Autor: Kai

Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.
Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de

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Der Fall YUKOS/Chodorkowski:

Das Verfahren gegen den russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski ist zentraler Ausdruck einer strategischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Staatsmacht und dem privaten Kapital, das sich im Zuge der Privatisierung in Russland herausgebildet hat. Es ging um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40% das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen. Mit dem Vorgehen gegen Chodorkowski wurden die Auswüchse der russischen Privatisierung exemplarisch zurück geschnitten und die Verfügungsgewalt des Staates über die Ressourcen des Landes wiederhergestellt. Das war erklärte Politik Wladimir Putins, die sich in der Person des von den USA unterstützten Chodorkowski zugleich gegen den globalen Hegemonialanspruch und die daraus folgende Interventionspolitik der USA wandte. Mit der Auflösung des Konzerns und der Verurteilung des ehemaligen YUKOS-Chefs hat Putin dieses Ziel vorläufig erreicht. Gut 70% der russischen Bevölkerung waren laut Umfragen damit einverstanden. Nach dem Ende des Prozesses beginnt nunmehr eine neue Runde der Auseinandersetzungen

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Wie alles anfing: Chodorkowskis Aufstieg und Fall[1]

Michael Chodorkowski wurde am 26. Juni 1963 in Moskau geboren. Er war aktiv im Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband, der das Sprungbrett seiner Karriere in der freien Wirtschaft wurde insofern die Kommunisten in den meisten Schlüsselpositionen saßen und es war ein Vorteil „Verbindungen“ zu haben. 1987 gründete Chodorkowski auf dieser Grundlage das ”Zentrum für wissenschaftliche und technische Kreativität der Jugend” (HTTM), war bis 1989 Leiter dieses Zentrums. 1988 machte er seinen Abschluss als Chemietechnologe und Finanzierungsexperte an der Moskauer staatlichen Universität. 1987, noch als Student, gründete er die „Innovative Kommerzbank für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“ (später Menatep-Bank), deren Aufsichtsratsvorsitzender er von Mai 1989 bis 1990 war. 1990 kaufte die Bank das HTTM-Zentrum und taufte es in „Menatep Invest Zentrum für branchenüberschreitende wissenschaftliche und technische Programme“ um. 1990/91 war Chodorkowski Generaldirektor der Menatep-Bank. Von August 1991 bis April 1996 hatte er die Funktion eines Aufsichtsratsvorsitzenden der Vereinigten Kredit- und Finanzgesellschaft Menatep inne.
Seine ersten Millionen machte Chodorkowski am Anfang der 90er-Jahre, zu Zeiten der sog. wilden, das heißt noch gesetzlosen Privatisierung unter Gorbatschow, als er Menatep Aktien in privatisierten Betrieben zu teilweise spektakulär niedrigen Preisen kaufte. Seine Verbindungen innerhalb der kommunistischen Partei spielten dabei eine bedeutende Rolle.
Unter Gorbatschows Nachfolger Jelzin ergaben sich größere Chancen für Chodorkowskis Expansionskurs:1992 wurde er mit 29 Jahren Leiter des Investitionsfonds für die Energieindustrie und erhielt durch diese Aufgabe den Status eines russischen Vizeministers für Treibstoff und Energie, gleichzeitig wurde er Berater des Präsidenten. Im März 1993 wurde er offiziell zum Stellvertreter des russischen Ministers für Treibstoff und Energie ernannt – eine vorteilhafte Position zur Förderung seiner privatwirtschaftlichen Geschäfte.
1994 übernahm Chodorkowski zusammen mit Platon Lebedew Aktien des Düngemittelproduzenten APATIT. Später wurde ihnen zur Last gelegt, daß sie das Aktienpaket erschwindelt und die Gesellschaft ausgeplündert hätten, indem sie Dünger zu extrem niedrigen Preisen durch Privatfirmen aufkauften und zu den üblichen Weltmarktpreisen weiter verkauften. Ab September 1995 wurde Chodorkowski zudem noch Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Rosprom, des zentralen russischen Industrie-Entwicklungs-Konzernes.

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Aufstieg von YUKOS

Im Dezember 1995 wurde eine Auktion durchgeführt, in der 45 % der Aktien der Ölfirma YUKOS angeboten wurden. Vermittelt über die Menatep-Bank konnte Chodorkowski die Aktien und die damit verbundenen Investitionsverpflichtungen für 350 Millionen Dollar, freundlich formuliert, zu extrem günstigen Bedingungen an sich bringen. Gleich nach der Übernahme erwarb er über Menatep im Frühling 1996 weitere 7,06 Prozent von YUKOS in einer erneuten Auktion. Im Herbst 1996 erweiterte YUKOS sein Aktienkapital; mit dem Erlös aus den ausgegebenen neuen Aktien wurden die Holdinggesellschaft und ihre Tochtergesellschaften refinanziert.
Jelzins erster Premierminister Jegor Gaidar, der Pate der russischen Privatisierungskampagne und der Einführung der sog. freien Marktwirtschaft unter Jelzin, sagte in einem Interview mit der New York Times über Geschäftsleute, die zu teilweise lächerlichen Preisen russische Staatsbetriebe übernommen hatten: „Selbstverständlich gab es Verletzungen (des Gesetzes). Aber vor allem wegen fehlender Klarheit über diese Gesetze … Es gibt keine reichen Engel in Russland. Alle haben eine Reihe Gesetze gebrochen und eine Menge schlechter Dinge getan um ihr Vermögen aufzubauen. Innerhalb der verschiedenen Industriezweige wurden viele getötet. Die meisten großen Vermögen sind mit Tötungsdelikten verbunden“. Chodorkowski, kommentiert Kreuzenbeck das von ihm vorgestellte Zitat, wurde der reichste und mächtigste der russischen Oligarchen:
Ab April 1996 war Chodorkowski der erste Vizepräsident der Ölgesellschaft YUKOS. Seit Juni 1996 hatte er die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden des wachsenden Konzerns. Im Februar wurde er zusätzlich zum Aufsichtsratsvorsitzenden der Betriebsgesellschaften Rosprom ernannt. Nach der Neuorganisierung von YUKOS wurde Chodorkowski Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft YUKOS-Moskau. Von November 1999 bis Oktober 2000 war er Mitglied des Aufsichtsrats im Ministerium für Treibstoff und Energie der Russischen Föderation. Ab Oktober 2000 engagierte sich als ein führendes Mitglied in der Russischen Union der Industrieführer und Geschäftsleute. Alles in allem eine nützliche Zusammenführung von Funktionen in einer Person.

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Neuer Wind unter Putin

Die Ablösung Boris Jelzins durch Wladimir Putin im Frühjahr 2000 brachte einen politischen Richtungswechsel in Russland. Wladimir Putin betrat die Arena mit der Ankündigung, eine „Diktatur der Gesetze“ schaffen zu wollen. Das richtete sich unmissverständlich gegen die wilde und zum Teil sogar kriminelle Privatisierung. Sie wurde als „Prichwatisierung“, das heißt Raub, vom Volksmund eindeutig klassifiziert. Während Chodorkowski zu Jelzin und den von ihm eingesetzten Regierungen ein sehr enges Verhältnis hatte, einerseits Jelzins Protegé war, diesem andererseits 1996 mit seinem Kapital zur Wiederwahl verhalf, also eine Hand die andere wusch, entwickelte sich das Verhältnis zu Putin von Anfang an im Konflikt: Chodorkowski unterstützte Parteien, die in Opposition zu Putin standen – neben der kleinen liberalen Partei Yabloko auch die die kommunistische Partei der russischen Föderation, KPRF. Jabloko bestätigte die Unterstützung durch YUKOS öffentlich, während sowohl Chodorkowski als auch die Kommunistische Partei jegliche Verbindung miteinander dementierten. Ein weiterer YUKOS-Großaktionär jedoch, Sergej Muravlenko, war aktiver Unterstützer der KPRF, ohne dass dies dementiert wurde.

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Wende 2003: Chodorkowski verhaftet

Im Jahre 2003 war Chodorkowski einer der reichsten Männer der Welt (Nr. 26 auf der Forbes-Liste, die im folgenden Jahr veröffentlicht wurde). YUKOS war nach der Fusion mit Sibneft die viertgrößte Ölgesellschaft der Welt. „Chodorkowski präsentierte sich in der Öffentlichkeit“, so erzählt Kreuzenbeck, „als moderner Geschäftsmann, der seine Betriebe in einer offenen und westlichen Weise leitete und die Gesetze befolgte, also als zäher, aber gerechter Industriekapitän. Er war der erste Oligarch, der sich in die Bücher schauen ließ – allerdings nur in die der letzten Jahre und offensichtlich nicht in alle. Der ganze Konzern wurde in dieser Weise zurechtgetrimmt, damit er für ausländische Investoren attraktiv würde. Die YUKOS-Führung polierte ihr Englisch, heuerte teure ausländische PR-Firmen an und peppte ihre öffentlichen Statements mit Phrasen wie TRANSPARENCY und WESTERN CORPORATE GOVERNANCE auf.“
Eine ganze Reihe Amerikaner zogen ins oberste Management ein; Teile des Konzern wurden bereits aus New Yorker Büros geführt. Im Frühjahr 2003 schickte Chodorkowski sich an, große Teile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco zu verkaufen. Es ging um eine bis zu 50% Übernahme. Bestandteil der Verhandlungen war auch der Bau eines eigenen Pipeline-Netzes, mit dem das staatliche russische Monopol über die Ölpipeline gebrochen werden sollte, um das Öl am russischen Fiskus vorbei auf den Weltmarkt lenken zu können. Hinzu kam die Einrichtung einer Reihe von ausgelagerten Offshore-Niederlassungen im Ausland, die dem gleichen Zweck dienten. Gigantische Kapitalmengen verließen auf diese Weise das Land. Der Verkauf hätte den Konzern dem Zugriff des russischen Staates faktisch entzogen. Beobachter sprachen damals von einer „Art eigener Außenpolitik“, die Chodorkowski entwickle. Der „Spiegel“ nannte ihn einen, „gehobenen Perspektiv-Agenten“ der USA.

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Erinnerung an den strategischen Hintergrund

Als Hintergrund hierzu muss noch einmal auf die von Zbigniew Brzezinski und anderen formulierten strategischen Zielsetzungen der USA verwiesen werden, die Entscheidungen um die neue Weltordnung auf dem „eurasischen Schachbrett“ zu suchen. Dem entsprach ein taktischer Doppelschritt in der Zeit des ausgehenden kalten Krieges: Der erste Schritt bestand darin, die Sowjetunion in die „Afghanistan Falle“ laufen zu lasen, um sie politisch und wirtschaftlich zu destabilisieren, die zweite zielte darauf – nachdem der erste gelungen war, wie Brzezinski sich später öffentlich rühmte[2] – das nachsowjetische Russland durch „Demokratisierung“ und „Internationalisierung“ der Ölförderung wie auch des Ölhandels von ihrem aus Sowjetzeiten stammenden Monopol auf die eurasischen Ölquellen zu trennen. Mit der Auflösung der Sowjetunion war eine veränderte Weltlage entstanden: Ihr Kern ist die Neuaufteilung des Zugriffs auf die Weltressourcen an fossilen Rohstoffen, die bis zur Auflösung der Sowjetunion unter deren Verfügung standen, des Zugriffs also auf die kaukasischen, zentralasiatischen und auf die russischen Öl-Felder und Gas-Vorkommen. Von ihrer Ausbeutung versprechen sich die Regierungen der Industrienationen, die fossile Brennstoffe heute als Grundlage ihrer zukünftigen Existenz betrachten, eine größere Unabhängigkeit von der OPEC, insonderheit von den Ländern am persischen Golf, bzw. niedrigere Preise durch die erweiterte Konkurrenz wischen den Energie-Rohstoffe produzierenden Ländern. Die neue Geografie der Versorgung wird auf den Karten der Globalstrategen als „strategische Ellipse“ beschrieben. Achtzig Prozent der fossilen Brennstoffe konzentrieren sich in diesem Gebiet, das sich vom persischen Golf über den kaspisch-kaukasischen Raum bis ins mittlere Russland hinein erstreckt.
Anders als die USA, die ihren Anspruch auf den privilegierten Zugriff auf die Weltressourcen, insbesondere auf die neu zugänglichen des eurasischen, also kaspischen, kaukasischen und auch russischen Raums durch ihren Altstrategen Zbigniew Brzezinski unmissverständlich formulierten und in ihrer Politik mit dem Versuch einer systematischen Einkreisung, Neutralisierung und Isolierung Russland seither gezielt umzusetzen bestrebt sind[3], tat Europa sich bisher schwer, eine einheitliche Strategie zu finden. Europa schwankt zwischen einem privilegierten Zusammengehen mit Russland gegen den Verfügungsanspruch der USA und einem Zusammengehen mit den USA gegen das Monopol Russlands, um damit der eigenen Abhängigkeit von den Energielieferungen Russlands entgegenzuwirken: Strategische Partnerschaft von EU und Russland auf der einen Seite, Entwicklung eines Korridors von Europa nach Zentralasien, der Russland bewusst ausgrenzt und von seinen Ressourcen im Kaukasus, in Zentralasien und im Iran trennt, auf der anderen.[4] Kurz gesagt, in der EU-Politik weiß die Linke, die Zusammenarbeit will, offenbar nicht, was die Rechte tut, die auf Konfrontation im Nachtrab zur USA setzt. Man könnte auch vermuten, dass bewusst eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche gefahren wird. Angesichts der Zerstrittenheit der erweiterten EU in der Beziehung zu Russland wäre das aber vermutlich eine Überschätzung der strategischen Fähigkeiten der EU-Bürokratie.
Ergänzend zu all dem der Hinweis: Condoleeza Rice, die heutige Außenministerin des Kabinetts Bush, war vor ihrer Ernennung zur Nationalen Sicherheitsberaterin zehn Jahre lang im Aufsichtsrat von Chevron tätig. US-Vizepräsident Richard Cheney nahm eine Schlüsselposition bei den Verhandlungen um die Neu-Verteilung des Zugriffs auf das kaspische Öl ein; im Caspian Pipeline Consortium spielte Chevron die stärkste Rolle.

