Autor: Kai

Auf den Spuren Attilas – Die Wiederentdeckung eines historischen Mythos. Eine Entdekungsreise mit dem tschuwaschischen Volksschriftsteller Michail Juchma. (Lange Fassung, nicht gesendet))

Vorschlag für eine Programmvorschau:

Attila war der Zertrümmerer Roms. Vor ihm erzitterte Byzanz; er trieb die Germanen vor sich her, die ihrerseits die Völker des heutigen Westeuropa überrannten und erst haltmachten, als die Mauern Roms nicht mehr standen. Kein Limes konnte die Gewalt aufhalten, die da aus den Steppen des Ostens herangestürmt kam, nicht die heldenhaften Burgunder, später bekannt als die Nibelungen, nicht die frühen Franken, welche die Eroberung von Paris durch Attilas Reiter erdulden mußten.
Aber Attila war auch der,  an dem Europa zum erstenmal eine eigene Kontur gewann. Mit der Schlacht auf den katalaunischen Feldern in Südfrankreich im Jahre 451, die Attila weiteres Vordringen nach Westen stoppte, beginnt die eigenständige Geschichte Europas.
Die Reste der hunnischen Scharen ziehen sich in die südrussische Steppe zurück. Dort gründen sie das bolgarische Reich. Es erlebt seine größte Blüte am Ende des 7. Jahrhunderts. Nach seiner Zertrümmerung durch die Chasaren, einem weiteren asiatischen Volk, gründet ein Teil der Bolgaren  das donaubolgarische Reich, ein anderer Teil das wolgabolgarische. Beide Reiche werden im dreizehnten Jahrhundert von den Mongolen und den mit ihnen verbündeten Völkern  zerschlagen, die damit ihre eigenen, seßhaft gewordenen Vorfahren überrannten.
Viele Mythen, Legenden und Sagen unserer europäischen Kultur ranken sich um diese Völkerzüge und Kämpfe,. Es ist die Zeit der Helden, die Jugendgeschichte Europas. Es ist die Zeit der Nibelungen, die Zeit der Rache Kriemhilds, welche die Ihren an den Hof Attilas lockt, um sie dort niedermetzeln zu lassen. Die westliche Seite dieser historischen Mythe ist uns allen bekannt. In ihr spielt Attila die Rolle eines Erfüllungsgehilfen für Kriemhild, den Hintergrund für die Heldentaten der Nibelungen. Wer aber kennt ihre östliche Variante?
Ja, es gibt auch eine östliche Variante des Nibelungenliedes. Besser gesagt, es gibt ein östliches Heldenepos, das die Taten  und das Leben Attilas und sein Zusammentreffen mit den Völkern des Westens besingt. Lange Zeit war es so gut wie verloren,  war erst durch die mongolische Eroberung, nach der Zurückdrängung der Mongolen durch Moskau dann durch die russische, später durch die sowjetische, insgesamt durch die westliche Geschichtsschreibung auf die Nachtseite der Geschichte gedrängt. Jetzt, nach dem Ende der Sowjetunion, taucht  – wie so vieles – auch das fast vergessene Epos von Attila wieder auf: Mitten im Herzen Rußlands, am russischsten aller Flüsse, der Wolga, lebt ein Volk in einer autonomen Republik, die nach diesem Volk autonome Tschuwaschische Republik heißt. Dieses Volk, mit ca. 3 Millionen Menschen in der heutigen russischen Föderation seiner Größe nach an dritter Stelle nach den Russen und den Tataren zu nennen, leitet seine Geschichte über die Wolgabolgaren direkt von den Hunnen ab. In diesem Volk wird seit „urdenklichen Zeiten“  das Epos von „Atil und Krimkilte“ erzählt. Es ist eine moralische Geschichte darüber, wie Attila unter seinen aus dem Westen stammenden Gefangenen die schöne Kriemhilde entdeckt, sich in sie verliebt und an ihr zugrunde geht.
Bis  Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieses Epos nur mündlich weitergeben. Im Jahre 1917 wurde es von dem tschuwaschischen Dichter Petraw erstmals aufgeschrieben, jedenfalls ist das die einzige erhaltene schriftliche Fassung. Um die Jahrhundertwende erlebte das tschuwaschische Volk eine kulturelle Renaissance, nachdem es in seiner Identität als eigenständiges Volk erst durch die Mongolen im dreizehnten Jahrhundert, in den folgenden Jahrhunderten durch die russische Ostkolonisation fast ausgelöscht worden war. Wladimir Iljitsch Lenin, der Begründer der Sowjetunion, stammte aus Simbirsk, einer der Kultstätten des tschuwaschischen Volkes. Er war selbst zu einem Drittel Tschuwasche, er unterstützte die Renaissance der tschuwaschischen Selbstständigkeit und versuchte sie solange wie möglich auch gegen Stalins Angriffe zu schützen. Spätestens mit Lenins Tod aber war es auch mit der tschuwaschischen Eigenständigkeit vorbei. Die tschuwaschische Sprache wurde auf die Dörfer verbannt,  das Epos verschwand in privaten Archiven und Truhen.
In einer dieser Truhen entdeckte ich es, als ich 1992 mit dem tschuwaschischen Schriftsteller, Sammler von Legenden und Mythen seines Volkes, Mischa Juchma, in der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik Tscheboksary zusammentraf. Da saßen wir uns unvermittelt gegenüber, ein Nachfolger der Hunnen und ein Nachfolger westlicher Völker, verwundert darüber, daß der eine von der Existenz eines Epos der jeweils anderen Seite bis dahin nichts wußte; Mischa Juchma kannte die Nibelungensage nicht und ich nicht das Epos „Atil und Krimkilte“. Soviel aber war sofort klar: Beide Epen berichten  über denselben historischen Zeitraum,  denselben Attila und dieselbe Kriemhilde,  atmen denselben Geist der Helden – nur hier aus östlicher, dort aus westlicher Sicht. Über diese Entdeckung berichtet dieses Stück.

Kai Ehlers

Das Feature:

Auf den Spuren Attilas –
Über die Wiederentdeckung historischer Helden.

Als sich vor Jahren der eiserne Vorhang hob, wurde ein anderer, viel älterer Vorhang sichtbar –  jener, der sich über die asiatische Geschichte Rußlands, genauer über den nomadischen Ursprung seiner Vielvölkerrealität gelegt hat. Heute kommt diese Realität wieder in Bewegung und damit erwacht auch die Erinnerung an die Helden dieser Zeit wieder. Das ist Attila, später auch Tschingis Chan. Unser Autor Kai Ehlers folgt den Spuren dieser Erinnerung im heutigen Rußland.

O-Ton 1:  Klagelied im Bus
Regie: Langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, kurz stehen lassen, wieder abblenden.

Erzähler:
Lied im Bus…
Unterwegs an der mittleren Wolga. Eine kleine Reisegesellschaft, zusammengestellt vom „Twuschwaschischen Kulturzentrum“ in Tscheboksary, befindet sich auf der Fahrt entlang des „Silbernen Ringes der alten tschuwaschischen Geschichte“. Tscheboksary ist die Hauptstadt der tschuwaschischen Republik an der mittleren Wolga. Zusammen mit fünf weiteren autonomen Republiken bildet sie dort einen ethnischen Flickenteppich nicht-russischer Völkerschaften im Herzen der russischen Föderation. Das Lied, das die kleine Gesellschaft singt, ist eine alte tschuwaschische Volksweise. Sie beklagt den Verlust der Heimat.
Dasselbe Lied empfängt uns an allen Orten, wo uns kleine Komitees in Landestracht erwarten. Die mobile Geschichtskunde ist ein Ereignis, das gemeinschaftlich begangen wird. Früher wäre so etwas als nationalistische Abweichung unmöglich gewesen. Jetzt wird Geschichte erstmals wieder aus tschuwaschischer, nicht aus russischer Sicht erlebt. Der Ring, den der Bus in drei Tagen erst flußabwärts, dann am anderen Ufer zurück in einem Gebiet von der Größe Süddeutschlands abfährt, beinhaltet eine Reise zu den vergessenen  Städten des mittelalterlichen Bolgarstan, dem Staat der Wolgaubolgaren. Von ihm leiten die heutigen Tschuwaschen ihre Herkunft ab.
…Ende des Liedes, Lautsprecher

Regie: Allmählich hochziehen,  kurz stehen lassen und wieder abblenden

Erzähler:
Tajabo, Tikesch, Bolger, Poler heißen die alten Städte, zu denen die Reise führt. Vergessene Namen. Über 70 befestigte Städte habe es in Bolgarstan in der Zeit vom siebten bis Anfang des dreizehnten Jahrhunderts gegeben, erklärt der Schriftsteller Mischa Juchma, der als Vorsitzender des „Tschuwaschischen Kulturzentrums“ die Reise leitet. Sie wurden von den Bolgaren gegründet, die nach der Niederlage Attilas auf den katalaunischen Feldern im Jahre 451 dort seßhaft wurden, nachdem sie vorher als Teil der Hunnen nach Westen gestürmt waren. Es waren stolze Festungen, die die Bolgaren, bis dahin Nomaden, nun bauten Aber nicht eine davon blieb erhalten, als Anfang des dreizehnten Jahrhunderts eine zweite nomadische Völkerwelle nach Westen stürmte, die Mongolen:

O-Ton 2: Mischa Juchma
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„“Kogda Mongoli ….
„Als die Mongolen kamen, war Püler die Hauptstadt unserer Vorfahren. Viele Lieder über den Untergang Pülers sind überliefert, lange, lange Epen. Zar der Tschuwaschen war damals Ultenbyk. Fünfundvierzig Tage hielt er die Stadt. Ultenbyk fiel im Kampf, aber seine Tochter und ihr Mann kämpften noch fast zwei Jahre gegen die Mongolen. Für die Mongolen war das ganz und gar ungewohnt, die asiatischen Städte, auch die festesten Burgen waren ihnen innerhalb von Tagen zugefallen. Über diesen Widerstand der Tschuwaschen ist bis heute nichts bekannt, es ist fast vergessen; das wird unseren Kindern nicht erzählt.“

O-Ton 3: Juchma, Forts.
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Russki istoriagrafia…
Vieles ist nach Mischa Juchmas Ansicht am gängigen westlichen Geschichtsbild zu korrigieren, das sich auf russische Geschichtsschreibung stützt: Nicht die Russen, sondern die Vorfahren der Tschuwaschen, die Bevölkerung Bolgarstans,  hätten das Land gegen die Mongolen verteidigt, erklärt er der Reisegruppe. Die russischen Fürsten waren vereinzelt, sie halfen sich nicht gegenseitig, verrieten einander sogar an die Mongolen. Bolgarstan dagegen war ein einheitliches Reich  Und nicht nur das: Die Tschuwaschen konnten der mongolischen Kampftechnik – Pferd, Bogen, Scheinattaken – besser begegnen. Sie war ihrer eigenen sehr ähnlich.
Die Mongolen, so Juchma, wussten genau, daß nicht die vereinzelten russischen Fürsten, sondern das vereinigte Königtum Bolgarstan das Bollwerk war, welches sie nehmen mußten, wenn sie auf ihrem Weg nach Westen den Rücken freihaben wollten. So hätten sie ihre Kräfte darauf  konzentriert, die bolgarischen Städte vollkommen dem Erdboden gleich zu machen. Russische Fürsten dagegen seien bereit gewesen, sogar Tribut für die Mongolen einzusammeln. Auf diese Weise habe Moskau unter Iwan Kalita, was soviel heißt wie Iwan Geldbeutel, zur neuen Macht heranwachsen können.
Und nicht nur das! Das wachsende Moskau wurde bald zur neuen Bedrohung für die verbliebene nicht-russische Bevölkerung. Sie geriet zwischen die Fronten des zerfallenden mongolischen Weltreichs und der mächtiger werdenden Russen.
Bei einer zweiten Fahrt des Tschuwaschischen Kulturzentrums auf das jenseits der Wolga liegende benachbarte Gebiet der autonomen Republik El Mari, dem Siedlungsbereich einer weiteren ehemals aus der Steppe kommenden Völkergruppe, erklärt Michail Juchma:

O-Ton 4:  Marschroute „Malo Kalzo“
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Etot marschrut…
„Diese Reiseroute nennt sich `Kleiner Ring des alten Tschuwaschien´. Die Ereignisse auf diesem  Ring gingen im sechzehnten Jahrhundert vor sich. Die Tschuwaschen stellten sich zunächst auf die Seite Moskaus gegen die Mongolen, indem sie sich aktiv an der Eroberung Kasans beteiligten und unterstützten so die Expansion Moskaus nach Osten. Aber Iwan der Schreckliche erfüllte das Versprechen nicht, das er den Tschuwaschen gegeben hatte und buchstäblich anderthalb Monate nach der Eroberung Kasans begann ein Krieg der tschuwaschischen Völker gegen das Moskauer Zarentum. Dieser Krieg dauerte zweiunddreißig Jahre. Er wurde mit dem Fall von Tjala entschieden. Diese Stadt werden wir uns heute ansehen. Ihr Name steht für die Kämpfe um die Unabhängigkeit der tschuwaschischen und marizischen Völker.“
… i marizich narodow“

Erzähler:
Was wir nach der Ankunft in dem entsprechenden Bezirk der Republik El Mari dann sehen, sind kahle Steilhänge an der Wolga, unter deren Bewuchs nur noch die historische Phantasie zu erkennen vermag, was sich dort einst abgespielt haben mag, als Iwan IV. seinen Krieg gegen die Mari, Tschuwaschen, Baschkiren und andere an der Wolga siedelnde Nachkommen ehemaliger Steppenvölker führte, nachdem sie ihm zuvor den Sieg über das mongolische Restchanat Kasan ermöglicht hatten.

O-Ton 5: Stimmen, Lied
Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Lied…
Beim Treffen im „tschuwaschischen Kulturzentrum“ geht es noch tiefer hinein in die tschuwaschische Geschichte, noch weit zurück hinter die Zeit der Mongolen. Michail Juchma stellt – am Rande der Versammlung – Fachleute zur tschuwaschischen Geschichte vor. Da ist zunächst der greise Dichter Alexander Iwanowitsch Terentjew. Er ist von Haus aus Ingenieur, hat aber ein Buch über die Geschichte seines Volkes geschrieben. Was jedoch das Aufregendste ist – er hat eine Ballade über Attila verfaßt, den er den großen, ruhmreichen tschuwaschischen Zaren nennt.
Wie kommt ein Ingenieur dazu, nicht nur eine tschuwaschische Geschichte zu schreiben sondern dazu auch noch eine Ballade über Attila zu verfassen? Die Antwort des alten Mannes ist verblüffend:

O-Ton 6: Alexander Terentjew
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje o pomminannije..
Nach meiner Erinnerung begann die Geschichte Tschuwaschiens mit der großen chinesischen Mauer: Stiller Ozean, China, Altai, danach die kaspische Steppe, das Asowsche Meer; dann kommen schon die Bolgaren, noch nicht die Tschuwaschen. Die kommen später  – das ist alles hunnische Geschichte, Attila! Die Bolgaren teilten sich; die einen wandten sich zur Donau, die anderen kamen an die Wolga.“
…na Wolgu“

Erzähler:
Ja, aber die Ballade? Wie entstand die Idee, über Attila zu schreiben?

O-Ton 7: Terentjew, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei Imperator hochziehen, wieder abblenden, weiter unterlegen

Übersetzer:
„Tschuwstwo gordostje…
„Das Gefühl des Stolzes! Keine Geschichte – und auf einmal war da ein berühmter Vorfahr! Auf einmal gab es da unseren eigenen Imperator.
…swoi Imperator“

Regie: zwischendurch hochziehen, abblenden unterlegen, nach Erzähler kurz hochziehen, abblenden.

Erzähler:
Schmunzeln erinnert sich der alte Mann an Erfahrungen in als Student in Italien. Wenn er sagte, er sei Tschuwasche, habe niemand gewußt, wer das sei. „Sagte ich aber: Nachfahre Attilas“, dann hatte ich gleich alle Aufmerksamkeit für mich. Sie nannten mich dann scherzhaft: Attila. Jemand anderes habe es ja nicht gegeben, auf den man stolz sein konnte, fügt der dichtende Ingenieur noch hinzu, höchstens noch Lenin.

O-Ton 8:  Terentjew, Forts. und Ende
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
„Nu drugoi y menja…
„Lenin stammte ja auch aus einer tschuwaschischen Stadt, aus Simbirsk. Er war ja selbst zu einem Drittel Tschuwasche. Er versuchte, den Tschuwaschen zu helfen, auch gegen Stalin. Auf Lenin sind die tschuwaschischen Intellektuellen natürlich auch immer stolz gewesen.“             …Imeni Lenina“

Regie:
O-Ton kurz hochziehen, danach abblenden

Erzähler:
Prof. Dr. Dimitri Wassili Dimitriwitsch, ebenfalls nicht der Jüngste, ist Dozent an der Fakultät für die mittlere und neuere Geschichte Tschuwaschiens an der Universität von Tscheboksary. Er betont den Zusammenhang zwischen Hunnen und Mongolen. Für ihn sind beide nicht zu trennen. Dazu kommen noch die turkstämmigen Völker. Sie haben alle dieselbe Wurzel, meint er:  die Völkerwiege des Altai. Sie habe immer wieder die unterschiedlichsten nomadischen Völker hervorgebracht, alle irgendwie ethnisch, sprachlich und kulturell trotz vieler Unterschiede miteinander verwandt, turksprachige, mongolische, tatarische und andere Völker. Auf die Frage, warum Attila, dann Tschingis Chan und später andere dieser Völker immer wieder so große Siege erringen konnten, antwortet der Professor:

O-Ton 9: Prof. Dimitri Wassili
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach (erstem) Erzähler hochziehen

Übersetzer:
„O Attileje eschtscho bil…
„Unter Attila gab es das System der kriegerischen Demokratie: Starke militärische Führer, große Nähe zum Volk, Lebensgemeinschaft. Ihre Ausbildung für den Krieg begann schon im Alter von zwei Jahren. Sie waren sehr gute Kämpfer. Sie kannten das chinesische Kriegshandwerk, besonders Belagerungstechniken, sie hatten sogar chinesische Strategen bei sich. Die Hunnen haben ja beständig Krieg mit den Chinesen geführt. Auch ihre Bögen waren den anderen ihrer Zeit überlegen. Mit den Mongolen war es nicht viel anders. Auch sie holten sich viele Kenntnisse von den östlichen Techniken.“

Erzähler:
„Das wichtigste aber“, wiederholt der Professor, mehrere Male,  „war ihr starker Zusammenhalt, die kriegerische Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Völker, sowohl bei den Hunnen, als auch später bei den Mongolen und Türken. Man war nicht einfach untergeordnet, man stand für ein und dasselbe Ziel, man gehörte zusammen, Unterschiede gab es nicht, kaum feudale Schranken. Nomaden haben zwei Ziele“, faßt der Professor zusammen: „die Herden zu hüten und Kriegsbeute zu machen. Der Krieg gilt bei ihnen als Arbeit. Das ist der Grund, warum sie so gut kämpfen konnten.“
…magli woiewat“

Erzähler:
Damit bin ich, mitten in Rußland, ganz in die Geschichte der euroasiatischen Steppenvölker eingetaucht. Ein Weiteres tut Michail Juchma, als er nun erklärt, im Grunde habe sich mit den Mongolen nur die hunnische Geschichte wiederholt und bei diesen Worten er in die Truhe seiner literarischen Schätze greift, um mir ein Epos von „Atil und Krimkilte“ zu zeigen, das er im Lauf seines Lebens aus Bruchstücken der tschuwaschischen Überlieferung rekonstruiert hat. Bedächtig knüpft er die Schleifen auf, mit denen das Manuskript eingebunden ist und beginnt, von meiner Verblüffung ermuntert, feierlich die Einleitung vorzutragen:

O-Ton 10: Mischa Juchma liest, Anfang des Epos
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, sehr allmählich runterziehen, abblenden, am Schluß hochziehen

Zitator: Zitat:
„Attila muchtassa kalani..
„Wer Attil ist, weiß heute niemand,
Man sagt, es gab wohl keinen
Solchen Menschen bei den Tschuwaschen.
Das ist aber nicht richtig.
So wollen wir allen erklären:
Attil ist der Tschuwaschen uralter Zar,
ruhmreicher Feldherr und Heerführer.
Im Altertum kannte ihn jeder.
Auch Euch wollen wir Kunde geben davon.
Ein rechtes Leben hat er gelebt,
Er liebte die Tschuwaschen.
Aber unglückliche Liebe
Hat ihm Leiden gebracht.
Er wollte zu viel wohl
Die Jugend hätte darüber gelacht.
Seine Kräfte hat er nicht richtig gewogen,
Hat nicht gewußt, wen zu lieben.
Hat wohl die Menschen um sich bedrängt,
Deshalb bedrängten die Götter ihn.
Laßt uns davon erzählen
Und das Heldenlied der Dichter singen.

Erzähler:
Hier dieser Einleitung hält Michail Juchma inne. 1917 wurde das Epos erstmals niedergeschrieben, erklärt er. Autor war ein Mann namens Pitraw:

O-Ton 11: Michail Juchma
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, allmählich abblenden

„Übersetzer:
„Pitraw swoi prescgodennnije…
Pitraw stammt aus Volk der Ubi; das ist ein sehr alter tschuwaschischer Stamm, der auch in den Kämpfen des 13. Und 14. Jahrhunderts eine führende Rolle gespielt hat…. Die Ubi kommen aus dem Stamm Attils. Deshalb hatten sie Interesse daran, dieses Epos zu bewahren.“
… Atitil … etot Epos“

Erzähler:
Das revolutionäre Tauwetter nach 1917 ermöglichte es Pitraw, die bis dahin mündlich überlieferten Texte erstmals im kleinen Kreise tschuwaschischer Intellektueller zu veröffentlichen. Als Stalin an die Macht kam und Bücher wie „Attila“ als nationalistische Abweichung konfisziert wurden, versteckte Pitraw sein Werk in dem Dorf, in dem er wohnte, unter den Dielen seines Hauses. Er selbst kam im Lager ums Leben. Als Kind fand Michail Juchma die verrotteten Reste. Seitdem bemühte er sich, das Werk wieder zusammenzutragen.
Zwölf Gesänge sind von dem Epos überliefert. Sie berichten über die Kämpfe der Hunnen mit den Völkern des Westens. Eines Tages entdeckt Attila die blonde Schönheit Kriemhilde unter den von seinen Truppen eingebrachten Gefangenen. Er verliebt sich in sie, wirbt um die Widerstrebende, vergißt alle seine Pflichten, bis sie schließlich einwilligt, als Nebenfrau zu ihm zu ziehen. In der Hochzeitsnacht kommt Attila ums Leben. Es folgt die Zeit der Verwirrung für die von ihm geführten Völker, die erst mit deren Ansiedlung in den neuen Siedlungsräumen endet.
Die eigentliche Handlung des Epos beginnt mit den Worten:

O-Ton 12: Michail Juchma, Epos, Fortsetzung
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Peremesch paijat, Attil…
„Attil ist der ruhmreiche Feldherr und der Zar der Tschuwaschen. Unter Attils Leitung überfallen die Tschuwaschen ihre Feinde, die Tschuchen. Die Tschuchen leitete ihr Zar und Feldherr Tschupajrek. Auf dem großen Feld wird ein harter Kampf geführt. Schließlich siegt Attils Heer über die Feinde. Die gefangenen Leute werden zu Attil von seinen Soldaten gebracht. Unter ihnen ist auch das schöne Mädchen Krimkilte.“
Nach diesen Worten geht es sofort in die erste Schlacht:

O-Ton 13: Michail Juchma liest
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluß hochziehen

Zitator:
„Simpa cin chuschschintsche…
Vorn ist Attil,
Der Klügste ist Attil,
Der Tapferste ist Attil,
Der Böseste ist Atil.
In seinen Händen hält er keinen Säbel,
In seinen Händen hält er eine Hellebarde,
Er schlägt mit der Hellebarde
Und es bleibt eine Spur,
Er schlägt zur anderen Seite
Und macht einen Weg.
Unter Atil geht kein Roß,
Unter Atil geht ein Vollblut,
Aus seinen Nüstern kommt Feuer,
Flammen aus seinem Maul.
Er schaut auf eine Seite
Und es beginnt Feuerbrand,
Er schaut auf die andere Seite
Und es beginnt zu flammen.
Es kämpfen die Menschen –
Tschuwaschen mit ihren Feinden,
Jeder schlägt,
womit er kann,
Jeder stößt,
womit er kann,
Jeder schneidet
Womit er kann,
jeder schießt,
womit er kann,
Die Tschuwaschen werden
von Atil geführt,
Die Tschuchen von Tschupajrek.
…  tschupajrek jertce pyratj.“

Erzähler:
Die Tschuwaschen, erklärt Michail Juchma in einer Pause, suchten ihr Glück wie viele Völker des Altai im westlichen Meer, dort wo die Sonne untergeht. Tschuchi waren für sie alle jene Völker, die ihnen dabei im Wege standen. Die Tschuchi werden in dem Epos als ebenso arbeitsamen und tapfer wie die Tschuchen bezeichnet. Dann aber heißt es unerbittlich:

O-Ton 14: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Zitator:
„Pjer jawara…
In einem Nest
können Krähe und Dohle nicht sitzen.
In einem Haus
Können Hund und Katze nicht leben.
So können im weiten Land,
Auf dem offenen Feld,
In der Steppe,
Auf der Wiese
Mit den Tschuwaschen die Tschuchen nicht leben.
Deshalb führen sie diesen großen Krieg,
In dem tschuwaschischen Heer sind viele Menschen,
Im tschuchischen Heer ebenso viele,
Sie kämpfen entsetzlich
Sie greifen einander an.
…..tapancach pyraschsche.

Erzähler:
Am Ende haben die Heere Attilas gesiegt, Attilas Feldherr Ajtaman führt seinem Chan die Gefangenen zu. Attila will sie, wie es bei ihm Kriegsbrauch ist, alle töten lassen. Doch da erblickt er unter ihnen eine schöne junge Frau. Von ihren blauen Augen und ihrem blonden Haar wird die ganze Umgebung bezaubert. Auch Attilas Herz wird von ihr gefesselt. Erstaunt fragt er:

O-Ton 15: Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach 2. Übersetzerin hochziehen

Zitator/Attil
„Ec kam…
„Wer bist Du?
Bist du eine gnädige Frau?
Oder bist du eine Göttin?
Sage, wer du bist?“

Erzähler:
Sie aber fordert ihn stolz auf, erst ihrem verletzten Vater zu helfen, bevor sie ihren Namen nenne. Ihr Vater ist, Tschupajrek, der Heerführer und Fürst der Tschuchen. Attila, hingerissen von ihrer Schönheit und ihrem Mut, gibt Befehl, den zu Tode verletzten Tschupajrek zu pflegen und dessen Leute zu schonen. Danach ist die Schöne bereit, Auskunft über sich selbst zu geben:

O-Ton 16: Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator wieder hochziehen

Zitatori/in:
„Culty turra…
„Wer einem Menschen hilft –
Liebt auch die Höchsten im Himmel.
Meinen Namen kann ich
Dir jetzt selbst nennen – Krimkilte
…Krimkilte“

Erzähler:
Attila ist wie verwandelt. Aus dem rauhen Eroberer ist ein sanfter Werber geworden:

O-Ton 17: Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Zitator/Attila:
„Bitaraimi pikeschschem…
Du schönstes Mädchen Krimkilte,
Was du gesagt hast, ist wunderbar.
Nicht länger Feind ist der Tschuche nun,
sondern Verwandter mir.
Schon morgen werden die Ätzte
Deinen Vater geheilt haben.
Dich lade ich zu mir ein
Sei du mir teuer als Gast.
… man chana.“

Erzähler:
Nun nehmen die Ereignisse ihren Lauf:, alles ein wenig anders, als es uns aus dem Nibelungenlied vertraut ist: Attila erklärt Kriemhilde seine Liebe und bittet sie, seine Frau zu werden. Sie weigert sich. Er vergißt Haus, Familie und Eroberungspläne. Er verbringt alle Zeit damit, um sie zu werben. Sie hat ihn vollkommen verwirrt. Seine Gefolgsleute, seine Söhne, das einfache Volk – alle bemerken es, aber niemand wagt den Fürsten zu tadeln. Nur seine Frau Herkke, was soviel heißt wie Mutter des Volkes, wagt ein offenes Wort:

O-Ton 18: Juchma, Epis, Forts.                Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit O-Ton  20 verblenden

Zitatorin:/ Herkke:
„Ech, Attil…
„Ach, Attil!
Du hast also vergessen!
Du hast also deine Seele verkauft!
Drei Söhne hast du –
Drei Falken,
Du hast sie alle vergessen.
In Liebe zu dir,
in Achtung zu dir,
Hab ich mein ganzes Leben verbracht,
Das hast du nicht schätzen können!
Vor den Verwandten,
Vor der Kämpfgefährten,
Begreife, was sagst du jetzt?
Jeder Mensch hat seine Pflichten
Vor seinen Anhängern,
vor seiner Familie,
Vor der Verwandtschaft,
Vor den Freunden.
Du bist der Zar, vergiß nicht,
Du hast noch größere Pflichten –
Vor dem Lande,
Vor den Feldherren,
vor den Kriegern,
Vor Deinem Volk.
Das hast du alles vergessen,
Der Tochter des Tschuchen gegeben –
Das, was du in deiner Seele hast,
Das, was du in deinen Gedanken hast
Das alles restlos
Hast du ihr gegeben.
Du brauchst jetzt kein Vaterland,
Du brauchst jetzt kein Heer,
Du brauchst keine Anhänger,
Du brauchst keine Familie,
Was brauchst du,

Der seine Seele verkauft hat?
Außer dem Lachen der Tochter des Tschuchen,
Brauchst Du jetzt nichts.
Der weiße Irbis hat die alte Ehre verloren,
Ach, Tankár, rette uns!“

O-Ton 19: Flötenmusik, getragen
Regie: O-Ton verblenden, nach O-Ton 20 ganz hochziehen, kurz frei stehen lassen, unterm Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:
Flöte
Der weiße Irbis, der Schneelöwe, ist das Totemtier Attilas; Tankar ist der höchste Gott im alten hunnischen wie auch im heutigen tschuwaschischen Olymp. Als seine Frau diese Kräfte anruft, kann Attila nicht anders als ihr recht zu geben. Er verspricht Besserung.  Aber kaum geht er wieder zu Kriemhilde, hat er aufs neue alles vergessen. Eroberungen, Volk, Heimat, Familie – alles ist ihm gleichgültig. Er hat nur noch Krimkilte im Sinn. Ihre Macht über ihn erklärt Michail Juchma so:

O-Ton 20: Michail Juchma, Kommentar
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Drewni awtor…
„Der Autor des Epos charakterisiert Kriemhilde als junge Frau, die das Fremde, das ganz andere Volk repräsentiert. Das betrifft sowohl die äußeren Merkmale Kriemhildes, auch ihre Art zu denken, die Welt zu sehen. In gewissem Maße freut es mich, daß der Autor Kriemhilde entschuldigt und sogar stolz ist auf sie. Als sie in den fremden Volksstamm geriet, als ihr Vater verwundet war, da war sie imstande, Attila an seinen Platz zu verweisen. Gerade dadurch eroberte sie wohl in diesem Moment das Herz Attilas. Darüber hinaus ist sie Patriotin ihres Volkes. Lange hat sie Attila nicht nachgegeben. Der Autor des Epos bezeichne sie daher sogar als Amazonin. Das heißt, es ist eine Geschichte der Verbeugung vor den Frauen. Sie hat sich zum Schein unterworfen, damit aber ihre Ehre und die Ehre ihres Volkes gerettet. Sie wird später dafür bestraft, aber ohne daß der Autor sie schlecht macht“

O-Ton 21: Michail Juchma, Forts.
Regie: O-Ton aufblenden, kurz stehen lassen, abblenden

Erzähler:
„Mnje nrawitsja…
Ihm gefalle dieses Epos überhaupt, fährt Michail Juchma fort: Offenbar gehe es dem Autor nicht darum andere Völker niederzumachen. Er sehe auch in seinen Feinden Menschen, die ihren Wert hätten, indem sie sich selbst, ihre Heimat, ihr Land verteidigten und so würdige Gegner Attilas seien. Dem Autor gehe es vielmehr darum, dem eigenen Volk zu zeigen, daß ein Herrscher, der seine eigenen Werte verliere, den Untergang seines Volkes herbeiführe. Darin liege vermutlich das wichtigste Ziel dieses Epos.
… dostoinimi pritifnikimi Attila“

Erzähler:
Und zögernd fügt Michail Juchma hinzu:

O-Ton 22:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Eta goworit…
„Das bedeutet offenbar, daß die höher entwickelte Kultur des Westens auf die despotische Denkweise des Ostens wirkte und sich als überlegen erwies. Genauer: die auf allgemein menschliche Werte aufgebaute Siedlerkultur des Westens wirkt mildernd auf die Kriegskultur der Nomaden, so muß man es wohl verstehen.“
…moschit bit, tak“

Erzähler:
Attila der Wilde, Kriemhild die kultivierte? Verblüfft sitzen wir uns gegenüber, dort der asiatische Hunne, hier der westliche Tschuche. Das Wichtigste sei, einannder kennenzulernen, sagt Michail Juchma schließlich und verspricht, mir den Rest des Epos vorzutragen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt.

O-Ton 23: Musik im Bus
Regie_: verblenden, langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:
Lied…
Die Gelegenheit kommt schon bald. Wieder sind wir unterwegs. Dies mal im kleinen Kreis von Mitarbeiterinnen des Kulturzentrums. Diesmal geht es nach Sugut, dem Heimatort Michail Juchmas. Juchma will mir dort zeigen, wie die Erinnerung an Attila heute lebt. Mit uns fährt auch ein türkischer Student, der im tschuwaschischen Kulturzentrum ein Praktikum absolviert. Kaum in Sugut angekommen, sehen wir uns durch ihn in ein Gespräch mit Dorfbewohnerinnen verwickelt. Es geht um seinen Namen, Attila. Die Verständigung ist einfach, man radebrecht in Türkisch und Tschuwaschisch miteinander; die Sprachen kommen aus einer Wurzel. Nur für mich muß man hin und wieder aufs Russische zurückgreifen:

O-Ton 24:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Erzähler:
„Hm, ja, Attila;  türkisch…
Wie häufig man den Namen Attila doch antreffe! In der Türkei, ebenso wie in Tschuwaschien. Ob man ihn ihm einen gemeinsamen Vorfahren habe? Ja, aber klar, versichert der türkische Student, Attila ist unser aller Vorfahr!“ Die Umstehenden stimmen zu. „Attila bedeutet Vater, manchmal auch einfach nur Ata oder Atner.“ „Türken und Tschuwaschen“, übersetzt eine Frau für mich, „das sind doch dieselben Menschen.“
..charascho, spassibo, Stimmen

O-Ton 25:
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Frauenstimmen
Im Zentrum des Ortes treffen wir auf große Geschäftigkeit. Frauen am Betonmischer, junge alte. In geblümten Kleidern die einen, in Trainingshosen die andern, aber alle mit dem von der Stirn nach hinten gebundenen Kopftuch.. „Auch wie bei uns zuhause“, meint der Student. „Eine Kirche bauen wir“, sagen die Frauen. Freiwillig? „Na klar, freiwillig.“ Und ohne Bezahlung. „Wir helfen“, lachen die Frauen, „wir geben den Männern bescheid, damit sie es richtig machen.“
… snajem, Lachen

Erzähler:
Man ist stolz auf den Bau der Kirche. Traditionen will man damit pflegen. Aber es geht weniger um das Christentum, als um ein Zentrum für das Dorf, für die Gemeinschaft, erklärt Juchmas älterer Bruder, der uns herumführt. Er ist hier in Sugut Dorflehrer.

O-Ton 26: Juchma, Trecker
Regie: verblenden, Ton langsam kommen lassen, hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
Trecker, dglja tebja…
„Das Interessanteste für Dich, “ kommentiert Michail Juchma,  „ist die Methode, wie  hier gebaut wird: So wie jetzt die Kirche, so werden auch die Häuser gebaut, gemeinsam. Das ist es. Wenn jemand in Elend verfallen ist, dann versammelt sich das Volk und baut gemeinsam ein Haus. So wie jetzt die Kirche. Das ist gegenseitige Hilfe, das ist die Hilfe der Dorfgemeinschaft.“
… obschtschina, Trecker

O-Ton 27: Athmo und Admisnistration
Regie: O-Ton kommen lassen, breit stehen lassen, abblenden, gut hörbar unterlegen, nach Erzähler bei „Nawerna“ kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, anschließend hochziehen.

Erzähler:
Athmo: Türen…, Gänse…, Eisentreppe…, Hall,… „Nawerna….
Der junge, agile Kolchosdirektor, der zugleich Administrator ist, bringt uns ins Verwaltungsgebäude. Es ist zugleich Kulturhaus. Auf die Frage, ob er sich mit der Wiedergeburt tschuwaschischer Geschichte befasse, antwortet er:

Regie: kurz hochziehen

Übersetzer:
„Ja doch, als Vorstand der Kolchose muß ich das wohl. – Was gibt es da so?
Da ist die Durchführung von Kulturveranstaltungen, die aus eigener Tradition herkommen, alte tschuwaschische Traditionen, meine ich, Gedenken an Geschichte, Hochzeiten, Geburten, Jubiläen nach alten Riten. Wir laden Künstler aus der ganzen Republik ein. Wagentheater, Konzerte, Chorsingen. Das alles gibt es ziemlich oft.“
… we etom godu (…)“

O-Ton 28:
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach Erzähler deutlich hochziehen, stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler wieder hochziehen, dann allmählich abblenden

Erzähler:
Gesang
Auch ein Buch über die Geschichte des Dorfes habe man herausgegeben, ergänzt Michail Juchma. Eine wichtige Arbeit, findet er, aber sehr mühsam. Alles mußte einzeln zusammengetragen werden genau wie bei Atil und Krimkilte…

Regie: Hochziehen, abblenden

Erzähler:
Bevor er weitere Ausführungen machen kann, wird er unterbrochen, denn zur Unterstützung ihres Direktors  nun hat ein Chor den Raum betreten, einige Mitglieder in traditioneller tschuwaschischer Tracht, der die Gäste mit Brot und Salz  begrüßt und tschuwaschischer Lieder singt:

O-Ton 29:
Türen, Abfahrt, Auto
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Erzähler:
Mehrere Stunden später geht es zur anderen Seite des Dorfes zurück, wo wir bei den Juchmas nächtigen sollen. Die kurze Fahrt nutze ich, um Michail Juchma nach den Einzelheiten zur Quellenlage des Epos von Attila und Kriemhilde zu befragen, bei deren Darstellung er zuvor unterbrochen worden war:

O-Ton 30: Juchma im Auto
Regie: O-Ton verblenden, kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Eta rasrusnjenje…
„Es sind einzelne Gedichte, einzelne Strophen, Prosaerzählungen, ein unzusammenhängender Text. Ich habe ihn aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen. Bei einigen weicht der Inhalt etwas ab: Der sachliche Grundtenor aber ist, daß Attila anfangs ein guter Herrscher war. Er bemühte sich um das Volk. Später, als er schon viele Völker besiegt hatte, wandelte er sich sehr stark zum Schlechten: Er brachte seinen Bruder um, begann die Gesetze seines Volkes zu mißachten, seine Frau zu beleidigen, er machte seinen zweiten Sohn zum Lieblingssohn, das heißt zum Erben. Darüber entstand Streit zwischen den  Völkern, die im hunnischen Bund waren. Es entstanden Kämpfe, aber Attila kümmerte sich nicht darum. Er fand Gefallen daran, sich immer aus Neue mit jüngeren und noch jüngeren Frauen zu verheiraten.“
…na maladix genschin“

Erzähler:
Die ganze Zeit? Immer aufs Neue?

O-Ton 31: Juchma, über Attila, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
„Aha, wsjo wremia…
„Ja, immer aus Neue! Und er feierte die ganze Zeit Feste, statt sich um den Staat zu kümmern. So verlor er seine Mannschaften. Sie verließen ihn. Da entschied einer seiner Verwandten, ihn zu beseitigen. Aber das war nicht möglich, weil Attilas Autorität, auch seine Leibwache groß war. Später verliebte sich dieser Verwandte in Kriemhilde. Als Attila dieses Mädchen sah, forderte er von dem Verwandten, daß er ihm dieses Mädchen abtrete. Der verabredete daraufhin mit Kriemhilde, daß sie Attila täuschen solle, also ihm Liebe verspreche und so weiter.
Am Ende kommt es dann so, daß sie zustimmt, seine Frau zu werden. Aber als die Hochzeit war und sie schon in die Gemächer Attilas gehen sollten, sagte sie: Ich liebe dich nicht, ich werde mit deinem Verwandten fortgehen. Über diese Ungeheuerlichkeit regt er sich so auf, daß er stirbt. So die Erzählung.  Die Moral des Epos lautet also: Wenn Du ein großer Herrscher bist, dann liebe dein Volk, hilf ihm und fordere es nicht sinnlos heraus. So wird erklärt, warum Attila starb. Er starb, weil er unmäßige Macht wollte, unmäßig alle jungen Frauen haben wollte und unmäßig trank. Es ist eine interessante Lehre, welche die Erzählung gibt: Sie rechtfertigt den Verwandten, der ohne Gewalt, auf geschickte Weise mittels der Frau den hart und brutal gewordenen Attila zu beseitigen versteht.“
..ot jestokowa Attila“

O-Ton: Musik, Gesang
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Im Haus der Juchmas werden wir schon erwartet. Es ist einer dieser soliden, zugleich anheimelnden Holzbauten, draußen geschnitzte Türen und bemalte Rahmen, ein umbauter Hof, drinnen der wohltuende Petschka, der Wärme spendende Ofen. Teigtaschen werden aufgetragen, dazu Selbstgebrauter aus eigener Obsternte. Einer der älteren Anwesenden läßt es sich nicht nehmen, dem Gast vorzuspielen. Michail Juchma reiht sich bescheiden ein. Der berühmte Nationalschriftsteller ist hier nur der jüngere Bruder; hier hat der ältere Bruder das Sagen. Über ihm steht nur noch das Wort  Babuschkas, der Familienältesten.
Aber als Mischa ansetzt, um das Epos von Attila und Kriemhilde weiter vorzutragen, tritt sofort andächtige Stille ein. Mit wenigen Worten führt er von der ersten Begegnung zwischen Attila und Kriemhilde ins weitere Geschehen. Er braucht nicht viel zu erklären. Hier hört man die Geschichte nicht zum ersten Mal:

O-Ton 32: Michail Juchma, Epos
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden,

Erzähler:
„Wischschemesch paijat, Attil…
Als Attila weder auf seine Frau, noch auf seine Ratgeber hörte, berichtet das Epos weiter, versuchte der Feldherr Markka, sein Freund, ihm ins Gewissen zu reden. Aber Attil jagte ihn in die Verbannung: Davon hörten Attils Feinde, die unterworfenen Völker des Ostens, ebenso wie die Tschuchen im Westen, die alle nur darauf gewartet hatten, sich von seiner Vorherrschaft befreien zu können. Sie schließen sich zusammen und rücken gegen ihren gemeinsamen Feind vor. Unter den feindlichen Truppen befindet sich auch Krimkiltes Vater Tschupajrek, der seine Tochter aus der Gewalt Attilas befreien will.  Der bedrängte Attila ruft Ajtaman, den Bezwinger Tschupaireks. Aber Ajtaman läßt sich verleugnen; er sei krank. Nun bereut Attila, den Felherren Markka verstoßen zu haben. Die Heere rücken aufeinander zu. Doch statt einer allgemeinen Schlacht kommt es zu einem Zweikampf zwischen Attila und dem Vater Kriemhildes. Keiner von beiden kann siegen. Beide Heere ziehen sich zurück. Das bringt die Wende.

O- Ton 33: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator:
„Schapaschu pulmanni….
„Der Krieg wird nicht geführt,
Das Blut wird nicht gegossen
Das erfreut Attil.
Es läßt ihn an die Zukunft denken
Seine Herzensliebe,
Seile Seelenliebe
Verstärkt sich wieder,
Sie bringt Attil zu Krimkilte.“

Erzähler:
Jetzt endlich, sei es aus echter Liebe, aus Verwirrung oder aus Berechnung, stimmt Kriemhilde zu, Attilas Frau zu werden. Freude bricht aus. Attila befiehlt, alle, auch die ehemaligen Feinde, als Hochzeitsgäste zu laden.

O-Ton 34: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator/Attil:
„Tschernjer purnje tje…

„Ladet alle ein!
Auch die Jamanen,
Auch die Sujanen,
Auch die Kajtaschen,
Auch die Wakiweren.
Auch die Putlanen
Auch die Tschuchen!
Schickt zu Tschupajrek Gesandte,
Bringt in Tschupajreks Haus Geschenke.“

Erzähler:
Nur Attilas Frau Herkke bedrängen dunkle Ahnungen. Sie beschwört ihren Mann:

O-Ton 35: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitatorin hochziehen

Zitatorin/Herrke:
„Tschawaschschene…
„Den Tschuwaschen,
Bringt dein Glück nur Not
Unglück bringt Deine Freude.
Das sehe ich in deinem Gesicht,
Das fühle ich mit meinem Herzen.“

Erzähler:
Aber Attil schiebt alle Bedenken beiseite. Er hofft auf das Glück. Als Tschupajrek kommt, bemüht Attila sich ihn überzeugen, daß er Kriemhild nicht mit Gewalt, sondern mit seiner Liebe gewonnen habe:

O-Ton 36: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Zitator/Attila:
„Kurtan i Tschupajrek…

„Siehst du, Tschupajrek,
Weißt du, Tschupajrek,
Ich zwinge deine Tochter nicht,
Mit meiner Liebe habe ich ihr Herz gewonnen,
die Hochzeit hat sie selbst gewollt,
auch dir wird sie es sagen.“

Erzähler:
Nachdem sich Tschupajrek in  einer Unterredung mit seiner Tochter selbst davon überzeugen konnte, gibt er sein Einverständnis zu der geplanten Hochzeit. Jetzt reisen alle Fürsten der Nachbarvölker zur Hochzeit an.

O-Ton 37: Hochzeitsmusik
Regie_ Ton kommen lassen, kurz stehen lassen unterlegen, nach Erzähler wieder hochziehen

Erzähler:
Ausgelassene, rhythmische Musik
Und nun wird gefeiert. Attila ist glücklich, er ist freundlich nach allen Seiten. Kriemhild ist überaus schön, wunderbar. Zur Hochzeit ist auch der genesene Ajtaman gekommen. Attila nimmt auch ihn mit großer Freude auf. Alle singen Hochzeitslieder, man tanzt, freut sich. Brautführer, Brautjungfern, die Verwandten des Bräutigams, Mädchen, Frauen. Attila selbst – jeder singt sein Lied. Jedes Volk führt seine eigenen Lieder und Tänze vor. Unter allgemeiner Ausgelassenheit werden Braut und Bräutigam schließlich zu ihrem Hochzeitslager geführt. Dabei werden derbe Scherzlieder gesungen.

O-Ton 38: „Char“ (Tröte)
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, während des Scherzliedes hin und wieder hochziehen, wie es paßt

Erzähler:
Lautes Tröten..
Zur Freude aller Anwesenden demonstriert der musizierende Alte nun ein anderes Instrument, den Char. Es dient dazu schlechte Geister auszutreiben.

O-Ton 39: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der letzten Strophe noch einmal einen kräftigen Tusch

Zitator:
„Timer, timer, timerschke…
Der Riegel ist aus Eisen
Nicht nur aus trocknem Holz.
Wenn unser Schwager könnte
Neun Söhne zeugt er stolz.
Tröte

Unsre Schwiegertochter,
ist locker wie sonst keine;
Zum Schwager legt sie sich
Zieht danach schnellstens Leine.

O-Ton 40:
Regie: verblenden, allmählich kommen lassen, nach den letzten Zeile hochziehen,  kurz frei stehen lassen und dann vor Erzähler hart abbrechen

Ausgelassene, rythmische Musik

Zitator/Forts.:
Sehr brav ist unser Schwager,
Er scheut zurück vor nichts.
Doch bellt der Hund, dann drückt
Er an die Schwiegertochter sich.
Musik – bricht plötzlich ab

Erzähler:
Plötzlich wird die Tür zum Hochzeitslager aufgerissen. Kriemhilde stürzt heraus und schreit:

O-Ton 41:
Regie: O-Tons ganz stehen lassen, verblenden

Zitatorin/Krimkilte:
„Ach, inkek…

„Ach, Jammer!
Großer Jammer!
Er ist tot!“

O-Ton 42: Musik, Tontaube                 98,7, A, 61
Regie: Drei Wellen: O-Ton kommen lassen, stehen lassen, bei Erzähler abblenden, unterlegen, nach Erzähler vorübergehend hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, danach noch einmal vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen und abschließend hochziehen. Unter O-Ton 44 dann ausklingen lassen.

Erzähler:
Musik, langsam
Attil ist auf dem Hochzeitslager gestorben. Schnell entfernen sich die Gäste. Das ganze tschuwaschische Volk ist in Kummer geraten. Wie soll es ohne Attil leben?! Trauergesänge erschallen.

Regie: hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Musik, langsam
Um diese Zeit berichtet man, daß die Tschuwaschen von Feinden von verschiedenen Seiten überfallen worden sind. Sie beginnen eilig ihr Heer zu sammeln. Zum neuen Zaren wird Ajtaman ernannt. Aber Ajtaman ist nicht da. Jemand berichtet, das Ajtaman mit Krimhilde zu den Tschuchen gegangen sei. Wer kann den Tschuwaschen in dieser Lage noch helfen?

Regie: hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, unter O-Ton 44 allmählich abblenden

Erzähler:
Musik, schneller
Da kehrt, als Retter aus dieser Not, der Feldherr Markka zurück.
Tontaube, schnell

O-Ton 43: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator, Markka:
„Uzt urig sassi…
„Es schlagen Hufe
Es wiehert ein Pferd.
Zu den Tschuwaschen,
die in Not geraten sind,
Zu den Tschuwaschen,
die an Kummer leiden,
Reitet der Feldherr Marka,
Gleich spricht er: Als ich
vom Tode Attils erfuhr
Bin ich rechtzeitig
In großer Eile gekommen.
Wer auf mich hofft,
Soll sich hinter mich stellen,
Wer mit mir sein wird,
Soll sich neben mich stellen.“

Erzähler:
Die Tschuwaschen sind froh, sie rufen „Utarja!“, Hurra! Sie stellen sich um den Feldherrn Marka und machen ihn zu ihrem Fürsten. Mit Markkas Hilfe schlagen sie die anstürmenden Feinde. Kriemhild und Ajtaman werden gefangen genommen.  Das Volk will Kriemhilde und Ajtaman bestrafen. Man will sie in Stücke schneiden und den Hunden vorwerfen. Aber der Feldherr Markka ist damit nicht einverstanden. Er will weder Krimhilte noch Ajtaman töten lassen. „Die Scham und die Schande sind qualvoller als der Tod“, sagt er. Daraufhin werden Kriemhildes Haare, Ajtamans Bart geschnitten; anschließend werden beide in die Steppe hinaus gejagd. Danach muß Feldherr Marka sich um sein Volk kümmern. Obwohl er die Feinde geschlagen hat, weiß er: Nach dem Tod Attilas können die Tschuwaschen nicht weiter an demselben Ort leben. Unter seiner Leitung legen sie Attila in einen goldenen Sarg und begraben ihn in der offenen Steppe. Damit die Feinde sein Grab nicht finden können, lassen sie an dieser Stelle eine Herde Pferde galoppieren. Danach führt der Feldherr Markka die Tschuwaschen an einen neuen Ort, wo sie heute noch leben. Das Epos endet mit den Sätzen:

O-Ton 44: Michail Juchma, Epos, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Zitator hochziehen

Zitator:
„Saplasse nessere…

„So ziehen die Tschuwaschen
An einen neuen Ort,
an einen fruchtbaren Ort,
an die Ufer der Wolga,
In ein sehr schönes Land.

O-Ton 45: Musik
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Zitator hochziehen, stehen lassen, abblenden, dem Zitator unterlegen, zwischendurch aufblenden, dem Erzähler unterlegen, dem O-Ton 47 unterlegen, nach Übersetzer beim Einsatz der rhythmischen Flöte hochziehen, dann langsam abblenden

Zitator/Forts.
Tontaube, Trommeln, Flöte

Sie beginnen ein neues Leben.
Auch heute leben sie dort,
Auch heute vergessen sie
den Feldherren Markka nicht.
Musik

Erzähler:
Still wurde es in der Stube der Juchmas. Erinnerungen an Markka, das sind Erinnerungen an den Übergang vom nomadischen zum seßhaften Leben. Das ist das quälende Hin-Und-Her-Gerissen-Sein zwischen dem Schmerz über den Verlust von Weite und Freiheit des nomadischen Lebens und der Zufriedenheit über die Sicherheit der Sesshaftigkeit. Die Geschichte Rußlands und seiner Völker ist geprägt von dieser Zerissenheit. Er habe dazu sogar Gedichte geschrieben, erklärte Michail Juchma nach einigem Schweigen. In ihnen gehe es um Kindheitserinnerungen an eine Steppe, an wilde Pferde, an eine heiße Sonne und an die Wüste, die er alle nie selber sah. Aber auch Träume werden an diesem Abend wach, in denen ein anderer Michail Juchma erkennbar wird, als jener, der Kriemhild als Botin einer überlegenen westlichen Zivilisation bezeichnet. Schüchtern fast, aber doch voll banger Hoffnung, sinniert er:

O-Ton 46: Michail Juchma, Kommentar
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Kak Mongoli prischli…
„Von den Mongolen bis zu den Hunnen waren es 700 Jahre, seitdem sind wieder fast siebenhundert Jahre vorbei: Könnte doch sein, daß der Osten heute wieder nach Westen herüberkommt?“
Tontaube, Trommel, Flöte aus O-Ton 46
Erzähler:
Am nächsten Morgen geht es wieder zurück nach Tscheboksary. Woher all die Einzelheiten des Epos wisse, frage ich Michail Juchma, wenn doch der Text des Autors Pitraw seinerzeit verlorengegangen sei? Von Babuschka, seiner Großmutter, antwortet Michail Juchma, wie übrigens auch all die anderen frühen Mythen, Legenden und Erzählungen der Tschuwaschen, ebenso wie die der anderen Völker an der Wolga, die er gesammelt habe. Michail Juchmas Großmutter war Geschichtenerzählerin im Dorf Sugut:

O-Ton 47: Juchma
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach Übersetzen hochziehen.

Übersetzer:
„U Babuschke sabiralis…
„Bei Babuschka versammelten sich, als ich noch sehr jung war, die Alten des Dorfes, um sich miteinander zu besprechen. Das war die Gilde der Erzähler. Ich saß zwischen ihnen und hörte zu. Sie stimmten einige Dinge miteinander ab: Hier muß man etwas so, da etwas anders erzählen; über dieses Dorf muß man das und das sagen, anders ist es nicht richtig, so geht es nicht! Ich erinnere mich gut an diese Gespräche, die mich sehr beeindruckt haben. Besonders erinnere ich mich daran, wie sie eine Erzählerin aus einem entfernteren Nachbardorf kritisierten, die sagte, daß Ultenbyk gestorben sei. Sie stellten klar, daß man das so nicht sagen dürfe, daß man sagen müsse: Er verschwand; wohin er verschwand, ist nicht bekannt, aber er erscheint manchmal Leuten am Horizont auf weißem Pferd und umgeben von seinen Kriegern, tschuwaschischen Truppen.“
…tschuwaski atrjadi

Erzähler:
Heute ist Michail Juchma selbst Babuschka. So werden Schriftsteller gelegentlich im Volksmund genannt. Die wirkliche Babuschka könne er natürlich niemals ersetzen, wehrt er ab. Sie habe unermeßlich viel mehr gewußt als er, denn sie sei die Bewahrerin eines tausendjährigen Wissens. Zwischen ihr und ihm fehle eine ganze Generation, die Kriegsgeneration, die Stalingeneration.  Außerdem habe sie besondere Kräfte gehabt:

O-Ton  48: Mischa über  Babuschka, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, ab blenden, unterlegen, nach dem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer:
??? „Ana bila bolsche…
„Sie war mehr als nur eine Märchenerzählerin. Sie bewahrte das ganze Erzählgut. Sie hatte auch religiöse Aufgaben. In die Kirche konnte sie natürlich nicht gehen, die Kirchen waren ja niedergerissen. Aber in ihren Erzählungen gab es immer alte tschuwaschische Götter. Sie kannte alle Götter und Mythengestalten. Aber sie erzählte nicht nur, daß es sie gab, sondern auch wo sie sich aufhielten, auf einem bestimmten Berg, an einem bestimmten Ort. Da waren große Drachen, riesige Schlangen. Und ich fragte: Großmutter, warum gibt es diese Schlangen in unserer heutigen Welt nicht? Und sie sagte: `Das war damals, lang zurück, lange zurück zur Zeit unserer Vorfahren. ´  Diese Erinnerung an die alte Natur hat sich bei Großmutter sehr gut erhalten.“
…otschen charascho sakranilas“

Erzähler:
Unter solchen  Gesprächen erreichten wir die kleine Druckerei, in denen die von Michail Juchma aufgeschrieben Geschichten, auch das Epos von Attil und Krimkilte heute in kleine Broschüren gepreßt werden. Hier wird noch jede Zeile mit der Hand in Blei gesetzt – eine Technik, die selbst schon vergessen ist.

O-Ton 49: Druckerei
Regie: Während der letzten Worte langsam kommen lassen, stehen lassen, unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Maschinengeräusche: Sammler, Stimmen, Druckerpresse
Das Stampfen der Druckerpressen noch im Ohr, komme ich im fernen Nowosibirsk, einer 2000 km weiter in Osten gelegenen Station meiner Reise zu neuen, überraschenden Blicken hinter den hunnisch-mongolischen Vorhang der russischen Geschichte: 90% Prozent der Namen sibirischer Flüsse, Berge und Landschaften, höre ich, seien mongolischen, tatarischen, turksprachigen oder sonstigen nomadischen Ursprungs. Bei einem guten Bekannten, Juri Gorbatschow, Journalist, Poet und Liedermacher, den ich bei einer früheren Begegnung als gemäßigten russischen Nationalisten kennengelernte, stoße ich auf  eine Überraschung besonderer Art. Ich finde ihn beschäftigt damit, ein Lied über die zu schreiben, die er die neuen Hunnen oder auch die neuen Wikinger nennt. Befragt, wie das zu verstehen sei, antwortete er:

O-Ton 50: Juri Gorbatschow
Regie: O-Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, slowa nowi Gunni…
„Nun, das Wort neue Hunnen benutze ich, um die Strukturen des heutigen Verbrechens zu kennzeichnen. Es ist ungefähr so wie bei Tschgis Chan: Es sind Krieger. Nimm die  gut organisierten Brigaden von Schutzgelderpressern, die überall ihre Gelder eintreiben. Sie sind nach dem Prinzip der Kampfgemeinschaften organisiert. Die kann man mit den Wikingern, mit den Hunnen oder mit den Horden Tschingis Chans vergleichen. Das sind Banden, Banditen, Kämpfer, die sich versammeln, um Beute zu machen. Töten ist für sie kein Problem. Die Wikinger hatten ihre Schiffe; danach bestimmte sich die Größe ihrer Brigade. Die Hunnen hatten ihre Jurtengemeinschaft. Heute bilden sich Minibrigaden nach der Menge der Leute, die in ein Auto passen, fünf, sechs Leute und noch ein gewisses Hilfspersonal. Alles nach alten Prinzipien.“

O-Ton 51: Juri, Guitarre
Regie: Unter dem Erzähler langsam kommen lassen

Erzähler:
Mit diesen Worten hat Juri zur Guitarre gegriffen, um mir seine neueste Schöpfung vorzuspielen.

Regie:
Nach Erzähler kurz stehen lassen, abblenden Allmählich abblenden

Erzähler:
Prof. Derewianko, Leiter des Instituts für Archäologie der Universität von Nowosibirsk, den ich auf Juris Empfehlung hin anschließend aufsuchte, ist gar nicht einverstanden mit solchen neuen Begriffen. Er hält sie für modisches Gerede, Verfälschung der wirklichen Geschichte, Ausdruck der Oberflächlichkeit der neuen Zeit. Sicher seien sie alle Räuber gewesen, so der Professor. Die Wikinger aber seien bezahlte Söldner, dazu noch Händler und von Haus aus seßhaft und bald in die einheimische Bevölkerung integriert gewesen; Hunnen und Mongolen dagegen nomadische Krieger, die sich fremde Völker unterwarfen. Das gelte es strikt zu unterscheiden, betont der Professor, auch wenn die einen wie die anderen tiefe Spuren in der russischen Geschichte hinterlassen hätten. Daß die Tschuwaschen Attila für sich reklamieren, quittiert der Professor mit einem gemütlichen Lächeln: Die Herkunft der Hunnen aus dem nordchinesischen Raum unterliege keinem Zweifel, meint er, ebenso auch die hunnischen Wurzeln der Mongolen. Welche Völker aber im Einzelnen zu den Hunnen gehörten und wie sie sich im Zuge der verschiedenen Wanderungswellen mischten,  könne niemand bisher mit wissenschaftlicher Genauigkeit sagen. Das herauszufinden sei Sache zukünftiger Forschung, findet er. Wichtiger ist ihm, bei aller Gleichartigkeit auch die Unterschiede zwischen der hunnischen und der mongolischen Bewegung herauszuarbeiten:

O-Ton 52:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
„Dschweschennije Mongolow…
„Die Bewegung der Mongolen hatte einen anderen Charakter als die der Hunnen. Nach der Bildung des Imperiums durch Tschingis Chan war die mongolische Bewegung schon nicht mehr spontan, wie die hunnische zuvor. Die setzte sich wie ein Schneeball durch die Steppe fort. Die mongolische war bereits auf Eroberung gerichtet, trug klar politische Züge: Die Unterwerfung Nord-Chinas, des Hai-Reiches, das den Westen Chinas beherrschte, die Vernichtung der zentralasiatischen Reiche, schließlich, Ost-, dann Westeuropa. Alles nacheinander. Das zielte bewußt auf Weltherrschaft, wie es das vorher nur unter Alexander von Makedonien und Rom gegeben hatte.“

Erzähler:
Aus heutiger Sicht, so der Professor, müsse man Attila, ebenso wie Tschingis Chan wohl als brutale Tyrannen bezeichnen, doch müsse man zu verstehen versuchen:

Übersetzer:
„Das war jene Welt; das war jene Zeit – die Brutalität, der Mord an Verwandten, die Tötung von Ehefrauen, sogar des Vaters, der Mutter; das alles war üblich in der damaligen nomadischen Welt und nicht nur bei ihnen, auch in der römischen oder der griechischen Zivilisation. Unter dem Aspekt der Weltgeschichte würde ich daher die Rolle der Hunnen, erst recht die der Mongolen nicht vollkommen negativ bewerten. Die Millionen an Toten, die sie hinterließen, sind vom Standpunkt menschlicher Moral nicht zu vertreten, aber in beiden liegt eine gewisse Unausweichlichkeit der Menschheitsentwicklung; das war sozusagen die Rückseite der menschlichen Geschichte. Darin aber, daß das Imperium Tschingis Chans schließlich zwei Welten, die östliche und die westliche, engstens zusammenbrachte, lag natürlich sehr viel Positives.“
…mnoga polaschitelno.“

Erzähler:
Die Hunnen zertrümmerten die römische Welt und schufen so die Voraussetzungen für die Entstehung der europäischen Zivilisation, so der Professor. Hauptsächliche Erben des mongolischen Weltreiches aber wurden die Russen. „Schritt für Schritt“, so der Professor, „vollzog sich unter dem Einfluß der Mongolen die Entwicklung der russischen Staatlichkeit, während Moskau die Herrschaft der Chane weiter und weiter nach Osten zurückdrängte. Mongolisches Tribut- und Gefolgschaftsprinzip, ethnischer Pluralismus bei zentralisierter Führung, Sprache und nicht zuletzt nomadische Mentalität gingen so in das entstehende russische  Imperium ein. Aber nicht nur Mongolen und Russen, nicht nur zwei Ethnien, betont der Professor, als wolle er Michael Juchma zitieren, zwei Welten trafen so aufeinander, die nomadische und die seßhafte. Der Konflikt zwischen ihnen habe die Geschichte der Menschheit begleitet und sei heute im Begriff neu aufzubrechen.

O-Ton  53: Musik
Regie: Musik allmählich kommen lassen, nach Erzähler hochziehen, stehen lassen, mit Applaus abblenden

Erzähler:
Musik…..
Damit hat der Professor ein Stichwort genannt, das über die Schwelle des Jahres 2000 hin Gültigkeit haben wird. Wenn es wohl auch keinen neuen Attila oder Tschingis Chan geben wird, so kommt doch mit Sicherheit eine neue Begegnung von Ost und West auf uns zu.

Vom technischen zum moralischen Fortschritt?

Gedanken
erstmals vorgelegt
anlässlich eines Seminars der Europäischen Akademie Waren/Müritz
über „Religiöse Erneuerung in Russland“ im Dezember 2001

1. Russland, die nachsowjetische Entwicklung, steht exemplarisch für einen Prozess der religiösen Erneuerung, der überall in der heutigen Welt zu beobachten ist. In Russland ist dieser Prozess auf Grund der besonderen Bedingungen der russisch-sowjetischen Geschichte besonders deutlich. Die besonderen Bedingungen liegen in dem gleichzeitigen Nebeneinander der unterschiedlichsten religiösen Traditionen und Entwicklungsstadien wie auch in der Forcierung einer nachholenden Industrialisierung auf dieser Grundlage, was extreme Polarisierungen und immer wieder extreme Wendungen geistiger Orientierungen nach sich zog, in denen allgemeine globale Entwicklung sich exemplarisch zuspitzten.

2. In Russland war sehr deutlich und ist noch heute exemplarisch zu beobachten, wie sich Menschen von ursprünglichen kreatürlichen Bindungen an die – Mutter – Natur und ihre unmittelbare Aufgehobenheit in kosmische Abläufe entfernen. Dies gilt vor allem für die nomadischen Völkerschaften Mittel- und Ost-Sibirienes, aber auch für einige Völker Mittelrusslands. Die ursprüngliche kreatürliche Einbindung in die natürlichen Lebensprozesse und kosmischen Abläufe wurde und wird durch deren  rituelle Beschwörung, durch einen schamanischen Geisterbeschwörer ersetzt.

3. Im zweiten Schritt trennen Menschen sich auch von der rituellen schamanischen Beschwörung, indem Gott nun außerhalb des Menschen und seines lebendigen Naturzusammenhanges gesucht wird und sich besondere Institutionen absondern, die stellvertretend für den Menschen die Verbindung zu diesem einen Gott herstellen und halten:  Erde und Himmel trennen sich; der Himmel wird zum Ersatz für eine als unvollkommen erlebte Erde – das Paradies. Christentum, Islam und Judentum nehmen diese Stellung ein.

4. Mit dem Wachstum der Menschen auf geistigem und physischem Gebiet erwies sich auch das durch die Kirchen repräsentierte Versprechen auf das jenseitige Paradies als unfähig, die Mühsal der irdischen Realität zu ersetzen und Fragen nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Wissenschaft und Industrie traten an die Stelle; statt Vertröstungen auf ein jenseitiges Paradies versprachen sie dessen Verwirklichung hier auf der Erde – und dies im Laufe eines menschlichen Lebens. Religiöse Ideen verwandelten sich in soziale und intellektuelle, allerdings ohne die ursprüngliche natürliche Einbindung in die natürlichen und kosmischen Kreisläufe und in die institutionalisierte Religion ganz verdrängen zu können. Der sowjetische Sozialismus wurde auf diese Weise zur Ersatzreligion.

5. Der Versuch, das Paradies auf  Erden wissenschaftlich-technisch und industriell hier und jetzt verwirklichen zu können, scheiterte jedoch ebenso wie vorher das Paradiesversprechen der Kirche. Dies zeigte sich zunächst im Heimatlande der sozialistischen Utopie – der Sowjetunion und im sozialistischen Lager parallel dazu aber auch als auch bei seinem kapitalistischen Gegenpol.

6. Viele Menschen schauen deshalb heute zurück – zu kirchlichen Glaubensformen eines stellvertretenden Monotheismus – sei es Christentum, Islam oder auch das Judentum. Diese fundamentalistischen Bewegungen tragen starke konservative, anti-modernistische Züge. Solche Entwicklungen lassen sich nicht nur in Russland, sondern global beobachten. Der islamische Fundamentalismus ist ein Teil davon, aber keineswegs die einzige Erscheinungsform des Fumdamentalismus. Vergleichbare anti-modernistische Reflexe sind ebenso im sog. Westen, vor allem in den USA zu beobachten. Die Rückwendung zu schamanistischen Ritualen dagegen trägt eher anarchischen, pluralistischen, tendenziell demokratischen Charakter. Auch diese ist nicht nur in Russland, sondern global zu erkennen.

7. Zurzeit suchen Menschen überall auf der Welt einen Weg, die ursprüngliche, die verlorene Einheit von Natur, Mensch und Kosmos auf neue Weise herzustellen. In anti-modernistischer Rückwendung ist dies aber nicht möglich, sondern nur in einer bewussten Erkenntnis der Eingebundenheit des Menschen in einen vielfältig gestalteten und belebten Kosmos und deren wissenschaftlich-technischer Umsetzung in eine praktische individuelle Lebensführung und eine entsprechende globale ökologische Politik.

8. Diese Erkenntnis bedingt die Einsicht in die individuelle Eingebundenheit des einzelnen Menschen in die Gemeinschaft der Menschen, der Menschen in die Gemeinschaft der Tiere und der Pflanzen, des Lebens in die Bewegungen und Gesetze eines offenen, sich bewegenden  sich stetig verändernden Kosmos. Es ist eine Bewegung, die sich nicht unter dem Motto „Zurück“, sondern „Vorwärts zur Natur“ vollzieht. In Ihr verwirklicht sich eine Modernisierung, die über den bloß technischen Fortschritt zu dessen moralischer ethischer und moralischer Einbindung in die ökologischen und kosmischen Zusammenhänge führt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Wieder Frau sein – Rückschritt oder Fortschritt?

Thesen für das Abschlussgespräch des Seminars:

„Russland – Krise des Patriarchats oder heimliches Matriarchat?“

vom 5,10. – 7.10. in der Akademie Sankelmark

1. Die Krise des russischen Patriarchats ist Teil einer weltweiten Krise des Patriarchats. In Russland tritt diese Krise zur Zeit besonders scharf hervor. Sie äußert sich in einer allseitigen und tiefen Zerrüttung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ist in ihrem Wesen aber ein Wachstumsprozess.

2. Russische Frauen kommen aus der Phase der Gleichmacherei: Für sie ist Emanzipation nicht Gleichheit, sondern das Recht auf Ungleichheit, genauer auf ein Anders-Sein ohne Diskriminierung.

3. Nicht in der Forderung nach Gleichheit oder Ungleichheit, sondern in der Forderung nach dem Recht auf Anderssein ohne Diskriminierung liegt daher der emanzipatorische Kern der Vorstellungen und Forderungen russischer Frauen, in denen sie sich mit denen von Frauen und Männern aus anderen Teilen der Welt treffen.

4. Generell ist die Krise der patriarchalen Ordnung nicht dadurch lösbar, dass die in die Krise gekommene patriarchale Herrschaft durch eine matriarchale ersetzt wird, sondern indem sich im Dialog zwischen weiblichen und männlichen Polen, einschließlich ihrer kulturell gewordenen jeweiligen Besonderheiten, ein Drittes entwickelt, ohne die Existenzberechtigung der Pole – weiblich und männlich – zu negieren.

