische Zersetzung des Landes – das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem Ministerpräsident Putin die Zustimmung der großen Mehrheit der politischen Klasse und der übrigen Bevölkerung für sich verbuchen kann.

Widerspruchslos ist die Zustimmung trotz allem nicht. Die Kritiken fallen allerdings sehr unterschiedlich aus. Manche werden nur im privaten Kreise geäußert. Eine dieser Kritiken kommt von Nina Wuss. Frau Wuss, früher Kulturorganisatorin im Haus der Schriftsteller, Ende der achtziger Jahre begeisterte Parteigängerin Michail Gorbatschoffs, dann Boris Jelzins, ist heute Rentnerin. Frau Wuss möchte den Politikern, besonders dem Vorsitzenden der als demokratisch geltenden Bewegung „Jabloko“, Grigorij Jawlinski, aber auch dem von ihr verehrten Moskauer Bürgermeister Juri Luschkoff nur allzugern glauben, daß in Tschetschenien nur das stattfinde, was sie, wie die Regierung, eine „antiterroristische Säuberung“ nennen. Aber Frau Wuss ist verwirrt:

O-Ton 14: Nina Wuss                                                                              1,32

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Ja dumaju schto…

„Ich glaube nicht, daß sie für den Krieg sind. Wie fing denn alles an!? Das Ziel war doch, die Terroristen zu vernichten! Von denen haben sich dort auf dem Territorium von Tschetschenien allzu viele versammelt. Und doch kann ich unsere Regierung nicht mehr so richtig verstehen: Einerseits sprechen sie von Tschetschenien als eigenem Staat, andererseits soll es ein Teil von Rußland sein. Wenn das Terroristen sind, die von außerhalb kommen, dann muß man sie vernichten. In dem Punkt bin ich einverstanden. Aber so global, mit diesen Mitteln!? Luftwaffe, Panzer, mit dieser modernen Technik!? Punktgenau soll die sein, aber es werden doch trotzdem Häuser getroffen, es sterben doch Menschen! Und wo sind die Terroristen? Will man die so treffen? Zum erstenmal kann ich einfach nichts mehr verstehen. Unsere Politiker sagen, daß es kein Krieg ist, aber wie soll man das denn nennen? Für mich ist das Krieg! Terroristen erledigt man doch mit Spezialeinsätzen! Überall und immer. Aber dies hier ist Krieg.“

…a sdjes waina.“

Erzähler:

Einen anderen, vor allem einen öffentlich hörbaren Ton schlagen die sogenannten „Menschenrechts-Gruppen“ an. Das ist die Gruppe „Memorial“, die unmittelbar Hilfe für die Flüchtlinge leistet; das sind die unter dem Dach der „Helsinki-Gruppen“ vereinigten Initiativen, die auch mit Presse-Konferenzen an die Öffentlichkeit treten. Ihre Präsidentin, Frau Ludmilla Aleksejewa, freiberuflich bei „radio liberty“ tätig, bewundert zwar Ministerpräsident Putins Energie, sie wäre sogar einverstanden, wenn es ihm gelänge, dem in Rußland aufkommenden Terrorismus das Handwerk zu legen, die Ergebnisse seiner Politik aber sind für sie keine antiteroristische Aktion, sondern Staatsterrorismus, Krieg und schlimmer noch:

O-Ton 15: Ludmilla Aleksejewa                                                              1,20 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

Eta nje prosta…

„Das ist nicht nur Krieg, das ist eine humanitäre Katastrophe von demselben Ausmaß wie im Kosowo: dieselben unglücklichen Flüchtlinge, dieselben Zerstörungen. Nur da sagte man, es gehe um die Menschenrechte, hier geht es gegen den Terrorismus. Die Ziele sind immer sehr hohe. Ich habe aber den Eindruck, daß die Macht den Schock, den die schrecklichen Bombenanschläge hinterließen, für ihre Zwecke nutzte. Es ist wohl so, daß  Tschetschenien so ein Verbrechernest geworden ist, das ausgeräuchert werden muß; möglich, daß alles als antiterroristische Aktion begann, aber das Entscheidende, was ich rundherum sehe, ist die Wiederauferstehung des imperialen Syndroms.“

…imperskowo syndroma.“

Erzähler:

Wenn man schon den Terror bekämpfen wolle, dann müsse das nicht nur in Tschetschenien geschehen, setzt Frau Aleksejewa fort:

O-Ton 16: Ludmilla Aleksejewa, Fortsetzung                                       0,45

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Wy snaetje u nas…

„Wissen Sie, hier vor Moskau gibt es die Stadt Solnzow. Dort gibt es die berüchtigte Solnzower Gruppe. Die Stadt ist bekannt als Verbrechernest. Jeder Moskauer weiß um dies Gruppe, um die Morde und was immer. Wenn man nach diesen Prinzipien vorgehen wollte, die Putin für Tschtschenien angibt, dann müßte man Solnzowo mit Tanks umstellen, müßte es bombardieren. Das ist ja eine kriminelle Stadt!! Und von diesen Orten gibt es bei uns reichlich. Warum ausgerechnet Tschetschenien?“                                                                                                                                                                     …potschemu Tschtschnja?“

Erzähler:

Eine ganze Handvoll Namen banditischer Gruppen zählt Frau Aleksejewa auf, darunter große finanzwirtschaftliche Kooperationen wie die „Uralmasch“, einen der zu Sowjetzeiten führenden Maschinenbau-Komplexe, heute ein verrufenes mafiotisches Konglomerat, und andere Konzerne der sog. Oligarchen und der offenen Mafia. Die Erklärung der Regierung, daß an Tschetschenien ein Exempel statuiert werden müsse, um damit die Ordnung für ganz Rußland wiederherzustellen, veranlaßt Frau Aleksejewa zu der Feststellung:

O-Ton 17: Ludmilla Aleksejewa, Fortsetzung                                        0,20

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:

„Ja nje mago skasatj…

„Ich kann nicht sagen, daß alles nur Lüge ist, was da vorgebracht wird. Aber ich wiederhole noch einmal und immer wieder, daß selbst Leute, die so sprechen, bewußt oder unbewußt deutlich machen¸ daß für sie das Gefühl der Revanche sehr wichtig ist.“

…wschuwstwa rewanchsch.“

Erzähler:

Prinzipielle Kritik kommt vom Rand der Gesellschaft, aus intellektuellen Kreisen, die zur Zeit nicht an der Macht beteiligt sind. Einer dieser freischwebenden Intellektuellen ist Wadim Damjee, Soziologe an der Akademie der Wissenschaften. Sein Arbeitsgebiet ist die Totalitarismusforschung, sein politischer Standort ist der organisierte Anarchismus. In Rußland meint das heute einen eher am Westen orientieren linken Radikaldemokratismus:

Wadim Damjee sieht Rußland am Rande einer Diktatur, deren Natur er, in deutscher Sprache, als „Faust in einem ganz weichen Handschuh“ beschreibt:

O-Ton 18: Wadim Damjee 1,22

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„De fakto, strana…

„Formal bleiben alle demokratischen Rechte erhalten, aber praktisch werden diese Rechte immer weiter eingeschränkt und das Land verwandelt sich in einen Polizeistaat. In den äußersten Regionen läuft ein echter inperialistischer Krieg. Die Presse ist formal frei, aber alle politischen Strömungen, nahezu alle politischen Veröffentlichungen, vor allem das Fernsehen unterstützen den Krieg. Im Kaukasus herrscht faktisch eine Militärdiktatur. Die Armee tut, was sie will. Sie ist die Macht. Die zivile Macht in Inguschetien, erst recht in Tschetschenien existiert für sie nicht. Sie konfisziert, was sie will. In Moskau selbst herrscht ein echtes Polizeiregime. Zugereiste müssen sich registrieren lassen, nur Bestechungsgelder retten sie vor der Ausweisung. Faktisch ist das Polizeiregime  auf wüster Korruption aufgebaut. Diese Verbindung zwischen beidem, das ist tödlich, das muß man sagen.“                                                                                                              … ubistwa, nada skasatj.“

Erzähler:

Noch schlimmer, so Damjee, seien womöglich die moralischen Folgen der Tatsache, daß bis heute nicht klar sei, wer die Bomben in den Moskauer Wohnhäusern gelegt habe, und daß vor allem darüberhinaus nicht ausgeschlossen werden könne, daß es die Regierung selbst gewesen sein könne:

O-Ton 19: Damjee, Forts.                                                                       1,31

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Snatschit, offizialni…

„Also, die offizielle Version von der tschetschenischen Spur ist bis heute nicht belegt. Angeblich war der Anschlag eine Antwort auf die Ereignisse in Dagestan, also die Bombardierung von Dörfern durch russisches Militär. Nach Daten derselben Innenbehörde, die das behauptet, verlangt die ganze Organisation – Planung, Absprachen, Materialbeschaffung, Lagerung usw. – jedoch wenigstens ein paar Monate.  Das heißt, die ganze Geschichte wurde mit Sicherheit lange vor Dagestan eingeleitet. Zweitens: Die genannten Verdächtigen wurden trotz allen Aufwandes nicht gefunden, mehr noch, ihre Identität ist unklar; außerdem ist unter ihnen nicht ein Tschetschene. Schließlich kommt noch der Rasaner Vorfall hinzu: Dort legten Mitarbeiter des Inlandgeheimdienstes eine Bombe, angeblich, um zu sehen, wie die Bewohner reagieren würden. Die Bewohner entdecken die Bombe rechtzeitig und informierten die Polizei, welche den Sprengsatz entschärfte. Es erhebt sich die Frage: Und wenn sie die Bombe nicht rechtzeitig entdeckt hätten – wäre es dann zur Explosion gekommen oder nicht?“

ili njet.“

Erzähler:

Beweisen läßt sich nichts. Die Indizienkette jedoch, die Kritiker wie Vadim Damjee zu der Frage vorlegen, wem dies alles nütze, sind erdrückend. Nutznießer ist allein Präsident Boris Jelzin und seine Umgebung, denen der Krieg die Möglichkeit verschaffte, die Diskussion um das korrupte Regime für eine Weile in den Hintergrund zu drängen und ihre Macht vorübergehend zu festigen. Lange kann das nicht dauern, darüber sind sich alle einig. Spätestens wenn die Zahl der Opfer ansteigt und nicht mehr zu verheimlichen sein wird, kann die Stimmung im Lande umschlagen. Was dann geschieht, ist offen. Wadim Damjee fürchtet das Schlimmste. Einen russischen Pinochet hält er für möglich. Diese Befürchtung teilt er mit vielen anderen Intellektuellen der reformlinken,  radikaldemokratischen und anarchistischen politischen Szene.