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Putins „Kommando“ im Angriff

Als Chodorkowski sich im Frühjahr 2003 auch noch auf die Seite der US-Kriegspläne gegen den IRAK stellte, ging die russische Regierung gegen ihn vor: Im Mai veröffentlichte der „Rat für nationale Sicherheit (SNS) einen Bericht über eine „Verschwörung einiger Oligarchen zur Machtergreifung in Russland“. Wenige Wochen später wurde Alexej Pitschugin, der Sicherheitschef von YUKOS, wegen Anstiftung zum Dopppelmord festgenommen, Anfang Juli dann Platon Lebedew wegen der unrechtmäßigen Aneignung von 283 Millionen Rubel (8 – 9 Millionen Euro) des Chemieunternehmens Apatit. Im September kaufte Chodorkowski die bis dahin liberale Zeitung „Moskowski Nowosti“, um den Angriffen publizistisch entgegenzuwirken. Im Juni 2003 begann der russische General-Staatsanwalt seine Nachforschungen in der YUKOS-Sphäre. Im Oktober wurde Chodorkowski selbst verhaftet und Anklage gegen ihn erhoben.. Die Staatsanwaltschaft legte ihm Gesetzesverstöße in sieben Fällen zur Last begangen als Mitglied einer kriminellen Vereinigung, unter anderem Unterschlagung, Steuerhinterziehung, betrügerische Übernahme der Apatit-Aktien; außerdem habe er über Offshorefirmen auf betrügerische Weise in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Rechnung, die die Staatsanwalt aufmachte, belief sich auf über einer Milliarde US-Dollar.

Chrystia Freeland, Vize-Herausgeberin der Financial Times, so Kreuzenbeck, schrieb in ihrer Zeitung nach der Verhaftung Chodorkowskis über dessen Eigenschaften als Geschäftsmann: ”Chodorkowski zeigte eine Aggressivität und Raffiniertheit, die selbst jene Geschäftsleute in Erstaunen versetzte, die sich normalerweise durch nichts überraschen lassen. Minoritätsaktionäre wurden mit massiver Ausdünnung ihrer Werte bedroht. Ein komplexes Netz von mysteriösen Offshore-Gesellschaften wurde kreiert. Technische und physische „Straßensperren“ wurden errichtet, um zu verhindern, dass Investoren mit abweichender Meinung auf wichtigen Aktionärsversammlungen ihre Stimme abgeben konnten“.

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Opponent gegen Putin
Chodorkowski als möglicher Präsidentschaftskandidat
und Verteidiger der Freiheit…

Nach seiner Verhaftung wurde Chodorkowski als möglicher Anti-Putin-Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2004 aufgebaut. KP-Sekretär Gennadij Zhuganow erklärte, er könne sich eine Kandidatur von Millionären auf der Liste der KP durchaus vorstellen, allerdings ohne Chodorkowski direkt zu nennen. Der Pressesprecher der Kommunisten, Ilja Ponomarjow, der von 1998 bis 2002 eine Führungsposition bei YUKOS innehatte, sah in einer eventuellen Kandidatur Chodorkowkijs eine Möglichkeit für ihn politische Immunität zu erhalten: ”Ist er als Kandidat registriert, wird man ihn freilassen müssen“. Auch der Oligarch Boris Beresowskij äußerte sich aus seinem Londoner Exil positiv über eine mögliche Kandidatur Chodorkowskis.

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Kritik des Liberalismus

Aus Chodorkowskis Kandidatur wurde jedoch nichts. Stattdessen meldete er sich nach der Wahl, die einen starken Machtanstieg Putins gebracht hatte, mit einem radikalen Aufsatz zur „Krise des Liberalismus“, in dem er die Umverteilungspolitik der Liberalen als gescheitert und als Raub am Volksvermögen kritisierte. Die Liberalen hätten 90% der Bevölkerung getäuscht, so Chodorkowski, hätten die Augen vor der russischen Wirklichkeit verschlossen, als sie mit einem Federstrich die Privatisierung beschlossen. Sie hätten keinen Gedanken an die Sparguthaben der Bevölkerung verschwendet, sich nicht um eine Bildungsreform gekümmert, soziale Stabilität und sozialen Frieden außer Acht gelassen. Als einer der größten Sponsoren habe er selbst in der der Wahl 1996 bereits für ein Bündnis der Liberalen mit den Kommunisten plädiert, sei aber nicht gehört worden. Nun komme „die Stunde der Buße“.
Chodorkowski verblüffte die Öffentlichkeit mit einer harschen Selbstkritik: „Für mich ist Russland meine Heimat“, schrieb er: „Hier möchte ich leben und sterben und ich möchte, dass meine Nachkommen auf Russland und mich als ein winziges Teilchen dieses Landes und dieser einmaligen Zivilisation stolz sein können. Vielleicht habe ich das zu spät verstanden, denn erst im Jahre 2000 begann ich damit in die Organisation der Zivilgesellschaft zu investieren und karitativ tätig zu werden. Doch lieber spät als nie.“
Chodorkowski forderte eine „neue Strategie der Zusammenarbeit“ von Unternehmern und Staat, er forderte, die „Wahrheit in Russland und nicht im Westen“ zu suchen und „auf(zu)hören, die Legitimität des Präsidenten in Frage zu stellen.“. Die Unternehmer müssten gezwungen werden mit dem Volk zu teilen, die Privatisierung müsse vor der Bevölkerung legitimiert werden, zum Beispiel durch eine „Besteuerung der Rohstoffe und andere Schritte“. Und schließlich erklärte er, ganz Staatsmann: „Es ist besser, derlei Schritte selbst zu unternehmen und sie dadurch zu beeinflussen und steuern zu können, als zum Opfer eines blinden Widerstandes gegen das Unausweichliche zu werden.“
Das Schreiben endete mit der Forderung, dass Geld in echte zivilgesellschaftliche Strukturen investiert werden müsse.

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Linke Wende

Im August 2005 legte Chodorkowski mit einer weiteren Erklärung nach, in welcher er eine linke Wende für Russland prognostizierte. Er prognostizierte, dass in der Bevölkerung Russlands als Reaktion auf die Jahre der räuberischen Privatisierung und der darauf folgenden autoritären Modernisierung putinschen Typs nunmehr eine Linkswendung bevorstehe und rief die verbliebenen Liberalen, Neu- und Alt-Linken dazu auf, unter Führung der National-Linken ‚Rodina’ (Heimat) sowie der Kommunistischen Partei und in Zusammenarbeit mit einer nach links geöffneten vereinigten liberalen Szene eine Front gegen das autoritäre Regime Putins zu bilden. Chodorkowski scheute sich dabei nicht, Oligarchen wie sich selbst, als Räuber und Betrüger zu bezeichnen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion in krimineller Weise auf Kosten des Volkes bereichert hätten und denen nunmehr soziale Verantwortung abzuverlangen sei.
Man mag von Chodorkowski halten, was man will, seine Analyse der russischen Entwicklung ist bemerkenswert: Die von ihm geschilderte räuberische Privatisierung unter Jelzin, danach die autoritäre Modernisierung Putins hat zwar die Linke, ebenso wie die Liberalen bis hin zu deren verheerender Wahlniederlage bei der Wahl zur Duma im Jahr 2004 zur Marginalie werden lassen, in weiten Kreisen der Bevölkerung aber die latente Resistenz gegen die marktorientierte Westwendung in zunehmend offene Proteste verwandelt. Eine soziale und politische Polarisierung der russischen Gesellschaft in eine von der putinschen Büroklatur repräsentierte Mitte und sich radikalisierende Ränder der Gesellschaft sind unübersehbar. Auf der linken Seite sind neue Führungsfiguren wie der national und sozialistisch argumentierende Gennadij Glasjew aufgetaucht; die neue Linke sammelt sich in informellen Zirkeln wie dem russischen „Sozialforum“, Anti-Globalisierungs-Zirkeln usw. Die Liberalen, also die Union Rechter Kräfte (SP) und die Jawlinski-Partei ‚Jabloko’, seit ihrer Gründung 1991 in Rivalitäten zerstritten, haben beschlossen, ihre Streitigkeiten in Zukunft beiseite zu lassen. Ein Komitee des bekannten Schachspielers Garri Gasparow stellt sich als pro-westliche Alternative zu Putin für die Präsidentenwahlen des Jahres 2008 auf.
Die von Michail Chodorkowski prognostizierte Linkswende bleibt allerdings potentiell, solange es der Regierung gelingt, ihre Renten-, Stipendien und sonstigen Fürsorgeansprüche mit den neuerdings wieder einfließenden Öl- und Gas-Dollars zu beschwichtigen. Hier stimmen zwar Chodorkowskis Analysen, seine damit verbundenen Ambitionen beißen sich jedoch ganz mächtig in den eigenen Schwanz, denn diese Politik der Regierung ist nur möglich, weil, seitdem und solange es ihr gelingt, die Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen, vor allem an Öl und Gas, in die Staatskasse zu lenken, und das heißt vor allem anderen ganz konkret, weil es ihr gelingt, durch ihr Vorgehen gegen den Raub-Privatisierer, Steuerbetrüger und Offshore-Spekulanten Chodorkowski die Ressourcen des Landes ansatzweise wieder in den Griff zu bekommen. Chodorkowskis Aufruf zur Linkswende entpuppt sich damit unversehens als Anklage in eigener Sache, bzw. schlichtweg als widersprüchlich oder wie es die Web-Zeitung ‚russland.ru’ an anderer Stelle formulierte: ‚Seine Überlegungen haben nur den Haken, dass es ihnen an Legitimität fehlt.’

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Das Verfahren

Kein Zweifel, das sei hier deutlich betont, um jedes Missverständnis auszuschließen, die Art und Weise des Verfahrens – angefangen bei der martialischen Verhaftung Chodorkowskis durch vermummte Sonderkommandos bis hin zum drakonischen Urteil von neun Jahren Lagerhaft – entsprach nicht den Menschenrechtstandards der UNO oder dem EU-Wertekanon. Folgerichtig erklärte Amnesty International Chodorkowski nach anfänglicher Weigerung zum politischen Gefangenen.
Bedauerlicher Weise jedoch, am Ende möglicherweise sogar zu Chodorkowskis eigenem Leidwesen, wurde er Objekt einer politischen Kampagne, die Töne des kalten Krieges gegen Russland neu auflegte. Es begann wieder einmal mit einem Artikel Zbigniew Brzezinskis, Unter der Überschrift „Der Moskauer Mussolini“. („The Wall Street Journal, 20.9.2004) verbreitete dieser im September 2004 nach der Wiederwahl Putins zum Präsidenten die Behauptung, Putin versuche in Russland einen Faschismus nach dem Muster Mussolinis aufzubauen; Russland entwickle sich zu einem `faschistischen Erdölstaat`.
Brezinskis Stichwort des „faschistischen“ Russland wurde von Neo-konservativen Amerikas aufgegriffen. Bruce Jackson, Reisender in Sachen „Project on Transsitional Democracies“ griff zusätzlich noch zum Knüppel des Antisemismusvorwurfs: Wörtlich: „Seit Putin gewählt wurde, waren alle führenden Figuren, die wegen Wirtschaftsverbrechen exiliert oder arretiert wurden, jüdisch. In Dollar gerechnet, sind wir Zeugen der größten illegalen Enteignung von jüdischem Kapital seit der Nazi Beschlagnahmung in den 30gern…. „ Und weiter zu Chodorkowski: „Die Inhaftierung eines Mannes hat uns das Signal gegeben, das unsere gut gemeinte Russland Politik gescheitert ist. Wir müssen nun erkennen, das eine massive Unterdrückung von Menschenrechten stattgefunden hat und die Errichtung einer Administration in Moskau vom Typ eines de-facto Kalten Kriegs.“ (Washington Post, 28.10. 2003)
Es folgte der „Offene Brief“ an die Führungen von NATO und EU am 28.9.2004, der von 150 Personen aus Europa und den USA, u.a. der Führung der Grünen, unterzeichnet wurde. Unter Benutzung von Menschrechtsrhetorik griff er direkt in die russische Politik ein und forderte die Unterstützung der „demokratischen Kräfte“ in Russland. Unter den Unterzeichnern waren eine Reihe bekannter neo-konservativer Amerikaner. Am 5. Oktober 2004 legte die Grüne Böllstiftung mit einem weiteren „Aufruf für Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit im Fall Chodorkowski“ und der Durchführung einer Solidaritätsveranstaltung für Chodorkowski in Berlin nach, ebenfalls mit unterzeichnet und getragen von einer Reihe von US Neo-Konservativen.
Zum besseren Verständnis ist noch einmal daran zu erinnern, dass Chodorkowski, allen patriotischen Beteuerungen zum Trotz, am Beginn des Jahres 2003 drauf und dran war, den Öl-Giganten YUKOS durch die Fusion mit SIBNEFT, CHEVRON und EXXON zu einem Multinationalen Konzern zu erweitern, der sich dem Zugriff der russischen Staatlichkeit zu entziehen anschickte. Seine politischen Verbindungen in die USA hatten sich entsprechend entwickelt: In der International Herald Tribune wurde derzeit berichtet, Chodorkowski versuche mit viel Geld, sich Zutritt zu den geschlossenen Zirkeln Washingtons zu verschaffen. Dafür soll er seit 2001 jedes Jahr 50 Millionen Dollar aufgewendet haben, davon eine Million für die US-Kongressbibliothek und 500.000 Dollar für die Carnegie-Stiftung – die ihrerseits NGOs in Russland davon finanzierte. Chodorkowski verteilte großzügige Spenden an neokonservative US-Institutionen und öffnete den Verwaltungsrat seiner eigenen Stiftung „Offenes Russland“ für einflussreiche US-Amerikaner wie den ehemaligen demokratischen Senator Bill Bradley und Henry Kissinger oder den britischen Bankier Lord Rothschild. Erinnert werden muss auch noch einmal daran, dass er in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg im Interesse der YUKOS-Expansion gegen die Schröder-Chirac-Putin-Ablehnungs-Front für eine russisch-amerikanische Kriegs-Allianz agierte.