5. Dieses Dritte wächst im Einsatz, tendenziell in der Liebe für eine Gemeinschaft, die unabhängig von Geschlecht, Alter, Kultur oder Rasse zum Nutzen jedes Einzelnen selbst gewählt und entwickelt wird.

Kai Ehlers. Publizist, www.kai-ehlers.de, info@kai-ehlers.de
D- 22147 Rummelsburgerstr. 78, Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482

Aus Anlass der Anschläge vom 11.9.2001: Nicht „Schulterschluß“ und Konfrontation…

Alternativen entwickeln

Der „Schulterschluss“ der „zivilisierten“ gegen die „unzivilisierte“ Welt, wie in Christian Semmler kritisiert, also des „Westens“ gegen den „unterentwickelten“ Rest des Globus ist ganz sicher nicht die Reaktion, die hilfreich ist, den Knoten zu lösen, der mit den Terroranschlägen in New York und Washington ins Licht der Weltöffentlichkeit getreten ist. Wir brauchen stattdessen Differenzierungen, um die Entwicklungswege zu fördern, die einer zivilisierten Lösung unserer heutigen globalen Probleme dienlich sind. Wir brauchen eine Lösung, die darauf zielt, allen Menschen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung zu geben.
…sondern eine multipolare Weltordnung…
Anders gesagt: Nicht die Ablösung der alten Systemkonfrontation durch eine Konfrontation der Kulturen unter Führung der USA steht heute an, sondern die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung, in der die Völker der Welt eine vielgestaltige Weltkultur kooperativ und gleichberechtigt miteinander entwickeln. Nur darin liegt eine menschenwürdige Zukunft.
…und soziale Alternativen entwickeln
Dies bedeutet auch, die vielfältigen Alternativen zur Privatisierung und so genannten Globalisierung herauszuarbeiten, die heute, angestoßen durch die nachsowjetische Entwicklung in Russland und anderswo erkennbar werden. In dieser Entwicklung läuft ja keineswegs alles so, wie sich es sich die Liquidatoren des sowjetischen Modells gedacht haben. Es zeigt sich nämlich, dass der ungehemmte liberale Kapitalismus keineswegs die Alternative zum sowjetischen System ist. Unter dem Druck der Globalisierung des Kapitals entstehen vielmehr – besonders sichtbar im nachsowjetischen  Russland, aber keineswegs nur dort – die vielfältigsten Mischformen des Wirtschaftens und Lebens. Das sind kulturell geprägte Verbindungen aus industriellen und vorindustriellen, aus kollektiven und individuellen, aus staatlichen und familiären Strukturen, die zunächst aus purem Überlebensdruck hervorgehen, die aber darüber Keime möglicher Alternativen zum schematischen Entweder-Oder von „Kapitalismus oder Sozialismus“ in sich tragen. Diese Keine gilt es zu erkennen, zu analysieren und bewusst zu fördern.
Kai Ehlers

Altai – Wiege der Völker und letzte Zuflucht?

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin, Zitator
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Achtung: zwei Bobbies
Auf Bobby eins befinden sich alle O-Töne
Auf Bobby zwei (Ende des Bandes) befinden sich alle Musik-Athmos.

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Altai – Wiege der Menschheit und letzte Zuflucht?

Musik 1:        2,27
Regie: O-Ton kommen lassen, ausreichend lange stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Altai – fremde Töne, Land der Sehnsucht. Ein Bergland von den Ausmaßen Mitteleuropas, eine  Nische zwischen den Welten. Der mächtigste Gipfel des Altai, Ak-Sümer, russisch Belucha im Hoch-Altai, markiert mit seinen 4505 Metern Höhe den Kreuzpunkt der Grenzen von vier Ländern aus vier Himmelsrichtungen: Im Osten die mongolische Hochebene bis zur Wüste Gobi, im Süden China und Tibet, im Westen die Steppen Kasachstans. Der nördliche Altai gehört zum heutigen Russland, durch dessen sibirische Tiefebene sich die gewaltigen Flüsse Irtysch, Ob und Jennessej ihre langen Wege zum nördliche Eismeer suchen. Seit 1991, dem Datum der Auflösung der Sowjetunion, wird auch dieses lange verschlossene Stück Erde wieder zugänglich. Die Republik Altai, geteilt in den industrialisierten Vor-Altai mit der Hauptstadt Barnaul und den Hoch-Altai mit der Bezirksstadt Gorno-Altaisk, Berg-Altai, gehört heute zur russischen Föderation. Die Republik verwaltet sich aber autonom und man besinnt sich wieder der eigenen Geschichte und der alten Traditionen des nomadischen Lebens, des Obertongesangs und des Schamanismus. Verehrer des Landes sprechen von der Schweiz Russlands. Gemeint ist damit vor allem Gorno-Altaisk, das bergige Hochland.

Regie: O-Ton hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zuerst kamen jedoch die Reformer, wie überall im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich. Sie brachten offene Grenzen, vor allem aber brachten sie den Impuls der Privatisierung. Er fand offene Ohren bei der mittleren Bürokratie, die sich Unabhängigkeit von Moskau, die selbstständige Nutzung ihrer reichen Erzvorkommen, Kohle und anderer Naturschätze und die Anbindung an westliches Lebensniveau erhoffte. Selbst im hohen Altai ist man reformwillig. Stolz führt Vincenti Tengerekow, leitender Mitarbeiter des Agrokombinats von Gorno-Altaisk, der örtlichen Agrarverwaltung sowjetischen Typs, westliche Gäste durch die Dörfer, um ihnen den Fortgang der Reform zu zeigen. Hin- und her geschüttelt auf unwegsamem Gelände erläutert er unterwegs im Jeep deren Ziele:

O-Ton 1: Vincenti Tengerekow,             0,59
Agrarkomninat in Gorno-Altaisk
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer overvoice:
Jeep, „Predprejatii…
„Die Unternehmen sollen jetzt die Privatisierung durchführen, sich in Aktiengesellschaften umwandeln. Das betrifft Unternehmen der Weiterverarbeitung, Dienstleistungs-, Verkehrs und Versorgungsunternehmen. Die müssen dann entscheiden, ob sie im Kombinat bleiben wollen oder sich selbst organisieren. Auch Kolchosen und Sowchosen, also die Kollektivbetriebe, sollen sich umwandeln. Es wird kleine private Höfe geben. Auch die werden entscheiden müssen, ob sie rausgehen.“

Erzähler:
Dann werde es kein Kombinat mehr geben, setzt er fort, nur einzelne Assoziationen, Betriebe und Höfe. Das Kombinat werde sich in Ministerium für Landwirtschaft verwandeln.                            …kombinata njet.“

Erzähler:
Schnell setzte allerdings Ernüchterung ein. Edmund Voll, Chef des Butter-Käse-Kombinats von Gorno-Altaisk, der unmäßigen Hitze wegen hemdsärmelig unter einem altersschwachen Ventilator, bricht bei der Frage nach der Privatisierung in Lachen und Stöhnen zugleich aus:
O-Ton 2: Edmund Voll,
Chef des Butter-Käse-Kombinats               0,10
Regie: O-Ton mit Lachen kommen lassen, ganz stehen lassen,

Originalton:
Lacht, „Chotsche jest… no motsche njet –„
„Wir wollen es schon, aber wir können es nicht.“

Erzähler:
Um Butter und Käse privat rentabel produzieren zu können, erklärt Edmund Voll weiter, brauche man ein Minimum von fünfzig Kühen;  um fünfzig Kühe halten zu können, brauche man brauche Kannen, Töpfe, eine ganze Kanalisation und vor allem: Heu! Anders als in Deutschland wachse im Altai das Gras jedoch nur fünf Monate.
Beim Vergleich mit der Schweiz stöhn der Direktor auf:

O-Ton 3: Voll, Forts.         1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Stöhnt „Ponimaetje, wy mne sadali….
„Sie stellen Fragen! Das ist so als ob Nord- und Südpol vergleichen wollte. Aber nur geografisch, nur äußerlich kann man den Altai mit der Schweiz vergleichen. Das Klima hier ist vollkommen ist  härter! Aber ein Vermögen haben wir in Gorno-Altai (Achtung: hier nicht „Altaisk“) Die ökologische Reinheit! Der Altai ist eine Zone, die noch geschützt ist vor dem Einfluss der Großkonzerne, Fabriken, der Gasgewinnung usw. In diesem Sinne haben wir einen großen Reichtum. Hier wachsen noch ungefähr 2000 geschützte Pflanzen, von ihnen sind mehr als 300 Heilkräuter. Wenn die Kühe diese Gräser fressen, unser frisches Wasser trinken, dazu noch die reine Luft und die Sonne – dann ist die Biomasse, die Bioqualität der Produkte dreimal höher als in der Schweiz.“
…dwa, tri rasa.“

Erzähler:
Edmund Voll hat Grund, diese Reinheit von Gorno-Altai (sic!) zu betonen: Sind die hässlichen Produkte der Industrialisierung in den letzten fünfzig Jahren doch von allen Seiten herangekrochen: Vom berüchtigten sibirischen Kusbass im Norden, aus dem kasachstanischen Karaganda im Westen haben sich die Kohlegruben bis nach Barnaul, Rubzowsk und andere Orte im westlichen Vor-Altai vorgefressen; die angrenzende kasachische Steppe wurden von den Sowjets, die Wüsten Gobi im Osten, die Takla Makan im Süden von der VR-China in atomares Versuchsgelände verwandelt. Und trotz seines Stolzes auf die ökologische Reinheit seiner Heimat gehört Edmund Voll doch zu den Befürwortern des noch in sowjetischer Zeit geplanten Staudamm-Projektes, das die Reformer nach 1991 mit Volldampf vorantreiben wollten, mit dem sie aber auf den Widerstand der Naturschützer stießen, die das Projekt als sowjetische Gigantomanie ablehnten.

Musik 2: Maultrommel
Regie: O-Ton unter dem Text allmählich kommen lassen, Textende kurz frei stehen lassen, allmählich abblende, unterlegen

Erzähler:
Den Reformern folgten die Forscher und Forscherinnen. Seit zumindest der ehemalige sowjetische Teil, also außer dem Altai selbst auch Kasachstan und die von der Sowjetunion quasi besetzte Mongolei, wieder frei zugänglich ist, erlebt die Altaiforschung einen Aufschwung. Die ersten sind die Sprachforscher: Frau Dr. Eva Schaki kommt aus Budapest. Sie forscht nach dem Schlüssel, der die Sprachen des sibirischen Raumes verbindet angefangen beim Tungisischen im Norden Sibiriens über das Alt-Türkische und Mongolische bis ins Ungarische hinein. „Es sind“, so Dr. Schaki, „Sprachen mit derselben Struktur: Sie agglomerieren.“
„ Das heißt“, erklärt sie, „man bildet Sätze durch Anhäufung, man hängt die Suffixe ans Ende der Wörter. Im Grunde“, fasst sie zusammen, „kommt die Sprache aus einem ähnlichen Denken“:

O-Ton 4: Frau Schaki,     0,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß abblenden

Übersetzerin:
„Since this area…
“Soweit es diesen Raum betrifft, ich spreche vom Steppengebiet Euroasiens, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Menschen in einer Art Netz miteinander lebten. Sie beeinflussten sich immer gegenseitig.“
…each other.“ (abblenden)

Erzähler:
Paläontologen, Ethnologen, Archäologen und viele andere Forscher und Forscherinnen durchstreifen den Raum in ausgedehnten Expeditionen, um dieses Netz zu erforschen. Seit der Öffnung des Altai 1991 geschieht das auch mit Unterstützung der UNESCO, die den Altai zum Weltkulturerbe erklärt hat. Entdeckungen wie die Saurierfriedhöfe in der Wüste Gobi, wie die vollkommen erhaltenen Mammuts im Permafrostboden Sibiriens, die dort offensichtlich von einem Moment auf den nächsten eingefroren waren, lassen die Vermutung aufkommen, dass das sibirische Zentralasien und als sein geografischer Mittelpunkt der Altai einstmals nicht nur für Großtiere und Urpflanzen, sondern auch für Vorläufer der menschlichen Rasse günstige, möglicherweise sogar besonders günstige Entwicklungsbedingungen boten.
Einer, der sich diesem Thema besonders gewidmet hat, ist der mongolische Archäologe und Anthropologe Belikt Lowzenwandon Besutow. Was Linguisten sich erschließen müssen, sieht er durch archäologische und anthropologische Funde erwiesen: Der Altai, meint er, war ein Schmelztiegel, wenn nicht gar der Ursprung all der Völker, die man heute in Euroasien kennt. Begeistert zeigt er seine neuesten Schädelfunde:

O-Ton 5: Belikt Lowzenwandon Besuto,     0,17
Anthropologe in Ulaanbaator
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja magu pakasatj…
„Ich kann Ihnen mein Material zeigen, meine menschlichen Schädel, mein Material an menschlichen Knochen. Ich untersuche sie, ich vermesse die rassenmässigen Charakteristiken:
…karakteristiki.“ Papiergeraschel

Erzähler:
Bei diesen Worten wickelt er die sorgfältig ausgepackten Schädel aus, weist auf die Unterschiede der Schädelbildung hin: Breites Gesicht, flache Nase hier, hohe enge Stirn, hohe Nase dort. „Schon in der Bronzezeit lebten sowohl Mongoloide wie auch Europäide hier“, erklärt er, „genau wie heute.“ Auch heute finde man alle Typen von Schädeln in allen möglichen Mischformen im sibirisch-zentralasiatischen Raum. Sie kommen alle, so der Forscher, aus dem Raum des Altai. Endlich könne er das jetzt beweisen:

O-Ton 6: Belikt Lowzenwandon, Forts.     0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Swje Mongolowedi…
„Das sagen alle Mongoloweden: Es gibt eine große Familie der altai-ischen Sprachen. Das ist der kultur-historische, der geografische Raum der großen Steppe. Von Korea, von der nordchinesischen bis zur südrussischen Steppe, der ganze Steppenkorridor, erstreckte immer schon ein Siedlungsgebiet; nach Christi Geburt dann die Hunnen, Sembizen, Dschudjanen, Türken, Uiguren, Kirgisen, später die Mongolen, Tschingis Chan. Sie alle haben zeitweise über die Bewohner der Steppe geherrscht, Nomaden.“
…katschewnikami.“ Tür

Erzähler:
Prof. Alexander Fedotow, ein junger Bulgare mit Begeisterung für die neue Zeit, aber tiefem Verständnis für die Bedeutung von Traditionen, will noch weiter vordringen. Er versucht, den Mythos des Altai zu erfassen, der in seinen Epen, Gesängen und schamanischen Traditionen lebt. Prof. Fedotow forscht und lehrt an der Universität zu Sofia, verbringt aber viel Zeit auf Expeditionen in Korea, der Mongolei, Südrussland oder im Hoch-Altai. Er fand heraus, dass all die Gebiete durch gemeinsame mythische Motive miteinander verbunden sind; am Motiv dessen, was er die „Wunderbare Geburt“ nennt, wirbt er vor Kollegen und Kolleginnen für diese Sichtweise:

O-Ton 7: Prof. Fedotow, Alta-ist aus Bulgarien    0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„So, the motive of miraculous birth…
“So ist das Motiv der wunderbaren Geburt also in Legenden weit verbreitet. Das gibt Grund genug, Vergleichstudien zwischen koreanischen und altai-ischen Mythologien zu betreiben. Danke.“
…Thank you for attention”, Beifall

Erzähler:
Im Gespräch konkretisiert Prof. Fedotow, warum er nicht nur Mongolen, Türken, Mandschus, Tungisen, Tuwa, Kasachen und all die bereits von seinen Kollegen und Kolleginnen genannten Völker, sondern auch die Koreaner und selbst die Japaner dem mythischen Raum des Altai zuschlägt:

O-Ton 8: Fedotow, Forts.     1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluss ausblenden

Übersetzer:
„All the things are…
“All diese Dinge sind sehr ähnlich und es sind Dinge, die alle sehr, sehr alt sind. Kann sein, dass die Mythen mit diesen Menschen auf die Halbinsel kamen oder dass sie von Menschen hervorgebracht wurden, die dort schon lebten – so oder so: in dieser Periode war das Bewußtsein das gleiche, es war altai-isch. Danach erst wurden sie Konfuzianer, wurden sie Bhuddisten usw. In jedem Fall ist klar, dass der Altai eine Art kulturellen Zentrums für die Entwicklung vieler Zivilisationen war wie die mongolische, wie die türkische, wie die mandschurische, wie die koreanische. Ich fand auch sehr enge Verbindungen der altai-ischen Welt mit der tibetischen Zivilisation in der materiellen und in der spirituellen Kultur.“
…spiritual culture.“ (ausblenden)

Erzähler:
Über die Behringstraße, die seinerzeit noch passierbar gewesen sein müsse, so Prof. Fedotow, hingen auch die Indianer mit dem Altai zusammen. Davon ist er überzeugt. Gefragt, ob er den Klimaverschiebungen des vorgeschichtlichen Sibirien Bedeutung für seine Forschungen beimesse, antwortet er:

O-Ton 9: Fedotow, Forts.     1,06
Regie: O-Tom kurz steteh lassen abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da,da, da….
„Ja, ja, ja, ja, ja! Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber es ist durchaus möglich, dass bis zu einer Naturkastrophe im Raum des Altai ein in jeder Beziehung angenehmes Klima für die Entstehung einer archaischen Megazivilisation bestand, die sich dann ausgebreitet hat. Man kann die Augen einfach nicht davor verschließen, dass all diese Menschen, auch die Japaner, obwohl sie dem vielleicht nicht zustimmen mögen, und die Koreaner, die ganze Bevölkerung entlang des Flusses Amur, alle mongolischen Völkerstämme und die türkischen eine Menge Gemeinsames verbindet – sowohl die Sprache, das vor allem, wie auch die Merkmale ihrer materiellen Kultur.“
… attuda.“

Erzähler:
Und sie wissen vermutlich auch, lacht er, dass in Europa ebenfalls mindestens zwei Völker existieren, die sich von dieser Kultur herleiten, die Ungarn und die Bolgaren, nicht zu vergessen die vielen nicht-slawischen Völker im Kaukasus und an der mittleren Wolga, die Unganrn und die Finnen: Die ganze ethnische Geschichte dieses riesigen Zentralasiens, findet er, bedürfe dringender wissenschaftlicher Erforschung:

O-Ton 10: Fedotow, Forts.    1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch Musik 3 einspielen, am Ende Ton hochziehen, ausblenden und Musik hochziehen, allmählich ausblenden

Übersetzer:
„Wide nauke…
„In der Wissenschaft wird Zentralasien als ethnischer Kessel bezeichnet. Die Völker waren entweder Nomaden oder Halbnomaden. Sie waren durch gleiche geografische Bedingungen verbunden. Sie können nicht anders existieren. Deshalb denke ich, dass in den Vorstellungen von einer Megakultur ein rationaler Kern liegt.

Musik 3: Gesang     1,04
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Übersetzer, Forts.
In der Welt gibt es nun einmal die beiden Arten von Zivilisation, die sesshafte und die nomadische. Die nomadische entwickelte sich zwischen den sesshaften Polen in China und dem Westen. –
So hat es sich entwickelt.“
…tak polutschilas.“

Regie: O-Ton ausblenden, Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Ökologische Nische, Etnischer Kessel, Megakultur – damit ist das Thema benannt, das den Raum des Altai heute zur Attraktion werden lässt. Romantiker und Visionäre aus aller Welt suchen darin eine Alternative zur industrialisierten Welt. Das gilt vor allem für Russen aus den städtischen Ballungszentren, also aus Moskau und St. Petersburg; für die sibirischen Städte Nowosibirsk, Krasnojarsk oder für kleinere Industrie-Agglomerationen ist der Altai – russische Maßstäbe für Entfernungen berücksichtigt – Nah-Erholungsgebiet.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen, danach langsam abblenden

Einer dieser Menschen ist Boris Werschinin. Er ist Direktor des Museums für Völkerkunde in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau und leitender Mitarbeiter in der Moskauer Kulturorganisation „Ethnost“, die sich um eine Aufarbeitung und Pflege der innerrussischen Völkerbeziehungen bemüht. Er ist leidenschaftlicher Verehrer des Altai, den er auf den Spuren seiner großen Vorbilder Nicolas und Helena Roehrich immer aufs neue bereist. Sie entdeckten in den zwanziger Jahren den Altai im Zuge einer sechsjährigen Expedition für Russland spirituell.  Roerich-Gesellschaften, die es heute in fast in allen größeren Städten Russlands gibt, spielen gegenwärtig eine wichtige Rolle als Stichwortgeber einer kulturellen und spirituellen Erneuerung des Landes. Im Altai sind Nicolas und Helena Roehrich bis heute hoch geachtet. Am Rande eines Kongresses in Ulaanbaator erklärt Boris Werschinin sein Engagement für den Altai auf den Spuren der Roerich-Expedition mit den Worten:

O-Ton 10 Boris Werschinin,     0,47
Direktor des Museums für Völkerkunde
in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Eta expeditia, ana…
“Diese Expedition war keine normale Expedition. Diese Expedition war mit der kosmischen Evolution der Menschheit verbunden. Wir wissen alle, dass auf dem Planeten immer ein kosmischer Focus entsteht, das heißt, eine besondere Region, die mit dem Kosmos verbunden ist. Und auf diesem Boden geschieht gewissermaßen eine energetische Entzündung und dort geschieht die Erzeugung einer neuen Kultur, einer neuen Zivilisation. Und periodisch verlöschen diese Kulturen und die Zivilisationen gehen zugrunde.“
…rasruschajetsja.“

Erzähler:
Boris Werschinin betrachtet den als globale Ressource ökologischer und spiritueller Erneuerung:

O-Ton 11: Werschinin, Forts.    1,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, wa perwich…
„Erstens ist es ein besonderes Territorium, das eine einzigartige geografische Landschaft besitzt. Zweitens bildet die Region eine ökologische Nische, die bisher nicht urbanisiert wurde. Man muss sie als ökologische Ressource erhalten und entwickeln, denn für den Planeten ist es wichtig, eine solche große Reproduktionszone zu haben, die den Planeten harmonisieren kann. Aus der Sicht der Ökologie ist ein Zukunftsprojekt. Viertens interessiert mich die Region unter dem Gesichtspunkt der Geopolitik: Diese Region ist ein Rad, das  umgeben ist von vier großen Reichen: Im Norden Russland, im Osten das große China, im Süden Indien und im Westen die islamische Zivilisation. Der Altai trennt diese Welten einerseits, schützt sie als Puffer sozusagen, andererseits vereinigt sie sie. Diese Reiche können und müssen daher an dem Projekt Altai mitwirken.“
…wot etich programm.“

Erzähler:
Noch höher, ganz auf der Höhe der Zeit, siedelt Bat Sur Dschem Jangin das Thema an. Er ist Direktor des „Zentrums für nationale Anthropologie am medizinischen Institut“ von Ulaanbaator in der Mongolei. Seine Interesse gilt der Erhaltung des genetischen Fonds Zentralasiens. Unter genetischem Fond versteht er die Fähigkeit, welche Völker entwickeln, sich an die ökologischen Bedingungen eines bestimmten Raumes anzupassen. In einer Zeit, in der globalen Migration, in der Viren mit Überschallgeschwindigkeit rund um den Globus geschleppt werden könnten, so der Genetiker, bestehe die Gefahr, dass die Fähigkeiten zur Anpassung verlorengingen:

O-Ton 12: Bat Sur Dschem Jangin     0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen. Abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna ssewodnja charascho…
„Natürlich, das ist heute gut: Die Menschen lieben einander, treffen sich, heiraten, bekommen Kinder, weltweit, alles gut, einerseits macht das nichts. Andererseits verlieren die Genfonds, die an eine ökologische Nische angepasst waren, ihr Gleichgewicht; es können Gene eingeschleppt werden, die nicht angepasst sind. Sie können Krankheiten verursachen. Wir studieren den Genfond der hiesigen Bevölkerung daher mit dem Ziel, den eingeborenen, ursprüglichen Genfonds zu erhalten.“
…aboregeni Genofond (ausblenden)

Erzähler:
Im INTERNET wird der Altai heute als bevorzugte Adresse für zivilisationsmüde Städter aus aller Welt angeboten, die hoffen, dort einen echten Schamanen zu treffen. Die wenigen nach dem Aderlass der Sowjetzeit dort praktizierenden Schamanen dagegen ziehen sich vor diesem Rummel in die Berge oder einfach in die Anonymität zurück. Es stellt sich die Frage: Der Altai als Bio-Park, als Museum für lebende Nomaden und globaler Genfond – kann dies die Lösung für die Probleme der industriellen Welt sein?

Musik 4:     1,34
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Wäre es nicht richtiger, einfach von der nomadischen Kultur zu lernen, wie man weniger Ressourcen verbraucht, wie man mobiler unterwegs sein kann, wie man die Verbindung zur Erde mit allen Sinnen, aber auch mit allen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten von heute erneut aufnehmen kann, also energisch voran, statt wieder einmal zurück zur Natur zu schreiten? Die Auseinandersetzung um diese Frage hat erst begonnen. Der Altai wird dabei ein wichtige Rolle spielen.

Anatomie der russischen Seele

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen: 27.434
Gesamtlänge der O-Töne: 24,09

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung:
Athmos und O-Töne nacheinander auf dem Band!
Erst die Athmos, dann die Töne
– Atmos:    4
– O-Töne: 19

Bitte die O-Ton Schlüsse weich auf- und abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Anatomie der russischen Seele

Athmo 1: Sänger auf der Ostseefähre                1,50
Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, verblenden mit Athmo 2

Erzähler:
Russischer Abend auf der „Anna Karenina“. Auf halber Strecke zwischen Travemünde und St. Petersburg, zwischen Westen und Russland geben Sänger und Tänzerinnen den Touristen, was sie erwarten: Wiedergeburt des alten Russland im neuen Gewande – Vorhang hoch, Blick frei auf die lange verborgene russische Seele!
Melancholie, Folklore, Stiefeltänze – alle Klischès, die der Westen zum russischen Wesen zu bieten hat, werden den Reisenden vorgeführt. Seinen westlichen Besuchern präsentiert sich das neue Russland heute nach dem Motto des alten, das der russische Dichter Tjutschew vor mehr als 15o Jahren mit den Worten beschrieb, mit dem Verstand sei Russland nicht zu fassen, an Russland könne man nur glauben. So nähern sich die Reisenden Russland in einer Verfassung, in der sich Neugier, unerklärliche Sehnsucht und Furcht vor dem Unbekannten zu einem angenehmen Schauder verbinden.
Musik, Beifall. hochziehen, verblenden

Atmo 2: Hare Krischna Gruppe auf der Straße                0,49
Verblenden, hochziehen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Erzähler:
Wie verblüfft sind die Ankommenden jedoch, in den Straßen von St. Petersburg nicht russische Lieder, sondern spirituellen Import aus Indien zu hören, der ihnen aus dem Westen bestens bekannt ist: „Hare Krischna, Hare Hare“ singt die Gruppe junger Krischna-Adepten, die durch die Innenstadt St. Petersburgs zieht, um weitere Anhänger zu werben. Der seelische Notstand des reformgeschüttelten Landes treibt ihnen die jungen Leute zu. Eine genaue Zahl ist nicht bekannt.
Die Umstehenden reagieren gelassen:
Musik, verblenden

O-Ton 1: Passanten in St. Petersburg                          1,03
Regie: O-Ton verblenden, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Hauptsache sie glauben überhaupt etwas“, meint eine junge Frau mitten im Gewühl. Sie hat Mühe sich verständlich zu machen.
„Jeder hat seinen Gott,“ setzt sie hinzu. „Aber unser Gott ist das natürlich nicht. „Den müsse man doch eher im Christentum suchen.
„Es geht um die Seele“, wirft jemand ein.
„Wir haben ja jede Richtung verloren“, fährt die junge Frau fort. „Sie wissen schon, Perestroika. Deshalb diese Suche bei uns. Man sucht in den Religionen, im Christentum, im Buddhismus, bei den Krischnas, überall.“
…ischit eto we religie…

Erzähler:
Szenen wie diese sind seit Anfang der neunziger Jahre in Russland alltäglich geworden. Perestroika, ins Deutsche übersetzt: Umbau, führte nicht nur zu wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltungen. Sie hinterließ auch die russische Seele als einen gewaltigen Bauplatz. Abriß, Umbau und Neubau gehen dabei an vielen Stellen gleichzeitig vor sich, ohne dass jemand über einen Bauplan verfügte. Eine dieser Stellen wurde die psychologische Fakultät der Universität von Krasnojarsk. Anfang der 90er Jahre gründet ihr Leiter, Prof. Viktor Makarow, die „Freie Universität für mentale Ökologie“, die sich die Suche nach geistiger Gesundheit und einer neuen Spiritualität zum Ziel gesetzt hat. In mehrmals jährlich stattfindenden Zehn-Tage-Kursen, „Dekadniks“, die als Schiffsreise von Krasnojarsk zur Mündung des Jenessej im Nordmeer und wieder zurück abgehalten werden, verbindet Professor Makarow psychologische und psychotherapeutische Grundlagenforschung, praktisches therapeutisches Training und die Entwicklung eines neuen, ökologisch orientierten  Freizeitverständnisses miteinander.

Athmo 3: Musik auf dem Flussschiff:                           1,41
Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Auch auf diesem Schiff wird russisch gesungen. Aber was den professionellen Sängern auf der „Anna Karenina“ so selbstverständlich gelang, muss hier mühsam dem Vergessen entwunden werden. Gut 250 Menschen haben sich auf dem Schiff versammelt. Sie kommen aus allen Gegenden Russlands und aus den verschiedensten Berufen, die mit seelischer und geistiger Gesundheit zu tun haben: Psychologen, Therapeuten, Heiler, Gurus auf der Seite der Lehrenden, die auch miteinander experimentieren, Lehrer, Ärzte, Pflegepersonal, angehende Sozialarbeiter, Studenten und Studentinnen als Lernende, dazu Menschen, die einfach nur Heilung suchen. Das Angebot erstreckt sich von akademischen Vorlesungen zur Psychologie über „runde Tische“ zu sozialpolitischen und kulturellen Fragen des nachsowjetischen Wandels bis hin zu therapeutischer Praxis, den sog. „Trainings“, von denen man sich konkrete Impulse für die eigene Arbeit oder auch persönliche Erkenntnisse oder einfach nur Hilfe erhofft. Sie reichen ihrerseits von klassischen sowjetischen Methoden wie Hypnose bis hin zu tantrischen, schamanischen und anderen Szeancen..

O-Ton 2: Klingel, Auditorium, Prof. Viktor Makarow                1,22
Regie: Verblenden, Klingel frei stehen lassen, nach den ersten Worten abblende, unterlegen, ausblenden

Erzähler:
Psychologie, erklärt Professor Makarow in seiner Eingangsrede, nehme heute in Russland einen neuen Stellenwert ein. Russische Psychologie habe die Chance, Ost und West, Alt und Neu, traditionelle und moderne Methoden auf neue Weise für den Wiederaufbau der eigenen Kräfte zu nutzen, allerdings, schränkt er ein, nur wenn gezielt daran gearbeitet werde.
Schon beinahe provokativ in seiner Sachlichkeit, fasst er diese Botschaft in die Worte:

O-Ton 3: Makarow, Forts.                                0,38
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer obervoice:
„Sewodnja is…
„Heute kommt russische Kultur aus der Emigration zu uns zurück. Zu unserem Bedauern müssen wir allerdings feststellen, dass in der Psychologie und Therapie kaum Russisches zu uns kommt. Leider ist das nicht so. Vielmehr ist es so, dass durch unsere offene Tür in den letzten Jahren Konzeptionen westlicher und östlicher Methoden geradezu hereinstürzen. Und oft geschieht das in so einer Art, man kann schon sagen, Kolonisation“.
…tak skaschim

Erzähler:
Die Anregungen aus Ost und West aufzugreifen, der Kolonisation jedoch mit der Entwicklung eigener Konzepte entgegenzutreten, ist das Anliegen, das Viktor Makarow mit der Durchführung seiner „Dekadniks“ verfolgt. Die Konzeption der mentalen Ökologie, so Perspektive des Professors, beinhalte eine spirituelle Sicht der Welt und der Gesellschaft als Ganzes, die es möglich mache, das die russische Gesellschaft gesunde und neue Kraft gewinne.
In einer kleinen Arbeitspause erläutert er, wie das zu verstehen ist. Das Land, erklärt er, habe sich seit Einsetzen der Perestroika entschieden verändert:

O-Ton 4: Makarow, Forts.                                  0,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Djeszet, pjatnazet…
„Zehn, zwanzig Jahre zurück bestand unsere professionelle Aufgabe darin, in professionellen Anstalten zu arbeiten: in Krankenhäusern, in Anstalten. Aber heute ist unser ganzes Land wie ein einziges Krankenhaus. Das heißt, unsere professionelle Aufgabe besteht heute darin, Lösungen für die Gesellschaft zu finden und nicht nur in den einzelnen Anstalten.“
…we etich utverschdennich.“

Erzähler:
Früher habe man in einem Netz sozialer Garantie gelebt, fährt der Professor fort, es war lange im voraus klar, was der nächste Tag bringen werde. Jetzt heiße es Geld verdienen, sich durchsetzen, erfolgreich werden. Was morgen komme, sei ungewiss. Aber wie werde man erfolgreich? Wie könne man solche Ungewissheit ertragen, wie unter solchen Umständen geistig und seelisch gesund bleiben, wie Selbstbewusstsein gewinnen? Das wisse heute niemand in Russland. Das müsse erforscht, Rat, Hilfe, Stützen und neue  Möglichkeiten, die Lebenskräfte zu stärken, müssten gefunden werden:

O-Ton 5: Makarow, Forts.                                  0,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Paka my destwitelna…
“Zur Zeit sammeln wir, sammeln wir faktisch von allen Seiten. Aber darüber hinaus sammeln wir schon nicht mehr nur, sondern bauen auf Basis dessen, was wir sammeln, auch schon unser Eigenes auf.
…sasdojom swoju.“

Erzähler:
Das Sammeln, das Assimilieren, konkretisiert der Professor auf die Frage, was er unter „Eigenem“ verstehe, sei überhaupt ein Charakterzug des russischen Volkes:

O-Ton 6: Makarow, Forts.                                 0,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„My raschirajeschjasja…
„Wir sind ein offenes, ein weites Volk. Wir sind eine Nation, die gern andere bei sich aufnimmt, die gern zwischen anderen lebt, die keine Feindschaften ausbildet, so ein enger Nationalismus ist uns fremd, ja, das ist so eine Besonderheit von uns.“
…asobenost takaja.“

Erzähler:
Von einer Romantisierung der russischen Seele, wie sie von orthodoxen Christen und von Alt-Sowjets heute vorgenommen wird, welche die christliche Nächstenliebe oder soziale Hilfsbereitschaft zum unvergänglichen spirituellen Kern russischen Wesens erklären, hält Professor Makarow allerdings nichts.
Sachlich meint er:

O-Ton 7: Makarow, Forts.                                                          0,31
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu, ja dumaju…
„Nun, ich denke, dass russische Menschen  nicht spiritueller sind als andere Menschen; sie sind nur weniger organisiert. Deshalb entsteht der Eindruck, dass sie eine besondere Spiritualität haben. Es ist aber so: Sie sind nur einfach weniger organisiert und weniger an systematische und ständige Arbeit gewöhnt.“
…pastajannumu trudu.“

Erzähler:
So unterkühlt, beinahe sarkastisch wie diese Feststellung klingt, so banal klingt die Begründung, die Professor Makarow dafür gibt; dabei führt sie aber mitten doch in die russische Wirklichkeit:

O-Ton 8: Prof. Makarow, Forts.                                                   0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Eta paschlo…
„Das entwickelte sich aus der Folklore. In unserer Folklore, in unseren Märchen arbeitet niemand, niemand tut etwas. Unklar in den Volksmärchen, womit die Menschen sich beschäftigen, alle erholen sich. Das ergab sich offensichtlich aus der ziemlich reichen Umwelt, die den Menschen die Möglichkeit gab, ohne allzu harte Arbeit zu leben – die große Weite, in welcher der Mensch nicht bedrängt war.“
…tschjelowjeka.“

Erzähler:
Dieselbe Weite, so Professor Makarow, konfrontierte die Menschen andererseits mit starken Extremen, mit extremen klimatischen Unterschieden und Härten, mit extremer ethnischer Vielfalt bis zum Chaos, mit dem Zwang, immer wieder fremde Einflüsse aufnehmen zu müssen und sich mit ihnen arrangieren zu müssen. Dies habe die Menschen immer wieder zu spontanem Handeln gezwungen. Sorglosigkeit und Bedrohung, daraus folgend Großzügigkeit und Ängstlichkeit lagen beständig dicht beieinander. Im Ergebnis habe sich daraus  eine psychische Struktur entwickelt, die man als seelischen Extremismus bezeichnen könne.
Um eine Verdeutlichung gebeten, antwortet der Professor:

O-Ton 9: Prof. Makarow, Forts.                                                     0,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu odnoi stranje…
„Nun, das ist einerseits die große Trägheit. Im russischen Sprichwort klingt das so: „Bevor es nicht donnert, bekreuzigt ein Mann sich nicht.“ Das heißt, zunächst tut man gar nichts, dann stürzt man sich heldenhaft darauf alles zu retten. Wenn man normal arbeiten würde, hätte man den Heroismus nicht nötig.. “
…ja nje snaju.“

Erzähler:
„Aber ich weiß nicht genau“, schließt der Professor; „das ist alles sehr schwierig.“ Und in der Tat: Deutungen anderer Teilnehmer der von ihm organisierten „Dekadniks“ widersprechen seiner Sicht, wie es scheint diametral. So etwa die Ansichten einer Gruppe von Anhängern Porfirjew Iwanows, eines sibirischen Meisters. Ihm folgen viele Menschen in Sibirien. Die „Iwanowzis“, wie man sie nennt, sehen russisches Wesen gerade nicht in der Assimilation wie ihr Gastgeber Makarow, sondern umgekehrt in der Konzentration: Erst in der systematischen Abhärtung gegenüber extremer Kälte und extremer Hitze kommt der russische Mensch ihrer Ansicht nach zu seinem wahren Wesen. Hierin bestätigen sie allerdings letztlich doch wieder nur Makarows Sicht des seelischen Extremismus und mit ihrer bloßen Anwesenheit auf dem Schiff seinen pluralistischen Ansatz.
Ähnliches gilt für die anderen Methoden, Modelle, Erkenntniswege, die auf den „Dekadniks“ vorgestellt werden. Nur wenige jüngere Leute, einige von Ihnen ehemalige Studenten und Studentinnen des Professors, wollen sich mit dessen breitem Weg des pluralistischen Sammelns und Assimilierens nicht zufrieden geben. Sie suchen nach tiefergehende Erklärungen für das, was mit den Menschen  ihres Landes heute vorgeht. Sie verstehen sich als angehende Psychoanalytiker.
Eine von diesen jüngeren Leuten ist Irina Golgowskaja, eine junge Frau aus Nowosibirsk in Sibirien. Sie ist die Vertreterin einer „Klinik 2001“, in der sich nach 1992 eine Gruppe junger sibirischer Ärzte und Psychologen zusammengeschlossen hat.
Ganz wie Professor Makarow wendet Frau Golgowskaja sich zunächst gegen die Vorstellung, die russische Seele sei etwas Besonderes:

O-Ton 10: Irina Golgowskaja                            0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Mnje kaschetsja…
„Mir scheint, die Probleme, mit denen ich mich beschäftige, sind überall, bei allen Völkern die gleichen, sie sind international. Sie haben natürlich eine spezielle sowjetische oder russische Färbung, aber generell haben meine Patienten dieselben Sympthome wie die in anderen andern Ländern. Das denke ich.“
…Ja tak dumaju.“

Erzähler:
Wie viele Ärzte und Psychologen der jüngeren Generation hat auch Frau Golgowskaja die Schriften Freuds, Adlers, Jungs und die ganze nachfolgende Entwicklung der westlicher Psychoanalyse und Psychotherapie in Intensivkursen nachgearbeitet, seit die sowjetischen Denkverbote unter Michael Gorbatschow fielen. Sie verfügt damit über ein doppeltes theoretisches Instrumentarium, das aus einer Verquickung alter sowjetischer und neuer westlicher Schulen hervorgeht. Ihr Interesse gelte zunächst einmal Menschen, erklärt sie, den Grundstrukturen menschlichen Seins, nicht Russen, Sowjets, einzelnen Völkern, Nicht-Russen oder Verhaltensweisen von Menschen bestimmter Zeiten. Sie untersuche die Realität des Menschen als Produkt des generellen Kampfes zwischen moralischen Forderungen, Tabus und Verboten der Gesellschaft und den Instinkten des Einzelnen, die – Selbsterhaltung, Ernährung und Sexualität – die von der Gesellschaft, vertreten durch Staat, Schule und Familie, diszipliniert werden. Allein hierin könne es Unterschiede geben:

O-Ton 11: Golgowskaja, Forts.                                                       0,49
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Mir soziume……
„Die Welt des Soziums, also der Gesellschaft und ihrer Organe, ist nicht auf Offenbarung der Instinkte aufgebaut, sondern auf deren Unterdrückung. Instinke sind verboten, das ist das Erste. Instinkte werden verdrängt. Instinkte werden sublimiert. Alles mögliche macht man mit ihnen, bloß eine Offenbarung reiner Instinkte gibt es nicht. Ein Unterschied zwischen den Gesellschaften liegt möglicherweise darin, in welcher Weise die Menschen sie verdrängen, sublimieren usw.
…schtota delajut.“

Erzähler:
Unter dieser Definition kommt Frau Golgowskaja dann aber doch, ähnlich wie vorher Professor Makarow, zu einigen, wie sie vorsichtig einschränkt, ersten Beobachtungen über das, was sich heute im seelischen Raum Russlands an besonderen Entwicklungen ereignet:

O-Ton 12: Golgowskaja, Forts..                                                      1,05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
“Ja sametila…
„Ich beobachte, dass unser Land sich formal geöffnet hat, wir reisen heute ins Ausland, wir sind Touristen, wir machen Geschäfte usw. usf. Formal gibt es heute keine Grenzen. Das Land ist offen. Zugleich ist es enger geworden. Man hat das Gefühl, dass Russlands Inneres wieder abgeschlossen ist und dass es da drinnen arbeitet, irgendwie, so wie ein Suppe kocht. Was das wird, ob es Ausbrüche geben wird oder die Suppe schlecht kocht, das weiß keiner, aber es brodelt. Ja, da geht heut so ein Prozess vor sich, dass die russische Seele gekocht wird, Erinnerung hochkommt, eine Wiedergeburt stattfindet.“
…wosraschdennije ruskowo duschi.“

Erzähler:
Zwar will Frau Frau Golgowskaja sich nicht festlegen, was aus diesem Prozess hervorgehen mag. Vieles sei noch zu ungewiss, auch wisse niemand, ob nicht der Strom noch zwischendurch ausfalle. Einzelne Elemente dessen, was sie in dem großen Topf erkenne, ist sie nach einigem Drängen aber doch bereit zu benennen:

O-Ton 13: Golgowskaja, Forts.                        1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Nu, element kristianstwa…
„Nun, das Element des Christentums, das kocht da; aber es muss noch durchgekocht werden und rückwärts wieder hinaus. Christentum ist in in Russland nicht mehr möglich, nicht, weil ich das nicht will, sondern einfach weil es hohl ist. Natürlich bleibt etwas zurück, eine Art Sud; natürlich geht das Ganze nicht in zwanzig Jahren, nicht in hundert Jahren. Diese Suppe wird noch lange kochen.  – Weiter sehe ich auch solche Elemente, in denen sich die Russische Seele tatsächlich von anderen Seelen unterscheidet. Auch die kochen dort: Zutraulichkeit, Aufrichtigkeit, Offenheit.“
…otkritost.

Erzähler:
Solche Züge der russischen Mentalität kann Frau Golgowskaja durchaus erkennen, selbst in den Turbulenzen der tiefgehenden transformation, die sich heute in Russland vollzieht, auch wenn sie darin keine prinzipiellen Unterschiede sehen möchte. Doch anders als bei den Westeuropäern laufe bei russischen Menschen vieles direkter, meint sie, weniger über Worte, intuitiv. Es falle ihr schwer genauer zu werden, schränkt sie gleich wieder ein, denn sie kenne Ausländer noch nicht so gut, um vergleichen zu können. Vergleichbare Züge habe sie aber bei ihrem ersten Besuch in Afrika angetroffen.
Dann wagt sie einen Erklärungsansatz:

O-Ton 14: Golgowskaja, Forts..                                            1,04 Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Snajesch…
„Man kann es vielleicht so erklären: Dass der russische Mensch möglicherweise auf einer früheren Stufe der Entwicklung steht als die Europäer. Aber wenn der Mensch noch näher an der Biologie steht, mehr in der nonverbalen Sphäre der Beziehungen, dann ist, um es neurophysiologisch zu sagen. das erste Signalsystem entwickelter, also das vorverbale. So kann man das vielleicht sehen. Es ist einfach nur eine frühere Stufe der Entwicklung. Das ist eine vollkommen normale Erklärung. Das ist wahrscheinlich schon alles. Und speziell von hierher erklärt sich wohl auch dieser bemerkenswerte russische Zug der sorglosen Prinzipienlosigkeit.“
…presposablajemost.“

Erzähler:
Natürlich gebe es eine russische Mentalität, erklärt sie nun. Aber
Russisch-Sein sei eben, anders als viele glaubten, weniger eine Frage der gemeinsamen Sprache, als der des Lebensstils, der sich aus gemeinsamen Erfahrungen im vorsprachlichen Raum herausbilde. Die Sprache komme erst in zweiter Linie dazu, verbunden mit dem Prozess der Disziplinierung der spontanen, instinktiven Äußerungen des Lebens. So bilde sich schließlich heraus, was man Kultur und Mentalität nenne. So verstanden habe sie nichts dagegen einzuwenden, einige charakteristische Merkmale des russischen Wesens zu beschreiben:

O-Ton 15: Goolgowskaja, Forts.                           0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Odna is tschert….
„Einer der Züge des russischen Menschen ist eine gewisse Adaptivität, ist Anpassungsvermögen, ist Leichtfertigkeit, Überlebensfähigkeit, also lauter Eigenschaften, die charakteristisch für ein frühes Stadium des Lebens sind. Jedes Tierjunge ist überlebensfähiger als das erwachsene Tier, wie ja überhaupt die Instinkte bei Kindern weniger unterdrückt sind.“
…namnoga bolsche, ponimajesch?“

Erzähler:
Da ist es wieder, aller Modernisierung und aller Abgrenzung von ihrem Lehrer Professor Makarow zum Trotz, das vorsowjetische Russlandbild, welches das 18. und 19. Jahrhundert bestimmte: Russland als Kind, Europa als Greis; russische Spontaneität als Jungbrunnen für ermüdete Europäer: Goethe, Rilke, Barlach auf deutscher Seite; Dostojewski, Solowjew, Berdjajew und viele andere auf russischer haben an diesem Bild mitgezeichnet. Kein nicht-russischer Analytiker dürfte heute eine solche Charakterisierung wagen, ohne sich dem Verdacht des Chauvinismus oder Rassismus auszusetzen. Frau Golgowskaja, auf der Suche danach, was mit ihrem Lande heute geschieht, scheut sich nicht es zu tun. Sie setzt sogar noch eins drauf, indem sie – und dies mit einer unüberhörbaren Sympathie – die Polarität benennt, in der sich Kindlichkeit und autoritäre Gesellschaft in ihrem Lande gegenseitig hervorbringen:

O-Ton 16: Golgowskaja, Forts..                        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzerin overvoice:
„Jesli we Rossije…
„Wenn in Russland der Staat immer stark war, die Familie immer stärker war als woanders, es hier also immer mehr Verbote gab, dann klingt es natürlich absurd, wenn ich gleichzeitig sage, dass man hier mehr nach den Instinkten lebt. Das ist aber nicht absurder als festzustellen, dass Matriarchat und Patriarchat sich gegenseitig stützen, also zwar äußerlich alles verboten erscheint, starke Verbote, starke patriarchale Moral, im Inneren aber eine starke Innerlichkeit¸ weibliche Intensität, ein viel höheres Niveau kindlicher Wahrnehmungkraft entsteht. Also, das alles heißt: Es gibt mehr Verbote, ja, als Resultat aber auch größere innere Freiheit, eine echtere, intensivere Existenz, näher am Leben.“
…swabodu bolsche.“

Erzähler:
Mit dieser Beobachtung ist Frau Golgowskaja nun ganz in auf die von Professor Makarow skizzierte Linie des seelischen Extremismus eingeschwenkt. Allerdings gibt sie sich mit den von ihm benannten Ursachen nicht zufrieden, wenn sie hinter dem Gegensatz von kindlicher Spontaneität und autoritärer Gesellschaft die tiefer liegende Polarität eines unausgetragenen Kampfes zwischen matriarchalen und und patriarchalen Strukturen vermutet. Die sich in einer extremen Spaltung der psychischen Realität ihres Landes niederschlage.
Diese Spaltung zu erforschen und Wege zu finden, damit zu leben, bzw. sie zu überwinden, hat Frau Golgowskaja sich zur Lebensaufgabe gemacht.

Athmo 4: Lieder am Feuer
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach Erzähler kurz frei stehen lassen, mit O-Ton 1, 18, 19vVerblenden und gemeinsam auf- und  abblenden, nach O-Ton 19 frei stehen lassen und langsam abblenden.

Erzähler:
Mit solchen Differenzen geht man beim letzten „Dekadnik“ Ende der neunziger Jahre auseinander.

Regie: Musik kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, verblenden

Erzähler:
Am nächtlichen Feuer in einem Moskauer Vorort trifft man sich wieder. Ein Kongress findet sein Ende. Aus der „Freien Universität für mentale Ökologie“ ist eine „Liga russischer Psychotherapeuten“ geworden, die Professor Viktor Makarow, inzwischen Leiter der Psychotherapeutischen Fakultät der Medizinischen Universität Moskaus, von Moskau aus leitet. Der Sammler ist zum Organisator geworden. Mit regelmäßigen Kongressen in der Hauptstadt der russischen Föderation versucht er der Entwicklung der russischen Therapie eine Richtung und Stabilität zu geben. Das Bild der Arbeit aber hat sich verändert. Nicht mehr die spirituelle Suche nach mentaler Ökologie steht im Vordergrund. Im Vordergrund stehen Methoden, die praktischen Nutzen im Alltag versprechen. Besonderer Renner ist die Methode der „Neuro-lingutistischen Programmierung“, ein System der Entwicklung und Kontrolle körperlichseelischer Abläufe. kurz NLP genannt, die sich in Russland zur Zeit, nicht zuletzt beim Aufbau einer psychologischen Kontrolle der Armee besonderer Beliebtheit erfreut. Die NLP-Meister, wie sie sich nennen, demonstrieren die Effektivität ihrer Methode an ihrer Anwendung im tschetschenischen Krieg. Damit dominieren sie praktisch den gesamten Kongress. Obwohl Professor Makarow die NLP-Meister fürfür eine Art, wie er sagt, wiedergeborene Apparatschiks, „Politruks“, also Polit-Aktivisten hält, die zu sehr am schnellen Erfolg orientiert seien, und obwohl er das nach wie vor akute Unwesen von Scharlatanen im Lande beklagt, ist er trotzdem zufrieden:

O-Ton 17: Prof. Viktor Makarow                    0,36
Regie: O-Ton mit Athmo 5 verblenden, mischen, beides zusammen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Smisl kongressa…..
„Ob der Kongress einen Sinn hat? Er hat einen großen Sinn: Wir vereinigten die Mehrheit der psychotherapeutischen Richtungen um die „LIGA russischer Therapeuten„ und um die „Europäische Assoziation für Psychotherapie“. Wir vereinigen jetzt alle, die sich in unserem Lande entwickeln.“
…nasche stranje.“

Erzähler:
Die Suche nach dem Eigenen in Russlands Seele aber hat Professor Makarow auch als Organisator nicht aufgegeben. Die Form sei international, erklärt er kurz angebunden, der Inhalt aber national:

O-Ton 18: Viktor Makarow                        0,15
Regie: O-Ton mit Athmo 5 verblenden, mischen, beides zusammen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Übersetzer overvoice:
„Soderschannije ja imeju…
„Unter Inhalt verstehe ich: Wir denken anders, wir haben einen anderen Lebensstil, wir haben ein anderes Verständnis vom Glück und daher muss unsere Arbeit natürlich Unterschiede aufweisen.“
…otlitschi.

O-Ton 19: Viktor Makarow.
Regie: O-Ton mit Athmo 5 und O-Ton 18 verblenden, mischen, beides zusammen kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen,zwischendurch hochziehen,  nach Übersetzer allmählich hochziehen

Erzähler:
Als ginge es darum, diesen Unterschied zu beweisen, werfen Männer und Frauen, die um das Feuer stehen, – die NLP-Meister nicht anders als die anderen – je einen Ast in die Flammen.

Regie: Ton zwischendurch hochziehen

„Es ist ein Ritual“, erklären sie. „Das machen wir jedes Mal, wenn wir uns treffen. Damit werden Probleme verbrannnt.“
…schigajutsja problemi.“

Regie: O-Ton 19 ausblenden, Athmo 5 allmählich kommen lassen

Erzähler:
Einen bessere Demonstration für das, was die russische Seele auszeichnet, als diese Runde am Feuer hätten der strenge Professor und seine an Effektivität orientierten Kolleginnen und Kollegen nicht geben können. Ihre Aufgabe als Therapeuten wird dann erfüllt sein, wenn sich nicht nur bei ihnen, sondern im ganzen Lande Spontaneität und Effektivität auf spielererische Weise miteinander verbinden.

Regie: Musik Ausklang

Russland an der Wolga: Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung: zwei Einheiten auf der Sendung:
1. Atmos 1 – 2
2. O-Töne 1 – 18

Mögliche Kürzung:
– 0-Ton 16

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland an der Wolga:
Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Athmo 1: Musik aus dem Autoradio                 3,59
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden,
—  auch unter O-Ton 1 und 2 mit unterlegen  —

Erzähler:
Russland, Wolga. Auf dem Weg von Tschuwaschien in die benachbarte Republik Tatarstan. Tschuwaschien und Tatarstan sind zwei von sechs nicht-slawischen ethnischen Republiken Russlands an der mittleren Wolga. Nabereschnye Tschelni ist unser Ziel.
Zu Guten Zeiten lebte die Stadt von der Produktion der Superlastwagen „Kama“. Sie haben ihren Namen von dem Nebenfluß, der hier aus dem Nordosten in die Wolga mündet. Vor achthundert Jahren stießen russische und tatarisch-mongolische Heere hier aufeinander; heute gilt Nabereschnye Tschelni als Zentrum der tatarischen nationalen Bewegung. „Stadt der Verbrecher“ wird sie wegen des rauen sozialen Klimas genannt, das heute dort herrscht, seit die Produktion des LKW-Werkes fast zum Erliegen gekommen ist.
Aus Nabereschnye Tschelni kommen immer wieder Impulse für eine tatarische Unabhängigkeit. Sie ziehen nicht nur Tataren in ihren Bann. Sie ermutigen auch die Völker der umliegenden ethnischen Republiken –Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mari, Mordawier, allesamt turksprachige bzw. finnisch-ugrische Völker aus Innerasien – in ihrem Streben nach mehr Selbstständigkeit.
Auch Wassili, unser tschuwaschischer Fahrer fühlt sich angezogen vom Geist dieser Stadt. Als aktives Mitglied des tschuwaschischen Kulturzentrums in Tscheboksary, der Hauptstadt der tschuwaschischen Republik, der uns als seine Freunde vorstellt, ist er zugleich der Vermittler, der den Fremden die Türen ins tatarische Zentrum in Nabereschnye Tschelni  öffnet – allerdings nicht ohne eine leichte Distanzierung gegenüber den Tataren vorwegzuschicken. Noch auf dem Wege nach Tatarstan erklärt er uns die feinen Unterschiede zwischen den Wolgavölkern:

O-Ton 1: Wassili                   0,45
Regie: O-Ton kurz ( zusammen mit der Athmo 1)
frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler overvoice:
„Istoria y Tschuwaschej i…
„Die Geschichte der Tschuwaschen und der Mari ist die gleiche: Wir sind Nachkommen der Wolgabulgaren, die von den Tataren-Mongolen geschlagen wurden. Danach wurden alle, auch die Tataren,  von den Moskauer Fürsten kolonisiert. Tschuwaschen und Mari wurde der orthodoxe Glaube aufgezwungen, der für diese Völker nicht akzeptabel ist. Er einigt sie nicht, er isoliert sie. Eine Degradierung findet statt.“
…idjot Degradatie.“

Erzähler:
Geburtenrückgang, Alkoholismus, eine drogenabhängige Jugend, kranke Kinder – in all dem sieht Wassili Folgen der russischen, später sowjetischen Kolonisation. Allein der Islam zeige sich resistent, meint er; er gebe den tatarischen Völkern mehr Widerstandskraft. Er werde daher von Moskau gefürchtet. Der tschetschenische Krieg ist für Wassili ein Ausdruck dieser Realität. Hier versuche Moskau reinen Tisch zu machen. Wassilis Meinung dazu ist unmissverständlich:

O-Ton 2: Wassili, Forts.                        0,49
Regie: O-Ton (zusammen mit Athmo 1)
kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der Wiederholung des Übersetzers hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja tschitaju…
„Ich halte das, was sich in Tschetschenien zur Zeit ereignet, für einen Genozid am tschetschenischen Volk…

Erzähler:
„Heute die Tschetschenen, morgen wir“, so faßt Wassili seine Sicht zusammen. Dagegen müssten sich alle kleineren Völker gemeinsam zur Wehr setzen. Ein demokratisches Russland, so Wassili, könne nur als Konföderation bestehen, andernfalls sei Gewalt nötig, um ein solches Territorium zu halten, so wie es die gegenwärtige Kremlherrschaft leider versuche.
…wlast ninischnije kremljowskaja.“

Erzähler:
In Naberschnye Tschelni werden wir, obwohl wir erst spät nachts  eintreffen, fürstlich empfangen. Den ganzen Abend hat man im „Tatarischen Zentrum“ auf die angekündigten Gäste gewartet, um sie für die Nacht in der Familie des Vorsitzenden Rafis Kaschapow unterbringen zu können. Rafis Kaschapow ist ein agiler Mittdreißiger, seine Frau eine schüchterne Schönheit, die uns, schon im Schlafgewand und ohne Kopftuch, noch zur späten Nachtzeit verpflegt. Zwei Kinder im ersten Schulalter müssen ihr Bett für die späten Gäste räumen. Am nächsten Morgen geht es früh ins Zentrum. Das sind zwei miteinander verbundene Wohnungen im Erdgeschoß einer der gleichförmigen Plattenbauten der Stadt.
Rafis Kaschapows erste Aktivität besteht darin, sein Notizbuch nach möglichen Gesprächspartnern für den ausländischen Korrespondenten durchzutelefonieren. Dafür nimmt er sich reichlich Zeit. „Ich will, dass unsere Arbeit bekannt wird“, sagt er. Erst nachdem er mehrere Zusagen erhalten hat, holt er einen Stapel Fotos und beginnt sie vor uns auszulegen. Vielfältige Aktivitäten des Zentrums werden aus ihnen ersichtlich.
Das erste Bild zeigt wilde Reiter in folkloristischen Trachten:

O-Ton 3:Rafis Kaschapow                                                         2,27
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen (0,20 / 0,35 / 045 / 1,00 / 1,25 / 140), am Schluss hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Eta atze…
„Dies ist vom Pferderennen“, erklärt der Vorsitzende. „Jedes Jahr machen wir einmal so ein Fest zusammen mit den Wolgarepubliken Baschkortastan, Orjenburg, Tschuwaschien, Mari El, Utmurtien und Tatarstan. Es geht um den Zusammenhalt der Völker. Das ist ja so etwas wie ein Staatsgebiet.“ „Da sind wir bei Jandarbijew“ fährt er fort: „Der tschetschenische Präsident nach Dudajew.“ Dann kommen Bilder aus Dagestan; danach eine Scharfschützin aus Tschetschenien. „Sie hat wohl an die hundert russische Gegner getötet“, kommentiert Rafis Kaschapow.  „Das ist von unserer humanitären Aktion für Tschetschenien, da waren wir beim ersten Mal mit 28 Lastern unterwegs.“ Das ist eine Runde von tschetschenischen Kommandeuren.“ „Hier sind wir bei den Krimtataren“ „Dies ist eine türkische Delegation, die das Zentrum besucht hat. Unsere Beziehungen sind eng. Die Türken unterstützen das Zentrum.
So geht es über eine Stunde: Bilder vom ersten tschetschenischen Krieg, Bilder vom zweiten, Bilder jährlicher sog. „nationaler Aktionstage“, Bilder von regelmäßigen Hilfsaktionen für die „tschetschenischen Brüder“. Tatarische Selbstbesinnung und islamische Renaissance, Einsatz für eine nicht-russische Autonomie der Völker an der Wolga und Parteinahme für den Befreiungskrieg der Tschetschenen scheinen untrennbar miteinander verbunden. Moskaus lange koloniale Geschichte  in der Auseinandersetzung mit Hunnen, Tataren, Mongolen und Türken wird in den Fotos ebenso wie in den Plakaten an den Wänden des Zentrums lebendig.
Am Schluss noch Bilder von Umzügen und Demonstrationen: „Einmal im Jahr führen wir einen Gedenktag durch“, kommentiert Rafis Kaschapow. „Das geschieht anlässlich der Eroberung Kasans durch Iwan IV. im Jahr 1552, mit dem die russische Kolonisation begann. Das Datum darf nicht vergessen werden. Da ziehen wir nach Kasan. Auch hier vor Ort machen wir Aktionen.“
…totsche provodim.“

Erzähler:
Von den Autoritäten der tatarischen Republik in deren heutiger Hauptstadt Kasan werden die Aktionen der Aktivisten aus Nabereschnye Tschelni, insbesondere ihre Parteinahme für die Tschetschenen mit gemischten Gefühlen gesehen. Einerseits geben sie der Souveränitätspolitik von Tatarstans Präsident Schamijew größeres Gewicht, andererseits stören sie dessen Einvernehmen mit Moskau. Sogar das islamische Zentrum in Kasan distanziert sich von ihnen als „Fundamentalisten“. Gefragt, was er davon halte, wenn man sie „wahabitische Extremisten“, tatarische Nationalisten oder gar Faschisten nenne, antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 4: Rafis Kaschapow                               1,31
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun, soll man doch! Aber bitte, erstens: Mein Volk hat Sprache, Kultur, Religion, Sitten verloren; wir verlieren uns weiter in gemischten Ehen: Kinder aus gemischten Ehen gehen in die Kirche – unsere Sprache, Kultur, Religion verschwinden. Nur die wenigstens gemischten Ehen bewahren sich als Tataren. Wenn das so weitergeht, wird es uns bald nicht mehr geben. Was heißt da schon Nationalist! Die Russen brauchen das nicht zu fürchten. Sie haben keinen Grund für Nationalismus; trotzdem existiert er: Selbst wenn sie in Tschetschenien 20.000 oder 30.000 Soldaten verlieren – ihr Genfond verschwindet trotzdem nicht. Aber wir verschwinden allmählich. Man witzelt schon, wir seien wie eins dieser sibirischen Völker, die Tschukschen, die es bald nicht mehr gibt. Heute bezahlen 20 Millionen Mohammedaner Steuern ins russische Budget, aber Fernsehen, Radio, Zeitungen nehmen keinerlei Rücksicht auf die kleinen Völker. Sogar in so kleinen Ländern wie der Schweiz oder Finnland gibt es mehr nationale Programme als bei uns. Also muss ich etwas für mein Volk tun.“

Erzähler:
Wer aber sein eigenes Volk liebe, setzt Rafis Kaschapow hinzu, sei er nun Russe, Ukrainer, Baschkire oder was immer, der liebe auch seinen Nachbarn.
…lubit ssasjeda.”

Erzähler:
Der Zusatz klingt nach Mäßigung. Die Frage bleibt aber doch: Was meint Rafis Kaschapow, wenn er von „seinem Volk“, wenn er von „den Tataren“ spricht? Worin besteht die Identität des „tatarischen Volkes“? Ist sie gleichbedeutend mit dem Islam? Auf diese Frage antwortet er:

O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts.                                                 1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer overcvoice:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – immerhin 20 Millionen, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während orthodoxe Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen murren. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“

Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatarischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands  gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural  habe man träumen können, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Moslems, Christen und andere sollten dort in Koexistenz leben. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Staates und der orthodoxen christlichen Kirche. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.
Schließlich fasst Rafis Kaschapow das aktuelle Credo des Zentrums in den Worten zusammen:

O-Ton 6: Rafis Kaschapow, Forts.                                           0, 34
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen

Übersetzer overvoicee:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre.  Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“

Erzähler:
So eingestimmt, fällt es nicht schwer, das Anliegen derer zu verstehen, die inzwischen, aktiviert durch die morgendlichen Anrufe des Vorsitzenden, im Zentrum zum Gespräch mit dem ausländischen Korrespondenten erschienen sind. Der Erste, der sich vorstellt, ist Agludi Wiselud, ein kleiner, verknitterter, aber eifrig gestikulierender Mann. Er versteht sich als Privatforscher. Gemeinsam mit einer Gruppe Gleichgesinnter widmet er sich der, wie er es nennt, „Erforschung der historischen und ideologischen Grundlagen der tatarischen nationalen Bewegung.“ Die Hunnen – Attila, die Mongolen – Tschingis Chan, die Türken – das sind seine Forschungsgebiete. Die Türken betrachtet er als „Übernation“ vergleichbar der „arischen Zivilisation“:

O-Ton 7: Agludi Wiselud, Forscher                          0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun zunächst beschäftigen wir uns mit der vor-islamischen Geschichte der Türken, also der, die mit den Hunnen verbunden ist, mit Attila, den frühen Turkvölkern. Wir studieren ihre Zivilisation. Wir fanden einige Punkte, die vorher nicht studiert wurden. Zum Beispiel Hinweise, dass wir alle aus einer Zivilisation kommen, Türken und auch Deutsche, der arischen. Natürlich ist das alles ziemlich missbraucht. Wir studieren daher auch die nationalistischen Verzerrungen dieser Fakten. Aber es gibt eben einige interessante Hinweise, dass vor der Christianisierung die deutschen Stämme äußerst eng mit den türkischen verwandt waren, also den Tataren, Türken, Uskeben und andere.“
…Usbekami, etami.“

Erzähler:
Dafür spreche das Runenalphabet, fährt Agludi Wiselud fort, das germanische wie auch turkstämmige Völker benutzt hätten. Zwar hätten die Germanen von links nach rechts, die Turkvölker von rechts nach links geschrieben, aber die „Ideologie“, wie Agludi Wiselud es nennt, sei beiden gemeinsam. Der höchste germanische Gott Odin entspreche dem höchsten altturkischen Gott Tanger, den man ja heute noch bei den turksprachigen Nachkommen der alten Turkvölker im Wolgagebiet finde. Allerdings, schränkt Agludi Wiselud ein, befänden sich Forschungen seiner Gruppe noch sehr am Anfang, besonders was die germanischen Ursprünge betreffe, denn leider gebe es kaum Literatur über germanische Mythen in russischer Sprache.
Selbstbewusster tritt Gabbrachman Salaludinow auf, ein distinguierter Herr, der während des Gesprächs mit Agludi Wiselud bereits ungeduldig auf seinen Auftritt gewartet hat. Er stellt sich als Vorstand des „Club Bolgar“ vor, der die Geschichte des „Großen Bolgarstan“ erforsche, das in der Folge der hunnischen Wanderungen an Donau und Wolga entstanden sei. Der falschen russischen und daraus folgend ebenso falschen europäischen Geschichtsschreibung will er die historischen Fakten entgegenstellen. Nur daraus könne eine richtige Politik erfolgen. Solche Clubs, erklärt der Bolgar-Forscher, gebe es nicht nur in Naberschnye tschelni, sondern auch in Kasan, das er das „heutige Bolgar“ nennt, sowie in allen anderen etnischen Republiken an der Wolga; sogar in Moskau und St. Petersburg finde man welche:

O-Ton 8: Gabbrachman Salaludinow                              1,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice
„We naschem klubje…
“In unserem Club versammeln sich diejenigen,  welche die Geschichte kennenlernen wollen und die sich für Bolgaren halten. Wir propagieren unsere wahre Geschichte: Dass wir Bolgaren sind. Die Geschichte der Bolgaren ist sehr reich. Es gibt tragische wie auch heroische Momente darin, aber eins ist unbestreitbar: Bolgarstan war für seine Zeit eine hochentwickelte kultivierte Gesellschaft. Wir hatten früher als die Russen einen Staat und früher als die Mongolen. Wir sind mit den Mongolen in keiner Weise verwandt. Die Mongolen überfielen uns vielmehr, sie kamen zu uns im Krieg. Wir leisteten  langen Widerstand, aber die Kräfte waren ungleich. Und so haben sie uns besiegt. Aber nicht sie haben unseren Staat zerstört. Der Staat blieb, die staatstragende Dynastie, die ganze Armee und alle staatlichen Einrichtungen blieben; alle Führer; der ganze Adel blieb an seinem Platz. Erst als die Russen uns besiegten, da wurde alles zerstört.“
… ani bsjo rasruscheli.“

Erzähler:
Russische Geschichtsbücher berichten anders: Nach russischer und bisher auch im Westen herrschender Vorstellung waren es nicht die Bolgaren, die den Mongolensturm aufhielten, sondern die Russen und es waren nicht die Russen, die Bolgarstan zerstörten, sondern die blutrünstigen Horden Tschingis Chans und seines Heerführers Batu, die alles, was sich ihnen auf dem Weg nach Westen entgegenstellte, angeblich mit Stumpf und Stil vernichteten. Tatsächlich verbanden sich die Mongolen nach dem Fall Bolgarstans mit den dort siedelnden Völkern. Aus Bolgarstan wurde das Chanat Kasan. Aus der Vermischung ansässiger bolgarischer Bevölkerung mit mongolischen Stämmen entstand der ethnische Flickenteppich, der heute rund um die mittlere Wolga ausgebreitet ist. Unter der Bezeichnung „Wolga-Ural“, so Gabbrachman Salaludinow bilde dies alles heute einen kulturellen und politischen Zusammenhang, der nach eigener Verwirklichung strebe:

O-Ton 9: Gabbrachman Salaludinow                                      0,45
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Wolga-Ural eta…
„Wolga-Ural, das ist Bolgarstan. Um es nicht direkt Bolgarstan zu nennen, nennt man es Wolga-Ural. Wir möchten aus ganzem Herzen den bolgarischen Staat wiederbeleben, allerdings in begrenzterem Umfang. In unserem Volk, das der Verordnung nach heute Tataren genannt wird,  gibt es verschiedene Dialekte. Alle diese Dialekte sind bolgarisch. Darüber hinaus sind die Baschkiren unser Volk. Sie sind auch Bolgaren. Die Baschkiren – das ist der Ural. Wir, die sog. Tataren – das ist die Wolga, zusammen bilden wir Wolga-Ural, eben Bolgarien.“
…i jest Bolgarie.“

Erzähler:
Wenn die Mehrheit der Bevölkerung an der Wolga das heute nicht begreife, dann liege das an den politischen Bedingungen:

O-Ton 10: Gabbrachman Salaludinow                      0,34
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Moskwa boitsja…
„Moskau hat Angst, die russische Führung hat Angst, denn wenn wir uns Bolgaren nennen, dann erheben wir uns sofort hoch über die Russen.  Unser Staat war früher da, unsere Gesellschaft ist entwickelter, unsere Kultur ist höher, unsere Geschichte ist älter. Sie aber wollen das nicht. Sie wollen, dass wir Tataren genannt werden, und niedriger stehen als sie. Das ist das Problem.“
…vot, we etam wapros.”