O-Ton 20: Megaphon                                                                              1,20

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:

Unerwartete Kritik, die tiefe Risse im Lager derer zeigt, die sich heute als patriotischen Front gebärden, war auch auf der Kundgebung der KPRF am 7. November zu hören. Ausgerechnet ein Agitator der „Kommunistischen Arbeiterpartei Rußlands“, einer stalinistischen Splittergruppe, erweist sich als Gegner des Krieges in Tschetschenien. Auf die Frage, was er von der Politik Putins in dieser Frage halte, antwortet er:

Regie: O-Ton bei Antwort des Mannes: „Ana obnaschajet…“ hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:

„Nu ka wiona…

„Er bringt den Idiotismus des herrschenden Regimes zu Tage und die Menschen verstehen besser: Demokraten wählen, das heißt: Raub, internationaler Banditismus, Terrorismus, Attentate und so weiter. Je länger die Demokraten an der Macht bleiben, um so schlimmer. In den zehn Jahren, die sie an der Macht sind, ist der Terrorismus unglaublich angewachsen. Deshalb zeigt dieser Krieg, was für ein Regime wir heute haben.  Die Soldaten, die dort gegen das Volk eingesetzt werden, sollten die Gewehre umdrehen gegen das Regime. Sie bringen Menschen um, die ihnen nichts getan haben. Die Tschetschenen haben ihren Austritt aus der Föderation erklärt, als ihnen Jelzin sagte, sie sollten sich so viel Souveränität nehmen, wie sie brauchten. Aber dann hat man Grosny und alles andere bombardiert. Das ist reiner Bürgerkrieg. Den muß man stoppen. Er begann 1989 und setzt sich bis heute fort.“  …sewodnischowo dnja.“ Megaphon

Erzähler:

Ausgerechnet bei Alexander Prachanoff wird ein anderer Riß deutlich, der sich durch die Front der Kriegsbefürworter zieht. Prachow ist bekennender Imperialist und ebenfalls Befürworter des antiterroristischen Feldzuges gegen den Terrorismus. Darüberhinaus ist er die Leitfigur des sich selbst so nennenden patriotischen Lagers, um dessen Stimmen gegenwärtig nicht nur die KPRF, mit der zusammen Alexander Prachanow auf einer Liste zur Wahl kandidiert, sondern auch die anderen großen Parteien in einem mehr als halbjährigen Wahlkampf buhlen, der zwischen der Dumawahl vom 19.12.1999 und der Wahl eines neues Präsidenten am 4.6. 2000 geführt wird. Nach seiner Haltung gegenüber der antiislamischen Front befragt, welche die russische Regierung allen anderslautenden Versicherungen Wladimir Putins zum Trotz im tschetschenischen Krieg aufbaut, antwortet Prochanoff:

O-Ton 21: Alexander Prachanoff                                                   1,15

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Ja otsenewaus setim…

„Ich stehe dem extrem ablehnend gegenüber. Das ist so ein Aspekt des tschetschenischen Krieges: Man will Orthodoxe russische Christen und Moslems, Russen und Türken gegeneinanderhetzen und Rußland als Ressource in eine antiislamische Front mit Amerika einschließen.  Das ist eines dieser globalen Projekte Amerikas, Rußland seinen Interessen zu unterwerfen, Rußland zu einem Feind des Islam zu machen und die Grenze eines Dauerkrieges mitten durch Rußland zu ziehen. Unsere islamische Welt reicht ja bis zur Wolga. Deshalb sind wir Patrioten für ein Bündnis mit dem Islam. Wenn wir in Rußland Hausherr wären, würden wir alles tun, um den Islam unter Einschluß der antiamerikanischen Kämpfe gegen Amerika zu führen – mit dem Islam an unserer Seite.“

…saboi Islam.“

Erzähler:

Prochanoffs scharfe Ablehnung einer antiislamischen Front, ebenso wie die Kritik der „Kommunistischen Arbeiterpartei Rußlands“ entspringt der ethnischen und politischen Wirklichkeit Rußlands, das auch nach dem Ausscheiden der heutigen GUS-Staaaten immer noch mehr als hundert Völker und unterschiedliche Kulturen in seinen Grenzen vereint. Solange solche Widersprüche selbst das patriotische Lager durchziehen, besteht Hoffnung, daß die von der russischen Regierung zur Zeit betriebene Politik der „Säuberungen“ ihre Grenze nicht nur an der Zahl möglicher russischer Kriegsopfer, sondern auch an multi-ethnischen Wirklichkeit finden. Das gibt den Mut zu hoffen, daß selbst dieser Krieg die sich abzeichnende kooperative, letztlich demokratische Neuordnung des ehemaligen sowjetischen Raumes nicht  aufhalten kann.

Vor den Duma-Wahlen in Rußland: Welche Kandidaten sind die besseren Patrioten? – Generalprobe für die Jelzin-Nachfolge

O-Ton 1: Demonstration, Lied                    1, 44
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach ca. 10 sec. bei „Woina naraodnaja“ frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, nach Erzähler bei Beginn der Sprache hochziehen, bei 1,25 (Stichwort „pabjedim“) frei stehen lassen, danach allmählich aus¬blenden.
Achtung: Extra Bobby

Erzähler:
Moskau, Vorwahlkampf. Ein neues Parlament, die Staaatsduma, soll am 19. Dezember 1999 gewählt werden, zugleich auch Bürgermeister und Stadträte. Wahlen für einen  neuen Präsi¬denten sind für den Sommer 2000 angesetzt. 29 Parteien werben um Stimmen für ihre Politik. Der jährliche Feiertag zum Gedenken der Revolution von 1917 wurde unter diesen Umständen mehr als ein Traditonstreffen. Er wurde zur Wahlkampfveranstaltung der Kommunistischen Partei Rußlands. Rund 50.000 Menschen brachte sie auf die Beine. Das waren mehr als im letzten Jahr. Unter der Parole „Für das Vaterland! Für den Sieg! Erhebe Dich, du großes Land!“ ruft die Partei zum politischen Wachwechsel auf. Aus dem Zug im Zentrum Moskaus schallt die Parole vielfach zurück. Eine Gruppe besingt den Sieg im Volkskrieg:
<Regie: Zwischendurch hochziehen>

<Erzähler>
„Es ist ein antifaschistisches Kampflied aus der Zeit des Partisanenwiderstandes gegen die Na¬zis“, erklärt der Mann. Es geht darin um den Sieg über den Faschismus. „Auch diesesmal wer¬den wir die die bourgeoise Agression zurückweisen. Wir werden siegen!“ versichert er.
… pabedim…“

O-Ton 2: Demonstration, Platz, Rede Sjuganow                    1,39
Regie: Verblenden mit O-Ton 1 (Beifall, Ankündigung), sodaß er nach dem Erzähler bei 0,30 (Beginn der Rede) frei steht: Kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwi¬schendurch (bei Beifallsbekundungen)  leicht aufblenden.