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Berufungsverfahren

Die russische Staatsanwaltschaft ließ sich durch die Kritiken nicht aufhalten. Im Mai 2005 wurde Chodorkowski in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden und zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Jukos wurde die Erstattung der Steuerschulden in einer Höhe auferlegt, die praktisch zur Liquidation des Konzerns führen mussten. Davor rettete ihn nur die Versteigerung eines seiner einträglichsten Zweige, des Yoguskneftegas, der in den Besitz einer bis dahin unbekannten Baikal-Finanz-Gruppe überging. Chodorkowski selbst hatte seinen Platz im Aufsichtsrat von YUKOS schon vorher geräumt. Damit war das YUKOS- Imperium praktisch zerschlagen. Chodorkowskis strengte sofort ein Berufungverfahren an, mit dem er sich zugleich die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Nachwahl zum Unterhaus der russischen Staatsduma und damit Immunität sichern wollte. Doch noch bevor es zur dieser Wahl kommen konnte, wurde das Berufungsverfahren von der Staatsanwaltschaft abgeschmettert. Das Gericht hielt das Urteil wegen Betrug und Steuerhinterziehung aufrecht, nur in einem Punkt, der Veruntreuung von zwei Milliarden Rubel aus dem YUKOS-Vermögen, erklärte es das erstinstanzliche Urteil für nichtig. Die neun Jahre Haft aus der ersten Instanz wurden auf acht reduziert; die allerdings muss Chodorkowski nunmehr im offenen Lagervollzug antreten. Bei guter Führung kann er auf der Hälfte entlassen werden. Seine Anwälte kündigten an, sowohl beim russischen Verfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof noch einmal in die Berufung gehen zu wollen.

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Erneuerung á la Chodorkowski?

Nach seiner Verurteilung meldete Chodorkowski sich aus seiner soeben angetretenen Lagerhaft nahe der sibirischen Stadt Tschita erneut mit einer öffentlichen Erklärung, dieses mal mit einem „Programm der radikalen Modernisierung Russlands bis zum Jahr 2020“ zu Wort. Darin bringt er sich mit Vorschlägen für die Zeit nach Putin in Position.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, daß Chodorkowski entgegen Spekulationen, die man nach dem Prozess lesen, sehen und hören konnte, die russische Regierung wolle ihn nach dem Prozess verschwinden lassen, gleich in den ersten Tagen seiner Einlieferung ins Lager einen dreitägigen Besuch seiner Frau empfing, den ersten seit seiner Inhaftierung vor zwei Jahren. Mit seinen Rechtsanwälten erörterte er ein Berufungsverfahren. Neben einer Arbeit als Näher in der lagereigenen Kleiderproduktion, die er zwei Stunden am Tag ableisten muss, wird er eine Tätigkeit als Lagerdozent ausüben können; er kann TV und Kühlschrank beantragen, Presse abonnieren; von fünfzig Zeitungen ist die Rede, der er sich bestellt habe. Bei guter Führung, ließ die Lagerleitung mitteilen, bestehe die übliche Chance auf frühzeitige Entlassung, kurz, er ist ein ganz normaler, aber prominenter Häftling.
Scharf greift Chodorkowski in seiner Erklärung den Präsidenten Putin an: Der stehe einem Apparat von Schmarotzern vor, die unfähig seien, das Land zu modernisieren. Die einzige Frage, die sie bewege, laute, wie man möglichst schnell etwas vom Staat bekommen könne. Aber dieser parasitäre Ansatz trage nicht mehr; das Land brauche eine neue Elite, welche die Regierung nach Putins Ausscheiden im Jahr 2008 übernehmen könne. Sie müsse ihre Aufgabe in einem langfristigen Aufbau des Landes und nicht wie bisher in der bloßen Umverteilung der Reichtümer zu ihren Gunsten sehen.
Die neue Elite werde mit einer Reihe objektiver Probleme konfrontiert sein: der demographischen Schrumpfung des Landes, dem Verschleiß der Infrastruktur, dem Zusammenbruch des Maschinenbaues, der Krise des Rüstungskomplexes, dem Verlust der Kontrolle Moskaus über den Kaukasus, dem Zusammenbruch der Streitkräfte usw. Statt einer Politik der „vertikalen Macht“ brauche das Land eine föderale Ordnung, die den Regionen mehr Kompetenzen zubillige und die Selbstverwaltung stärke. Eine „Ökonomie des Wissens “ müsse Industrie und Landwirtschaft gleichermaßen entwickeln. Der Staat müsse Familien fördern, um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuarbeiten, mehr Geld für Bildung und Wissenschaft ausgeben, anstatt sich nur auf seine Energieressourcen zu verlassen. Das größte Problem sieht Chodorkowski im „brain drain“ des Landes, der gestoppt werden müsse. Das Kaderproblem sei aber lösbar: „Schaut, was ich aus YUKOS gemacht habe“, erklärt er selbstbewusst. Die Geschichte von YUKOS zeige doch, dass eine Ausbildung neuer Kader und eine Modernisierung möglich sei.
Zur Finanzierung schlägt Chodorkowski die Einführung einer doppelten Steuer vor. Auf bereits privatisiertes Volksvermögen möchte er eine Privatisierungssteuer erheben. Das werde dem Staat das nötige Geld einbringen, den Zahler zugleich als legitimen Eigentümer ausweisen und damit die Eigentumsverhältnisse des Landes stabilisieren. Zum Zweiten spricht Chodorkowski sich für eine Ressourcensteuer aus, welche die private Ausbeutung und Verschwendung der Ressourcen unterbinde. Aus den Einnahmen beider Steuern könne der Staat die Kosten für die Wiedereinführung der traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie kostenlose medizinische Versorgung, Ausbildung problemlos tragen, bevor die 90% der Armen das in die eigenen Hände nähmen.

Dies alles sieht nach ernsthaften Versuchen des ehemaligen YUKOS-Managers aus, sich aktiv in die Gestaltung der russischen Politik einbringen zu wollen. Vom Vorstand des Unternehmverbandes ist er aus eigenen Stücken mit der Begründung zurückgetreten, er sei nach dem Ausscheiden aus den YUKOS-Aufsichtsräten kein Unternehmer mehr, sondern eine Privatperson und als solche wolle er sich mit ganzen Kräften dem sozialen und demokratischen Aufbau des Landes widmen.
„Mir persönlich hat Russland viel gegeben“, schreibt Chodorkowski, „in den 70er und 80er Jahren bekam ich eine Ausbildung, auf die man stolz sein kann. In den 80er Jahren machte es mich (Laut ‚Forbes’) zum reichsten postsowjetischen Menschen. Im zurückliegenden Jahrzehnt nahm es mir aber das Eigentum weg und steckte mich ins Gefängnis, wo es mir die Möglichkeit bot, eine weitere Ausbildung zu bekommen – dieses mal eine gesamtmenschliche und humanitäre.“
Das klingt prinzipiell: Wurde aus Saulus ein Paulus? Diese Frage muss offen bleiben. Angesichts der Umstände, unter denen er seine bisherigen Positionen gegen den Liberalismus und für eine linke Wende nunmehr in einem politischen Programm konkretisiert, darf man jedoch annehmen, dass er für sich mit einer führenden Position in einem solchen Bündnis rechnet.

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Der neue Stand

Offen ist auch, wie lange Michael Chodorkowski tatsächlich sitzen muss. Sicher ist dagegen, dass die Zerschlagung des YUKOS-Konzerns ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung um die Verfügungsgewalt über die russischen Gas- und Ölressourcen eröffnet hat. Aktuelles Signal dafür ist der, parallel zum Abschluss des Prozesses gegen Chodorkowski, vollzogene Verkauf des Öl-Multis SIBNEFT an den halbstaatlichen Gasgiganten GAZPROM. Mit den beiden Megadeals, YUGANSKNEFTEGAZ noch während des Prozesses, SIBNEFT nach dem Prozess, baute GAZPROM seinen Marktanteil im Ölsektor kontinuierlich aus. Er stieg binnen eines Jahres von rund sechs auf über 30 Prozent. Dafür bezahlte der Staat 22,5 Mrd. Dollar. Im November 2005, gab GAZPROM bekannt, am Aufkauf weiterer Gruppen interessiert zu sein. Dieses mal war es SLAWNET. Mit diesem Kauf würde der Kreml seinen Einfluss im Ölsektor weiter erhöhen; GAZPROM würde mit diesem Schritt etwa 15 Prozent der russischen Ölförderung kontrollieren. Mit dieser Entwicklung wurde Russland hinter Saudiarabien zum zweitgrößten Ölförderer der Welt..

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Punktsieg für Putin

Die Zerschlagung des YOKUS Konzerns und Verurteilung Michail Chodorkowskis, ist, wie immer man die Methoden beurteilen mag, mit denen die Auseinandersetzung geführt wurde, ein Etappensieg für Wladimir Putins erklärtes Ziel, Russland auf dem Weg einer eigenständigen Entwicklung zu re-stabilisieren, und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen konnte Russland mit der Zerschlagung von YUKOS den Versuch des Westens insonderheit der USA zurückweisen, Russland auf dem Umweg über eine „Internationalisierung“ dieses Konzerns die Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen zu entreißen.
In einer bemerkenswerten Analyse der Web-Plattform ‚Saar-Zeitung’ wird darüber hinaus die äußerst pikante Vermutung vorgebracht, Michail Chodorkowski sei – ungeachtet seiner eigenen Motive – nur ein Spielball westlicher Intrigen gewesen. Man habe ihn von dieser Seite jahrelang aufgebaut und in seine illegalen Finanztransfers unterstützt, aber in dem Augenblick der russischen Justiz ausgeliefert, als man sicher zu sein glaubte, durch seine Verhaftung in den Besitz der Konzernmehrheit zu kommen. Grundlage für dieses Vorgehen, so diese durch Geheimdienstdossiers belegte Variante, lägen in den Statuten der Finanzgruppe Menatep, in der die YUKOS-Eigentümer ihren Besitz organisiert hätten. Danach hatte Chodorkowski im Falle seines Todes, einer Entführung, Haftstrafe oder beim Verlust eines wichtigen YUKOS-Teilbetriebes seine Rechte an YUKOS abzugeben, wie die Moskauer Wirtschaftszeitung ‚Wedemosti’ berichtet hatte. Belastendes Material, das gegen Chodorkowski wie gegen alle Oligarchen jederzeit ausreichend vorlag, habe man der russischen Regierung zu einem Zeitpunkt zugespielt, als der Konzern seine größte Ausdehnung gefunden habe. Als Überbringer des „Kompromats“, d.h. der kompromittierenden Dossiers, habe der deutsche BND fungiert. Dadurch habe man die russische Regierung zum Handeln, d.h. eben auch zur Teilenteignung zwingen wollen. Wladimir Putin habe diese Pläne jedoch erkannt und durchkreuzt, indem er die Anklage zwar habe erheben, den Prozess aber so lange habe hinauszögern lassen, dass die russische Regierung Zeit genug finden konnte, den wichtigsten Teilbetrieb von YUKOS, Yuganskneftegas, durch eine fingierte Auktion zu übernehmen, so dass der bei Chodorkowski verbleibende Rest von YUKOS-Anteilen nur noch eine relativ wertlose Hülle blieb. Danach erst sei der Prozess gegen ihn beschleunigt worden. Manches spricht für eine solche Manipulation; wer sich ein genaueres Bild von diesem Global-Krimi machen möchte, lese den ganzen Bericht der ‚Saar-Zeitung’. (www.saar.echo.de)
Aber auch ohne abenteuerliche Konkretisierungen dieser Art sind die Interessen in der YUKOS-Angelegenheit so offenkundig, dass von westlicher Seite heute unisono festgestellt wird, Putin habe die Ressourcen „re-nationalisiert“. Das stimmt allerdings nur in dem Sinne, dass die russische Regierung sich als Mehrheitsaktionär in die russische Öl-Gas-Branche eingekauft hat. Von Re-Nationalisierung im Sinne einer allgemeinen Rückführung der Privatisierung ist nicht die Rede; im Gegenteil erklärt Wladimir Putin bei jeder Gelegenheit, dass die privaten Besitzrechte in Russland heute gewahrt seien und auch in Zukunft gewahrt werden sollen.
Der zweite Effekt des YUKOS-Prozesses ist die faktische Bewältigung der russischen Budgetkrise, indem Russlands Oligarchen durch das Vorgehen gegen YUKOS dahin gebracht wurden, ihre Steuern wenigstens teilweise zu bezahlen und die gigantischen Off-shore Verbindungen aufgedeckt und zum Teil unterbunden wurden, über die die potentiellen Steuergelder der russischen Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken durch Dumpinggeschäfte an der russischen Staatskasse vorbeigeleitet wurden. Im Ergebnis des Prozesses und seiner Wirkung auf die übrigen Oligarchen Russlands verfügt der russische Staat jetzt über ausreichend Gelder, die von ihm vorgenommenen Reformen politisch durch große sowie sozial durch kleine Bestechungsgelder abzufedern und so Proteste zu unterlaufen. Der russische Präsident wies die Regierung sogar an, über eine Amnestie der früheren Steuersünder nachdenken.
Das eine wie das andere, die Wiedereingliederung der russischen Ressourcen in die staatliche Verfügung über GASPROM, ROSNEFT und andere russische Unternehmen mit staatlicher Beteiligung wie auch die Füllung des russischen Budgets richtet sich unmittelbar gegen die Politik der strategischen Schwächung Russlands durch Intervention in die wirtschaftliche und politische Souveränität Russlands, wie sie die von den USA betrieben wird und in abgestuftem Maße auch von der EU, die damit ihre eigene Abhängigkeit von russischen Rohstoffen „sicherheitspolitisch“ kompensieren will.
Statt sich selbst über die „Internationalisierung“ von YUKOS den Zugriff auf die russischen Ressourcen und damit auch den Einfluss auf die innenpolische Situation Russlands verschaffen zu können, mussten die USA nicht nur mit ansehen, wie es Wladimir Putin gelang, dem russischen Staat den verlorenen Zugriff wieder zurückzuholen, sie mussten auch erleben, dass die schnell gegründete Baikal-Finanz-Gruppe, die Yuganskneftegas ersteigerte, mit chinesischen Krediten ausgestattet wurde, wofür sich China privilegierten Zugang zu russischem Erdöl ausbedang. Damit ist Wladimir Putin eine entscheidende Weichenstellung im neuen Spiel um die eurasischen Ressourcen gelungen, die ihm Freiraum gibt, seinen Kurs der autoritären Modernisierung fortsetzen, mit dem er Russland zu einer unabhängigen Kraft zwischen Ost und West machen will