Erzähler:
Karim Schakirow, der Vertreter der baschkirischen Gemeinde des Ortes und damit inoffizieller Vertreter der baschkirischen nationalen Bewegung , der gleich darauf vor dem Mikrofon sitzt, gibt sich ein bisschen bescheidener. Zwar legt auch er Wert auf die Feststellung, dass die Baschkiren ein altes Volk mit epischer Vergangenheit, die Russen dagegen ein junges ohne Geschichte seien, das nicht einmal ein eigenes Epos besäße, dass das baschkirische Alphabet dreiundvierzig Buchstaben habe statt nur dreiunddreißig wie das Russische; der Meinung, dass die Baschkiren das wildeste der nicht-russischen Völker an der Wolga seien, mag er aber nicht so recht zustimmen:

O-Ton 11: Karim Schakirow                       0,37
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Kakaja dolje prawda…
„Ein bisschen Wahrheit liegt darin, doch würde ich nicht sagen, dass sie wild sind: Sie sind Kinder der Natur, sie sind sehr gefühlsbetont. Baschkiren sind weniger geeignet für die heutige harte, marktorientierte Art zu leben. Die Baschkiren sind naive Kinder der Natur. Wir haben immer in Übereinstimmung mit der Natur gelebt, in der Natur.“
…moschno i tak skasatj.“

Erzähler:
Baschkiren lebten nicht nur in Übereinstimmung mit der Natur. Anders als die benachbarten Tataren, die von Iwan IV. gewaltsam unterworfen wurden, gliederten sie sich freiwillig den Moskauer Fürsten an. So blieb ihnen auch eine gewaltsame Christianisierung erspart und sie haben heute, im Unterschied zu den anderen Wolgavölkern, nur eine einzige Religion, den Islam. Das macht sie zu einem Faktor, mit dem der Kreml rechnen muss, auch wenn sie, wie Karim Schakirow betont, heute immer noch auf Ausgleich mit Moskau setzen.

O-Ton 12: Russisches Zentrum                             0,57
Regie: O-Ton während des Erzählers kommen lassen,  nach Erzähler vorübergehend ganz hochziehen, abblende, hörbar unterlege, hochziehen, abblenden

Erzähler:
Ganz andere Töne schlagen uns entgegen, als unsere tatarischen Gastgeber mit uns zum russischen Zentrum hinüberfahren, damit wir, wie Rafis Kaschapow sagt, auch ihre Gegenspieler kennenlernen.

Regie: vorübergehend hochziehen

„Wer hat Europa vor den Mongolen gerettet?“, entrüstet sich der Vorsitzende des Zentrums, als die Sprache auf die russische Kolonisation kommt. „Die Tschuwaschen?“ „Die Tataren? Nein, wir! Wir waren es, die Russen! Tschingis Chan hatte die Bolgaren doch schon überrannt! Wenn wir Russen nicht gewesen wären, dann wäre heute nichts mehr!“ Und unvermittelt stößt er hervor:: „So haben wir Europa auch vor Hitler gerettet. Nicht ihr Deutschen, wir Russen haben Europa gerettet! Verstehen Sie, wir! Nicht die Amerikaner, nicht die Engländer, nicht die Franzosen, erst recht nicht die Polen!“
… nje tjem bolje nje poljaki.“

Erzähler:
Die Entrüstung des Vorsitzenden steigert sich schnell zu aggressiver Demagogie:

O-Ton 13: Russisches Zentrum, Forts.                                 1,51
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,40 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Tschuwaschien – existiert es?“ schreit er. „Mordawien – existiert es?“ „Die Tataren – existieren sie?“ Da man dies bejahen muß, setzt er nach: „Ja? Sie existieren? – Also, wenn wir sie vernichtet hätten, wie könnten sie da existieren?“ (…) Einwände fegt er beiseite: „Kolonie?  Was für eine Kolonie? Bei uns kann es überhaupt keine Kolonie geben. Im Zarismus, bei den Imperatoren waren die Tataren die gebildetsten Leute.“ Von welcher Kolonie man da reden könne, bitte von welcher Kolonie.

Regie: Bei 0,40 zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Fragen der Besucher ertrinken in einem langen, nicht enden wollenden Monolog des Vorsitzenden über die Notwendigkeit, russische Kultur gegen die jüdische bolschewistische Revolution und gegen das heute wieder herrschende Judentum durchzusetzen. Putin sei der erste Schritt in die richtige Richtung, der Krieg gegen die Tschetschenen notwendig, er werde irgendwann mit einem Frieden enden. So sei das nun einmal mit Kriegen. Diese Auslassungen enden mit einer Nötigung zu Tee, Keks  und Wodka. Dann ist dieser Spuk vorüber.
…allmählich ausblenden….

Erzähler:
Zurück im tatarischen Zentrum stoßen wir nun auch dort auf Vertreter eines härteren Kurses, allerdings in sanfterer Sprache. Das ist vor allem ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart, den Rafis Kaschapow lachend als „Wahabiten“ ankündigt. Scheich Adin, wie der bärtige junge Mann sich selbst vorstellt, ist Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabeschnye Tschelni.
Gefragt, wie er sich fühle, wenn er „Wahabit“ benannt werde,  antwortet er:

O-Ton 14: Scheich Adin                    1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“

Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden

Übersetzer overvoice, Forts.
Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…fundamentalistom i protsche.“

Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben.
Was er darunter verstehe?

O-Ton 15: Scheich Adin, Forts                                                        0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna tschelowjek…
„Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“

Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?

O-Ton 16: Scheich Adin, Forts.                                                     0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna…
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims –  uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumanitarnom pomotschom.“

Erzähler:
Viele junge  Männer, die hinunterfuhren, sein aus dem Umkreis des Komitees gekommen, erklärt Scheich Adin; keiner von ihnen sei gefahren, um nur humanitäre Hilfe zu leisten:

O-Ton 17: Scheich Adin, Forts.                                                     0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen  dem Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“

Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
…wolje Allacha.“

Erzähler:
Gegen solche Töne klingt die Klage des Vorsitzenden der örtlichen tschetschenischen Gemeinschaft, der mit bitteren Worten die elende Lage der tschetschenischer Flüchtlinge in der örtlichen Diaspora schildert, schon beinahe milde. Nicht nur milde, sondern freundlich stimmt ein abschließender Blick in den großen Versammlungsraum des Zentrums, wo sich eine Gruppe jüngerer und älterer Frauen – in Kopftüchern, aber mit offenen, fröhlichen Gesichtern  – zur abendlichen Koranschule versammelt hat:

O-Ton 18: Frauen in der Koranschule                             26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
„Wir lernen den Islam“, sagt die Lehrerin. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“

O-Ton 19: Koranschule, Forts.                     559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden

Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, erklärt die Lehrerin weiter. Männer blieben für sich, Kinder ebenso.
„Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“
Eine andere Frau zeigt ein Heft: „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“.
„Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.

Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, sagen die Frauen. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, meint eine, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo

O-Ton 20:  Wassili im Auto                                                0,59
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen, unter dem Übersetzer abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, danach mit Athmo 2 verblenden

Erzähler:
So geht es heimwärts nach Tschuwaschien. Mehr noch als wir, ist Wassili, unser treuer Begleiter, erfüllt, von dem, was er gehört hat:

Übersetzer overvoice:
„Moja wpetschetlennije…
„Mein Eindruck von dieser Reise und den Gesprächen mit den Leitern der Organisationen ist sehr befriedigend. Das tschuwaschische Kulturzentrum und andere können hier lernen lernen…

Regie: Athmo 2 verblenden, Musik unter dem Erzähler allmählich hochziehen, danach frei stehen lassen, ausklingen lassen.

Erzähler:
Er lässt offen, was ihn mehr beeindruckt hat: der Aktivismus der Männer oder die fröhliche Entschlossenheit der Frauen. Eine Entscheidung zwischen beidem muss er hoffentlich niemals treffen.

Russland an der Wolga: Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung: zwei Einheiten auf der Sendung:
1. Atmos 1 – 2
2. O-Töne 1 – 18

Mögliche Kürzung:
– 0-Ton 16

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Zusatz aus der  Überarbeitung:
O-Ton 11 und 11 sind gestrichen;
die Zählung wie auf dem Zuspielband wurde beibehalten.

Russland an der Wolga:
Ein Tag in Nabereschnye Tschelni

Athmo 1: Musik aus dem Autoradio                 3,59
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden,
—  auch unter O-Ton 1 und 2 mit unterlegen  —

Erzähler:
Russland, Wolga. Auf dem Weg von Tschuwaschien in die benachbarte Republik Tatarstan: Tschuwaschien und Tatarstan sind zwei von sechs nicht-slawischen ethnischen Republiken Russlands an der mittleren Wolga. Nabereschnye Tschelni ist unser Ziel.
Nabereschnye Tschelni ist eine der großen Industrieagglomerationen der sowjetischen Zeit. Sie entstand als Reißbrettgründung und Fertigbauprodukt rund um das Lastwagenwerk „Kama“. Der Name des Werkes stammt von dem Nebenfluß, der hier aus dem Nordosten in die Wolga mündet. Zu guten Zeiten lebten mehr als 500.000 Menschen von der sozialen Pyramide des Schwerkraftwagen-Werkes. „Kama“  ernährte sie alle – und nicht schlecht. „Kama“-Laster und „Kama“-Baufahrzeuge galten als Exportschlager der Sowjetunion. Noch heute sieht man sie in den ehemaligen sozialistischen Ländern.
„Stadt der Verbrecher“ wird Nabereschnye Tschelni heute wegen des rauen sozialen Klimas genannt, das jetzt dort herrscht, seit die Produktion der „Kamas“ fast zum Erliegen gekommen ist. Arbeitslosigkeit, soziale Desintegration, Alkoholismus, Drogensucht, Prostitution und hohe Jugendkriminalität sind die Folgen.
Vor achthundert Jahren stießen russische und tatarisch-mongolische Heere hier an der Kama aufeinander. Heute gilt Nabereschnye Tschelni als Zentrum der tatarischen nationalen Bewegung. Von hier kommen immer wieder Impulse für eine tatarische Unabhängigkeit von Moskau, die nicht nur Tataren in ihren Bann ziehen. Sie ermutigen auch die Völker der umliegenden ethnischen Republiken –Tschuwaschen, Baschkiren, Utmurten, Mari, Mordawier.
Auch Wassili, unser tschuwaschischer Fahrer, Aktivist des tschuwaschischen Kulturzentrums, fühlt sich angezogen vom Geist dieser Stadt – allerdings nicht ohne sich zugleich von den Tataren zu distanzieren. Noch während der Fahrt erklärt er uns die feinen Unterschiede zwischen den Wolgavölkern:

O-Ton 1: Wassili                   0,45
Regie: O-Ton kurz ( zusammen mit der Athmo 1)
frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler overvoice:
„Istoria y Tschuwaschej i…
„Tschuwaschen und Marie haben eine gemeinsame Geschichte“, so Wassili. „Sie sind beide Nachkommen der Wolgabulgaren, die von den Tataren-Mongolen geschlagen wurden. Die Tataren wurden dann von den Moskauer Fürsten kolonisiert. Tschuwaschen und Mari wurde das Christentum aufgezwungen; die Tataren konnten den Islam bewahren. Der Islam gibt den tatarischen Völkern mehr Widerstandskraft. Er wird daher von Moskau gefürchtet und bekämpft.“

Erzähler:
„Wie in Tschetschenien“, meint Wassili. Seine Meinung zu den Ereignisen dort ist unmissverständlich:

O-Ton 2: Wassili, Forts.                        0,49
Regie: O-Ton (zusammen mit Athmo 1)
kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach der Wiederholung des Übersetzers hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja tschitaju…
„Ich halte das, was sich in Tschetschenien zur Zeit ereignet, für einen Genozid am tschetschenischen Volk

Erzähler:
„Heute die Tschetschenen, morgen wir“, fasst Wassili seine Sicht schließlich zusammen. Dagegen müssten sich alle kleineren Völker Russlands gemeinsam zur Wehr setzen. Ein demokratisches Russland könne nur als Konföderation bestehen, andernfalls sei so ein Territorium wie das russische nur mit Gewalt zusammenzuhalten.“
…wlast ninischnije kremljowskaja.“

Erzähler:
In Naberschnye Tschelni werden wir, obwohl wir erst spät nachts  eintreffen, fürstlich empfangen. Den ganzen Abend hat man im „Tatarischen Zentrum“, einer umgewidmeten Wohneinheit irgendwo in der Plattenbauwüste,  auf die angekündigten Gäste gewartet, um sie für die Nacht in der Familie des Vorsitzenden Rafis Kaschapow unterbringen zu können. Die Fahrt dorthin führt noch einmal durch endlose spärlich beleuchtete Plattenbauquadrate, bevor sie im vierten Stock einer dieser Wohnmaschinen vor einer der heute in Russland üblichen eisernen Etagentüren endet. Dahinter empfängt uns – unvermutet wie Aladins Wundertür – eine Wohnung, in der sich alter sowjetischer Wohnstandard mit orientalischem Kitsch zu einer überwältigenden Fülle verbindet. Rafis Kaschapow ist ein agiler Mittdreißiger, seine Frau eine schüchterne Schönheit, die uns, obwohl schon im Schlafgewand und ohne Kopftuch, noch zur späten Nachtzeit verpflegt. Zwei Kinder im ersten Schulalter müssen ihr Bett für die späten Gäste räumen und bei Vater und Mutter schlafen.
Am nächsten Morgen geht es früh ins Zentrum. Rafis Kaschapows erste Aktivität besteht darin, sein Notizbuch nach möglichen Gesprächspartnern durchzutelefonieren. Dafür nimmt er sich reichlich Zeit. „Ich will, dass unsere Arbeit bekannt wird“, sagt er. Erst nachdem er mehrere Zusagen erhalten hat, holt er einen Stapel Fotos und beginnt sie vor uns auszulegen. Vielfältige Aktivitäten der Stadt und des Zentrums werden aus ihnen ersichtlich.
Das erste Bild zeigt Reiter in folkloristischen Trachten:

O-Ton 3:Rafis Kaschapow                                                         2,27
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch hochziehen (0,20 / 0,35 / 045 / 1,00 / 1,25 / 140), am Schluss hochziehen, abblenden

Erzähler:
„Eta atze…
„Dies ist vom Pferderennen“, erklärt der Vorsitzende. „Jedes Jahr machen wir einmal so ein Fest zusammen mit den Wolgarepubliken Baschkortastan, Orjenburg, Tschuwaschien, Mari El, Utmurtien und Tatarstan. Es geht um den Zusammenhalt der Völker. Das ist ja so etwas wie ein Staatsgebiet.“ „Da sind wir bei Jandarbijew“ fährt er fort: „Der tschetschenische Präsident nach Dudajew.“ Dann kommen Bilder aus Dagestan; danach eine Scharfschützin aus Tschetschenien. „Sie hat wohl an die hundert russische Gegner getötet“, kommentiert Rafis Kaschapow.  „Das ist von unserer humanitären Aktion für T    schetschenien, da waren wir beim ersten Mal mit 28 Lastern unterwegs.“ Das ist eine Runde von tschetschenischen Kommandeuren.“ „Hier sind wir bei den Krimtataren“ „Dies ist eine türkische Delegation, die das Zentrum besucht hat. Unsere Beziehungen sind eng. Die Türken unterstützen das Zentrum.
So geht es über eine Stunde: Bilder vom ersten tschetschenischen Krieg, Bilder vom zweiten, Bilder jährlicher sog. „nationaler Aktionstage“, Bilder von regelmäßigen Hilfsaktionen für die „tschetschenischen Brüder“. Tatarische Selbstbesinnung und islamische Renaissance, Einsatz für eine nicht-russische Autonomie der Völker an der Wolga und Parteinahme für den Befreiungskrieg der Tschetschenen scheinen untrennbar miteinander verbunden. Moskaus lange koloniale Geschichte  in der Auseinandersetzung mit Hunnen, Tataren, Mongolen und Türken wird in den Fotos ebenso wie in den Plakaten an den Wänden des Zentrums lebendig.
Am Schluss noch Bilder von Umzügen und Demonstrationen: „Einmal im Jahr führen wir einen Gedenktag durch“, kommentiert Rafis Kaschapow. „Das geschieht anlässlich der Eroberung Kasans durch Iwan IV. im Jahr 1552, mit dem die russische Kolonisation begann. Das Datum darf nicht vergessen werden. Da ziehen wir nach Kasan. Auch hier vor Ort machen wir Aktionen.“
…totsche provodim.“

Erzähler:
Von den Autoritäten der tatarischen Republik in deren heutiger Hauptstadt Kasan werden die Aktionen der Aktivisten aus Nabereschnye Tschelni, insbesondere ihre Parteinahme für die Tschetschenen mit gemischten Gefühlen gesehen. Einerseits geben sie der Souveränitätspolitik von Tatarstans Präsident Schamijew größeres Gewicht, andererseits stören sie dessen Einvernehmen mit Moskau. Sogar das islamische Zentrum in Kasan distanziert sich von ihnen als „Fundamentalisten“, die die soziale Krise für ihre Ziele ausnutzten.
Gefragt, was er davon halte, wenn man sie „wahabitische Extremisten“, tatarische Nationalisten oder gar Faschisten nenne, antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 4: Rafis Kaschapow                               1,31
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun, soll man doch! Aber bitte, erstens: Mein Volk hat Sprache, Kultur, Religion, Sitten verloren. Nur die wenigstens gemischten Ehen bewahren sich als Tataren. Wenn das so weitergeht, wird es uns bald nicht mehr geben. Was heißt schon Nationalist! Die Russen haben keinen Grund für Nationalismu: Selbst wenn sie in Tschetschenien 20.000 oder 30.000 Soldaten verlieren – ihr Genfonds verschwindet trotzdem nicht – aber wir verschwinden allmählich. Man witzelt schon, wir seien wie eins dieser sibirischen Völker, die Tschukschen, die es bald nicht mehr gibt. Heute bezahlen 20 Millionen Mohammedaner Steuern ins russische Budget, aber die Medien beachten die kleinen Völker nicht. Sogar in so kleinen Ländern wie der Schweiz oder Finnland gibt es mehr nationale Programme als bei uns. Also muss ich etwas tun für mein Volk.“

Erzähler:
Wer aber sein eigenes Volk liebe, setzt Rafis Kaschapow hinzu, sei er nun Russe, Ukrainer, Baschkire oder was immer, der liebe auch seinen Nachbarn.
…lubit ssasjeda.”

Erzähler:
Der Zusatz klingt nach Mäßigung. Die Frage bleibt aber doch: Was meint Rafis Kaschapow, wenn er von „seinem Volk“, wenn er von „den Tataren“ spricht? Die Bevölkerung Tatarstans besteht zu 50 % aus Russen, die anderen 50% sind Tataren, dazu Minderheiten anderer Wolgavölker. Nabereschnye Tschelni ist keine tatarische, keine moslemische, sie ist eine aus dem Boden gestampfte Industriestadt, in die Menschen aus allen Teilen der großen Sowjetunion zogen.
Was meint Raschis Kaschapow also, wenn er von „seinem Volk“ spricht? Auf diese Frage antwortet Rafis Kaschapow:

O-Ton 5: Rafis Kaschapow, Forts.                                                 1,10
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen.

Übersetzer overcvoice:
„Nu, dglja nas…
„Nun für uns Tataren ist es verletzend, dass aus Baschkortastan, aus Tatarstan, aus den verschiedensten Regionen der russischen Föderation, wo heute Muslime leben – immerhin 20 Millionen, dazu noch die Usbeken, die Tadschiken, die Kirgisen, die Aserbeidschaner, Dagestaner, auch wenn sie andere Glaubensrichtungen vertreten – also für uns ist es verletzend, dass sich alle diese Bürger an Kriegshandlungen, an der Vernichtung von Muslimen beteiligen, während orthodoxe Priester sie für die Verteidigung des heimatlichen Bodens segnen. Das ist natürlich eine Verhöhnung der Muslime. Zugleich wendet man sich, auch hier bei uns in Nabereschnye, an Eltern von Soldaten, denen man Orden verleiht für den Mord an Muslimen. Das geht vielen hier natürlich gegen die Natur, die deswegen murren. Im Moment mag das Volk das noch ertragen, aber auf Dauer kann alles Mögliche geschehen.“
…sweki slutschi.“

Erzähler:
Von der islamischen Geistlichkeit erwartet der kämpferische Vorsitzende nichts. Die Zeit Jelzins, erklärt er, sei eine Zeit der Regeneration der islamischen und der tatarischen Kultur an der Wolga und in anderen Teilen Russlands  gewesen. Sogar von einer freien Republik Wolga-Ural  habe man träumen können, welche die von turk-tatarischen Völkern besiedelten Gebiete zwischen Wolga und Ural zusammenfasse. Moslems, Christen und andere sollten dort in Koexistenz leben. Mit der Übernahme der Macht durch Wladimir Putin gehe diese Zeit zuende. Jetzt drohe sich der alte Zustand wieder herzustellen, der seit der Anerkennung des Islam durch Katarina II. 1767 bis in die Sowjetzeit hinein bestanden habe, nämlich die Unterordnung der muslimische Geistlichkeit unter die Interessen des Staates und der orthodoxen christlichen Kirche. Allein die Tschetschenen hätten sich ihren Widerstandsgeist bewahrt und seien noch bereit, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Deswegen werde an ihrem Beispiel der Widerstand der übrigen 20 Millionen Muslime eingeschüchtert und deswegen sei es nötig, ihnen zu helfen.
Schließlich fasst Rafis Kaschapow das aktuelle Credo des Zentrums in den Worten zusammen:

O-Ton 6: Rafis Kaschapow, Forts.                                           0, 34
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss wieder hochziehen

Übersetzer overvoicee:
„Nasche zel i sadatsche…
„Unser Ziel und unsere Aufgabe ist die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit von der russischen Föderation. Das wird sich in nächster Zeit nicht realisieren lassen, denn wenn wir hart vorgehen würden, könnte das Krieg bedeuten. Deshalb gehen wir den zivilisierten Weg, mag sein vierzig, mag sein dreißig, mag sein sogar nur zwanzig Jahre.  Wir wollen eine freie tatarische Republik.“
…tatarskuju Respubliku.“

Erzähler:
So eingestimmt, fällt es nicht schwer, das Anliegen derer zu verstehen, die, aktiviert durch die morgendlichen Anrufe des Vorsitzenden, im Zentrum zum Gespräch mit dem ausländischen Korrespondenten erseinen. Der Erste ist ein Kollege von der örtlichen Presse. Seine Hauptinteresse gilt der Frage, wie man in Deutschland mit gewaltbereiten Jugendlichen umgehe Dies, meint er, sei zur Zeit das größte Problem in Nabereschnye Tschelni, nachdem dessen soziale Pyramide zusammengebrochen sei. An zweiter Stelle nennt er Alkoholismus und Drogensucht. Die Administration unternehme nichts. Sie habe kein Geld und befinde sich in den Händen der Mafia. Wenn bei „Kama“ nicht bald wieder produziert werde, werde sich die Spannung in einer sozialen Erxplosion entladen.
Der zweite Gast des Zentrums an diesem Morgen, Agludi Wiselud, hat wenig Sinn für diese aktuellen Probleme. Der kleine, eifrig gestikulierender Mann versteht sich als Privatforscher. Gemeinsam mit anderen widmet er sich, wie er es nennt, der „Erforschung der historischen und ideologischen Grundlagen der tatarischen nationalen Bewegung.“ Hunnen, Mongolen, Türken – das sind seine Themen:

O-Ton 7: Agludi Wiselud, Forscher                          0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu, wa perwich…
„Nun zunächst beschäftigen wir uns mit der vor-islamischen Geschichte der Türken, also der, die mit den Hunnen verbunden ist, mit Attila, den frühen Turkvölkern. Wir studieren ihre Zivilisation. Wir fanden einige Punkte, die vorher nicht studiert wurden. Zum Beispiel Hinweise, dass wir alle aus einer Zivilisation kommen, Türken und auch Deutsche, der arischen. Natürlich ist das alles ziemlich missbraucht. Wir studieren daher auch die nationalistischen Verzerrungen dieser Fakten. Aber es gibt eben einige interessante Hinweise, dass vor der Christianisierung die deutschen Stämme äußerst eng mit den türkischen verwandt waren, also den Tataren, Türken, Uskeben und andere.“
…Usbekami, etami.“

Erzähler:
Allerdings, schränkt Agludi Wiselud ein, befänden sich die Forschungen seiner Gruppe noch sehr am Anfang, besonders was die germanischen Ursprünge betreffe, denn leider gebe es kaum Literatur über germanische Mythen in russischer Sprache.
Selbstbewusster tritt Gabbrachman Salaludinow auf, ein distinguierter Herr. Er stellt sich als Vorstand des „Club Bolgar“ vor, der die Geschichte des „Großen Bolgarstan“ erforsche, das in der Folge der hunnischen Wanderungen an Donau und Wolga entstanden war. Der falschen russischen und daraus folgend ebenso falschen europäischen Geschichtsschreibung will er die historischen Fakten entgegenstellen. Nur daraus könne eine richtige Politik erfolgen. Solche Clubs, erklärt der Bolgar-Forscher, gebe es übrigens nicht nur in Naberschnye Tschelni, sondern auch in Kasan, das er das „heutige Bolgar“ nennt, sowie in allen anderen etnischen Republiken an der Wolga; sogar in Moskau und St. Petersburg finde man welche:

O-Ton 8: Gabbrachman Salaludinow                              1,21
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice
„We naschem klubje…
“In unserem Club versammeln sich diejenigen,  welche die Geschichte kennen lernen wollen und die sich für Bolgaren halten. Wir propagieren unsere wahre Geschichte: Dass wir Bolgaren sind. Die Geschichte der Bolgaren ist sehr reich. Es gibt tragische wie auch heroische Momente darin, aber eins ist unbestreitbar: Bolgarstan war für seine Zeit eine hochentwickelte kultivierte Gesellschaft. Wir hatten früher als die Russen einen Staat und früher als die Mongolen. Wir sind mit den Mongolen in keiner Weise verwandt. Die Mongolen überfielen uns vielmehr, sie kamen zu uns im Krieg. Wir leisteten  langen Widerstand, aber die Kräfte waren ungleich. Und so haben sie uns besiegt. Aber nicht sie haben unseren Staat zerstört. Der Staat blieb, die staatstragende Dynastie, die ganze Armee und alle staatlichen Einrichtungen blieben; alle Führer; der ganze Adel blieb an seinem Platz. Erst als die Russen uns besiegten, da wurde alles zerstört.“
… ani bsjo rasruscheli.“

Erzähler:
In einem muss man dem Bolgar-Forscher zustimmen: Russische Geschichtsbücher berichten anders. Nach russischer und gängiger westlicher Vorstellung waren es nicht die Bolgaren, die den Mongolensturm aufhielten, sondern die Russen und waren es nicht die Russen, die Bolgarstan zerstörten, sondern die Mongolen. Tatsächlich verbanden sich die Mongolen jedoch nach dem Fall Bolgarstans mit den dort siedelnden Völkern. Aus Bolgarstan wurde das Chanat Kasan. Aus der Vermischung ansässiger bolgarischer Bevölkerung mit mongolischen Stämmen entstand der ethnische Flickenteppich, der heute rund um die mittlere Wolga, mitten im russischen Haus ausgebreitet ist.
Unter der Bezeichnung „Wolga-Ural“, so Gabbrachman Salaludinow bilde dies alles heute einen kulturellen und politischen Zusammenhang, der nach eigener Verwirklichung strebe:

O-Ton 9: Gabbrachman Salaludinow                                      0,45
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Wolga-Ural eta…
„Wolga-Ural, das ist Bolgarstan. Um es nicht direkt Bolgarstan zu nennen, nennt man es Wolga-Ural. Wir möchten aus ganzem Herzen den bolgarischen Staat wiederbeleben, allerdings in begrenzterem Umfang. In unserem Volk, das der Verordnung nach heute Tataren genannt wird,  gibt es verschiedene Dialekte. Alle diese Dialekte sind bolgarisch. Darüber hinaus sind die Baschkiren unser Volk. Sie sind auch Bolgaren. Die Baschkiren – das ist der Ural. Wir, die sog. Tataren – das ist die Wolga, zusammen bilden wir Wolga-Ural, eben Bolgarien.“
…i jest Bolgarie.“

Erzähler:
Moskau versuche nach wie vor diese Wahrheit zu unterdrücken:

O-Ton 10: Gabbrachman Salaludinow                      0,34
Regie: Ton kurz stehen lasssen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Moskwa boitsja…
„Moskau hat Angst, die russische Führung hat Angst, denn wenn wir uns Bolgaren nennen, dann wachsen wir hoch über die Russen hionaus: Unser Staat war früher da, unsere Gesellschaft ist entwickelter, unsere Kultur ist höher, unsere Geschichte ist älter. Sie aber wollen das nicht. Sie wollen, dass wir Tataren genannt werden, und niedriger stehen als sie. Das ist das Problem.“
…vot, we etam wapros.”

O-Ton 12: Russisches Zentrum                             0,57
Regie: O-Ton während des Erzählers kommen lassen,  nach Erzähler vorübergehend ganz hochziehen, abblende, hörbar unterlege, hochziehen, abblenden

Erzähler:
Ganz andere Töne schlagen uns entgegen, als unsere tatarischen Gastgeber mit uns zum russischen Zentrum hinüberfahren, damit wir, wie Rafis Kaschapow sagt, auch ihre Gegenspieler kennen lernen. Hier hat die gärende soziale Desintegration der Stadt als Gegenbild zum tatarischen Nationalismus russische Ordnungsfanatiker auf den Plan gebracht, die den bekannten Demagogen Wladimir Schirinowski noch als Weichling beschimpfen. 93% der Verwaltung von Nabereschnye Tschelni werde von Tataren gestellt, behauptet der Vorsitzende des Zentrums; an allen Schulen werde tatarisch gesprochen, nicht eine gebe es, an der nur russisch gesprochen werde. Überall in den Medien höre man ständig tatarische Lieder, wann höre man mal richtige russische?

Regie: vorübergehend hochziehen

„Und wer hat Europa vor den Mongolen gerettet?“, entrüstet sich der Vorsitzende, als die Sprache auf die russische Kolonisation kommt. „Die Tschuwaschen? Die Tataren? Nein, wir! Wir waren es, die Russen! Tschingis Chan hatte die Bolgaren doch schon überrannt! Wenn wir Russen nicht gewesen wären, dann wäre heute nichts mehr! Wir haben Europa gerettet, so wie wir Europa auch vor Hitler gerettet haben! Nicht ihr Deutschen, wir Russen haben Europa gerettet! Verstehen Sie? Wir! Nicht die Amerikaner, nicht die Engländer, nicht die Franzosen, erst recht nicht die Polen!“
… nje tjem bolje nje poljaki.“

Erzähler:
Tatarstans Präsident nehme sich das Recht, die Einheit Russlands in Frage zu stellen, fährt der Vorsitzende fort. Aber wozu brauche Tatarstan einen eigenen Chan? Wozu brauche Russland viele kleine Präsidenten? Es gebe doch schon einen Präsidenten in Moskau!

O-Ton 13: Russisches Zentrum, Forts.                                 1,51
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,40 vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Tschuwaschien – existiert es?“ schreit er. „Mordawien – existiert es?“ „Die Tataren – existieren sie? – Ja? Sie existieren? – Also, wenn wir sie vernichtet hätten, wie könnten sie da existieren?“ Einwände fegt er beiseite: „Kolonie?  Was für eine Kolonie? Bei uns kann es überhaupt keine Kolonie geben. Im Zarismus, bei den Imperatoren waren die Tataren die gebildetsten Leute.“ Von welcher Kolonie man da reden könne, bitte von welcher Kolonie.

Regie: Bei 0,40 zwischendurch hochziehen

Erzähler:
Fragen und Einwände der Besucher ertrinken in einem Monolog des Vorsitzenden über die Notwendigkeit, russische Kultur gegen die jüdische bolschewistische Revolution und gegen das heute wieder herrschende Judentum durchzusetzen. Putin sei der erste Schritt in die richtige Richtung, der Krieg gegen die Tschetschenen notwendig, er werde irgendwann mit einem Frieden enden wie jeder Krieg. So sei das nun einmal mit Kriegen! Als die Gäste schließlich zum Aufbruch drängen, müssen sie schließlich noch eine Einladung zu Tee, Keks  und Wodka über sich ergehen lassen. Dann ist dieser Spuk vorüber.
…allmählich ausblenden….

Erzähler:
Zurück im tatarischen Zentrum stoßen wir nun auch dort auf Vertreter eines härteren Kurses, allerdings in sanfterer Sprache. Das ist vor allem ein junger Mann mit einem mächtigen Vollbart, den Rafis Kaschapow lachend als „Wahabiten“ ankündigt. Scheich Adin, wie der bärtige junge Mann sich selbst vorstellt, ist Vorsitzender des islamischen Zentrums von Nabereschnye Tschelni.
Gefragt, wie er sich fühle, wenn er „Wahabit“ benannt werde,  antwortet er:

O-Ton 14: Scheich Adin                    1,21
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim 0,39 (Lachen) kurz hochziehen, danach abblenden

Übersetzer overvoice:
„Nu, snaetje…
„Nun, wissen Sie, in der letzten Zeit hat dieses Wort eine negative Bedeutung in Russland bekommen. Obwohl ohne jede Untersuchung, werden die politischen Ereignisse im terroristischen Spektrum doch irgendwie einem Wahabismus zugeordnet. Aber niemand kann erklären, was ein Wahabit ist. Man benennt einige äußere Faktoren, langer Bart zum Beispiel; wenn man es aber nur am Bart festmacht, dann sind die Vorstände der orthodoxen Kirche wohl auch Wahabiten!“

Regie: Zum Lachen bei 0,39 zwischendurch aufblenden

Übersetzer overvoice, Forts.
„Niemand hat bisher erklärt, was eigentlich der Wahabismus ist, der sich jetzt angeblich in Russland ausbreite. Ich lasse mal Saudi-Arabien mit der Ideologie Abdulla Wahabs außen vor. Auf der Ideologie Abdulla Wahabs ist der ganze Saudi-Arabische Staat aufgebaut, aber das ist rein örtlich. Die Schattierungen in Russland jedoch betreffen ein weites Spektrum unterschiedlicher Leute. Ich zum Beispiel bin einfach nur ein Mohammedaner, der findet, dass es an der Zeit ist, den Höchsten zu verehren. Aber schon solche Menschen werden als Radikale, als Fundamentalisten usw. betrachtet.“
…fundamentalistom i protsche.“

Erzähler:
„Sie werden verfolgt“, fährt er fort, „und unter Druck gesetzt.“ Die Regierung versuche, den Islam in ein Reservat abzudrängen. „Aber der Islam“, so Scheich Adin, „das ist das Leben.“
Der Islam ist in Tatarstan und an der Wolga verankert, das ist für Scheich Adin keine Frage. Aber Islam und Tatarstan sind für ihn nicht identisch. Der Islam sei unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit. Worauf es ankomme, sei, nach den Gesetzen Allahs zu leben.
Was er darunter verstehe?

O-Ton 15: Scheich Adin, Forts                                                        0,44
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna tschelowjek…
„Natürlich muss der Mensch nach Idealen streben. Der Mensch hat ja immer nach dem idealen Leben gestrebt und nach dem idealen Staat, nach idealen Gemeinschaftsstrukturen. Früher gab es viele Philosophen. Auch Christus. Es ist aber klar geschrieben, dass der Koran die endgültige Überlieferung Allahs ist, weil es dort keine Abweichungen gibt. Alle anderen Bücher enthalten schon Abweichungen durch die Menschen und all das.“
…at tschelowjeka ot wsjewo.“

Erzähler:
Die Reinheit des Islam wiederherzustellen, ist das Ziel Scheich Adins. Dieses Ziel müsse ein Muslim mit allen Kräften anstreben. Illusionen macht Scheich Adin sich allerdings nicht. Eine Vereinigung der Moslems für dieses Ziel werde es nicht geben, meint er, nicht in der Welt und nicht in Russland. Dafür sei die Angst und das Misstrauen zwischen den Menschen zu groß. Wichtig aber sei, sich gegenseitig zu helfen.
Ob das auch für Tschetschenien gelte?

O-Ton 16: Scheich Adin, Forts.                                                     0,53
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesdestwenna…
„Selbstverständlich! Ich würde sogar sagen: Die Hilfe kann unterschiedlich aussehen – mit dem eigenen Leben, wie es viele von hier gemacht haben, die dort hingefahren sind, um auf der Seite der Tschetschenen zu kämpfen. Das waren vornehmlich Muslims –  uneigennützig, ohne Geld, Kämpfer für Allah.
Dann gab es auch finanzielle Hilfe und es gab diejenigen, die sich einfach dem Strom der finanziellen Hilfsgüter für die Opfer in Tschetschenien anschlossen. Unter ihnen Rafis Kaschapow, der Leiter des Tatarischen Zentrums. Der war mehrere Male in Tschetschenien mit humanitärer Hilfe.“
…gumanitarnom pomotschom.“

Erzähler:
Die jungen Leute in unserer Stadt suchen nach Aufgaben, so Scheich Adin. Und die, die sich an uns wenden, sind nicht hinunter gefahren, um nur humanitäre Hilfe zu leisten:

O-Ton 17: Scheich Adin, Forts.                                                     0,52
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Vosnawnom i maladjosch nasche..
„Unsere jungen Leute kämpfen dort vor allem. Das entscheidet jeder für sich selbst und begibt sich auch selbst dort hin. Viele sind bis heute dort. Es gibt auch Gefallene, obwohl wir im Islam ja nicht von Gefallenen sprechen: Die ihr Leben für Allah verlieren – die nennen  dem Schahid. Sie sind etwas Besonderes, man begräbt sie nicht so wie andere. Es heißt, dass sie gleich aufsteigen. Sie stehen höher als alle anderen Muslime.“

Erzähler:
Aber auch wenn sie sich persönlich entschieden, setzt Scheich Adin noch hinzu, unterstütze das Komitee diese jungen Männer natürlich: Schließlich erfüllten sie den Willen Allahs
…wolje Allacha.“

Erzähler:
Gegen solche Töne klingt die Klage des Vorsitzenden der örtlichen tschetschenischen Gemeinschaft, der mit bitteren Worten die elende Lage der tschetschenischer Flüchtlinge in der örtlichen Diaspora und die Schikanen der örtlichen Behörden gegen sie schildert, schon beinahe milde. Nicht nur milde, sondern freundlich stimmt ein abschließender Blick in den großen Versammlungsraum des Zentrums, wo sich eine Gruppe jüngerer und älterer Frauen – in Kopftüchern, aber mit offenen, fröhlichen Gesichtern  – zur abendlichen Koranschule versammelt hat:

O-Ton 18: Frauen in der Koranschule                             26,8
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Lachen, „Strastje“, „Isutschajem Islam….
„Wir lernen den Islam“, erklärt die Lehrerin bereitwillig. „Es beginnt mir lautem Lesen und Gebeten; Moral lernen wir auch, wie man sich richtig verhält.“
… sebja vesti.“

O-Ton 19: Koranschule, Forts.                     559
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.50 zwischendurch hochziehen, abblenden, weiter unterlegen, nach (zweitem) Erzähler zum Stichwort „spassibo“, abblenden

Erzähler:
Sie unterrichte nur Frauen, fährt die Lehrerin fort. Für Männer gebe es gesonderten Unterricht, ebenso für Kinder.
„Wir hören hier zu und schreiben mit, zuhause lernen wir es auswendig“, sagt eine der Frauen. „Wir geben uns Mühe, alles richtig zu lernen, denn wenn wir es verfälschen, werden wir von Gott bestraft.“
Eine andere Frau zeigt ein Heft: „Da hinein schreiben wir alles“, sagt sie, „es ist für die Hausaufgaben“.
„Es ist wie in der Schule“, lachen die Frauen.

Regie: Beim Lachen zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Früher war ja alles verboten“, meint eine Frau. Jetzt könne man endlich wieder lernen. „Wir sind sehr glücklich darüber.“, ergänzt eine andere, „So stehen wir endlich wieder rein vor Gott.“
Mit guten Wünschen verabschieden sie uns.
…spassibo

O-Ton 20:  Wassili im Auto                                                0,59
Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, nach Erzähler hochziehen, unter dem Übersetzer abblenden, nach dem Übersetzer hochziehen, danach mit Athmo 2 verblenden

Erzähler:
So geht es heimwärts nach Tschuwaschien. Mehr noch als wir, ist Wassili, unser treuer Begleiter, erfüllt, von dem, was er gehört hat. In der Arbeit des Zentrums sieht er die adäquate Antwort auf die soziale Desintegration und die Degradierung der eigenen, wie es in Russland heißt, nationalen Identität, von denen er sich bedroht fühlt:

Übersetzer overvoice:
„Moja wpetschetlennije…
„Mein Eindruck von dieser Reise und den Gesprächen mit den Leitern der Organisationen ist sehr befriedigend. Das tschuwaschische Kulturzentrum und andere können hier lernen…

Regie: Athmo 2 verblenden, Musik unter dem Erzähler allmählich hochziehen, danach frei stehen lassen, ausklingen lassen.

Erzähler:
Er lässt offen, was ihn mehr beeindruckt hat: die Aktivismus der Männer oder die fröhliche Entschlossenheit der Frauen. Eine Entscheidung zwischen beidem muss  er hoffentlich niemals treffen.

GASPROM – Anatomie eines Giganten

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben, ein Unterstrich kennzeichnet die Betonung.
GASPROM = GASPROM. RAO EUS = RAO EUES

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 5.sec. pro Zeile plus 5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Text und Ton nicht wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema habe ich besonders angegeben.

Am Ende der O-Töne bitte leicht abblenden, um die etwas harten Schnitte aufzufangen.

Achtung:
GASPROM wird – je nachdem er/sie/es im Kontext als Gigant, Korporation, Organisation, Konzern, Monopol uä. bezeichnet wurde – als „er“, „sie“ oder „es“ angesprochen.

Freundliche Grüsse

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

GASPROM – Anatomie eines Giganten

In Russland soll weiter reformiert werden. Das verkündet sein neuer Präsident Wladimir Putin. Bei der Frage, worum es dabei zukünftig gehen soll, stösst man auf eiserne Strukturen. Sie heißen „GASPROM“, „RAO EUS“, „MGS“. Das sind die Kürzel für die in Russland so genannten „natürlichen Monopole“, Gasversorgung, Energiewirtschaft, Eisenbahn. GASPROM, der Gas-Gewinnungs-Komplex, ist der Gigant unter diesen Giganten. Er kontrolliert 35% des Weltgasaufkommens. Ein Drittel des westeuropäischen, vor allem des deutschen Gasverbrauchs, wird über GASPROM gedeckt. GASPROM – das sind mehr als 10.000 Bohrstellen, mehr als 14.000 Kilometer zentraler Pipelines. Bei GASPROM arbeiten gut 370.000 Menschen. Nicht nur Russland, auch die Länder der ehemaligen Sowjetunion hängen an den Röhren von GASPROM. Über ein Drittel des russischen Staatsbudgets wird von GASPROM getragen. Bei GASPROM werden die höchsten Löhne Russlands gezahlt. GASPROM-Personal besetzt Führungsfunktionen des Staates. Der langjährige Ministerpräsident Tschernomyrdin war vordem Chef von GASPROM. Mit 250 Milliarden Rubel Steuerschulden, das ist die Hälfte des Staatsbudgets, ist GASPROM allerdings auch der größte Schuldner der russischen Regierung.
So ließe sich die Liste der Superlative fortsetzen. Das Wichtigste ist jedoch, dass GASPROM, dazu noch das Energiemonopol und die Eisenbahn, der  stärkste Brocken ist, der einer weiteren Privatisierung in Russland heute entgegensteht. Vergleichbare Bedeutung hat nur noch die Frage von Grund und Boden.     Schon die sogenannten „Jungen Reformer“, allen voran Boris Nemzow, scheiterten an GASPROM und dessen Lobby in der Staatsduma, als sie 1997 auf Drängen des Internationalen Währungsfonds in einer zweiten Reform-Welle zur endgültigen Privatisierung der „natürlichen Monopole“ ansetzen wollten:

O-Ton 1: Itogi    37,41
Regie: Kurz stehen lassen, nach Einsetzen des Sprechers allmählich abblenden

Erzähler:
Den „Skandal der Woche“ meldete das russische Fernsehen in der zweiten Aprilhälfte 1977, nachdem der Chef von GASPROM, Rem Wjecherew in der Duma öffentlich Lieferstop angedroht hatte, wenn die Regierung auf dem sofortigen Begleichen der Steuerschulden von GASPROM bestehe. Die Mehrheit der Duma unterstützte seinen Auftritt.
Boris Nemzow, kurz zuvor von Präsident Jelzin in die Regierung geholt, um die steckengebliebenen Reformen zu forcieren, zeigte sich ratlos:

O-Ton 2: Boris Nemzow     36,96
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abbblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Maja sadatscha stoit …
„Meine Aufgabe ist es, Schluss damit zu machen, dass diese großen Monopole das Land regieren. Mich wundert deshalb, wie die Frage von GASPROM in der Duma behandelt wurde.“
…Dumje.“
Erzähler:
Boris Nemzow konnte sich nicht durchsetzen. Ein Jahr später folgte der große Bankenkrach. Das Spekulationskapital brach zusammen, der Rohstoffexporteur GASPROM dagegen ging gestärkt aus der Krise hervor. Spekulanten gehen, so der Volksmund, aber GASPROM besteht.
Inzwischen, drei Jahre später, trotz Ablösung der jungen Reformer, trotz Rücktritt von Boris Jelzin und ungeachtet der Zähmung der Duma durch Wladimir Putin steht die Frage der „natürlichen Monopole“, allen voran GASPROMs nach wie vor auf der Liste der ungelösten Probleme des Landes. Das wird nirgendwo deutlicher als bei den Kommunisten, deren Kandidat Gennadij Szuganow Wladimir Putin bei den Präsidentenwahlen zwar unterlag, die aber nach wie vor mit rund 30% der Wählerstimmen ein beachtenswertes Protest- und gegebenenfalls auch Störpotential darstellen.
Wladimir Filippow, Sekretär der kommunistischen Duma-Fraktion für internationale Beziehungen, betont zwar die Kooperationsbereitschaft der kommunistischen Abgeordneten gegenüber der neuen Regierung. In der Frage der natürlichen Monopole aber sagt er dem neuen Präsidenten Schwierigkeiten voraus:

O-Ton 3: Wladimir Filippow    59,83
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, GASPROM eta…
„Nun, GASPROM ist für ihn auch ein großes Problem, überhaupt die Aufteilung der natürlichen Monopole. Zersplitterung, das ist für uns eine große Bedrohung, denn für ein solches Land, mit einem solchen Raum, einem solchen Territorium bilden die natürlichen Monopole den  verbindenden Halt. Wenn man jetzt die Eisenbahn, GASPROM oder RAO EUS, also die Energiewirtschaft in kleine Stückchen aufteilt, dann wird das nur negative Folgen haben. Die Bedingungen sind überall unterschiedlich: Die Entwicklung der nördlichen Regionen kann man schon aus rein klimatischen Gründen nicht mit den südlichen vergleichen usw. Das heißt, aus wirtschaftlichen und aus anderen Gründen wird diese Frage das Examen für ihn sein.“
…budit examen.“

Erzähler:
Es wird also auch in Zukunft Konfrontationen um diese Fragen geben?

O-Ton 4: Wladimir Filippow     51,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da, ja dumaju da…
„Ich denke ja, da gab es erst kürzlich wieder Gespräche, dass GASPROM sich selbst aufteilen wollte. Diesmal war die Regierung dagegen. Selbstverständlich, den Kampf um GASPROM gab es, gibt es und wird es immer geben. Das ist einfach ein kolossales Geld und alle diese finanziellen Ströme müssen natürlich kontrolliert werden. Putin hat Einfluss auf Einiges, aber GASPROM wird noch nicht vollkommen von den Leuten kontrolliert, die es gern kontrollieren möchten. Aus dieser Sicht wird der Kampf um GASPROM sich fortsetzen.“
… prowoditsja.“

Erzähler:
Über den Inhalt der Gespräche will oder kann Wladimir Filippow nichts sagen. Es scheint, als sei GASPROM von einem diplomatischen Schleier umgeben. Auch aus dem Hauptquartier der Organisation sind keine aktuellen Kommentare zu bekommen. Was zu bekommen ist, sind Jahresbilanzen und turnusmäßige Pressemitteilungen. Sie haben allerdings die Geschmeidigkeit von Regierungsverlautbarungen. In ihnen erklärt der Vorsitzende Rem Wjecherew, dass sich an der Politik von GASPROM nichts geändert habe, dass es erfolgreich bemüht sei, seine Exporte sowohl nach Europa als auch nach Asien expansiv zu entwickeln, neue Technik einzuführen, sich offen zu halten für die Marktentwicklung usw.
Bemerkenswert ist allerdings das von Jahr zu Jahr lauter werdende Eingeständnis, dass die Schulden der russischen Verbraucher an GASPROM beständig steigen. Das betrifft Haushalte ebenso wie Unternehmen oder öffentliche Stellen. 1998 waren es noch 79 Millionen Rubel; damit war fast ein Drittel des Jahresverbrauchs nicht bezahlt. Dazu kommt noch die Tatsache, dass ohnehin häufig nicht in Cash, sondern in Verrechnungen bezahlt wird. Für 1999 waren bereits 109 Milliarden Rubel nicht bezahlter Rechnungen aufgelaufen. Sperrung der Lieferung, erklärt die GASPROM-Leitung, sei jedoch keine Lösung des Problems. Es müssten „andere Wege“ gefunden werden, wobei offen bleibt, welche „anderen Wege“ gemeint sind.
Ungezahlter Schulden zum Trotz rühmen sich GASPROMS Hochglanzbroschüren aber einer eigenen Bildungs- und Sozialpolitik: Aufwendige Forschungsprogramme in eigenen wissenschaftlichen Labors, wachsender Einsatz für Unterhaltung und Neugründung eigener Schulen und Institute, Wohnhäuser, Kindergärten, Krankenhäusern, Kantinen und sogar Sonderpensionen für die eigene Belegschaft werden jährlich bilanziert. Auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes nimmt GASPROM eine Pionierrolle für Russland für sich in Anspruch.
Wer Genaueres wissen will, ist jedoch auf eigenes Nachforschen angewiesen. Einmal auf diesem Weg, findet man sich allerdings sehr schnell bald im Herzen der russischen Wirklichkeit: GASPROM ist überall. Wird der Name GASPROM ausgesprochen, gibt es in der Regel, selbst unter den abgeklärten russischen Intellektuellen, heftige Reaktionen.
Typisch dafür  dürfte ein Mann wie Wjatscheslaw Nikonnow sein. Er ist Leiter einer „Stiftung Politik“. Er bezeichnet sich selbst als Konservativen. Seine Ansichten hat er soeben in einem dicken Wälzer unter dem Titel: „Was ist russischer Konservativismus“ niedergelegt. 1999 arbeitete er für den Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, inzwischen ist er Parteigänger von Wladimir Putin, wenn auch ein skeptischer. Bei der Erörterung von Putins Programm kommt er, als könnte das gar nicht anders sein, auf die Rolle von GASPROM und RAO EUS zu sprechen. An ihnen, meint Nikonnow führe für Putin kein Weg vorbei. Gefragt, welchen Unterschied er zwischen den Giganten sehe, platzt der Analytiker ganz untheoretisch heraus:

O-Ton 5: Wjatscheslaw Nikonnow     43,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nikakoi…
„Überhaupt keiner. Die eine wie die andere Korporation ist ein Monopol. Und da wie dort wird gestohlen. Die einen, GASPROM bezahlen nur etwas mehr ins Budget als die anderen. Das ist alles.“

Erzähler:
Im Übrigen, setzt Nikonnow hinzu, habe Russland immer ein korporatives System gehabt, das sich auch unter Jelzin nicht aufgelöst habe. Auch unter Jelzin habe es keine Demokratie gegeben. Daran werde sich nichts ändern.
…Nitschewo nje ismenjajetsja. Absolutna.“

Erzähler:
Politisch von der entgegengesetzten Seite kommt André Kolganow, Doktor der Wirtschaftswissenschaften an der Staatlichen Moskauer Universität, MGU. Er ist Mitglied in einem kleinen reformsozialistischen Kreis rund um die Theoriezeitschrift „Alternative“. In der Beschreibung von GASPROM aber stimmt er mit dem Konservativen Nikonnow überein:

O-TON 6: André Kolganow     47,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„GASPROM dastatitschna…
„GASPROM ist zur Zeit eine ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. Solche Strukturen gibt es in Russland heute wenige. Außer GASPROM  kann man da noch das Ministerium für Reisebeziehungen, also die Eisenbahn, und das Einheitliche-Energie-System, RAO EUS nennen. Zwar hat sich der Status dieser Organisationen verändert. Es veränderten sich auch einige wirtschaftliche Beziehungen. Aber ihre Führungsstruktur hat sich mehr oder weniger erhalten wie zu sowjetischen Zeiten.““
…Sowjetski wremia.“

Erzähler:
Neu sei, so Dr. Kolganow, dass der Staat die Preise für Gas und für die Stromtarife nicht mehr bestimme. Er wirke zwar auf die Preispolitik ein, könne sie aber nicht mehr direkt festlegen. Der Staat reguliere auch die Beziehung zwischen Stromverbrauchern und Lieferanten nicht mehr. Die seien jetzt „näher am Markt“. Formal seien diese Organisationen privatisiert worden: GASPROM sei heute eine Aktiengesellschaft, an welcher der Staat 40% halte; die übrigen 60% lägen bei den Betreibern von GASPROM selbst und bei ausländischem Kapital. Allerdings dürfe das ausländische Kapital 9% nicht übersteigen. Aber hier habe sich, so Dr. Kolganow, ein befremdliches Phänomen eingestellt.

O-Ton  7: André Kolganow    53,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„No sdjes prisaschli…
„Seit der Privatisierung verfügt GASPROM über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von GASPROM unterstellt; GASPROM führt also Aufsicht über sich selbst. GASPROM ist eine merkwürdige Organisation: nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. GASPROM ist überhaupt eine ziemlich mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“
… zeli imperi.“

Erzähler:
Besonders erwähnenswert ist auch für Dr. Kolganow der korporative Aufbau GASPROMS:

O-Ton 8: André Kolganow    1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela w tom tschto…
“Die Sache liegt so: Vor Beginn der radikalen Markt-Reformen hatten praktisch alle Unternehmen der Sowjetunion ihre eigenen sozialen Strukturen. Sie bestimmten die soziale Lage ihrer Arbeiterschaft. Mehr noch, GASPROM als eine der reichsten Organisationen – jetzt die reichste überhaupt, insofern sie mit dem Export von Ressourcen zu tun hat – konnte einen wesentlichen Teil ihrer sozialen Infrastruktur erhalten. Sie zahlt ihren Arbeitern ein ziemlich hohen Lohn und bietet soziale Leistungen. Die höchsten Löhne gibt es zur Zeit im Banksektor, danach bei den ölfördernden und gasfördernden Industrien und der Elektroenergie.“
…i Elektroenergetiki.“

Erzähler:
Erstaunliches hört man von dem Doktor der Wirtschaften über die Beziehung zwischen GASPROM und den russischen Oligarchen: Nicht Konkurrenz, wie man nach den Ereignissen von 1997 und 1998 annehmen sollte, sondern Zusammenarbeit bestimme deren Umgang miteinander. Auch das politische Urteil Dr. Kolganows über GASPROM verblüfft: Obwohl seiner Struktur nach autoritär und nicht demokratisch habe GASPROM doch kein Interesse an einer Restauration:

O-Ton 9: André Kolganow     32,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„GASPROM…
„GASPROM ist an einer Restauration der früheren sowjetischen Ordnung nicht interessiert; Gasprom wollte die marktwirtschaftlichen Reformen. In erster Linie deshalb, weil diese Reformen ihr freie Hand gaben für den Verkauf von Gas ins Ausland und die Möglichkeit ihre Einnahmen zu erhöhen. Deshalb pflegt GASPROM beste Beziehungen zur gegenwärtigen Macht und ihren Politikern.“
…ninischni wlasti.“

Erzähler:
„Mehr noch“, meint Kolganow:

O-Ton 10: André Kolganow    18,37
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A na schot sozialnich…
„Was die soziale Frage betrifft, so kann sich GASPROM den sozialen Kompromiss mit den eigenen Arbeitern leisten. An den übrigen ist GASPROM soweit interessiert, dass keine Massenunruhen entstehen – nicht mehr.“
…Nje bolje tawo.“

Erzähler:
Im Büro der Moskauer freien Gewerkschaften bestätigt ihr Präsident Michail Nagaitzew diese Einschätzung. durch eine aktuelle Nachricht, die ein grelles Licht auf GASPROMs Haltung zur Demokratie wirft. Leise, fast als scheue er das Mikrofon, erklärt er:

O-Ton 11 Michail Nagaitzew     32,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Oni sejtschas…
„Sie haben jetzt gerade ihre eigene Gewerkschaft gegründet. Eine überregionale Gewerkschaft, soweit das Gesetz das erlaubt. Sie hatten gerade eine Konferenz. Man wird sehen, wie sie mit den anderen Gewerkschaften arbeitet. GAS-Öl-Gewerkschaft nennt sie sich.“                 …nasiwajetsja, zentralni komitet.“

Erzähler:
Weitere Auskünfte über GASPROM wehrt der Präsident der Moskauer freien Gewerkschaften ab. Gespräche über GASPROM, bescheidet er den neugierigen Westler, bedürften der längeren Vorbereitung.
Verständlich, denn die Beziehungen der Mehrheit der russischen Bevölkerung gegenüber GASPROM, insbesondere in den in sogenannten „Provinzen“, ist nicht gerade besonders einfach. Nur eine Tagesreise von Moskau zum Beisspiek, an der mittleren Wolga, in der Industriestadt Tscheboksary, wo die Bevölkerung von Arbeitslosigkeit und dem Zerfall der früheren Versorgungsstrukturen heimgesucht wird, ist man überhaupt nicht gut auf GASPROM und seine Belegschaft zu sprechen:

O-Ton 12: Arbeiter in Tschboksary     44,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ah, GASPROM…
„Ach, GASPROM! Nun die GASOWIKI gewinnen bei uns Gas; überall auf dem Lande gewinnen sie Gas. Aber ich finde, das Gas sollte Eigentum des Volkes sein, das heißt, es sollte Gerechtigkeit in der Eigentumsfrage geben.
Die Menschen, die in der Fabrik arbeiten und die, die am Gas arbeiten, müssten den gleichen Lohn bekommen. Jetzt aber ist es so, dass die GASOWIKI ein wahnsinniges Geld machen, während die in der Fabrik nicht mal ihre Kopeken bekommen.“
…polutschit.“

Erzähler:
Die Bevölkerung Russlands, soweit sie nicht zur Belegschaft von GASPROM gehört, fühlt sich ausgeraubt. GASPROM, obwohl der Form nach sowjetisch, erweist sich doch als der größte Gewinner unter den Krisengewinnlern. Weit entfernt davon, als Modell gegen den Zerfall der alten Strukturen zu wirken, verschärft er ihn bis zur Spaltung der Bevölkerung: GASPROM ist nicht nur ein Staat im Staate, sondern auch eine privilegierte Gesellschaft in der Gesellschaft. Da geht der Streit mit den Oligarchen offenbar nicht ums Prinzip, sondern um den größeren Anteil
Für Boris Kagarlitzki, den im Westen bekanntesten radikaldemokratischen Kritiker, ist diese Tatsache Ansatzpunkt für eine besondere Kritik der Organisation:

O-Ton 13: Boris Kagarlitzki     1,18,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ponimaesch, GASPROM…
„GASPROM, ist ein ernsthaftes Thema, weil darin die alten Strukturen des  sowjetischern Korporativismus erhalten sind. GASPROM ist das Beispiel dafür, wie nicht–kapitalistische Strukturen zum Kapitalismus streben. GASPROM organisiert die Beziehungen seiner Werktätigen auf seine Weise, ganze Regionen sind rein von GASPROM aufgebaut. Dieser ganze sowjetischen Paternalismus ist nicht nach Marktbeziehungen begründet, nicht auf dem freien Lohnarbeiter, sondern nach ganz anderen Beziehungen der Unterordnung, der Verwaltung usw. Auf der anderen Seite aber ist GASPROM eine total kapitalistische Korporation, weil er schon auf dem internationalen Markt arbeitet, sich am Kapitalexport beteiligt usw. Durchaus möglich, dass die Erfolge der Korporation auf dem internationalen Markt geringer wären, wenn GASPROM im inneren kapitalistischer wäre.“
…garasda mensche.“ lacht

Erzähler:
Sowjetischer Korporativismus, von dem Kagarlitzki wie die anderen Gespprächspartner vor ihm spricht – darunter sind die Strukturen des sowjetischen Lebens zu verstehen, die sich aus der Verstaatlichung und Industrialisierung der traditionellen russischen Bauerngemeinde, der Obschtschina ergaben. Aus ihr gingen die sowjetischen Kolchosen und Sowchosen, also die kollektiven landwirtschaftlichen Betriebe, ebenso aber auch die betrieblichen und wissenschaftlichen Arbeitskollektive hervor. In ihnen war betriebliches und außerbetriebliches Leben in einer Pyramide organisiert, an deren Spitze die Führung aus Partei, Gewerkschaft und Betriebsleitung stand. Innerhalb der Pyramiden bestimmten Tauschbeziehungen das Leben – Arbeit gegen soziale Versorgung und Sicherheit, Erst im Austausch zwischen den Pyramiden bekam der Geldverkehr seine eigentliche Bedeutung. Dies alles, so Boris Kagarlitzki, spiegele sich in GASPROM wider, das von diesen Sdtruikturen profitiere:

O-Ton 14: Kagarlitzki, Forts.     1,22,84
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei „What is good for…“ hochziehen bis zum Schluß stehen lassen.

Übersetzer:
„Ja prosta imeju vidu…
„Man hat dort viel zu verbergen. Viel! Es ist eben klassisches Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft effektiv arbeitet, die in sich nach wie vor sowjetisch organisiert ist:  GASPROM bestiehlt sich ständig selbst. Geld, das aus dem Gas-Sektor kommt, wird auf andere Sektoren verschoben. Auf Staatsebene läuft es überhaupt genial: Zwar hält der Staat 40% der Aktien, aber er hat ausdrücklich auf Zahlung von Dividenden verzichtet, damit das Geld in Investitionen gehen kann. Tatsächlich werden mit diesem Geld jedoch Projekte finanziert, die absolut nichts mit Gas zu tun haben. Zudem hat man die Kontrolle an die Führung überschrieben. Kurz, der Staat hat alle Ansprüche abgegeben außer denen auf Steuern und die bezahlt GASPROM nur teilweise mit der Behauptung der Staat schulde dem Unternehmen seinerseits die Bezahlung der Lieferungen. So kommt schließlich Wjecherews Losung zustande wie seinerzeit Fords: „What is good for General Motors is good für America.“ Bei Wjecherew heißt das: `Was gut ist für GASPROM, das ist auch gut für Russland.´
478… choroscho glja Rossije.“

Erzähler:
Einen Insider-Einblick in diese Strukturen GASPROMs  gibt ein leitender Mitarbeiter der Gesellschaft. Nennen wir ihn Sergej Sergejew. Sergej arbeitet in einem Moskauer Tochterunternehmen der Korporation. Er möchte seinen tatsächlichen Namen und seine Funktion nicht öffentlich genannt wissen, weil er daraus Nachteile für seine Position befüchtet.     Sergei bestätigt die Beschreibungen GASPROMs als Monopol, das im alten sowjetischen Stil geführt werde. Entscheidend aber ist aus seiner Sicht die Schuldenfrage. Im ersten Schritt macht er noch die Reformer verantwortlich. Sie hätten, meint Sergej, durch ihre Politik eine anarchische Situation geschaffen, in der niemand niemanden entsprechend geltender Gesetze bezahle, in der stattdessen alles – bis hin zu den Steuern – Sache von Verhandlungen und Beziehungen sei:

O_Ton  15: Sergei, Forts.     36,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Idjot wechselej..
„Die Verrechnungen laufen über Wechsel, über gegenseitige Verschuldung, über einfachen Warenaustausch oder auch über primitivsten Austausch von Privilegien, also etwa: `Wir veranlassen den Leiter dieser oder jener Branche loyal gegenüber der Adminstration zu sein und sie berechnet uns weniger Steuern.´ So treten alle auf. GASPROM ist keine Ausnahme.“
…nje isklutschennije.“

Erzähler:
Bei der Erörterung der korporativen Strukturen von GASPROMs jedoch kommt Sergej ins Plaudern. Auf die Frage, ob man sie auf nicht-kapitalistische Wurzeln zurückführen könne, antwortet er:

O-Ton 16: Sergei, Forts.    35,00
Regie: O-Ton von kürzer stehen lassen, abblenden, unterlegen, hinten beim Stichwort „extrapolarre Ökonomie“ hochziehen, dann allmählich ablenden

Übersetzer:
„Prinzipje wy prawi…
„Im Prinzip haben Sie recht, obwohl in GASPROM auch andere Gesetze wirken. In den unteren Schichten der Bevölkerung überlebt man ja vielfach auf Grund dessen, was englische Ökonomen die `extrapolare Ökonomie´ genannt haben., also eine Wirtschaft, die außerhalb der klassischen Schemata liegt.“                …schema

Erzähler:
Viele kleine Gruppen in Russland, erzählt Sergej, auf dem Dorf, in der Familie, ganze Zusammenhänge von Familien, Clanverwandte usw. könnten nur durch gegenseitige Hilfe überleben. Menschen, die in der Provinz leben, aber Kinder in Moskau haben, überleben nicht mit dem Geld, sondern mit den Produkten, welche die Kinder ihnen bringen. Oder auch umgekehrt: Eine Gruppe Verwandte unterhält Garten, Kühe, Schweine, rackert wie die Sklaven nur damit ihre Kinder in Moskau überleben können oder umgekehrt, die Kinder erarbeiten Geld, um ihre Eltern zu unterhalten. Solche Wirtschaftsformen, schießt Sergej, habe er in ganz Europa nicht gesehen, auch nicht in Osteuropa. Die gebe es  nur in Russland und trotz seines transnationaler Charakters seien die verschiedenen Unternehmen von GASPROM in Russland selbst wohl auch Teil dieser Struktur:

O-Ton 17: Sergei, Forts.    40,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Schto kassajetsja…
„Was die transnationalen Aktivitäten betrifft, so handelt GASPROM wie eine normale, europäische, westliche Korporation. Was GASPROMs Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der èxtrapolaren Wirtschaft´, aber über sie ist GASPROM doch gezwungen, sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“
…rossiskuju spezifiku.“

Erzähler:
„Sich den russischen Besonderheiten anzupassen“ – das bedeutet, GASPROM existiert halb nach den Gesetzen des globalisierten Marktes und halb nach den Tauschgesetzen der traditionellen russischen Gemeinschaftsstrukturen: Obschtschina, Sowchose, Kolchose, Betriebskollektiv. GASPROM ist Bindeglied zwischen kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Welt. Das ist seine soziale und wirtschaftliche Wirklichkeit. Damit hat Sergej Sergejew die allgemeinste Charakteristik von GASPROM gegeben. Und damit ist GASPROM beispielhaft für die Entwicklung ganz Russlands. Kein Wunder also, dass GASPROM zum Streitapfel der Nation wird, den besonders auch die vaterländischen Kräfte politisch für sich vereinnahmen möchten.
„Der Kampf um GASPROM“, so formuliert es dementsprechend Alexander Prochanow, wortgewaltiger Propagandist des sich selbst so bezeichnenden patriotischen und imperialen Lagers, „ist der Kampf um den Staat.“

O-Ton 18: Alexander Prochanow    1,41,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„GASPROM ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist ganz sicher für den Staat nützlich. In ihr gewinnt man riesige Gelder. GASPROM bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat GASPROM die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. GASPROM hat zugleich sehr viele Verbindungen zum privaten Geschäft. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist grässlich. GASPROM arbeitet leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen zur Seite. Aber über GASPROM verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. GASPROM reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt such auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf GASPROM zur Zeit Angriffe: Allzu lecker sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski. Deshalb ist der Kampf um GASPROM wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistischen Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen.“
… posmotrim.“

Erzähler:
Was unter der „geopolitischen Orientierung“ zu verstehen ist, erklärt Alexander Dugin, ein Gesinnungsgenosse Alexander Prochanows. Er glaubt in Rem Wjecherew einen mächtigen Verbündeten für die von ihm angestrebte euroasiatische, genauer anti-atlantische, anti-amerikanische Orientierung Russlands gefunden zu haben:

O-Ton 19: Alexander Dugin    60.09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wjecherew ewrojasiz…
„Wjecherew ist Euroasiat. Er ist Iraner von Geburt. Das ist sehr interessant. Er ist Parteigänger des euroasiatischen Patriotismus. Bei GASPROM läuft die Privatisierung sehr, sehr langsam. Praktisch gar nicht. Das Monopol bewahrt sich eine einheitliche Leitung. Damit kräftigt es den Boden für die Änderung de Politik des Landes an eine euroasiatische Orientierung. Ich denke Wjecherew ist einer der mächtigsten Unterstützer der Euroasiatischen Renaissance.“

Erzähler:
Das gelte nicht für Tschernomyrdin, den früheren Vorsitzenden von GASPROM, dessen Westorientierung „extrem negative“ Ergebnisse gebracht habe, schränkt Alexander Dugin ein. Im Ganzen aber sei GOASPROM eine Quelle euroasiatischer Kraft und Wjecherew darin eine äußerst akzepbtable Figur.
…polaschitelni figuri“

Erzähler:
In der Öffentlichkeit wurden diese Auseinandersetzungen in letzter Zeit kaum erkennbar. Während des Präsidentenwahlkampfes irrten ein paar kritische Berichte über GASPROM durch die Presse, so in dem Skandalblatt „Sowerschenno Sekretno“ (Ganz Geheim.) Das Blatt setzte seinem Artikel zwei Zitate voraus, eines von Boris Beresowski, dem bekanntesten unter den Oligarchen, das andere von Rem Wjecherew im Namen von GASPROM. Boris Beresowski wir mit den Worten zitiert:

Zitator:
„Der Staat ist der Hauptaktionär bei GASPROM und es ist vollkommen unnormal, dass dieser potentielle Finanzier gegen den Präsidenten und gegen die Regierung benutzt wird.“

Erzähler:
Rem Wjecherew darf dagegen halten:

Zitator:
„Er (Beresowski) wühlt beständig hier herum. Mir ist sehr gut bekannt, über welche unter meinen Assistenten er zu wirken versucht! Aber ich werde niemals am Zügel solcher Leute wie ihm oder Abramowitsch gehen.“

Erzähler:
„Die Zügel solcher Leute – damit sind die neureichen Oligarchen, ist die berüchtigte Jelzin-Familie, sind die unermüdlichen Privatisierer aus dem liberalen Lager gemeint, die heute Einfluss auf Wladimir Putin zu nehmen versuchen. Genaueres erfährt die Öffentlichkeit jedoch nicht. Eine Information, welchen Kurs die neue Regierung gegenüber den „natürlichen Monopolen“ verfolgt, ganz zu schweigen von einer öffentlichen Auseinandersetzung darüber, gibt es bisher nicht. Selbst Alexej Simonow, 1992 Gründer und heute Präsident der „Stiftung Glasnost“, dessen erklärtes Ziel die Schaffung von Transparenz gesellschaftlicher Vorgänge ist, wehrt die Bitte um Aufklärung über GASPROM resigniert ab:

O-Ton 20Alexej Simonow    20,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta nje k mnje…
„Das ist keine Frage an mich. Ich weiß davon nichts. Ich lese nur die Presse. Was ich da sehe, hat keine Basis. Das ist ein zu großer Maßstab, um darüber in der Öffentlichkeit zu sprechen. Was trotzdem darüber gesagt wird, sind Dummheiten.“
…to gluposti.”