Erzähler:
Auf dem Podium präsentiert sich das gesamte, von den Gegnern der Kommunistischen Partei so genannte, „rot-braune Spektrum“. Nur kleinere neostalinistische Gruppen marschieren heute und kandidieren auch in eigenen Blöcken. Die Hauptrede hält, wie immer, Gennadij Sjuganoff, der erste Sekretär der KPRF, der kommunistischen Partei der russischen Föderation:

Regie: Mit Beifall ganz aufblenden, Beginn der Rede kurz stehen lassen, abblenden un¬terlegen.

Erzähler:
„Uwaschai-imi Tawarischtschi…
„Sieg ist die Losung unseres heutigen Feststages,“ erklärt er. „Die Oktoberrevolution – das ist der Sieg der Gerechtigkeit, der Sieg des starken sowjetischen Staates, des Volkes, des gesun¬den Menschenverstandes, das ist der Aufbau eines gewaltigen Industriepotentials, das uns den Sieg über den Faschismus ermöglicht hat, das ist der Aufbruch in den Kosmos, das ist die Ver¬einigung der Völker gegen den kolonialen Imperialismus.“
„Heute sind nicht einmal mehr unsere Häuser sicher“, schließt Sjuganoff, „nachdem Gor¬batschow und Jelzin die Sowjetische Macht verraten haben. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, diesen Kurs zu korrigieren, friedlich und mit demokratischen Mitteln. Wenn das Programm, das die Partei dafür ausgearbeitet hat, verwirklicht wird, dann können wir schon Anfang des nächsten Jahres jedem russischen Menschen ein Minimalgehalt von 5000 Rubel, den Staatsbe¬amten wenigstens 3000 garantieren. Unsere Sache ist gerecht! Für den Sieg! Für das Volk! Für das Vaterland! Der Sieg wird unser sein!“
„…Urra!

Erzähler:
Daß damit keineswegs nur der Wahlsieg gemeint ist, macht Alexander Prachanoff klar, Reprä¬sentant der, wie sie sich selbst nennen, „patriotischen Kräfte“ des Landes. Er beschreibt, wie die gemeinsame Wahlliste mit den Kommunisten Sjuganoffs zustandekam:

O-Ton 3: Alexander Prochanow                        1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tetschenije ljeta my…
„Im Laufe des Jahres haben wir ein Programm des Sieges entwickelt. Das war eine ziemliche Plackerei, aber jetzt steht es. Es ist eine Philosophie, ja, eine Religion, die den Sieg als Qualität der russischen Geschichte versteht, wie Rußland in jedem Jahrhundert mit ungeheuren Opfern seine Souveränität wiederherstellt und einen strategischen Sieg erringt, vornehmlich über den Westen, aber nicht nur. Im 20. Jahrhundert siegten wir über den Faschismus – es wurde das Jahrhundert des russischen Sieges, des russischen Kommunismus, der sich über die ganze Welt ausbreitete. Wir siegten auch im 19. Jahrhundert – Napolen, Wien, russischer Imperator, russi¬sche Truppen in Paris – Tolstoi, Dostojewski, russische Musik. In das 21. Jahrhundert gehen wir erniedrigt und müssen nun alle Kräfte mobilisieren, um diese historische Ungerechtigkeit zu korrigieren. Diese Sicht ist jetzt Doktrin der KPRF; sie wird zur nationalen Idee werden – eine Synthese aus allen politischen Kräften des Landes. So umgewandelt, wird die kommunisti¬sche Partei zur Partei des Sieges.“
… parti sa pobjeda.“
Erzähler:
Noch deutlicher wird Alexander Dugin. – Von einer Außenseiterposition, die er bei Beginn der Perstroika einnahm, ist Alexander Dugin heute zum Berater im Stab des Dumavorsitzenden Gennadij Selesnjow aufgerückt, der auch jetzt wieder an vorderster Stelle für die Kommunisti¬sche Partei kandidiert. Nicht er habe sich verändert, kommentiert Dugin diese Entwicklung, sondern die Gesellschaft. In der Tat: Die Stimmung im Lande ist heute anders als zu Zeiten der Perestroika: Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich vor allem endlich einmal einen Sieg. Der Wunsch nach Revanche für die Niederlagen und Misserfolge der letzten Jahre ist unüber¬hörbar: für Afghanistan, für den verlorenen Kalten Krieg, für die Verwandlung der, wie sie sich nannte, sozialistischen in eine zu großen Teilen kriminelle Gesellschaft, für das Desaster des er¬sten Krieges in Tschetschenien, für die NATO-Osterweiterung ohne Rücksicht auf russische Vorbehalte, für den als Demütigung empfundene Vorgegen der NATO im Kosovokrieg – und für die als Anmaßung kritisierte Haltung des Westens, der Rußland verwehren wolle, in Tschetschenien das zu tun, was er selbst soeben in Serbien demonstriert habe. Vor diesem Hintergrund wird der Wahlkampf zum „Wettkampf der Patrioten“. Der Patriot des Tages heißt für viele Wladimir Putin, der auf seine Weise in den Wahlkampf eingreift. Der Krieg, den er führen läßt, stellt die patriotischen Beteuerungen aller anderen Politiker in den Schat¬ten.Tagtäglich wird auf allen Kanälen direkt von der Front berichtet.
Widerwillig zollen selbst die schärfsten Kritiker dem Neuen ihr Lob wie etwa Ludmilla Alek¬sejewa. Sie ist die Präsidentin der russischen Helsinki-Gruppen, die sich um die Rechte der tschetschenischen Flüchtlinge kümmern:

O-Ton 4: Ludmilla Aleksejewa                        0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Putin otschen umni…
„Putin ist ein sehr kluger Mann, ein vorzüglicher Organisator, ein gebildeter Mensch, ein Mensch der neuen Generation. Aber er ist natürlich Akteur des Staates; er hat sich eine be¬grenzte Aufgabe gestellt: das Rating der Macht zu heben. Wenn man wissen will, worin er sich von den Bürokraten unterscheidet, die wir kennen, dann muß man nur darauf schauen, wie sei¬nerzeit der erste tschtschenische Krieg organisiert war und wie es jetzt ist. Ich bin natürlich ge¬gen diesen Krieg, aber wenn Putin unser ziviles Leben mit dem selben Talent organisiert wie jetzt den Krieg, dann wäre er mein Mann. – Aber vielleicht täusche ich mich ja auch und er ist auch bloß so ein Revanchist.“
…ponimaetje.“

Erzähler:
Putins Licht, gegbenenfalls auch sein Schatten fällt auf eine weitere Figur, die der Kreml kurz vor der Wahl auf die politische Bühne geschickt hat. Sergej Schoigu, bisher unauffälliger Mini¬ster für das Katastrophenwesen ist, offenbar auf Weisung des Kreml, mit einem Wahlblock „Überregionale Bewegung für die Einheit“ angetreten. Sie wird von einigen Gouverneuren unterstützt, die auf Jelzins Wohlwollen angewiesen sind. Im übrigen hat sie ihre Basis in der Präsidialbürokratie.
Wie Wladimir Putin ist Schoigu ein Mann der jüngeren Generation, wie dieser kommt er aus militärischen Kreisen. Seit 1991 führt er das Ministerium für Katastrophenschutz. Sein Pro¬gramm, Anfang November in der „Iswestija“ eilig auf einer halben Seite veröffentlicht, ist so einfach wie durchsichtig: Wenn Wladimir Putin der Macher ist, so wird mit Schoigu der „gute Mensch“ angeboten, dem man vertrauen kann – der professionelle Retter, der den Katastro¬phenschutz zum politischen Programm erhebt.
Viktor Belzoff, der Assistent des Ministers ist darüber gar nicht besonders erfreut. Journali¬sten, die neuerdings das Ministerium für Katastrophenschutz im Zentrum Moskaus aufsuchen, wehrt er ab. Mit Politik will er nichts zu tun haben. Schließlich läßt er sich aber doch ein paar Worte zu der neuen Arbeit seines Ministers entlocken:

O-Ton 5: Viktor Belzoff, Assistent des Ministers Schoigu                0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer
Lachen, „Nu…
„Nun, für das Volk ist das natürlich irgendwie ein Schutz, das kann man schon so sagen. Die Leute sehen in dem Ministerium so eine Art Symbol der Hoffnung. In den neun Jahren seines Bestehens ist es zu einer echten Autorität geworden. Gegenüber dem Minister gibt es keine Vorwürfe. Er hat sich bisher aus der Politik herausgehalten. Für ihn ist das wichtigste die Ar¬beit. Für ihn gibt es keine Parteien, keine religiösen, keine ethnischen Unterschiede. Vor der Hilfe sind alle gleich. Für uns ist der Mensch zuallererst Mensch.“.“
…tschelowjek

Erzähler:
Siegen, helfen und retten wollen natürlich nicht nur die Kommunistische Partei, nicht nur das Gespann Putin und Schoigu, sondern auch der stärkste Konkurrent der Kommunisten – das Wahlbündnis „Vaterland – das ganze Rußland“. Das ist das Bündnis, welches der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkoff mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakoff und einigen Gouverneuren geschlossen hat. Primakoff steht nach Putin und Sjuganoff zur Zeit ganz oben in der wöchentlichen Beliebtheitsskala . „Vaterland – das ganze Rußland“, versichern die Kandidaten im ersten Satz ihres Manifestes, „das ist die Union der patriotischen und demokra¬tischen Kräfte dieses Landes.“ Erklärtes Ziel des Bündnisses ist es, die Entwicklung der „Boomtowm Moskau“ ungeachtet der zentralen Sonderstellung der Stadt als Modell auf ganz Rußland zu überragen. Wirtschaftliche Versprechungen stehen bei der öffentlichen Vorstellung des „Manifestes“ folgerichtig an erster Stelle:

O-Ton 6: Pressekonferenz „Vaterland – das ganze Rußland“            0,40
Rgie: O-Ton kurz steteh lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Beifall. „Uwaschajemi…
Drei Initiativen, stellt ein Vertreter des Bündnisses vom Podium her vor:
Erstens eine Senkung der Steuern.
Zweitens einen allgemeinen Mietstop.
Drittens eine Senkung der Benzin- und Heizölpreise.
Alle Intitiaven sollen sofort nach der Wahl ins Werk gesetz werden.
…spassiba“