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Aussichten:
Vom Kampf um den materiellen Zugriff aufs Öl
zum Kampf um den ÖL-Dollar

Dies ist aber nur eine Etappe in der aktuellen Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt nach dem Ende der Systemteilung des letzten Jahrhunderts, weitere und möglicherweise schärfere Auseinandersetzungen um den Zugriff auf die eurasischen und andere Ressourcen werden mit Sicherheit folgen.
Die „SAAR-Zeitung“ schrieb dazu:
„Mit dem Schuldspruch gegen Chdorkowski wird deutlich, daß russische Außenpolitik wieder eine eigene Kontur annimmt, Russland beginnt, sein eigenes geopolitisches Konzept durchzusetzen. Gegen den Interventionismus der US Politik – wie er in der Brzezinksi-Doktrin zum Ausdruck kommt – setzte Putin ein Konzept des behutsamen multipolaren Pluralismus, der sowohl Asien als auch Europa einbezieht und Russland als Integrationsknoten einer Multipolaren Ordnung begreift. „Das Urteil gegen Chodorkowski kennzeichnet dabei den sichtbaren Wendepunkt in der russischen Außenpolitik, die plötzlich nicht mehr konzeptionslos erscheint“ Es sieht so aus als könne der „eurasische Spagat“ gelingen.“ (Saarzeitung, 16.05.2005)

Die Ereignisse, die den „Fall“ Chodorkowski begeleiteten, sprechen für sich:
– Der Irak-Krieg und seine Folgen.
– Die beginnende Diversifizierung der weltweiten Leitwährung.
– Die Initiativen für ein „Neues Bretton Woods“, das heißt, für internationale Kontrolle der globalen Kapitalflüsse.
– Die Bildung eines neuen Kräfteschwerpunkts in den Völkerbeziehungen, BRIC mit dem Zentrum der Schanghai Organisation, die Russland, China, Iran und Indien zusammenführt.
– Die Vorschläge im Kreis der Asiatischen und der Amerikanischen Staaten, Öl im Tausch gegen Waren, statt über Dollar oder Euro zu handeln.
– Russlands neue Beziehungen zu Arabischen Staaten und zum Iran.

Ein paar Daten mögen die einzelnen Aspekte noch verdeutlichen:

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Dollar unter Druck

Wenige Tage nach der Verkündung des Urteils gegen Michail Chodorkowski einigten sich Russland und die EU auf eine engere Zusammenarbeit; Moskau sandte gleichzeitig ein entscheidendes Signal in Richtung EU: Russland wird in Zukunft seine Devisenreserven in Dollar herunterfahren, dafür den Euro-Anteil auf 50:50 Prozent erhöhen. Zur Zeit liegt das Verhältnis bei 80: 20; bereits zum Jahresende 2005 soll der Euro-Anteil nicht 20, sondern 30 betragen, danach schnell auf 50 erhöht werden.
Damit machte die russische Regierung wahr, was die „Iswestija“ bereits im März 2004 berichtet hatte, dass Putin nämlich nach der Wahl plane, die Bindung der russischen . Währung an den US-Dollar gegen eine Bindung an den Euro zu verändern.
Eine Reform des Währungssystems war bereits seit längerem im Gespräch: Schon auf der IWF-Jahrestagung von 1994 wurde die Einrichtung eines „Neuen Bretton Woods“ mit einem System fester Wechselwährungen vorgeschlagen. Seit 1998 forderten europäische Politiker eine Kontrolle der Finanzmärkte – allen voran übrigens Oscar Lafontaine, der als deutscher Finanzminister gern „Dompteur der Finanzmärkte“ werden wollte. Auch er schlug eine Erneuerung des zusammengebrochenen „Bretton Woods Systems“ vor, allerdings nicht unter der Leitwährung des Dollar, sondern in einer festen Wertrelation von Dollar, Yen und Euro. Die Einführung des Euro 2002 konkretisierte alle diese Tendenzen; sie relativierte den Dollar als Welt-Reservewährung.
Hindernis gegen ein Abrücken vom Dollar als alleinige Weltleitwährung ist die Bindung des Öl-Handels an den Dollar. Seit 2000 rührt sich auch dagegen Widerstand. Gewünscht, vorgeschlagen, gefordert wird ein Übergang vom Dollar als Öl-Leitwährung auf den Euro oder gar die generelle Abkoppelung des Öl-Handels von einer Leitwährung:
Vorreiter für die Entthronung des Dollars war Saddam Hussein. Er wagte es im November 2000 als Erster laut darüber nachzudenken, den Ölhandel von Dollar auf Euro umzustellen; 2002 riskierte er diesen Schritt. Im Ergebnis wurde der IRAK mit Krieg überzogen. Die USA fürchteten einen Domino-Effekt in der arabischen Welt. Nach der Invasion wurde die Umstellung auf Euro rückgängig gemacht.
Bei einem OPEC-Gipfel im Jahr 2000 schlug Venezuales Präsident Hugo Chavez vor, den Ölhandel der OPEC-Länder mit den Entwicklungsländern im Barter-Verfahren durchzuführen, also Öl gegen Ware zu handeln, um auf diese Weise sowohl Dollar als auch den Euro bei den Geschäften zu meiden.
Ende 2002 ging Nordkorea zum Euro als Devisenrücklage über.
Seit 2003 forderte auch der Iran offiziell Euro-Abrechnungen für Öl, sogar für solches, das vorher zu Dollarpreisen gehandelt worden ist. Schon vorher hatte der Iran seine Währungsreserven auf Euro umgestellt. Die Gründung einer eigenen Börse für den Ölhandel im Iran steht bevor. Dazu ist anzumerken, dass das iranische ÖL 10% der Weltölreserven ausmacht – ein neuer Kriegsgrund für die USA.
Im April 2004 debattierten die Parlamente von Iran und Russland über eine mögliche Übernahme des Euro für Ölverkäufe. Die meisten Länder der OPEC signalisieren seitdem mehr oder weniger offen ein Interesse am Euro als Ölwährung. Saudi-Arianien ist dagegen.
Im Oktober 2004 wurde die Umstellung vom Petro-Dollar auf den Euro im Norwegischen Parlament diskutiert.
Im März 2005 verursachte die Südkoreanische Zentralbank einen Kursverslust des Dollar um 1,5 Prozent innerhalb von zwei Tagen. Grund: Sie hatte angekündigt ihre Diversifizierung auf Euro umstellen zu wollen.
Im März 2005 wurde die Initiative für ein neues Bretton Woods im italienischen Parlament diskutiert.
Am 2.August 2005 erschien im FAZ-Net die Meldung, dass nach Russland nunmehr auch die arabischen Staaten ihre Währungsreserven diversifizieren wollen.

Dies alles bedeutet, dass die Auseinandersetzung um die Ablösung des Dollars als Leit- und Öl-Währung sich zuspitzen. Die USA-Dominanz wird zunehmend bedroht. Wenn jetzt auch Russland in diese Bewegung mit einsteigt, dann ist das für die USA Alarmstufe ROT; nur Saudi-Arabien verhindert bisher die Ablösung des Dollars im OPEC-Geschäft.
Nach der Beendigung Kriegs um die unmittelbaren Zugriff auf russische Ressourcen, heißt das, zeichnet sich nunmehr eine neue russisch-amerikanische Konfrontation ab, dieses mal auf dem Gebiet der internationalen Finanz- und Währungsparketts.

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Zweitens: BRIC

Ebenfalls seit zwei Jahren kristallisieren sich neue Handels-, Wirtschafts- und Bündnisstrukturen heraus, deren Urheber Peking, Moskau, Delhi und neuerdings auch Teheran sind. Ende des Jahres 2002 unterzeichneten sie einen Handels- und Kooperationsvertrag, BRIC genannt, nach den daran beteiligten Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China.
Wenige Stichworte reichen, um die Brisanz dieses Bündnisses zu verdeutlichen:
China: Inzwischen zweitgrößter Öl-Importeuer; 2004 kauft China Jukos-Anteile, kreditiert die Baikal-Finazgruppe für den Kauf von Yuganskneftegas, kauft sich in Kanadas Ölsand-Felder ein, betreibt Öl- und Gas-Projektes mit dem Sudan am Nil. Im November 2004 besucht Chinas Präsident Hu Jintao Brasilien, Argentinien und Venezuela; Hugo Chávez erwidert den Besuch in China. Im Herbst 2004 schließen China und Iran ein Handelsabkommen, insonderheit zu Öllieferungen, das in allen Punkten gegen die US-Sanktionen agiert.
Indien: Der Indische Ministerpräsident bereist im Jahr 2003 China; 2004 gehen China und Indien eine „Kooperation für Energiesicherheit“ ein, zugleich schließt Indien eine „Strategische Allianz mit Russland“. Im Jahr 2004 entsteht ein „Runder Tisch der asiatischen Energieminister“, entwickelt sich ein regionaler asiatischer Petroleummark, wird die Schaffung einer asiatischen Bank für Energiefinanzen beschlossen. 2004 vereinbart Indien Sonderzölle mit den MERCOSUR-Staaten Südamerikas;. 2005 schließt Indien ein Handelsabkommen mit Russland, zeigt Interesse an iranischen Ölfeldern
Am 10. November 2005 schreibt die Zeitung India Daily:
„Der russische Präsident Putin nimmt eine führende Rolle in der mächtigsten Koalition der Regional- und Supermächte unserer zeit ein. Diese Koalition besteht aus Indien, China, Russland und Brasilien und wird die Vorherrschaft der Supermacht Amerika brechen.“
Ausdruck der neuen Stärke des russisch-asiatischen Dreiecks ist die Weiterentwicklung des Shanghaier Bündnisses (Shanghai Cooperation Organisation – SCO) zu einem asiatischen Pakt, in dem China, Russland, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien und Usbekistan gemeinsam agieren, Iran ist interessiert.

Auf der anderen Seite des eurasischen Spagats stehen Treffen von Putin und Schröder im September 2004 in Oslo: Schröder bittet Putin um 20% Beteiligung von Wintershall an Gasprom statt der bisher 6%. Wenig später schließen Deutschland und Russland eine Gaspipeline durch die Ostsee. Die Deutsche Ban wird zum größten Finanzier der geplanten Aufkäufe von Öl-Firmen durch GAZPROM. Von der Erneuerung des strategischen Bündnisses zwischen Russland und der EU nach Zerschlagung von YUKOS war schon die Rede. Damit schließt sich der eurasische Kreis.

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Drittens: Gegenwind von Süden

Soeben war die Pleite für das panmerikanische Freihandelsabkommen ALCA zu beobachten, das in Mar el Plata in Kraft treten sollte. US-Präsident Bush war anwesend, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen rief Hugo Chavez, Präsident von Venezuela dazu auf, anstelle von ALCA eine Alternative Bolivariana (ALBA) zu gründen, so genannt nach Simon Bolivar, der den Norden Südamerikas von spanischer Kolonialherrschaft befreite.
Dazu passt die Durchführung eines Kongress „Kapitalismus reloaded“ in Berlin im Oktober 2005: Siebenhundert Menschen aus Asien, Afrika Lateinamerika nehmen teil. Sie demonstrieren Zustimmung China, Indien, die BRIC-Staaten, zeigen neues Selbstbewusstsein..

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Die arabisch-islamische Karte

Ein herausragendes Zeichen, das auch die letzten Sicherheiten der USA in Bewegung bringen könnte, die diese mit ihrem „antiterroristischen“ Krieg“ unter dem Namen „enduring freedom“ gerade festzuklopfen versuchen, setzte die russische Regierung – ungeachtet des von ihr in Tschetschenien geführten Krieges – mit ihrer seit 2003 betriebenen Annäherung an die „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC). Im Oktober 2003 hatte Präsident Putin auf der Konferenz der OIC in Malaysia Russlands Interesse an einer Kooperation mit den Worten begründet, Russlands Position als eurasisches Land widerlege die These vom Konflikt der Kulturen und wörtlich: „Für die Bürger unseres Landes sind die russischen Moslems ein untrennbarer und wichtiger Teil des multinationalen und multikonfessionellen Volkes Russlands. Und in dieser konfessionellen Harmonie sehen wir die Stärke unseres Landes. Darin sehen wir sein Gut, seinen Reichtum, seinen Vorteil.“ Inzwischen nimmt Russland an den Konferenzen der OIC mit Beobachterstatus teil.
Parallel zur Annäherung Russlands an die OIC fanden sich im September 2003 hohe Potentaten Saudi-Arabiens zu einem offiziellen Staatsbesuch in Moskau ein, dem ersten seit 1932. Man verständigte sich dabei nicht nur auf ein gemeinsames Programm gegen den Terrorismus, sondern auch auf einen Öl-Dialog zwischen Russland und Saudi-Arabien. Das Königreich Saudi-Arabien und die russische Föderation nehmen den ersten und den zweiten Platz unter den Erdölexporteuren ein und von der Koordinierung ihrer Handlungen hängt wesentlich die Preisstabilität auf dem Weltölmarkt ab.
Fügt man diesen Puzzles die aktuellen Entwicklungen in den Beziehungen zwischen Russland und dem Iran hinzu, die sich auf einem Treffen bilateraler Regierungskommissionen im Dezember 2005 auf die Entwicklung eines ‚United Energy Systems’ zwischen Iran, Aserbeidschan und Russland sowie den Ausbau einer Ergasleitung Iran-Pakistan-Indien und die Inangriffnahme weiterer Projekte einigten und vergegenwärtigt man sich die Bewegungen zur Entthronung des Dollar als Leitwährung, der Aktivitäten der BRIC-Staaten, der Entwicklungen im Dreieck zwischen China, Indien und Russland, dann werden die neueren Konturen des großen Spieles erkennbar: Russland versucht sich nicht nur von einem seitens seiner Führung als aufgezwungen erlebten Krieg der Kulturen zu befreien, sondern durch neue Bündniskonstellationen aus der Umklammerung durch die USA und – weniger bedrängend, aber auch – der EU zu befreien. Russland will nicht länger Objekt von US-Interventionen sein. Was daraus folgt ist offen.