Erzähler:
Der Hinweis, dass selbst die Presseabteilung von GASPROM nicht zu mehr bereit sei, als der Übergabe von Jahresberichten, entlockt ihm dann doch noch den Kommentar:

O-Ton 21: Simonow, Forts.    30,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dasche presssluschba…
„Sogar der Pressedienst ist nicht bereit? Erstaunlich! Nun, ihnen ist zur Zeit, wie ich es verstehe, auferlegt worden, dem Volk keine Furcht darüber zu machen, dass bei uns ein Krieg zwischen GASOWIKI und ENERGETIKI ausbrechen könnte. Wahrscheinlich wissen sie selbst nicht, was sie in der Sache machen sollen.“
… tscho s etim djelats.“

Erzähler:
Diese Feststellung des Präsidenten der „Stiftung Glasnost“ kommt den Tatsachen vermutlich am nächsten: Der kurz nach Wladimir Putins Vereidigung als Präsident zwischen ihm und Wladimir Beresowki sichtbar gewordene Konflikt, in dem ausgerechnet Magnat Beresowski dem von ihm selbst zuvor mit viel Einsatz gepuschten Präsidenten nun dessen Zentralismus als Verletzung der neuen Demokratie Russlands vorwirft, lässt erahnen, dass die Kämpfe zwischen alten und neuen Strukturen in Russland mit  der Wahl Wladimir Putins noch lange nicht abgeschlossen sind. Womöglich beginnen sie erst jetzt richtig. Wie dieser Kampf ausgeht, ob er zu einer neuerlichen Stärkung des Zentralstaat, ob er zu weiteren Privatisierungen führt oder ob neue und alte Reiche Russlands sich in einem Kompromiss gegen eine mit beiden unzufriedene Bevölkerung finden, ist eine offene Frage. Von ihrer Lösung hängt nicht nur das politische Schicksal Wladmir Putins, sondern das des gesamten Russland ab.

Russlands multizentrale Strategie

Besetzung:

Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.

Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne:

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

–    1 Athmo zum Einblenden (erster Ton auf dem O-Ton-Band)
–    9 O-Töne

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russlands multizentrale Strategie

O-Ton 1: TV-Nachrichtensendung        2,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen,  unter dem Einführungstext vom ersten Satz an allmählich kommen lassen, danach (bei 0,50, Tusch) vorübergehend hochziehen, mit Sprecherin abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen, abblenden

Die Welt befindet sich in einer Übergangssituation. Die bipolare Ordnung, die das letzte Jahrhundert bestimmte, gehört der Vergangenheit an. Die Auflösung der Sowjetunion hinterließ ein geschwächtes Russland, eine orientierungslose GUS, dafür eine gestärkte USA, ein wachsendes Europa und die Osterweiterung der NATO. Neue Mächte melden sich zu Wort: Indien, Pakistan, Iran, Südostasien, Südafrika, Südamerika, China. Eine neue Ordnung entsteht. Wie wird sie aussehen? Unipolar unter Führung einer Weltmacht, multipolar, erneut bipolar? Welche Rolle wird das von Wladimir Putin geführte Russland darin einnehmen?

Regie: bei Tusch hochziehen, mit Sprecherin abblenden, unterlegen

Erzähler:
Tagesnachrichten im NTW, dem unabhängigen russischen Fernsehen: Irans Präsident Muhammad Chatami in Moskau. Demonstrativ setzt der neue Mann im Kreml außenpolitische Zeichen. Vereinbarungen über Lieferung russischer Raketen für den Iran, Unterstützung des iranischen Atomprogramms durch Russland, weitere Lieferverträge über konventionelle Waffen Russlands an den Iran sind nur die auffälligsten Vereinbarungen, die getroffen werden. Langfristig geht es um mehr: Es geht darum, so ist selbst den Kommentaren dieser eher westlich orientierten Fernsehstation zu entnehmen, die  westlichen Stereotypen vom Schurkenstaat Iran zu durchbrechen, der von den USA beanspruchten Vorherrschaft in Mittel- und Südasien etwas entgegenzusetzen. Es sei Zeit, darin stimmen alle Kommentare überein, das amerikanische Embargo gegen den Iran zu durchbrechen und Russlands Flanke nach Mittelasien wieder zu öffnen, nachdem entsprechende Schritte gegenüber China und Korea bereits erfolgt seien. Ölgeschäft, Gleichberechtigung auf dem internationalen Rüstungsmarkt, Stärkung der strategischen Situation Russlands und des Iran zum gegenseitigen Nutzen, Stabilisierung des kaspischen Raumes. Das sind die Vokabeln, die in dieser Sendung fallen. Tenor: Wir sind immer noch eine Großmacht; und wenn Großmacht sich heute wirtschaftlich definiert, gibt es keinen Grund, warum wir uns an dem Geschäft nicht beteiligen sollten.
… targowle.“ Tusch

Erzähler:
Mit der Intensivierung der Beziehungen zum Iran, Amerikas Intimfeind Nummer eins, mit Kontaktaufnahme zu Korea, mit Intensivierung der Beziehungen zu Peking antwortet Wladimir Putin demonstrativ auf die Pläne für den Aufbau eines Nationalen Raketen-Abwehrschirms, die von dem neuen US-Präsidenten George Busch zur Zeit  forciert werden. Dem Werben Wladimir Putins nach Osten entsprechen gleichzeitige Vorschläge von ihm an die Europäische Union, sich mit Russland gemeinsam um den Aufbau eines Abwehrschirms zu bemühen. Die Zielrichtung dieser Politik ist klar: Russland versucht, das internationale Bündnissystem in Bewegung zu bringen, das entgegen den Hoffnungen, die sich Michail Gorbatschow Ende der 80er bei seinem Zugeständnis zur deutsch-deutschen Einigung machte, ganz auf die Vorherrschaft der USA und der NATO eingeschwenkt ist. Westliche Strategen sind beunruhigt. Westliche Militärs beobachten argwöhnisch Putins neuen Kurs Wladimir Putins in der russischen Sicherheitspolitik. Besondere Beunruhigung löste die Verabschiedung eines neuen Sicherheits- und eines neuen Militärkonzeptes kurz nach dem Amtsantritt Wladimir Putins aus. In umfänglichen Untersuchungen, Tagungen und Schulungen versucht man sich Klarheit zu verschaffen, was der Kurs Russlands für die europäische, für die westliche Sicherheit zu bedeuten hat.
In einer dieser Untersuchungen, einer Schrift des deutschen „Forschungsinstituts für internationale Politik und Sicherheit“ mit dem Titel: „Russische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Putin“, werden das alte und das neue außenpolitische Konzepte unter dem Gesichtspunkt der multinationalen Orientierung verglichen. Der Autor ist Hannes Adomeit. Mit Sympathie charakterisiert er das aus Michail Gorbatschows „Neuem Denken“ entstandene Konzept der russischen Außenpolitik, das während der Jahre der Präsidentschaft Boris Jelzins galt:

Zitator:
„Das alte Konzept enthielt  Formulierungen, die schon damals dem `patriotischen Konsens´ entgegenstanden und die insbesondere von einem großen Teil der Militärführung abgelehnt wurden. Die Entstehung einer multipolaren Welt wurde als dominante Entwicklungsrichtung in den internationalen Beziehungen bezeichnet. Militärische Macht in der Weltpolitik spiele zwar weiterhin eine wichtige Rolle, politische, wirtschaftliche , wissenschaftliche- technologische, ökologische und informationstechnische Faktoren gewönnen aber zunehmend an Bedeutung. Die Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands hätten derzeit keinen militärischen Charakter, sie seien vielmehr hauptsächlich innerer Natur und gründeten auf wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Problemen. Sogar die nukleare Abschreckungsfähigkeit Russlands wurde in diesen Zusammenhang gestellt.“

Erzähler:
Die Herausbildung einer multipolaren Ordnung, in der Russland neben den USA, China, Europa und anderen Ländern der ehemaligen Kolonialgebiete eine unter mehreren Großmächten ist, die gleichberechtigt miteinander Frieden und Sicherheit in einer sich ökologisierenden Welt garantiert – das ist der Kern dieser Vorstellung. Derartige, „für das außenpolitische Establishment Moskaus ungewohnt vernünftige und klare Formulierungen“, so der Autor des Berichtes weiter, seien im neuen Sicherheitskonzept nicht mehr enthalten. Seit dem NATO-Einsatz in Kosovo betone Russland zwar weiterhin seine multipolare Orientierung, sehe diese aber durch militärische Machtpolitik, vor allem seitens der USA, gefährdet. Die neue Konzept setze andere Schwerpunkte:

Zitator:
„Im ersten Kapitel `Russland in der Weltgemeinschaft´ heißt es nun, , die Bedeutung  militärischer Faktoren in der internationalen Politik sei grundlegender Natur. Ein Kampf zweier sich gegenseitig ausschließender Tendenzen zeichne sich ab: Dem Trend zur Mulitipolarität auf der einen Seite stehe das Streben gegenüber, `eine Struktur der internationalen Beziehungen zu schaffen, die auf der Dominanz der entwickelten westlichen Länder unter Führung der USA beruht.´ Dieses Dominanzstreben ziele auf die `einseitige Lösung von Schlüsselproblemen vor allem mit militärischer Gewalt und unter Umgehung grundlegender Normen des Völkerrechts“.

Erzähler:
Aus Sicht der westlichen Strategen ist dies ein Rückfall in die Logik des Kalten Krieges, die Schlimmes erwarten lasse. Allerdings, so dieselben Quellen, dürfe man sich in der russischen Politik nicht an Wortlaute von Konzepten oder Programmen klammern. Allein zum neuen Sicherheitskonzept habe es fünfzehn (15!) Entwürfe verschiedener Institutionen gegeben, die alle in Details voneinander abwichen und sich für den Außenstehenden letztlich zu einem undurchsichtigen Knäuel verstrickten. Mehr noch, schließlich widerspreche die neue Militärdoktrin sogar noch der letzten Variante des Sicherheitskonzeptes. Zwar skizziere auch die Militärdoktrin in ihrem Entwurf erneut Unipolarität und Multipolarität als die beiden heute herrschenden Trends der Weltpolitik. Zwar stelle sie fest, dass Unipolarität sich auf die Dominanz einer Supermacht, nämlich der USA, gründe und auf die Lösung von Schlüsselfragen der Weltpolitik durch militärische Gewalt, während Multipolarität auf gleichen Rechten der Völker  und Nationen beruhe, auf Achtung  eines Gleichgewichtes der Nationalinteressen  von Staaten und der Anwendung grundlegender Normen des Völkerrechtes. Es werde auch festgestellt, dass Russland nur letztere Tendenz als legitim betrachte. „In der Endfassung aber“, so die westlichen Strategen verblüfft, also in der verabschiedeten Form der Militärdoktrin, „ wurde die negative Wertung der Vereinigten Staaten ersatzlos gestrichen.“ Was praktisch gelte, sei unklar. Russland Orientierung, heißt das, bleibt für den Westen offen.
In der Sprache der Militärs klingt das so:

Zitator:
„In der Außen- und Sicherheitspolitik Putins ist im Vergleich zu Jelzin – zumindest in den letzten Jahren seiner Amstzeit – ein größerer Pragmatismus und größere Flexibilität im Verhältnis zum Westen zu bemerken. Das kann für den Westen sowohl vorteilhaft als auch nachteilig sein. Pragmatismus erfordert, sich mit dem Westen zu arrangieren, das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und der NATO zu normalisieren. Diesen Erfordernissen zu genügen ist bereits Teil von Putins Agenda.  Infolgedessen gibt es wieder verbesserte Chancen einer Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russland. In der Rüstungskontrollpolitik und bei der Friedenssicherung in Europa. Hier liegen die Vorteile für den Westen. Die Nachteile liegen darin, dass Putin die im Moskauer sicherheits- und außenpolitischen Establishment gängigen Vorstellungen und die unter Jelzin für den Westen entwickelte Sicht der `nationalen Interessen Russlands teilt, diese Interessen aber geschickter und wirksamer vertritt.“

Athmo-1: Musik, Moderatorin, Glas naroda        1,55
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, (bei 0,49, Moderatorin mit Stichwort „Glebowski) vorübergehend hochziehen, unterlegen, am Schluss hochziehen, mit Beifall verblenden

Erzähler:
Verwirrt sind auch die innenpolitischen Beobachter, verwirrt ist die Bevölkerung. Hat Wladimir Putins Politik nun zu einer besseren Wahrnehmung der nationalen Interessen, zu einer Stabilisierung der nationalen Konsenses in Russland geführt oder nicht? Öffnet er Russland weiter zum Westen oder nicht? Macht er die Menschenrechte zum Maßstab seines Handelns oder nicht?
Zu dieser Frage sind die widersprüchlichsten Positionen zu hören. So kürzlich in der Sendung „Das Auge des Volkes“, der populärsten politischen Fernseh-Talkshow Russlands. Unter der Frage, „Wohin treiben wir?“ diskutieren politische Experten untereinander und mit dem Publikum:

Regie: bei 0,49 zum Stichwort “Gleboswski“vorübergehend hochziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Einer der Experten ist Gleb Pawlowski, Leiter eines „Fonds für effektive Politik“, der auf undurchsichtige Weise als eine Art überparteiliche graue Eminenz des Kremls tätig ist; sein Kontrahent ist Sergej Darienko, der sich während der zurückliegenden letzten Wahlkämpfe einen Namen als Schmutzschleuder der Nation gemacht hat. Anfangs agitierte er zugunsten der von Wladimir Putin inspirierten Partei „Einheit“, nach deren Wahlsieg zugunsten Wladimir Putins selbst. Jetzt haben sich  die  Fronten verkehrt: Der überparteiliche Gleb Pawlowski ergreift Partei für den Präsidenten: Der habe Russlands Nationalgefühl stabilisiert, meint er. Wladimir Putins ehemaliger Fürsprecher sieht seinen vormaligen Liebling inzwischen als Wegbereiter einer auf Russland zukommenden Katastrophe einer nationalsozialistischen Diktatur:

O-Ton 2: Gleb Pawlowski                  0,53
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblende, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, danach hochziehen

Erzähler:
„Ja dumajau schto…
Gefragt, welche Auswirkungen Wladimir Putins Linie auf die Außenpolitik habe, speziell auf Russlands Beziehung zu Europa, witzelt Fond-Chef Pawlowski zunächst provokant: Das sei deren Problem. Auch für Amerika gelte das, setzt er hinzu.
Dann kommt er zur Sache:

Regie: Nach Abklingen des Beifalls und ersten Worten vorübergehend hochziehen. Nach den Stichworten „Ja swjo wremeni…“ abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer obvervoice:
„Ja swjo wremeni…“
„Ich höre von Politikern immer Klagen, Klagen. Aber es passiert doch etwas Phantastisches: Ein nationales Russland ist widererstanden! Unsere Politiker hängen immer noch der Sowjetunion nach, aber Russland ist aus der Sowjetunion doch schon seit zehn  Jahren herausgewachsen! Die Union hat sich damals mit Amerika herumgeschlagen; da gab es Probleme, aber jetzt!? Jetzt gibt es Russland! Jetzt müssen wir aufbauen – auf unserem eigenen freien Boden ein freies Land. Wie kann es sein, europäisch?
… moschet bit, ewropeski?.“

Erzähler:
Unbeantwortet lässt er die Frage im Raum stehen. Sergej Darienko greift sie auf, entwirft aber ein vollkommen anderes Bild:

O-Ton 3: Sergej Darienko, Journalist              1,54
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja dumau schto…
„Ich denke selbstverständlich, dass wir erstens Russland verloren haben – die Hälfte, ja, mehr als die Hälfte hinsichtlich der Quantität,  die Hälfte der Bevölkerung. Die Sowjetunion hatte immerhin vierundzwanzig Millionen Quadratkilometer, jetzt sind es siebzehn Millionen. In Bezug auf die Qualität haben wir noch entschieden mehr als nur die Hälfte verloren. Das ist für mich ganz offensichtlich. Und wenn wir Russland weiter so heruntermachen, dann schrumpfen wir auf eine Handvoll Leute, auf das Maß einer Schildkröte. Es ist ganz offensichtlich, dass wir uns heute nicht in Richtung Europa bewegen. Ich denke, wir sollten das tun, aber dafür müsste die Macht politische Parteien unterstützen, statt sie zu vernichten, auch wenn das dem politischen Rating schadet, dafür sollte sie die Öffentlichkeit unterstützen und nicht vernichten, sollte ein solches unbequemes Instrument wie die Presse ertragen, und nicht vernichten, dann können wir vielleicht in fünfundzwanzig Jahren in die europäische Gesellschaft gehen. Aber heute, heute sitzen wir da und fragen uns: Was tun wir während dieser fünfundzwanzig Jahre? Statt uns auf Europa hin zu bewegen haben wir jetzt eine absolute Zustimmung für einen Führer Putin, das Volk verlangt nach einem Führer und die ganze Entwicklung geht in Richtung eines Nationalsozialismus, meine Herrschaften! Putin selbst kann kein solcher Führer werden, aber die Kräfte, auf, die er sich jetzt stützt, die er heranzieht, die Welle, die da entsteht, die wird ihn beiseitespülen.“
…smojet Putin, ponimaetje?.“

Erzähler:
So extrem wie die Vorgaben der Exponenten, so uneinheitlich sind die Positionen des Publikums: Gehen wir den europäischen Weg? Gehen wir den asiatischen? Gehen wir einen eigenen russischen Weg zwischen den beiden Polen? Ein klares Meinungsbild kommt nicht zustande. Schließlich formuliert ein Teilnehmer den kleinsten gemeinsamen Nenner in unnachahmlich russischer Weise:

O-Ton 4: Publikum                     0,47
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ossobene demokratie tolka…
„So etwas wie Demokratie gibt es nur in einer Hinsicht bei uns: Wir haben einzig die Chance, die Hoffnung, in drei Jahren, in sieben, in elf Jahren etwas zu ändern. Heute gibt es nichts! Heut gibt es nur Putin – und der weiß nicht wohin. Deshalb sammeln sich um ihn herum Abenteurer, die ihm die phantastischsten, unsinnigsten Ideen vorschlagen, dümmliche Politiker. Ja, dümmliche Politiker schaffen heute bedauerlicherweise eine extrem unstabile Situation, extrem gefährlich. Aber um zu verhindern, dass das Schlimmste geschieht,  muss man ein System zur Stützung Putins aufbauen.“
…sderschit Putinu.“

Erzähler:
Mit Wodka die Trunksucht bekämpfen, hieße das. Nicht ausgeschlossen, dass dieses alte russische Rezept tatsächlich anschlagen könnte. Aber was hieße, Putin zu stützen? Das ist die viel entscheidendere Frage. Wladimir Putin selbst verkündete bei seinem Antritt in einer Erklärung, die er über Internet verbreiten ließ,  Patriotismus und Privatisierung verbinden zu wollen. Nach Jahren des mechanischen Nachahmens fremder Modelle müsse Russland nun seinen eigenen Weg gehen. Worin aber, außer dem Aufbau eines starken Staates, dieser eigene Weg bestehen soll, wurde auch aus diesem Credo nicht klar. Seitdem wechselt antiwestliche Rhetorik mit prowestlicher; imperiale Gesten, die an das Gebaren der alten Supermacht erinnern, folgen auf Bekenntnisse zu multipolaren Optionen, der demonstrativen Installierung des Starken Staates als Mittel der nationalen Politik folgen eher zurückhaltende Aktivitäten. Außer Pragmatismus lässt sich darin keine Linie erkennen.
Wer verstehen will, ist auf Vergleiche mit Vorgängern Wladimir Putins angewiesen. Solche Vergleiche finden sich in der Aufarbeitung der Geschichte der Perestroika. Interessante Hinweise gibt die US-amerikanische Osteuropa-Expertin Angela Stent, die sich, obwohl im politischen Planungsstab des US-Außenministeriums tätig, um eine objektive Analyse bemüht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Rivalen der Geschichte“, in dem sie die russische und die deutsche Situation nach der Wende vergleicht, schreibt sie:

Zitatorin:
„1996 gründete Boris  Jelzin eine Kommission , die Vorschläge erarbeiten sollte, worin die neue Nationalidee Russlands besteht. Dies mag jemanden, der aus einem Land mit einer wohlfundierten Außenpolitik kommt, vielleicht merkwürdig erscheinen, aber es spiegelte die gegenwärtige Realität. Russland besaß keine nationale Idee. Nach dem Zerfall der Sowjetunion steckte es in einer tiefen Krise, als es entscheiden musste, wie seine Außenpolitik künftig aussehen sollte. Einerseits wurde es der internationale Erbfolger der Sowjetunion, Erbe des ständigen Sitzes der UdSSR im UN-Sicherheitsrat, des größten Teils ihrer Streitkräfte, ihrer außenpolitischen Institutionen – und ihrer Schulden. Andererseits unterschieden sich Rußlands Positionen und Interessen sehr von denen der Sowjetunion, und seine außenpolitischen Ziele machten einen grundlegenden Wandel durch. Das neue Russland hatte auf Ideologie und Mission der UdSSR verzichtet und besaß nicht mehr deren globales Potential.“

Erzähler:
Die größte Herausforderung, so Frau Stent weiter, besteht für Russland  darin, eine neue Identität als nicht imperiale, große Regionalmacht finden zu müssen, deren Interessen nicht durch ideologische Faktoren bestimmt sind. Darin ist ihr zuzustimmen: In ihrem Bemühen, mit dieser Realität fertig zu werden, wandten sich Russlands Eliten zunächst ihrer Geschichte zu, doch weder das Zarenreich noch die Rückwendung zur Sowjetunion lieferten den Boden für nicht-imperiale Impulse einer nationalen Erneuerung.
Ein „Element historischer Kontinuität“ aber fand auch Frau Stent im Richtungsstreit um Russlands Orientierung zwischen Asien und Europa. Im 19. Jahrhundert waren es die Slawophilen und Westler, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Euroasiatiker und Bolschewiki. Nach der Wende aktualisieren sich solche Positionen in dem Gegensatz von „Atlantizisten“ und „Eurasiern“, also in den vornehmlich an den  USA orientierten Liberalen und den anti-amerikanischen ausgerichteten Konservativen.
In diesem Richtungsstreit findet Frau Stent Erklärungen für die russische Außenpolitik. Sie schreibt:

Zitatorin:
„Russlands erster Außenminister, Andrej Kosyrew, ein ehemaliger sowjetischer Diplomat, verkörperte diese russische Zwiespältigkeit. Als er im Dezember 1995 zurücktrat, wurde er sowohl von den Westlern als auch von den Eurasiern kritisiert. Von 1992 bis 1995 vertrat er eine `atlantizistische´, prowestliche Orientierung. Zum ersten mal seit Jahrhunderten trat Russland nicht mehr für ein alternatives internationales System ein, sondern hatte die westlich dominierte Ordnung mit ihren Spielregeln akzeptiert. Doch dann pochte Kosysrew immer nachdrücklicher auf Russlands Recht auf eine Einflusssphäre in den ehemaligen Sowjetrepubliken.“

Erzähler:
Andrej Kosyrew wurde  im Januar  1996 durch Jewgeni Primakow abgelöst, einen altgedienten Diplomaten sowjetischer Schule. Jewgeni Primakow repräsentierte einen veränderten Konsens der russischen Politik, eine Synthese aus „atlantizistischen“ und eurasischen Positionen, die Russlands Beziehung zum Westen neu zu bestimmen suchte, indem es Russland erneut als Brücke zwischen Asien und Europa definierte. Das Eingreifen der NATO im Kosovo, insbesondere ihre Selbstmandatierung durch Umgehung Russlands und Chinas in der UNO, aktualisierte diese Positionen zu dem erklärt anti-amerikanischen Kurs, wie er sich auch in den Entwürfen der neuen Sicherheitskonzepte und der Militärdoktirn niederschlug.
Jefgeni Primakow nahm im Dezember 1999  – damals noch Gegenkandidat zu Wladimir Putin für die bevorstehende Präsidentenwahl – selbst eine Wahlveranstaltung in Moskau zum Anlaß, um kritische Fragen westlicher Journalisten nach dem tschetschenischen Krieg mit Kritik am Westen, speziell den USA, zu kontern:

O-Ton 5: Jewgeni Primakow als Wahlkämpfer                    0,51
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Meschte stjem…
“Bei der Gelegenheit möchte ich noch sagen: Ich war kürzlich in Deutschland, auch in Litauen. Ich kenne daher die Stimmung zu dieser Frage direkt, habe außerdem sehr viel über die Reaktionen des Westens auf die Ereignisse in Tschetschenien gelesen, speziell auch die der amerikanischen Sender hier studiert. Ich muss sagen: Ich habe den Eindruck, dass der Westen in dieser Angelegenheit auf Revanche für die Ereignisse im Kosovo setzt und uns deshalb tödlicher Vergehen beschuldigt. So geht es aber nicht! Es muss ein gleiches Herangehen geben, kein Messen mit zwei unterschiedlichen Standards bei Ereignissen auf der internationalen Arena.“
…meschdunarodnii areni.“

Erzähler:
„Revanche“ – mit diesem Vorwurf erschien ein seit Michail Gorbatschow nicht mehr gebrauchter Terminus wieder im politischen Vokabular russischer Politiker, allerdings in neuer Bedeutung: Russland sieht sich als Sachwalter der neu entstehenden multipolaren Weltordnung, deren Entstehung vom Anspruch der USA auf alleinige Weltherrschaft gefährdet wird. Im  Lager des gemäßigten Patriotismus, der sog. zentristischen Kräfte, wird diese Position zu der Zeit sehr vorsichtig, aber unüberhörbar formuliert.
Ein Vertreter dieser Kreise ist Pjotr Fjedossow, politischer Berater beim Vorsitzenden des Konfödereationsrates der russischen Föderation. Er meint:

O-Ton 6: Pjotr Fjedossow, Berater im Föderationssowjet      0,55
Regie: O-Ton frei stehen lassen

Pjotr Fjedossow, deutsch, original:
„Ich halte diese Huntingtonische Idee von mono-multipolaren Welt für sehr interessant, wo er sagt: Es gibt nur eine Supermacht und mehrere Großmächte, die Supermacht ist auf diese Großmächte angewiesen, die Großmächte sind in der Endkonsequenz daran interessiert, die Supermacht nicht alleine schalten und walten zu lassen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man das anerkannt hat. Während die Supermacht, sagt er, daran interessiert ist, in jeder Region die jeweilige hegemoniale Macht unter Druck zu setzen, durch die Unterstützung der inneren zentrifugalen Prozesse, und durch die Unterstützung des jeweiligen Konkurrenten. Japan gegen China, Argentinien gegen Brasilien, Großbritannien gegen das deutsch-französische Tandem, Ukraine gegen Russland etc.“
…Russland  etc.“

Erzähler:
Die Supermacht, die alles bestimmen will, die aber von Pjotr Fjedossow nicht beim Namen genannt wird, sind selbstverständlich die USA. Nicht so zurückhaltend wird derselbe Sachverhalt zur gleichen Zeit im radikal-patriotischen Lager beschrieben, das sich mit dem Wechsel des politischen Konsenses aus der politischen Randlage ins Zentrum der Politik vorrücken sieht.
Einer von ihnen ist Alexander Prochanow, Herausgeber der größten und einflussreichsten national-patriotischen Wochenzeitung „Sawtra“, morgen. Prochanow war 1993 einer der führenden Köpfe der nationalen Front, welche die Auflösung der Duma durch Boris Jelzin mit Waffengewalt zu verhindern suchte; bei den Duma- und Präsidentenwahln 1999/2000 war er Bündnispartner der Kommunistischen Partei. Er erklärte nach Wladimir Putins Sieg:

O-Ton 7: Alexander Prochanow                    1,40
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Putin jawlajetsja…
„Putin ist die Reaktion auf den Jelzinismus. Jelzinismus, das war blinde Nachahmung des Westens. Wenn Putin diesen Weg weitergeht, dann bleibt von Russland nur noch Staub. Vielleicht erweist Putin sich als Agent des Westens. Das schließe ich nicht aus. Dann bleibt nichts von Russland. Wenn Putin aber Selbstachtung hat,  wenn er Egoist ist, jung, ein richtiger Politiker, wenn er ein richtiger Russe ist, dann versucht er auf diesen Ruinen der russischen Gesellschaft ein neues Gebäude aufzubauen und dann wird er nicht in den Spuren des Westens gehen. Dann wird er bei den internationalen Beziehungen zwischen multipolaren Potentialen der Welt balancieren und sie stärken: Südliches Korea, chinesische, indische Entwicklung, naher Osten, islamische Welt, ja! Nach Europa wird Putin sich im besonderen wenden, namentlich um Deutschland wird er sich kümmern, weil Deutschland die Alternative zu Amerika ist. Sie ist gewissermaßen noch maskiert, existiert aber. Deshalb denke ich, Putin wird ein wendigerer Mensch sein als Jelzin und seine Umgebung, sein Kommando, die FSBler, die KGBler, also die Geheimdienste, sind fähig, das Land wieder auf den Boden nationaler Interessen zu stellen.“
…interessach wstranje.“

Erzähler:
Das genaue Gegenteil erwarteten die bei den letzten Wahlen unterlegenen Liberalen. Alexander Melnikow etwa, Assistent des Vorsitzenden der mit knapp 6% eben noch in die Duma gerutschten Partei „Jabloko“, erklärt kurz nach der Wahl Wladimir Putins:

O-Ton 9: Alexander Melnikow                    1,03
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer, overvoice:
„Ja dumaju schto…
„Ich denke, dass die Politik Russlands unter Herrn Putin in bezug auf den Westen schroffer wird. Aber ich halte Schroffheit nicht für ein Synonym von Vernünftigkeit. Ich halte Herrn Putin nicht für einen erfahrenen Politiker und deshalb ist es sehr gut möglich, dass er eine Reihe von Fehlern machen wird in den Beziehungen Russlands zum Westen. Ich denke, es gibt Hinweise für einen Isolationskurs. Die Stimmung dafür ist generell in der Gesellschaft vorhanden; sie wächst bedauerlicherweise nicht allein und nicht vor allem durch Aktivitäten unserer Leute, etwa Herrn Putins, sondern wesentlich auch durch die Fehler, die von Seiten des Westens gegenüber Russland  gemacht werden, oder auch von der Europäischen Union. Ich denke, einer der schärfsten Fehler ist der Krieg im Kosovo.“
…woina NATO w Kosovo.“

Erzähler:
Inzwischen haben sich die Fronten zwischen der NATO und Russland wieder etwas entspannt. Keine der genannten Erwartungen ist eingetreten: Wladimir Putin hat sich nicht als Agent des Westens enttarnt, aber ebenso wenig als Antiwestler. Auch Erwartungen, der neue Präsident werde die Länder der GUS mit neo-imperialen Ambitionen bedrängen, sind bisher nicht eingetreten. Wladimir Putin hat lediglich die ohnehin schon laufenden Annäherungen zwischen Russland und Weißrussland intensiviert. Auch die Beziehungen Russlands zu China, in den Monaten des Kosovokrieges und in den ersten Monaten der Präsidentschaft Wladimir Putins als strategisches Bündnis gegen die Vorherrschaft der USA in den Vordergrund gerückt waren, sind wieder aus den Schlagzeilen der Tagespresse verschwunden. In Kreisen derer, die sich in Russland berufsmäßig mit diesen Fragen beschäftigen, gibt man sich realistisch. Gefragt, ob er einen Sinn in der multizentralen Option der russischen Politik sehe, insbesondere auch der strategischen Partnerschaft zwischen China und Russland und ihr eine Chance gebe, antwortet Alexej Maslow, Professor für chinesische Geschichte und Politik an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau und zugleich Berater der Regierung in Fragen der China-Politik:

O-Ton 9: Alexej Maslow, Chinaspezialist                1,48
Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer, overvoice
„Eta dwa waprossow…
„Das sind zwei Fragen: eine Chance zu haben oder einen Sinn zu haben. Hat sie einen Sinn? Ja, in einer polyzentristischen Welt liegt ein Sinn. Die Chance ist dagegen nach meiner Ansicht nicht sehr hoch. Was ist eine polyzentristische Welt? Sie gründet sich auf zwei Postulate: Das erste Postulat lautet: Alle Länder achten ihre gegenseitige Identität und richten ihre Anstrengungen nicht darauf, diese Identität zu zerstören. Das zweite Postulat ist: Die alle Länder in einer gerechten Welt gleichermaßen über wirtschaftliche, politische und militärische Ressourcen verfügen, die ihnen ihre Identität garantiert. Wenn diese Punkte erfüllt sind – dann ja. Das würde einen Sinn im Rahmen der UNO machen, wenn wir uns gegenseitig als gleichberechtigt achten. Aber die Erfahrung zeigt, dass heute jedes Land, welches über entscheidende größere Macht verfügt, andere bedrängt. Das war so mit der Sowjetunion in Afghanistan, das sind die Operationen der USA heute praktisch überall in der Welt. In der wirklichen Welt haben die schönen Worte von der Gleichberechtigung der Schwachen und der Starken keine Gültigkeit. Von daher kann man sehen: Heute gibt es gleichberechtigte Potentiale zwischen großen Imperien, USA, China, Russland, die fast gleich sind. Auch wenn Russland sich in einer Dauerkrise befindet, verfügtes doch über Atomwaffen und riesige Ressourcen. Das macht eine Entwicklung möglich.“
150 …Raswiwatsja.“

Erzähler:
Atomwaffen und riesige Ressourcen als letzte Reserve, um für ein Gleichgewicht zwischen den großen Imperien Russlands, Chinas und der USA zu sorgen? Neue Konfliktlinien, statt demokratischer Formen der Kooperation in der UNO und anderen globalen Gremien?  Bleibt also nichts von dem „Neuen Denken“, mit dem Michail Gorbatschow die bipolare Welt Mitte des letzten Jahrhunderts in Bewegung brachte? Es scheint so! Aber so paradox es klingt: Eben darin liegt vermutlich der Keim für die weitere Entwicklung einer multipolaren Ordnung. Wenn nämlich die bipolare Welt in eine Ordnung übergeht, in der sich eine Mehrzahl großer Mächten einander im Gleichgewicht halten, dann ist das der Ansatz dafür, dass eine multipolare Ordnung nicht nur in Worten beschworen wird, sondern sich in der Realität praktisch entwickelt.

Russland: Eine starker Mann für ein Land ohne Staat Putins langer Weg zur Demokratie

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen: 44.700 (einschl. Der sehr ausführlichen O-Ton- und Regie-Ansagen)
Gesamtlänge der O-Töne: 38.00

Sollte eine Kürzung notwendig werden,
Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)
– O-Ton 15 (+ Erzähler davor)
– O-Ton 17 (+ Erzähler davor)

Achtung: zwei Bänder!
– Atmos 1 – 5
– O-Töne 1 – 31

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland:
Eine starker Mann
für ein Land ohne Staat?
Putins langer Weg zur Demokratie.

Athmo 1: Meeting; Musik            1,25
Regie: Ton  langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, runterziehen, unterlegen, mit O-Ton 1 verblenden

Erzähler:
Russische Demokraten fühlen sich provoziert. Westliche Beobachter sind beunruhigt: Droht eine russische Diktatur, seit Boris Jelzin von Wladimir Putin abgelöst wurde? Folgt auf den Liberalismus Jelzins jetzt ein Notstandsregime Putins? Wird Wladimir Putin Despot in einem unregierbaren Land?
Ängste schlugen hoch, noch bevor Wladimir Putin Präsident geworden war: Gegen den von ihm geführten Krieg in Tschetschenien richtete sich der Protest, gegen seine Geheimdienst-Vergangenheit, gegen die von ihm inspirierten Übergriffe auf die Presse.
Die Gefahr von Terror und Faschismus beschwören die Redner und Rednerinnen dieser Kundgebung. Waleri Barschiow, langjähriger Abgeordneter der Duma und Präsident des ständigen Ausschusses zum Schutz der Menschenrechte beim Rat des Präsidenten, fasst die Ängste stellvertretend zusammen:

O-Ton 1: Waleri Barschiow, Menschenrechtler            0,41
Regie:  O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Daragie drusja…
“Liebe Freunde, Unglück kam über unser Land. Es ist Krieg, ein Krieg,  der Tod, Zerstörung, Übergriffe, Lügen bringt.Das Land schliddert in den Totalitarismus. Leider hat die Gesellschaft dem Militär einen Freibrief ausgestellt. Wir alle müssen begreifen, wohin wir schliddern. Wir müssen Nein zum  Totalitarismus sagen, Nein zum Krieg, Nein zum Faschismus!“
150 …Faschism“, Beifall

Erzähler:
Die wenigen programmatischen Äußerungen, die vor der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten von ihm selbst zu hören waren, gaben den Befürchtungen beunruhigter Demokraten Nahrung. Unterwegs im Lande und über das Fernsehen erklärte er:

O-Ton 2: Wladimir Putin,                   0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, in der Mitte ca. 20 sec. Aussetzen, wieder unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Rossija, ana…
„Russland entwickelte sich als Zentralstaat  und genau dadurch hat es existiert: Deshalb hatten wir den Zarismus, danach den Kommunismus und jetzt den Präsidenten. Natürlich müssen wir eine solche Gesellschaft und eine solche Form der Verwaltung aufbauen, die das Wichtige, die Demokratie nicht abwürgen, denn ohne innere demokratische Prozesse kann es keine vollwertige Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben. Aber bei all dem muss es ein eindeutiges Institut geben, dass die Rechte und die Freiheit der Bürger garantieren kann, unabhängig von ihrer sozialen Lage, ihrer wirtschaftlichen usw. Das kann nur das Institut des Präsidenten sein.“
… Präsidenta.“

Erzähler:
Zum geflügelten Wort avancierte die Mahnung, die Wladimir Putin vor der Strategiekommission aussprach, die er selbst zur Ausarbeitung seines Programms einsetzte:

O-Ton 3: Wladimir Putin             0,15
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„Pomnitje…
„Erinnern Sie sich daran, die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns unterwerfen müssen. Der Verlust der Rechtsordnung führt zu Chaos und Grenzenlosigkeit.“
…bespredelju.“

Erzähler:
Die Reaktion der Mehrheit Bevölkerung trug ein weiteres zu den düsteren Erwartungen der Demokraten bei. Genervt vom Zerfall unter Jelzin, liefen Wähler, Parteien und Institutionen dem neuen starken Mann zu: Typisch die Ansichten zweier junger Passantinnen in Moskau kurz vor der Wahl:

O-Ton 4: Passantinnen             0,39
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
„Diktatur der Gesetze? Was das ist? Natürlich eine Regierung, die mit Gewalt operiert“, meint die eine der jungen Frauen Studentinnen des Rechts, wie sich herausstellt.„Nun, wenn sie kommt“, ergänzt ihre Freundin, „dann sind wir unbedingt dafür. Mit offenen Armen! Aber das sind ja doch wieder nur großspurige Versprechungen. – Wenn sie wirklich Ordnung schaffen würden – in Grosny,  die Wirtschaft stabilisieren…, das wäre einfach toll! Aber wenn es wieder nichts wird, dann ist überhaupt unklar, wohin wir treiben.“
…nje panjatna kuda.“

Erzähler:
Angst vor einer Verschärfung der Krise und vor weiterem politischen Zerfall, das sind die Stimmungen, die Putins des starken Staates stützen. Jefim Berschin, früher Redakteur bei der „Literaturnaja Gasjeta“, heute freischaffender Journalist, fasst das in die Worte:

O-Ton 5:  Jefim Berschin, Journalist            1,00
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Rossije bolsche nje…
„Rußland hat kein Recht mehr, Niederlagen hinzunehmen! Es kann sich nicht erlauben, weitere Kriege zu verlieren. Wenn es noch einmal  verliert, wird es Rußland nicht mehr geben. Es wird in Stücke zerfallen, denn eine weitere Niederlage würde eine gewaltige negative Dynamik in der Bevölkerung haben. Das Volk hat in den letzten Jahren zu viel verloren: Es verlor den kalten Krieg, es verlor den einheitlichen Staat, es verlor seine Wirtschaft – es hat fast alles verloren. In diesem Zustand der Erniedrigung können Menschen nicht leben.“
..schitj nje mogut.“

Erzähler:
Kaum im Amt, ließ Wladimir Putin per Internet einen Text verbreiten, in dem er so etwas wie programmatischen Ziele umreißen ließ:

Zitator: (getragen)
„Es ist eine Tatsache, dass in Russland immer eine Neigung zu kollektiven Formen der Lebensgestaltung über den Individualismus dominiert hat, dass paternalistische Stimmungen in Russland tief verwurzelt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet die Verbesserung ihrer Lage nicht mit eigenen Anstrengungen, mit Initiative und Unternehmungslust, sondern vielmehr mit der Hilfe und der Unterstützung des Staates und der Gesellschaft. Aus der Verschmelzung  dieser traditionellen mit den universellen, allgemein menschlichen Werten entsteht eine neue russische Idee. Ihr Kern: Die Verbindung von Privateigentum und Patriotismus.“

Erzähler:
Alexander Prochanow, seiner eigenen Einschätzung nach Nationalbolschwist, als Herausgeber und Chefredakteur der vielgelesenen Wochenzeitung „Sawtra (morgen) Anfang der 90er einer der Führer der „Nationalen Front“, die gegen die Westöffnung mobilisierte, 1993 Sprachrohr des bewaffneten Widerstandes der Duma gegen Boris Jelzins Erlass zu ihrer Auflösung, kommentierte dieses Konzept Wladimir Putins in klassisch marxistischer Terminologie:

O-Ton 6: Prochanow            0,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„My gaworim…
“Der Überbau ist bei ihm, gewissermaßen, ein konter-liberaler. Darin sehen wir viele Widersprüche zur liberalen Basis, auf der er wirtschaftlich steht. Wenn er sein eigenes Konzept verwirklichen will, dann wird er ziemlich schnell mit diesen Widersprüchen zusammenstoßen. Das heißt nicht, dass diese Widersprüche nicht zu lösen wären, aber für ihre Lösung wird er lange Zeit brauchen.“
…glitelnaja wremija.“

Athmo 2: Musik – Juri Ljosa: „
Regie: kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach dem Absatz vorübergehend hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:
„Nicht leicht wird mein Weg sein und lang“, singt Juri Ljosa…“ Man hört ihn oft, wenn man im Lande unterwegs ist. „Die Hoffnung stirbt am letzten“, heißt es. Inzwischen hat Wladimir Putin das Ansehen Moskaus im Lande und in der Welt wieder etwas anheben können: Er hat den Abwärtstrend der Wirtschaft gestoppt, er hat die Macht der Oligarchen, also der Clans der Privatisierungsgewinnler zurückgedrängt, er hat die Korruptionsskandale niedergeschlagen; er hat die Duma zu einem Akklamationsorgan gemacht, die Regionalfürsten unter das Kuratel seiner  sieben Administratoren gestellt. Er hat die Medien auf Linie gebracht. Selbst die offiziellen Gewerkschaften hat er für seine Politik gewonnen.
Alexander Afonin beispielsweise, Betriebsratsvorsitzender und Sekretär der „Föderation der freien Gewerkschaften“ in der Moskauer Fabrik für Kugellager, kurz „Podschebnik“ genannt, mit einer ca. 8000köpfigen Belegschaft einer der größten Betriebe Moskaus, zeigt sich geradezu begeistert von der neuen Entwicklung. Endlich werde das alte System abgelöst, freut er sich, in dem die Arbeiter mit Produkten ihres Betriebes zum Verkauf losgeschickt wurden, statt ihren Lohn zu erhalten:

O-Ton 7: Alexander Afonin, Betriebsrat              1.09
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0.40 hochziehen, weiter unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“A wot tschas imena…
“Jetzt sind wir auf das Geldsystem übergegangen. Das ist ja viel einfacher und besser für uns: Da kriegst du für ehrliche Arbeit, die du mit eigenen Händen geleistet hast, ehrliches Geld. Man muss doch essen, man braucht Kleidung, der Kindergarten muss bezahlt werden, das Kind muss in die Schule, das kostet doch alles! Deshalb ist die Politik jetzt auf dem richtigen Weg: Es war Zeit die Barterei einzuschränken.“

Regie: bei 0.40 Zwischendurch hochziehen

Erzähler:
„Die Barterei einschränken“, das bedeuted: Geldverkehr statt Natuturaltausch. Auch wenn noch nicht alles so sei, wie man es sich wünsche, meint Afonin, insbesondere natürlich in den Regionen, habe sich die Situation unter Putins Herrschaft doch entschieden stabilisiert.“
…namnoga stabilisiruitsja.“

Erzähler:
Die Zentrale der „Freien Gewerkschaften“ geht mit einem „Bündnis für Arbeit“ auf Schmusekurs mit der Regierung. Die Streikwelle der letzten Jahre unter Jelzin ist abgeklungen, neue Streikbewegungen werden zur Zeit nicht erwartet. Die Aufregung, welche die letzten Jahre der Jelzin-Ära kennzeichnete, hat sich gelegt. Alternativen zu Wladimir Putin werden nicht formuliert. Juri Lewada, Chef des etablierten Zentralen Meinungsforschungsinstitutes in Moskau, das allwöchentlich Daten zur Beliebtheit russischer Politiker erhebt, meint dazu:

O-Ton 8: Juri Lewada                                                   0,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
“Opposizija jest…
“Es gibt eine Opposition, aber sie ist schwach. Eine ganze Reihe von Politikern stimmt mit Putin nur wenig oder auch gar nicht überein. Aber sie sind erstens sehr passiv und kämpfen nicht aktiv für etwas; sie kritisieren Putin ziemlich vorsichtig. Darüber hinaus sind sie nicht in der Lage, sich zu einigen. Deshalb ist eine organisierte Opposition, um irgendjemanden herum, zur Zeit nicht vorstellbar. Es gibt keine solche Figur und keine Bereitschaft, das zu machen. Das reduziert alle potentiellen Oppositionäre auf Hilflosigkeit und sie wissen das offensichtlich.“
…sawjedoma.“

Athmo 3: Meeting, Musik            0,58
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, mit O-Ton 9 verblenden

Erzähler:
Tatsächlich haben Privateigentum und Patriotismus, deren Zusammenführung der neue Prasident versprach, haben Modernisierung und Tradition sich auch unter Wladimir Putin bisher nicht zu einer neuen „russischen Idee“ verbunden. Die wichtigsten gesellschaftlichen Bereiche entgleiten vielmehr dem staatlichen Zugriff, manche sogar stärker als zuvor.
Nach wie vor wütet der Krieg in Tschetschenien, in dem sich die ungelösten Territorial- und Vielvölkerprobleme Russlands austoben. Ein Ende ist nicht in Sicht. Alles, was auf ein Ende des Krieges ziele, werde von Moskau heute abgelehnt, so Mussa Tumsojew, tschetschenischer Wissenschaftler in Moskau:

O-Ton 9: Musa Basnikajew              0,23
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„K´soschelenju…
„Leider, leider brauchen sie Vorfälle, um ein Ende zu finden – entweder so etwas wie Budjonnowsk, die Geiselnahme, oder Grosny 1996, als die tschetschenischen Kämpfer die Stadt zurückeroberten. Nur nach solchen Vorfällen sind sie bereit, in realen Kategorien zu denken.“
…realni kategorie…“

Erzähler:
„Budjonnowsk“ – das ist das Sybonym für den ersten terroristischen Anschlag von Seiten der Tschtschenen im ersten tschtschenischen Krieg. Solange der dieser Krieg tobt, ist er ein Treibsatz gegen die Einheit der russischen Föderation. Viele der nicht-slawischen Völker Russlands verstehen Moskaus Vorgehen gegen die Tschetschenen als Bedrohung ihrer eigenen Autonomie. Der Krieg hat eher sprengende als einigende Wirkung.
Ungelöst ist auch die Agrarfrage. Innerhalb eines Jahres wollte Boris Jelzins erster Wirtschaftsminister Jegor Gaidar bei seinem Antritt 1991 die kollektive Wirtschaft des sowjetischen Typs in eine Bauernwirtschaft nach westlichem Muster umgewandelt haben. Schon Mitte 1993 stagnierte diese Reform. Zwar waren zum dem Zeitpunkt bereits die meisten Sowchosen in Aktiengesellschaften umbenannt worden aber ihre Produktionsweise änderte sich nicht. Die Mehrheit der neuen Privatbauern kehrte in den Schutz ihrer früheren Kollektive zurück. Zahllose Erlasse Boris Jelzins zur Fortsetzung der Privatisierung auf dem Lande verhallten ergebnislos. Putin kündigte auch in diesem bereich neue Initiativen an.
Boris Kagarlitzki, linksreformerischer Analytiker in Moskau, skizziert die seit Wladimir Putins Amtsantritt entstandene Lage mit den Worten:

O-Ton 10: Boris Kagarlitzki            0,58 Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, agrarni wapros…
„Nun die Agrarfrage, ist auch wieder so eine Sache. Gott sei Dank ist die Anzahl unverständiger Leute, die in Russland auch den Boden privatisieren wollen, nicht so hoch. Was das Volk dazu denkt, auch die Agrarpartei oder die Kommunisten, ist für die Regierung nicht wichtig. Wenn sie der Privatisierung des Bodens erste Priorität einräumen würde, dann könnte sie das ohne weiteres durchziehen. Notfalls kauft sie sich die nötigen Stimmen in der Duma, auch die der Kommunisten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Risiken in Bezug auf die Privatisierung des Bodens so hoch sind, dass sie jede Initiative auf diesem Gebiet bremsen.“
… we etom planje.“

Erzähler:
Worin das von Boris Kagarlitzki benannte Risiko besteht, erläutert Alexander Nikulin, ein junger Agrarwissenschaftler. Er ist soeben von Studien auf dem Dorf zurückgekehrt: Kampagnen der Gouverneure von Saratow und Tatarstan, die mit regionalen Auktionen vorgeprescht sind, erwiesen sich als ein Schlag ins Wasser, berichtet er. Die Bauern haben kein Geld für den Kauf; die anschließenden notwendigen Investitionen liegen zu hoch, die Rechtslage ist zu unsicher. Wer kauft, muss damit rechnen, morgen wieder enteignet zu werden:

O-Ton 11: Nikulin                    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamy i ssostajannije…
„Deshalb ist die Euphorie der Gaidarschen Privatisierung und der Reformen im Agrarbereich vorüber. Jetzt verstehen alle, dass in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren die großen Betriebe der früheren Sowchosen und Kolchosen die wichtigsten Betriebe bleiben werden. Will man deren Lage skizzieren, dann muss man sagen: Seit 1990, in den Jahren des Chaos hat ungefähr ein Drittel seine Existenz aufgegeben, weil sie einfach alle bankrott waren. Die Menschen, die in diesen Sowchosen übriggeblieben sind, befinden auf dem Niveau der Naturalwirtschaft. Sie graben die Erde per Hand um oder wenn sie Glück haben, mit einem defekten Traktor. Das ist eine ziemlich primitive Art der Existenz.“
…ssuschustwawannije.“

Erzähler:
Auf die Frage, ob er von Wladimir Putin neue Privatisierungs-Initiativen im Agrarbereich erwarte, antwortet Alexander Nikulin:

O-Ton 12: Alexander Nikulin            0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja tschesna skaschu…
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Moment ist nichts spürbar, was Putin in Bezug auf Privateigentum an Grund und Boden unternehmen will. Ich würde aber auch sagen, selbst wenn ein solches Projekt verwirklicht würde, bedeutete das nicht automatisch den Sieg und die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft, sicher nicht. Letztlich wird das Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das bleibt Papier: Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen.“
…sluschitsja.“

Erzähler:
Der Zar ist weit, hieß dieses Motto unter Jelzin und so heißt es auch jetzt. Andererseits, so Alexander Nikulin, habe Putin ja bereits entscheidend in die Entwicklung eingegriffen, allerdings in einer Weise, welche die Lage wesentlich verschlechtert habe:

O-Ton 13: Nikulin, Forts.                    1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wy snaetje, ja by…
„Putin erklärte, dass es nötig sei, die vertikale Staatsmacht zu stärken. In der Realität bedeutet das Re-Zentralisierung und eine erneute Stärkung Moskaus für alles und jedes. Es bedeutet, dass die Leiter der örtlichen Administration von oben eingesetzt und nicht mehr von der örtlichen Bevölkerung gewählt werden; zweitens bedeutet es, dass selbst der geringe finanzielle Spielraum für ein eigenes Budget verschwindet, den sie jetzt noch hatten; es wird von den Distrikten bestimmt. Die Jelzinsche Kampagne für die Selbstverwaltung war zwar nur eine ideologische, aber in diesem Rahmen konnte man etwas machen. Jetzt waren schon die ersten Monate unter Putin äußerst angespannt. Sie zeigten, dass auch eine gänzliche Beseitigung der örtlichen Selbstverwaltung möglich ist. Dazu kommt meine eigene Beobachtung, dass ohnehin im Vergleich zu der Zeit, als es die bäuerlichen Sowjets gab, jetzt die Bedingungen für örtliche Selbstverwaltung sehr viel schlechter geworden sind.“
…obschestwa.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf die entstandene Realität wirft, was Alexander Nikulin über den ökologischen Dienst zu erzählen hat, eine der neuesten Einrichtungen, die harmlosen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik und westlich orientierter neuer Staatlichkeit vorgezeigt wird:

O-Ton 14: Nikulin, Forts.                 0,57
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Dewonosti godi….
„In den 90er Jahren wurden nach westlichem Muster überall in den Regionen ökologische Dienste eingerichtet. Sie sind sehr strikt. Sie fordern die formale Einhaltung ökologischer Standards. Unter den Bedingungen Russlands ist eine Erfüllung dieser Standards aber nicht möglich. Kommt also ein Beamter des ökologischen Dienstes auf die Sowchose und sagt: `Sie müssen ausmisten, sie müssen die Wege pflegen, sie müssen dies und das!´ Der Direktor hat aber keine Kräfte und keine Mittel; es ist nicht real! – Da muss man dem ökologischen Dienst dann einfach „Wsjatki“, geben, mit ihnen trinken, heißt das, sie verpflegen, ihnen Geld geben, damit sie dann wieder gehen. Der ökologische Dienst gilt deshalb als einer der schlimmsten Racketteure, Schutzgeldeintreiber, den die örtlichen Landgemeinen am meisten fürchten. So sieht es mit der Ökologie vor Ort aus.“
…na mestach.“

Erzähler:
Auch im Bereich der Industrie wollen Patriotismus und Privateigentum sich partout nicht verbinden: Die schwachen Anzeichen eines Aufschwungs in der Industrie führen nicht zu mehr Recht und Gesetz, sondern zu einem gnadenlosen Run der Spekulanten auf die wenigen effektiven Betriebe.
Ausgerechnet Betriebsrat Afonin, der den Aufschwung so sehr begrüßt, klagt bitter über diese Entwicklung. Nachdem er seine Begeisterung über die neue Stabilität geäußert hat, fährt er fort:

O-Ton 15: Alexander Afonin, Betriebsrat            0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Chatja wo to schto…
“Andererseits – was sich gegenwärtig um die Fabrik herum abspielt, das ist genau die negative Seite: dass sich alle die, die sich um die sogenannte Privatisierung von Unternehmen bemühen,  jetzt auf unseren Betrieb stürzen, um Aktien zu kaufen, Firmen, Organisationen, Personen, ganz beliebig. Für irre Summen wollen sie von unseren Betriebsmitgliedern Aktien erwerben. Wir wollen aber die Dividende für die Fabrik haben. Deswegen haben wir  jetzt faktisch einen Aufkauf von Aktien durch die Belegschaft des Betriebes organisiert, damit wir auf unserem guten Wege weitermachen können.“
… tak prodolschatj.“

Erzähler:
Der gute Weg des Betriebes – das ist der Einsatz der Gewinne für Investitionen und für die Auszahlung der Löhne. Eine paradoxe Situation ensteht: Kaum zeigt sich ein Betrieb als rentabel, stürzen sich die Aktienhaie auf ihn, während die Belegschaften sich mit Direktoren und Kommunen zusammenschließen, um feindliche Übernahmen zu verhindern. Im ganzen Lande entwickeln sich Konflikte dieser Art. Je stärker der Aufschwung, je mehr also zu verteilen ist, um so stärker werden sie zunehmen. Wladimir Putins Sozialpolitik heizt diese Entwicklung zudem in doppeltem Sinne an: Das neue Steuergesetz begünstigt die Reichen; die Ersetzung der betrieblichen Sozialfonds durch staatliche Sozialfürsorge dagegen entzieht der armen Bevölkerung die Lebensgrundlage, denn diese Maßnahmen führen praktisch zu einer Liquidierung des immer noch bestehenden Systems der naturalen Betriebszuwendungen, von denen ein Großteil der russischen Bevölkerung heute lebt, ohne ihr aber für die Zukunft einen Lohn garantieren zu können, der den Wegfall der betrieblichen Leistungen aufwiegt.
Mit der Novellierung des immer noch geltenden sowjetischen Arbeitsgesetzes, in dem weitgehende Rechte und Versorgungsansprüche festgeschrieben sind, will die Regierung gleichzeitig die Rechte der arbeitenden Bevölkerung einschränken. Realistisches Ergebnis dieser Politik, so Oleg Neterebski, Vizepräsident der „;Moskauer freien Gewerkschaften“, kann nur Protest sein oder, wie schon im Agrarbereich deutlich wurde, die Mißachtung der neuen Gesetze:

O-Ton 16: Oleg Neterebski,             1,23
Vizepräsident der „Moskauer Freien Gewerkschaften
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„liba tichi bunt..
„Entweder stiller Aufruhr oder lauter Aufruhr, aber auf jeden Fall Aufruhr. Verstehen Sie, es gibt offenen und es gibt heimlichen Aufruhr. Heimlicher Aufruhr ist auch ein Aufruhr. Das ist die vollkommene Stagnation aller Aktivitäten, grob gesagt, das ist einfach der Übergang auf ein eine andere Ebene der Gesellschaft, wo jeder für sich ist und das ganze System des Staates zerfällt. Das ist noch katastrophaler, als wenn der Mensch in einer bestimmten Situation offen protestiert. Aber ich bin Pragmatiker und deshalb erwarte ich nicht das Schlimmste. Putins Absicht der Straffung des Staates ist ja von der Idee her in Ordnung. Aber ich sehe erst einmal, dass die neuen Spielregeln vor Ort nicht gelten. Wir kennen doch unser bürokratisches System: Das ist ein äußerst langer, korrumpierter Mechanismus, bei dem der Erfolg keineswegs sicher ist. Das ist das Problem.“
…vot tscho problema.“

Erzähler:
Ein weiteres Problem wurde deutlich, als im Sommer 2000 der „Ostankino“, Moskaus Fernsehturm, ausbrannte: Bis zum Brand galt der Turm als Symbol technischer Größe der Sowjetunion, heute Russlands, ähnlich wie die Raumfahrt oder die Metro in Moskau und St. Petersburg. Seit dem Brand haben die Gewerkschaften ein neues Thema: die Überbelastung und die Überalterung der technischen Anlagen des Landes, die ohne Modernisierung zur technischen Katastrophe führen wird.
Ähnliches wie mit dem „Ostankino“ kann jederzeit bei der Metro geschehen, meint Wladimir Sassurin, Vizepräsident der Gewerkschaft der Transportarbeiter, gequält von dem Straßenlärm, der ungefiltert in sein enges, graues Büro drängt:

O-Ton 17: Wladimir Sassurin, Gewerkschafter        0,41
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„I nje tolka metro…
„Und nicht nur die Metro. Das Jahr 2003 oder 2004 ist, so weit ich weiß, bereits als Jahr der technogenen Katastrophe eingeplant. Ist das etwa normal, eine technogene Katastrophe so einzuplanen? Nötig wäre zu planen, dass sie nicht eintritt! Das kann in Russland nur der Staat. Das sage ich Ihnen nicht nur als Gewerkschaftsführer, nicht nur als Vizepräsident, sondern einfach als russischer Mensch.“
…tschelowjek.“

Erzähler:
Was Gewerkschafter Sassurin mit seinem begriff der „technogenen Katastrophe“, etwas grob übersetzt einem allgemeinen technologischen SuperGAU, nur andeutet, bekommt bei Professor Leonid Gordon, Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft, wissenschaftlich belegte Konturen: Nicht nur die Metro, nicht nur Betriebe, die gesamte allgemeine Infrastruktur samt Bausubstanz der Wohnhäuser sei gefährdet, erklärt er. Nirgends lebten so viele Menschen in Wohnblocks wie in Russland. Die meisten dieser Bauten seien zu schnell hochgezogen worden, ihre Modernisierung überfällig.. Vor allem im fernen Osten Russlands. In einem Vergleich mit den USA versucht der Professor das Problem, vor dem Russland heute steht, deutlich zu machen:

O-Ton 18: Prof. Gordon, Institut für Weltwirtschaft    1,10
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Nu. predstawtje sebja…
„Denken Sie an die Einfamilienhäuser in Amerika: In jedem Haus ist voller Komfort. Aber sie sind individualisiert. Die Elektrische, also die Bahn, ist natürlich zentralisiert, die Wasserversorgung, Kanalisation. Aber letztlich kann man dort selbst, auf eigene Rechnung, mit eigenen Händen etwas machen. In Russland möchten die Menschen sehr gern mit ihren eigenen Händen etwas tun. Sie machen es ja auch, wo es geht, selbst Professoren renovieren ihre Wohnungen selbst, ihre Datschen usw. Das ist eine große Reserve der Gesellschaft. Aber es gibt verschiedene Dinge, die sind so zentralisiert, da kann man alleine einfach nichts ausrichten. Deshalb ist die Situation heute zwar etwas besser als 1998, aber da gibt es diese kranken Punkte, aus denen heraus die Situation sich sehr schnell ändern kann – was Gott verhüten möge .“
…schto eta nje byla…“

Erzähler:
Eine ernüchternde Zustandsbeschreibung gibt Marina Schabanowa, Soziologin aus Nowosibirsk. Ende 2000 legte sie ein Buch zur „Sozialen Freiheit in der Transformations-Gesellschaft“ vor. Darin zieht sie Bilanz aus ihren zehnjährigen Forschungen zu der Frage, ob die Bevölkerung durch Perestroika und Privatisierung mehr oder weniger Freiheit gewonnen hat. Ihr Ergebnis: Zwar gebe es heute mehr Freiheiten, die von einer kleinen Schicht aktiver Menschen genutzt werde:

O-Ton 19: Marina Schabanowa, Soziologin            0,49
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„W`tosche wremja…
“Zugleich zeigen die Befragungen jedoch, dass das Niveau der individuellen Freiheit bei der Mehrheit der Bevölkerung sich in derselben Zeit gesenkt hat: Die Menschen wurden unabhängiger, selbstständiger und sie haben die Rechte dazu, aber unter den heute bestehenden Bedingungen halten sie sich für weniger frei. In ländlichen Gegenden meinen sogar 68 – 73%, dass sie unter den neuen Bedingungen weniger Möglichkeiten haben, so zu leben, wie sie es selbst wollen, das heißt, das ohne Hindernisse zu verwirklichen, was sie selbst wollen.“
…prepjatswijemi.“

Erzähler:
„Freiheit, ja – Möglichkeit ihrer Verwirklichung, nein“: Unter Wladimir Putins Politik habe sich dieser Widerspruch noch verschärft, meint Frau Schabanowa. Ihre Erwartungen sind düster: Auf der einen Seite entwickle sich Individualismus, vor allem bei den Jungen und bei der mittleren erfolgreichen Generation, das sei im Prinzip ja nicht schlecht, als Ergebnis davon zerfalle jedoch der bisherige gesellschaftliche Konsens. Was da heranwachse, schildert sie so:

O-Ton 20: Schabanowa, Forts.            1,15
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Nu, kak okonomitschiski…
„Nun, der ökonomische Mensch, der nur an sich denkt. Aber das spaltet die Gesellschaft, Missgunst entsteht und es wird lange keine Anerkennung des Privateigentums geben, weil man das alles als gesetzlos, unmoralisch usw. betrachtet. Das kollektive Prinzip geht verloren. Jetzt verbinden sich die Menschen nicht mehr in Kollektiven, sie schließen sich in den Familien zusammen. In Polen heißt es: `Ich bin Pole´ oder `Ich bin Katholik´. Bei uns heißt es: `Ich bin Vater´, `Ich bin Bruder´ oder wie immer. Das heißt, sehr stark definiert man sich aus der Familie, weil die Hauptaufgabe heute ist, das Überleben der eigenen Familie zu sichern. Das füllt die Menschen heute vollkommen aus. Solange sich die Menschen weiter auf diesem Niveau der ersten Befriedigung von Grundbedürfnissen befinden, werden sie keinen Losungen von irgendeiner nationalen Idee folgen.“
…nationalnuju ideu.“

Erzähler
Konkrete Änderungen der Situation seien notwendig, erklärt sie: Größere Produktionssicherheit, mehr Rechtssichertheit, bessere Förderung der Wissenschaft, insgesamt eine stärkere Rolle des Staates. Den aktuellen Maßnahmen der Regierung jedoch –  Steuergesetz, Sozialgesetz, Arbeitsgesetz – steht sie skeptisch gegenüber.

O-Ton 21: Schabanowa, Forts.             0,49
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, verblenden

Übersetzer:
„Vot, to jest…
“Man hat bei uns neue Gesetze erlassen, aber keine Mechanismen für ihre Realisierung aufgestellt. Jetzt sind da Menschen, die früher solche Rechte nicht hatten, sie jetzt in Anspruch nehmen wollen, aber nicht können. Das hat negative Auswirkungen auf die Freiheit. Gleichzeitig will man nicht verlieren, was man früher hatte. Beides ist nicht immer vereinbar. Kann sein, dass das in einer sich verändernden Gesellschaft für eine gewisse Zeit unvermeidlich ist. Aber die Freiheit wird leiden, wenn man den Menschen nicht entweder die neuen Rechte gibt oder die alten wiederbelebt.“
…wosratdatj starije.“

Erzählung:
Unter diesen Umständen, so Frau Schabanowa, bestehe die Gefahr, dass von Wladimir Putins „Diktatur der Gesetze“ nur die Diktatur übrigbleibe und Freiheit wie zu Zeiten Wladimir Wyssotzkis, des großen Protestsängers der Sowjetzeit, als persönliches Aufbegehren in den Untergrund abgedrängt werde.

Athmo 4: Musik – Wladimir Wyssotzki            1,23
Regie: Hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem ersten Absatz vorübergehend hochziehen, allmählich abblenden

Erzähler:
Probleme im Agrarbereich, Aufruhr in Betrieben, drohender TechnoGAU, der Aufschwung erkauft durch den Krieg und zudem abhängig von der Höhe des Ölpreises auf dem Weltmarkt, dazu ein gesellschaftliches Klima, in dem Rechtssicherheit durch Abdrängen der politischen Opposition und Einschränkung lokaler Selbstverwaltung erkauft wird – das sind die Marken am Horizont der putinschen Stabilität.

Regie: Ton vorübergehend hochziehen

Wo liegen die Ursachen für diese Konstellation?
Bei der Suche nach Erklärungen trifft man auf Menschen wie Wjatscheslaw Nikonnow. Er ist Chef eines „Fonds für Politik, lebt von politischer Beratung, versteht sich selbst als konservativ. Geradezu aufreizend gelassen betrachtet er das „Putinsche Fieber“, wie er es nennt. Putin ist für ihn, wie er sagt, nur die Rückkehr zur Norm“:

O-Ton 22: Wjatscheslaw Nikonnow, Konsultant            0,45
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„U Putina njet…
„Putin hat kein Konzept. Von russischem Weg oder dergleichen hat er nicht wirklich gesprochen. Für mich ist allerdings klar, dass es das westliche Entwicklungsmodell für Russland nicht geben wird. Russland hat ein paar spezieller Besonderheiten, sowohl im nationalen Charakter, als auch im wirtschaftlichen System und in der Geografie, durch die es sich vom Westen sehr unterscheidet. Das ist hinreichend bekannt. Klar ist, dass es hier bei uns immer ein großes Ausmaß staatlicher Einmischung, dass es immer Staatswirtschaft geben wird. Russisch – das heißt: Bürokraten mischen sich ins Geschäft!“
…utschastewajet bisenissom.“, lacht

Erzähler:
Zur Norm gehöre aber auch das, so Nikonnow weiter,  was Wladimir Putin „kollektivie Traditionen“ nenne. Allerdings müsse man präzisieren: Nicht um Kollektivismus gehe es, sondern um korporative Strukturen. Genauer, setzt er hinzu, gehe es nicht um irgendeine mystische kollektive Mentalität der vielzitierten „russischen Seele“, sondern um konkrete soziale Strukturen im Zusammenwirken von Einzelnen  und Gemeinschaft, Führern und Geführten:

O-Ton 23: Nikonnow             0,58
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Korporativism, konjeschna..
„Korporativismus ist natürlich kein Kollektivismus, von dem immer die Rede ist, also dieses angebliche kollektive Bewusstsein. Umgekehrt: Russland ist ja gerade ein sehr individualistisches Land. Bei uns sagt man oft, wir hätten den Kollektivismus aus dem Osten und die Arbeitsliebe aus dem Westen. Ich denke eher, aus dem Westen haben wir den Individualismus, das Einzelgängertum, aus dem Osten den Despotismus: Despotismus auf individueller Grundlage – das ergibt eine einzigartige Mischung! Sie ist dem westlichen Menschen wenig verständlich. Mit Sicherheit aber gibt es keine puritanische protestantische Arbeitsethik in Russland und wird es auch keine geben. Es ist ganz offensichtlich, dass es hier andere Spielregeln geben wird.“
…prawili igri.“

Erzähler:
Moskau stehe seit eh und je zwischen Zentralismus und Anarchismus, das russische Imperium finde seinen Sinn darin, die Einheit in der Vielfalt der Völker Euro-Asiens herzustellen und dies immer wieder auch mit Gewalt. Russland ist nicht Europa, konstatiert Wjatscheslaw Nikonnow schließlich, allerdings auch nicht Asien:

O-Ton 24: Nikonnow            0,15
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Rossije eta…
„Russland ist nicht Osten und nicht Westen – Russland ist Russland. Es liegt auch nicht irgendwie zwischen etwas – es ist eine eigene Zivilisation, die sich von östlicher und westlicher unterscheidet und so wird es auch in Zukunft sein.“
..i tak budit.“

Erzähler:
In der Zwitterlage zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Sozalismus sieht auch Tatjana Saslawskaja die Besonderheit ihres Landes. Frau Saslawskaja war Ende der achtziger Jahre wissenschaftliche Stichwortgeberin der Perestroika; danach war sie vorübergehend als Beraterin Gorbatschows tätig. Heute ist sie Co-Rektorin im ”Institut für Sozialwissenschaften” in Moskau. In ihrem Buch, `Die Gorbatschow-Strategie´ von 1989, beschrieb sie die damalige sowjetische Ökonomie mit den Worten:

Zitator:
”Das beschriebene System  stellt eine Art Hybridprodukt, einen  Zwitter aus dem zentralisierten  planwirtschaftlichen und dem marktwirtschaftlichen  Weg dar, wobei  es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht  mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird,  sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.”