Erzähler:
Aber selbst diese vollkommen auf pragmatische Fragen ausgerichtete Pressekonferenz kommt nicht ohne Verbeugung vor der vaterländischen Stimmung im Lande aus. Zu den Ereignissen in Tschetschenien befragt, antwortert Spitzenkandidat Jefgeni Primakoff:

O-Ton 7: Jewgeni Primakoff                        0,40
Regie: O-Ton kurz kommen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen
Übersetzer:
„Ja chatil by skasatj…
„Ich möchte sagen, daß die Position unserer Bewegung in der tschetschenischen Frage von Anfang an ausgewogen, zugleich aber radikal gegen die Terroristen gerichtet war. Wir sind für aktive Maßnahmen, unter anderem für die Einrichtung einer Sicherheitszone, und zwar an allen Punkten, die durch Terroristen gefährdet sind. Wir unterstützen die Regierung, die in diesem Sinn handelt. Gleichzeitig fordern wir sie aber auf, die Opfer gering zu halten.“
…situaziju w Tschetschnju.“
Erzähler:
Verhandlungen, so Primakow mit Blick auf anwesende westliche Pressevertreter,  könne es erst geben, wenn Partner dafür vorhanden seien. Im Moment gebe es aber niemanden. So sei nun einmal die Situation in Tschetschenien. – Die Kommunistische Partei, das Tandem Putin/Schoigu sowie „Vaterland“ fallen imWahlkampf am meisten auf. Von weiteren Gruppen hört die Bevölkerung allenfalls im Fernsehen, das sich seinerseits weniger auf Inhalte als auf „Unregelmäßigkeiten“ bei der Zulassung, das heißt, bei der Vergabe von Wahlkampfgeldern, auf Enthüllungen über Kandidaten und ähnliches kon¬zentriert. In aller Kürze werden Zensuren verteilt:

O-Ton 8: Fernrsehreportage                        2,00
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch gelegentlich aufblen¬den, am Schluß hochziehen

Erzähler:
Musik, Kommentator
Die Liberalen um den ehemaligen „Schock“-Reformer Jegor Gaidar, so der Kommentator, sind zwar registriert. Aber obwohl sie sich als Partei der Jugend zu stilisieren versuchten, hätten sie wohl kaum Chancen, die 5%-Hürde zu nehmen. Spott muß sich die Partei „Jabloko“ um Gri¬gorij Jawlinski gefallen lassen. Ausgerechnet die Partei der Intellektuellen, witzelt der Kom¬mentator, habe einen Werbespot mit traditionellen russischen Liedern und einem LKW-Fahrer gemacht, der seinen Wunsch nach richtiger Arbeit erkläre. Mehr als 7 – 10% dürfe `Jabloko´ aber wohl nicht erwarten. Wladimir Schirinoffski  provoziert mit einem Block von Bettlern, nachdem seine Partei wegen mangelnder Offenlegung von Vermögensverhältnissen ihrer Kan¬didaten nicht zugelassen wurde. Zugelassen wurde dagegen die offen faschistisch auftretende Gruppe „Spas“ des Alexandr Barkaschoff, die er anstelle seiner verbotenen „Partei der russi¬schen Nationalen Einheit“ (RNE) zur Wahl angemeldet hatte. Nach Protesten wurde die Zulas¬sung durch Gerichtsbeschluß aufgehoben. „Spas“ kann nicht teilnehmen. Ex-General Lebed zieht sich aus der Dumawahl zurück. Er spart sich für Besseres auf, stichelt der Kommentator. Gemeint ist das Amt des Präsidenten. „Unser Haus Rußland“, 1996  d i e  Partei der Macht, wird nur eben noch erwähnt. Breiten Raum widmet der Bericht dagegen der Schmutzkampa¬gne, mit der sich die Kandidaten überziehen, wenn sie sich gegenseitig der Korruption bezich¬tigen, wenn die einen Baris Jelzins, die anderen Jefgeni Primakoffs Alter zum Anlaß nehmen, um deren Politik als unzumutbar zu diffamieren. Kritisch merkt der Kommentator schließlich an, daß Minister Schoigu mit seinem Amt, unter anderem mit seinem Einsatz für die Flücht¬linge in Tschetschenien, Politik und Wahlkampf zu machen versuche.
…tak pakasalis.“
Erzähler:
Die Bevölkerung ist irritiert. – Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen nicht die Pro¬gramme. Wenn überhaupt über die Wahlen gesprochen wird, dann darüber, ob es ehrliche Wahlen geben wird. Dazu sagt der Direktor eines kleinen Meinungsforschungsinstituts, Kyrill Kurlanski, der als Experte zu einer öffentlichen Anhörung über dieses Problem geladen worden ist:

O-Ton 9: Direkter einer Meinungsforschungsgruppe                0,40
Regie: O–Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W otlitsche…
„Im Unterschied zu westlichen Korrespondenten und einem Teil der fortgeschrittenen Bevölke¬rung Moskaus berührt die Frage der Wahlen die russische Bevölkerung sehr wenig. Das Leben stellt andere Probleme. Für viele steht das Problem des Überlebens an erster Stelle. Bisher nicht Hunger oder Kälte, einfach nur die Frage, wie es weitergeht. Ich bin sicher, daß neunzig Prozent unserer Bevölkerung sich in den neuen Regeln von heute nicht orientieren können. Gut, die Wahl ist vielleicht ein kleiner Schritt, viel wird sich nicht ändern – vielleicht wird´s ein bißchen besser.“
…wobsche kak tendenz.“