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Nachklänge
NGOs in Russland:
Achtung: Grenzüberschreitung?

Wiederholt kündigte Wladimir Putin im Laufe des letzten zwei Jahre schärfere Kontrollen der Arbeit russischer und ausländischer NGOs in Russland an. Nach den Ereignissen von Beslan im September 2003 sprach er offen von „ausländischen Mächten, die uns zum Spielball Ihrer Interessen machen“ wollen. In seiner Rede an die Nation vom Anfang des Jahres 2005 erklärte er, die Interventionen des Auslands, die über NGOs getätigt würden, seien für Russland nicht weiter hinzunehmen.
Jetzt scheint die Duma seine Ankündigungen umsetzen zu wollen: Am 23. November 2005 verabschiedete sie mit 370 zu 18 Stimmen in erster Lesung eine Gesetzesvorlage zur Tätigkeit „Gesellschaftlicher Organisationen“, die auf eine drastische Einschränkung der Aktivitäten von NGOs zielt, vor allem der in Russland tätigen ausländischen, bzw. vom Ausland unterstützten. Ihnen soll untersagt werden, Filialen in Russland zu bilden, wenn sie nicht von russischen Staatsbürgern getragen werden. Weiterhin sollen ausländische Filialen sich zukünftig nach russischem Recht registrieren lassen; Ausländern, die keine mehr als einjährige Aufenthaltserlaubnis vorweisen können, soll die Gründung russischer NGOs, die Mitgliedschaft oder das Engagement in ihnen nicht erlaubt sein. Wieder ins Spiel kommt der nach 1991 aufgehobene Begriff der „verbotenen Städte“, in denen militärische oder nukleare Anlagen stehen. Zweiundvierzig solcher Städte sollen für NGOs tabu sein.
Neu wäre darüber hinaus eine Aufteilung zwischen NGOs, die unter Beteiligung staatlicher Stellen gegründet worden und solchen, die aus Privatinitiativen hervorgegangen seien. Die meisten der vorgesehenen Einschränkungen gälten nur für letztere. Das träfe vor allem für die Bestimmung zu, dass künftig NGOs geschlossen werden könnten, wenn ihre Gründer wegen Geldwäsche oder anderer Wirtschaftsvergehen rechtskräftig verurteilt worden seien. Diese Bestimmungen zielen, das ist offensichtlich, eindeutig auf die von Chodorkowski gegründete Stiftung „Offenes Russland“, mit der er mit Blick auf die Wahlen 2008 Politik machen möchte, wie er aus seiner sibirischen Lagerhaft deutlich gemacht hat. Mit den neuen Bestimmung wäre jegliche Initiative, die Chodorkowski in Gang setzen könnte, von vornherein im Keim zu ersticken.

Gleichzeitig beschloss die Duma, fünfzehn Millionen Euro für „Maßnahmen zur Demokratisierung“ an russische NGOs fließen zu lassen, die sich für Menschenrechte außerhalb Russlands einsetzen, z.B. für die Unterstützung der russisch-sprachigen Minderheit im Baltikum. Dies alles liefe, wenn es denn tatsächlich durchginge, nicht nur auf ein Abwürgen ausländischer Intervention hinaus, es käme einer Kriegserklärung auf informellem Niveau an die von Putin beklagten Kräfte der Intervention gleich. Die Frage wäre dann nur noch, wem dieser Schritt mehr schadet, diesen Kräften, Russland oder beiden zugleich.

Kai Ehlers
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Der Fall Chodorkowski oder Russlands neue Rolle im aktualisierten „Great game“

Drei Anmerkungen vorweg:

Erstens: Russlands Präsident Wladimir Putin und Russlands reichster Oligarch Chodorkowski sind keine prinzipiellen Gegner. Putins „gelenkte Demokratie“ und Chodorkowskis „legalisierte Privatisierung“ sind zwei Seiten eines Russland, das um seine Identität als moderne Gesellschaft ringt. Insofern liegt die Kandidatur eines reuigen Chodorkowski für die zu 2008 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten Russlands durchaus im Bereich des Möglichen. Eine Beobachtung der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Polen wird im vorliegenden Text nur gestreift, für die kommenden Jahre der innenpolitischen Entwicklung Russlands dürfte er jedoch sehr interessant werden.

Zweitens: Die aktuelle Neuauflage des historischen „Great Game“ ging aus dem Aufkommen neuer Mitspieler im globalen Konkurrenzkampf und das dadurch verursachte Ende des System-Patts hervor; Ort der Austragung ist das von Zbigniew Brzezinski so genannte „eurasische Schachbrett“. Die entscheidende, nicht die einzige Konfliktlinie lautet: „Einzige Weltmacht“ USA contra multipolare globale Ordnung. Ich konzentriere mich hier auf diese Frage.

Drittens: Eine Neuordnung des Spielfeldes, selbst seine mögliche Erweiterung um neue Partner und neue Spielflächen ist noch nicht zu verwechseln mit einer Lösung des Grundkonfliktes; dessen Lösung liegt allein in einer nachhaltigen Änderung der Spielregeln, das heißt, in einem Ausstieg aus der globalen Öl-Wirtschaft durch den Übergang zu erneuerbaren Energien und der Entwicklung einer neuen Wirtschaftsweise, in der eine intensivierte Produktion und moderne Formen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung sich gegenseitig ergänzen. Eine multipolare Neuordnung der Kräfteverhältnisse in der Welt könnte jedoch die Bedingungen für eine solche Entwicklung verbessern. Der folgende Beitrag beschränkt sich darauf, die Rolle zu beschreiben, die Russland für diese multipolare Neuordnung haben könnte.

Grundsätzliches zu den beiden letzten Fragen ist von mir schon an anderer Stelle unter dem Titel: Domino im Kaukasus – über „Filetstücke“ auf dem „eurasischen Schachbrett“ und dem Essay: „Russland – Entwicklungsland neuen Typs,“ veröffentlicht worden. Siehe dazu u.a. auch meine Website: www.kai-ehlers.de.

Den gesamten Text können Sie hier herunterladen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Russland – Aufbruch oder Umbruch?

Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen

Aus dem Klappentext:
Russland – ein Land im Übergang! Doch mit welchem Ziel? Putins Kurs der autoritären Modernisierung bedroht traditionelle Überlebenskräfte, die sich aus Jahrhunderte langer Bewältigung von materieller Not und politischer Verwirrung herausgebildet haben und die sich auch in der gegenwärtigen Krise bewähren.
Kai Ehlers leuchtet hinter die Fassade westlicher Berichterstattung und zeigt uns ein unbekanntes Russland, in dem sich fernab der Zentralmacht neue Formen der Kooperation und Selbstorganisation entfalten.  Zahlreiche Beobachtungen und Analysen geben ein eindrucksvolles Bild der widerstrebenden politischen und ökonomischen Kräfte, die über die Zukunft Russlands als Entwicklungsland neuer Art und als Impulsgeber zukunftsweisender gesellschaftlicher Veränderungen Auskunft geben.

MIm Verlag Pforte/Entwürfe, Dormnach, 2005, 8,– EURO

Permanenter Krieg oder nachhaltiger Frieden?

Interessen, Mächte und Gegenkräfte der Weltpolitik
Herausgeber Ralph-M. Luedtke/Peter Strutynski
Verlag Winfried Jenior, Kassel 2005
Kontakt:
www.uni-kassel.de/FB5/frieden

Darin die Aufsätze:
. Domino im Kaukasus – Filetstücke auf dem eurasischen Schachbrett
. Russkland – Entwicklungsland neuen Typs?

Themenheft 17: OST-West-Dialog Projektmappe II

THEMENHEFT  17:
OST-West-Dialog Projektmappe II

Im vorliegenden Themenheft lesen Sie von einer Reise, die ich vom 4. – 19. Februar 2005 nach Ulaanbaatar, in die Hauptstadt der Mongolei, unternommen habe. Mit dieser Reise verbanden sich mehrere Ziele, die zusammen ein ziemlich dick geschnürtes Paket ergaben. Zwei voll gepackte Wochen standen bevor. Im Einzelnen ging es um folgende Themen:

1. Die mongolischen Partner zu finden und sich mit ihnen zu verabreden, mit denen das Hamburger Projekt „Schaffen wir zwei, drei viele Jurten“ nunmehr praktisch starten kann.

2. Eine Video-Dokumentation zum mongolischen Neujahrsfest aufzunehmen.

3. Kontakte für einen Austausch von Jugendlichen zu knüpfen

4. Absprachen mit dem Sekretär der „International Assoziation of Mongol Studies“ (IAMS) in Ulaanbaatar, Prof. Bira über mögliche Aktivitäten der Jurten-Initiatve zum 8. internationalen Kongress der Mongoloweden zu treffen, der für August 2006 unter dem Thema „800 Jahre mongolische Staatlichkeit““ in Ulaanbaatar geplant ist.

5. Vorarbeiten für ein Buch über die Kultur der Jurte durchzuführen.

Diese Reise unternahm ich auch im Namen des gemeinnützigen Vereins Nowostroika, der den Rahmen für die Hamburger Initiative bildet.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen, Kai Ehlers

Inhalt

1. Notizen in Ulaanbaatar
2 Programm der Initiative „Schafft zwei, drei, viele Jurten
3. Bericht an die Initiative und Vorschläge

Anhang

1. Hamburger Programmentwurf
2. Struktur für ein Jurten-Buch
3. Profil des Vereins Nowostroika
4. Material zu bisherigen Jurtengesprächen
5. Bücher von Kai Ehlers und über den Autor

Losarbeiten – Arbeitslos

Losarbeiten – Arbeitslos
Globalisierungskritik und die Krise der Arbeitsgesellschaft

Herausgeber: Andreas Exner, Judith Sauer, Pia Lichtblau, Nora Hangel, Veronika Schweiger, Stefan Schneider – In Kooperation mit Attac, Verlag Unrast, Münster 2005
Adresse des Verlages:
www.unrast-verlag.de

Darin der Aufsatz:
Aus der Not eine Tugend machen, Exemplarische Entwicklungsimpulse aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus

Profil: Bio- und Bibliografisches

Ich wurde am 19.4. 1944 in Brüx (bei Prag) geboren. Nach dem Abitur im Jahre 1964 habe ich Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft zunächst in Göttingen, ab 1968 in Berlin studiert. Im Zuge der 68er Bewegung ging ich in die journalistische und politische Praxis. Heute bin ich als selbstständiger Forscher, Buchautor, Presse- und Rundfunkpublizist sowie mit Vorträgen, Seminaren, Workshops und Projekten bei Bildungsakademien, freien Trägern, politischen Gruppen in Deutschland und Russland tätig. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf den Wandlungen im nachsowjetischen Raum und deren lokalen wie auch globalen Folgen, denen ich durch Untersuchungen, Gespräche und Aktivitäten vor Ort nachgehe.

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Ukraine nach der Wahl: Halbzeit an den kaukasischen Front

Die erste Schlacht ist geschlagen. Der westorientierte Kandidat Viktor Juschtschenko konnte die Nachwahl mit 52,02 % für sich entscheiden; sein Konkurrent Viktor Janukowitsch blieb mit 44,16 Stimmen zurück. Ein Plus für beide und für die politische Kultur im Lande: die Wahl fand ohne bemerkenswerte Zwischenfälle statt Nach kurzem Zögern erkannte auch Janukowitsch das Ergebnis faktisch an, indem er von seinem bisherigen Amt als Regierungschef zurücktrat und damit den Weg für eine Regierungsneubildung durch Janutschenko freigab. Alle weiteren möglichen Versuche nachzukarten – wie etwa eine Revision der vor der Wahl zwischen den Parteien vereinbarten Verfassungsreformen – sind bereits Vorgriffe auf den zukünftig zu erwartenden innenpolitischen Kleinkrieg um die Frage, welchen weg die Ukraine nunmehr zwischen Russland, der Europäischen Union und ihrem großen Bruder USA einschlagen wird. Dabei ist schon nicht mehr klar, in welcher Fragmentierung der ukrainischen Gesellschaft und in welcher taktischen Konstellation der beteiligten aussenpolitischen Mächte sich dieser Krieg abspielen wird.
Der Sieger Juschtschenko hat in einem Spiegel-Gespräch gleich nach der Wahl erklärt; Russland bleibe strategischer Partner der Ukraine, einzige Bedingung sei, „dass Putin unseren Weg der Ukraine in die EU nicht blockiert“. Das heißt: Der Spagat zwischen Russland und der Europäischen Union wird zum Programm.. Eine „Regierung des nationalen Vertrauens“ soll den Spagat möglich machen und zwar auf der Grundlage, so Juschtschenko, „die wir mit unseren Partnern vereinbart haben“. Welche Vereinbarungen das sind, lässt er offen.
Sehr Vertrauen erweckend klingt das nicht, wenn die beabsichtigte Revision der vereinbarten Verfassungsreform schon jetzt die „moralische Zustimmung“ des neue gewählten Präsidenten findet. Einiges wird dennoch schon jetzt sichtbar: So erklärt Juschtschenko, dass er „keine Rückkehr zur Zeit der Privatisierung“ wolle, um gleich darauf zu präzisieren, von Renationalisierung halte er nichts. Er wolle Stabilität und klare Rechtsverhältnisse; die Unternehmer müssten vor ungerechtfertigten Verfolgungen geschützt werden, Verfolgungen des früheren Präsidenten und seiner Familie werde es nicht geben; andererseits müsse ab dem 26. Dezember 2004 jeder in der Ukraine Steuern bezahlen; die Schattenwirtschaft müsse beendet werden. Dies alles liest sich – verwunderlich aber wahr – wie die verspätete regionale Variante der Verlautbarungen, mit denen Wladimir Putin Anfang 2001 seinen Vorgänger Boris Jelzin ablöste: Keine Verfolgung der Jelzinschen Familie, Stabilität, Rechtssicherheit, Steuergerechtigkeit, kurz, Absicherung der durch die Schock-Privatisierung erreichten Eigentumsverhältnisse ungeachtet der Wege, auf denen sie zustande kamen. Der besondere Ukrainische Weg Juschtschenkos reduziert sich darauf, die Absicherung des Erreichten, die Stabilität und die Reintegration nicht wie Putin zwischen Asien und Europa, sondern zwischen Russland und der Europäischen Union erreichen zu wollen. Eine Entscheidung für die eine oder andere Option ist das nicht! Das strategische Tauziehen wird also weitergehen. Nach wie vor offen ist die Position der Ukraine zwischen den Wirtschaftsräumen der von der russischen Politik gewünschten „slawischen Union“ aus Russland, Weissrussland und der Ukraine, bzw. deren aktueller Form der Wirtschaftsgemeinschaft von Russland, Kasachstan, der Ukraine und Weissrussland und auf der der anderen Seite der Europäischen Union. Das betrifft insbesondere die schwer-industriellen Industrie- und Rüstungskomplexe im Osten der Ukraine, die engstens mit Russland verflochten sind. Konfliktträchtig ist zudem die Rolle der Ukraine als Durchgangsraum für den Energietransfer aus dem kaspischen Raum nach Europa – bzw. in die USA, die bisher mit Russland verbunden sind. In der strategischen Auseinandersetzung um die Kontrolle des kaspischen und von dort ausgehend des gesamten euroasiatischen Raumes nimmt die Ukraine eine zentrale Stellung im Ringen der Großmächte ein. „Ohne die Ukraine“, an diesen Ausspruch des US-Strategen Brzezinski, daran sei hier nur noch einmal erinnert, „ist Russland kein Imperium mehr.“
Vor diesem Hintergrund kommt der Einrichtung eines „Dialogforums“ zwischen Russland und Deutschland zur Lösung des tschetschenischen Konfliktes und zur wirtschaftlichen Stabilisierung des Kaukasus, wie sie zwischen Wladimir Putin und Gerhard Schröder bei ihrem letzten Treffen in Hamburg zum Ende des alten Jahres vereinbart wurde, die Funktion zu, die nächste Etappe des strategischen Ringens zu eröffnen. Man darf gespannt sein, wie die USA auf den Versuch Russlands, seine Isolierung durch eine besondere Annäherung an Deutschland und über Deutschland an die EU zu durchbrechen, reagieren werden. Eine Antwort wird nicht lange auf sich warten lasen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Domino im Kaukasus