Erzähler:
Von Beziehungswirtschaft sprach sie an anderer Stelle. Viele Begriffe wurden später gefunden, um das zu definieren, was aus der Transformation des von Frau Saslawskaja beschriebenen sowjetischen Zwitters hervorging: „Übergangsgesellschaft“ „Mutant“. Sie selbst spricht heute von einem „kriminellen Monster“: In einem aber gleichen sich alle Erklärungsversuche: Früher oder später rückt bei allen die Rolle, die das Kollektiv in der russischen Gesellschaft einnimmt, ins Zentrum der Fragestellung. Gerade die Schwierigkeiten der Privatisierung ließen ein Element der russischen Sozialordnung hervortreten, das weit hinter die sowjetische, tief in die russische Geschichte zurückreicht, die „Obschtschina“, die alte russische Bauerngemeinschaft, deren gemeineigentümliche Sozialordnung zum Grundmuster der sowjetischen Gesellschaft wurde.
Boris Kagarlitzki, der schon zitierte linksreformerische Analytiker, erklärt, wie das zu verstehen ist:

O-Ton 25 : Boris Kagarlitzki             1,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, runterziehen, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Schto takoje..
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Obschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umso mehr als man darum herum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befasst sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“
…i tagdali.“

Erzähler:
Hier ist man am Drehpunkt russischer Staatlichkeit: Wer Geschichte und Aktualität des russischen Staates verstehen will, muss die Geschichte der „Obschtschina“ studieren. Teodor Schanin, Russlands zur Zeit führender Agrartheoretiker, Rektor der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“, zugleich Professor der Ökonomie in Manchester, beschreibt diese Geschichte so:

O-Ton 26: Prof. Teodor Schanin, Ökonom                        1,09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„If you talk…
„Wenn man von der Obschtschina spricht, die es im 19. Jahrhundert in Russland gab, dann war sie ein System, das gut für die Bauern war, indem es gegen hohe Risiken der Landwirtschaft schützte in einer Situation, in der es extrem schwierig war, ohne die Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die „Obschtschina“ eine Funktion für die Regierung, nämlich, ihre Macht ohne allzu große bürokratische Strukturen auszuweiten: Ohne jemanden vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, dem Dorf den Befehl zu geben, Rekruten für die Armee zu stellen oder Steuern zu zahlen. Man brauchte keinen Beamten zu schicken. Das machten alles die Bauern selbst. Die Elite wiederum konnte unterwegs sein. In diesem Sinne war die Obschtschina effektiv nach zwei Seiten: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern und sie diente den Bedürfnissen der Regierung. Auf diese Weise schaffte sie Stabilität.“
… was so stable.“

Erzähler:
Nach innen agrarischer Ur-Kommuninismus, nach außen Instrument des Moskauer Zentralismus – das war das Doppelgesicht der „Obschtschina“, das den Westen und westlich orientierte Reformer immer wieder verwirrte. Sie schaffte nicht nur Stabilität, sie war auch selbst über Jahrhunderte stabil, weil beide Seiten an ihrer Existenz interessiert waren. Ihre neuere Entwicklung beschreibt Teodor Schanin mit den Worten:

O-Ton 27: Schanin, Forts.                 1,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
“But this type of…
„Aber dieser Typ von Obschtschina kam in die Krise, weil einige sie verlassen wollten, andere nicht. Speziell in der Zeit Stolypins, des letzten zaristischen Reformministers, war es so. Er wollte sie auflösen, weil er fürchtete, dass sie ein Instrument für die revolutionäre Aktion werden könnte, was sie 1905, 1906, 1907 auch tatsächlich wurde. Die Stabilität der Obschtschina, ihre Kraft, ihre tiefen Wurzeln bewiesen sich sehr direkt, als der Bürgerkrieg kam; da kehrten alle Obschtschinas ins Leben zurück, auch die, die unter Stolypin aufgelöst worden waren. 1920 gründeten die Bauern selbst wieder Obschtschina, sodass diese viel mehr waren als bloße staatliche Institutionen. Die Bauern gaben dem System der Obschtschina die Präferenz vor anderen Arten zu leben. Aber diese Art wurde zerstört. Heute benutzen die  Russen das Wort Obschtschina in der Bedeutung von Gemeinde. Also, wenn es nur Gemeinde heißt, dann ist jedes Dorf eine Obschtschina; wenn es aber im Sinne von gegenseitiger Unterstützung gemeint ist, im Sinne von gemeinsamem Besitz und immer wieder vorgenommener Neuaufteilung von Land nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dann existiert sie nicht mehr
…does not exist.“

Erzähler:
Zerstört wurde die alte „Obschtschhina“ durch Stalin, der die gewachsene Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe im Zuge der Kollektivierung in staatliche Zwangsgemeinschaften verkehrte, in denen das Privateigentum aufgehoben war. Viele Bauern wurden zwangsweise in die Fabriken getrieben; wer auf dem Dorfe blieb, durfte, wie einst unter Iwan dem Schrecklichen, das Dorf nicht oder nur mit Sondererlaubnis der Partei verlassen. Der Bauer wurde Angestellter auf seinem eigenen Feld, sein Hof war Eigentum der Sowchose. Diese Verhältnisse lockerten sich nach Stalins Tod. Unter Breschnjew war der eigene Garten, waren die eigenen Hühner, war das eigene Schwein möglich, manchmal auch schon die eigene Kuh. Boris Jelzins Privatisierungspolitik zielte auf die vollkommene Auflösung der dörflichen „Obschtschina“ und der nach ihrem Muster geformen Arbeitskollektive. Den heute erreichten Stand skizziert Teodor Schanin so:

O-Ton 28: Teodor Schanin                                     0,59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„To which extend…
„Zu welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben – ich meine, die Menschen beeinflussen sich gegenseitig – ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, im Süden Russlands, zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein `Aktiengesellschaft-Dorf´, aber es ist exakt dasselbe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft.“
… it operates.“

Erzähler:
Wie es läuft, das führt Teodor Schanin zu Erkenntnissen, die er unter dem Begriff der „extrapolaren Ökonomie“ zusammenfasst, einer Wirtschaft, die außerhalb der bekannten Pole von Kapitalismus oder Sozialismus, Staatsdirigismus oder Liberalismus stattfindet. In ihr erreicht das Modell der „Obschtschina“ trotz ihrer aktuellen Desorganisation gesamtgesellschaftliche Bedeutung für eine Lebensweise, die kollektive und private, industrielle und familiäre Ökonomie in anderer als der im Westen vorherrschenden Art miteinander verbindet Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert: „Blat“ Beziehungen, heißt das Zauberwort, das schon Frau Saslawskaja zu ihrer Analyse der „Beziehungswirtschaft“ brachte. Das Wesen dieser Wirtschaftsweise erklärt Teodor Schanin so:

O-Ton 29: Schanin, Forts.                                    1,07
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It´s economy favours…
„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst Es spielt keine Rolle, ob das Tauschobjekt gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. In der Sowjetzeit nannten wir es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht: Anschieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen.  Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“
… will stop.“

Erzähler:
„Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs“, das bedeutet: Der Austausch von Gunst, findet, so wie die russische Gesellschaft organisiert ist, selbstverständlich nicht als Aktion zwischen isolierten Individuen statt, sondern zwischen Personen, die Mitglieder von Gemeinschaften oder Kollektiven sind. Sie bringen die Möglichkeiten ihrer Gemeinschaft in den Austausch mit ein. Anders gesagt, der einzelne Mensch ist so stark wie die Gemeinschaft, die Obschtschina, der Clan, das Kollektiv, dem er angehört. Die „Gunst“, von der Teodor Schanin spricht, wird zwischen den Kollektiven ausgetauscht. Die Individuen sind nur die Vermittler, wie der von Schanin erwähnte „Tolkatsch“, der Anschieber in der Sowjetzeit.
Vor dem Hintergrund dieser Realität wird Wladimir Putin, Stabilität und zugleich Demokratie letztlich nur herstellen können, wenn er sich auf diese real existierenden sozialen Strukturen und die damit untrennbar verbundene Mentalität der russischen Bevölkerung stützt. Darin folgt er Jelzin und Gorbatschow, Lenin und Stalin, dem letzten Zaren Nicolaus II. ebenso wie den ersten Selbstherrschern Moskaus im 15. und 16. Jahrhundert. Stabilität entsteht in Russland nicht aus dem Austausch individueller Interessen auf einem offenen Markt, sondern aus der kunstvollen, wenn nötig auch obrigkeitlichen Regulierung des Gunstgeflechtes, in dem Mitglieder von Gemeinschaften handeln. Wohl vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die russische Sprache kein passendes Wort für den westlichen Begriff des Staates hat. „Staat“ kann ins Russische entweder nur mit dem Lehnwort „Schtat“, mit der Umschreibung „bürgerliche Gesellschaft“ oder mit dem russischen „Gossudarstwo“ übersetzt werden. Das letztere aber bedeutet nicht Staat, sondern Herrschaft. Dafür kennt das Russische jedoch eine Reihe von Ersatzbegriffen wie „Büroktie“, Administration“, „Macht“ und dergleichen.
Was könnte unter den Bedingungen der heutigen Veränderungen in Russland heute daraus erwachsen? Diese Frage beantwortet Alexander Nikulin aus der Pespektive der Agrarwissenschaft mit den Worten:

O-Ton 30: Nikulin                             1,11 (Text kürzer als der Ton)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,  verblenden

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja….
„Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow ist ein großer russischer Agrarwissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts, der die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Diese Theorie ist eine Kombination, sagen wir, des Individuellen und des Kollektiven, wenn die einzelne Menschen in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind, dabei in Prozesse, die man einschätzen, die man rationalisieren kann. Das ist nicht einfach die Obschtschina, das ist die effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. In Abhängigkeit von Ort und wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann es sehr viele unterschiedliche Kombinationen dieser Art geben. Sie bilden sich zur Zeit spontan und arbeiten in Russland. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlern, von Politikern, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen rationalen Entwicklung zu geben. Das erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
…perspektivni putj.“

Erzähler:
Alexander Nikulin, ebenso wie sein Lehrer Teodor Schanin und die mit ihm verbundene Schule Tatjana Saslawaskajas sind nicht die einzigen, die sich Gedanken dieser Art machen. Auch unter Historikern, Philosophen und Publizisten entwickelt sich die Debatte, wie Russlands nationale Identität aussehen könnte.
Igor Tschubajs, Bruder des berüchtigten Ministers für Privatisierung in der Zeit Jelzins, Anatoly Tschubajs ist einer von ihnen. Er ist Historiker an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Er leitet dort den Forschungsbereich einer „Philosophie Russlands.“ Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Weltbildes, so Igor Tschubajs, nachdem klar wurde, dass die dadurch entstandene Leerstelle nicht durch einen einfachen Import aus dem Westen zu schließen sei, ebensowenig aber durch eine Rückkehr zum imperialen Russland des Zarismus, bleibe für Russland im Grunde nur ein Weg:

O-Ton 31: Igor Tschubajs, Historiker
2000/2, Band 2, A, 492
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

„Jedinstwenni prijemlimi putj…
„Der einzige annehmbare Weg ist der weg der Akzeptanz, der Weg der Wiedervereinigung mit sich selbst. Ich kann sagen, dass bei uns in unserem Lande jetzt zum ersten mal seit siebzig Jahren eine neue, unabhängige wissenschaftliche Schule entstanden ist, eine neue wissenschaftliche Richtung wie seinerzeit die Frankfurter Schule in Deutschland oder die Wiener Schule der Philosophie. Die Schule, die bei uns entstand, nennt sich „Schule der Akzeptanz“
492 ..schkola priemstwa.“

Erzähler:
Akzeptanz und Modernisierung von Grundwerten des russischen Selbstverständnisses ist das Anliegen dieser Schule, so Igor Tschubajs. Um drei Aspekte gehe es: Um die „Sammlung russischer Erde“, das ist die Frage des russischen Imperiums, um die kollektiven Gemeinschaftstrukturen, die Obschtschina, und um die orthodoxe Religion. Eine Erneuerung dieser Grundwerte, also eine neue russische Idee könne aber weder von oben verordnet, noch den Menschen und Völkern Russlands übergestülpt werden. Sie müsse von unten wachsen. Das braucht Zeit.

Athmo 5: Musik –                     2,12
Bulad Okutschawa“ „Noch dreht sich die Erde…“
Regie: Verblenden, Ton allmählich kommen lassen, am Ende hochziehen und ausklingen lassen

Erzähler:
„Noch dreht sich die Erde“, singt Bulad Okudschawa. Er wird von allen verehrt. In seinen Liedern sind die Gegensätze zwischen Asien und Europa, zwischen Aufbegehren und Despotismus, zwischen Gunstwirtschaft und Dirigismus, an denen westlich orientierte Reformer in Russland immer wieder gescheitert sind, zu einer zärtlichen Symbiose vereint. Ob die von einem starken Mann Putin angestrebte Verbindung von Privateigentum und Patriotismus geeignet ist, diese Symbiose zum Wohle Russlands zu fördern, muss sich erweisen.

Euroasiatische Visionen russischer Nationalisten

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Gesamtzeichen:
Gesamtlänge der O-Töne: 28 Min.

Kürzungsmöglichkeiten (der Priorität nach)

Achtung: zwei Bänder!
– Atmos   1 – 4 (Athmo 4 entfällt)
– O-Töne 1 – 18

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Euroasiatische Visionen
russischer Nationalisten

Athmo 1: Gesang                1.03
Regie: Ton allmählich kommen lassen, ausreichend stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden

Erzähler:
Beim sortieren der Beeren, die er selbst in der Taiga, dem sibirischen Urwald gesammelt hat, singt Gennadij Schadrin russische Volkslieder. Djeenja, so nennen ihn seine Begleiter, ist ein sibirischer Jäger, Ökologe und Patriot. Er arbeitet als Agrarreporter beim Nowosibirsker städtischen Radio, wo er regelmäßige Sendungen über die Entwicklung der Dörfer und ihrer Menschen macht. Sein Hauptinteresse gilt der Bedrohungen, der die Dörfer seit der großen Wende durch die „westliche Überfremdung“, wie er es nennt, ausgesetzt sind. Djeenja ist ein friedlicher Mensch. Die Lieder seiner Heimat, die Beeren der Taiga, die Pflege der russischen Sprache und Kultur sind ihm wichtiger als die großen politischen Fragen. In den Dörfern müsse man sich umschauen, meint er. Dort werde das Russische am ehesten bewahrt:

O-Ton 1: Wasser am Brunnen    1,06
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Geräusche von Wassereimern…
Am Brunnen eines Dorfes kommt Djeenja am nächsten Tag ins Plaudern. Die neue Zeit verwirre die Menschen, meint er. Man wisse nicht mehr, was man denken solle, noch weniger, wie man sich in dieser Krise gesund erhalten könne. Zurück zur Sowjetzeit wolle natürlich niemand, der westliche Weg bleibe den russischen Menschen fremd. Doch gebe es einen russischen Weg, das Leben zu meistern, das „System Iwanow“, dem viele Sibiriaken und auch Menschen im Westen Russlands heute folgten.
Wasser, Waschgeräusche

Erzähler:
Das System Porfirjew Iwanows, Energie aus der Abhärtung gegen die Kälte zu gewinnen, wird heute von vielen Menschen in Sibirien angewandt: Morgens, gleich nach dem Aufstehen kann man aus den Haustüren sibirischer Wohnhäuser Menschen kommen sehen, die sich kurzentschlossen kaltes Wasser über den Kopf gießen – sommers wie winters, auch in den Städten. Nicht alle jedoch, die in der Verwirrung der neuen Zeit nach neuen Wegen suchen, bescheiden sich mit einem solchen selbstgenügsamen Weg. In Moskau klingen selbst die gemäßigten Töne schon anders. Hören wir Jefim Berschin, Redakteur und Poet. Er hat den Zusammenbruch des sowjetischen Weltbildes begrüßt; nun aber das amerikanische an dessen Stelle zu setzen, weigert er sich. Amerikanischer Geschäftssinn könne niemals die russische Kultur ersetzen, so Jefiim Berschins Überzeugung, das amerikanische Bewusstsein sei einfach erschreckend. Aufgeschreckt durch das Eingreifen der NATO im Kosovo erklärt er:

O-Ton 2:Jefim Berschin    1,11
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„W` Amerikje ssewodnja..
„In Amerika wird heute eine Ideologie des Anti-Intellektualismus propagiert: Der Mensch soll tätig sein, er soll nicht denken, er braucht keine Bildung. Das ist ROM am Beginn des 21.Jahrhunderts.  Amerika versteht nicht, was es da anrührt. Amerika glaubt, dass man seine eigenen Ziele künstlich in jedes beliebige Land importieren und sie dann dort wirken lassen kann. Das ist nicht möglich. – Warum versteht Amerika das nicht? Weil Amerika die Wichtigkeit des kulturellen Ursprungs des Staates nicht begreift. Insofern Amerika selbst keine kulturellen Ursprünge hat, sondern alles aus verschiedenen Ländern zusammengerührt ist und eine eigene Kultur noch nicht entstanden ist, ist Amerika ein Land ohne kulturelle Wurzeln. Es versteht die Wichtigkeit von Kultur und Tradition nicht,  nur Alltagskultur. Europa dagegen muss das begreifen! Die europäischen Staaten sind doch Staaten mit ältesten Kulturen!“
… kulturami:“

Erzähler:
Russische Eigenständigkeit in Abgrenzung nach Westen, vor allem gegenüber den USA ist heute der Grundkonsens russischer Patrioten, gleich ob in der Metropole oder auf dem Lande. Europa, insbesondere Deutschland dagegen anvanciert zum Wunschpartner, mit dem man sich kulturell verbunden fühlt und mit dem man die USA in die Schranken weisen möchte. In den letzten Jahren der Jelzinschen Präsidentschaft entwickelte sich diese Linie zu einer mächtigen Gegenkraft zu dem nach Westen orientierten Kreml. Gallionsfigur dieser Bewegung wurde vorübergehend der General Alexander Lebed. Nach dem von ihm für den ersten tschetschenischen Krieg 1996 bewirkten Waffenstillstandsvertrag gewann er vorübergehend soviel Popularität, dass er 1996 im Wahlgang um die Präsidentschaft als dritter nach Boris Jelzin und dessen Systemsgegner Gennadij Szuganow, dem Chef der KP, durchs Ziel ging. Im zweiten Wahlgang abgeschmettert verlegte Alexander Lebed sich dann allerdings darauf, im fernen Krasnojarsk das Modell einer euroasiatisch orientierten Herrschaft aufzubauen, um es von dort aus nach Moskau zu tragen. Zur Aktualität der euroasiatischen Orientierung waren aus dem Kreis seines Kranojarsker Kommandos seinerzeit Einschätzungen wie diese zu hören:

O-Ton 3: Wladimir Polutschin, Kultusminister     0,51
in Krasnojarsk
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„No takawa Situatia…
„Nun, das ist die Situation, denn das Territorium ist riesig. Da ist das asiatische Territorium und ein Teil liegt in Europa. Das ist natürlich ein Problem. Es ist aber auch die einzigartige Chance, zur Brücke zwischen Osten und Westen zu werden. Das ist meine Meinung. Das ist aber auch die Meinung von Alexander Iwanowitsch, dass Russland im 21. Jahrhundert nur dann wirklich ein mächtiger und wirtschaftlich präsenter Staat werden kann, wenn wir zur Brücke zwischen Osten und Westen werden können. Das ist für Russland die Chance, wenn ein guter Führer kommt.“
…nastajeschi lider.“

Erzähler:
Der so spricht, ist Wladimir Polutschin, Minister für Kultur in dem von Alexander Lebed nach seiner Wahl zum Gouverneur von Krasnojarsk zusammengestellten Kabinett. Mit dem kommenden Führer war selbstverständlich Alexander Lebed gemeint, der mit der von ihm geschaffenen Bewegung „Ehre und Heimat“ und seinem Versprechen auf eine „Diktatur des Gesetzes“ bei der Wahl im Jahr 2000 Präsident zu werden hoffte. Tatsächlich ging ein anderer mit der selben Losung durchs Ziel, Wladimir Putin. Gegen Alexander Lebed, der mit dem Image eines „Generals für den Frieden“ warb, siegte Wladimir Putin als Zivilist, der den zweiten tschetschenischen Krieg für die Wiederherstellung der imperialen Größe Russlands begann und ihn bis heute noch führt. Jetzt fühlen sich all diejenigen ermutigt, für die Russlands Lage zwischen Asien und Europa schon immer mit aggressiveren Vorstellungen verbunden war. Wichtigster Vertreter dieser Linie ist Alexander Dugin, seit der Wende unter Michail Gorbatschow Autor zahlloser Artikel zu Fragen der euroasiatischen Geopolitik Russlands, Herausgeber einer nationalistischen Theoriezeitung „Elemente“ und seit den Wahlen zur Duma im Oktober 1999 auch politischer Berater des Dumapräsidenten Selesnjow.
Alexander Dugin begrüßte die Wahl Wladimir Putins mit den Worten:

O-Ton 4: Alexander Dugin    0,55
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice
„Putin ja magu skasatj..
„Was Putin sagt ist das, was ich seit Jahren sage. Faktisch wiederholt er Wort für Wort das, was ich seit vielen Jahren vorbringe. Ich bin nicht einfach nur Nationalist, ich bin Euroasiatiker. Das ist ein umfassendes Konzept, das ich entwickelt habe. Es betrifft drei Elemente: Die geopolitische Denkweise, das euroasiatische Projekt, die Selbstständigkeit der russischen Zivilisation. Ich wirke seit Jahren durch die zentristischen Strukturen, Minister, Innenministerium, Armee. Ich habe immer wieder gesagt: es kommt der Moment, das die euroasiatische Sicht zum offiziellen strategischen Programm Russlands wird. Mit Putin ist es soweit.“
…c Putinnom eta biwaetsja.“

Erzähler:
Ohne eine Frage abzuwarten, erläutert er, was er unter einer geopolitischen Denkweise versteht:

O-Ton 5: Dugin, Forts.     1.05
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
“Geopolititschiskaja termina…
„Grundgedanke der Geopolitik liegt im Gegensatz zwischen territorialen und maritimen Imperien. Dieser Gegensatz hängt nicht von Ideologien, nicht von konkreten religiösen, ethnischen oder rassischen Faktoren ab. Der eine Pol, der atlantische, also der westliche, maritime folgt der einen Logik der Geschichte, der andere Pol, der territoriale, der Kontinentalismus, folgt den Gesichtspunkten des Euroasiatismus. Die Identifizierung mit dieser Erscheinung auf dem Niveau der alltäglichen Politik bildet die euroasiatische Bewegung, die ich führe und vertrete. Das ist der Neo-Euroasiatismus, wenn man so will. Er nimmt Grundelemente aus historischen Quellen, aber fügt wichtige neue  Elemente der Geopolitik, der Soziologie, der neueren Geschichte usw. hinzu“
… i tagdali.“

Erzähler:
Die aktuelle Sicht, mit der er den historischen Euroasiatismus ergänzt, beschreibt Alexander Dugin mit den Worten:

O-Ton 6: Dugin, Forts    . 0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ssetschas w mirje…
„Zur Zeit entwickelt sich eine beängstigende geopolitische Situation: Es entsteht eine unipolare Welt unter vollkommener Herrschaft der USA. Die einzige Struktur, die dem nach geopolitischen Gesetzen widerstehen kann, ist die Erde Russlands. Wenn wir unsere russische Erde an der Peripherie verlieren, verlieren wir unsere Möglichkeit, eine planetare Alternative zu bilden. Wir verraten auf diese Weise nicht nur unsere historische Mission, sondern hindern auch noch andere Völker, Europa, Asien, eine freie Wahl zwischen dem atlantischem Modell und anderen zu treffen.“
…kakoito inoi.“

Erzähler
Die Länder des Islam, so Alexander Dugin, bilden eine Übergangszone zwischen den kontinentalen und den atlantischen Tendenzen. Beide Seiten müssten daher versuchen, Einfluss zu nehmen sei. „Das“, so Dugin, „ist objektiv unvermeidlich!“
Auf die Frage, wie er sich diese  „Einflussnahme“ von Seiten Russlands vorstelle, ob durch imperiale Eroberung oder durch Verträge, antwortet Alexander Dugin kühl:

O-Ton 7: Dugin, Forts.     0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ja nje wosraschaju…
„Ich habe nichts gegen den imperialen Weg, er ist zur Zeit nur wegen unserer Schwäche nicht möglich. Nicht aus Humanismus, sondern aus Realismus glaube ich, dass der Weg der Eroberung dieser Staaten zur Zeit für uns nicht möglich ist. Dadurch erledigt sich die Frage nach dem imperialen Weg. Jeder realistische Geopolitiker – außer Dummköpfen – erkennt das und wird sich danach richten.“
… kagby saglassitsja.“

Erzähler:
Das „Euroasiatische Projekt“, fährt Alexander Dugin fort, sehe stattdessen drei Ebenen vor: Erstens – einfache Verträge zum gegenseitigen Nutzen mit Ländern euroasiatischen Nachbarn Russlands; zweitens – konföderative Verbindungen, in der Perspektive eine euroasiatische Konföderation als strategische Vereinigung; drittens – die Neutralisierung Europas und des pazifischen Raumes, genauer, deren Loskoppelung vom atlantischen Bündnis. Ziel, so Alexander Dugin, sei selbstverständlich eine multipolare Welt; die sei aber nur auf dem Umweg über die Wiederherstellung der bipolaren zu erreichen:

O-Ton 8: Dugin, Forts.     1,23
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Jesli my ssetschas…
“Wenn wir jetzt direkt auf eine multipolare Welt zusteuern würden, dann würde es eine Amerika-zentrierte Welt werden und keine echte multipolare, eine fiktive. Das verstehen die chinesischen Führer sehr gut, die indischen wie überhaupt alle normalen Menschen. Wir wollen die multipolare Welt; um dahin zu kommen, müssen wir aber zunächst die bipolare Welt wiederherstellen, denn im Konfliktfall wird die amerikanische Hegemonie, die amerikanische Expansion so funktionieren, wie die USA es gerade am Kosovo gezeigt haben und weiter zeigen werden. Deshalb brauchen wir unser atomares Drohpotential. Wenn das durch die asiatischen Potentiale multipliziert wird, können wir den Amerikanern diktieren, Europa und die pazifische Region in die Entmilitarisierung zu entlassen. Zu dem Zweck unterstützen wir auch den Euro, zu dem Zweck unterstützen wir eine eigene pazifische Währung usw., das heißt, wir helfen, die Unabhängigkeit Europas und des pazifischen Bereiches herzustellen; dafür erwarten wir, dass entspreche Hilfe zurückkommt….
…historie dolschni…“

Erzähler:
Die Befreiung Europas, die Entwicklung eines europäischen Bewusstseins, sei ebenfalls eine euro-asiatische Aufgabe, fährt Alexander Dugin fort. „Wir müssen Europa nach Europa zurückbringen!“ erklärt er und, einmal in Fahrt, macht er Deutschland eine Liebeserklärung von besonderer Qualität:

O-Ton 9: Dugin; Forts.    1,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, unter Erzähler allmählich ausblenden

Übersetzer overvoice:
“Kstati, sa prawal…
“Übrigens, für den Zusammenbruch der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist natürlich die deutsche Geopolitik verantwortlich, welche die Notwendigkeit der Orientierung Berlin. Moskau-Tokio nicht begriff. Das wäre der Sieg gewesen. Wenn wir gemeinsam locker London eingenommen hätten, dann würden wir Russen zusammen mit den Deutschen heute eine wunderbare, demokratische Welt regieren.“

Erzähler:
Deutschland ist aus Alexander Dugins Sicht der wichtigste Partner einer möglichen euroasiatischen Achse. Deutschland für ein Bündnis gegen die USA zu gewinnen, ist für ihn eins der wichtigsten Ziele russischer Außenpolitik. Die USA sind für ihn, ganz in der Diktion des Kalten Krieges, Weltbrandstifter Nummer eins. Auf den Krieg in Tschetschenien, auf den Einsatz russischer Truppen in GUS-Ländern angesprochen, die der Vision einer friedlichen euroasiatischen Bündnispolitik Russlands sichtlich entgegenlaufen, bricht es aus dem Geopolitiker Dugin heraus:

O-Ton 10 Dugin, Forts.     1.31
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Na samom djele…
“Nach meiner Meinung liegt die Verantwortung für mögliche gefährliche Konfrontationen ausschließlich bei den USA und beim atlantischen Modell. Warum? Amerika glaubt, dass alle sich nach ihrer Wirtschaft ausrichten müssen. Wenn Eroberungen früher militärisch stattfanden, so heute durch wirtschaftliche Modelle. Im Kern verhält sich Amerika als Hegemon, führt sich als Kolonisator und als einziger Schiedsrichter auf. Russland hat seinen guten Willen gezeigt, besonders durch Perestroika, hat ein einiges Deutschland ermöglicht, hat sich ohne Vorleistung aus dem Warschauer Vertrag zurückgezogen. Im Gegenzug aber bewegt sich die NATO nach Osten, kreist Russland ein, statt eine multipolare Welt zu ermöglichen, gehen die USA daran, eine monopolare aufzubauen, halten sich für die Weltpolizei, haben überall ihre Doktrinen verbreitet. Ich denke, der Hauptfeind und die Hauptgefahr für die Menschheit  – das sind die USA und ihre wahnsinnige, fanatisch, totalitäre, neo-nazistische atlantische Position.“
…atlantiskaja positia..“

Erzähler:
Um zukünftigen Konflikten zu entgehen, schließt Dugin, müsse die Welt sich zu einer einheitlichen antiamerikanische Front zusammenschließen. Nur so werde sie in Frieden leben können.
Klaren Text spricht auch Alexander Prochanow, Herausgeber und Chefredakteur der vielgelesenen national-patriotischen Wochenzeitung „Sawtra“ (morgen), der Alexander Dugin seit Jahren ein Forum für die Verbreitung seiner Ideen liefert.
Alexander Prochanow war Sprachrohr der „Nationalen Front“, die seinerzeit militant gegen Michail Gorbatschow, 1993 offen militärisch gegen Boris Jelzin mobilisierte. Er ist zeitweiliger Bündnisgenosse der Kommunistischen Partei Russlands. Vor der Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten polemisierte er erbittert gegen die Inkonsequenz des „Klons Putin“, von dem niemand wisse, woher er stamme. Inzwischen gehört Prochanow zu Wladimir Putins Fürsprechern. Prochanow skizzierte die Rolle, die Russland seiner Ansicht nach spielen soll, schon 1992 mit den Worten:

O-Ton 11: Alexander Prochanow     1.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Ideologie katorie…
„Die Ideologie, welche die auseinanderfallende russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei Komponenten: Das ist die Komponente der sozialen Gerechtigkeit – die sozalistische Komponente – und die nationale Gerechtigkeit, also die nationale Komponente. Das ist eine zukünftige nationalsozialistische oder auch sozialnationalistische Ideologie, wie beliebt. Im Kern wird das möglicherweise Faschismus wie bei Mussolini – ohne rassistische Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie kann es verschiedene Formen der politischen Kultur geben. Ich bin traditioneller russischer Imperialist. Das ideale Russland, das ist für mich ein euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der Völkervielfalt hervorgeht – das zentrale Volk jedoch, das regulierende Volk, das sind die Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind kommunikativer und sie leben überall. Die heutige russische Föderation ist ein totes Stück Holz, sinnlos, Nonsens. Es kann kein Russland geben, wo dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen ihrer Heimat leben.“
..swoich rodine..“

Erzähler:
Restaurative Expansion des sowjetischen Imperiums, Mobilisierung der konservativen und Rechten Kräfte für die „nationale Konterrevolution“, wie Prochanow es nennt, ist die Politik, die aus dieser Sichtweise folgt. Inzwischen ist der „traditionelle Imperialist“ Prochanow etwas vorsichtiger geworden, allerdings ohne seine Gesinnung dabei zu verbergen. Gefragt, ob es ihn störe, wenn man ihn einen „Faschisten“, „Nationalisten“ oder „Rassisten“ nenne, antwortet er:

O-Ton 12: Prochanow, Forts.     1,19
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Nu snaetje…
„Nun, wissen Sie, der Ärger darüber ist schon lange vorbei. Wie hat man uns nicht genannt: Man nannte mich einen Militaristen, vor dem afghanischen Krieg; dann wurde ich Sklave des Generalstabs genannt, zur Zeit des Putsches wurde ich Putschist genannt; dann wurde ich Faschist genannt, als liberale jüdische Gruppen nach möglichst diffamierenden Bezeichnungen suchten; dann nannte man mich Konservator, Mensch ohne Rückgrat. Rassist hat mich noch niemand genannt. Aber die Begriffe verkommen. Faschist? Was soll ein russischer Faschist sein? So etwas gibt es nicht. Es gibt einen amerikanisch-technotronischen Faschismus, der in einer beängstigenden Weise die eigene weiße Rasse als das Höchste ansieht und einen erschreckenden Genozid am russischen Volk begeht. Er findet seine Analogie im historischen Faschismus. Es gibt jüdischen Faschismus, der das jüdische Volk in eine absolut privilegierte Situation gegenüber allen anderen Völkern erhebt. Aber einen russischen Faschismus gibt es nicht, das ist nicht mehr als ein Schreckgespenst.“
…ne bolje tschem schupil.“

Erzähler:
Die antisemitischen Wendungen in Alexander Prochanows Rede sind nicht zu überhören. Perestroika, Privatisierung, ebenso wie der von ihm so bezeichnete „technoktronische Faschismus“ der USA, was wohl heißen soll, auf Technik basierender Faschismus, sind aus seiner Sicht das Werk der jüdischen Internationale. In dieser Sicht ist er auch mit Alexander Dugin verbunden. In die gleiche Richtung entwickelten sich auch jene Bündnispartner Alexander Lebeds, die seinen gemäßigten Kurs in Krasnojarsk nicht mittragen wollten. Der „Kongress russischer Gemeinden“, eine Organisation, die russische Minderheiten in und Flüchtlinge aus den ehemaligen Sowjetgebieten vertritt, trennte sich von ihm, nachdem er den Waffenstillstand 1996 ausgehandelt hatte, weil er den kosakischen, das heißt den Nachfahren der russischen Kolonisten in Tschetschenien keine Privilegien gegenüber der tschetschenischen Bevölkerungsmehrheit zugestehen wollte. Auch kritisierten sie Lebed dafür, dass er nicht bereit gewesen sei, den Weg eines russischen Pinochet zu gehen. Alexander Lulko, Vorsitzender der Nowosibirsker Ortsgruppe bringt die Methoden, mit denen er Russland gegenüber der amerikanisierten und jüdischen Überfremdung wieder Russisch machen möchte, auf den Nenner:

O-Ton 13: Alexander Lulko,               1.06 (Text kürzer als der Ton)
Kongress russischer Gemeinden
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden

Übersetzer overvoice:
„Da jesli tschesna…
“Wenn ich ehrlich bin, dann bin ich für eine nationale Diktatur. Ich habe darüber mit Lebed gesprochen. Ich fragte ihn, wie stehen Sie zu Pinochet? Lebed sagte, sehr gut, Pinochet hat für Ordnung gesorgt. Er brachte Chile wieder auf die Beine. Chile hat heute das höchste Lebensniveau in Südamerika. Damals erklärte Lebed öffentlich, dass er eine nationale Diktatur anstrebe wie in Chile, um Ordnung herzustellen im Lande. Das würde natürlich Markt sein, nicht die Art von Diktatur wie bei Stalin – also, es gibt begrenzte Freiheiten, aber Menschen, die stehlen, töten und Banden bilden wie zur Zeit bei uns geschieht… das geht nicht!  Deshalb bin ich für die härtesten Methoden; sagen wir es so.“
… skaschim tak.

Athmo 2: Platzmusik    1,07
Regie: Ton allmählich kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, verblenden mit O- Ton 15

Erzähler:
Wohin diese Haltung führt, der selbst ein Ordnungspolitiker wie Alexander Lebed nicht konsequent genug, für die ein Kriegsherr wie Wladimir Putin nur zweite Wahl ist, führt Wladimir Schirinowskis „Liberal-demokratische Partei“ vor. Bei ihr bleibt von dem „geopolitischen Projekt“ Alexander Dugins, von der „sozialistischen Komponente“ und der „nationalen Gerechtigkeit“ Alexander Prochanows, von der „nationalen Ordnung“, die sich der „Kongress russischer Gemeinden“ erträumt letztlich nur noch rassistische Demagogie übrig. Vertreter der Schirinowski-Partei wie Alexander Loginow, ein ehemaliger Offiziersschüler, Abgeordneter der Partei in der Moskauer Staatsduma, lieben es, bei Veranstaltungen der Partei in vollem Wichs vor die Versammlungen zu treten:

O-Ton 14: Alexander Loginow, Partei Schirinowskis    2,10
Regie: Ton verblenden, langsam hochziehen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach belieben zwischendurch hochziehen,  nach Erzähler hochziehen, verblenden

Erzähler:
„My prowosglaschaem…
„Wir verkünden eine Politik des nationalen Egoismus“, erklärt Loginow. Dann folgt eine demagogische Phrase auf die andere: Das grundlegende Ziel sei die Wohlfahrt des eigenen Volkes. Ihn interessiere nicht, wie die Georgier in Georgien leben, die Kasachen in Kasachstan, die Balten im Baltikum. Ihn interessiere allein das Überleben der eigenen, der russischen Bevölkerung. Wie aber sehe es damit aus? Das russsische Volk werde von den ehemaligen Republiken ausgeraubt; für Minderheiten werde alles getan, für die russische Mehrheit nichts. Wenn in einer jakutischen Stadt 95% Russsen, aber nur 5% Russen lebten, wieso müssten Russen dort dann die jakutische Sprache lernen? Weil die Jakuten die Urbevölkerung seien? So wie es anderswo die Tataren, die Kaukasier, die Tschetschenen?  Ja, und wo, bitte sehr, könnten die Russen zuhause sein? Hätten nicht sie die Gebiete zivilisiert? Bei der Urbevölkerung kämen zwanzig Kinder auf eine Frau, die russischen Frauen, elend wie die Verhältnisse heute seien, schafften nicht einmal zwei. Jedes Jahr schrumpfe das russische Volk um zwei Millionen! In zwei Generation werde es das russische Volk nicht mehr geben. „Wofür“, ereifert sich der Redner, „nennt man uns Faschisten?“ Er antwortet gleich selbst: „Weil wir heute sagen: In der Welt geht eine grässliche Tragödie vor sich, ein Genozid gigantischen Ausmaßes am russischen Volk!  (…) Marode kleine afrikanische Stämme zu schützen, gilt heute als normal, das liegt im Rahmen der Demokratie, der Menschenrechte, der Internationale, aber wenn ein 150 Millionen Volk stirbt, darf man nicht davon reden. Dann heißt es: Faschisten. Darüber kann ich nur lachen….“
…smejus na etot wapros.“

Athmo 3: Lied von Juri Gorbatschow    2,58
Regie: Verblenden, langsam hochziehen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen, verblenden –
Nach O-Ton 15 noch einmal aufziehen, dem Erzähler unterlegen unterlegen, allmählich abblenden

Erzähler:
Auf welchen Boden diese Demagogie zielt, kann man ermessen, wenn man Juri Gorbatschow zuhört, Journalist, Dorfschriftsteller und Liedermacher in Nowosibirsk. Der platte Rassismus der Schirinowski-Partei widert ihn an, ebenso der Antisemitismus Alexander Prochanows und seiner Freunde. Aber Juri Gorbatschow liest Prochanows Zeitung und die Desorganisation des russischen Kulturraumes, die Entstehung einer neuen sozialen Schicht der „Nowi Russki“, für die nur das Gesetz des eigenen Vorteils gilt, hat ihn zu einem Lied über neue Hunnen und neue Wikinger inspiriert.
Befragt, was er darunter versteht, erklärt er:

O-Ton 15: Juri Gorbatschow, Poet, Journalist    1,40
Regie: Verblenden, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen – mit Musik aus Athmo 3 verblenden

Übersetzer overvoice:
„Djela w´tom schto…
“Naja, die Struktur des organisierten Verbrechens, das ist mit bloßem Auge erkennbar, ist die gleiche wie in den Horden Tschingis Chans.  Das sind Krieger, das sind gut organisierte Brigaden, die Racketeure, also die Schutzgelderpresse oder die Gruppen im kriminellen Geschäft. Drogen, Überfälle, Krontrollen von Verkehrswegen – all das ist nach den Prinzipien von Kampfgruppen organisiert. Die kann man mit den Wikingern vergleichen oder auch mit den Hunnen. Es sind Banden, Banditen, Krieger, die sich zusammenrotten, rauben, töten; töten ist für sie kein Problem. Das ist die psychische Verfassung des frühen Menschen, wie sie bei den Hunnen war oder bei den Skythen oder bei irgendwelchen frühen Ariern. Das war alles ein und dieselbe Mentalität. Zu Zeiten der Jagd, auf Kriegszügen da wurde geraubt, vergewaltigt und gemordet, auch von den Christen – von denen nur im Namen von Christus. Und ebenso das Heer Tschingis Chans: Wenn einer den Zehnerverband, die Grundeinheit, verließ, wurde der ganze Verband getötet. Heute ist das genauso: Wenn einer aus der Brigade raus will, wird er umgebracht, einfach getötet. Sie leben nur für heute, an morgen denken sie nicht. Vom Geschäft verstehen sie nichts, nur vom teilen der Beute. Was ist das anderes als neue Hunnen?“
…nowi Gunni.“

Athmo 3: Gorbatschow singt, Forts.
Regie: Verblenden mit O-Ton1, kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Juri Gorbatschow unterstreicht seine Darstellung mit Zitaten historischer Autoren , deren Arbeiten über den Zusammenhang von Geografie, Geschichte und Kultur Euroasiens auch Alexander Dugin, Alexander Prochanow und andere erklärte Nationalisten für sich in Anspruch nehmen. Die gleichen Autoren dienen aber, wenn es um die Diskussion dessen geht, was Russland ist und werden soll, auch Menschen als Quelle, die sich nicht zum patriotischen Lager zählen, sondern diesem als Linke, Demokraten oder einfach nur als kritische Intellektuelle mit Distanz oder gar Ablehnung gegenüberstehen.
Einer dieser Menschen ist Oleg Woronin, Dozent der Geschichte in Irkutsk und Aktivist der Perestroika, Radikaldemokrat, seit Mitte der 90er auch Direktor einer Investmentfirma „Asia“ in Irkutsk:

O-Ton 16: Oleg Woronin, Dozent der Geschichte    1,05
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Skaschim, rjad istorikow…
„Es gibt bei uns eine Reihe von Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts, wir nennen sie, Euroasiaten. Sie haben nichts gemein mit einigen Moskauer Ideologen, die sich Euroasiaten nennen, im Kern aber einfach Faschisten sind wie Dugin und andere. Ungeachtet dessen, was die Nationalisten aus ihnen machen, haben diese Wissenschaftler zur Lage Russlands viel zusammengetragen, was seine Lage zwischen Asien und Europa, als Brücke zwischen Ost und West und die Entstehung seine staatlichen Strukturen aus dieser Mischung verschreibt. Vieles davon kommt aus dem Osten, genau genommen aus dem mongolischen Staat. Dazu kommen die türkischen Einflüsse und viele frühere Einflüsse aus dem nomadischen Korridor. Das ist natürlich eine große historische Erfahrung, Aber bedauerlicherweise hat unsere historische Wissenschaft diese Erfahrung ignoriert, vergessen. „
…ignorirowala, sabila.“

Erzählung:
Die Tatsache, dass die Geschichte verdrängt und vergessen wurde, macht es möglich, das richtige historische und geopolitische Tatsachen und die interessanten Ideen des euroasiatischen Historiker des letzten Jahrhunderts von russischen Nationalisten heute für ihre Zwecke benutzt werden. Das, so Oleg Woronin, sei höchst bedauerlich, weil es die Annahme der eigenen Geschichte und eine echte Orientierung Russlands zwischen Asien und Europa erschwere.
In dieselbe Richtung geht Igor Tschubajs, Bruder des berüchtigten Ministers für Privatisierung in der Zeit Jelzins, Anatoly Tschubajs.
Igor Tschubajs ist Historiker an der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Er leitet dort den Forschungsbereich einer „Philosophie Russlands.“ Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Weltbildes, so Igor Tschubajs, nachdem klar wurde, dass die dadurch entstandene Leerstelle nicht durch einen einfachen Import aus dem Westen, ebenso wenig aber durch eine Rückkehr zum imperialen Russland des Zarismus zu schließen sei, bleibe für Russland im Grunde nur ein Weg:

O-Ton 17: Igor Tschubajs, Historiker    0,30
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

„Wot, is maja…
„Der einzige annehmbare Weg ist der Weg der Akzeptanz, zur Wiedervereinigung mit sich selbst. In unserem Lande ist jetzt zum ersten mal seit siebzig Jahren eine neue, unabhängige wissenschaftliche Schule entstanden, eine neue Richtung wie seinerzeit die Frankfurter Schule in Deutschland oder die Wiener Schule der Philosophie. Die neue Schule, die bei uns entstanden ist, nennt sich `Schule der Akzeptanz´“.
…schkola priemstwa.“

Erzähler:
Um die Akzeptanz und gleichzeitige Modernisierung von drei Grundwerten werde geforscht und diskutiert. Diese sind: Die „Sammlung russischer Erde“, also die Frage des russischen Imperiums, die kollektiven Gemeinschaftsstrukturen und die orthodoxe Religion. Eine Erneuerung der Grundwerte, also eine neue russische Idee könne aber weder von oben verordnet, noch den Völkern Russlands übergestülpt werden. Auch müsse sie im Gespräch und nicht in der Konfrontation mit den Nachbarn Russlands entstehen. Welchen Weg Russland schließlich einschlägt, dürfte nicht zuletzt auch von der Gesprächsbereitschaft dieser Nachbarn abhängen. Sie müssen Russlands Lage zwischen Asien und Europa nicht nur verstehen, sondern ihrerseits akzeptieren.

Russlands ungelöste Agrarfrage

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtlänge der O-Töne: 20,23

Sollte eine Kürzung notwendig werden, dann vielleicht O-Ton 16 (zum ökologischen Dienst, Forts.) notfalls auch 15, einschl. der einleitenden Erzählertexte. Forts. Mit Erzähler vor O-Ton 17 dann wie jetzt. im ungekürzten Text

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Russlands ungelöste Agrarfrage

Russlands Bauern haben es schwer. Sie müssen nicht nur hart arbeiten; sie müssen auch eine Reform ertragen, deren Erfolge bisher trotz wiederholter Anläufe nicht erkennbar sind. Nach zahllosen Versuchen, auch die Landwirtschaft  im Schnelldurchgang zu privatisieren, musste Boris Jelzin seinem Nachfolger Wladimir Putin die Agrarfrage als ungelöstes Problem hinterlassen. Wird es dem neuen Präsidenten Russlands anders ergehen als seinem Ziehvater Boris Jelzin? Kai Ehlers berichtet und analysiert.

O-Ton 1: Megaphon draußen, Redner drinnen        1,13
Regie: Ton langsam kommen lassen, frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem erstem Sprecher (mit Rednerstimme) vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen, nach Erzähler hochziehen, abblenden

Erzähler:
Novosibirsk. Gebietsparlament. Draußen Proteste: Der Unmut richtet sich gegen die katastrophalen Folgen der Privatisierungspolitik: Stillgelegte Betriebe, mangelnde Versorgung, steigende Lebenshaltungskosten:

Regie: Ton vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Drinnen Reden über die Notwendigkeit der Reorganisation der ländlichen Selbstverwaltung: Delegierte aus Dörfern und kleinen Städten des Oblastes, des Regierungsbezirks, wurden zusammengerufen, um sie darüber beraten zu lassen, wie ein Gesetz zur örtlichen Selbstverwaltung aussehen könnte.  Mehr Entscheidungsfreiheit fordern die Delegierten, mehr finanzielle Unterstützung durch die Regierung, vor allem aber Verfügungsgewalt über das örtliche Budget.
Rede…

Erzähler:
Viel Hoffnung machen sich die Delegierten allerdings nicht. Zu tief ist das Misstrauen gegenüber der „Macht“, das heißt, gegenüber der eingessenen Bürokratie, die in die eigene Tasche wirtschaftet, statt die wenigen Gelder, welche aus dem zentralen Moskauer Budget zurücktröpfeln, an die Dörfer und Bezirkszentren weiterzuleiten. Im Foyer bekräftigt eine Delegierte die Kritik mit den Worten:

O- Ton 2:  Delegierte im Foyer        0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
Foyergemurmel, „Sowerschenna werna…
„Ganz genau! Das ist es, worunter wir vor Ort leiden: dass man uns reichlich Aufgaben gibt, Möglichkeiten jedoch kaum. Denn finanziert wird alles von oben. Man möchte natürlich hoffen, dass dies alles nicht nur Worte sind. Das wäre auch so, wenn man die Aufstellung des Budgets von unten zuließe. Dann wären es zu hundert Prozent nicht nur Worte, sondern Taten. Aber das sehen wir bisher nicht.“
…eta nje widim.“

Erzähler:
Dies alles geschah im Herbst 1994, und zwar nicht nur in Nowosibirsk, sondern im ganzen Land, drei Jahre, nachdem Boris Jelzin die Überführung der Sowchosen, also der Kollektivwirtschaften in Aktiengesellschaften verfügt hatte, ein Jahr nachdem er den Obersten Sowjet in Moskau, danach die gesamte Sowjetstruktur bis hinunter zum letzten Dorf auflösen ließ. Sie hatten der Privatisierung im Wege gestanden. Für eine Reorganisation der Landwirtschaft reichte das alles nicht. Auch alle Versuche Boris Jelzins, Land zum freien Kauf und Verkauf per Erlass freizugeben, blieben ohne Resonanz; die Verabschiedung eines entsprechenden Kodex durch die Duma scheiterte wiederholt am Widerstand der Kommunisten und anderer Traditionalisten. Jetzt muss auch Wladimir Putin  mit Widerstand in der Agrarfrage rechnen. Andrej Filippow, verantwortlich für Außenkontakte der Duma-Fraktion der Kommunistischen Partei Russlands, begründet das ausländischen Gästen gegenüber mit den Worten:

O-Ton 3: Andrej Filippow, leitender KP-Funktionär    1,07
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Otnaschennije semlij…
„Die Beziehung zum Boden! Verstehen Sie? Das wird eine der sehr ernsthaften Fragen von Putins Position sein. Die Rede ist von freiem Kauf und Verkauf. In dem neuen Kodex dazu, der bisher nicht angenommen wurde, wird das gefordert. Gartenflächen, Datschen – das sind Fragen, die entschieden sind; das ist so und niemand wendet etwas dagegen ein. Es geht um etwas anderes. Es geht um den landwirtschaftlich genutzten, um produktiven Boden: Da sind wir gegen den freien Kauf und Verkauf. Wie Putin sich da verhalten wird? Auf der einen Seite sagt er: Ja, das ist nötig, Auf der anderen Seite sieht er selber, dass eine solche Entscheidung nicht einfach akzeptiert werden wird. Das wird für ihn ein sehr ernsthaftes entscheidendes Moment.“
…tak momjent.“

Erzähler:
Wladimir Putin selbst habe das Thema bei seinen Wahlreisen erneut ins Gerede gebracht, erklärt Filippow. Es werde also auf jeden Fall zu neuen Auseinandersetzungen kommen. Zudem, setzt Filippow hinzu, müsse man die prinzipielle Bedeutung dieser Frage für Russland bedenken:

O-Ton 4: Filippow, Forts.         0,49
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Ah potom systjema…
„Muss man sehen, dass das System der  Nutzung des Bodens historische, alte, uralte Wurzeln hat: Die gemeinschaftliche  Nutzung. In der kosakischen Bevölkerung etwa. Unsere Kosaken hatten ja niemals private Nutzung. Das war immer gemeinschaftliche Nutzung, die „Obschtschina“. Das kosakische Dorf, das gemeinschaftliche Eigentum usw. usw. Das heißt, aus wirtschaftlicher Sicht und aus der Sicht einer ganzen Reihe von prinzipiellen Fragen wird die Bodenfrage für Putin ein Examen.“
…budit Examen.“

Erzähler:
Die „Obschtschina“, das ist das aus der zaristischen Bauerngemeinschaft hervorgegangene Lebens- und Arbeitskollektiv, das in der Sowjetzeit als Sowchose, Kolchose oder Betriebskollekiv das gesellschaftliche Leben und sogar den Staatsaufbau bestimmte. Pro oder Contra „Obschtschina“, da darf man Filippow folgen, das ist in der russischen Diskussion heute fast gleichbedeutend mit pro oder contra Privatisierung. Die Ansichten darüber, was man unter „Obschtschina“ zu verstehen habe, gehen allerdings sehr weit auseinander. Teodor Schanin, führender Agrartheoretiker des heutigen Russland, zugleich Professor an der Universität in Manchester, möchte deshalb, vor jeder weiteren Debatte, erst einmal definieren, was diese „Obschtschina“ denn eigentlich ist:

O-Ton 5: Teodor Schanin        1,09
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„If you talk…
„Wenn man von der Obschtschina spricht, die es im 19. Jahrhundert in Russland gab, dann war sie ein System, das gut für die Bauern war, indem es gegen hohe Risiken der Landwirtschaft schützte in einer Situation, in der es extrem schwierig war, ohne die Hilfe des Nachbarn zu überleben. Auf der anderen Seite hatte die „Obschtschina“ eine Funktion für die Regierung, nämlich, ihre Macht ohne allzu große bürokratische Strukturen auszuweiten: Ohne jemanden vor Ort haben zu müssen, reichte es aus, dem Dorf den Befehl zu geben, Rekruten für die Armee zu stellen oder Steuern zu zahlen. Man brauchte keinen Beamten zu schicken. Das machten alles die Bauern selbst. Die Elite wiederum konnte unterwegs sein. In diesem Sinne war die Obschtschina effektiv nach zwei Seiten: Sie diente den Bedürfnissen der Bauern und sie diente den Bedürfnissen der Regierung. Auf diese Weise schaffte sie Stabilität.
… was so stable.“

Erzähler:
Die „Obschtschina“ schaffte nicht nur Stabilität, erklärt Teodor Schanin weiter, sie war auch selbst über Jahrhunderte stabil, weil beide Seiten an ihrer Existenz interessiert waren. Dann fährt er fort:

O-Ton 6: Schanin, Forts.        1,42
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„But this type of…
„Aber dieser Typ von Obschtschina kam in die Krise, weil einige sie verlassen wollten, andere nicht. Speziell in der Zeit Stolypins, des letzten zaristischen Reformministers, war es so. Er wollte sie auflösen, weil er fürchtete, dass sie ein Instrument für die revolutionäre Aktion werden könnte, was sie 1905, 1906, 1907 auch tatsächlich wurde. Die Stabilität der Obschtschina, ihre Kraft, ihre tiefen Wurzeln bewiesen sich sehr direkt, als der Bürgerkrieg kam; da kehrten alle Obschtschinas ins Leben zurück, auch die, die unter Stolypin aufgelöst worden waren. 1920 gründeten die Bauern selbst wieder Obschtschina, sodass diese viel mehr waren als bloße staatliche Institutionen. Die Bauern gaben dem System der Obschtschina die Präferenz vor anderen Arten zu leben. Aber diese Art wurde zerstört. Und in unserer Zeit benutzen die  Russen das Wort Obschtschina in der Bedeutung von Gemeinde. Also, wenn es nur Gemeinde heißt, dann ist jedes Dorf eine Obschtschina; wenn es aber im Sinne von gegenseitiger Unterstützung gemeint ist, im Sinne von gemeinsamem Besitz und immer wieder vorgenommener Neuaufteilung von Land nach dem Prinzip der Gerechtigkeit, dann existiert sie nicht.“
392…does not exist.“

Erzähler:
Die alte „Obschtschina“ existiert nicht mehr, meint Teodor Schanin. . Zerstört wurde sie durch Stalin, der die gewachsene Gemeinschaft auf Basis gegenseitiger Hilfe im Zuge der Kollektivierung in staatliche Zwangsgemeinschaften verkehrte, in denen das Privateigentum aufgehoben war. Wie einst unter Iwan dem Schrecklichen durften die Bauern ihre Dörfer nicht oder nur mit Sondererlaubnis der Partei verlassen; ihr Hof blieb Eigentum der Sowchose. Diese Verhältnisse lockerten sich nach Stalins Tod. Unter Breschnjew war der eigene Garten, die eigenen Hühner, das eigene Schwein möglich, manchmal auch schon die eigene Kuh. Boris Jelzins Privatisierungspolitik zielte auf die Auflösung der „Obschtschina“ überhaupt und auf die Schaffung einer Schicht privater Bauern. Den heute erreichten Stand skizziert Teodor Schanin so:

O-Ton 7: Schanin, Forts.        0.59
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To which extend…
„Zu welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben – ich meine, die Menschen beeinflussen sich gegenseitig – ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, im Süden Russlands, zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein `Aktiengesellschaft-Dorf´, aber es ist exakt dasselbe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft.“                                                                                                   …it operates.“

Erzähler:
Wie es läuft, das beschreibt Alexander Nikulin, jugendlicher Mitarbeiter Teodor Schanins,. Er ist soeben mit einer Gruppe Forscher der von Teodor Schanin geleiteten Moskauer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ von einjährigen Feldforschungen aus den Dörfern im Süden Russlands zurückgekehrt. Gefragt zu welchen Ergebnissen sie gekommen seien, gibt er die provozierende Antwort:

O-Ton 8: Alexander Nikulin        0,24
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Danni otschen interesnije…
„Die Daten sind sehr interessant. Es gibt da einen alten russischen Witz, schon 200 Jahre alt. Er stammt aus der Zeit, als ein in Paris lebender Freund des Historikers Karamsin diesen bat, ihm zu schreiben, was in Russland vorgehe. Karamsin antwortete: `Das ist sehr einfach: Man klaut´“.
…warujut.“

Erzähler:
Sofort schränkt Alexander Nikulin jedoch ein: Diese Erklärung sei unter Russen bis heute sehr populär, wissenschaftlich gesehen müsse man aber von „informellem Einkommen“ sprechen. Eine dörfliche Familie in Kuban zum Beispiel lebe offiziell von 600 oder 1000 Rubeln, von ungefähr 30 Dollar also. Ihr reales Einkommen betrage jedoch zwischen  200 und 300 Dollar. Aus dieser Tatsache ergebe sich ein höchst interessantes Bild vom Zustand der Landwirtschaft:

O-Ton 9: Nikulin, Forts.        1,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nasche isledowannige pakasiwajut…
„Unsere  Untersuchungen zeigen, dass in Wirklichkeit in der bäuerlichen Sphäre eine Symbiose zwischen dem Kleinen und dem Großen besteht, zwischen familiärer Wirtschaft und Großstrukturen. Die Symbiose geschieht eben häufig in den merkwürdigsten Formen des naturalen Austausches: Man zahlt seinen Kolchosmitglieder nichts, dafür nutzen die Kolchosmitglieder die Ressourcen auf nicht-legale Weise. Dadurch erhält  und reproduziert sich das ganze System und fährt fort zu funktionieren. Hier geht es um die Balance: Wie unsere Erfahrungen zeigen, führt die alleinige Ausrichtung auf das Kleine ebenso wie die alleinige Ausrichtung auf das Große zur Krise und Degradierung. Wenn die Kolchosmitglieder zu viel `klauen´, dann geht die agrarische Produktionspotenz der Kolchose zugrunde, und sie können nirgendwoher Ressourcen nehmen. Dann kehren sie zur Naturalwirtschaft zurück. Das ist schlecht. Wenn sie überhaupt nicht schaffen etwas zu nehmen, dann verelenden die Familien. Diese sehr interessante Balance zu erkunden war unsere Aufgabe.“
… bili nasche pojesdi.“

Erzähler:
Die Privatisierung in der von Boris Jelzin 1991 projektierten Form, so Alexander Nikulin weiter, ist ins Stocken geraten. Einen Boom privater Bauern gab es zwischen 1992 und 1993: Da gab es einen steilen Anstieg für die Registrierung von privaten Höfen; das ging bis 1995, aber seit 1995 geht diese Kurve insgesamt wieder abwärts. Man kann einige Typen von Bauern in dieser Bauern-Bewegung unterscheiden: Der wichtigste und erfolgreichste Typ war der frühere Leiter der Kolchose oder nomenklaturische Arbeiter des Agrar-Komplexes, der sogenannte „effektive Bauer“, der seine privilegierte Lage in den herrschenden Strukturen nutzte, der den besten Boden, die beste Technik an sich nahm und der die Möglichkeit hatte, Kredite zu bekommen. Der Zweite ist der Typ des Enthusiasten, der unbedingt selbst Herr seines eigenen Bodens werden wollte, es ausprobieren wolle. Der dritte ist einfach eine starke Familie, die versuchte eine Wirtschaft aufzubauen.
Jetzt kann man sagen, so Aleander Niculin, dass bei allen drei Typen die Dinge nicht sehr erfolgreich verlaufen. Es gibt eine gewisse Zahl starker Bauern, die eine erfolgreiche Wirtschaft betreiben, aber das bedeutet, dass sie von früher her besondere Verbindungen haben, was man in Russland mit dem Wort „Blat“, beschreibt, Beziehungen mit der Administration, mit den Banken, usw. Das heißt, sie wirtschaften keineswegs in freien marktwirtschaftlichen Beziehungen, sie sind trotz allem irgendwelchen großen Strukturen verpflichtet, die sie finanzieren oder sie nehmen, nicht anders als die „Kolchosniki“ auch, die Ressourcen der Sowchose für sich in Anspruch. Für ein Fläschchen Wodka verhandelt der Privatbauer mit den „Kolchosniki“ und die geben ihm den Saattrockner, Korn, Technik, bestellen ihm das Feld usw. Das ist auch ein Grund, schließt Alexander Nikulin diese Schilderung,  warum die „Kolchosniki“ die Bauern nicht eben lieben. „Der Bauer“, sagen sie, „ist nur der größere Dieb im Vergleich kleineren Dieben in der Kolchose“:

O-Ton 10: Nikulin, Forts.        0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Poetamy i ssostajannije…
„Deshalb ist die Euphorie der Gaidarschen Privatisierung und der Reformen im Agrarbereich vorüber. Jetzt verstehen alle, dass in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren die großen Betriebe der früheren Sowchosen und Kolchosen die wichtigsten Betriebe bleiben werden. Will man deren Lage skizzieren, dann muss man sagen: Seit 1990, in den Jahren des Chaos hat ungefähr ein Drittel seine Existenz aufgegeben, weil sie einfach alle bankrott waren. Die Menschen, die in diesen Sowchosen übriggeblieben sind, befinden auf dem Niveau der Naturalwirtschaft. Sie graben die Erde per Hand um oder wenn sie Glück haben, mit einem defekten Traktor. Das ist eine ziemlich primitive Art der Existenz.“
…ssuschustwawannije.“

Erzähler:
Bisheriger Tiefststand der Reformen wurde 1998/9 mit dem Vorpreschen des Gouverneurs von Saratow erreicht. Er erließ ein regionales Dekret über privates Eigentum an landwirtschaftlichem Boden im Bezirk und inszenierte eine landesweite Kampagne:

O-Ton 11: Nikulin, Fort.         0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Bili sosdani potschti….
„Es wurden Aktionen im ganzen Bezirk angesetzt. Aber das Resultat war ein Reinfall. Es fanden sich keine Käufer und jetzt kostet ein Hektar Boden in Saratow siebzehn Rubel; das ist ungefähr eine Mark und zwanzig Pfennig,  Jetzt ist es um die Kampagne still geworden. Nach ihrem Muster hat dann noch der Gouverneur von Tatarstan, Schamijew, einen ähnlichen Versuch gestartet. Der brachte ebenso wenig Resultate.“
…ni kakich ni prinislo.“

Erzähler:
Die Erklärung, die Alexander Nikulin für den Reinfall gibt, kennzeichnet den Stand der Entwicklung:

O-Ton 12: Nikulin, Forts.         0,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja by skasal…
„Ich würde sagen, der Hauptgrund besteht darin, dass es nicht ausreicht, einfach nur Boden zu kaufen. Um ihn zu bearbeiten, braucht es Kapital, Technik, Infrasstruktur. Besitzer von einzelnen Landstücken sind in Russland nicht existenzfähig. Das ist das Erste. Das Zweite ist die gesetzgeberische Verwirrung: Die Dekrete der Gouverneure von Saratow und Tatarstan zum Beispiel sind aus Sicht der russischen Verfassung nicht gesetzmäßig. Da kann es geschehen, dass einem gemäß der Gesetze der russischen Föderation dieser Boden später einfach wieder abgenommen wird.“
… atbirut etu semlju. (Schnaufer)

Erzähler
Es entsteht ein düsteres Bild: Die Produktivität der Landwirtschaft ist seit 1990 um die Hälfte gesunken. Das Wort Katastrophe will der junge Forscher jedoch nicht zulassen: Das Volk hungere nicht, es gebe auch keinen Bürgerkrieg. Russlands Landwirtschaft sei immer noch in der Lage, seine Menschen zu ernähren, sie zu kleiden und sie TV schauen zu lassen. Auf diesem Niveau, wenn auch elend, erklärt er, könnten die Menschen lange Zeit existieren, ohne dass sie vollkommen untergingen. Schlimmer erscheint Alexander Nikulin die soziale Apathie, die aus der Untätigkeit des Staates resultiere, allgemeine Desorganisation, Depression, steigender Alkoholismus, Wachsen der Jugendkriminalität, Drogenkonsum. Kann Wladimir Putin in dieser Situation tatsächlich neue Impulse in der Agrarpolitik setzen und dabei Privatisierung, wie kurz nach seinem Antritt als Präsident versprochen, auch noch mit Patriotismus, also traditioneller Lebensweise verbinden? Auf diese Frage antwortet Alexander Nikulin:

O-Ton13: Nikulin, Forts.        0,51
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja tschesna skasatj…
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht genau. Im Moment ist nichts spürbar, was Putin in Bezug auf Privateigentum an grund und Boden unternehmen will. Ich würde aber auch sagen, selbst wenn ein solches Projekt verwirklicht wird, bedeutet das nicht automatisch den Sieg und die Entwicklung des Kapitalismus in der russischen Landwirtschaft, sicher nicht. Letztlich wird das Gewohnheitsrecht siegen. Klar, man wird Papiere über privates Eigentum vorweisen, aber das bleibt Papier: Man wird es einfach nicht umsetzen, man wird einfach nicht folgen.“
…sluschitsja.“

Erzähler:
Andererseits, so Alexander Nikulin, habe Putin ja bereits entscheidend in die Entwicklung eingegriffen, allerdings in einer Weise, welche die Lage wesentlich verschlechtert habe:

O-Ton 14: Nikulin, Forts.        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wy snaetje, ja by…
„Putin erklärte, dass es nötig sei, die vertikale Staatsmacht zu stärken. In der Realität bedeutet das Re-Zentralisierung und eine erneute Stärkung Moskaus für alles und jedes. Es bedeutet, dass die Leiter der örtlichen Administration von oben eingesetzt und nicht mehr von der örtlichen Bevölkerung gewählt werden; zweitens bedeutet es, dass sich selbst das geringe Budget auflöst, das sie jetzt noch hatten; es wird von den Distrikten bestimmt. Die Jelzinsche Kampagne für die Selbstverwaltung war zwar nur eine ideologische, aber in diesem Rahmen konnte man etwas machen. Jetzt sind schon die ersten Monate unter Putin äußerst angespannt. Sie zeigen, dass auch eine gänzliche Beseitigung der örtlichen Selbstverwaltung möglich ist. Dazu kommt meine eigene Beobachtung, dass ohnehin im Vergleich zu der Zeit, als es die bäuerlichen Sowjets gab, jetzt die Bedingungen für örtliche Selbstverwaltung sehr viel schlechter geworden sind.“
…obschestwa.“

Erzähler:
Ein grelles Licht auf die entstandene Realität wirft, was Alexander Nikulin über den ökologischen Dienst zu erzählen hat, eine der neuesten Einrichtungen, die harmlosen Westlern gern als Beispiel erfolgreicher Reformpolitik vorgezeigt wird:

O-Ton 15: Nikulin, Forts.        0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Dewonosti godi….
„In den 90er Jahren wurden nach westlichem Muster überall in den Regionen ökologische Dienste eingerichtet. Sie sind sehr strikt. Sie fordern die formale Einhaltung ökologischer Standards. Unter den Bedingungen Russlands ist eine Erfüllung dieser Standards nicht möglich. Kommt also ein Beamter des ökologischen Dienstes auf die Sowchose und sagt: `Sie müssen ausmisten, sie müssen die Wege pflegen, sie müssen dies und das!´ Der Direktor hat aber keine Kräfte und keine Mittel; es ist nicht real! – Da muss man dem ökologischen Dienst dann einfach „Wsatki“, geben, mit ihnen trinken, heißt das, sie verpflegen, ihnen Geld geben, damit sie dann wieder gehen. Der ökologische Dienst gilt deshalb als einer der schlimmsten Racketteure, Schutzgeldeintreiber, den die örtlichen Landgemeinen am meisten fürchten. So sieht es mit der Ökologie vor Ort aus.“
…na mestach.“

Erzähler:
Natürlich, so Alexander Nikulin, könne man das alles nicht über einen Leisten ziehen. Russland sei groß und die Verhältnisse von Region zu Region verschieden. Doch auch aus der Art der Unterschiede leuchtet eine gemeinsame russische Realität hervor:

O-Ton 16: Nikulin, Forts.         0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na premjer…
„Zum Beispiel der Norden Russlands ist gegenwärtig einer der ökologisch saubersten ländlichen Gebiete des Landes. Auf Grund der wirtschaftlichen Krise ist die einzige Schwierigkeit, welche die ländlichen Gebiete ökologisch wirklich belastet hat, nämlich die chemische Überdüngung, jetzt praktisch ganz zurückgegangen. Jetzt ist chemischer Dünger unglaublich teuer geworden und die Mehrheit der Regionen benutzt ihn überhaupt nicht mehr. In reichen Regionen wie zum Beispiel in Kuban fahren die starken Wirtschaften dagegen fort, in großem Maßstab mit chemischer Düngung zu arbeiten. Kuban hat eine der höchsten Krebsraten in Russland. Als Grund wird der völlig unkontrollierte Einsatz der giftigen Düngemittel angenommen. Auch hier kann man sich vom ökologischen Dienst durch wieder Geschenke loskaufen.“
…problem njet.“

Erzähler:
Auswege aus der Situation liegen nicht in einer weiteren Privatisierung, ebenso wenig wie im Widerstand dagegen, erklärt Alexander Nikulin. Sie liegen einzig und allein in der Anerkennung der Realität:

O-Ton 17: Nikulin, Forts.        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja….
„Ich stelle mir für Russland aktuell das Modell Tschajanows vor. Tschajanow ist ein großer russischer Agrarwissenschaftler am Anfang des 20. Jahrhunderts, der die Theorie der ländlichen Kooperative ausgearbeitet hat. Diese Theorie ist eine Kombination, sagen wir, des Individuellen und des Kollektiven, wenn die einzelne Menschen in begrenzte kollektive Prozesse eingebunden sind, dabei in Prozesse, die man einschätzen, die man rationalisieren kann. Das ist nicht einfach nur die hehre Obschtschina und Sobornost, soziale und geistige Gemeinschaft, von der viele russische Nationalisten geschrieben haben. Die kann ich in der Realität nicht erkennen. Was ich in der  Realität aber sehe, ist die äußerst produktive, äußerst perspektivreiche, effektive Kombination zwischen Persönlich-Familiärem und Groß-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und in Abhängigkeit zur geografischen Lage, in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand kann es sehr viele unterschiedliche Kombinationen dieser Art geben. Sie bilden sich zur Zeit spontan und arbeiten in Russland. Es ist die Aufgabe von Wissenschaftlern, von Politikern, über sie nachzudenken, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen rationalen Entwicklung zu geben. Das erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
…perspektivni putj.“

Erzähler:
Hier aber zeigt sich das eigentliche Problem: Haupthindernis, das einer solchen Lösung entgegenstehe, fasst Alexander Nikulin seine Beurteilung der Lage zusammen, liege nicht in der Frage, `Privatisierung oder nicht?´, sondern in der Existenz einer landwirtschaftlichen Bürokratie, welche die Ressourcen für sich nutze und andere Entwicklungen nicht zulasse – und dies nach Wladimir Putins ersten Reformen noch schlimmer unter Jelzins Präsidentschaft:

O-Ton 18: Nikulin, Forts.        1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Bedarf zwischendurch hochziehen, am Ende hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Ja wam daju…
„Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel. In der Nähe des Ortes, wo ich arbeitete, gab es eine heruntergekommene Sowchose. Vor einem Jahr wurde dort ein neuer Vorstand gewählt. Und wie so oft in Russland, wo so viel von der Leitung, dem Hausherrn usw. abhängt, schaffte er es, die Situation der Sowchose merklich zu verbessern. Der zentrale Punkt seiner Reform bestand darin, dass er eben genau diese symbiotische Beziehung zwischen den großen Strukturen der Kolchose und den Interessen der Familien an privaten Wirtschaften herstellte: Ihm fiel es schwer, Lohn in Geld auszuzahlen, also ging er zu Zahlungen in Naturalien über – Korn usw., das die `Kolchosniki´ bekommen konnten. Merklich stieg der Stimulus für die Arbeit, die Margen für die Wirtschaftsleistung stiegen an, und die Leute spürten innerhalb eines Jahres, dass sie besser leben konnten. In derselben Zeit – wie das oft vorkommt in dieser Zeit bei Gebieten, die sich in einem verwahrlosten Zustand befunden haben – fanden sich auf dem Gebiet dieser Sowchose ein paar private Bauern ein, „ffektive Bauern“, Chef-Bauern: Einer von ihnen war der Leiter, der andere der Staatsanwalt des Distrikts. Formal sind sie Bauern, in Wirklichkeit muss diese arme Kolchose ihnen die Felder bestellen.  Der neue Direktor der Kolchose erklärte, dass sie die Felder nicht weiter für diese Chefs bearbeiten würden, sondern sich um ihre eigenen Felder kümmern wollten. Buchstäblich zwei Monate danach betrieben die Chefs gegen den Direktor ein Strafverfahren wegen nicht gezahlter Steuern und erklärten, dass sie ihn vor Gericht bringen und ins Gefängnis setzen würden. Und hier geschah es: Die Leute solidarisierten sich massenweise mit ihrem Vorstand. Sie erklärten, dass sie ihren Vorstand nicht herausgeben würden, sie versammelten sich zu Demonstrationen im Distriktzentrum. Da haben sie, was an starken Orten geschieht: Örtliche ländliche Gemeinschaft gegen örtliche Bürokratie. Das ist sehr gefährlich.“
… otschen apastna.“

Erzähler:
Gefährlich, erklärt Alexander Nikulin, weil solche Konflikte, die es auch an anderen Orten gebe, den Keim bewaffneter Auseinandersetzungen in sich trügen,. Das, betont er, wäre die wirkliche Katastrophe!
Mit dieser Sicht steht der junge Forscher nicht allein. Boris Kagarlitzki, einer der auch im Ausland bekannten Reformlinken, bringt das Problem der weiteren Privatisierung in der Landwirtschaft deshalb auf den einfachen Punkt:

O-Ton 19: Boris Kagarlitzki        0,58
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, agrarni wapros…
„Nun die Agrarfrage, ist auch wieder so eine Sache. Gott sei Dank ist diese Anzahl unverständiger Leute, die in Russland den Boden privatisieren wollen, nicht so hoch. Was das Volk dazu denkt, auch die Agrarpartei oder die Kommunisten ist für die Regierung nicht wichtig. Wenn sie der Privatisierung des Bodens erste Priorität einräumen würde, dann könnte sie das ohne weiteres durchziehen. Notfalls kauft sie sich die nötigen Stimmen in der Duma, auch die der Kommunisten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Risiken in Bezug auf die Privatisierung des Bodens so hoch sind, dass sie jede Initiative auf diesem Gebiet bremsen.“
… we etom planje.“

Erzähler:
Ob Wladimir Putin bereit ist, angesichts dieser Situation mit neuen Initiativen zur Privatisierung durchzustarten, darf bezweifelt werden. Wahrscheinlicher ist, dass die Realität, welche Forscher wie Alexander Nikulin beschreiben, sich still und stetig im Lande verbreitet – vielleicht sogar mit stillschweigender Billigung des neuen Präsidenten. Das wäre die pragmatische und friedlichere Variante.