Erzähler:
Was hat die Wahl unter solchen Umständen für einen Sinn? Unterschiedliche Einschätzungen machen unter Moskaus Analytikern die Runde: Als „Umfrage“ bezeichnet Baris Kagarlitzki, westlich orientierter Reformlinker, die Wahl, nur wichtig in bezug auf das, was danach komme. Vor Fälschungen hat man Angst im ZIOM, dem zentralen Institut für Meinungsforschung. Die eigentlichen Entscheidungen würden durch den Kauf von Abgeordneten nach der Wahl herge¬stellt, meint Dima Pinsker, politischer Kolummnist der Zeitschrift „Itogi“, dem russischen Part¬nerblatt der amerikanischen „Newsweek“. Wichtig seien allein soziale Fragen, meint Baris Sla¬win, Mitarbeiter an der Gorbatschow-Stiftung. Jossif Diskin, Chef der Korporation „Wostok“ und Soziologe sieht die entscheidenden Auseinandersetzung nicht in der Wahl, sondern im Kampf  der sogenannten „Wirtschafts-Oligarchen“ um einen ihnen genehmen Präsidenten. An¬dere fürchten sogar, daß es gar keine Wahl geben werde. Der Wahrheit am nächsten kommt vermutlich Pjotr Fedossow, der als politischer Berater des Vorsitzenden im Föderationsrat tä¬tig ist:

O-Ton 10: Pjotr Fedossow                        1,00
Regie: O-Ton im Original ganz stehen lassen

„Nun, das ist eine sehr wichtige Wahl, erstens, weil wir mit dieser Wahl zum ersten Mal die normale turnusmäßige Abwechslung des Parlaments und des Präsidenten haben wollen nach einer vollwertigen vierjährigen Legislatur. Die vorherige Wahl war nach einer zweijährigen Le¬gislatur. Das war im Grunde das Ende der Übergangszeit im Sinn der Verfassung  ´93. Diesmal soll die erste normale, verfassungsmäßige Ablösung sein. Deshalb kommt es erstens darauf an, daß beide Wahlen zur verfassungsmäßigen Zeit stattfinden. Man kann heute, meines Erachtens mit ziemlicher Sicherheit davon sprechen, daß das der Fall sein wird. Es kommt zweitens dar¬auf an, daß gleichzeitig eine doppelte und in sich widersprüchliche Aufgabe geleistet wird, daß a) die Kontinuität der Macht gewähleistet wird, aber b) eine radikale Erneuerung dieser Macht.“

Erzähler:
Dafür, so Fedossow weiter, müsse in die neue Duma eine, wie er betont, „stabile patriotische Mehrheit“ einziehen, die in der Lage sei, eine Änderung der Verfassung zu beschließen, welche der Regierung im Gegensatz zur jetztigen, die alle Macht beim Präsidenten konzentriere, mehr Kompetenzen einräume. In diesem Ziel, meint Fedossow, seien sich heute übrigens alle oppo¬sitionellen Gruppierungen heute einig:

O-Ton 11: Weiter Fjodossow                        0,37
Regie: O-Ton im Original ganz stehen lassen

„Der zweite nicht minder wichtige Punkt, wäre, neue Menschen an die Macht kommen zu las¬sen, die sich real auf nationale Interessen orientieren könnten, die nicht persönlich abhängig wären von der ein oder anderen Stiftung oder Institution, wie einflußreich und respektvoll die auch sein mögen.“

Erzähler:
Was aber geschieht, wenn keine „vernünftige politische Mehrheit“, wie Pjotr Fedossow es nennt, zustandekommt? Was geschieht, wenn der Krieg eskaliert? Darüber will zur Zeit nie¬mand nachdenken – die einen nicht, weil sie den Zerfall Rußlands, die anderen nicht, weil sie seine autoritäre Rezentralisierung fürchten. Alle aber erwarten vom Ausgang  der Duma-Wahl am 19. Dezember Signale, was auf die in Rußland inzwischen so genannte „Präsidialmonarchie“ Jelzins folgen wird. Das gibt der Wahl, allen Unkenrufen zum Trotz, dennoch eine große Bedeutung.

-//-

Das neue Rußland – jenseits von Moskau (Text)