Der Kaukasus und sein Umfeld wird immer offensichtlicher zum neuen Konfliktfeld zwischen Russland, der GUS und dem Westen: Die „Rosenrevolution“ in Georgien, das tschetschenische Drama von Beslan, die „orangene Revolution“ in der Ukraine, um nur die letzten Vorgänge zu nennen, dazu viel beschworene kommende Unruhen in Weißrussland. Die Reihe dieser Vorgänge ist nur im geopolitischen Rahmen zu verstehen, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem US-Anspruch auf Weltherrschaft.
Die Eindämmung der Sowjetunion war Hauptinhalt der US-Politik während des kalten Krieges – die Einkreisung und Minimierung Russlands als eurasische Hauptmacht ist das erklärte Ziel der US-Politik seit Auflösung der UdSSR. Nachzulesen ist das bei Zbigniew Brzezinski: „Die einzige Weltmacht“, Fischer, tb, 14358.
Ausgehend vom Zusammenbruch der Sowjetunion entwirft Brzezinski als Hauptaufgabe der „einzig verbliebenen Weltmacht“ die Herstellung der Kontrolle über den Euroasiatischen Kontinent. Wer Eurasien beherrsche, beherrsche die Welt, so seine Grundthese. Erstmals werde Eurasien heute von einer außer-eurasischen Macht beherrscht, nämlich den USA. Eine „Hegemonie neuen Typs“ habe sich entwickelt, die auf der Überlegenheit der amerikanischen Kultur und der Überlegenheit der amerikanischen Machtentfaltung beruhe. Diese Hegemonie müsse jedoch durch Interventionen abgesichert werden, die geeignet seien, den „globalen Pluralismus“ zu fördern, um auf diese Weise „jedes Aufkommen eines Rivalen zu verhindern“.
Wichtigstes Objekt solcher Interventionen ist für Brzezinski das, was er das „Schwarze Loch“ Eurasiens nennt, nämlich Russland. Russland, so Brzezinski, müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln.
Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen:
– im Westen durch NATO- und EU-Erweiterung;
– im Osten durch einen Block aus Japan, Korea, Taiwan;
– im Süden, am Bauch Russlands, durch Eingriffe in das, was Brzezinski den „Eurasischen Balkan“ nennt: Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem Raum gelte es für Amerika, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern.
Der demokratischen und pluralistischen Floskeln entkleidet bedeutet diese neue Strategie nichts anderes als die systematische Anwendung des uralten imperialen Prinzips des Teile-und-Herrsche – jetzt allerdings tatsächlich erstmals in globalem Maßstabe.
Die Reihe der Interventionen auf dieser Linie reißt seitdem nicht ab: Kosovo, Afghanistan, Irak, NATO-Erweiterung über den gesamten Kaukasus bis nach Usbekistan, „Revolutionen“ in Aserbeidschan, Georgien, Ukraine, Aufrechterhaltung der koreanischen Spaltung. Diese Reihe lässt sich mühelos noch um einige Positionen verlängern.

Im Kern geht es um die Neuordnung der globalen Kräfteverhältnisse nach der Auflösung der früheren bi- (genauer tri-) polaren Ordnung, also einer Ordnung, in der eine erste („freie“) und eine zweite („nicht freie“, nämlich kommunistische) Welt sich die Herrschaft über eine dritte, die Welt der ehemaligen Kolonien, teilten.

Für die Neuordnung stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber:

– Die von China ausgehende Konzeption einer multipolaren Welt, die im Prinzip eine konföderative Aufteilung des eurasischen Blocks (UNO, OSZE und regionale Unionen nach dem Muster der Europäischen Union) vorsah und vorsieht. Diese Strategie wurde von den Chinesen Ende der 70er des zwanzigsten Jahrhunderts vorgebracht, von Gorbatschow, später von Jelzin, danach auch von Putin aufgegriffen. Sie ist, ungeachtet aller Anti-Terror-Allianzen und aller Differenzierungen durch die neuen russischen Militärdoktrinen, die bis heute gültige Orientierung russischer Außenpolitik.
– Die von den USA ausgehende Konzeption eines globalen Imperiums der „einzig verbliebenen Weltmacht“, welche die Ausbreitung einer uneingeschränkten Dominanz der USA und die systematische Niederhaltung möglicher Konkurrenten vorsieht. Diese Strategie wird, nachdem sie schon 1994 von Brzezinksi öffentlich formuliert war, heute von den Neo-Konservativen unter G.W. Bush verfolgt – allerdings in einer solchen Weise, die selbst einen Brzezinski noch fast als Taube erscheinen lassen könnte.

Die Anti-Terror-Allianz nach dem 11. 9. 2001, der auch Russland beitrat, überdeckte nur vordergründig und nur zeitweilig die real existierenden strategischen Differenzen, die sich aus der Neuordnung Euroasiens und der daran geknüpften globalen Neuordnung ergaben. Tatsächlich taktierte schon Jelzin, sehr viel geschickter dann aber Putin zwischen Osten und Westen. Das ist unter anderem daran erkennbar, dass westliche Politiker – die ihn als Westler nutzen wollen – immer wieder seine Treue zum Westen, sein Bekenntnis zur Demokratie vermissen und in dies letzter Zeit zunehmend aggressiv anmahnen.
Tatsächlich ist Putins Kurs, oft als konzeptloses Schwanken zwischen Ost- und West gedeutet, keineswegs so konzeptionslos, wie es scheint, sondern die einzig mögliche Position, die Russland zwischen Asien und Europa im globalen Kräfteringen um die Neuaufteilung, um die Neuordnung der Welt – mit Euroasien als dem gegenwärtigen Zentrum der Auseinandersetzung – einnehmen kann.

Entlang dieser von Putin vorgegebenen (und von russischen Nationalisten a la Alexander Dugin und anderen ins Neo-Imperiale und Mystische –Moskau als drittes Rom – verlängerten) Linie eines „starken Russland“, das als Integrationsknoten im Gesamtzusammenhang einer multipolaren Weltordnung stabilisiert und reorganisiert werden müsse, sind sehr differenzierte politische Signale zu erkennen:
– das ist die Öffnung Russlands für das Kyoto-Protokoll, für eine Stärkung der UNO, sein Auftreten gegen den Irak-Krieg, womit sich Russland globale Sympathien verschafft; auch im politischen Einflussbereich Bereich der EU.
– das ist die Wiederannäherung an die der GUS, die Annäherung an China, der Aufbau des Schanghaier-Bündnisses in Fernost, mit denen womit Russland seine östliche Flanke stärkt. Das schließt auch die Stationierung von Truppen mit ein. Das schafft Russland, versteht sich, schon weniger Sympathien im EU-Bereich.
– das ist das Bemühen um eine Restauration des früheren Einflussgebietes durch eine Wirtschafts- und Zoll-Union Russlands, der Ukraine, Weißrussland, Kasachstans und Moldawiens, mit der Russland der NATO-, ebenso wie der EU-Erweiterung, nicht zuletzt auch deren Erweiterung bis in die Türkei Grenzen setzt, bzw. zu setzen versucht. Das ist bereits eine Konfliktlinie mit der EU.

Dass alle drei Aspekte der Außenpolitik Russlands sich in Auseinandersetzung mit dem US-Anspruch der „einzigen Weltmacht“ bewegen, muss ich hier nicht weiter ausführen., denn alle diese Schritte sind auf die Gewinnung von Bündnispartnern im Rahmen einer multipolaren Orientierung gerichtet; aber es bleibt doch auch festzustellen, dass die US-Strategie der „einzigen Weltmacht“ einen Wladimir Putin auf den Plan brachte, der Gorbatschows und Jelzins Ent-Imperialisierung, Entmilitarisierung und Orientierung auf eine zivile Transformation – nolens volens – in eine Abwehr der amerikanischen Intervention(en) und in einen Kampf um die innere und äußere Restauration Russlands überführte, bzw. zu überführen im Begriffe ist.
Nolens volens – damit meine ich, dass Russlands historische Rolle als expansiver Imperialstaat objektiv ausgereizt ist. Mit dem Rückzug aus Afghanistan waren die Grenzen gesetzt. Die Notwendigkeit von Transformation und neuen Wegen intensiver Entwicklung ist für Russland an die Stelle von Expansion getreten. Die Seit 1991 stattfindende Einkreisung Russland durch die USA, NATO, die auf eine Minimierung des Landes, eine (von den USA bewusst und systematisch geschürte) pluralistische Zersplitterung, statt auf eine notwendige konföderative Neugestaltung des eurasischen Herzlandes hinausläuft, hat aber die Kräfte der Restauration mit dem Ziel der Rezentralisierung autoritärer Strukturen auf den Plan gerufen. Faktisch sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen auf dem besten – schlechtesten – Wege in eine neue Phase des kalten Krieges überzugehen, wenn die Hebel nicht gründlich umgelegt werden.

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In dieser strategischen Konstellation kommt dem Kaukasus eine Schlüsselstellung zu. Ich will hier nicht im Detail wiederholen, was unter dem Stichwort Wiederkehr des „Great Game“ dazu in den letzten Jahren bereits erarbeitet wurde – also, dass es im Kaukasus um die Ansicherung auf die kaspischen Ressourcen an Öl, Gas und andere Ressourcen geht.
Ich möchte jedoch auf die neuste Ausarbeitung zu diesen Fragen verweisen, nämlich auf die Zeitschrift OSTEUROPA 9/10, Oktober und September 2004. Dort wird neben dem, was Brzezinski den „Eurasischen Balkan“ nennt, eine „Strategische Ellipse“ beschrieben, auf die Europa seine volle Aufmerksamkeit richten müsse. Diese Ellipse wird von der arabischen Halbinsel über den Irak und Iran, in die kaspische und kaukasische Region bis nach Zentralrusslands hinein gezogen. Sie beschreibt die Gebiete mit den größten vorhandenen und vermuteten Vorräten an Öl, Gas und sonstigen Bodenschätzen auf dem Globus.
In OSTEUROPA sind auch die früheren und bisherigen Pipelines sowie deren Umleitungen vom bisher sowjetisch/russischen auf türkische Transportwege und Endhäfen bestens zu besichtigen. Nach einem Blick auf diese Karten ist klar, wovon Brzezinski redet und was Russland zurückzukämpfen versucht.

Aus Gründen der Aktualität möchte ich zudem darauf hinweisen, dass sich in dieser Ellipse nicht nur das klassische „Great Game“ zum x-ten male wiederholt, sondern dass neue Spieler zu einem Spiel mit neuen Regeln angetreten sind: Beteiligt sind jetzt: die entwickelten Industriestaaten der USA, der EU ebenso wie die kommenden Industrieriesen China, Indien, Iran, dazu die Türkei und Russland selbst.
Der Konflikt, der sich hier anbahnt, betrifft nicht nur die zukünftigen Zugriffe auf die noch verbliebenen fossilen Ressourcen der Welt in einem schärfer werdenden Konkurrenzkampf, sondern auch die Frage, mit welchen Mitteln dieser Konkurrenzkampf ausgetragen wird – ob nach den Gesetzen imperialer Ausbeutung durch den Stärksten oder durch kooperative Völkervereinbarungen entlang solcher Entwürfe wie dem Protokoll von Kyoto, Vereinbarungen über die globale Entwicklung erneuerbarer Energien usw.

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Innerhalb des Kaukasus wuchs dem tschetschenischen Konflikt eine Rolle zu, die sich besonders für Interventionen eignet. Die Gründe liegen in Tschetscheniens Charakter als mehrfacher Durchgangszone:
– Es ist Durchgangsgebiet für kaukasische Öl- und Gastransfers
– Es steht zwischen christlicher und islamischer Welt
– Es wurde nie endgültig kolonisiert; die von Stalin veranlasste Deportation der Tschetschenen ist noch in frischer Erinnerung
– Tschetschenien genoss vor Perestroika einen wirtschaftlichen Sonderstatus, der seine Bewohner zu privatem Handel berechtigte; in den Augen der sowjetischen Bevölkerung waren die Tschetschenen dadurch – darin in Russland oft mit den Juden verglichen – mit dem Vorurteil des Schacherns belastet, lange bevor sie sich durch ihre Forderung nach Souveränität unbeliebt machten.