Warum Russland nicht verhungert – Russlands andere, extrapolare Ökonomie.

Seit über einem Jahrzehnt wird in Russland privatisiert. Es entwickelt sich aber nicht, was sich nach dem Willen der westlich orientierten Reformer entwickeln sollte. Zwar gibt es inzwischen Privateigentum, aber die kollektiven Strukturen leben weiter; zwar gibt es einen Markt, er funktioniert aber nicht nach den bekannten Gesetzen des westlichen Kapitalismus. Kritiker sprechen von „Kapitalismus im Übergang“, von Chaos und Mafia. Eine Dauerkrise hat das Land erfasst. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet und ächzt – der immer wieder vorhergesagte endgültige Zusammenbruch aber ist bisher trotz all dem ausgeblieben. Neuerdings sind russische Ökonomen zu hören, die diesen Zustand Russlands nicht als Schwäche, sondern als Spezifikum ihres Landes zu beschreiben versuchen. Wortführer dieser Richtung ist Teodor Schanin, Professor der Ökonomie. Als Rektor einer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau und zugleich langjähriger Professor für Ökonomie an der Universität von Manchester in England ist er der Kopf eines wissenschaftlichen „joint venture“, das russische Realität und westliche Methodik in einem neuen Forschungsansatz zu verbinden versucht.

Teodor Schanin hat soeben einen umfangreichen Band mit Forschungen zum Stichwort einer „Informellen Ökonomie“ in Russland  herausgegeben. Auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, antwortet er:

O-Ton 1: Teodor Schanin 2,30

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„One has to begin…

„Man muss mit einem Paradoxon beginnen: Das Paradox besteht in der sozialen und wirtschaftlichen Existenz der Mehrheit der Menschen Russlands. Nach den meisten offiziellen Statistiken ist die Produktion innerhalb von zehn Jahren auf mehr als die Hälfte gesunken. In der Landwirtschaft ist es sogar noch schlimmer. Aufs Ganze gesehen, ging die Wirtschaft um die Hälfte zurück. Der Niedergang ging einher mit einer Polarisierung: Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Unter solchen Bedingungen müsste theoretisch gesehen die Hälfte der Russen hungern, die Versorgung in den meisten russischen Provinzen müsste zerstört sein, die Kinder müssten barfuss und ohne Schulunterricht herumlaufen etc. Wenn Sie aber hinkommen – nicht nach Moskau, das ist sowieso eine Insel – sondern in die Provinzen, dann funktioniert das gesamte soziale System, die Schulen arbeiten, mit unterbezahlten oder ganz unbezahlten Lehrern, aber sie arbeiten, die Polizei operiert, sie operiert nicht gut und sie ist korrupt, aber sie operiert, alle Dienste funktionieren und es gibt keine Anzeichen von Hunger – und Hunger ist nun einmal eins der wenigen Dinge, die extrem schwierig zu verstecken sind. Es ist klar, dass man in jeder Gesellschaft einen gewissen Prozentsatz von marginalisierten Menschen findet, die Paupers sind, aber die findet man auch in New York. Diese Armen, diese Obdachlosen usw. sind ein Problem, sie sind aber nicht das spezielle Problem unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass diese russische Gesellschaft in einem viel schlechteren sozial-wirtschaftlichen Zustand sein müsste, als sie es nach dem, was wir von staatlichen und nicht-staatlichen Statistiken wissen, tatsächlich ist. Der einzige Weg zu erklären, was da geschieht, ist anzunehmen, das es da eine Komponente gibt, die in unserer Analyse fehlt. Ich denke, diese Komponente die entdeckt wurde, lange bevor die Russen darauf  kamen, ist das, was als informelle Wirtschaft definiert wurde.“

…informal economy.“

Erzähler:

Er selber, fügt er hinzu, spreche lieber von extrapolar. Entdeckt, wie der Professor es nennt, wurde die Komponente der informellen Wirtschaft in Ländern der sog. Dritten Welt, in Afrika, in Südamerika, in Indien und Asien. Aber auch im Westen, etwa in Italien wurden Elemente dieser Wirtschaftsweise aufgedeckt. Im Wesen geht es, so Prof. Schanin, um sozialwirtschaftliche Strukturen von Bauernwirtschaften, die sich in industriellen Gesellschaften oder in Sektoren von ihnen wiederfinden. Das gilt natürlich besonders für ein Land wie Russland, das zu Zeiten der Revolution von 1917 noch zu 80% landwirtschaftlich strukturiert war, das noch jetzt zu über 50% dörflich, ja teilweise sogar nomadisch lebt, wobei von den 50% städtischer Bevölkerung über dies hinaus noch gut die Hälfte von direkten Beziehungen zum Dorfe oder zum Kleingartenbesitz auf dem Lande lebt.

Gefragt, was man sich unter einer „informellen“ Wirtschaft vorzustellen habe, antwortet Professor Schanin:

O-Ton 2: Prof. Schanin, Forts.                1,50

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„It is an economy…

“Das ist eine Wirtschaft, die nach anderen Prinzipien arbeitet als die kapitalistische, aber auch als die Staatswirtschaft: Eine Wirtschaft, bei der das Ziel eher im Überleben besteht als in der Akkumulation von Kapital; entsprechend geht es oft eher um eine Maximierung des Nutzens der Arbeit, als um eine Maximierung von Profit. Es ist ein System, in dem der formelle Aspekt des Systems, die legale Struktur, eine weitaus geringere Rolle spielt als Verwandtschaft oder ethnische Beziehungen, wo die Durchsetzung von Verträgen, die in normalen kapitalistischen Ländern durch Gesetz, Gerichte und Polizei vollzogen wird, in einer sehr anderen Art vor sich geht. Die Durchsetzung erfolgt zum Beispiel durch Loyalitäten innerhalb der Familie, über Gefühle der Verantwortung gegenüber der ethnischen Gemeinschaft: „Ein Asari benimmt sich nicht so!“ oder so ähnlich. Die ganze Logik des Funktionierens ist eine andere. Dieses System verbirgt sich bis zum Punkt des Verschwindens, es ist teilweise schwarze Wirtschaft, es ist eine Wirtschaft, die sich den Steuern entzieht oder auch graue Wirtschaft, von der man nicht recht weiß, ob sie steuerlich erfasst werden sollte oder nicht. Noch wichtiger aber ist: Es ist verborgen, weil nicht die richtigen Fragen gestellt werden. Der beste Weg, Dinge nicht zu erkennen ist nun einmal, nicht nach ihnen zu sehen, analytisch verstanden.“

…not to look for them, analyticly.“

Erzähler:

Was Prof. Schanin jetzt theoretisch zu erfassen sucht, ist für russische Praktiker, also Manager, Geschäftsleute, Wirtschaftsbürokraten schon lange Realität. Sie unterscheiden zwischen westlichem Modell der Reform und „realer Wirtschaft“. Jussef Diskin etwa, Assistent des Direktors am „Institut für sozial-ökonomische Probleme des Bevölkerung“, welches regelmäßige Untersuchungen für die russische Zentralbank durchführt, zugleich auch Manager bei „Sib-Neft“, einer der großen Ölkonzerne des Landes, erklärt schon vor dem großen Bankenkrach im April 1997 im Ton größter Selbstverständlichkeit:

O-Ton 3: Jussef Diskin 1,11

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

”Nu, jesli goworits stroga…

„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: dass es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt“

…rossiski ekonomiki.“

Erzähler:

Feudale Überbleibsel – damit ist gemeint: Keine vollkommene Geldwirtschaft, kein funktionierender Lohn-Ware-Kreislauf, kein offener Markt, auf dem sich Individuen als Käufer und Verkäufer begegnen, stattdessen Regelung des Lebens – Arbeit, Versorgung, Kultur – in den eng gezogenen Grenzen patriarchaler sozialer oder ethnischer Beziehungen. Einen tiefen Einblick in diese Struktur liefert der Wirtschaftsriese  „Gasprom“, auf deutsch: der Gas-Gewinnungs-Komplex. Ausgerechnet in den Strukturen dieses international organisierten russischen Multi, der 35% des Weltgasaufkommens kontrolliert und verschiedene Niederlassungen in  westlichen Ländern hat, treten heute die Elemente der von Diskin beschriebenen Verhältnisse besonders deutlich zutage. Sergei Sergejewitsch, ein leitender Mitarbeiter des Konzernes, skizziert das Finanzgebaren des Multis, stellvertretend für die russische Wirklichkeit, mit den Worten:

O-Ton 4: Sergej Sergejewitsch, „Gasprom“                            0,36

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Idjot wechselej..

„Verrechnungen laufen über Wechsel, über gegenseitige Verschuldung, über einfachen Warenaustausch oder auch über primitivsten Austausch von Privilegien, also etwa: `Wir veranlassen den Leiter dieser oder jener Branche loyal gegenüber der Administration zu sein und sie berechnet uns weniger Steuern.´ So treten alle auf. Gasprom ist keine Ausnahme.“

…nje isklutschennije.“

Erzähler:

„Gasprom“ gilt im Lande geradezu als Synonym für informelle Strukturen: Er ist die undefinierbare Mischung zwischen privaten und öffentlichen Interessen. In ihm wird informelle Wirtschaftsweise exemplarisch erkennbar. Zu seiner Beschreibung greift Sergej Sergejewitsch sogar zu Begriffen Teodor Schanins:

O-Ton 5: Sergejewitsch, Forts.                                                 0,35

Regie: O-Ton von kürzer stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:

„Prinzipje wy prawi…

„Im Prinzip haben Sie recht, obwohl in Gasprom auch andere Gesetze wirken. In den unteren Schichten der Bevölkerung überlebt man ja vielfach auf Grund dessen, was der englisch-russische Ökonom Teodor Schanin, glaube ich, trans- oder extrapolare Ökonomie genannt hat, also eine Wirtschaft, die außerhalb der klassischen Schemata liegt.“

…schema

Erzähler:

Viele kleine Gruppen, fährt Sergej fort, auf dem Dorf, in der Familie, ganze Zusammenhänge von Familien, Clanverwandte usw. könnten nur durch gegenseitige Hilfe überleben. Menschen in der Provinz, die Kinder in Moskau haben, überlebten nicht mit Geld, sondern mit den Produkten, welche die Kinder ihnen brächten. Umgekehrt unterhalte eine Gruppe Verwandter Garten, Kühe, Schweine, arbeite rund um die Uhr, nur damit ihre Kinder in Moskau eine Ausbildung erhalten könnten. Dies alles funktioniere großenteils ohne Geld. „Gasprom“, obwohl ein internationaler Konzern, sei wohl Teil dieser Struktur:

O-Ton 6: Sergejewitsch, Forts.                                                  0,40

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Schto kassajetsja…

„Was die transnationalen Aktivitäten betrifft, so handelt Gasprom wie eine normale, europäische, westliche Korporation. Was Gasproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nur indirekt Teil der `extrapolaren Wirtschaft´, aber über diese Beteiligung ist Gasprom doch gezwungen, sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“

…rossiskuju spezifiku.“

Erzähler:

Mächtigen theoretischen Beistand erfährt die Moskauer Schule Teodor Schanins durch Tatjana Saslawskaja, Stichwortgeberin der neuen nachsowjetischen russischen Soziologie. Aus der von ihr begründeten Nowosibirsker Schule war bereits Anfang der 70er Jahre des eben zuende gegangenen Jahrhunderts zu hören, die Wirtschaft Russlands werde sich irgendwie zwischen Kapitalismus und Sozialismus in neuen, nicht gekannten Formen entwickeln. In einem ihrer ersten Bücher,  unter dem deutschen Titel „Die Gorbatschow-Strategie“, schrieb sie 1988:

Zitatorin:

„Das beschriebene System stellt eine Art Hybridprodukt aus dem zentralisierten planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen System dar, wobei es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird, sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.“

Erzähler:

Allen diesen Positionen, wie ungewöhnlich sie für westliche Ohren, wie provokativ sie für die westlich orientierten russischen Reformer bereits klingen mochten, war jedoch noch eines gemeinsam, die Beurteilung der Situation als Mangel, als vorübergehende Erscheinung, als Zustand, der früher oder später in ein entwickelten Marktsystem übergehen oder sich doch mindestens den westlichen Modellen angleichen müsse. Frau Saslawskaja sprach – nach Abwendung von Michail Gorbatschow und in offener Kritik an Boris Jelzin – Mitte der 90er sogar von einem „Monster“, das einen kriminellen Staat und eine kriminelle Gesellschaft hervorgebracht habe.

Mit Teodor Schanin gehen russische Analytiker nun dazu über – theoretisch – die Unfähigkeit Russlands zur glatten Übernahme westlicher Modelle nicht mehr als nur als Versagen, sondern als einen Schritt zu einer anderen, eigenständigen Entwicklung zu begreifen.

Entsprechend weist Professor Schanin daher inzwischen Fragen danach, wie es zu der „informellen Wirtschaft“ kommen konnte, als ärgerliche und irreführende Dummheit zurück:

O-Ton 7: Prof. Schanin, Forts.                                           2,08

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Well, first I think…

„Nun, zunächst glaube ich, dass die Formulierung „es kam von etwas“ nicht sehr nützlich ist. Die Idee, die hinter dieser Frage steht, ist doch die Vorstellung, dass es eine Krise gegeben hat und dass sich diese Formen als Ergebnis dieser Krise entwickelt haben. Die Frage kommt nach dem Motto: Gib uns einen Tag, an dem diese verdammte Sache anfing! – Und dann war es natürlich, als Gorbatschow anfing dumm zu werden, oder vielleicht nicht Gorbatschow, sondern jemand anders, Jelzin und seine Leute: sie haben eine schreckliche Unordnung hervorgebracht, sodass wir jetzt diese vielen Methoden haben, wie Leute unterwegs sind, merkwürdige Dinge tun, um zu überleben usw.

So ist es aber nicht. Tatsächlich ist es so, dass informelle Wirtschaft schon vorher in der Sowjetunion und davor schon im zaristischen  Russland existierte. Sie hatte unterschiedliche Namen und sie hatte unterschiedliche Formen. Jeder Russe kennt „Blat“, Beziehungen. Zu Sowjetzeiten gab es ein russisches Sprichwort, sehr wichtig: „Blat wische Sownarkoma“; auf deutsch, Beziehungen stehen über dem „Obersten Rat der Volkskommissare“. Die Alltagsmacht auf dem Land, heißt das, war „Blat“, nicht die Partei. „Blat“ ist der informelle Weg, wirtschaftliche Probleme außerhalb der offiziellen Wege zu lösen. Ohne „Blat“ wäre die sowjetische Regierung kollabiert, denn „Blat“ hat sehr viele Probleme gelöst, so wie die informelle Wirtschaft sehr viele Probleme löst. Es ist wichtig zu begreifen, dass informelle Wirtschaft nicht einfach irgendeine grauenhafte Situation ist, in der die Menschen sich befinden. Es ist eine Methode, eine ganzer Satz, ein ganzes System von Methoden, dringende Probleme zu lösen, um das Leben für Menschen erträglich zu machen, die andernfalls doch verhungern würden.“

…otherwise would starve.“

Erzähler:

Folgerichtig möchte Prof. Schanin Kennzeichnungen wie Schattenwirtschaft, graue Wirtschaft, Mafia, die bisher zur Beschreibung der Wirtschaft Russlands benutzt wurden, selbst die der  „realen“ und der „informellen“ Wirtschaft, obwohl sie ihm selbst immer noch wieder unterlaufen, als unzureichend hinter sich lassen. Sie alle, so Prof. Schanin, wiederholten immer nur die Beschreibung des Mangels. Auch der Begriff des „informellen“ beinhalte letztlich nur die Negation formellen, staatlichen, lasse aber keine eigene Struktur erkennen. Schon im gewählten Begriff, den man wähle, müsse erkennbar werden, dass es bei dem, was sich heute in Russland entwickele, nicht um eine mangelhafte, unentwickelte, demnächst überwundene, sondern um eine andere Wirtschaftsweise gehe:

O-Ton 8: Schanin, Forts.                                                     2,06

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„My termin is…

“Mein Begriff ist „expolare Wirtschaft“. Ich habe es so gesagt: Die meisten Wirtschaftsweisen, die wir kennen, basieren auf zwei Modellen; das eine ist das der kapitalistischen Wirtschaft, Markt usw.Wir kennen dieses Modell sehr gut, denn das ist es, was wir an unseren wirtschaftlichen Fakultäten überall auf der Welt unterrichten. Das zweite Modell ist die Staatswirtschaft. Das kennen wir weniger, aber wir kennen es doch immerhin. Die Erfahrung der Sowjetunion hat uns reichlich viel darüber gelehrt. In der ganzen Welt neigt man dazu zu sagen, es ist entweder so oder so oder irgendeine Mischung dazwischen und man kann alle Länder der Welt entlang einer Skala zwischen diesen Extremen auflisten, die klare Modelle sind. Wenn es eine Krise einer mehrheitlich marktorientierten Wirtschaft gibt, dann stützt der Staat, wenn die Staatswirtschaft nicht läuft, dann geht es anders herum. Zur Zeit leben wir in einer Phase, in der die Krise der Staatswirtschaft eine Wirtschaft des freien Marktes fördert, aber in einer ganzen Reihe von Ländern kann man bereits eine Rückbewegung beobachten. So hat man Pole und Pendel als ein Modell! Das sieht alles extrem einfach aus, es ist aber auch alles, was wir in unserem Verständnis von Wirtschaft haben. Mein Punkt ist, dass der größte Teil der realen Wirtschaft von wirklichen Menschen, die ihr Leben in dieser oder jener Weise führen, außerhalb dieser Pole verläuft,  außerhalb dieses Pendel und außerhalb dieser Skalen. Man muss sie nicht irgendwo unterbringen – vielleicht mehr Markt oder vielleicht mehr Staat? Nein, sie ist anders, sie passt nicht in dieses Modell. Und weil sie nicht in dieses Modell passt, sehen die Menschen sie nicht.“

… people don´t see it.“

Erzähler:

Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert:

O-Ton 9: Schanin, Forts.                                                             2,34

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„It´s economy favours…

„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst: Ich tue dir einen Gefallen, ich bin Kartenverkäufer im Theater; ich bin Dir gefällig, Karten für das Theater zu bekommen; Du hilfst du mir, meine Tochter in die Universität zu hieven, in die sie gehen möchte. Es ist oft sehr viel komplizierter, es ist natürlich nicht nur gegenseitige Gefälligkeit zwischen zwei Menschen, es ist oft ein System von gegenseitiger Gefälligkeit zwischen Dutzenden von Menschen, von denen jeder irgendetwas an jeden gibt. Es wäre aber auch nicht richtig, dies als Markt der Gefälligkeiten zu bezeichnen, denn Markt ist ein Vorgang, bei dem es ein Äquivalent gibt, über das man Dinge austauscht, nämlich Geld. So ist es nicht. Es ist ein nicht-äquivalenter Austausch, denn Du selbst bestimmst, was äquivalent ist; du selbst sagst: Eine Karte für einen Platz in der Universität. Es gibt keine Gelddefinition davon; du weißt nicht, ob es korrekt ist. Es spielt keine Rolle, ob es gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. Und wie ich sagte, wie nannten es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht : Schieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen. Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“

… will stop.“

Erzähler:

Expolare Wirtschaft, so Prof. Schanin ist eine symbiotische Wirtschaft. Sie verbindet Kapitalismus und Sozialismus, Staatswirtschaft und nicht-staatliche Formen der Wirtschaft, Groß-Betriebe und Familienwirtschaft, bäuerliches und industrielles Arbeiten miteinander. Vor allem aber ist sie kein theoretisches Modell, sondern Ausdruck gewachsener Kultur, Geschichte, Mentalität und besonderer Gemeinschaftsstrukturen der Völker und Länder:

O-Ton 10: Schanin, Forts. 1,39

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„It´s a relationship…

„Es ist die Beziehung, die durch Werte definiert ist, durch Konzeptionen von Ästhetik, von Eigentum usw. – was eben Kultur ist. In diesem Sinne wird die Übertragung und die Funktionalisierung dieser Formen durch kulturelle Muster verstärkt. Das ist der Grund, warum verschiedene extrapolare Wirtschaftsweisen verschieden ablaufen. Ich meine, selbst wenn ähnliche Probleme existieren und wenn vergleichbare Anstrengungen unternommen werden, nimmt die expolare Wirtschaftsweise in verschiedenen Ländern verschiedene Form an. In einer Gesellschaft, die streng familistisch ist, in der die Familie also einen extrem hohen Wert besitzt, läuft sie auf die eine Weise, in Gesellschaften die sehr viel individualistischer sind, wird sie anders ablaufen. In Russland gibt es Gruppen, ethnische Gruppen, nicht Russen, die nach familistischen Prinzipien organisiert sind und wenn jemand dazukommt, der nicht da hineinpasst, also kein Verwandter ist, dann wird er zum Verwandten gemacht. Entweder man heiratet ihn oder er wird zum Verwandten definiert: `Er ist wie ein Neffe für mich´, sagen die Leute. `Er ist wie ein Bruder für mich.´ Was tun sie? Sie nehmen ihr kulturelles Modell und packen die Dinge dort hinein. Diese Struktur der Definitionen hilft den Menschen, eine informelle Wirtschaftsweise zu betreiben.

…to do informal economy.“

Erzähler:

Eine allgemeine Renaissance der „Obschtschina“, der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft, wie sie von vielen russischen Patrioten erwartet wird, hält Prof. Schanin allerdings für illusorisch. Als Lebenszusammenhang, der staatliche Verwaltungseinheit und dörfliche Hilfsgemeinschaft zugleich war, habe sie die Interessen von oben mit denen von unten zum gegenseitigen Nutzen verbunden. Das sei der Entwicklung extrapolarer Wirtschaftsformen sehr förderlich gewesen. Die Zwangskollektivierung während der Sowjetzeit, neuerdings die Privatisierung habe dieses Gleichgewicht zerstört:

O-Ton 11: Schanin, Forts.                        1,10

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„To which extent the peasants…

„In welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben, ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, also Süd-Westrussland zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein Aktiengesellschaft-Dorf, das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt, aber es ist exakt dasselbe: Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft. Das entwickelt sich teils wegen der Krise so, teils wegen der demografischen Situation, dass nur noch alte Leute im Dorf sind. Als Einheit der gegenseitigen Hilfe ist die Obschtschina jedoch gestorben.“

…unites people operating together.“

Erzähler:

Wichtiger für die Herausbildung extrapolarer Wirtschaftsweisen als die traditionellen Gemeinschaftstrukturen ist nach Teodor Schanins Ansicht der Globalisierungsprozess, der heute auch Russland erfasst hat. Er lasse nicht nur in Russland, sondern überall auf der Welt Elemente der extrapolaren Wirtschaft entstehen:

O-Ton 12: Schanin, Forts. 1,19

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Well, there is no doubt…

„Es gibt keinen Zweifel daran, dass es ein Wachstum globaler Verbindungen gibt. Es gibt auch, aus meiner Sicht, keine Zweifel daran, dass dieser Prozess Nachteile für mehr als die Hälfte der Menschheit bringt. Informelle Wirtschaften sind kein Produkt der Krise, aber die Krise entwickelt sie. Ich glaube, dass Globalisierung und globale Wirtschaft weitere Krisen hervorruft, weil sie Polarisierungen einführen. Die Globalisierung führt dazu, dass es immer mehr Orte, Räume, Lebenszusammenhänge gibt, die ohne Geld auskommen müssen. Es entstehen Inseln der Globalisierung und die Zahl dieser Inseln nimmt zu und wird weiter zunehmen. Der einzige Weg, um das Anwachsen dieser Inseln zu verringern, die ausgeschlossen sind vom allgemeinen Wohlstand,  besteht darin, die Globalisierung zu stoppen.“

…stop globalisation.“

Erzähler:

Dies sei möglich, setzt er hinzu, weil die Globalisierung an ihren eigenen inneren Widersprüchen in die Krise komme.

Untermauerung seiner Ansichten wachsen dem Professor aus der von ihm geleiteten „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ zu. Sie schickt ihre Absolventen zu  Feldforschungen für längere Zeit direkt in die Untersuchungsgebiete, Sowchosen, Kolchosen – kollektiven Landwirtschaftsbetrieben – Fabriken, Städten, Regionen.

Da ist zum Beispiel der junge Alexander Nikulin, der soeben von halbjährigen Studien aus dem Süden Russlands zurückkehrt. Er berichtet über Experimente im Gouvernement Saratow, wo die Administration versucht hat, die Privatisierung im Agrarbereich durch große Auktionen voranzutreiben, in denen der Bevölkerung Land zum Kauf angeboten wurde – es kaufte niemand. Der Masse der Landbevölkerung fehlt sowohl das nötige Geld als auch die Motivation. Private Bauern sind unter den heutigen Bedingungen Russlands nur in Ausnahmen existenzfähig. Was dagegen um sich greift, sind Formen der Integration von Familien- und Großwirtschaft. Anders als sein abgeklärter Lehrer, der sich mit Prognosen zurückhält, wagt der junge Nikulin daher eine Perspektive zu formulieren:

O-Ton 13: Alexander Nikulin                  1,26

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:

„Mnje predstawlajetsja…

„Ich stelle mir vor, dass für Russland heute das Modell Tschejanows aktuell ist. Tschejanow ist der große Agrarsoziologe des zwanzigsten Jahrhunderts, der eine Theorie der wirtschaftlichen Kooperativen ausgearbeitet hat. Das ist die Theorie der Kombination des, sagen wir, Individuellen mit dem Kollektiven, wenn einzelne Persönlichkeiten in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind. Das ist nicht einfach die wundersame Obschtschina. Der Idee der Obschtschina, wie sie von vielen russischen Nationalisten ausgemalt wird, stehe ich skeptisch gegenüber. Aber was ich doch in der Wirklichkeit sehe, ist eine äußerst effektive und äußerst produktive Kombination zwischen Persönlich

-Familärem und Großbetrieblich-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und entsprechend den geografischen oder ökomischen Entwicklungsbedingungen kann es sehr viele solche Kombinationen geben. Die entstehen gegenwärtig spontan in Russland und sie arbeiten. Die Aufgabe der Wissenschaftler, die Aufgabe der Politiker besteht darin, sie zu studieren, über sie nachzudenken und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wirklich vernünftig zu entwickeln. Das

erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“

..otschen perspektivno putj.“

Erzähler:

Wohin sich das Blatt tatsächlich wendet, ist offen. Regierung und Internationaler Währungsfond, an dem auch unter Wladimir Putins Führung die russische Politik ausgerichtet wird, sind an den Erkenntnissen über den expolaren Charakter der russischen Wirtschaft, so Teodor Schanin, nicht interessiert; sie orientieren auf kurzfristige Gewinne. Was die Menschen betrifft, die tatsächlich unter der Krise leiden, so sind sie damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren. Die Wirklichkeit, scheint es, muss ihre eigene Überzeugungskraft entfalten. Da bleibt nur die Hoffnung, dass die Wirklichkeit letztlich stärker ist als alle Modelle.

Globalisierung und Identität

Thesen
Erstmals vorgelegt
anlässlich eines Seminares vom 23.-25.11.20001
der evangelischen Akademie Mecklenburg-Vorpommern:
„Altai – Wiege der Völker und letzte ökologische Zuflucht?“

1. Mit dem Ende der Sowjetunion ist die polarisierte Welt des 20. Jahrhunderts in Bewegung geraten. 2. Das sah zunächst aus wie ein Siegeszug des Kapitalismus und der sog. westlichen Zivilisation, insonderheit der USA. Tatsächlich ging die Krise der Sowjetunion der Krise des Westens, auch hier wieder vor allem der USA, nur voran.3. Tatsächlich sind im Schoße der vom sog. Westen entwickelten und beherrschten industriellen Zivilisation, besonders heftig auch in der Sowjetunion, Verhältnisse herangewachsen, die auf eine grundsätzliche Umwälzung der herrschenden Modelle der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und der sie erhaltenden Machtverhältnisse hinauslaufen. Es ist eine Wachstumskrise, welche die Ablösung einer bloß technischen durch eine moralische und soziale Modernisierung beinhaltet,  die an einer für alle Menschen lebensfähigen ökologisch zu gestaltenden Zukunft orientiert ist – wenn die zur Zeit herrschenden Mächte das zulassen. 4. Die beiden ehemaligen Supermächte unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf ihre jeweilige Krise diametral: Die Führung der Sowjetunion akzeptierte in der Person von Michail Gorbatschow die Politik der Transformation als unausweichlichen Schritt in ein „Neues Denken“, nachdem die Niederlage in Afghanistan klar machte, dass die Union das Ende der russisch-sowjetischen Expansion erreicht hatte und ein Übergang zur intensiven Entwicklung, zur Dezentralisierung und Demokratisierung unausweichlich sei. Die USA unter ihrem Präsidenten George W. Bush dagegen sind nicht gewillt, die Krise zum Anlass einer Transformation ihres liberal-kapitalistischen Gesellschaftsmodells zu nehmen, sondern versuchen sie durch neuerliche Expansion zu überwinden. 5. Dabei unterscheidet sich die amerikanische Expansion grundsätzlich von der russisch-sowjetischen: War die russisch-sowjetische entlang der gesamten Entstehung des russsisch-sowjetischen Imperiums im Wesen eine territorial integrierende, so ist die us-amerikanische im Gegensatz dazu im Wesen eine maritim intervenierende – was überseeische Interventionen seitens der UdSSR und territoriale Kolonisation der USA in Mittel- und Südamerika zur Zeit des kalten Krieges nicht ausschloß. Grundsätzlich folgt aber aus dem unterschiedlichen geografisch und historisch bedingtem Herkommen Russlands und der USA offensichtlich nicht nur ein unterschiedlicher Charakter der Kolonisation, sondern auch unterschiedliche Vorstellungen zu Lösung der  gegenwärtigen Krise. 6. Elemente der möglichen neuen Verhältnisse, die aus der Krise hervorgehen könnten, sind  eine multipolare Weltordnung der Völker und Kulturen mit einer zu dieser Ordnung gehörenden sozialen Symbiose zwischen industriellen Produktionsweisen und persönlicher, bzw. familiärer Subsistenz durch die eigene Produktion von Grundlebensmitteln und Mitteln des eigenen Bedarfs. Dies schließt die Tendenz zur Entwicklung von Stadtgärten und handwerklichen Kleinstbetrieben aller Art mit ein, die gegenwärtig nicht nur auf dem Lande und nicht nur in Ländern der ehemaligen dritten Welt, sondern auch in den Metropolen der Industriegesellschaften, auch denen der USA zu beobachten sind. 7. Diese Verhältnisse – global wie lokal – entstehen nicht als Modell, sondern aus unmittelbarer Lebens-, sogar Überlebensnotwenigkeit als Selbsthilfe im Gegenzug gegen die Konzentration des Weltkapitals in immer weniger Händen. 8. Es ist zu hoffen, daß sich diese neue Ordnung, deren Voraussetzungen in den Jahren seit dem ersten und dann verstärkt seit dem zweiten Weltkrieg bereits herangewachsen sind, mit möglichst wenig Widerstand von Seiten der jetzt Herrschenden und mit möglichst wenig Gewalt seitens der Vertreter der herandrängenden neuen Ordnung durchsetzen kann. Durchsetzen wird sie sich so oder so – oder die menschliche Welt wird nicht mehr sein. 7. Die Ereignisse seit dem 11. 9. 2001 bestätigen die Aktualität dieser Überlegungen. Eine bloße kriegerische Antwort der industriellen Welt auf die Herausforderung durch den fundamentalistischen Terrorismus – wo immer er sich artikuliert – wird die herangereiften Alternativen weder ersetzen können, noch entwickeln. Er wird die unvermeidliche Auseinandersetzung darum lediglich in eine Eskalation der Gewalt verwandeln. Nicht nur menschlicher, sondern auch effektiver wäre es, die Debatte und die Bemühungen zur friedlichen und kooperativen Förderung der anstehenden Alternativen in den Vordergrund zu stellen. Kai Ehlers, 22.11.2001www.kai-ehlers.de

Russland: Chancen für die Radikalen?

O-Ton 1: Megaphon-Agitation                    16,B,194
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Moskau. Meeting vor Moskaus größtem Betrieb, der Autofabrik SIL. Die radikale Gewerkschaft „Saschita“, Schutz agitiert gegen die Sozialpolitik unter Präsident Putin: Entlassungen, nicht gezahlte Löhne, der Abbau der betrieblichen Sozialfonds, die drohende Einschränkung von Rechten für die arbeitende Bevölkerung durch die beabsichtigte Neufassung des Arbeitsgesetzes sind ihre Themen. Dazu der für das Jahr 2004 befürchtete „technische GAU“, der Zusammenbruch der technischen Infrastruktur, wenn weiterhin nichts in deren Modernisierung investiert wird. Die „Föderation freier Gewerkschaften“ unternimmt öffentlich nichts dagegen; Anfang der 90er als radikale Protestbewegung entstanden, ist sie inzwischen selbst Staatsgewerkschaft, die sich mit der Regierung arrangiert.
Jetzt sind es kommunistische Kräfte, die den Protest organisieren:
Megaphon allmählich ausblenden
Erzähler:
Das Misstrauen ihnen gegenüber ist groß. Gut fünfzig Menschen haben sich direkt auf dem Platz versammelt. Arbeiter von SIL beobachten von der anderen Straßenseite her:

O-Ton 2: Arbeitergruppe                        16,B, 219
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Erzähler:
Megaphon, Stimme: „Dasche nemnoschko…
„Ein bisschen albern das alles“, meint einer. „Da schicken sie Pensionäre hierher zum Meeting! Ist doch uninteressant. Sind ja auch kaum Leute da, obwohl man reichlich Flugblätter verteilt hat.“

Regie: Andere Stimme

Erzähler:
„Die Arbeiter glauben das einfach nicht mehr“, meint ein anderer.
„Lohn für unsere Arbeit brauchen wir“, meint ein dritter, „mehr nicht; und anständige Arbeitsbedingungen, dass wir Menschen sein können.“
245 (338)….bili ludmi ..megaphon

Regie:Megaphon abblenden, unterlegen, nach Erzähler verblenden
Mit O-Ton 3

Erzähler:
Sergei Trochin, Arbeiter bei SIL und Mitbegründer der dortigen Betriebsgruppe von „Saschita“ lässt sich durch solche Kommentare nicht beirren. So etwas sei heute üblich, meint er. Dass die Kollegen aber überhaupt wieder zum Meeting herauskämen, kündige eine neue Qualität von Protesten an. Die Zeit werde es zeigen:

O-Ton 3: Serge Trochin, Aktivist von „Saschita“              14/B/245
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Na sawodje my stolknulis…
Sie seien in der Fabrik mit einer paradoxen Situation konfrontiert, erklärt er. Die Kollegen seien nach wie vor Mitglied der etablierten Gewerkschaft, mit Fragen jedoch kämen sie zu ihnen.
268  verlegenes Lachen,  …prichoditsja k`nam.“

Erzähler:
Grund für diese Entwicklung, so Sergei: Die etablierten Gewerkschaften sind für die Arbeiter lebenswichtig, solange sie die betrieblichen Sozialfonds verwalten. Jetzt stellt die Regierung diese Funktion der Gewerkschaft in Frage. „Saschita“ dagegen hat politische Ziele, unter anderem ruft sie zum Widerstand gegen eben diese Pläne der Regierung auf. Die Betriebsgruppe von SIL gibt ein monatliches Flugblatt heraus:

O-Ton 4: Sergei Trochin, Forts.                14/A/308
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Listok wosnamnom…
„Das Flugblatt sei natürlich den Vorgängen in der Fabrik gewidmet, erklärt Sergei, aber es kommentiere sie so, dass die Menschen zu denken begännen. Das sei das Wichtigste.“
322 …ludej dumat.“

Erzähler:
Denken, das heißtz für Sergei an die Zukunft denken:
Zwar habe sich die Lage unter Putin ein wenig beruhigt. Zwar werde in einigen Betrieben wieder regelmäßig Lohn gezahlt. Erstens aber geschehe das selbst in guten Betrieben auf niedrigstem Niveau, schlimmer sei aber zweitens, dass Gewinne weiterhin nicht investiert, sondern privatisiert würden.

O-Ton 5: Sergei Trochin, Forts.                     14, B,490
Regie: O- Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzer overvoice:
„Sdjes wosmoschno dwa…
Sergei sieht zwei Varianten: Einen weichen Kurs der Regierung, das bedeute ständige kleinere Kämpfe wie in allen zivilisierten Ländern, dann dauere die Modernisierung vielleicht 50 Jahre. Oder die Regierung ziehe ihr Programm durch, also Abbau der Sozialfonds bei Fortsetzung der Privatisierung, dann werde es zu Konflikten mit der Arbeiterschaft kommen, die sich wehren müsse, denn letztlich gehe alles durch ihre Hände. Auch alle Mängel der Maschinen, setzt Sergei noch hinzu, da gebe es nichts zu verbergen.
123 … nitsche ne skeowisch.“

Arbeitskämpfe in Russland2

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin

Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4.5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Arbeitskämpfe in Russland

Arbeitskämpfe begleiten die Entwicklung des neuen Russland, seit Michail Gorbatschow sie Ende der 80er legalisierte. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Streikbewegung im Sommer 1998, als Grubenarbeiter der sibirischen Region Kusbass, unterstützt durch streikende Lehrer, Schüler und Studenten, die Gleise der transsibirischen Eisenbahn und die große Ost-West-Magistrale des Fernverkehrs durch Besetzung blockierten. Ihre wichtigste Forderungen lautete: „Nieder mit Jelzin!“ Wie entwickeln sich die Arbeitskämpfe heute, nachdem Jelzin den Weg für seinen Nachfolger Putin freigemacht hat? Kai Ehlers hat sich im Lande umgehört.

O-Ton 1: „Miting“ vor der Fabrik S.I.L.        1,00
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Regie-Stichwort: „Megaphon“ vorübergehend hochziehen, abblenden

Erzähler:
Straße, Megafon „Daragie Tawarischtschi…
Moskau. „Miting“ auf einem Platz nicht weit von den Toren des Automobilwerkes S.I.L., der „Fabrik namens Lichatschows“. Mit ca. 23.000 Beschäftigten ist es das größte Werk Moskaus. Es gilt als das Paradebeispiel für Bürgermeister Luschkows Wirtschafts- und Sozialpolitik: 1996 erwarb die Stadt Moskau die Mehrheit der SIL-Aktien, um den drohenden Bankrott des Werkes abzuwenden. Seit die Stadt Haupteigentümer des Werkes ist, ist der vormalige monatelange Zahlungsverzug beim Lohn auf gelegentliche Verzögerungen zurückgegangen. Mit einem durchschnittlichen Lohn von 2500 Rubel, das sind  fünfundzwanzig Deutsche Mark und Hilfsarbeiterlöhnen bei 1000 Rubel, also ca. 10 Mark, liegen die Löhne jedoch immer noch am Existenzminimum:
Megaphon

Erzähler:
Zum „Miting“ aufgerufen hat die „Russische Kommunistische
Arbeiterpartei“.

O-Ton 2: Miting. Forts.    2,15
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, bei „Rossiski kommunistitschiski“ kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, unter Erzähler auslaufen lassen

Erzähler:
„Rossiskki kommunistitscheski…
In einem Flugblatt Nr. 88, das die Redner in immer erneuten Varianten kommentieren, wendet sie sich an die Arbeiter und Arbeiterinnen der Automobilfabrik:

Zitator:
„`Towarischtschi´, Kollegen Genossen der Automobilfabrik!
Beim Überschlagen der Ausgaben für die Sommerferien und für die Schule unserer Kinder sehen wir, dass die Preise aufs Neue für alles gestiegen sind. Die Regierung aber redet uns hartnäckig die Notwendigkeit der Verteuerung der Mieten, der kommunalen Gebühren, der Heizung, des Verkehrsmittel, des Benzins und der Preise ein.
Glauben Sie, dass die gegenwärtige Regierung Ihre Interessen schützt und nicht die der Eigentümer? Welche Art Eigentümer sehen wir heute? Alles, wozu sie in der Lage sind, das ist: Staatliches Eigentum in ihre Taschen zu schaffen, es gnadenlos auszubeuten, ohne einen Pfennig für Renovierung und Entwicklung zu vergeuden (Beispiele: Fabriken und Ölgewinnung, Schiffe und Fernsehtürme) und wenn eine Katastrophe geschieht, die Kräfte des Staates dorthin zu werfen, die Armee, den Katastrophenschutz, Mittel und Budgets, das heißt, unser aller hart erarbeitetes Geld. Für die größten Bourgeois von ihnen hat die bourgeoise Regierung die Steuern soeben um das Dreifache gesenkt (von 30% auf 13%).
Finden Sie nicht, Kollegen, dass es schwer ist, all diese „Borrissowitsche“ und „Abramowitsche“ im Nacken zu haben? Wenn sie es nicht schwer finden, dann gehen sie ruhig an den Mitings und den Mahnwachen vorbei. Wenn diese Last Sie aber körperlich oder moralisch bedrückt, dann schließen Sie sich dem allgemeinen Kampf der Arbeiter für ihre Rechte an.“
abebbendes Megaphon, Straße

Erzähler:
Etwa 50 Menschen haben sich auf dem Platz eingefunden, die meisten von ihnen Mitglieder der Partei. Die Redner wettern gegen „Borrissowitsche und Abramowitsche“, die Synonyme für die neuen Russen und die sogenannten Oligarchen. Arbeiter von SIL kommen nicht auf den Platz; in mehreren Gruppen beobachten sie von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, getrennt durch den lauten Verkehr, das Geschehen. Ihre Kommentare sind nicht gerade schmeichelhaft für die Veranstalter des „Mitings“:

O-Ton 3:  Sil Arbeiter        0,46
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, zwischen beiden Erzählern vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Nemnoschko smeschno…
„Ein bisschen lächerlich“, meint einer, „Pensionäre, die schon nicht mehr arbeiten, die schafft man hierher zum `Miting´. Zu Haus haben sie nichts zu tun, wissen nicht, wohin mit ihrer Energie. Nichts von Interesse. Schauen Sie, wo sind die Leute? Niemand kommt. Und das trotz der Flugblätter.“

Regie: vorübergehend hochziehen

Erzähler:
„Die Arbeiter glauben einfach nichts mehr“, sagt ein anderer. „Wie oft hat es das schon gegeben. Und dann nichts.“
…a netschewo.“

Erzähler:
Was da auf dem Platzt durchs Megaphon dröhnt, geht über ihre Köpfe hinweg. Ihre Forderungen sind klar und direkt:

O-Ton 4: Forts. SIL-Arbeiter        0,13
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Schto nam nada…
„Was wir brauchen“ meint ein weiterer aus der Gruppe: „Ganz einfach: Lohn für unsere Arbeit. Sonst brauchen wir gar nichts. Und dass man uns achtet.“
…uwaschennije bila.

Erzähler:
Aber nicht alle Teilnehmer des „Mitings“  sind Pensionäre. Und auch nicht alle sind Mitglieder der „Russischen kommunistischen Arbeiterpartei“. Mit von der Partie sind auch Vertreter der Gewerkschaft „Saschita“, die neuerdings als radikale Kraft, auch bei SIL, von sich reden macht. Einer von ihnen ist Wassili Schoskariow, Facharbeiter bei SIL. Wassili Schoskariow ist betrübt, dass seine „Silowzis“ trotz vieler Flugblätter nicht mehr als einen Beobachterposten auf der anderen Straßenseite einnehmen wollen:

O-Ton 5: Wassili Schoskariow, SIL-Arbeiter,     0,28
Gewerkschaftsaktivist
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Jesli chotschisch…
„Siehst Du da drüben? Im Cafe – Silowzis. Da drüben beim Warenhaus `Klon´ – Silowzis. Weiter da hinten bei dem Imbissstand – Silowzis. Man müsste rübergehen, sie fragen, warum sie nicht herkommen – obwohl ich doch anderthalb tausend von diesen Flugblättern im Betrieb verteilt habe.“
…Megaphonproben.

Erzähler:
Wassili Schoskariow ist das, was er selbst einen „denkenden Arbeiter“ nennt. Als „denkender Arbeiter“ ist er nicht einverstanden mit den aus der Privatisierung bei SIL entstandenen Verhältnissen, die den Großaktionären Einfluss und unkontrollierbare Dividenden bringen, den Arbeitern aber weiteren Lohnverfall, Abbau sozialer Leistungen und die ständige Ungewissheit, ob sie morgen überhaupt ihren Lohn ausgezahlt bekommen. Obwohl die Stadt jetzt Hauptaktionär von SIL ist, so Schoskariow, habe sich für die Belegschaft doch wenig geändert:

O-Ton 6: Schoskariow, Forts.        0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja, kak rabotschi…
„Ich als denkender Arbeiter komme zu dem Schluss, das SIL für unseren Bürgermeister Luschkow allein als Reklame wichtig war.  Das war eine Zeit, als er Ambitionen hatte, auf die allgemeine politische Arena Russlands hinauszugehen, und zeigen musste, wie er als Hausherr zu wirtschaften versteht. Deshalb übernahm er das Aktien-Kontrollpaket von SIL und investierte in SIL. Wir kriegten Bankkredite. Aber das war 1996; jetzt ist immerhin schon 2000, aber SIL ist nicht profitabel geworden. Es ist alles Reklame.“
… reklamny.“
Erzähler:
Von dem Lohn bei SIL, so Schoskariow, könne doch niemand recht existieren. Er selbst, ledig, komme mit 2500 Rubel einigermaßen hin; Urlaub, Reisen oder längerfristige Anschaffungen schon nicht mehr gerechnet. Aber wie sollten ganze Familien von 1000 Rubel existieren!

O-Ton 7: Schoskariow, Forts.        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Otschen trudna…
„Sehr schwer haben es die Silowzis, von denen beide in der Fabrik arbeiten, Mann und Frau. Und wenn dann noch drei Monate nicht gezahlt wird, wissen sie überhaupt nicht mehr, wovon sie leben sollen. Sie existieren nur, indem sie sich von ihrem eigenen Geld, das sie schon erarbeitet haben, einen, wie es heißt, außerordentlichen Vorschuss erbitten, zwei- dreihundert Rubel. Da müssen sie erst zum Vorarbeiter, dann zum Hauptbuchhalter, dort kriegen sie, wenn Geld vorhanden ist, ihre Unterschrift, werden ausgezahlt, können überleben.“
…wyschewajet.“

Erzähler:
Aber selbst der außerordentliche Vorschuss würde nicht reichen, müssten die Arbeiter tatsächlich von ihrem Lohn leben:

O-Ton 8: Schoskariow, Forts.        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja spraschiwaju…
„Ich frage die Kollegen: Wie lebst Du? Ihr beiden arbeitet hier und ihr habt Kinder. Er antwortet mir: Naja, ich habe noch Verwandte im Dorf. Ich habe dort noch zwei Säcke Kartoffeln, sieben Kisten Kohl. In der Region ist es noch schlechter. Dort gibt es Lohnrückstände von einem halben Jahr, in einzelnen Fällen sogar zwei Jahre. Und das allgemeine Lohnniveau ist um vieles niedriger, in Nischninowgorod liegt der mittlere Lohn bei 1500. Allerdings haben sie auch engere Beziehungen zum Lande.
…priwjasenje semlje.“

Erzähler:
Zu den Bedingungen, mit dem niedrigen Lohn überleben zu können, gehört auch das nach wie vor existierende System der Sonderzuwendungen oder kostenlosen Unterstützung aus dem betrieblichen Sozialfonds, den die Gewerkschaften verwalten:

O-Ton 9: Schoskariow, Forts.        0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na prafessich…
„In schwierigen Produktionsbereichen, also wo mit Farben gearbeitet wird in der Gießerei usw., da gibt es Milch, einen Liter am Tag. Es gibt auch Spezialkleidung. Das ist wie früher. In den großen Betrieben wie unserem hat sich das nicht geändert. Wir haben Kantinen. Es gibt Anlagen für Sport und Kultur. Außerdem gibt die Gewerkschaft für Kinderferien im Sommer und im Winter bis zu 80% der Kosten als Subventionen. Wenn ich fahren würde, müsste ich 20% bezahlen.“
..etich fondow.“

Erzähler:
Viele Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik aber, so Wassili Schoskariow, kennen ihre Rechte nicht. Sie kommen für drei, vier Monate als Saisonarbeiter aus den russischen Regionen, aus Ländern der GUS, aus Moldawien. Rund 1000 Soldaten werden Monat für Monat als Hilfsarbeiter eingesetzt. Sie bekommen 30 Rubel im Monat.
Wassilis Tätigkeit als Gewerkschafter besteht unter diesen Umständen darin, wenn er nicht ausnahmsweise für ein „Miting“ agitiert, den Kollegen und Kolleginnen bei der Stellung von Anträgen für die „außerordentlichen Vorschüsse“ zu helfen. „Teewasserpolitik“ nennt er das in einer klassischen leninistischen Formulierung. Streiks hat es bei SIL zuletzt 1996 gegeben, seitdem nur einzelne spontane Arbeitsverweigerungen. In diesem Jahr sei die Unruhe gestiegen, meint Wassili, aber die offizielle Gewerkschaft sei angepasst und passiv. Deswegen haben er und einige Kollegen sich in der Gruppe „Saschita“ zusammengeschlossen, um die Interessen der Kollegen besser vertreten zu können. Die Erfolgsaussichten beurteilt er sachlich:

O-Ton 10: Schaskariow, Forts.        0,35
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja dumaju na…
„Ich denke wir haben heute einen Stillstand oder sogar einen Niedergang der Aktivitäten, insgesamt der Arbeiterbewegung. Gründe dafür gibt es viele. Darüber will ich jetzt nicht reden. Aber es gibt einzelne sehr radikale Auftritte. So im Wyborger Chemiefaserwerk in Leningrader Bezirk, wo die Arbeiter den Betrieb sogar besetzt haben. Es gibt einige Betriebe, wo die Arbeiter aktiv aufgetreten sind und die Betriebe in ihre Hände genommen haben.“
…swoi ruki.”

Erzähler:
Geradezu düster jedoch wird Wassili, als er auf die von der Regierung beabsichtigte Novellierung des Arbeitsgesetzes kommt:

O-Ton 11: Schoskariow, Fort.        1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ispolsujutsja…
„Heute gilt noch der alte Kodex aus der sowjetischen Zeit. Obwohl daraus schon viele Teile gestrichen wurden, gibt der den Arbeitern noch ziemlich viele Möglichkeiten Widerstand zu leisten. In dem Kodex heißt es, dass Lohn regelmäßig zu zahlen ist, dass schwere Berufe Vergünstigungen bekommen, dass die Arbeit der Frauen begrenzt sein muss, Nachtarbeit vor allem, überhaupt, dass die Arbeitszeit streng reguliert wird, dass es für Schichtarbeit der besonderen Zustimmung der Gewerkschaft bedarf usw. Das steht der Regierung, die heute die Wirtschaft ankurbeln will, und die andere als gewaltsame Mittel dafür nicht kennt, im Wege, deshalb wollen sie ein schärferes Arbeitsgesetz, um die Lohnarbeiter zu härterer Arbeit zu zwingen, um ihnen den sozialen Schutz zu streichen, die Gewerkschaft auszuschalten.
…ja ponimaju ich.“
Erzähler:
„Ich verstehe sie“, setzt Wassili Schaskariow hinzu, „denn wir leben in einer neuen Zeit: Privateigentum ist aufgekommen, die Wirtschaft, die Arbeitsbedingungen haben sich verändert.“ Seine Organisation habe daher einen eigenen Entwurf vorgelegt, der mehr Rechte für die Arbeiter fordere. Auch andere Entwürfe wurden noch vorgelegt, insgesamt sind es jetzt, mit dem der Regierung, vier. So konnte der Entwurf der Regierung nicht einfach die Duma passieren und die Entscheidung steht erst für den Herbst an.
Bei Jefgenia Gwoisdek kann man den Ablauf des „Mitings“ und Wassili Schoskariows Kommentare in den statistischen Gang der Dinge einordnen. Jefgenia Gwoisdek, eine junge Frau von eben über zwanzig Jahren, leitet eine „Agentur für Arbeits- und Sozialinformationen“, deren Direktorin sie ist. Einmal im Monat gibt die Agentur eine „Gewerkschaftliche Umschau“ heraus, die eine penible Übersicht über Qualität und Quantität der Arbeitskämpfe in Russland zusammenstellt.
Danach sind offene Streiks in Russland insgesamt von 1998 auf 1999 um ein Drittel, im ersten Halbjahr 2000 noch einmal um das Zehnfache zurückgegangen. Über das zweite Halbjahr liegen noch keine Auswertungen vor. Die Chefin der Agentur erklärt das so:

O-Ton 12: Jefgenia Gwoisdek, Direktorin     1,54
der „Agentur für Arbeits- und Sozialinformationen“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, jest metodi…
„Nun, es gibt offizielle und nicht offizielle Methoden, die offiziellen kennen alle und niemand interessiert sich dafür. Ja klar, schon seit einem Jahr organisiert die „Föderation der neuen Gewerkschaften“, also die offizielle Gewerkschaft, keine allrussischen Streiks mehr. Kleinere Aktionen finden ebenfalls keine Aufmerksamkeit. Die größten Aktionen des letzten halben Jahres von der Gewerkschaft Transport und Verkehr durchgeführt, das sind vor allem die Beschäftigten der städtischen Betriebe, Busfahrer, Tralleybusfahrer usw. Sie befanden sich in der Tat unter schwierigsten Bedingungen, das sollte die größte Aktion des letzten halben Jahres werden. Sie können sich ja selbst vorstellen, was bei deutschen Arbeitern geschehen würde, wenn sie ein halbes Jahr keinen Lohn bekämen. Aber unter der Leitung der `Föderation´ entschied diese Gewerkschaft, nicht zu streiken, sondern nur fünfminütige Mahnwachen durchzuführen. Das ist einfach elend, absolut lächerlich. Das war die größte Aktion des letzten halben Jahres! Die radikalsten Aktionen gab es von neuen Gewerkschaften, die von einzelnen Arbeitern durchgeführt wurden. Kürzlich erfuhren wir von einer Schweinefabrik in Rjasan, die von einer westlichen Organisation gekauft werden sollte. Weil die Arbeiter fürchteten, dass man sie rauswerfen würden, waren sie dagegen, dass der Eigentümer des Betriebes wechsele. So besetzten sie den Betrieb und ließen die neuen Eigentümer einfach nicht rein.
…nowi sobstwenika.“

Erzähler:
Die „Agentur für Arbeit und Soziales“ unterscheidet verschiedene Arten von Konflikten:

O-Ton 13: Gwoisdek, Forts.        1,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wosnawnom…
„Im Großen und Ganzen, man kann sagen 90% der Konflikte drehen sich um die Zurückhaltung von Löhnen und um ihre Höhe. Auch heute noch. Das ist der populärste Konflikt der letzten fünf Jahre, denn an einigen Orten hat sich die Verzögerung in der Auszahlung erneut bis auf  sieben oder acht Monate erhöht. Hin und wieder gibt es auch politische Forderungen. Die letzten gab es zu Zeiten Jelzins, dessen Rücktritt gefordert wurde. Jetzt gibt es praktisch keine. Weitere Forderungen sind branchenspezifisch, bessere Arbeitsbedingungen etwa, also Standardforderungen. Im letzten Jahr gibt es eine neue Tendenz: Konflikte um die Verteilung des Eigentums. Die Situation ist ziemlich einfach: Entweder die Arbeiter fürchten, dass man sie rauswirft, oder der alte Eigentümer versucht sie gegen den neuen aufzuhetzen, um auf diese Weise etwas zu ändern. Das heißt, die Arbeiter werden einfach nur Figuren im Spiel um das Eigentum.“
…sobwenosta.“

Erzähler:
Keineswegs nur im Fall des Zellulosekomibats in Wyborg, fährt Frau Gwoisdek fort, habe sich der Zusammenstoß zwischen den Arbeitern und dem neuem Eigentümer zum bewaffneten Konflikt ausgeweitet. Ähnliche Vorfälle gebe es auch in anderen Regionen Russlands. Eine allgemeine Zunahme der Bereitschaft, Probleme mit der Faust zu lösen, will die junge Direktorin darin aber nicht sehen:

O-Ton 14: Gwoisdek, Forts.        1,04
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Smotrja kakoi…
„Es kommt darauf an, welche Periode man betrachtet. Nimmt man die letzten fünf Jahre, dann wächst meiner Einschätzung nach die soziale Spannung in Russland nicht. Man kann natürlich noch nach einzelnen Regionen unterscheiden, dann ist es hier ein bisschen besser, dort ein bisschen schlechter, aber im Durchschnitt ist die Lage einigermaßen stabil, wenn man denn von Stabilität reden will – ich würde es einfach Apathie nennen. Auch gibt es verschiede  Arten der Faust: Wenn wir von organisiertem Protest sprechen, dann gibt es da nichts; die etablierte Gewerkschaft ergreift einfach keinerlei entsprechende Maßnahmen und für einfache spontane Aufstände ist die Situation nicht schlecht genug, jedenfalls nicht für russische Arbeiter, die einiges gewohnt sind.“
…priwigli.“

Erzähler:
Das klingt wie die Prognose einer dauerhaften sozialen Stagnation. Bei der Frage nach der Zukunft, die sich aus der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung Putins ergeben könnte, kommt jedoch auch die so sehr auf Objektivität bedachte junge Direktorin in Unruhe:

O-Ton 15: Gwoisdek, Forts.        1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzen:
„Wy snaetje a tom…
„Kennen sie den Konflikt um die Schaffung der Sozialsteuern? An ihm können Sie am besten erkennen, was der Staat will und was die Gewerkschaften wollen: Der Staat entschied, die soziale Unterstützung zu optimieren. Sie wissen ja, dass jeder Bürger Russlands Kindergarten, medizinische Versorgung, Reisen, alles das praktisch umsonst bekommt. Der Gewerkschaften verwalten dieses System. Putin entschied dieses System umzubauen. Seine Hauptbegründung ist, dass die Gewerkschaft nicht von Mitgliedsbeiträgen, sondern von den Geldern der Sozialversicherungen lebt. Deswegen entschied er Druck auf die „Föderation der freien Gewerkschaften“ auszuüben und ihnen diese Einnahmequelle zu entziehen.“
…dachodow.“

Erzähler:
Eine paradoxe Situation sei entstanden, findet die junge Frau: Putin gehe es im Grunde darum, die soziale Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, was auch im Interesse der Gewerkschaften liegen müsse; ausgerechnet die aber träten nun entschieden gegen die neue Regelung auf. Und in der Tat: Die Gewerkschaften entfalten eine Kampagne gegen das neue Gesetz. Ihre Begründung ist der Putins naturgemäß entgegengesetzt. Oleg Neterebski, Vizepräsident des Moskauer Verbandes der „Föderation“ erklärt die Haltung seines Verbandes so:

O-Ton 16: Oleg Neterebski,         0,34
Vizepräsident der Moskauer Sektion der „Föderation freier Gewerkschaften Russlands“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Byl danno obeschannije…
“Die Regierung hat versprochen, dass das Gesetz zu keiner Einschränkungen der sozialen Programme führen werde. Tatsächlich wurde schon jetzt die Finanzierung von Kindersportschulen liquidiert;  liquidiert wird die Ausgabe von Mitteln für die Erholung von Arbeitern und anderes mehr. Sie sagen das eine und tun das andere.“
…drogoje.“

Erzähler:
Und etwas müsse man klarstellen, was dem Ausländer nicht ohne weiteres verständlich sein könne: In der Sowjetunion sei nur ein kleiner Teil der Arbeit in Geld entlohnt worden, andere, weitaus größere Teile der Arbeit wurden in Form der sozialen Fonds vergütet, aus denen die Menschen medizinische Versorgung für sich und die Familie, Urlaub, Kindergärten, Jugendlager usw. bis hin zum kostenfreien Begräbnis beziehen konnten – scheinbar kostenlos,  aber eben nur scheinbar, denn diese Sozialfonds wurden ja vom Ertrag ihrer Arbeit aus dem Betriebsvermögen getragen. So ein System hatten wir früher, so Oleg Neterebski, jetzt fällt das alles auseinder:

O-Ton 17: Neterebski. Forts.    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas faktitschiski…
„Nach der sowjetischen Zeit sind die Einkommen rasant gefallen, aber es blieben die sozialen Fonds, die der Mensch, wie arm auch immer, noch nutzen konnte. Durch die jetzige Entscheidung werden diese Fonds praktisch beseitigt, aber das Einkommen bleibt so niedrig wie zuvor. Wenn das wenige Geld, das auf Grund geringer Lohneinkommen in die staatlichen Fonds kommt, auch noch für andere Dinge ausgegeben wird wie zum Beispiel für die Bewältigung solcher Katastrophen wie des Unterganges der Kursk, des Brandes  im Moskauer Fernsehturm „Ostankino“ – und so etwas haben wir mit dem Pensionsfond leider bereits erlebt – dann bedeutet das, das diejenigen, die das Geld erarbeitet haben, es praktisch nicht mehr nutzen können. Das ist alles.“
…eta swjo.“

Erzähler:
Mit diesen Begründungen konfrontiert, kommt die Chefin der „Agentur für Arbeit und Soziales“ zu einer Aussage, mit der sie nahezu ihr gesamtes Gewerbe in Frage stellt, die aber typisch ist für die heutige russische Situation:

O-Ton 18: Jefgenia Gwoisdek, Forts.        0,37
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, wtoij situatije…
„Nun, die Lage, in der sich der russische Mensch des statistischen Durschnitts heute befindet, ist derart schlecht, dass er kaum eine reales Gefühl dafür hat, ob sie durch das, was die Regierung tut ein bisschen schlechter oder ein bisschen besser wird; die allgemeine Krise ist derart stark, dass Aktivitäten der Regierung im Prinzip nichts daran ändern können. Deshalb nehmen die Arbeiter real überhaupt nichts wahr. Und da sie nun einmal nichts wahrnehmen, können wir auch nicht sagen, ob es gut oder schlecht ist, was die Regierung tut.“
…prawitelstwo.“

Erzähler:
Das neue Arbeitsgesetz veranlasst die junge Direktorin zu der sarkastischen Aussage:

O-Ton 19: Jefgenia Gwoisdek, Forts.        0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Jesli smotritj…
„Wenn man es vom Sandpunkt der Menschenrechte aus betrachtet, dann wird es tatsächlich schlecht, denn die Arbeiter werden noch schlechter leben, und die Situation als ganze verschlechtert sich. Ich sage: Im Prinzip wäre dieser Kodex nicht schlecht für einen Hitler in Deutschland oder Russland unter Stalin, wenn alle zur Fabrik gehen, weil man muss, weil es keinen Ausweg gibt. Aber jetzt haben wir eine andere Situation. Unter diesen Bedingungen ist der Kodex deshalb einfach unannehmbar, denn er bedeutet letztlich einfach, dass die Gewerkschaften als Struktur liquidiert werden, überhaupt.
…strukturu. wabsche.“

Erzähler:
Gewerkschaftliche Interessen und Interessen der Regierung, so Jefgenia Gwoisdek, stehen im aktuellen Russland unversöhnlich gegeneinander:

O-Ton 20: Gwoisdek, Forts.        0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Profsojusni Kodex…
„Die volle Erfüllung des gewerkschaflichen Kodex wäre der Bankrott des Staates, alle Unternehmen müssten schließen, denn es ist nicht möglich, den Arbeitern die geforderte Lebensqualität zu gewähren. Bei voller Umsetzung des Regierungsentwurfes würden die Arbeiter in absolut unmenschliche Bedingungen gezwungen. Deshalb kann man weder den einen noch den anderen akzeptieren.“
…prinimat nelsja.“

Erzähler:
Deutlicher lässt sich das Patt kaum noch benennen, in dem sich die Regierung Wladimir Putins und die arbeitende Bevölkerung Russlands heute gegenüberstehen. Nur die offiziellen Meinungsforscher vom „Allrussischen Zentrum für die Untersuchung der öffentlichen Meinung“, kurz ZIOM genannt, die schon Gorbatschows Auf- und Niedergang mit statistischen Werten versorgten, können es noch deutlicher sagen: Nach ihren Daten steht Wladimir Putins Rating, also seine Sympathikurve – zwischen sechzig und fünfundsechzig Prozent schwankend – nach wie vor unverändert hoch. Alternativen zu Putin,  meint Juri Lewada, Direktor des Instituts, würden nicht formuliert:

O-Ton 21: Juri Lewada, Direktor         0,44
des „Allrussischen Zentrums für die Untersuchung der öffentlichen Meinung“, ZIOM
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ne kakich aktiwnich…
„Es sind keinerlei aktive soziale Bewegungen zur Zeit erkennbar. Wir warten üblicherweise ja sehr auf neue Streiks usw. Zur Zeit gibt es dafür geringe Chancen, weil im Ganzen die Situation mit dem Lohn besser ist als früher. Es gibt Zahlungsrückstände, aber weniger als früher. Das hängt damit zusammen, dass die Regierung Öl-Dollars hat; mit diesen Dollars und mit Hilfe der Überweisung einiger Rubel kann sie einige Löcher stopfen. Das ist nicht besonders hoffnungsvoll nicht sehr seriös, aber es macht sonst niemand etwas anderes.“
…ne sdjelajut.“

Erzähler:
Mit den Aktivitäten der neuen Gewerkschaft „Saschita“, mit der allgemeinen gewerkschaftlichen Opposition gegen die Sozialsteuer und gegen den neuen Arbeitskodex konfrontiert und auf die in gewerkschaftlichen Kreisen formulierte Erfahrung hingewiesen, dass gerade wirtschaftliche Entspannung die Arbeiter zu neuen Kämpfen aktiviere, weil es endlich etwas zu verteilen gebe, antwortet er:

O-Ton 22: Lewada, Forts.        1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„We prinzipje…
„Im Prinzip ist das richtig – wenn man von seriösen Bewegungen mit seriösen Zielen spricht, mit Forderungen nach der Veränderung der Situation im Lande usw. Da war es in der Weltgeschichte in der Tat immer so und alle Umwälzungen sind dann entstanden. Aber bei uns ist es nicht so, nicht eine Spur davon ist zu sehen, keine seriösen Bewegungen und auch niemand, der sie organisieren könnte. Ich denke, das ist die nächste Phase, wenn sich in den nächsten Monaten die Beziehung der Menschen zur Regierung und zum Präsidenten verändert hat, wenn nämlich die Ressourcen, die er zu Anfang erhalten hat, verbraucht sind, aber die Möglichkeiten, irgendwelche geräuschvollen Abenteuer und politischen Effekte aufzubauen, nicht mehr gegeben sind. Einen neuen Krieg anzufangen – dafür ist niemand da; den jetzigen Krieg fortzusetzen – dafür reichen die Kräfte nicht und es gibt keine Ergebnisse. Welche Auswege  gefunden werden können, ist nicht klar und auch nicht klar, wer sie finden könnte.“
…moschet sdjelatj.“

Erzähler:
Änderungen der Situation erwartet Juri Lewada nur von oben, direkt aus den herrschenden Kreisen. In der Bevölkerung, so Russlands etabliertester Meinungsforscher, fehle jede Tradition und jede dazu fähige Organisation. Was gegenwärtig von kommunistischen Splittergruppen an „Mitings“ durchgeführt werde, sei weit von irgendeinem Einfluss auf die wirklichen Ereignisse im Lande entfernt.