Zum Stichwort „neues Rußland“ läßt sich allerhand assoziieren. Viel Positives natürlich: Gorbatschow, Perestroika, Neues Denken, Entspannung, deutsche Vereinigung, neue Weltordnung. Nach Gorbatschow dann: Gescheiterter Putsch, Aufbruch der Reformer, Wiedergeburt der Person, des Glaubens, der Geschichte, Emanzipation der kleinen Völker gegen das überalterte sowjetisch-russische Imperium.
Aber da ist auch die andere Seite: Die permanente Krise, die Inflation, die Mafia, die nie endenden Putschdrohungen, die drohende Jugoslawisierung, die Gefahr eines Weltbürgerkrieges von noch nie gekannten Ausmaßen.
Welcher Seite soll man sich zuwenden?
Wir am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sind es gewohnt, in Zerfallszeiten zu denken – erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg; für viele geht nun es mit dem Zerfall der Ordnungsmacht UdSSR, der sich in dem Rußlands fortsetzt, unaufhaltsam dem dritten großen Krieg entgegen. Die lange im Bann der russisch-sowjetischen Herrschaft gehaltenen Konflikte zwischen den Völkern des großen euro-asiatischen Raumes sieht man nun unkontrolliert hervorbrechen: In Kaukasien, in Moldawien, in Tadschikistan und anderen ehemaligen zentalasiatischen Republiken, im Baltikum. Auch an der mittleren Wolga, wo sich im Durchzugsgebiet der großen Wanderungen viele Völker im Lauf der Geschichte miteinander vermischt haben, bevor die Russen das Gebiet kolonisierten, kündigen sich große Veränderungen an. Jugoslawien erscheint vielen nur als schwacher Vorbote der kommenden Entwicklung. So lautet, nachdem die erste Freude über den Zerfall des Angstgegners Sowjetunion vergangen ist, die allgemeine westliche Linie denn auch: Stärkt Moskau. Nur ein starkes Moskau, so scheint es vielen, könne das das drohende Chaos abwenden. Nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen, so war es auf einem der letzten Seminare deutscher Wirtschaftsvertreter zur russischen Frage zu hören, lasse sich die Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft vollziehen. Der chilenische Weg läßt grüßen.
Schwierig ist es dagegen, die andere Seite zu sehen, die Keime des Neuen in der zusammenbrechenden alten Ordnung zu erkennen. Schwierig ist es, weil ein festgelegter Blick nur das als positiv erkennt, was bekannt ist. Gut, so meinen viele, sei es, wenn die ehemalige Sowjetunion nun nach dem Modell der westlichen Demokratien funktioniere. Offensichtlich aber funktioniert sie nicht so. Nicht nur die in siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft gewachsenen Strukturen widersetzen sich ihrer einfachen Umkehrung. Auch die Hinterlassenschaften des in tausend Jahren gewachsenen russischen Imperiums fordern ihre Rechte in der jetzigen Umwandlungsphase. Das Wichtigste: Der Vielvölkerstaat und der tief in den Völkern des russischem Imperiums verwurzelte Kollektivismus, zwei Elemente, die nirgend sonst in der Welt in dieser Form, in dieser Intensität und in dieser Kombination zu finden sind.
Das für den Raum Neue, die Privatisierung des Besitzes und die Dezentralisierung der Herrschaft, tritt im Kampf mit dieser Geschichte an, nachdem jetzt auch für dieses Imperium die Stunde gekommen ist, die für die westlichen Imperien klassischen Zuschnitts schon mit dem ersten und dem zweiten Weltrieg geschlagen hatte. Nicht eins seiner inneren Probleme ist mehr durch weitere Ausdehung lösbar. Der Staatskollektivismus drohte durch Gängelung jeglicher persönlicher Initiative zudem eine Erneuerung der Gesellschaft von unten endgültig zu ersticken.
Aber auch wenn das alte System in den Augen ausnahmslos aller Bewohner und Bewohnerin des Landes reformbedürftig war, auch wenn nicht einmal ein Mensch von denen, die lauthals über die jetzige Krise schimpfen, tatsächlich zurück will vor die Zeit Gorbatschows, so ist doch auch klar, daß sich das Neue nicht gegen, sondern nur auf Grundlage der gewachsenen Gegebenheiten dieses Landes entwickeln kann. Schritt für Schritt müssen alte kollektive und neue selbstbestimmte Strukturen, alter Zentralismus mit neuen föderalen Prinzipien ineinandergreifen, wenn nicht das Alte einfach zerstört werden soll, ohne funktionsfähiges Neues an dessen Stelle zu setzen. So wie die Japaner einen japanischen Weg der Entwicklung, so müssen die Russen einen russischen finden, auf dem die materiellen und die geistigen Bedürfnisse einer zweihundertfünfundzig Millionen umfassenden Bevölkerung mit den Lebenserwartungen von Weltbürgern des 20. Jahrhunderts  befriedigt werden können.
Dies ist zur Zeit die eine große Herausforderung, und zwar nicht nur für die russische Bevölkerung wie die anderen Völker des euro-asiatischen Raumes, sondern auch für ihre westlichen Berater: Die Strategie der Total-Privatisierung führt zur Zerstörung der alten Strukturen, bevor etwas Neues entstehen konnte. Wer sich ein einziges Mal in Fabriken, in Instituten, in Sowchosen und Dörfern auf dem Lande umsieht, der oder die kann die Folgen nicht übersehen: Geschlossene Betriebe, bankrottierende Sowchosen, eine zerfallende soziale und materielle Infrastruktur. Früher waren die Kollektive für Wegebau, für die Sozialversorgung, für die Kultur usw. verantwortlich. Jetzt liegt das in der Kompetenz der „neuen Macht“. Die aber hat kein Geld, er mangeln die Erfahrung und die alten Verbindungen. In der Folge all dessen besteht die Gefahr des vollkommenen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zusammenbruchs mit unabsehbaren Folgen. Es müssen andere Wege gefunden werden als die der bloßen Liquidierung des Alten, Wege, auf denen kollektive und privaten Formen des Wirtschaftens auf lange Sicht miteinander koexistieren, ja im Ineinandergreifen neue Formen des sozialen Lebens sich entwickeln können. Der gegenwärtige Konflikt zwischen Boris Jelzin und dem obersten Kongreß hat wesentlich die Auseinandersetzung um diese Frage zum Inhalt. Dort stehen sich wesentlich Jelzins Administratoren und die gewählten Direktoren der Kollektive gegenüber. Für die Fortsetzung der Reform sind beide Seiten – aber wie, ohne die sozialen Strukturen soweit zu zerreißen, daß die alte Motivationslosigkeit nur durch eine neue ausgetauscht wird? In der Suche nach einem Kompromiß zwischen Staatskollektivismus und Totalprivatisierung liegt die Kraft des Neuen.
Die andere Herausforderung liegt in der Befreiung der neuen Völkervielfalt, deren Grundlage die Besinnung auf den Wert des Einzelnen, der Minderheit, des kleinen Volkes gegenüber Jahrzehnten der sozialistischen Gleichmacherei und davor liegenden Jahrhunderten der Russifizierung ist. Auch in der Entwicklung gleichberechtigter Beziehungen verschiedener Völker liegt die Kraft des Neuen – wenn die alten zentralistischen Mächte, wenn das alte zentralistische Bewußtsein es zuläßt.

Kai Ehlers, 29.4.93