Kurz: Tschetschenien war das schwächste Glied in der Länderkette des neuen Russland; der tschetschenische Konflikt wurde zum Stachel im Fleisch des ehemaligen russisch-sowjetischen Imperiums, der sich für dessen weitere Schwächung und verdeckte Zügelung geradezu anbot.

Von einer Unvermeidlichkeit des tschetschenischen Krieges zu sprechen oder zu behaupten, er sei insgesamt von außen gesteuert, wie das von russischen Offiziellen hin und wieder zu hören ist, trifft allerdings nicht die Realität. Die Auseinandersetzung begann mit der Auflösung der UdSSR als innerer Konflikt des neuen Russland, sie eskalierte in mehreren Phasen, von denen jede für sich – ungeachtet äußerer Interventionen – Möglichkeiten der Korrektur durch die russische Politik enthielt und auch jetzt enthält:

Es begann mit einem halbherzigen Versuch Jelzins nach der Unabhängigkeitserklärung vom 9.11.1991, der Loslösung Tschetscheniens sofort mit Gewalt entgegenzutreten. Er wurde von der Duma zurückgerufen. Zu frisch war noch die Geschichte seiner eigenen Machtübernahme, die auf dem Angebot an die „Subjekte“ der UdSSR beruht hatte, sich soviel Souveränität zu nehmen, wie sie bräuchten.

Im Dezember 1994, nach der Niederschlagung des „Sowjet-Aufstandes“ vom Herbst 1993, als er sich stark genug fühlte, erklärte Boris Jelzin der abtrünnigen Republik dann doch den Krieg: Auch dieser Versuch endete mit einer Niederlage der Zentralmacht, nicht zuletzt wegen schwerer Fehleinschätzungen der Lage durch die russische Armeeführung.
Ergebnis war eine um mehr als die Hälfte reduzierte Bevölkerung, ein in Trümmern gelegtes Grosny sowie anderer Städte und Dörfer, eine zerstörte Infrastruktur des Landes, ein kriminell-terroristisches gesellschaftliches Milieu, aus dem keine neue staatliche Ordnung, sondern der Rückfall auf archaische Formen der Selbsterhaltung und Selbstjustiz resultierte. Im Waffenstillstand von 1994 sagte die Moskauer zentrale Mittel zum Wiederaufbau des Landes zu, die aber ihre Adressaten niemals erreichten.
Stattdessen wurde Tschetschenien jetzt zum Umschlagplatz für die von der Transformation freigesetzten Abfallprodukte, für die aus der überhitzen Privatisierung resultierenden anti-sozialen und kriminellen Fliehkräfte. Der Kampf um Unabhängigkeit verwandelte sich in einen unkontrollierbaren Prozess der Desintegration und Gewalttätigkeit von allen Seiten – angefangen bei dem marodierenden und korrupten russischen Besatzer-Heer über klassische Guerilla zu purem Banditismus, Umschlagplatz der russisch-eurasischen Mafia, bis zum religiös fundierten Terrorismus.
1997 wurde der tschetschenische Präsident Dudajew von russischem Militär gezielt getötet. An seine Stelle trat Aslan Mashadow, den Moskau nicht als Nachfolger anerkannte. Tschetschenien wurde zum Symbol russischer Sprachlosigkeit und russischen Identitätsverlustes, zum Einfallstor für Fundamentalismus jeglicher Art.

Ende 1999 trat Wladimir Putin mit dem Versprechen an, diesen Prozess der Desintegration zu stoppen. Dafür legte er drei Grundlinien, für die er eine siebzigprozentige Zustimmung in der Bevölkerung bekam:
– Im September 1999 begann er den zweiten Krieg gegen den tschetschenischen Separatismus, indem er ihn als Banditismus aus dem bisherigen russischen Solidarverband exkommunizierte. Als Rechtfertigung diente der Überfall tschetschenischer Kämpfer auf Dagestan. Zugleich forderte er seine Unterordnung unter den russischen Staatsverband – eine Doppelbotschaft, die Chaos, Gesetzlosigkeit und Terror nur anheizen konnte.
– er restaurierte die vertikale Machtstruktur in Russland; Tschetschenien stellte er unter Militärkommando;
– er definierte Russland/Moskau (erneut) als Integrationsknoten zwischen Asien und Europa, das heißt, er setzte der Einkreisung Russlands durch die NATO- und durch die EU-Erweiterung eine Politik der Bündnisse nach Osten und Westen entgegen – wobei er sich gleichzeitig aus imperialen Verpflichtungen (Afghanistan, Irak uam.) herauszog.

Das Drama von Beslan im September 2004 zeigte endgültig, dass Putin sein Versprechen nicht einlösen konnte. Schon der Schauplatz des Dramas, ein Ort in Nord-Ossetien, nicht weit von der georgischen Grenze, signalisierte, dass der tschetschenische Konflikt die Grenzen Tschetscheniens inzwischen verlassen hat, ganz zu schweigen von den vorangegangenen Anschläge auf die Moskauer Metro und zwei Flugzeuge innerrussischer Fluglinien. Das Drama dokumentierte auch, dass es bei den Auseinandersetzungen nicht mehr allein, wenn überhaupt noch, um einen Kampf für Unabhängigkeit Tschetscheniens oder deren Verhinderung geht, sondern um den Versuch, einer allgemeinen Destabilisierung des Kaukasus im Namen einer nicht mehr zu definierenden Mischung unterschiedlichster Kräfte von einfachem Banditismus bis zu internationalen terroristischen Interventionen.
Anders gesagt, die Ereignisse zeigten, dass sich nach fünf Jahren Krieg, Besatzung, Folter und Vertreibung, wirtschaftlicher und sozialer Perspektiv- und Ausweglosigkeit der auf diese Weise provozierte Terror nicht nur selbst reproduziert, sondern im Begriffe ist, sich als Flächenbrand weit über die Grenzen Tschetscheniens hin auszubreiten und Russland in seiner Substanz zu schädigen, das heißt, in seinem pluralen Selbstverständnis zu schädigen, indem er seinerseits das Aufkommen eines chauvinistischen Rassismus auf alles „Nicht-Russische“ provoziert.

Die öffentlichen Bewertungen des Dramas von Beslan durch Politiker der USA, der EU und Russlands ließen darüber hinaus auch überraschende Einblicke in die strategischen Hintergründe des tschetschenischen Konfliktes zu:
Wladimir Putin sprach von fremden Mächten, „die sich beste Filetstücke aus uns herausschneiden wollen“. Viele Beobachter/innen wollten das als Hinweis auf Bin Laden und Al Kaida verstehen – ich sehe darin eine klare Anspielung auf Brzezinkis Formulierung der Filetstücke, die sich die USA auf dem „Eurasischen Balkan“ und im Kaukasus sichern müsse. Wer dies zurückweist, möge sich klar machen, dass Brzezinski heute als Chef des US-„Komitees für den Frieden in Tschetschenien“ fungiert, das unter der Vorgabe, den tschetschenischen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit zu unterstützen, offensiv in russische Innenpolitik eingreift.
In diesem Zusammenhang ist es wohl auch angebracht, sich zu vergegenwärtigen, in welcher Weise Brzezinki sich für die Rolle rühmt, die er seinerzeit als Sicherheitsberater US-Präsident Carters dabei spielte, die Sowjets in Afghanistan in die Falle des Djihads zu locken: (Le Nouvel Observateur, Paris, Januar 1998)

Gefragt, ob die US-Hilfe für die Mujaheddin-Opposition 1979 auf eine bewusste Provokation eines sowjetischen Einmarsches nach Afghanistan gezielt habe, antwortet Brzezinski:

„Nicht ganz. Wir haben sie nicht dazu getrieben zu intervenieren, aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie es tun würden.“

Auf die Frage, ob er das heute bedauere, antwortet er:

„Bedauern? Was? Diese geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hatte den Effekt, die Sowjets in die afghanische Falle zu ziehen und Sie schlagen vor, das zu bedauern? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überquerten, schrieb ich an Präsident Carter: Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu geben. In der Tat, für fast zehn Jahre, musste Moskau einen von der Regierung nicht tragbaren Krieg führen, einen Konflikt, der die Demoralisierung und den endgültigen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums mit sich brachte.“

Jetzt rennt Russland, wenn aus US-Sicht alles gut läuft, zum zweiten mal in die Djihad Falle, denn dies kann man nicht deutlich genug herausheben: Die Russen sind von der Kriegserklärung gegen den Terrorismus – was ja in Wirklichkeit nichts anderes ist als Krieg gegen den militanten Islam – um ein unvergleichlich Vielfaches mehr betroffen als die US-Amerikaner: Zu Russland gehört nicht nur der muslimische Kaukasus, zu Russland gehören auch muslimische Republiken in Zentralrussland. Insgesamt rund 25 Millionen Menschen, 17% der Bevölkerung der russischen Föderation sind Muslime, bzw. Menschen, die im muslimischen Traditonsstrom leben und sich nach dem Zerfall dessowjetischen Weltbildes nun neu am Islamorientieren, ganz zu schweigen von den muslimischen Nachbarstaaten der ehemaligen Sowjetunion: Afghanistan, Irak, Iran, Türkei.
Klar gesagt: Russland kann keinerlei Interesse an einer irgendwie gearteten Eskalation seiner Vielvölker-Kultur zu einem anti-teroristischen Kulturkampf haben! Dieser Kulturkampf ist ein unerwünschter Import aus den USA, der den inneren Zusammenhalt der pluralen Gesellschaft Russlands zu sprengen droht. Dies wird u.a. an der bemerkenswerten Tatsache deutlich – die zwar für westliche Vorstellungen, aber für Russland kein Wunder ist – dass es gerade die russischen Nationalisten sind, welche die stärkste Agitation gegen anti-muslimische Propaganda entfalten und stattdessen zu einer gemeinsamen Front euroasiatischer Muslime und Christen gegen Amerika aufrufen. In dieser von den USA sehr verschiedenen Situation Russlands gegenüber dem Islam liegt eine der tiefsten Ursache für die Differenzen zwischen den USA und Russland.

Schließlich kamen nach dem Drama von Beslan auch von westlicher Seite Bewertungen, die eindeutige Interessenlagen hinter den Ereignissen erkennen lassen: Ich spreche von dem „Offenen Brief“, mit dem „Persönlichkeiten des öffentlichen“ Lebens sich nach den Ereignissen, konkret nach den Ankündigungen Putins, nunmehr mit größerer Geschlossenheit gegen die Bedrohung des Terrorismus und seine Unterstützer in und außerhalb Russlands vorgehen zu wollen, mit Vorwürfen und in einer Tonlage gegen Putin wandten, die an Zeiten des kalten Krieges erinnert. Man klagt Putin als Diktator an, der die demokratischen Werte verrate, während der Westen überall auf der Welt für Demokratie interveniere und wandte sich an die NATO und die EU mit der Aufforderung, ihre bisherige Politik mit Russland zu überprüfen.
Bei Durchsicht der Unterschriftenliste stellt sich heraus, dass die Unterzeichner bis auf wenige Ausnahmen aus den Reihen der aktivsten Neo-konservativen Lobbyisten der USA stammen, von denen auch die initiative für den „offenen Brief“ ausging; nicht wenige von ihnen finden sich auch als Mitglieder im „Komitee für Frieden in Tschetschenien“ wieder.
Auch namhafte Personen aus dem EU-Raum unterschrieben – u.a. der Grünen-Chef Bütikofer, was darauf verweist, dass auch von Seiten der EU ein neuer Wind auf dem Ost-West Felde aufzieht.

Ich will hier nicht in eine Analyse der putinschen Restauration einsteigen. Soviel aber muß gesagt werden: Die aus dem Westen nach Beslan erhobenen Vorwürfe einer Diktatur halten der Realität nicht stand: Zweifellos betreibt Putin einen Kurs der autoritären Modernisierung, der weit entfernt davon ist, westlichen Standards von Demokratie zu entsprechen. Die jüngsten Maßnahmen – Ernennung der Gouverneure, Stärkung der Geheimdienste, Zentralisierung des Parteiwesens, Kontrolle der NGOs und Basisinitiativen – zeigen aber eher die tatsächliche Schwäche des von Putin gewollten „starken Staates“ und laufen eher auf eine Eskalation der Schwäche hinaus, als auf eine Diktatur Putins. Es ist ja nach wie vor eine Tatsache, dass die von der Moskauer Zentrale beschlossenen gesetze und Verordnungen vor Ort nur sehr partiell wirksam werden. Das heißt, die Frage ist nicht, ob Putin ein Diktator ist, sondern was geschieht, wenn Putin seine Option, den starken Staat mit einer liberalen Gesellschaftsverfassung verbinden zu wollen, nicht durchsetzen kann? Eine neuerliche Verteufelung der russischen Verhältnisse als Diktatur ist mit Sicherheit keine Hilfe für die liberale Seite dieser Option, erst recht nicht, wenn dabei die Einführung militärischer Interventionen im Irak und anderswo und die Einführung des präventiven Sicherheitsstaates im eigenen Land als Kampf für die Demokratie herausposaunt wird.