O-Ton 23: “Miting”, Megaphon        1,37
Regie: O-Ton unter dem Erzähler langsam kommen lassen (bis 0,40)

Erzähler:
Megaphon…
Das ist auch die Meinung von Oleg Babitsch, gesamtrussischer Koordinator der Gewerkschaft „Saschita“, der als Beobachter an dem „Miting“ teilnimmt. Solche abstrakten Aktionen  müsse man sich sparen, findet er. In den Betrieben selbst müsse man arbeiten, dafür jedenfalls mache „Saschita“ sich stark. Zum Beispiel die letzte Aktion bei GASPROM in Astrachan, wo es um Lohn, Arbeitsschutz und die Einführung ökologische Schutzmaßnahmen ging:

Regie: bei 0,40 (Lachen) vorübergehend ( 2 sec.) hochziehen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
„Es war ein voller Erfolg. Alle unsere Forderungen wurden erfüllt. Eine wichtige Rolle spielten dabei übrigens ungefähr zweihundert Telegramme, die unsere Leute erhielten, darunter viele aus dem Westen. Das hat ihnen sehr geholfen, weil sie auch alle an die Regierung gingen. Diese Solidarität hilft; die Leute fühlen sich geschützt, sie sind nicht allein. Sie befinden sich in der tiefen Provinz, aber sie wissen, die Welt weiß von uns. Das ist toll.“
Megaphon

Regie: vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, gegen Ende des Erzählers allmählich hochziehen.

Erzähler:
Russlands Zeichen stehen auf soziale Umverteilung. Welche der gewerkschaftlichen Linien sich dabei durchsetzt, die neue Radikalität von Organisationen wie „Saschita“ oder die sozialpartnerschaftliche Linie der „Föderation der freien Gewerkschaften Russlands“, hängt davon ab, welchen Kurs die Wladimir Putin einschlägt, noch mehr allerdings davon, ob Russland auch in Zukunft in den Genuß teurer Öl-Dollars kommt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Warum Russland nicht verhungert – Russlands andere, extrapolare Ökonomie.

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Zitatorin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Die englischen Texte sind durchweg identisch mit dem darunterliegenden Ton, so dass – bei evtl. Längen – innerhalb der Töne beliebig zwischendurch aufgeblendet werden kann.

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Warum Russland nicht verhungert –
Russlands andere, extrapolare Ökonomie

Seit über einem Jahrzehnt wird in Russland privatisiert. Es entwickelt sich aber nicht, was sich nach dem Willen der westlich orientierten Reformer entwickeln sollte. Zwar gibt es inzwischen Privateigentum, aber die kollektiven Strukturen leben weiter; zwar gibt es einen Markt, er funktioniert aber nicht nach den bekannten Gesetzen des westlichen Kapitalismus. Kritiker sprechen von „Kapitalismus im Übergang“, von Chaos und Mafia. Eine Dauerkrise hat das Land erfasst. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet und ächzt – der immer wieder vorhergesagte endgültige Zusammenbruch aber ist bisher trotz all dem ausgeblieben. Neuerdings sind russische Ökonomen zu hören, die diesen Zustand Russlands nicht als Schwäche, sondern als Spezifikum ihres Landes zu beschreiben versuchen. Wortführer dieser Richtung ist Teodor Schanin, Professor der Ökonomie. Als Rektor einer „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau und zugleich langjähriger Professor für Ökonomie an der Universität von Manchester in England ist er der Kopf eines wissenschaftlichen „joint venture“, das russische Realität und westliche Methodik in einem neuen Forschungsansatz zu verbinden versucht.
Teodor Schanin hat soeben einen umfangreichen Band mit Forschungen zum Stichwort einer „Informellen Ökonomie“ in Russland  herausgegeben. Auf die Frage, wie er dazu gekommen sei, antwortet er:

O-Ton 1: Teodor Schanin                2,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„One has to begin…
„Man muss mit einem Paradoxon beginnen: Das Paradox besteht in der sozialen und wirtschaftlichen Existenz der Mehrheit der Menschen Russlands. Nach den meisten offiziellen Statistiken ist die Produktion innerhalb von zehn Jahren auf mehr als die Hälfte gesunken. In der Landwirtschaft ist es sogar noch schlimmer. Aufs Ganze gesehen, ging die Wirtschaft um die Hälfte zurück. Der Niedergang ging einher mit einer Polarisierung: Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Unter solchen Bedingungen müsste theoretisch gesehen die Hälfte der Russen hungern, die Versorgung in den meisten russischen Provinzen müsste zerstört sein, die Kinder müssten barfuss und ohne Schulunterricht herumlaufen etc. Wenn Sie aber hinkommen – nicht nach Moskau, das ist sowieso eine Insel – sondern in die Provinzen, dann funktioniert das gesamte soziale System, die Schulen arbeiten, mit unterbezahlten oder ganz unbezahlten Lehrern, aber sie arbeiten, die Polizei operiert, sie operiert nicht gut und sie ist korrupt, aber sie operiert, alle Dienste funktionieren und es gibt keine Anzeichen von Hunger – und Hunger ist nun einmal eins der wenigen Dinge, die extrem schwierig zu verstecken sind. Es ist klar, dass man in jeder Gesellschaft einen gewissen Prozentsatz von marginalisierten Menschen findet, die Paupers sind, aber die findet man auch in New York. Diese Armen, diese Obdachlosen usw. sind ein Problem, sie sind aber nicht das spezielle Problem unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass diese russische Gesellschaft in einem viel schlechteren sozial-wirtschaftlichen Zustand sein müsste, als sie es nach dem, was wir von staatlichen und nicht-staatlichen Statistiken wissen, tatsächlich ist. Der einzige Weg zu erklären, was da geschieht, ist anzunehmen, das es da eine Komponente gibt, die in unserer Analyse fehlt. Ich denke, diese Komponente die entdeckt wurde, lange bevor die Russen darauf  kamen, ist das, was als informelle Wirtschaft definiert wurde.“
…informal economy.“

Erzähler:
Er selber, fügt er hinzu, spreche lieber von extrapolar. Entdeckt, wie der Professor es nennt, wurde die Komponente der informellen Wirtschaft in Ländern der sog. Dritten Welt, in Afrika, in Südamerika, in Indien und Asien. Aber auch im Westen, etwa in Italien wurden Elemente dieser Wirtschaftsweise aufgedeckt. Im Wesen geht es, so Prof. Schanin, um sozialwirtschaftliche Strukturen von Bauernwirtschaften, die sich in industriellen Gesellschaften oder in Sektoren von ihnen wiederfinden. Das gilt natürlich besonders für ein Land wie Russland, das zu Zeiten der Revolution von 1917 noch zu 80% landwirtschaftlich strukturiert war, das noch jetzt zu über 50% dörflich, ja teilweise sogar nomadisch lebt, wobei von den 50% städtischer Bevölkerung über dies hinaus noch gut die Hälfte von direkten Beziehungen zum Dorfe oder zum Kleingartenbesitz auf dem Lande lebt.
Gefragt, was man sich unter einer „informellen“ Wirtschaft vorzustellen habe, antwortet Professor Schanin:

O-Ton 2: Prof. Schanin, Forts.                    1,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It is an economy…
“Das ist eine Wirtschaft, die nach anderen Prinzipien arbeitet als die kapitalistische, aber auch als die Staatswirtschaft: Eine Wirtschaft, bei der das Ziel eher im Überleben besteht als in der Akkumulation von Kapital; entsprechend geht es oft eher um eine Maximierung des Nutzens der Arbeit, als um eine Maximierung von Profit. Es ist ein System, in dem der formelle Aspekt des Systems, die legale Struktur, eine weitaus geringere Rolle spielt als Verwandtschaft oder ethnische Beziehungen, wo die Durchsetzung von Verträgen, die in normalen kapitalistischen Ländern durch Gesetz, Gerichte und Polizei vollzogen wird, in einer sehr anderen Art vor sich geht. Die Durchsetzung erfolgt zum Beispiel durch Loyalitäten innerhalb der Familie, über Gefühle der Verantwortung gegenüber der ethnischen Gemeinschaft: „Ein Asari benimmt sich nicht so!“ oder so ähnlich. Die ganze Logik des Funktionierens ist eine andere. Dieses System verbirgt sich bis zum Punkt des Verschwindens, es ist teilweise schwarze Wirtschaft, es ist eine Wirtschaft, die sich den Steuern entzieht oder auch graue Wirtschaft, von der man nicht recht weiß, ob sie steuerlich erfasst werden sollte oder nicht. Noch wichtiger aber ist: Es ist verborgen, weil nicht die richtigen Fragen gestellt werden. Der beste Weg, Dinge nicht zu erkennen ist nun einmal, nicht nach ihnen zu sehen, analytisch verstanden.“
…not to look for them, analyticly.“

Erzähler:
Was Prof. Schanin jetzt theoretisch zu erfassen sucht, ist für russische Praktiker, also Manager, Geschäftsleute, Wirtschaftsbürokraten schon lange Realität. Sie unterscheiden zwischen westlichem Modell der Reform und „realer Wirtschaft“. Jussef Diskin etwa, Assistent des Direktors am „Institut für sozial-ökonomische Probleme des Bevölkerung“, welches regelmäßige Untersuchungen für die russische Zentralbank durchführt, zugleich auch Manager bei „Sib-Neft“, einer der großen Ölkonzerne des Landes, erklärt schon vor dem großen Bankenkrach im April 1997 im Ton größter Selbstverständlichkeit:

O-Ton 3: Jussef Diskin        1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
”Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: dass es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt“
…rossiski ekonomiki.“

Erzähler:
Feudale Überbleibsel – damit ist gemeint: Keine vollkommene Geldwirtschaft, kein funktionierender Lohn-Ware-Kreislauf, kein offener Markt, auf dem sich Individuen als Käufer und Verkäufer begegnen, stattdessen Regelung des Lebens – Arbeit, Versorgung, Kultur – in den eng gezogenen Grenzen patriarchaler sozialer oder ethnischer Beziehungen. Einen tiefen Einblick in diese Struktur liefert der Wirtschaftsriese  „Gasprom“, auf deutsch: der Gas-Gewinnungs-Komplex. Ausgerechnet in den Strukturen dieses international organisierten russischen Multi, der 35% des Weltgasaufkommens kontrolliert und verschiedene Niederlassungen in  westlichen Ländern hat, treten heute die Elemente der von Diskin beschriebenen Verhältnisse besonders deutlich zutage. Sergei Sergejewitsch, ein leitender Mitarbeiter des Konzernes, skizziert das Finanzgebaren des Multis, stellvertretend für die russische Wirklichkeit, mit den Worten:

O-Ton 4: Sergej Sergejewitsch, „Gasprom“                          0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Idjot wechselej..
„Verrechnungen laufen über Wechsel, über gegenseitige Verschuldung, über einfachen Warenaustausch oder auch über primitivsten Austausch von Privilegien, also etwa: `Wir veranlassen den Leiter dieser oder jener Branche loyal gegenüber der Administration zu sein und sie berechnet uns weniger Steuern.´ So treten alle auf. Gasprom ist keine Ausnahme.“
…nje isklutschennije.“

Erzähler:
„Gasprom“ gilt im Lande geradezu als Synonym für informelle Strukturen: Er ist die undefinierbare Mischung zwischen privaten und öffentlichen Interessen. In ihm wird informelle Wirtschaftsweise exemplarisch erkennbar. Zu seiner Beschreibung greift Sergej Sergejewitsch sogar zu Begriffen Teodor Schanins:

O-Ton 5: Sergejewitsch, Forts.                             0,35
Regie: O-Ton von kürzer stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Prinzipje wy prawi…
„Im Prinzip haben Sie recht, obwohl in Gasprom auch andere Gesetze wirken. In den unteren Schichten der Bevölkerung überlebt man ja vielfach auf Grund dessen, was der englisch-russische Ökonom Teodor Schanin, glaube ich, trans- oder extrapolare Ökonomie genannt hat, also eine Wirtschaft, die außerhalb der klassischen Schemata liegt.“
…schema

Erzähler:
Viele kleine Gruppen, fährt Sergej fort, auf dem Dorf, in der Familie, ganze Zusammenhänge von Familien, Clanverwandte usw. könnten nur durch gegenseitige Hilfe überleben. Menschen in der Provinz, die Kinder in Moskau haben, überlebten nicht mit Geld, sondern mit den Produkten, welche die Kinder ihnen brächten. Umgekehrt unterhalte eine Gruppe Verwandter Garten, Kühe, Schweine, arbeite rund um die Uhr, nur damit ihre Kinder in Moskau eine Ausbildung erhalten könnten. Dies alles funktioniere großenteils ohne Geld. „Gasprom“, obwohl ein internationaler Konzern, sei wohl Teil dieser Struktur:

O-Ton 6: Sergejewitsch, Forts.                             0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Schto kassajetsja…
„Was die transnationalen Aktivitäten betrifft, so handelt Gasprom wie eine normale, europäische, westliche Korporation. Was Gasproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nur indirekt Teil der `extrapolaren Wirtschaft´, aber über diese Beteiligung ist Gasprom doch gezwungen, sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“
…rossiskuju spezifiku.“

Erzähler:
Mächtigen theoretischen Beistand erfährt die Moskauer Schule Teodor Schanins durch Tatjana Saslawskaja, Stichwortgeberin der neuen nachsowjetischen russischen Soziologie. Aus der von ihr begründeten Nowosibirsker Schule war bereits Anfang der 70er Jahre des eben zuende gegangenen Jahrhunderts zu hören, die Wirtschaft Russlands werde sich irgendwie zwischen Kapitalismus und Sozialismus in neuen, nicht gekannten Formen entwickeln. In einem ihrer ersten Bücher,  unter dem deutschen Titel „Die Gorbatschow-Strategie“, schrieb sie 1988:

Zitatorin:
„Das beschriebene System stellt eine Art Hybridprodukt aus dem zentralisierten planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen System dar, wobei es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird, sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.“

Erzähler:
Allen diesen Positionen, wie ungewöhnlich sie für westliche Ohren, wie provokativ sie für die westlich orientierten russischen Reformer bereits klingen mochten, war jedoch noch eines gemeinsam, die Beurteilung der Situation als Mangel, als vorübergehende Erscheinung, als Zustand, der früher oder später in ein entwickelten Marktsystem übergehen oder sich doch mindestens den westlichen Modellen angleichen müsse. Frau Saslawskaja sprach – nach Abwendung von Michail Gorbatschow und in offener Kritik an Boris Jelzin – Mitte der 90er sogar von einem „Monster“, das einen kriminellen Staat und eine kriminelle Gesellschaft hervorgebracht habe.
Mit Teodor Schanin gehen russische Analytiker nun dazu über – theoretisch – die Unfähigkeit Russlands zur glatten Übernahme westlicher Modelle nicht mehr als nur als Versagen, sondern als einen Schritt zu einer anderen, eigenständigen Entwicklung zu begreifen.
Entsprechend weist Professor Schanin daher inzwischen Fragen danach, wie es zu der „informellen Wirtschaft“ kommen konnte, als ärgerliche und irreführende Dummheit zurück:

O-Ton 7: Prof. Schanin, Forts.          2,08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Well, first I think…
„Nun, zunächst glaube ich, dass die Formulierung „es kam von etwas“ nicht sehr nützlich ist. Die Idee, die hinter dieser Frage steht, ist doch die Vorstellung, dass es eine Krise gegeben hat und dass sich diese Formen als Ergebnis dieser Krise entwickelt haben. Die Frage kommt nach dem Motto: Gib uns einen Tag, an dem diese verdammte Sache anfing! – Und dann war es natürlich, als Gorbatschow anfing dumm zu werden, oder vielleicht nicht Gorbatschow, sondern jemand anders, Jelzin und seine Leute: sie haben eine schreckliche Unordnung hervorgebracht, sodass wir jetzt diese vielen Methoden haben, wie Leute unterwegs sind, merkwürdige Dinge tun, um zu überleben usw.
So ist es aber nicht. Tatsächlich ist es so, dass informelle Wirtschaft schon vorher in der Sowjetunion und davor schon im zaristischen  Russland existierte. Sie hatte unterschiedliche Namen und sie hatte unterschiedliche Formen. Jeder Russe kennt „Blat“, Beziehungen. Zu Sowjetzeiten gab es ein russisches Sprichwort, sehr wichtig: „Blat wische Sownarkoma“; auf deutsch, Beziehungen stehen über dem „Obersten Rat der Volkskommissare“. Die Alltagsmacht auf dem Land, heißt das, war „Blat“, nicht die Partei. „Blat“ ist der informelle Weg, wirtschaftliche Probleme außerhalb der offiziellen Wege zu lösen. Ohne „Blat“ wäre die sowjetische Regierung kollabiert, denn „Blat“ hat sehr viele Probleme gelöst, so wie die informelle Wirtschaft sehr viele Probleme löst. Es ist wichtig zu begreifen, dass informelle Wirtschaft nicht einfach irgendeine grauenhafte Situation ist, in der die Menschen sich befinden. Es ist eine Methode, eine ganzer Satz, ein ganzes System von Methoden, dringende Probleme zu lösen, um das Leben für Menschen erträglich zu machen, die andernfalls doch verhungern würden.“
…otherwise would starve.“

Erzähler:
Folgerichtig möchte Prof. Schanin Kennzeichnungen wie Schattenwirtschaft, graue Wirtschaft, Mafia, die bisher zur Beschreibung der Wirtschaft Russlands benutzt wurden, selbst die der  „realen“ und der „informellen“ Wirtschaft, obwohl sie ihm selbst immer noch wieder unterlaufen, als unzureichend hinter sich lassen. Sie alle, so Prof. Schanin, wiederholten immer nur die Beschreibung des Mangels. Auch der Begriff des „informellen“ beinhalte letztlich nur die Negation formellen, staatlichen, lasse aber keine eigene Struktur erkennen. Schon im gewählten Begriff, den man wähle, müsse erkennbar werden, dass es bei dem, was sich heute in Russland entwickele, nicht um eine mangelhafte, unentwickelte, demnächst überwundene, sondern um eine andere Wirtschaftsweise gehe:

O-Ton 8: Schanin, Forts.         2,06
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My termin is…
“Mein Begriff ist „expolare Wirtschaft“. Ich habe es so gesagt: Die meisten Wirtschaftsweisen, die wir kennen, basieren auf zwei Modellen; das eine ist das der kapitalistischen Wirtschaft, Markt usw.Wir kennen dieses Modell sehr gut, denn das ist es, was wir an unseren wirtschaftlichen Fakultäten überall auf der Welt unterrichten. Das zweite Modell ist die Staatswirtschaft. Das kennen wir weniger, aber wir kennen es doch immerhin. Die Erfahrung der Sowjetunion hat uns reichlich viel darüber gelehrt. In der ganzen Welt neigt man dazu zu sagen, es ist entweder so oder so oder irgendeine Mischung dazwischen und man kann alle Länder der Welt entlang einer Skala zwischen diesen Extremen auflisten, die klare Modelle sind. Wenn es eine Krise einer mehrheitlich marktorientierten Wirtschaft gibt, dann stützt der Staat, wenn die Staatswirtschaft nicht läuft, dann geht es anders herum. Zur Zeit leben wir in einer Phase, in der die Krise der Staatswirtschaft eine Wirtschaft des freien Marktes fördert, aber in einer ganzen Reihe von Ländern kann man bereits eine Rückbewegung beobachten. So hat man Pole und Pendel als ein Modell! Das sieht alles extrem einfach aus, es ist aber auch alles, was wir in unserem Verständnis von Wirtschaft haben. Mein Punkt ist, dass der größte Teil der realen Wirtschaft von wirklichen Menschen, die ihr Leben in dieser oder jener Weise führen, außerhalb dieser Pole verläuft,  außerhalb dieses Pendel und außerhalb dieser Skalen. Man muss sie nicht irgendwo unterbringen – vielleicht mehr Markt oder vielleicht mehr Staat? Nein, sie ist anders, sie passt nicht in dieses Modell. Und weil sie nicht in dieses Modell passt, sehen die Menschen sie nicht.“
… people don´t see it.“

Erzähler:
Kern der von Prof. Schanin beschriebenen Wirtschaftsweise sind jene russischen Verhältnisse, die Russlandreisende üblicherweise als folkloristische Absonderlichkeit Russlands wahrnehmen: Überbordende Gastfreundschaft, Großzügigkeit bis zur Verschwendungssucht, Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Hinter der folkloristischen Fassade aber wird der Mechanismus deutlich, nach dem die „extrapolare Wirtschaft“ funktioniert:

O-Ton 9: Schanin, Forts.             2,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It´s economy favours…
„Es ist wirtschaftliche Gefälligkeit, man tauscht nicht Waren, was immer eine Art Markt ist, oder Geld, man tauscht Gunst: Ich tue dir einen Gefallen, ich bin Kartenverkäufer im Theater; ich bin Dir gefällig, Karten für das Theater zu bekommen; Du hilfst du mir, meine Tochter in die Universität zu hieven, in die sie gehen möchte. Es ist oft sehr viel komplizierter, es ist natürlich nicht nur gegenseitige Gefälligkeit zwischen zwei Menschen, es ist oft ein System von gegenseitiger Gefälligkeit zwischen Dutzenden von Menschen, von denen jeder irgendetwas an jeden gibt. Es wäre aber auch nicht richtig, dies als Markt der Gefälligkeiten zu bezeichnen, denn Markt ist ein Vorgang, bei dem es ein Äquivalent gibt, über das man Dinge austauscht, nämlich Geld. So ist es nicht. Es ist ein nicht-äquivalenter Austausch, denn Du selbst bestimmst, was äquivalent ist; du selbst sagst: Eine Karte für einen Platz in der Universität. Es gibt keine Gelddefinition davon; du weißt nicht, ob es korrekt ist. Es spielt keine Rolle, ob es gleichwertig im Sinne von Geld ist – man tut dir einen Gefallen, du tust einen Gefallen, du tauscht einen Gefallen; so läuft das. Die ganze Gesellschaft ist so unterwegs. Und wie ich sagte, wie nannten es „Blat“. Es gab sogar einen speziellen Namen „Tolkatsch“, deutsch vielleicht : Schieber, für den Menschen, der „Blat“ benutzte , um die Fabrik zum arbeiten zu bringen.  Heute hat sich ein Großteil des „Blat“ in Geldaustausch verwandelt; an die Stelle von „Blat“ ist Bestechung getreten, also wenn man jemanden illegal Geld gibt. Aber expolare Wirtschaft wurde nicht durch die russische Krise geschaffen und wird nicht verschwinden, wenn sie zuende ist.“
… will stop.“

Erzähler:
Expolare Wirtschaft, so Prof. Schanin ist eine symbiotische Wirtschaft. Sie verbindet Kapitalismus und Sozialismus, Staatswirtschaft und nicht-staatliche Formen der Wirtschaft, Groß-Betriebe und Familienwirtschaft, bäuerliches und industrielles Arbeiten miteinander. Vor allem aber ist sie kein theoretisches Modell, sondern Ausdruck gewachsener Kultur, Geschichte, Mentalität und besonderer Gemeinschaftsstrukturen der Völker und Länder:

O-Ton 10: Schanin, Forts.         1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„It´s a relationship…
„Es ist die Beziehung, die durch Werte definiert ist, durch Konzeptionen von Ästhetik, von Eigentum usw. – was eben Kultur ist. In diesem Sinne wird die Übertragung und die Funktionalisierung dieser Formen durch kulturelle Muster verstärkt. Das ist der Grund, warum verschiedene extrapolare Wirtschaftsweisen verschieden ablaufen. Ich meine, selbst wenn ähnliche Probleme existieren und wenn vergleichbare Anstrengungen unternommen werden, nimmt die expolare Wirtschaftsweise in verschiedenen Ländern verschiedene Form an. In einer Gesellschaft, die streng familistisch ist, in der die Familie also einen extrem hohen Wert besitzt, läuft sie auf die eine Weise, in Gesellschaften die sehr viel individualistischer sind, wird sie anders ablaufen. In Russland gibt es Gruppen, ethnische Gruppen, nicht Russen, die nach familistischen Prinzipien organisiert sind und wenn jemand dazukommt, der nicht da hineinpasst, also kein Verwandter ist, dann wird er zum Verwandten gemacht. Entweder man heiratet ihn oder er wird zum Verwandten definiert: `Er ist wie ein Neffe für mich´, sagen die Leute. `Er ist wie ein Bruder für mich.´ Was tun sie? Sie nehmen ihr kulturelles Modell und packen die Dinge dort hinein. Diese Struktur der Definitionen hilft den Menschen, eine informelle Wirtschaftsweise zu betreiben.
…to do informal economy.“

Erzähler:
Eine allgemeine Renaissance der „Obschtschina“, der traditionellen russischen Dorfgemeinschaft, wie sie von vielen russischen Patrioten erwartet wird, hält Prof. Schanin allerdings für illusorisch. Als Lebenszusammenhang, der staatliche Verwaltungseinheit und dörfliche Hilfsgemeinschaft zugleich war, habe sie die Interessen von oben mit denen von unten zum gegenseitigen Nutzen verbunden. Das sei der Entwicklung extrapolarer Wirtschaftsformen sehr förderlich gewesen. Die Zwangskollektivierung während der Sowjetzeit, neuerdings die Privatisierung habe dieses Gleichgewicht zerstört:

O-Ton 11: Schanin, Forts.             1,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To which extent the peasants…
„In welchem Maße bäuerliche Gemeinden zusammen leben, ist eine offene Frage. Es gibt keinen Zweifel, dass das in einigen Gebieten so ist. Meine eigenen Studien in Kuban, also Süd-Westrussland zeigen, dass die Kommunen in den kosakischen Regionen dort sehr stark sind und starken Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen und sie arbeiten in der Form der lokalen Kolchosen, also kollektiven  Bauernwirtschaften. Es nennt sich nicht Kolchose, es nennt sich ein Aktiengesellschaft-Dorf, das ist die Form, die es gegenwärtig annimmt, aber es ist exakt dasselbe: Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Genossenschaft, das macht keinen Unterschied, es läuft. Das entwickelt sich teils wegen der Krise so, teils wegen der demografischen Situation, dass nur noch alte Leute im Dorf sind. Als Einheit der gegenseitigen Hilfe ist die Obschtschina jedoch gestorben.“
…unites people operating together.“

Erzähler:
Wichtiger für die Herausbildung extrapolarer Wirtschaftsweisen als die traditionellen Gemeinschaftstrukturen ist nach Teodor Schanins Ansicht der Globalisierungsprozess, der heute auch Russland erfasst hat. Er lasse nicht nur in Russland, sondern überall auf der Welt Elemente der extrapolaren Wirtschaft entstehen:

O-Ton 12: Schanin, Forts.                           1,19
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Well, there is no doubt…
„Es gibt keinen Zweifel daran, dass es ein Wachstum globaler Verbindungen gibt. Es gibt auch, aus meiner Sicht, keine Zweifel daran, dass dieser Prozess Nachteile für mehr als die Hälfte der Menschheit bringt. Informelle Wirtschaften sind kein Produkt der Krise, aber die Krise entwickelt sie. Ich glaube, dass Globalisierung und globale Wirtschaft weitere Krisen hervorruft, weil sie Polarisierungen einführen. Die Globalisierung führt dazu, dass es immer mehr Orte, Räume, Lebenszusammenhänge gibt, die ohne Geld auskommen müssen. Es entstehen Inseln der Globalisierung und die Zahl dieser Inseln nimmt zu und wird weiter zunehmen. Der einzige Weg, um das Anwachsen dieser Inseln zu verringern, die ausgeschlossen sind vom allgemeinen Wohlstand,  besteht darin, die Globalisierung zu stoppen.“
…stop globalisation.“

Erzähler:
Dies sei möglich, setzt er hinzu, weil die Globalisierung an ihren eigenen inneren Widersprüchen in die Krise komme.
Untermauerung seiner Ansichten wachsen dem Professor aus der von ihm geleiteten „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ zu. Sie schickt ihre Absolventen zu  Feldforschungen für längere Zeit direkt in die Untersuchungsgebiete, Sowchosen, Kolchosen – kollektiven Landwirtschaftsbetrieben – Fabriken, Städten, Regionen.
Da ist zum Beispiel der junge Alexander Nikulin, der soeben von halbjährigen Studien aus dem Süden Russlands zurückkehrt. Er berichtet über Experimente im Gouvernement Saratow, wo die Administration versucht hat, die Privatisierung im Agrarbereich durch große Auktionen voranzutreiben, in denen der Bevölkerung Land zum Kauf angeboten wurde – es kaufte niemand. Der Masse der Landbevölkerung fehlt sowohl das nötige Geld als auch die Motivation. Private Bauern sind unter den heutigen Bedingungen Russlands nur in Ausnahmen existenzfähig. Was dagegen um sich greift, sind Formen der Integration von Familien- und Großwirtschaft. Anders als sein abgeklärter Lehrer, der sich mit Prognosen zurückhält, wagt der junge Nikulin daher eine Perspektive zu formulieren:

O-Ton 13: Alexander Nikulin                                    1,26
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mnje predstawlajetsja…
„Ich stelle mir vor, dass für Russland heute das Modell Tschejanows aktuell ist. Tschejanow ist der große Agrarsoziologe des zwanzigsten Jahrhunderts, der eine Theorie der wirtschaftlichen Kooperativen ausgearbeitet hat. Das ist die Theorie der Kombination des, sagen wir, Individuellen mit dem Kollektiven, wenn einzelne Persönlichkeiten in bestimmte kollektive Prozesse eingebunden sind. Das ist nicht einfach die wundersame Obschtschina. Der Idee der Obschtschina, wie sie von vielen russischen Nationalisten ausgemalt wird, stehe ich skeptisch gegenüber. Aber was ich doch in der Wirklichkeit sehe, ist eine äußerst effektive und äußerst produktive Kombination zwischen Persönlich
-Familärem und Großbetrieblich-Kollektivem. Das ist tatsächlich so. Und entsprechend den geografischen oder ökomischen Entwicklungsbedingungen kann es sehr viele solche Kombinationen geben. Die entstehen gegenwärtig spontan in Russland und sie arbeiten. Die Aufgabe der Wissenschaftler, die Aufgabe der Politiker besteht darin, sie zu studieren, über sie nachzudenken und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich wirklich vernünftig zu entwickeln. Das

erscheint mir als ein sehr perspektivreicher Weg.“
..otschen perspektivno putj.“

Erzähler:
Wohin sich das Blatt tatsächlich wendet, ist offen. Regierung und Internationaler Währungsfond, an dem auch unter Wladimir Putins Führung die russische Politik ausgerichtet wird, sind an den Erkenntnissen über den expolaren Charakter der russischen Wirtschaft, so Teodor Schanin, nicht interessiert; sie orientieren auf kurzfristige Gewinne. Was die Menschen betrifft, die tatsächlich unter der Krise leiden, so sind sie damit beschäftigt, ihr Überleben zu organisieren. Die Wirklichkeit, scheint es, muss ihre eigene Überzeugungskraft entfalten. Da bleibt nur die Hoffnung, dass die Wirklichkeit letztlich stärker ist als alle Modelle.

Altai – Wiege der Völker und letzte Zuflucht?

Besetzung:
Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin, Zitator
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.
Gesamtlänge der O-Töne: 21,29

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Achtung: zwei Bobbies
Auf Bobby eins befinden sich die vier Takes (1 – 4) für die Musik, die eingespielt werden soll.
Auf Bobby zwei befinden sich alle Sprachtöne
O-Ton 3 muss durch die angehängte „O-Ton 3 Korrektur“ ersetzt werden

Vorschlag für evtl. notwendige Kürzungen:
O-Ton  11

Freundliche Grüße
Kai Ehlers
WWW.kai-ehlers.de

Altai – Wiege der Menschheit und letzte Zuflucht?

Musik 1:        2,27
Regie: O-Ton kommen lassen, ausreichend lange stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Altai – fremde Töne, Land der Sehnsucht. Ein Bergland von den Ausmaßen Mitteleuropas, eine  Nische zwischen den Welten. Der mächtigste Gipfel des Altai, Ak-Sümer, russisch Belucha im Hoch-Altai, markiert mit seinen 4505 Metern Höhe den Kreuzpunkt der Grenzen von vier Ländern aus vier Himmelsrichtungen: Im Osten die mongolische Hochebene bis zur Wüste Gobi, im Süden China und Tibet, im Westen die Steppen Kasachstans. Der nördliche Altai gehört zum heutigen Russland, durch dessen sibirische Tiefebene sich die gewaltigen Flüsse Irtysch, Ob und Jennessej ihre langen Wege zum nördliche Eismeer suchen. Seit 1991, dem Datum der Auflösung der Sowjetunion, wird auch dieses lange verschlossene Stück Erde wieder zugänglich. Die Republik Altai, geteilt in den industrialisierten Vor-Altai mit der Hauptstadt Barnaul und den Hoch-Altai mit der Bezirksstadt Gorno-Altaisk, Berg-Altai, gehört heute zur russischen Föderation. Die Republik verwaltet sich aber autonom und man besinnt sich wieder der eigenen Geschichte und der alten Traditionen des nomadischen Lebens, des Obertongesangs und des Schamanismus. Verehrer des Landes sprechen von der Schweiz Russlands. Gemeint ist damit vor allem Gorno-Altaisk, das bergige Hochland.

Regie: O-Ton hochziehen, abblenden

Erzähler:
Zuerst kamen jedoch die Reformer, wie überall im ehemaligen sowjetischen Einflussbereich. Sie brachten offene Grenzen, vor allem aber brachten sie den Impuls der Privatisierung. Er fand offene Ohren bei der mittleren Bürokratie, die sich Unabhängigkeit von Moskau, die selbstständige Nutzung ihrer reichen Erzvorkommen, Kohle und anderer Naturschätze und die Anbindung an westliches Lebensniveau erhoffte. Selbst im hohen Altai ist man reformwillig. Stolz führt Vincenti Tengerekow, leitender Mitarbeiter des Agrokombinats von Gorno-Altaisk, der örtlichen Agrarverwaltung sowjetischen Typs, westliche Gäste durch die Dörfer, um ihnen den Fortgang der Reform zu zeigen. Hin- und her geschüttelt auf unwegsamem Gelände erläutert er unterwegs im Jeep deren Ziele:

O-Ton 1: Vincenti Tengerekow,             0,59
Agrarkomninat in Gorno-Altaisk
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Übersetzer:
Jeep, „Predprejatii…
„Die Unternehmen sollen jetzt die Privatisierung durchführen, sich in Aktiengesellschaften umwandeln. Das betrifft Unternehmen der Weiterverarbeitung, Dienstleistungs-, Verkehrs und Versorgungsunternehmen. Die müssen dann entscheiden, ob sie im Kombinat bleiben wollen oder sich selbst organisieren. Auch Kolchosen und Sowchosen, also die Kollektivbetriebe, sollen sich umwandeln. Es wird kleine private Höfe geben. Auch die werden entscheiden müssen, ob sie rausgehen.“

Erzähler:
Dann werde es kein Kombinat mehr geben, setzt er fort, nur einzelne Assoziationen, Betriebe und Höfe. Das Kombinat werde sich in Ministerium für Landwirtschaft verwandeln.                            …kombinata njet.“

Erzähler:
Aber Vincent Tengerekow, obwohl von der allgemeinen Notwendigkeit der Reformen überzeugt, fürchtet doch, dass die Privatisierung für den Altai vielleicht nicht der richtige Weg sein könnte: Für seine eigene Zukunft ist ihm nicht bang, die werde sich im Rahmen des neuen Ministeriums vollziehen, meint er. Für die Bauern aber fürchtet er schlimme Folgen:

O-Ton 2: Tengerekow, Forts.        1,01
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, allmählich ausblenden

Übersetzer:
Jeep „Mi pereschili otschen mnoga…
„Wir haben schon sehr viele Reformen erlebt und alle wurden immer auf den Schultern der Bauern ausgetragen. Auch die neue Reform liegt wieder auf ihnen. Warum? Weil die Bauern nicht geschützt sind.  Wenn die Grubenarbeiter streiken, dann geht es um mehr Lohn. Wofür soll der Bauer streiken? Da gibt es nichts. Das ist seine spezifische Art der Arbeit. Die Kolchosen waren ein Schutz, da konnte man in einer Front auftreten. Aber jetzt, als Verkäufer von Waren, kennt man einander nicht. Man kann nicht gemeinsam auftreten. Einzeln ist man wehrlos. Das ist das Problem.“
…wot tschom problem wsja.“
Erzähler:
Deutlicher wird Edmund Voll, einer der vielen Russlanddeutschen des Altai, die Stalins Deportation hierhin verschlagen hat. Er ist Chef des Butter-Käse-Kombinats. Das Kombinat ist einer der größten Betriebe in Gorno-Altaisk, der mit seinen Produkten nicht nur Sibirien, sondern auch Zentralrussland beliefert. Kombinatschef Voll, der unmäßigen Hitze wegen hemdsärmelig unter einem altersschwachen Ventilator, bricht bei der Frage nach der Privatisierung in Lachen und Stöhnen zugleich aus:

O-Ton 3: Edmund Voll,
Chef des Butter-Käse-Kombinats               0,10
Regie: O-Ton mit Lachen kommenlassen, ganz stehen lassen,

Originalton:
Lacht, „Chotsche jest… no motsche njet –„
„Wir wollen es schon, aber wir können es nicht.“

Erzähler:
Um Butter und Käse privat rentabel produzieren zu können, erklärt Edmund Voll weiter, brauche man ein Minimum von fünfzig Kühen;  um fünfzig Kühe halten zu können, brauche man brauche Kannen, Töpfe, eine ganze Kanalisation und vor allem: Heu! Anders als in Deutschland wachse im Altai das Gras jedoch nur fünf Monate. Beim Vergleich mit der Schweiz stöhn der Direktor auf:

O-Ton 4: Voll, Forts.         1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
Stöhnt „Ponimaetje, wy mne sadali….
„Sie stellen Fragen! Das ist so als ob man fragt, wie sich Antartktis und Nordpol voneinander unterscheiden: Ja, es scheint so, dass da Eis ist und dort auch, nicht? Aber ich glaube, dass die Arktis härter ist als der Nordpol – nein, nur geografisch, nur vom äußeren Bild her kann man den Altai mit der Schweiz vergleichen, auf keinen Fall aber in Bezug aufs Klima. Aber ein Vermögen haben wir in Gorno-Altai (Achtung: hier nicht „Altaisk“) Die ökologische Reinheit! Der Altai ist eine Zone, die noch geschützt ist vor dem Einfluss der Großkonzerne, Fabriken, der Gasgewinnung usw. In diesem Sinne haben wir einen großen Reichtum. Hier wachsen noch ungefähr 2000 geschützte Pflanzen, von ihnen sind mehr als 300 Heilkräuter. Wenn die Kühe diese Gräser fressen, unser frisches Wasser trinken, dazu noch die reine Luft und die Sonne – dann ist die Biomasse, die Bioqualität der Produkte dreimal höher als in der Schweiz.“
…dwa, tri rasa.“

Erzähler:
Edmund Voll hat Grund, diese Reinheit von Gorno-Altai (sic!) zu betonen: Sind die hässlichen Produkte der Industrialisierung in den letzten fünfzig Jahren doch von allen Seiten herangekrochen: Vom berüchtigten sibirischen Kusbass im Norden, aus dem kasachstanischen Karaganda im Westen haben sich die Kohlegruben bis nach Barnaul, Rubzowsk und andere Orte im westlichen Vor-Altai vorgefressen; die angrenzende kasachische Steppe wurden von den Sowjets, die Wüsten Gobi im Osten, die Takla Makan im Süden von der VR-China in atomares Versuchsgelände verwandelt. Und trotz seines Stolzes auf die ökologische Reinheit seiner Heimat gehört Edmund Voll doch zu den Befürwortern des noch in sowjetischer Zeit geplanten Staudamm-Projektes, das die Reformer nach 1991 mit Volldampf vorantreiben wollten, mit dem sie aber auf den Widerstand der Naturschützer stießen, die das Projekt als sowjetische Gigantomanie ablehnten.
Einer dieser Naturschützer ist Wassili Wassiljewitsch. Als junger Mann wanderte er aus dem russischen Stammland ein wie viele andere russische Kolonisten. Jahrzehnte war er leitender Zoo-Techniker der Republik Altai, deren oberster Tierhüter also und in dieser Funktion langjähriges Mitglied des regionalen Parteikomitees. Als Pensionär ist Fischen und Jagen heut seine Lieblingsbeschäftigung. Wassili Wassiljewitsch gehört zu denen, die den Altai für eine uneinnehmbare Burg halten. Er ist überzeugt davon, dass die Reformen der Perestroikajahre sich letztlich ebenso den natürlichen Gegebenheiten anpassen werden wie alle früheren Neuerungen es schon mussten. Seine Begründung ist einfach:

O-Ton 5: Zootechniker Wassili Wassiljewitsch,
Gorno Altaisk                              1,03
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„A u nas jest juschneje…
„Bei uns gibt es südliche Bezirke, Kosch Agatsch, an der Grenze zur Mongolei zum Beispiel. Dort gibt es keinen Wald; leer alles dort, halbe Wüste. Es ist der Anfang der Gobi, die sich von uns aus in die Mongolei hinein erstreckt. Wie können Menschen dort in individuellen Einzelwirtschaften existieren, wenn sie sechzig Kilometer pro Tag nomadisieren!? Können sie nicht! Sie müssen zusammenhalten; sie haben keine andere Wahl. Im Sommer tief unten im Tal, im Winter oben auf den Bergen und das mit allem Vieh, die ganze Kolchose. Allein bist du verloren. Sie ziehen um, weil im Winter im Tal kein Vieh gehalten werden kann: Harte Winde, starke Kälte, bis zu sechzig Grad Minus. In anderen Regionen ist es ähnlich.
…priblisitelno tak.“

Erzähler:
Mit der nomadischen Lebensweise, die beste Lebensbedingungen für die Tiere sucht, hat die Urbevölkerung sich diesen Gegebenheiten angepasst. Russische Kolonisten besiedelten das Vorland und die Täler. Wassiljew erzählt, wie er in die Jurten geholt wurde. Er erzählt von der Gastfreundschaft der Altai-Nomaden, die keinen Gast, ohne ein Geschenk ziehen lassen, das man sich vorher aussuchen muss. Er berichtet von den Zeltgöttern der Altaier: „Sie wechseln sie, wenn sie sich als unfähig erwiesen haben“, schmunzelt er, „ein praktisches Volk.“

Musik 2: Maultrommel                        1,33
Regie: O-Ton unter dem Text allmählich kommen lassen, nach Textende kurz frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen

Erzähler:
Allmählich trägt ihn die Erinnerung fort und ununterscheidbar vermischen sich Züge der Altainomaden mit denen der benachbarten Tuwa, Chakasen, Mongolen, Kasachen, Usbeken und mit seinen eigenen Touren als Tierwart in den Bergen, ebenso wie in den endlosen Steppen des Vor-Altai. Obwohl doch nur russischer Tierarzt, dazu leitender Funktionär der Partei, wurde er zu Hochzeiten, Geburten und Sterberitualen gerufen, feierlich und mit der gleichen Hochachtung wie die eingeborene Schamanen verehrt. Er taufte Kinder, er wurde als Arzt um Rat gefragt. Einige male half er sogar bei Geburten. Kommunismus und Schamanismus, das Siedlerleben russischer Kolonisten und einheimisches Nomadentum haben sich in seiner Person miteinander verbunden. Diese Mischung ist für eine schnelle Privatisierung nicht besonders geeignet.

O-Ton: Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Den Reformern folgten die Forscher und Forscherinnen. Seit zumindest der ehemalige sowjetische Teil, also außer dem Altai selbst auch Kasachstan und die von der Sowjetunion quasi besetzte Mongolei, wieder frei zugänglich ist, erlebt die Altaiforschung einen Aufschwung. Altai-isten verschiedenster Länder, allen voran – schon der Sprache wegen – Frauen und Männer des ehemaligen sowjetischen Einflussgebietes, studieren Geschichte, Kultur und die mögliche Bedeutung des Altai für die globale Entwicklung heute.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen

`Schon der Sprache wegen´, das bedeutet, in den Bergen des Altai werden die Sprachen der dort siedelnden Völker gesprochen: das turksprachige Altai-isch in verschiedenen Dialekten, diverse mongolische Varianten, Chakasisch, Tuwinzisch, Kasachisch, dazu usbekische, kirgisische und andere Dialekte. Russisch aber ist, bis auf die südlichen chinesischen Ausläufer des Altai, die ohnehin zur Zeit vom Westen her und aus Russland nicht zugänglich sind, auch heute noch die allgemeine Verkehrssprache. Für Sprachforscher ist der Altai eine Offenbarung, die tief in die Urgeschichte der Menschheit hineinführt.

Regie: Musik: Hochziehen, danach allmählich abblenden

Frau Dr. Eva Schaki aus Budapest jedenfalls ist begeistert über die neuen Möglichkeiten, ihren Forschungen jetzt nicht mehr nur theoretisch, sondern „vor Ort“ nachzugehen zu können. Sie hat sich auf den Altai spezialisiert, weil sie dort, wie sie sagt, das Gelenk findet, das die verschiedenen Teile der euroasiatischen Sprachentwicklung verbindet. Aus dem Altai, so Dr. Schaki, ziehen  die verschiedenen, miteinander zusammenhängenden Sprachlinien aus vorgeschichtlicher Zeit heraus in alle Richtungen:

O-Ton 6: Eva Schaki, Sprachforscherin aus Budapest     0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß ausblenden

Übersetzerin:
„Die mandschurischen Tschungiten wanderten sehr weit nach Norden. Mit den alten Türken ist es ähnlich. Denken Sie nur an die Karaimen in Polen, an die Tschuwaschen, bzw. die Tataren-Baschkiren in Russland an der Wolga. Auch das Jakutische im Nord-Westen Sibriens ist eine Turksprache. Selbst in der Mongolei gibt es turksprachige Minderheiten.“
…minor turkey…. (abblenden)

Erzähler:
Es gebe einen gemeinsamen Schlüssel, so Dr. Schaki, der zu all diesen Sprachen führe, von den tungisischen Stämmen im Norden über das Türkische und Mongolische bis ins Ungarische hinein. „Es sind“, erklärt Dr. Schaki, „Sprachen mit derselben Struktur: Sie agglomerieren. Das heißt“, erklärt sie, „man bildet Sätze durch Anhäufung, man hängt die Suffixe ans Ende der Wörter. Im Grunde“, fasst sie zusammen, „denken die Menschen ähnlich:“

O-Ton 7: Frau Schaki, Forts.    0,20
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluß abblenden

Übersetzerin:
„Since this area…
“Soweit es diesen Raum betrifft, ich spreche vom Steppengebiet Euroasiens, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Menschen in einer Art Netz miteinander lebten. Sie beeinflussten sich immer gegenseitig.“
…each other.“ (abblenden)

Erzähler:
Paläontologen, Ethnologen, Archäologen und viele andere Forscher und Forscherinnen durchstreifen den Raum in ausgedehnten Expeditionen, um dieses Netz zu erforschen. Seit der Öffnung des Altai 1991 geschieht das mit Unterstützung der UNESCO, die den Altai zum Weltkulturerbe erklärt hat. Entdeckungen wie die Saurierfriedhöfe in der Wüste Gobi, wie die vollkommen erhaltenen Mammuts im Permafrostboden Sibiriens, die dort offensichtlich von einem Moment auf den nächsten eingefroren waren, lassen die Erkenntnis aufkommen, dass das sibirische Zentralasien und als sein geografischer Mittelpunkt der Altai einstmals nicht nur für Großtiere und Urpflanzen, sondern auch für Vorläufer der menschlichen Rasse günstige, möglicherweise sogar besonders günstige Entwicklungsbedingungen boten.
Einer, der sich diesem Thema besonders gewidmet hat, ist der mongolische Archäologe und Anthropologe Belikt Lowzenwandon Besutow. Die Kompliziertheit seines Namens erklärt sich daraus, dass er nach alter Tradition dazu übergegangen ist, nicht nur Vor- und Vatersnamen, sondern auch seinen Stamm-Namen Besutow zu führen. Was Linguisten sich erschließen müssen, sieht er durch archäologische und anthropologische Funde erwiesen: Der Altai, meint er, war ein Schmelztiegel, wenn nicht gar der Ursprung all der Völker, die man heute in Euroasien kennt. Begeistert zeigt er seine neuesten Schädelfunde:

O-Ton 8: Belikt Lowzenwandon Besuto,
Anthropologe in Ulaanbaator    0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja magu pakasatj…
„Ich kann Ihnen mein Material zeigen, meine menschlichen Schädel, mein Material an menschlichen Knochen. Ich untersuche sie, ich vermesse die rassenmässigen Charakteristiken:
…karakteristiki.“ Papiergeraschel

Erzähler:
Bei diesen Worten wickelt er die sorgfältig ausgepackten Schädel aus, weist auf die Unterschiede der Schädelbildung hin: Breites Gesicht, flache Nase hier, hohe enge Stirn, hohe Nase dort. „Schon in der Bronzezeit lebten sowohl Mongoloide wie auch Europäide hier“, erklärt er, „genau wie heute.“ Auch heute finde man alle Typen in allen möglichen Mischformen im sibirisch-zentralasiatischen Raum. Sie kommen alle, so der Forscher, aus dem Raum des Altai. Endlich könne er das jetzt beweisen:

O-Ton 10: Belikt Lowzenwandon, Forts.    0,47
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Swje Mongolowedi…
„Das sagen alle Mongoloweden: Es gibt eine große Familie der altai-ischen Sprachen. Das ist der kultur-historische, der geografische Raum der großen Steppe. Von Korea, von der nordchinesischen bis zur südrussischen Steppe, der ganze Steppenkorridor, war immer schon ein Siedlungsgebiet; nach Christi Geburt dann die Hunnen, Sembizen, Dschudjanen, Türken, Uiguren, Kirgisen, später die Mongolen, Tschingis Chan. Sie alle haben zeitweise über die Bewohner der Steppe geherrscht, Nomaden.“
…katschewnikami.“ Tür

Erzähler:
Prof. Alexander Fedotow, ein junger Bulgare mit Begeisterung für die neue Zeit, aber tiefem Verständnis für die Bedeutung von Traditionen, will noch weiter vordringen. Er versucht, den Mythos des Altai zu erfassen, der in seinen Epen, Gesängen und schamanischen Traditionen lebt. Prof. Fedotow forscht und lehrt an der Universität zu Sofia, verbringt aber viel Zeit auf Expeditionen in Korea, der Mongolei, Südrussland oder im Hoch-Altai. Er fand heraus, dass all die Gebiete durch gemeinsame mythische Motive miteinander verbunden sind; am Motiv dessen, was er die „Wunderbare Geburt“ nennt, wirbt er vor Kollegen und Kolleginnen für diese Sichtweise:

O-Ton 10: Prof. Fedotow, Alta-ist aus Bulgarien    2,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen,

Übersetzer:
„So, the motive of miraculous birth…
“So ist das Motiv der wunderbaren Geburt also in Legenden weit verbreitet. Der Hauptcharakter solcher Inkarnationen ist üblicherweise himmlischen Ursprungs. Er kommt zur Erde herunter nach besonderen Angeboten und Gebeten, die von seinen zukünftigen Eltern vollbracht wurden. In der Regel sind diese Eltern extrem alt und können keine Kinder bekommen, aber in wunderbarer Weise geschieht es doch. Die Empfängnis geschieht durch Kontakte mit Sonnenstrahlen. Manchmal sind auch Wolken im Spiel, unbekannte Kräfte oder seltsame Kreaturen. Die Geburt geschieht normal aus dem Bauch der Mutter, aus dem Knie oder aus der Achselhöhle. Geburt aus dem Ei bedeutet himmlischen Ursprung, es ist ein Symbol für die Sonne. Der Hauptcharakter ist schön wie die Sonne oder hat einen strahlenden Körper oder ein solches Gesicht. Mythische Charaktere haben eine außerordentliche Kindheit, sie entwickeln sich sehr schnell, sie  und haben außerordentliche Kräfte. Vögel und wilde Tiere beschützen und ernähren sie. Später, wenn die Mythen in epische Erzählungen verwoben sind, ist dieses Motiv eines der wichtigsten. In all diesem gibt es eine große Übereinstimmung in den zentralasiatischen mongolischen, koreanischen und burjätischen Mythen. Das gibt Grund genug, Vergleichstudien zwischen koreanischen und altai-ischen Mythologien zu betreiben. Danke.“
…Thank you for attention”, Beifall

Erzähler:
Im Gespräch konkretisiert Prof. Fedotow, warum er nicht nur Mongolen, Türken, Mandschus, Tungisen, Tuwa, Kasachen und all die bereits von seinen Kollegen und Kolleginnen genannten Völker, sondern auch die Koreaner und selbst die Japaner dem mythischen Raum des Altai zuschlägt. „Bei meinen Forschungen fand ich erstaunliche Übereinstimmungen“, erklärt er:

O-Ton 11: Fedotow, Forts.     1,02
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, am Schluss ausblenden

Übersetzer:
„All the things are…
“All diese Dinge sind sehr ähnlich und es sind Dinge, die alle sehr, sehr alt sind. Kann sein, dass sie mit diesen Menschen auf die Halbinsel kamen oder dass sie von Menschen hervorgebracht wurden, die dort schon lebten – so oder so: in dieser Periode war das Bewußtsein das gleiche, es war altai-isch. Danach erst wurden sie Konfuzianer, wurden sie Bhuddisten usw. In jedem Fall ist klar, dass der Altai eine Art kulturellen Zentrums für die Entwicklung vieler Zivilisationen war wie die mongolische, wie die türkische, wie die mandschurische, wie die koreanische. Ich fand auch sehr enge Verbindungen der altai-ischen Welt mit der tibetischen Zivilisation in der materiellen und in der spirituellen Kultur.“
…spiritual culture.“ (ausblenden)

Erzähler:
Über die Behringstraße, die seinerzeit noch passierbar gewesen sein müsse, so Prof. Fedotow, hingen auch die Indianer mit dem Altai zusammen. Davon ist er überzeugt. Gefragt, ob er den Klimaverschiebungen des vorgeschichtlichen Sibirien Bedeutung für seine Forschungen beimesse, antwortet er:

O-Ton 12: Fedotow, Forts.     1,06
Regie: O-Tom kurz steteh lassen abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Da,da, da….
„Ja, ja, ja, ja, ja! Ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber schließlich und endlich müssen die Wissenschaftler der unterschiedlichen Gebiete auf diese oder jene Weise wahrscheinlich ihre Entdeckungen vereinigen. Es ist durchaus möglich, dass bis zu einer Naturkastrophe im Raum des Altai ein in jeder Beziehung angenehmes Klima für die Entstehung einer archaischen Megazivilisation bestand, die sich dann ausgebreitet hat. Man kann die Augen einfach nicht davor verschließen, dass all diese Menschen, auch die Japaner, obwohl sie dem vielleicht nicht zustimmen mögen, und die Koreaner, die ganze Bevölkerung entlang des Flusses Amur, alle mongolischen Völkerstämme und die türkischen eine Menge Gemeinsames verbindet – sowohl die Sprache, das vor allem, wie auch die Merkmale ihrer materiellen Kultur.“
… attuda.“ Lachen

Erzähler:
Und sie wissen vermutlich auch, lacht er, dass in Europa ebenfalls mindestens zwei Völker existieren, die sich von dieser Kultur herleiten, die Ungarn und die Bolgaren, nicht zu vergessen die vielen nicht-slawischen Völker im Kaukasus und an der mittleren Wolga, die Unganrn und die Finnen: Die ganze ethnische Geschichte dieses riesigen Zentralasiens, findet er, bedürfe dringender wissenschaftlicher Erforschung:

O-Ton 14: Fedotow, Forts.    1,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Wide nauke…
„In der Wissenschaft wird Zentralasien als ethnischer Kessel bezeichnet. Da gibt es so viele ethnische Gruppen, eine vermischte sich mit der anderen usw. usw. und das alles ging – historisch gesehen – vergleichsweise schnell. All diese Gruppen  charakterisieren sich durch einen bestimmten Verhaltenstyp, eine bestimmte Lebensart: Sie waren entweder Nomaden oder Halbnomaden.Deshalb denke ich, dass in den Vorstellungen von einer Megakultur ein rationaler Kern liegt. Die Völker sind durch die gleichen geografischen Bedingungen verbunden. Sie können nicht anders existieren. Korn ist nur auf kleinsten Flächen anbaubar, weil das Klima einfach zu rau ist. Gras gedeiht nicht auf dem Boden; hier hält man Vieh, das Gras muss sich im Winter selbst erneuern. Hier in Zentralasien gab es keine dauernden befestigten Städte, weil das einfach nicht möglich war. Man betrieb Tierzucht, bearbeitete Leder, Metall, trieb Handel mit China wie auch mit dem Westen“

Musik 3: Gesang    1,04
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Übersetzer, Forts.
In der Welt gibt es nun einmal Welt die beiden Arten von Zivilisation, die sesshafte und die nomadische. Die nomadische entwickelte sich zwischen den sesshaften Polen. So hat es sich entwickelt.“
…tak polutschilas.“

Regie: O-Ton ausblenden, Musik vorübergehend hochziehen

Erzähler:
Ökologische Nische, Etnischer Kessel, Megakultur – damit ist das Thema benannt, das den Raum des Altai heute zur Attraktion werden lässt. Romantiker und Visionäre aus aller Welt suchen darin eine Alternative zur industrialisierten Welt. Das gilt vor allem für Russen aus den städtischen Ballungszentren, also aus Moskau und St. Petersburg; für die sibirischen Städte Nowosibirsk, Krasnojarsk oder für kleinere Industrie-Agglomerationen ist der Altai – russische Maßstäbe für Entfernungen berücksichtigt – Nah-Erholungsgebiet.

Regie: Musik vorübergehend hochziehen, danach langsam abblenden

Einer dieser Menschen ist Boris Werschinin. Er ist Direktor des Museums für Völkerkunde in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau und leitender Mitarbeiter in der Moskauer Kulturorganisation „Ethnost“, die sich um eine Aufarbeitung und Pflege der innerrussischen Völkerbeziehungen bemüht. Er ist leidenschaftlicher Verehrer des Altai, den er auf den Spuren seiner großen Vorbilder Nicolas und Helena Roehrich immer aufs neue bereist. Sie entdeckten in den zwanziger Jahren den Altai im Zuge einer sechsjährigen Expedition für Russland spirituell.  Roerich-Gesellschaften, die es heute in fast in allen größeren Städten Russlands gibt, spielen gegenwärtig eine wichtige Rolle als Stichwortgeber einer kulturellen und spirituellen Erneuerung des Landes. Im Altai sind Nicolas und Helena Roehrich bis heute hoch geachtet. Am Rande eines Kongresses in Ulaanbaator erklärt Boris Werschinin sein Engagement für den Altai auf den Spuren der Roerich-Expedition mit den Worten:

O-Ton 14: Boris Werschinin,     0,47
Direktor des Museums für Völkerkunde
in der „Universität für Völkerfreundschaft“ in Moskau
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Eta expeditia, ana…
“Diese Expedition war keine normale Expedition. Diese Expedition war mit der kosmischen Evolution der Menschheit verbunden. Wir wissen alle, dass auf dem Planeten immer ein kosmischer Focus entsteht, das heißt, eine besondere Region, die mit dem Kosmos verbunden ist. Und auf diesem Boden geschieht gewissermaßen eine energetische Entzündung und dort geschieht die Erzeugung einer neuen Kultur, einer neuen Zivilisation. Und periodisch verlöschen diese Kulturen und die Zivilisationen gehen zugrunde.“
…rasruschajetsja.“

Erzähler:
Boris Werschinin interessiert sich für dies alles, wie er aufzählt, unter vier Gesichtspunkten:

O-Ton 16: Werschinin, Forts.    1,54
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, wa perwich…
„Erstens ist es ein besonderes Territorium, das eine einzigartige geografische Landschaft besitzt, Gebirgsformationen: Himalaya, Tien Schan, Altai, Sajan. Sie bilden gleichsam eine Tasse, genannt Trofanski Asis, deren tiefste Stelle 200 Meter unter dem Meeresspiegel liegt, also effektiv eine Tasse. Zweitens interessieren mich die Erfahrungen der Expedition selbst, die eine Entwicklungslinie für unsere menschliche Kulturentwicklung markiert hat. Drittens bildet die Region eine ökologische Nische, die bisher nicht urbanisiert wurde. Man muss sie als ökologische Ressource erhalten und entwickeln, denn für den Planeten ist es wichtig, eine solche große Reproduktionszone zu haben, die den Planeten harmonisieren kann. Aus der Sicht der Ökologie ist es eine Oase der Zukunft, welche die einzigartige Möglichkeit bietet, dort schon heute neue Technologien, schadstofffreie Produktion, biologisch saubere Nahrung zu entwickeln usw; außerdem qualifizierte neue Energie, denn hier gibt es besondere Energien, die man nutzen kann. Das ist ein Zukunftsprojekt. Viertens interessiert mich die Region unter dem Gesichtspunkt der Geopolitik: Diese Region ist ein Rad, das  umgeben ist von großen Reichen: Im Norden Russland, im Osten das große China, im Süden Indien und im Westen die islamische Zivilisation. Die Region trennt diese Welten einerseits, schützt sie als Puffer sozusagen, andererseits vereinigt sie sie. Die Reiche können und müssen daher an diesem Projekt und Programm mitwirken.“
…wot etich programm.“

Erzähler:
Noch höher, ganz auf der Höhe der Zeit, siedelt Bat Sur Dschem Jangin das Thema an. Er ist Direktor des „Zentrums für nationale Anthropologie am medizinischen Institut“ von Ulaanbaator in der Mongolei. Seine Interesse gilt der Erhaltung des genetischen Fonds Zentralasiens. Unter genetischem Fond versteht er die Fähigkeit, welche Völker entwickeln, sich an die ökologischen Bedingungen eines bestimmten Raumes anzupassen. In einer Zeit, in der globalen Migration, in der Viren mit Überschallgeschwindigkeit rund um den Globus geschleppt werden könnten, so der Genetiker, bestehe die Gefahr, dass die Fähigkeiten zur Anpassung verlorengingen:

O-Ton 16: Bat Sur Dschem Jangin     0,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen. Abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna ssewodnja charascho…
„Natürlich, das ist heute gut: Die Menschen lieben einander, treffen sich, heiraten, bekommen Kinder, weltweit, alles gut, einerseits macht das nichts. Andererseits verlieren die Genfonds, die an eine ökologische Nische angepasst waren, ihr Gleichgewicht; es können Gene eingeschleppt werden, die nicht angepasst sind. Sie können Krankheiten verursachen. Wir studieren den Genfond der hiesigen Bevölkerung daher mit dem Ziel, den eingeborenen, ursprüglichen Genfonds zu erhalten.“
…aboregeni Genofond (ausblenden)

Erzähler:
Im INTERNET wird der Altai heute als bevorzugte Adresse für zivilisationsmüde Städter aus aller Welt angeboten, die hoffen, dort einen echten Schamanen zu treffen. Die wenigen nach dem Aderlass der Sowjetzeit dort praktizierenden Schamanen dagegen ziehen sich vor diesem Rummel in die Berge oder einfach in die Anonymität zurück. Es stellt sich die Frage: Der Altai als Bio-Park, als Museum für lebende Nomaden und globaler Genfond – kann dies die Lösung für die Probleme der industriellen Welt sein?

Musik 4:     1,34
Regie: Ton unter dem Übersetzer allmählich kommen lassen, nach Übersetzer kurz frei stehen lassen, unter dem Erzähler allmählich abblenden

Wäre es nicht richtiger, einfach von der nomadischen Kultur zu lernen, wie man weniger Ressourcen verbraucht, wie man mobiler unterwegs sein kann, wie man die Verbindung zur Erde mit allen Sinnen, aber auch mit allen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten von heute erneut aufnehmen kann, also energisch voran, statt wieder einmal zurück zur Natur zu schreiten? Die Auseinandersetzung um diese Frage hat erst begonnen. Der Altai wird dabei ein wichtige Rolle spielen.

Wunder Putin – oder soziales Pulverfass?

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 5 Sec. für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll, dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sec. den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Bitte die O-Ton Schlüsse weich abblenden

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Wunder Putin – oder soziales Pulverfass?

Ein Jahr ist Wladimir Putin inzwischen Präsident Russlands. Die Aufregung um den Machtwechsel an der Spitze des Landes hat sich gelegt. Aus Mr. Nobody, der außer dem Krieg gegen die Tschetschenen kein Programm vorzuweisen hatte, wurde der erklärte Stabilisator, der allen alles verspricht. Den einen stellt er die Fortsetzung der liberalen Reformen in Aussicht, den anderen die Rückkehr zu den traditionellen russischen Gemeinschaftsstrukturen, stabile Profite durch Abbau der kostenlosen Sozialfürsorge hier, eine gerechtere, demokratischere und sozialere Gesellschaft dort. Vaterländische Gesten wie die soeben vom Präsidenten höchstpersönlich angeordnete Wiedereinsetzung der sowjetischen Hymne, modernisiert durch einen neuen Text, sollen diesen Kurs der Versöhnung symbolisieren. Wie weit stimmen Worte und Taten, klassenversöhnende Symbolik und Realität überein?
Kai Ehlers hat sich im Lande umgeschaut.

O-Ton 1: Addidas Turnschuh-Fete                                          1,05
auf dem Platz der Revolution
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, vor Antworten (030) hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Moskau. Innenstadt. Platz der Revolution: Wo früher nur Lautsprecher und Megaphone von Versammlungsrednern zu hören waren, hämmern jetzt Techno-Rhythmen von einer gewaltigen Bühne, welche die Firma Addidas hier aufgestellt hat. Acht für ein paar Tage auf den Platz gemalte Spielfelder laden zum Basketball spielen ein; Bälle und Turnschuhe werden gestellt. Alle Felder sind pausenlos von jugendlichen Spielern besetzt. Die Firma Sprite spendiert kostenlose Erfrischung. Vorbeigehende Passanten sind überwältigt.

Regie: Bei 0, 30 vorübergehend hochziehen, Sprache kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
„Einfach toll, dass unsere Jungs sich hier tummeln können“, meint ein Mädchen, das soeben aus der Metro auf den Platz kommt, „besonders, dass es im Zentrum ist.“
„Echt Klasse, einfach super“, ergänzt ihre Freundin.
…„super“, Musik

Regie: Unter dem Erzähler allmählich abblenden

Erzähler:
Ältere Passanten sind ein bisschen verwirrt. Eine Frau, sichtlich abgearbeitet, rätselt: „Ich Verstehe nicht, worum es geht. Wahrscheinlich ein Fest. Für mich ist das nichts mehr“, setzt sie hinzu, „aber gut für die Jugend!“

O-Ton 2 : Fortsetzung Addidas-Fete        0,28
Regie: O-Ton unter Erzähler kommen lassen, zum Stichwort „Pepsi“ hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegen, beim Stichwort „Putin“ wieder hoch kommen lassen, abblenden

Erzähler:
Wer das hier macht? Unser Bürgermeister wahrscheinlich, lachen zwei junge Männer. Wirklich gut, finden sie.

Regie: zum Stichwort (0,05) „Pepsi“ vorübergehend hochziehen, abblenden, unterlegen, hochziehen

„Aber wir sind keine Pepsis“, schränken sie ein: „Das zieht bei uns schon nicht mehr.“ Sie loben ihren neuen Präsidenten, Wladimir Putin. Ja, der macht es möglich. Mit den Oligarchen räume er auf. Ein soziales Programm habe er auch. Überhaupt, habe er erst angefangen.
…totschna.“ Töne

Erzähler:
Dies ist der Tenor, den man gegenwärtig rundum im Lande hört. In ihm klingt die Selbstdarstellung der Regierung nach, wie sie auch im Ausland zu vernehmen ist. So erklärte Russlands neuer Ministerpräsident Michail Kassjanow in einem Vortrag über „Leistungen und Vorhaben“, den er bei einer Veranstaltung des „Deutsch-russischen Forums“ und des „Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft“ im Dezember 2000 in Berlin hielt:

Zitator:
„Wir werden bürokratische Verfahren verringern, es gibt ein neues Steuergesetz, einheitliche Sozialabgaben, einheitliche Importzölle, weniger Umsatzsteuer. Betriebskosten werden, was schon lange von Investoren gefordert wird, steuerlich absetzbar. Wir haben zur Zeit ein Profizit von 2,5%; das ist der erste Überschusshaushalt. Wir arbeiten an der Transformation des Schuldenproblems  in Fördermittel der Investitionen. Strukturelle Reformen werden bei staatlichen Monopolen durchgeführt: Energie, Wohnung, Transport, insbesondere bei GASPROM, der gesamtrussischen Gasbewirtschaftung.“

Erzähler:
Ein Wachstum von 10% schreibt die Regierung Putins sich auf die Fahnen, wobei offen bleibt, wie sich das auf das Jahr verteilen wird. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sie eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht: Strukturelle Reformen, das bedeutet, Entmonopolisierung, weitere Privatisierung, Umstellung der Zuteilungswirtschaft auf Geldverkehr. Eine Verordnung wurde erlassen, die Bartergeschäfte, also Naturaltausch zwischen Betrieben, eingeschränkt und die Betriebe zur Zahlung von Löhnen anstelle der Vergütung durch Naturalien oder soziale Dienstleistung verpflichtet. Die Steuerreform brachte Erleichterungen für Großverdiener und Großunternehmen. In einer Vielzahl von Betrieben haben sich die Lohnzahlungsrückstände verringert. Das ist eine Bilanz, die niemand erwartet hat und so sind die weiteren Erwartungen groß, auch wo die Skepsis gegenüber Wladimir Putin nicht zu übersehen ist. Das gilt vor allem für die „Föderation freier Gewerkschaften Russlands“, die seit 1991 landesweit das Erbe des alten sowjetischen  Gewerkschaftsverbandes angetreten hat.
Alexander Afonin, Betriebsratsvorsitzender und Sekretär der „Föderation der freien Gewerkschaften“ in der Moskauer Fabrik für Kugellager, kurz „Podschebnik“ genannt, mit einer ca. 8000köpfigen Belegschaft einer der größten Betriebe Moskaus, zeigt sich ganz angetan von der neuen Entwicklung. Endlich werde das alte System abgelöst, in dem die Arbeiter mit Geschirr, Wodka, Büstenhaltern oder womit immer sonst losgeschickt wurden und sich ihren Lohn ein zweites Mal erarbeiten mussten, statt ihr verdientes Geld zu bekommen:

O-Ton 3: Alexander Afonin, Betriebsrat         1,19
in der Moskauer Kugellagerfabrik „Podschebnik“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei Stichwort „Barter“ (0,49) vorübergehend hochziehen, unterlegen, am Schluss hochziehen

Übersetzer:
“A wot tschas imena…
“Ja und gerade jetzt sind wir auf das Geldsystem übergegangen. Klar, das ist ja viel einfacher und besser für uns. Da kriegst du für ehrliche Arbeit, die du mit eigenen Händen geleistet hast, ehrliches Geld. Da kriegt der Arbeiter es wirklich! Wie er es dann gebraucht, ist seine persönliche Sache. Was soll er mit Wodka! Die Kinder trinken keinen Wodka! Die Frau trinkt nicht. Er selbst kann sich auch nur einmal betrinken. Aber essen muss man, Kleidung braucht man, Kindergarten muss bezahlt werden, das Kind muss in die Schule, das kostet doch alles! Deshalb ist die Politik jetzt auf dem richtigen Weg: Es ist Zeit die Barterei einzuschränken.“

Regie: Bei 0,49, Stichwort „Barter“ vorübergehend hochziehen,

Erzähler:
Zweifeln begegnet Betriebsrat Afonin mit dem entwaffnenden Hinweis, irgendwann müssten doch alle einmal zahlen.  So oder so, auch wenn noch nicht alles so sei, wie man es sich wünsche, insbesondere natürlich in den Regionen, habe sich die Situation unter der neuen Regierung doch entschieden stabilisiert.“
…namnoga stabilisiruitsja.“

Erzähler:
Selbst erklärte Gegner Wladimir Putins, die nichts von dem sozialpartnerschaftlichen Kurs halten, den die „Föderation freier Gewerkschaften“ gegenüber der Regierung eingeschlagen hat, die in der „Föderation“ vielmehr die Verlängerung der alten sowjetischen Staatsgewerkschaften unter neuem Namen sehen, kommen nicht umhin, die Verbesserung der Lage zu konstatieren. So Sergej Trochin, Arbeiter bei „Podschebnik“, Aktivist der linksradikalen Splittergewerkschaft „Saschita“, auf deutsch: Schutz, die in der 1998 entstanden ist. Ihr erklärtes Ziel ist die erneute Vergesellschaftung des Betriebes. Sergej Trochin beschreibt die aktuelle Lage bei „Podschebnik“ so:

O-Ton 4: Sergej Trochin, Arbeiter bei „Podschebnik“,        0, 31,5
Aktivist der Gewerkschaft „Saschita“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela we tom schto…
„Paradox , aber wahr: Dem Betrieb half die Krise.  Davor arbeitete er so: Verbrauchen, verbrauchen, sammelte Schulden, Lohn wurde zurückgehalten. Aber nach dem 17. August, auf Grundlage dessen, dass jetzt ein ziemlich großer Teil der Produkte in den Export geht, wurde die Fabrik profitabel.“
…sawod stal pribelno.”

Erzähler:
In kargen Sätzen begründet er, wie es dazu kam:

O-Ton 5: Trochin, Forts.        0,46
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Pokupajet…
„Jetzt kaufen verschiedene Betriebe. Natürlich ist das immer noch weniger im Vergleich zu früher. Aber wir haben große Verbraucher: Ministerium für Verkehr – Eisenbahnen; die Waggons laufen hauptsächlich auf unseren Kugellagern, Automobilfabriken – Wolga, Moskwitsch, Schiguli. Die ganze Situation wird wieder etwas besser. Solche Aufträge, von denen ich sprach, hat es lange nicht mehr gegeben. Jetzt gibt es sie. Das ist das, was ich von meinem Platz aus erkennen kann.“
..tak widna.“
Erzähler:
Mit weit größerem Abstand betrachtet Alexander Busgalin die Entwicklung. Busgalin ist Professor für Ökonomie an der „Moskauer staatlichen Universität“ und zugleich führendes Mitglied der Gruppe „Alternativen“, eines Zirkels kritischer Intellektueller, die sich als Keim einer reformsozialistischen Bewegung verstehen. Auch der Professor sieht sich veranlasst, einen leichten Aufschwung zu konstatieren:

O-Ton 6: Prof. Alexander Busgalin, Ökonom    0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Na ssammom djele…
„Die Welle der Streiks ist in den letzten Monaten nicht so hoch, wie  früher. Es gibt ein gewisses Wachstum der Produktion. Um einiges besser steht es um die Auszahlung der Löhne, hier und da haben sich die Bezüge sogar erhöht. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Situation für die Arbeiterschaft sich gebessert hat und die Bewegung von Streiks des klassischen Typs ein bisschen zurückgegangen ist.“
…tschut mensche.“

Erzähler:
Das könne man durchaus eine Stabilisierung nennen, meint der Professor. Sie habe allerdings nicht erst mit dem Regierungsantritt Wladimir Putins begonnen, sondern bereits mit dem Bankenkrach von 1998, in dem der gesamte auf Spekulationsgeldern aufgebaute Ex- und Import-Boom zusammengebrochen sei. Seit dieser Zeit entwickle sich, wenn auch langsam, ein einheimischer Markt mit einheimischen Produkten. Darüber hinaus sei die Stabilität widersprüchlich, schließe einige negative Elemente ein:

O-Ton 7: Busgalin, Forts.        0,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Übersetzer:
„No eta imena…
„Es ist die Stabilisierung eines Übergangssystems, dieses befremdlichen Organismus zwischen Liberalismus und Autoritarismus, der sich bei uns herausgebildet hat. Ich nenne ihn deformierten oder auch mutierten Kapitalismus.“
…mutantnom Kapitalismom … organism“

Erzähler:
Der Mutant, so Busgalin, habe durchaus die Chance ein wirtschaftliches Wachstum zu entwickeln. Besser als eine Krise der ständigen Zerrüttung sei er allemal. Jedoch trage er den Keim kommender Konflikte in sich:

O-Ton 8: Busgalin, Forts.        0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer
„Eta dawolni…
„Es gibt ja das bekannte Paradoxon, dass wirtschaftliches Wachstum nicht Niedergang, sondern Belebung der Arbeiterbewegung nach sich zieht, wenn die Arbeiter begreifen, dass Bedingungen gegeben sind, unter denen sie für ihre Rechte kämpfen können und müssen. E sieht alles so aus, als ob sich das in Russland so entwickeln könnte.“
…dastatischno positivno.“
Erzähler:
Die Realität gibt Prof. Busgalins Theorien recht. Die einsetzende wirtschaftliche Entspannung kommt keineswegs automatisch der arbeitenden Bevölkerung Russlands zugute, im Gegenteil, sie droht deren Ausbeutung noch zu verschärfen. Moskaus Musterfabrik „Podschebnik“ führt es vor. Aktivist Sergej Trochin ist sehr besorgt:

O-Ton 9: Sergej Trochin, Arbeiter bei “Podschebnik”    0,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Djela we tom schto..
“Die Sache ist die: Auf der Aktionärsversammlung wurde erklärt, dass die Fabrik einen soliden Profit macht, dass sie ein rentables Unternehmen geworden ist. Sofort danach begann der Kauf von Aktien durch verschiedene Leute. Rentable Unternehmen sind heute eine Seltenheit, umso mehr als dies eine große Fabrik ist.“
…bolschoi sawod.“

Erzähler:
Diese Entwicklung bedeutet: Kaum ist der Betrieb in die Zone der Profitabilität gekommen, stürzen sich die Aktienspekulanten auf ihn. Die Gefahr, dass der Betrieb von Spekulanten übernommen wird, die den Profit abziehen, statt ihn in eine Modernisierung der Anlagen und höheren Lohn für die Belegschaft zu investieren, vereint die beiden ansonsten voneinander entfremdeten Gewerkschaften. „Saschita“ agitiert mit Betriebsflugblättern und in „Mitings“ vor dem Betrieb gegen die betriebsfremden Käufer. Die „Föderation der freien Gewerkschaften“ versucht den Kauf der Aktien durch die Belegschaft, einschließlich Direktor und Betriebsveteranen zu organisieren. Betriebsrat Afonin, soeben noch voll des Lobes über den Aufschwung, erklärt:

O-Ton 10: Alexander Afonin, Betriebsrat     1,31
bei „Podschebnik“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, bei 0,45 („tak prodolschatj“) vorübergehend hochziehen, unterlegen, am Ende hochziehen, abblenden

Übersetzer:
„Chatja wo to schto..
“Andererseits – was sich gegenwärtig um die Fabrik herum abspielt, das ist genau die negative Seite: dass sich alle die, die sich um die sogenannte Privatisierung von Unternehmen bemühen,  jetzt auf unseren Betrieb stürzen, um Aktien zu kaufen, Firmen, Organisationen, Personen, ganz beliebig. Für irre Summen wollen sie von unseren Betriebsmitgliedern Aktien erwerben. Wir wollen aber die Dividende für die Fabrik haben. Deswegen haben wir  jetzt faktisch einen Aufkauf von Aktien durch die Belegschaft des Betriebes organisiert, damit wir auf dem guten Wege weitermachen können.“
… tak prodolschatj.“

Regie: Vorübergehend bei 0,45 hochziehen

Erzähler:
Der „gute Weg“, von dem Afonin spricht, ist der Weg einer Musterfabrik, die zu Sowjetzeiten durch effektive Produktion, aber auch durch besondere soziale Leistungen glänzte: betriebliche medizinische Versorgung, Kindergärten, Sportstadion, mehrere Ferienanlagen, Pioniercamps, betriebseigener Kulturpalast bis hin zur Betriebsrente. Vieles davon, so Afonin, hat man bis heute erhalten und will es weiter behalten. „Wir“, die sich darum kümmern – das ist der Aktionärsrat, gewählt von der Mehrheit der Aktionärsversammlung, die sich aus der betrieblichen Gewerkschaftsvertretung, dem Direktor und jenen Kollegen zusammensetzt, die Aktien des Betriebes besitzen. Sogar Bürgermeister Juri Luschkow, so Afonin, unterstütze diese Kampagne.
…nam tosche.“

Erzähler:
Eine paradoxe Situation ist entstanden: Der relative Aufschwung unter Wladimir Putins Präsidentschaft mobilisiert den Widerstand gegen die Fortsetzung der Privatisierung, welche die Regierung Putins sich auf die Fahnen geschrieben hat. Sogar Moskaus Bürgermeister Lyschkow unterstützt den Widerstand des Betriebskollektivs gegen die Aktienhaie. Er muss verhindern, das der zweitgrößte Betrieb der Stadt von Spekulanten ruiniert und die Stadtkasse durch soziale Kompensationen wie Arbeitslosengelder, Fürsorge usw. belastet wird. Moskau, obwohl reicher als die Regionen, ist kein Einzelfall; Konflikte dieser Art kennt man auch an anderen Orten: Oleg Babitsch, als „Koordinator der Gewerkschaft Saschita“ an solchen Aktivitäten in ganz Russland beteiligt, fasst die neue Entwicklung so zusammen:

O-Ton 11: Oleg Babitsch,        1,54
Koordinator der Gewerkschaft „Saschita“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen, ausblneden

Übersetzer:
„Nu, skaschim tak,…
„Nun, sagen wir es so: Es ist keine sehr eindeutige Situation. Auf der einen Seite kann man in der Tat einen Niedergang der Arbeiterbewegung beobachten, das heißt, die Zahl der Aktionen hat sich gegenüber 1998 stark verringert. Das liegt daran, dass Lohnrückstände weitgehend gezahlt wurden; viele Unternehmen haben die Arbeit wieder aufgenommen; besonders deutlich wird das im sog. militärisch-industriellen-Komplex, das hat mit dem Krieg in Tschetschenien zu tun, mit der neuen Haltung unserer Regierung gegenüber der Armee. Dadurch ist Geld in diese Fabriken geflossen, Aufträge, die Arbeiter kamen in die Fabrik, bekamen ihren Lohn. Andererseits sind jedoch die Aktionen, die gegenwärtig stattfinden, bewusster. Das heißt, spontane Auftritte wurden weniger, aber die Aktionen wurden exakter, organisierter. Das wird sich weiter entwickeln. Darüber  hinaus kann man sagen, dass die Aktionen der Arbeiter immer öfter nicht nur einen organisierteren, sondern auch einen politischeren Charakter tragen. Wenn es früher hieß: `Nieder mit Jelzin!´, dann war das klar. Alle hatten ihn satt. Heute heißt es nicht `Nieder mit Putin!, sondern die Forderungen tragen bewussten antikapitalistischen Charakter. Die Belegschaften treten gegen ihren Eigentümer nicht  nur deswegen an, weil er den Lohn nicht zahlt, sondern weil sie verstehen, dass er sie ausraubt, dass er sich aneignet, was sie mit ihren Händen erarbeiten. Das ist aus meiner Sicht eine günstige Entwicklung.“
…na moi wsgljad.“

Erzähler:
Was den radikalen Gewerkschafter mit Hoffnung erfüllt, ist vor allem die große Zahl von Auseinandersetzungen die dort aufflackern, wo neue Eigentümer versuchen, die Betriebe in Besitz zu nehmen. Dies geschieht nicht nur in Moskau, sondern in verschiedensten Teilen des Landes:

O-Ton 12: Babitsch, Forts.    0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, ja magu…
„Ich kann einige ziemlich große Aktionen nennen: Das ist das Zellulose-Kombinat von Wyborg im Leningrader Bezirk, wo die Arbeiter den Betrieb besetzten und vom Staat forderten, den Betrieb zu verstaatlichen. Eine vergleichbare Aktion gab es in Nischninowgorod, ebenso in einer Kohlegrube im Kusbass, wo die Arbeiter forderten, den Betrieb zum Kollektivermögen zu erklären. Im Bezirk Astrachan gibt es Aktionen in einem Baubetrieb. Diese und ähnliche Aktionen gab es bereits und sie häufen sich.“
…bolsche i bolsche.“

Erzähler:
Die Meetings, die spontanen Streiks, die Besetzungen zur Verhinderung von Betriebsübernahmen durch Neu-Eigentümer bleiben nicht immer friedlich. Die Wyborger Rangeleien konnte man im Fernsehen beobachten, dort wurde erstmals geschossen; immer öfter gibt es Zusammenstöße mit der Spezialtruppe OMON; Verhaftungen von Betriebsaktivisten  häufen sich. In Astrachan gab es einen Toten. Oleg Babitsch macht sich wenig Illusionen:

O-Ton 13: Babitsch, Forts.        1,30
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„My dumajem…
„Wir glauben, dass man schon in nächster Zeit beginnen wird nicht nur uns, sondern die Arbeiterbewegung insgesamt zu unterdrücken. Warum? Sagen wir so: Weil die wirtschaftliche Situation die Regierung zwingt, Auswege zu suchen. Seit den Ereignissen vom 17. August 1998, als der Preis für die Arbeitskraft in Russland um das Dreifache sank, er schon dem Preis der Arbeitskraft in Afrika oder Asien vergleichbar wird, ist das Einzige, was der russischen Regierung noch für die Sanierung der Investitionen fehlt, die politische Stabilität. Der ausländische Investor hat Angst, dass er investiert und die Belegschaften gehen in Streik, sperren die Straßen, besetzen die Betriebe. Deshalb ließ Putin schon letztes Jahr erklären: Wer sperrt, der sitzt. Ebenso wird es demnächst heißen: Wer streikt, der fliegt. Und genau aus diesem Grunde hat es die Regierung so eilig mit dem neuen Arbeitsgesetz. Mit ihm sind dann die Aktionen, die jetzt noch legal sind, die Rechte, die jetzt noch eingeklagt werden können, einfach nicht mehr möglich. Das wird uns zu radikaleren Aktionen treiben. Die Herrschenden werden darauf mit Verhaftungen der Aktivisten antworten. Das ist alles nichts, was uns überrascht.“
… udiwitelno.“

Erzähler:
Die Aktivisten von „Saschita“ sind nicht die einzigen, die eine solche Entwicklung erwarten. Ihnen zur Seite steht eine ganze Anzahl radikaler Gruppierungen, die seit 1998 wie die Pilze aus dem Boden schießen. Aber auch die„Föderation freier Gewerkschaften“, obwohl auf sozialpartnerschaftlichem Schmusekurs mit der Regierung, befürchtet das Schlimmste. Auch sie weisen die Vorschläge der Regierung für ein neues Arbeitsgesetz als unannehmbar zurück. Oleg Neterebski, stellvertretender Präsident der Moskauer Sektion der „Freien Gewerkschaften“ erklärt unmissverständlich:

O-Ton 14: Oleg Neterebski, stellv. Präsident     1,01
der „Moskauer freien Gewerkschaften“
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„To tscho predlagaetsja…
„Dem, was die Regierung der russischen Föderation vorschlägt, stehen wir strikt ablehnend gegenüber, denn es beinhaltet folgendes: Erstens hat man die ganzen letzten Jahre von Reform geredet, jetzt will man die Sanierung der Lage in einer Art vornehmen, die den arbeitenden Menschen alle die Rechte nehmen soll, die ihnen in dieser Zeitspanne gegeben wurden und die Gewerkschaft aus dem Prozess ausschließen. Arbeitsverträge sollen ohne Zustimmung der Gewerkschaft abgeschlossen werden. Können wir uns damit einverstanden erklären? Natürlich nicht. Was beinhaltet die vorgeschlagene Variante?  Ich, Arbeitgeber, mache den Vertrag nur mit dem Arbeiter, also habe ich auch das Recht, den Menschen ohne Zustimmung der Gewerkschaft hinauszuwerfen. Das macht den Arbeitgeber schlicht zum Diktator.“
…diktatorje sdjes.“

Erzähler:
Nach dem Entwurf der Regierung für ein neues Arbeitsgesetz, kurz Kodex der Arbeit genannt, der den noch immer gültigen sowjetischen Kodex ablösen soll, darf der Unternehmer zukünftig selbst bestimmen, mit wem er verhandeln will. Er soll nicht mehr an ein Verhandlungsgebot mit den überbetrieblichen Gewerkschaften gebunden seien. Die weitgefassten Rechte des sowjetischen Kodex sollen eingeschränkt werden, so etwa der Mutterschutz, die betriebliche Krankenversicherung, soziale und kulturelle Versorgungsansprüche usw. Die Unternehmer sollen ermächtigt werden, schwarze Listen zu führen, in denen sie detaillierte Persönlichkeitsprofile bis hin zu sexuellen Gewohnheiten festhalten dürfen. Entscheidend aber ist die beabsichtigte Ausdehnung des Arbeitsstages auf zwölf Stunden. Die „Föderation freier Gewerkschaften“, insbesondere ihr Moskauer Verband, betrachtet diesen Entwurf der Regierung als gezielten Angriff gegen die Politik der Sozialpartnerschaft, der sie sich verpflichtet fühlt:

O-Ton 15: Neterebski, Forts.          0,50
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Prawokatije…
„Es ist eine Provokation – hier in Moskau haben wir heute vernünftige Regeln. Die Regierung weiß, dass sie die Gewerkschaften braucht und dass man sich lieber nicht mit ihr anlegt. Besser alles auf dem Wege der Absprachen regeln! Gut, es gibt Spannungen, bestimmte Bedingungen, die man einhalten muss – aber so erhält sich der soziale Friede! Wenn man jedoch immer nur die Schwerter kreuzen will, wie das der Entwurf der Regierung jetzt für Russland vorsieht, dann führt das zum Aufstand, heimlich oder offen, auf jeden Fall: Aufstand! Die Ziele, die man erreichen will, wird man so nicht erreichen, das zeigt die Geschichte. Anders läuft es nicht.“
… nje biwajet.“

Erzähler:
Alle gewerkschaftlichen Kräfte sind beunruhigt, Organisationen wie „Saschita“, weil sie Repressionen erwarten, die etablierten Funktionäre der „Föderation“, weil sie den sozialen Kompromiss in Frage gestellt sehen, den sie verfolgen. Aber nicht nur der Entwurf für den neuen Kodex ist Grund ihrer Unruhe. Die aktive Sozialpolitik der Regierung Putins beunruhigt sie ebenso, denn sie verfolgt das gleiche Ziel, wenn sie die gewerkschaftliche Verantwortung für die bisherige betrieblich getragene Sozialfürsorge durch ein System staatlicher Fonds ersetzen will. Wirtschaftsminister Hermann Gref verkündete es Anfang des Jahres in einem Grundsatzpapier, in einem Gesetz zur Sozial-Steuer wurde es von der Duma danach beschlossen: Ab sofort sollen die Sozialfonds für die medizinische, die soziale und die kulturelle Versorgung der Bevölkerung nicht mehr von den Betrieben direkt finanziert oder materiell unterhalten und von den Gewerkschaften als Mittler verwaltet werden; ab sofort soll jeder Mensch seine Sozialsteuern selbst von seinem Lohn an staatliche Sozialfonds abführen. Die Fonds sollen von Staatsbeamten verwaltet werden. Die Regierung verkauft das Gesetz als soziale Errungenschaft. Die Wirklichkeit sieht anders aus, meint Oleg Neterebski:

O-Ton 16: Neterebski, Forts.    0,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Byl dano obeschannije…
“Die Regierung hat versprochen, dass das Gesetz zu keiner Einschränkungen der sozialen Programme führen werde. Tatsächlich wurde schon jetzt die Finanzierung von Kindersportschulen liquidiert;  liquidiert wird die Ausgabe von Mitteln für die Erholung von Arbeitern und anderes mehr. Sie sagen das eine und tun das andere.“
…drogoje.“

Erzähler:
Hier müsse man klarstellen, so Oleg Neterebski ernst, was dem Ausländer nicht ohne weiteres verständlich sein könne: In der Sowjetunion wurde nur ein kleiner Teil der Arbeit in Geld entlohnt, andere, weitaus größere Teile der Arbeit wurden in Form der sozialen Fonds vergütet, aus denen die Menschen medizinische Versorgung für sich und die Familie, Urlaub, Kindergärten, Jugendlager usw. bis hin zum kostenfreien Begräbnis beziehen konnten – scheinbar kostenlos, betont Neterebski, aber eben nur scheinbar, denn diese Sozialfonds wurden ja vom Ertrag ihrer Arbeit aus dem Betriebsvermögen getragen. „So ein System hatten wir früher“ schließt Oleg Neterebski, „jetzt fällt das alles auseinander“:

O-Ton 17: Neterebski. Forts.    0,55
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„U nas faktitschiski…
„Nach der sowjetischen Zeit sind die Einkommen rasant gefallen, aber es blieben die sozialen Fonds, die der Mensch, wie arm auch immer, noch nutzen konnte. Durch die jetzige Entscheidung werden diese Fonds praktisch beseitigt, aber das Einkommen bleibt so niedrig wie zuvor. Wenn das wenige Geld, das wegen geringer Löhne in die staatlichen Fonds  kommt, auch noch für andere Dinge ausgegeben wird, etwa für die Bewältigung solcher Katastrophen wie des Unterganges der Kursk, des Brandes  im Moskauer Fernsehturm „Ostankino“ – so etwas haben wir mit dem Pensionsfond leider bereits erlebt – dann bedeutet das, dass diejenigen, die das Geld erarbeitet haben, es nicht mehr nutzen können. Das ist alles.“
… eta swjo.“

Erzähler:
Ob die etablierten Gewerkschaften der Sowjetunion, auch deren Nachfolger seit 1991, also die „Föderation der freien Gewerkschaften“, immer die uneigennützigsten Verwalter der Sozialfonds waren, darf mit Recht bezweifelt werden, nicht von ungefähr kommen solche Gruppierungen wie „Saschita“ auf, die den Bürokratismus und die Vetternwirtschaft der inzwischen schon wieder etablierten Gewerkschaft kritisieren.  Tatsache ist aber, dass die etablierten Gewerkschaften im Verein mit den Betriebsführungen bis heute die einzigen Garanten der sozialen Versorgung der Bevölkerung sind.
Die Verstaatlichung der Sozialfonds kann ihre Rolle nicht ersetzen, jedenfalls nicht durch einen Beschluss von heute auf morgen.
Boris Kagarlitzky, einer der scharfzüngigeren Analytiker der nachsowjetischen Generation, bringt diese Tatsache auf den einfachen Punkt:

O-Ton 18: Boris Kagarlitzky, Analytiker    1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W´prinzipje charoschaja idea…
„Im Prinzip ist eine einheitliche Sozial-Steuer ja eine gute Idee: Einheitliche Verwaltung, Möglichkeiten des Manövrierens mit den Mitteln, Möglichkeiten des Ausgleichs usw. Aber unter den praktischen Bedingungen ihrer Realisierung im heutigen Russland läuft das auf eine schlichte Liquidierung der sozialen Fonds durch den Staat hinaus. Man darf die Dinge ja nicht abstrakt anschauen, sondern muss sehen, was heute die russische Bürokratie ist. Ich würde die Idee der einheitlichen Sozial-Steuern ja unterschreiben – aber bei einer anderen herrschenden Macht. Heut muss man sagen: Solange es noch die Öl-Dollar gibt, wird es für Kanonen und Butter und auch noch zu viel Papier für die Bürokraten reichen. Bleiben die Öldollar aber aus, besteht die Wahl für Russland nicht einmal zwischen Kanonen und Butter, sondern zwischen Kanonen und Butter auf der einen und Bürokraten auf der anderen, denn die Bürokraten verschlingen mehr als die Militärs jemals können.“
…ne bila.“

Erzähler:
Dies alles wäre, täglicher Not der arbeitenden Bevölkerung zum Trotz, doch nur von begrenzter Bedeutung, wenn es allein um die aktuellen Verteilungskämpfe ginge, die in gehöriger Gründlichkeit, aber doch gemächlich über die nächsten Jahre ausgetragen werden könnten. Am Horizont werden jedoch Wolken sichtbar, welche die Übergangszeit des gegenwärtigen Putinschen Wunders erheblich verkürzen könnten. Der Öl-Preis ist nicht stabil. Wenn er stürzt, bricht auch der Puffer weg, der zur Zeit den sozialen Frieden erhält. Technische Katastrophen wie der Brand des Moskauer Fernsehturms „Ostankino“  im August 2000 oder der Untergang der Kursk im selben Monat lassen das Stichwort der „technogenen Katastrophe“ aufkommen, die eintreten könnte, wenn in die Modernisierung der industriellen Infrastruktur nicht schleunigst investiert wird. Deren Verfallsdatum wird von russischen Experten auf das Jahr 2004 datiert. Schließlich ist noch das allerwichtigste Problem Russlands, gewissermaßen seine Schicksalsfrage ungelöst: die Situation auf dem Lande. Hier, das musste selbst Ministerpräsident Kassjanow vor seinen Berliner Zuhörern einräumen, ist von Wachstum immer noch nicht die Rede und hier bestimmen Bartergeschäfte die Wirtschaft noch immer zu mindestens sechzig Prozent. Russland, heißt dies alles, ist nach der Zeit der schnellen Umverteilung des Volksvermögens nun in die Phase der inneren Polarisierung eingetreten. Wie diese verläuft und wie lange sie sich hinzieht, ist von Faktoren abhängig, die nicht zu kalkulieren sind. Das ist Wladimir Putins Chance und seine Bürde.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Bilder von der Wolga

Fünf autonome Republiken bilden hier eine nicht-slawische Insel im Herzen Russlands. Aufenthalte dort -in der Tschuwaschischen Republik, auch im benachbarten Tatarstan, Utmurtien, El Mari, Baschkirien – führen tief in die Vielvölkerrealität Russlands hinein. Die Völker sprechen ihre eigene Sprache und sind bedacht auf ihre kulturelle Identität als nicht-slawischer Bestandteil Russlands. Die stillen Dörfer entlang der Wolga gehören mit zu den touristischen Attraktionen Russlands.

Themenheft 6: Babuschkas Töchter

THEMENHEFT 6:
Babuschkas Töchter

Tondokumentationen zur Lage der Frauen in Russland

März 1999
Russlands Frauen – neue Kraft oder alte Rolle? S. 1

Oktober 2000
Überlebensgemeinschaften – Frauensache S. 15

Oktober 2000
Tanja, Marina, Rosa -Auf der Suche nach der neuen Frau S. 29

Juni 2001
Anatomie der russischen Seele S. 41

Babuschkas Töchter: Überlebensgemeinschaften – Frauensache

Russland ist in tiefem Wandel begriffen. Jahr für Jahr prognostizieren Statistiker den endgültigen Zusammenbruch des krisengeschüttelten Landes – Jahr für Jahr bleibt er aus. Wie ist das möglich? Eine Antwort bekommt man bei Russlands Frauen. Sie sind es, die den Alltag des Familienlebens in Gang halten. Die Männer, schlecht bezahlt, gar nicht bezahlt oder ganz auch arbeitslos, kommen mit der Situation, in der sie nicht mehr in der Lage sind, die Familie zu ernähren,  nicht zurecht, sie trinken, sie ziehen sich aus der Verantwortung zurück.
Frauen tragen aber nicht nur die Hauptlast der Krise, sie sehen sich auch generell als die Klügeren und die Stärkeren. Frauen, so argumentieren Frauen, hätten diese Fähigkeiten von Natur. Von Natur aus Mutter, seien sie in der heutigen Situation, in der die Männer schwach werden, genetisch prädestiniert, das Überleben des Volkes zu garantieren, indem sie das Überleben der Familien organisieren, Kultur und Bildung auf ihren Schultern tragen und sogar die patriotische Erziehung übernehmen. Vor diesem Hintergrund bekommen die Erkenntnisse jener Soziologen und Ökonomen Russlands ihre Bedeutung, welche die Frage, warum die russische Bevölkerung trotz langandauernder Krise bisher nicht hungert, neuerdings mit dem Hinweis auf den „informellen“ oder wie sie sagen „expolaren“ Charakter der russischen  Wirtschaft beantworten, den sie in der Symbiose zwischen Familienwirtschaft und wirtschaftlichen Großstrukturen sehen. Familienwirtschaft, das ist im Kern Frauenwirtschaft. Ob diese neuen Erkenntnisse der Soziologen die russische Regierung mehr überzeugen als die bisherigen Privatisierungsrezepte des Internationalen Währungsfonds, bleibt abzuwarten. Würden die Verantwortlichen in der Regierung auf sie hören, dann wären sie in der Lage, die mächtigste Kraft ihres Landes für eine Gesundung Russlands zu mobilisieren: Millionen Frauen, die am Wohl und der Entwicklung ihrer Kinder interessiert sind.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de/Bücher
In meinen Büchern finden Sie die Rolle der Frauen ausführlich dargestellt und analysiert
Russian Feminism
Bei Russian Feminism können Sie Organisationen, Konferenzen und Literatur abrufen.

Babuschkas Töchter
Überlebensgemeinschaften – Frauensache

Russland ist in tiefem Wandel begriffen. Jahr für Jahr prognostizieren Statistiker den endgültigen Zusammenbruch des krisengeschüttelten Landes – Jahr für Jahr bleibt er aus. Wie ist das möglich? Eine Antwort bekommt man bei Russlands Frauen. Sie sind es, die den Alltag des Familienlebens in Gang halten. Die Männer, schlecht bezahlt, gar nicht bezahlt oder ganz auch arbeitslos, kommen mit der Situation, in der sie nicht mehr in der Lage sind, die Familie zu ernähren,  nicht zurecht, sie trinken, sie ziehen sich aus der Verantwortung zurück.
Frauen tragen aber nicht nur die Hauptlast der Krise, sie sehen sich auch generell als die Klügeren und die Stärkeren. Frauen, so argumentieren Frauen, hätten diese Fähigkeiten von Natur. Von Natur aus Mutter, seien sie in der heutigen Situation, in der die Männer schwach werden, genetisch prädestiniert, das Überleben des Volkes zu garantieren, indem sie das Überleben der Familien organisieren, Kultur und Bildung auf ihren Schultern tragen und sogar die patriotische Erziehung übernehmen. Vor diesem Hintergrund bekommen die Erkenntnisse jener Soziologen und Ökonomen Russlands ihre Bedeutung, welche die Frage, warum die russische Bevölkerung trotz langandauernder Krise bisher nicht hungert, neuerdings mit dem Hinweis auf den „informellen“ oder wie sie sagen „expolaren“ Charakter der russischen  Wirtschaft beantworten, den sie in der Symbiose zwischen Familienwirtschaft und wirtschaftlichen Großstrukturen sehen. Familienwirtschaft, das ist im Kern Frauenwirtschaft. Ob diese neuen Erkenntnisse der Soziologen die russische Regierung mehr überzeugen als die bisherigen Privatisierungsrezepte des Internationalen Währungsfonds, bleibt abzuwarten. Würden die Verantwortlichen in der Regierung auf sie hören, dann wären sie in der Lage, die mächtigste Kraft ihres Landes für eine Gesundung Russlands zu mobilisieren: Millionen Frauen, die am Wohl und der Entwicklung ihrer Kinder interessiert sind.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de/Bücher
In meinen Büchern finden Sie die Rolle der Frauen ausführlich dargestellt und analysiert
Russian Feminism
Bei Russian Feminism können Sie Organisationen, Konferenzen und Literatur abrufen.

Babuschkas Töchter (Teil 1) Überlebensgemeinschaften – Frauensache

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzer, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Anfang und Ende der O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 1)
Überlebensgemeinschaften – Frauensache.

Vortext:
Russland ist in tiefem Wandel begriffen. Alte Strukturen lösen sich auf, neue sind noch nicht wieder entstanden. Eine Minderheit der Bevölkerung badet in neuem Reichtum, die Mehrheit kämpft um das tägliche Überleben. Jahr für Jahr prognostizieren Statistiker den endgültigen Zusammenbruch des krisengeschüttelten Landes – Jahr für Jahr bleibt er aus. Wie ist das möglich? Eine Antwort auf diese Frage bekommt man nicht aus den Statistiken, nicht von Ökonomen, auch nicht von der Regierung. Man bekommt sie bei Russlands Frauen.
Man bekommt sie von einer Frau wie Rita Gurjewa. Sie lebt in Tscheboksary an der Wolga. Eigentlich ist sie Puppenschauspielerin, vornehmlich für Kinder, an einer städtischen Bühne; zur Zeit ist sie beschäftigungslos, da die Stadt kein Geld hat. Ihr Mann ist ebenfalls arbeitslos. Die beiden Kinder, zehn und vierzehn Jahre alt, gehen zur Schule. Rita beschreibt ihren Alltag so:

O-Ton 1:         0,31
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Na srawnennije…
„Im Vergleich zum letzten Jahr ist es schlechter geworden; mit dem Geld war es besser, mit der Schule war besser. In diesem Jahr ist es sehr schlecht. Von meiner Arbeit bekomme ich so gut wie kein Geld. Das bisschen, das ich bekomme, reicht nicht einmal für die Miete. Wir leben nur von der Datscha.“
…na schot etawa.“

Erzähler:
Die Datscha – das sind fünfhundert Quadratmeter Land dreißig Kilometer außerhalb der Stadt, wo Rita im Frühjahr Kartoffeln, Kohl, Mohrrüben, Gurken und anderes gepflanzt hat, um die Familie durch den Winter zu bringen. Aber selbst für die Fahrt zur Datscha reicht das Geld oft nicht; nicht für den Bus und schon gar nicht für ein Auto. Da muss der Bruder helfen, die Schwägerin, die Großmutter; da helfen auch mal die ausländischen Gäste, die ein bisschen Geld ins Haus bringen. Bei solchen Gelegenheiten schleppt Rita – schwer bepackt mit Rucksack, Eimern und Taschen –  Kartoffeln, Wurzeln oder Gemüse gleich für mehrere Wochen mit in die Stadt. Einen Teil davon, gesteht sie verlegen, hat sie dieses Mal gleich auf dem Markt verkauft, um wenigstens etwas Bargeld zu haben:

O-Ton 2: Rita, Forts.         0,40
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Lachen, tschesna gawarja…
„Nun, ehrlich gesagt, ich muss Schulden abtragen. Aber es war natürlich peinlich. Verkaufen! Die Leute kennen einen ja. Hallo, guten Tag! Wie geht´s? Ach, Mohrrüben verkaufst Du? Eigentlich muss es nicht peinlich sein, es ist ja aus eigener Arbeit. Aber man hat doch seinen Beruf! Das ist schwer. Mir kamen sogar die Tränen. Aber dann habe ich mich zusammengenommen. So oder so ist es deine Arbeit, sagte ich mir, beruhige dich.“
…setim, Flüstern..“

Erzähler:
Kolja, Ritas Mann, ist kaum zu Hause. Rita kümmert sich um die Wohnung, die Kinder, die Datscha. Auch die Einquartierung der Gäste besorgt  sie. Wenn Kolja zu Hause ist, zieht er sich ins Schlafzimmer zurück. Sie ist Organisatorin, Ernährerin und Seele der Familie.
Wie Rita geht es vielen Frauen, deren Männer arbeitslos sind oder die so wenig verdienen, dass die Familien davon nicht leben können. Die Datscha, oft auch nur ein kleines Stückchen Land am Stadtrand, in den Dörfern der Hausgarten werden von ihnen bewirtschaftet. Oft sind es die Großmütter, welche die Gärten bearbeiten oder auch bei Wind und Wetter mit den Kleinkindern draußen wohnen. „Datschniki“ bearbeiten dreiviertel aller russischen Kartoffelanbauflächen; darauf werden 80% aller Kartoffeln geerntet. In speziellen Krisengebieten, etwa dem Kohlerevier Kussbass, das innerhalb weniger Jahre von einem der wohlhabendsten zum sozial schwächsten Gebiet Russlands wurde, ist die Ausnahme bereits zur Regel geworden. Gefragt, wie sich die Situation für die Frauen verändert habe, antwortet Natalja Dadom, Ehefrau eines Bergarbeiters, seit kurzem selbst auch beruflich tätig als regionale Beraterin in dem für Russland neuen Beruf des Polit-Consulting :

O-Ton 3: Natalja Dadom                                         0,59
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, abblenden

Übersetzerin:
„Ho! snajesch…
„Die Situation hier im Kemerowo Gebiet hat sich grundlegend verändert: Bergarbeiter – das war früher Vater und Ernährer. Heute bekommen die Ernährer noch nicht einmal den Lohn vom Vorjahr. Aber die Familie muss leben! Das Überleben lastet daher heute vollkommen auf den Frauen. Bei mir ist es, dank meines Mannes, ein bisschen anders gelaufen. Wir saßen auch ohne Geld, aber nie ohne Hoffnung. Dass wieder etwas kommt. Wolodja konnte Geld ranschaffen; er brachte Fleisch, brachte Lebensmittel, ich musste nie raus. Aber in meinem ganzen Bekanntenkreis tragen fast überall die Frauen die Last; sie sind alle verantwortlich für das Überleben der Familie, alle! Die Männer kommen mit der Situation nicht zurecht, sie trinken, sie laden die Verantwortung voll und ganz den Frauen auf.“
…na dschenschinu.“

Erzähler:
So stellt Natalja die Situation dar, als ihre zwölfjährige Tochter und ihr Mann zuhören; wenig später, ohne Tochter und ohne Mann, dafür in der Gesellschaft zweier Freundinnen aus dem nahen Nowosibirsk, die eine Ärztin, die andere Psychotherapeutin, auch sie verheiratet, auch sie Mütter, findet Natalja andere Worte. Nun könne sie freier sprechen, erklärt sie:

O-Ton 4: Natalja Dadom, Forts.                         1,32
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzung:
„Prosta ja…
„Ich sehe mich heute damit konfrontiert, dass die Frauen nicht nur für sich etwas tun, sondern auch noch die Männer stimulieren müssen. Zum Beispiel in meiner Familie musste ich ziemlich kämpfen, nun sagen wir nicht kämpfen, sondern geschickt manövrieren, meinen Mann irgendwie dahin zu bringen, endlich rauszugehen, um Geld zu verdienen. Es gab Augenblicke, wo es effektiv nichts zu essen gegeben hätte, wenn ich nicht losgezogen wäre, um etwas zu besorgen. Aber Geld ranzuschaffen, ist seine Sache, das habe ich ihm klar gemacht. Wenn er nicht ein Stück Fleisch in die Familie bringt, dann wird es kein Fleisch geben. Meine Freundinnen waren erst schockiert, als ich ihnen sagte, wie ich es mache, aber dann sahen sie auch, dass es so richtig ist, dass man den Mann erst auf den Weg bringen muss. Jungs werden heute nicht richtig für die Familie erzogen. Niemand zeigt ihnen, wie sich ein echter Mann in der Familie verhalten muss. Ich habe es in der Schule gesehen, wo ich gearbeitet habe, da gibt es viele Familien, in denen die Väter einfach nicht anwesend sind; für das Überleben der Familie ist allein die Mutter verantwortlich.“
…tolka matj.“

Erzähler
Befragt, was sie unter einem „echten Mann“ verstehe, antwortet sie:

O-Ton 5: Natalja Dadom, Forts.                           0,27
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, mnje kaschetsja…
„Nun, ich weiß ja nicht, wie die Familie  bei Ihnen aufgebaut ist, aber unser Leben wird sich noch lange darauf ausrichten, dass der Mann der Ernährer ist, obwohl es im Leben real genau umgekehrt ist.: Die Ernährerin ist die Frau.“
… skladewitsja padrugomom.“

Erzähler:
Herrschende patriarchale Ideologie und Realität klaffen auseinander. Daran lässt Natalja keinen Zweifel. Ihrer doppelten Redeweise, die für Mann und Tochter eine andere Realität beschreibt als im Kreis ihrer Freundinnen, ist sie sich voll bewusst. Sie begründet ihre Vorgehensweise mit den Verhältnissen, die ihr keine andere Wahl ließen:

O-Ton 6: Natalja Dadom, Fortsetzung                            0,37
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Vot eta situatia…
„Es ist so: Viele Männer stimmen im Prinzip zu, aber es gibt einige Spielregeln, gibt bestimmte soziale Rollen, die sind sehr scharf aufgeteilt. Wenn Du diese Regeln verletzt, dann wirst du bestraft und zwar sehr brutal. Wenn ich in der männlichen Welt, in der ich mich seit kurzem bewege, mein weibliches Wesen einbringen will, dann geht das nicht, dann wird man dafür sehr schmerzhaft geprügelt: Entweder du spielt nach deren Regeln oder du spielst überhaupt nicht!“
… wa-absche.“

Erzähler:
Die beiden Freundinnen Nataljas stimmen ihren Ausführungen vorbehaltlos zu. „Im Grunde schleppen wir die Männer mit durch“, meint die Ärztin, „wenn ich könnte, würde ich mich heute sofort scheiden lassen.“ „Wenn du dem eigenen Mann solche Dinge sagst“, ergänzt die Psychologin, „beginnt ein offener Krieg. Und Krieg“, setzt sie kühl hinzu, „endet üblicherweise mit Mord.“ Das könne doch niemand wollen.
Natalja schließt diesen Disput über die richtige Taktik mit den Worten:

O-Ton 7: Natalja Dadom, Fortsetzung                                0,47
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzerin:
„Ty snaesch…
„Mir scheint, dies ist nicht der Weg der Schwäche, es ist der Weg der Selbsterhaltung, der Versuch, die Familie zu bewahren. Man kann ja über alles mögliche reden, Freiheit, überhaupt demokratisches Leben, aber man muss auch die Situation von großen und kleinen Städten berücksichtigen. Und wenn es in Großstädten normal sein mag, geschieden, allein zu leben, so ist das in der Atmosphäre einer kleinen Stadt sehr unangenehm. Da ist es besser, die Familie zu erhalten. Das Kind kann man nicht allein lassen. Man muss eben für viele Dinge bezahlen. So ist das.“
…486 …nada platitj.“

Erzähler:
Frauen tragen nicht nur die Hauptlast der Krise, sie sind auch stärker und klüger als die Männer, das kann man von vielen russischen Frauen heute hören. Selbst in Perm, einer Gegend Russlands kurz vor dem Ural, wo sonst viele Uhren langsamer laufen als an der weltoffenen Wolga oder in im krisengeschüttelten Kussbass, sind solche Ansichten durchaus Standard. Und nicht nur das, in Perm, kann man auch Begründungen hören, warum das so ist: Galina Britwina, Leiterin eines städtischen Kulturhauses, die sich mit anderen Permer Frauen zur aktiven Bewahrung russischer Kultur zusammengeschlossen hat, eröffnet ihren Besuchern sanft, aber bestimmt:

O-Ton 8: Galina Britwina                  0,47
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„We dannije situatije…
„Nun in der gegebenen Situation haben sich die Grauen gewissermaßen ermannt, sind reifer geworden. Sie haben die Männer auf den zweiten Platz verwiesen: Sie zeigten sich in moralischer Hinsicht als die Stärkeren, sie haben den stärkeren Willen, sie sind überlebensfähiger als die Männer. Das sage ich nicht als Theoretikerin, sondern als Praktikerin. Aus der Beobachtung unter Nächsten, Verwandten und Bekannten ergibt sich für mich so ein Bild, dass das zukünftige Russland ein Land der Frauen sein wird.“
…Mnje kaschetsja.“

Erzähler:
Die russischen Männer seien ebenfalls stark und auch klug, versichert Frau Britwina in dem Bemühen, Russland nicht in schlechtem Lichte erscheinen zu lassen; Jedoch, schränkt sie dann vorsichtig ein, fehle ihnen die Weisheit der Frauen. Unter Weisheit versteht Frau Britwina:

O-Ton 9: Galina Britwina, Forts.                               0,33
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Eta, vidit nemnoschitschka…
„Ein kleines bisschen weiter zu sehen, in der Schachsprache ausgedrückt, um einige Züge weiter, in der Sprache des Lebens, um einige Jahre weiter: Nach vorne schauen in die Zukunft, Situationen vorhersehen und Auswege finden, wenn die Situation schwierig wird. Wenn es kritisch, wenn es schwierig wird, leichtere Wege finden.“
…bolje lochki.“

Erzähler:
Frauen, so die Kulturorganisatorin, hätten diese Fähigkeiten von Natur. Damit, findet sie, sei doch eigentlich alles gesagt. Eine ältere Mitarbeiterin des Kulturhauses, Maya, die in das Gespräch hineinplatzt, ist nicht so zurückhaltend. Heftig auf das Mikrofon eindrängend, führt sie Frau Britwinas Gedanken fort:

O-Ton 10: Maya                                    0,29
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„Jenschina at priroda…
„Hören Sie! Die Frau ist von Natur aus Mutter. Schon in ihren Genen liegt der Zug zum Bewahren, Leben zu stiften, Kinder zu behüten, das Volk fortzupflanzen. Das ist ein genetischer Code. In der heutigen Situation, in der die Männer schwach werden, hütet die Frau diesen Code und strebt nach Verwirklichung ihrer Funktion. Das ist Natur.“
… eta priroda.“

Erzähler:
„Sehen Sie doch die politische Situatuion!“ fährt Maya fort. Die Männer hätten faktisch die führende Rolle verloren. Das kein offener Kampf,  aber:

O-Ton 11: Maya, Forts.                                0,26
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
„No dschenschina…
„Die Frauen sind stärker: Unter den Intellektuellen, in der Medizin, in den Wissenschaften, Ökonominnen, Ingenieurinnen, fast in allen Berufen haben sie starke Positionen und als Politikerinnen sind sie weiser, weil sie menschlicheren Bezüge zum Leben haben, weil sie voraussehen. Das ist angelegt: schützen, bewahren.“
… uberetsch.“

Erzähler:
Nach dieser flammenden Parteinahme für die Überlegenheit der Frau, wie Maya sie versteht, lässt auch Frau Britwina ihre Zurückhaltung etwas fallen und schließt das Gespräch einem Scherz. Natürlich sei das nur ein Witz, lacht sie, aber im Prinzip stimme sie dem schon zu:

O-Ton 12: Galina Britwina, Forts.         0,17
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:
Lachen, „Eta schutka…
„Unsere Männer stammen vom Affen ab. Die Frauen aber kommen aus dem Kosmos. Sie wurden von Gott erschaffen. Deshalb sind die Frauen bei uns so.“
…takije.“

Erzähler:
Bei Frau Subotta, Dichterin und Gründungsmitglied einer „Partei der russischen Ethik“ wird das, was Frau Britwina noch als Scherz relativiert, zum patriotischen Ernst. Nach Ansicht der Dichterin stellen sich im aktuellen Überlebenskampf der russischen Bevölkerung jene traditionellen Beziehungen von Männern und Frauen wieder her, die Russland als Imperium hätten groß werden lassen. In Russland sei immer der Mann verehrt worden, erklärt sie, aber nicht alles sei so, wie es scheine. Das Geheimnis der russischen Seele liege in dem Satz:

O-Ton 13: Dichterin Subotta                                       0,35
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen,  nach dem Spruch bei „povernjot“ vorübergehend hochziehen, danach abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
„Muschina galawa…
„Der Mann ist das Haupt, die Frau ist der Hals, wohin der Hals will, dahin beugt sich der Kopf.“
…povernjot.“

Erzähler:
„Es ist bei uns nicht möglich, dass der Mann nicht das Haupt ist“, fährt sie fort. „Wenn die Frau sich in der Familie zum Haupt macht, dann wird es dort kein Glück geben, niemals. Die Frau unterwirft sich dem Mann, sexuell, im Alltag, in der Erziehung der Kinder; sie sagt, `Papa hat Recht´, aber sie sagt es so fein und so weise, dass Papa genau das tut, was nötig ist.“
…kak nada.“

Erzähler:
Die Überzeugung von der weiblichen Fähigkeit das Überleben zu organisieren nimmt bei Frau Subotta, einen militanten Charakter an:

O-Ton 14: Dichterin Subotta, Forts.                            0,60
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Erzähler:
„At towo schto…
„Weil es für die Frauen immer sehr schwer war in Russland, wurden sie stark. Sie hatten das Sagen in Haus und Hof. Aber auch die Erziehung der Jungs zu Männern hängt damit zusammen. Es war immer so, dass der Junge irgendwann aus dem Haus musste und Blut vergießen würde, um die Familien, das Land zu schützen. Die Frauen mussten die Jungs darauf vorbereiten und selbst Haus und Hof  halten, wenn die Männer fort waren oder ganz auch ganz fort blieben, weil sie fielen. Heut ist es wieder so: Ohne kriegerische Fähigkeiten, ohne Erziehung zum Patriotismus kann Russland nicht existieren. Dieses riesige Territorium zieht immer andere an, die nicht genug Land haben. Deshalb wird es immer Blutvergießen geben. Deshalb müssen unsere Jungens kriegerischen Geist haben.
…dolschen bit boizowski duch, tak.“

Erzähler:
Von der bloßen Organisation des Alltags,  über die Bewahrung der Kultur bis zur Stärkung des Patriotismus reicht die Skala der Aktivitäten, in denen sich die Frauen Russlands heute als die Kraft erweisen, welche das Überleben der Bevölkerung trägt. Man muss nicht die politischen Ansichten einer Frau Subotta teilen, die den Frauen die Erziehung zum Patriotismus zuweist, man muss nicht den Kulturorganisatorinnen Perms zustimmen, welche die Frauen zu alleinigen Trägern des Lebens erklären, man muss auch die Datschengärten nicht zum alleinigen Überlebensgrund hochstilisieren, man muss nur erkennen, dass in allen drei Elementen eines als gemeinsamer Kern steckt: die Familie und in ihr die Frau als die Kraft, welche die Familie zusammenhält.
Vor diesem Hintergrund bekommen die Erkenntnisse jener Soziologen und Ökonomen Russlands ihre Bedeutung, welche die Frage, warum die russische Bevölkerung trotz langandauernder Krise bisher nicht hungert, neuerdings mit dem Hinweis auf den „informellen“ oder wie sie sagen „expolaren“ Charakter der russischen  Wirtschaft beantworten und die Regierung auffordern, diese Elemente zu stärken:

O-Ton 15: Dr. Nikulin, Ökonom                    0,52
Regie: Ton kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:
„Nasche isledowannije…
„Unsere Untersuchungen zeigen, dass in der Realität Russlands im ländlichen Bereich eine Symbiose zwischen kleinen und Großen Betrieben besteht. Es gibt ein gewisses Konglomerat aus Familienwirtschaft und Großbetrieb. Und ich denke, dass der Hauptweg der Entwicklung im agrarischen  Bereich die innere Reorganisation der Symbiose zwischen Keinem und Großem ist. Erfolgreich arbeiten eben diese Betriebe, die sich bemühen, eine solche Symbiose zu entwickeln. Es ist die organische Symbiose zwischen Familie und Betrieb, auch wenn das sehr schwierig ist.“
…chtja otschen trudna.“

Erzähler:
Ob diese neuen Erkenntnisse der Soziologen die russische Regierung mehr überzeugen als die bisherigen Privatisierungsrezepte des Internationalen Währungsfonds, bleibt abzuwarten. Würden die Verantwortlichen in der Regierung auf sie hören, dann wären sie in der Lage, die mächtigste Kraft ihres Landes für eine Gesundung des Landes zu mobilisieren: Millionen Frauen, die am Wohl und der Entwicklung ihrer Kinder und der Erhaltung ihrer Familie interessiert sind.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2) Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Falls Kürzung notwendig, dann O-Ton 3 einschließlich Vortext ab: „Dass dies kein Einzelfall ist…“ fünf Zeilen über O-Ton 3. Weiter dann mit: „Die Tür sollen die Jungs…“)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2)
Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Russlands Krise ist nicht nur eine Krise der Wirtschaft. Perestroika hat auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Bewegung gebracht. Die traditionelle Pyramide patriarchaler Vorherrschaft ist erschüttert, zeigt Risse und bröckelt. Aus ihr geht eine neue Generation von Frauen hervor. Wie ist ihr Selbstverständnis? Wohin wenden sie sich?
Kai Ehlers berichtet über Gespräche mit russischen Frauen.

O-Ton 1: Junge Mädchen in Belowo                                    0,50
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, Lachen
Auf dem Paradeplatz von Belowo. Der Tag der Veteranen ist angekündigt. Auf offener Bühne übt die Band. Drei junge Mädchen warten auf einer Bank. Schülerinnen der Abschlussklasse. Gut gehe es ihnen, lachen sie. Sie freuen sich auf das Fest. Probleme? Ja, natürlich. Kein Geld für das Studium, Unsicherheit, ob sie die Arbeit finden, die sie sich wünschen. Psychologie wollen sie studieren. Aber irgendwie werden sie es schon schaffen. Die Menschen brauchen Hilfe finden sie.
… rasbiratsja schisn.“ Musik

Erzähler:
Was sie über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen denken?

O-Ton 2: Mädchen, Forts.                                0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, „Ismenilas…
„Haben sich geändert!“, sagt das Mädchen. “Sind schlechter geworden, Drogen, Alkohol, viele junge Leute sind daran schon gestorben.“ Das sage sie aus eigener Erfahrung, betont sie und als Beobachterin. Zum Umgang von Männern und Frauen miteinander meint sie: „Nun, die Beziehung zwischen Männern und Frauen hat immer von der Frau selbst abgehangen. Wie die Frau sich verhält, so ist die Beziehung des Mannes zu ihr. Darauf hat die Zeit keinen Einfluss, scheint mir.“
…mnje kaschetsja.“, Musik

Erzähler:
Die Freundinnen stimmen zu. Ein fragloses Selbstbewusstsein geht von den drei jungen Frauen aus. Männer sind so, wie sie es zulassen! Das ist der Geist, in dem sie aufgewachsen sind.
Dass dies kein Einzelfall ist, macht ein anderes junges Mädchen klar, das in der Kohle- und Krisenstadt Andschero-Sudschinsk zusammen mit ihrer Mutter den Vater zur Anti-Alkohol-Therapie begleitet. Auf die Frage, ob sie Probleme mit Jungen habe, antwortet sie, obwohl selbst eher unscheinbar und schüchtern, doch unmissverständlich:

O-Ton 3: Junges Mädchen in Andschero-Sudschinsk                 0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nje snaju, mnje…
„Ich weiß nicht. Für mich ist mit Jungs immer alles normal. Wir sind eigentlich immer gleichberechtigt. Aber es gibt natürlich so Jungs, die Mädchen nicht achten, weil sie sich selbst nicht achten, nicht wissen, wie man sich als echter Junge verhalten muss. Und es gibt Mädchen, welche die Jungs nicht achten. Ein Junge sollte ein Junge sein, er soll stark sein, sich nicht schwach zeigen. Mädchen müssen sich ihres Wertes bewusst sein, Stolz zeigen, sich nicht herumtreiben mit Jungs, sich ein bisschen höher stellen als sie.“
…sebja vesti.“

Erzähler:
Die Tür sollen die Jungs aufhalten, ihr in die Jacke helfen und sie einladen. Gleichberechtigt wollen die jungen Mädchen sein, zugleich aber als besonders wertvoll geachtet und sogar „höhergestellt“. Das ist durchgängige Haltung in kleinen und mittleren Städten der russischen Regionen und auf dem Lande, der in Russland etwas abfällig so genannten Provinz. In Moskau, in St. Petersburg und anderen größeren Städten stellen die jungen Frauen andere Ansprüche. Hören wir Marina, waschechte Moskauerin. Sie ist achtzehn, in der Ausbildung als Buchhalterin, wohnt noch bei ihren Eltern, ist nie im Süden oder im Osten Russlands gewesen. Gefragt, ob sie heiraten wolle, antwortet sie:

O-Ton 4: Marina, Moskau                                      0,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje chatschu…
„Nein, ich weiss nicht. Jetzt will ich nicht. Ich will erst einmal meine eigenen Ziele erreichen, kann sein danach.“
…moschit bit patom.“

Erzähler:
Einen Freund hat Marina selbstverständlich; es ist keineswegs platonische Liebe. Aber heiraten? Eine gute Ehefrau werden, wie das heute in den Regionen noch üblich ist? Nein, das entscheidet jeder Mensch für sich selbst, findet sie. Zu die Ansichten ihrer Altersgenossinnen in der Region meint sie:

O-To 5: Marina, Forts.             0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu snaetje, tam..
„Wissen Sie, dort herrschen bis heute sehr starke und alte Traditionen, wie es von Jahrhundert zu Jahrhundert bei diesen Völkern war: dass die Frau in einem bestimmten Alter unbedingt heiraten muss. Sie muss arbeiten, sie soll den Mann versorgen. Ich bin dagegen, ich unterstütze diese Ansicht nicht. Ich denke nicht, dass das so sein muss. Wenn ich irgendwann Familie haben sollte, und das sollte sein, dann wird es aber nicht so sein, dass ich alles für meinen Mann mache und er nichts tut.  Im Prinzip habe ich alles gelernt, ich kann das Haus machen, ich kann kochen, ich kann das alles, aber ich denke nicht, dass das reine weibliche Aufgaben sind. Schließlich hat der Mann auch Hände. Er kann auch etwas tun.“
…eta djelatj.“

Erzähler:
Alle ihre Freundinnen, erklärt Marina, dächten so wie sie. Es sei eine Frage der Generation. Nicht selten habe sie deswegen auch Differenzen mit ihrer Mutter:

O-Ton 6: Marina Forts.                   0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja nemnoga padrugomom…
„Ich betrachte das Leben ein bisschen anders, ein wenig einfacher in jeder Beziehung. Meine Mutter sieht das Leben auch so, dass die Frau alles machen muss und der Mann nichts – nun, vielleicht nicht ganz so, aber fast so. Mir geht so eine Ansicht ab. Ich sehe das anders. Unterschiedlich sehen wir auch den Umgang von Männern und Frauen miteinander, dass eine Frau erst dann mit einem Mann leben darf, wenn sie verheiratet sind. Ich sehe das nicht so. Und so gibt es viele unterschiedliche Sichtweisen in solchen Lebensdingen. Ich sehe es so, dass ich tue, was ich will. Es ist mein Leben und niemand hat das Recht mir irgendetwas zu verbieten. Ich bin  ja schließlich in dem Alter, dass ich selbst mit meinem Leben klarkomme.“
…raspreschatsja schisnju.“

Erzähler:
„Alle meine Freundinnen sehen das so“ schließt sie. Das Einzige, was Marina stört, ist ihre materielle Abhängigkeit von den Eltern, die besteht, weil sie noch keine eigene Arbeit gefunden hat. Sie bemühe sich aber, so Marina, dies noch während der Ausbildungszeit zu ändern. Nur wenige Monate nach diesem Gespräch hat Marina  tatsächlich eine eigene Arbeit gefunden, der sie neben ihrer Ausbildung im Institut für Wirtschaftswissenschaften nachgeht.
Ganz anders die Generation der Frauen, die bei Einsetzen der Perestroika bereits junge Frauen waren und nun bereits Mütter sind.  Sie fühlen sich zwischen Tradition und neue Zeit hin und her gerissen.
Katharina Selesnjowa etwa ist Telejournalsitin in Nowosibirsk. Gereizt weist sie die Frage nach einer „moralischen Wende“ zurück, die mit der Perestroika eingetreten sei:

O-Ton 7: Katharina Selesnjowa, Telejournalistin        0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wy imejete vidu…
„Sie meinen die amoralische Wende, den A-Moralismus. Die Menschen überprüfen ihre Wertvorstellungen, der patriarchale Aufbau der Familie, die Beziehung zwischen Männern und Frauen, gut und schlecht, die alten sowjetischen Muster, das ist alles nicht mehr aktuell. Aber neue Moral-Kodexe können erstens nicht zusammen mit den Nahrungsmitteln aus dem Westen werden, und auch hier lassen sie sich nicht allzu schnell herstellen.“
…slischkom bystra.“

Erzähler:
Es sind bittere Betrachtungen, die Frau Selesnjowa über die Veränderungen anstellt, die sie im Zuge der Perestroika erleben musste:

O-Ton 8: Frau Selesnjowa Forts.            1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, viditje li…
„Nun, sehen Sie, mir scheint, wie ich es nach meiner Familie beurteilen kann, dass es gewisse hergebrachten Strukturen gab, die sich vor allem auf die Frauen stützten. In den letzten siebzig Jahren trug die Frau die Verantwortung für ihre Kinder, für ihre Familie und sie glaubte, das sei das Wichtigste. Sie glaubte, dass man dafür alles opfern könne, das eigene Leben, das eigene materielle Versorgung, sogar sein Äußeres, buchstäblich alles, um nur die Kinder aufzubringen. Mir scheint, die höchste Vorstellung unseres Volkes in den letzten siebzig Jahren war, den Kindern Leben zu geben. Wenn wir auch leiden, so werden doch unsere Kinder besser leben! So dachte unsere Gesellschaft. Nun sind wir aber in einer Periode angekommen, in der klar wird, dass das nicht aktuell ist, dass die Kinder nicht besser leben werden. Auf jeden Fall wird durch unser Opfer nichts besser. Und ich habe deswegen zu nichts weniger Lust, als mich zum Opfer dieser jetzigen Gesellschaft zu machen.“
…schertwa saboi.“

Erzähler:
Sie sei ein `Paraschenits´, ein Nichtsnutz, ein Aussteiger, fasst Frau Selesnjowa die Konsequenzen zusammen, die sie für sich selbst aus der Entwicklung zieht. Sie sei nicht mehr bereit, mich für den Staat zu opfern.  Die Desillusionierung Frau Selesnjowas trägt epochale Züge. Frauen waren immer die Lastesel der Gesellschaft, zürnt sie, sie brauchen ein neues Bewusstsein. Frau Selesnjowas eigene Vision, was aus der Krise der patriarchalen Pyramide folgen solle, verhakt sich jedoch im Niemandsraum zwischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen und  Befangenheit in der  traditionellen Rolle weiblicher Opferbereitschaft:

O-Ton 9: Frau Selesnjowa, Forts.                    1,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Da paschalu…
“Bitte, heut steht ja praktisch die ganze Welt unter männlicher Herrschaft. Aber wissen Sie, was ich denke? Im Grunde würde ich nicht wollen, dass wir zu einer Welt der Frauenherrschaft übergingen. Ich denke oft daran dass es ein Matriarchat gegeben hat, hin und wieder stelle ich mir vor, dass ich die Männer beherrschen könnte wie seinerzeit Medäa. Im Grunde können Frauen die Männer sehr wohl beherrschen. Ich denke sogar, wenn zwei Armeen miteinander kämpfen würden, eine männliche und eine weibliche, dann würde selbstverständlich die weibliche siegen, weil die Frauen nicht saufen würden, weil sie gute Disziplin hätten. Für mich ist es keine Frage, welches Geschlecht stärker ist: Letztlich sind diejenigen stärker, die überleben; es überleben aber die Frauen. Das ist vermutlich so, weil wir psychologisch stärker sind. Deshalb hat Gott wohl der Frau das Kinderkriegen auferlegt, damit sie ihre Kraft noch an das Kind weitergibt, wahrscheinlich so. Aber sollen die Männer doch die Machtspielchen spielen, die noch übriggeblieben sind, nur muss das alles irgendwie geregelt werden, damit es mehr oder weniger zivilisiert abläuft. Mag meinetwegen der Planet der Männer bleiben, wenn nur ein gemütlicher Ort für die Frauen gibt.“
…glja dschjenschina.“

Erzähler:
Ganz anders Tanja. Auch sie gehört zur Generation der Frauen, welche Perestroika als junges Mädchen erlebten. Tanja lebt als Krankengymnastin in Borodino, einem der Kohlestädte Sibiriens. Sie ist unverheiratet; seit kurzem ist sie auch alleinerziehende Mutter eines Töchterchens.
Frauen wie Tanja sind gegenwärtig selten in Russland:

O-Ton 10: Tanja             0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Menja nasiwajet…
„Man nennt mich eine Heldin. Heute leisten sich sogar vollständige Familien keine Kinder. Aber eine alleinstehende Frau, das ist unglaublich, außergewöhnlich, das wird belächelt.“
…smeliwajetsja na eta.“

Erzähler:
Kinder sind heute in Russland eine Belastung. Die Sterberate übersteigt daher die der Geburten. Exakte Zahlen dazu gibt es nicht; zu groß sind Flucht- und Wanderungsbewegungen, die seit der Auflösung der Sowjetunion das Land überfluten. Schon lange aber macht das böse Wort vom „aussterbenden Volk“ die Runde. Besonders die patriotische Presse geht gern mit diesem Slogan hausieren. Tanja hat Geld für die Geburtshilfe in der Klinik bekommen, darüber hinaus bezieht sie ein minimales Kindergeld, das drei Jahre lang gezahlt wird; so lange wird ihr auch der Arbeitsplatz freigehalten. „Das klingt gut“, lacht Tanja, „aber von diesen Geldern kann ich nicht einmal die Windeln bezahlen. Ich muss also irgendwie arbeiten.“ Dass sie es dennoch schafft, hat sie allein ihren Eltern zu verdanken, die ihre Tochter mit Geld unterstützen und das Kind übernehmen, während sie außer Haus ist.
Aber die finanzielle Seite ist nur ein Grund dafür, dass Tanja arbeitet. Im Bus unterwegs zu einer ihrer ambulanten Einsätze erklärt sie den anderen:

O-Ton 11: Tanja, Forts.             0,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Schtobi nje…
„Um nicht zu versauern, nicht immer nur: Kochtopf denken zu müssen.
…kastrjule.“ Lachen

Erzähler:
Das sei wichtig für den Kopf, für das Herz und für das Kind, lacht sie. Sie möchte auf keinen Fall immer am Kochtopf stehen. Generell aber sieht sie es anders, generell hält Tanja es für eine gute Sache, dass Frauen sich heute wieder mehr um ihre Kinder und um ihre Familie kümmern können:

O-Ton 12: Tanja, Forts.            0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschitaju eta…
„Ich denke, das ist gut. Für die Frauen, die das wollen, ist es richtig; sie sollten das bekommen. Ich denke, das wäre nützlich. Es würde mehr nach den Kindern gesehen; es gäbe weniger verwahrloste Kinder. Ich beobachte oft Kinder in unserem Hof, die noch nach um zwölf vor den Türen sitzen. Sie spielen da im Dreck, niemand kümmert sich um sie, sogar sehr kleine. Mama muss kochen, waschen usw., dann morgen früh zur Arbeit.; sie hat einfach keine Zeit, selbst wenn sie möchte. Wenn diese Mama in die Küche will, dann ist das einfach phantastisch, denke ich.“
…sameltschatelno.“

Erzähler:
Alleinerziehende Mutter zu sein, die arbeitet und gleichzeitig für eine heile Familie zu plädieren, mit dieser widersprüchlichen Haltung, steht Tanja ihrer scheinbaren Selbstständigkeit zum Trotz in derselben Zerrissenheit wie ihre verheiratete Altersgenossin aus Nowosibirsk, die es ablehnt, sich als Mutter zu opfern, die aber im selben Atemzug allein den Frauen die Fähigkeit zuspricht, das Überleben der Kinder zu sichern.
Frei von solchen Zweifeln, erst recht von dem aufrührerischen Geist solcher junger Frauen wie der Moskauerin Marina sind jene Frauen, die als Großmütter, Babuschka, hinter dieser mittleren Generation junger Mütter stehen. Sie sind es oft, welche die Familien zusammenhalten. Sie kümmern sich um die Kinder, wenn die Eltern arbeiten. Wohl der jungen Mutter, ob verheiratet oder nicht, die eine solche Großmutter hat. Darüber gibt es in Russland keine zwei Meinungen.
Eine solche Babuschka ist Rosa Schewlewi, pensionierte Lehrerin, Schriftstellerin, Schriftführerin im tschuwaschischen Kulturzentrum, einer Organisation für ethnische Gleichberechtigung, in Tscheboksary an der Wolga. Gebeten sich selbst vorzustellen, beginnt sie:

O-Ton 13. Rosa Schewlewi                              1,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja Rosa…
„Ich bin Rosa. Als Erstes bin ich wohl, wie jede Frau, Mutter. Ich glaube, dass die Natur die Frau zuallererst dafür bestimmt hat, dass sie Mutter ist. Ich jedenfalls verstehe das so. Ich bin Mutter dreier Kinder, zweier Töchter und eines Sohnes, jetzt bin ich Babuschka für vier Enkel. Ich hoffe, dass es noch mehr werden. Das ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Das macht mir sehr große Freude. Weiter: Sehr wichtig ist es, dass der Mensch einen Beruf hat, der er liebt. Darüber hinaus, dass ich Frau, dass ich Mutter, dass ich Babuschka bin, will ich mein Wohlbefinden nicht nur aus dem Zusammensein mit der Familie ziehen, ich will auch in der Gesellschaft Mensch sein, vor allem durch meinen Beruf. Der Beruf, den ich gewählt habe, ist Lehrerin. Ich liebe ihn bis heute, obwohl ich inzwischen pensioniert bin. Jetzt beschäftige ich mich mehr mit Künstlerischem. Ich denke, dass Frauen von Natur aus sehr talentiert sind, aber das Elend ist, dass Männer mehr Möglichkeiten haben, sich mit Künstlerischem zu beschäftigen. Sie sind freier als Frauen. Dafür kann man die Männer wohl sogar beneiden.“
…nawerna muschini.“

Erzähler:
Hier schimmert auch bei Babuschka Schewlewi die Unzufriedenheit mit ihrer Rolle durch. Dass sie jetzt endlich dazu kommt, sich ihrer Schriftstellerei zu widmen, gibt ihr große Genugtuung. Endlich! Das ganze Leben lang habe sie sich immer nur kümmern müssen, um den Mann, um die Kinder. Aber weil sie aus eigenem Erleben wisse, wie schwer es für die jungen Mütter sei, helfe sie ihnen mit den Kindern.
Die generelle Rolle der Babuschka definiert sie so:

O-Ton 14: Rosa, Forts.             0,05
Regie: O-Ton ganz stehen lassen

Übersetzerin:
„Eta sami dobri tschelowjek na swetje“…lachen
„Das ist der allerbeste Mensch auf der Welt.“

Erzähler:
Babuschka ist wie der Fels in der Brandung der neuen Zeit. Babuschka verkörpert die Erinnerung an das, was früher war. Sie vermittelt die traditionellen Werte. Oft ist sie aber auch, fügt Rosa hinzu, der ärmste Mensch im heutigen Russland: .

O-Ton 15: Rosa, Forts.                                          0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Pensi miserni…
„Die Renten sind elend bei dem meisten; von diesen Renten können sie nicht leben. Darüber hinaus versuchen die meisten Alten von diesen Pensionen auch noch ihren Kindern zu helfen, die arbeitslos sind. Und so kommt es, dass viele auch auf den Strassen stehen, um irgendetwas zu verkaufen. Einen anderen Ausweg sehen sie nicht.“
…nje widjat.”

Erzähler:
„Schauen Sie mich an“, sagt Rosa, „ich bin eine arbeitende Babuschka“ und doch habe ich nicht das Geld, meinen Enkeln mal etwas zu schenken. Das einzige, was ich geben kann, ist meine Liebe.
So ist auch die Rolle der Babuschka nicht widerspruchsfrei. Einerseits brauchen die jungen Frauen mehr denn je die Unterstützung der Großmütter, andererseits brauchen viele der Großmütter selbst dringend Hilfe. Letztlich bedeutet dies alles, was Marina, Tanja und Rosa repräsentieren, dass Russlands Frauen durch die Krise der patriarchalen Ordnung in die komplizierte Situation gekommen sind, einerseits mehr Freiheiten zu haben, andererseits weniger materielle Möglichkeiten, diese Freiheiten zu nutzen. Für die einzelne Frau ist es  eine Frage der persönlichen Entscheidung, welcher Seite sie mehr Bedeutung beimisst; aufs Ganze gesehen ist die Entwicklung offen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de