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Aktuellster Ausdruck dieser Entwicklung ist die Wahlkrise in der Ukraine. Westliche Politiker und Medien schreien laut: Demokratie in Gefahr! Im Kern geht es darum, Russland zurückzudrängen. „Russland ohne die Ukraine ist kein Imperium mehr“, schrieb Brzezinski bereits 1994. Die Gefahr einer Spaltung des Landes, das heißt der weiteren Fragmentierung des Krisengebietes zwischen Russland und der EU wird dabei von der Mehrheit der westlichen Kritiker in Kauf genommen. Generell lässt sich sagen: Eine Art neuer Stellvertreterkrieg – in Gestalt örtlicher „Revolutionen“ hat sich am Bauch Russlands und seiner westlichen Front entwickelt: Aserbeidschan, Georgien, Ukraine, tendenziell Weißrussland. Die Rollen sind klar verteilt: Die USA interveniert und pluralisiert, die EU assistiert und moderiert aus dem Hintergrund: Russland versucht zu stabilisieren. Begriffe wie „Pluralität“, „Demokratie“ oder „Revolution“ werden dabei fadenscheinig und verkehren sich ins Gegenteil. Paradox formuliert: Die USA „pluralisieren“ und destabilisieren im Interesse einer unipolaren, Russland zentralisiert im Interesse einer pluralen, multipolaren Ordnung. Eine verkehrte Welt könnte man das nennen, deren Verkehrtheit beweist, dass nicht nur die globalen Machtverhältnisse, sondern in viel größerem Maße noch unsere Begriffe einer dringenden Neuordnung bedürfen, wenn wir nicht – wieder einmal – in Orwellscher Sprachverwirrung enden wollen.
Um die Lösung der örtlichen historisch gewachsenen, ethnischen oder wirtschaftlichen Probleme geht es jedenfalls, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie. Der tschetschenische Krieg, möchte ich behaupten, wird überhaupt nur noch aus der strategischen Konfliktlage heraus geführt: Wo Russland zurückweicht, ziehen morgen die Ausbilder der NATO ein. Die örtliche Bevölkerung ist an diesem „Spiel“ nur noch als Opfer beteiligt, nicht mehr als handelndes Subjekt mit eigenen Zielen. Die große Mehrheit der noch lebenden Bevölkerung versucht, irgendwie ihr Überleben zu organisieren oder in der Diaspora den Krieg und die Vertreibung zu überdauern. Das wird solange so bleiben, wie die strategischen Interessen in dem Raum nicht entschieden sind und das ist solange nicht der Fall, wie die letzten Entscheidungen über die Pipelineführung noch nicht gefallen sind.
Ungeachtet des Überlebensdrucks, der von der Bevölkerung ausgeht, ungeachtet auch des Existenzdruckes einzelner der auf dem Kaukasus entstandenen neuen Staaten, selbst unabhängig von den Wünschen der USA oder EU, dürfte die entscheidende Frage sein, wie lange Russland diese Entwicklung weiter durchhalten kann – und will. Objektiv ist die Situation herangereift, der Einkreisung, dem „revolutionären“ Zündeln der „einzigen Weltmacht“ und ihrer Parteigänger Einhalt zu gebieten, zumal auch US- und EU-Interesse nicht mehr voll identisch sind, sich vielmehr die Notwendigkeit ergibt, Möglichkeiten der besonderen Kooperation zwischen Russland und der EU zu entwickeln. Weder Russland noch die EU kann an einer neuen Teilung Euroasiens interessiert sein – dieses mal vielleicht quer durch die Ukraine und den Kaukasus. Russland wie auch die EU muss handeln. Interessanterweise signalisiert der Konflikt um die Ukraine neben der Zündelei der „demokratischen Revolutionäre“ auch das Bemühen, die Entwicklung nicht aus dem Ruder laufen zu lassen; langfristig angelegte Perspektiven einer für alle Seiten annehmbaren Lösung werden jedoch bisher nicht erkennbar.

Damit kommen wir zur Frage der Alternativen: Kritiker des US-Kurses wie der Britische Journalist John Laughland schlagen den Russen einen radikalen Schritt vor, nämlich, ihren ÖL-Handel von Dollar auf Euro-Basis umzustellen. „Das würde“, so Laughland, „eine massive geopolitische Verschiebung auslösen, da die gegenwärtige Funktionsweise des internationalen Finanzsystems mit der starken Bevorzugung des Dollars durch die Bindung an den Ölhandel eine der elementarsten Machtressourcen der USA darstellt.“ (aus der Online-Zeitung „Eurasisches Magazin“, 11/04) Der Gedanke klingt plausibel. Ein solcher Schritt – im Alleingang von Russland unternommen – könnte jedoch katastrophale Reaktionen der USA auslösen. Ruhe zu halten ist geboten! Einziger Weg aus der gegenwärtigen Sackgasse der unipolaren „Revolutionsstrategie“ der USA dürfte daher in einer reformierten, das heißt, einer auf die reale Vielfalt der heutigen Völkergemeinschaft begründeten UN liegen, die einen solchen Schritt, wenn er denn versucht würde, absichern könnte, um damit jenen pluralen Rahmen zu schaffen, von dem die USA-Strategen nur reden, während sie die Pluralisierung real benutzen, um ihr unipolares Interesse durchzusetzen, aber selbst ein solches Vorgehen, das steht zu befürchten, käme noch einem Ritt über den Bodensee gleich.
Vorzuziehen wäre natürlich eine Vorleistung Moskaus im Sinne seiner prinzipiellen multipolaren Orientierung, etwa die Einleitung von Gesprächen mit allen kaukasischen Beteiligten, einschließlich verschiedener Vertreter Tschetscheniens, des russischen wie des aufständischen, und der unmittelbaren Anrainer des Kaukasus. Anzuknüpfen wäre an Vorstellungen einer kaukasischen Könföderation, die nach dem zerfall der Sowjetunion im kaukasischen Raum entstanden. Die Möglichkeit für einen solchen Schritt Moskaus und die Bereitschaft zu einem solchen kaukasischen Kofliktmanagment sinken jedoch mit jedem „Offenen Brief“ und mit jeder „revolutionären“ Intervention der Art wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Anders gesagt: Die Hebel der Ost-Politik und damit der gesamten außenpolitischen Orientierung müssen in der Tat herumgerissen werden, aber nicht in Richtung verstärkter Interventionen, wie der „Offene Brief“ es fordert, sondern in Richtung einer Ersetzung des westlichen Interventionismus durch eine tatsächlich demokratische, das heißt pluralistisch und multipolar orientierte globale Kooperation. Das dies an die Entwicklung einer Utopie grenzt, muss ich nicht weiter ausführen, aber letztlich, das wissen wir alle, kommt die Kraft zum Handeln eben gerade aus der Utopie.

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Um nicht in Hoffnungslosigkeit zu enden, möchte ich zum Schluss noch auf eine Erkenntnis hinweisen, die neuerdings von Astronomen vorgebracht wird, die sich auf die Erforschung von „Schwarzen Löchern“ spezialisiert haben: Sie beobachteten nämlich, dass Schwarze Löcher nicht nur Energie schlucken, sondern zugleich die Geburtsstätten neuer Sterne und ganzer Universen sind. Man kann nicht darauf warten, sich nicht einfach darauf verlassen, aber diese Erkenntnis rückt doch zumindest die geschichtliche Dialektik wieder zurecht. Deswegen habe ich einen weiteren Text unter die Überschrift „Russland – vom schwarzen Loch zum Entwicklungsland neuen Typs“ gestellt.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Der Text basiert auf einem Vortrag beim Friedensratschlag in Kassel am 4./5.12.2004

Aktuelle Veröffentlichungen des Autors zum Thema sind:
1.· „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

2. · „Wofür steht Russland? Wohin geht es? – Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk?
Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands. Modelle einer anderen Modernisierung. Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland. – Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme vom Sommer 2004 in der Reihe „Themenhefte“, Nr. 15/16, September 2004, zu beziehen über den Autor: info@kai-ehlers.de

3. · Im Februar 2005 erscheint der Dialogband: „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“, im Verlag Entwürfe Pforte

Ukraine: Sieg der Demokratie?

Es scheint vollbracht. Die Genugtuung ist nicht zu überhören. Der ukrainische Präsident Kutschma erkennt das Urteil des obersten Gerichtes an, die Stichwahl zu wiederholen. Die streitenden Parteien haben sich darauf geeinigt, im Parlament über ein Paket von Forderungen beider Seiten abzustimmen. Juschtschenkos erwartet die Entlassung der Regierung Janukowitschs sowie eine Neubesetzung des Landeswahlausschusses und eine Änderung des Wahlrechtes noch vor dem genannten Termin für die Neuwahl. Präsident Kutschma will, dass die Opposition einer Verfassungsänderung zustimmt, die vorsieht, die Rechte des Präsidenten u.a. bei der Wahl von Gouverneuren zugunsten des Parlamentes und des Ministerpräsidenten zu beschneiden. Die OSZE will an die 2000 Wahlbeobachter ins Land zu schicken, um eine Spaltung des Landes zu verhindern, der russische Präsident Putin rügt den Westen für „koloniale Methoden der Einmischung“, erklärt sich aber bereit, den Ausgang der Wahl anzuerkennen. Alles gut also? Wieder ein Dominosteinchen für ein demokratisches Haus Europa aufgestellt? Mitnichten, fürchte ich; schauen wir genau hin:
Erstens: Was hat das oberste Gericht beschlossen? Das Gericht kritisiert die Wahlkommission dafür, dass sie die Ergebnisse schon bekannt gegeben habe, als noch Klagen anhängig waren, weiter, dass „ein und derselbe Bürger mehr als einmal in die Listen aufgenommen wurde“, dass der Umgang mit den Wahlberechtigungsscheinen die „Anforderungen verletzte“, dass der „Wahlkampf in den Medien ohne Kontrolle über gleichmäßigen Zugang“ durchgeführt wurde und schließlich, dass das „Verbot der Einmischung von Angehörigen der Exekutive und von Beamten örtlicher Behörden in den Wahlkampf“ nicht erfüllt worden sei. Unter diesen Umständen kam das Gericht nicht etwa zu dem Schluss, Juschtschenko sei betrogen worden und müsse als Wahlsieger anerkannt werden, sondern es erklärte, „dass es unmöglich (sei), den wirklichen Wählerwillen festzustellen“ und daher die Wahl zu wiederholen sei.
Zweitens: Welche Änderungen des Wahlgesetzes verlangt die Opposition? Sie verlangt, dass in Zukunft nicht mehr stellvertretende Stimmen abgegeben werden dürften und dass es keine mobilen Wahllokale mehr geben solle. Wenn man weiß, wie Wahlen traditioneller Weise im vor-sowjetischen und sowjetischen Raum wie auch danach noch stattfanden, nämlich im patriarchalen Konsens, sprich gemeinschaftlich organisiert, dann bedeutet dies – vom materiellen Gehalt her gesehen – nicht mehr und nicht weniger, als dass die Beeinflussung der Wählerinnen und Wähler in Zukunft nicht mehr unmittelbar in ihren jeweiligen Kollektiven oder auch noch direkt vor der Wahl geschieht, sondern auf einen Wahlkampf vorverlagert wird. Dies kann man als einen Fortschritt an formaler Demokratie betrachten; ob er automatisch zu mehr Demokratie im Sinne einer freiheitlichen Selbstbestimmung führt, das kann man nicht nur, das muss man bezweifeln, wenn man sich die Wahlvorgänge in entwickelten Demokratien, zuletzt zum Beispiel in den USA anschaut.
Drittens: Was beinhaltet die Zustimmung der Opposition zur Verfassungsänderung? Der materielle Gehalt der Änderung läge darin, Präsidialbürokratie, Provinzbarone und die mit ihnen verflochtenen Oligarchen der ukrainischen Olikratur kontrollierbar zu machen. Käme es so, wäre das sicher ein Gewinn für gesellschaftliche Transparenz in der Ukraine. Aber erstens soll – gleich wer gewählt wird – die Verfassungsänderung erst ab September 2005 in Kraft treten; bis dahin ist viel Wasser den Dnepr hinuntergeflossen. Ein Blick auf die Akteure im Hintergrund lässt zudem erkennen, dass auch eine von der Opposition gestellte Präsidentschaft und Regierung Spielball der Olikratur bliebe. Bezeichnend ist beispielsweise die Rolle, die Pintschuk, Schwiegersohn von Kutschma, jetzt spielte. Er ist einer der einflussreichsten Oligarchen auch im Osten des Landes. Das hat nicht daran gehindert, die „orangene Revolution“ kräftig zu sponsorn und bekannte US-Größen wie Kissinger, Soros, Brzezinksi vor der Wahl ins Land einzuladen. Er hat, wie der Spiegel in Anlehnumg an eine volkstümliche Beurteilung des Oligarchen es ausdrückt „Eier in jedes Körbchen gelegt“.
Bleibt schließlich noch anzumerken, dass selbst zweitausend Wahlbeobachter der OSZE nichts an der Tatsache ändern können, dass auch das sauberste formaldemokratische Wahlritual nicht die tatsächlichen Hindernisse für eine Selbstbestimmung der ukrainischen Bevölkerung beseitigt, nämlich die Lage ihres Landes zwischen einem um seinen Bestand kämpfenden Russland und einer sich ausweitenden Europäischen Union. Dieses Problem wird nicht durch die Wahl des einen oder des anderen Kandidaten entschieden, sondern einzig allein durch deren Kooperation, auf welchen politischen Ebenen diese sich auch immer entwickeln mag. Diese Kooperation wird ohne aktive Beteiligung Russlands und der EU und darüber hinaus der internationalen Staatengemeinschaft jedoch nicht zustande kommen. So verstanden, kann die Ukraine zum Testfall einer globalen Demokratisierung werden.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

 

Ukraine –schon wieder Putin?

Die Wahl in der Ukraine brachte nicht den Mann ins Präsidentenamt, den der Westen und die west-orientierte Opposition erwartet hatte: Statt des
Liberalen Juschtschenko rief die zentrale Wahlkommission den konservativen Janukowitsch zum Wahlsieger aus, den Wladimir Putin zuvor mit zwei persönlichen Besuchen in Kiew als seinen Wunschkandidaten unterstützt hatte und dem er noch vor der amtlichen Bestätigung zu seinem Wahlsieg gratulierte. Statistische Hochrechnungen hatten vor der Wahl eine klare Mehrheit für Juschtschenko erwarten lassen, um so weniger konnten die Parteigänger Juschtschjenkos dessen unerwartete Niederlage akzeptieren. Sie klagen Wahlfälschung an und erklären, die Straße erst verlassen zu wollen, wenn ihr Kandidat als Präsident vereidigt worden ist.

In diesen Vorwürfen werden sie durch die Bush-Regierung, die euro-päischen Union wie durch Wahlbeobachter der OSZE bestärkt, die Russland, insbesondere Wladimir Putin, massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates vorwerfen, mit der er eine demokratische Entwicklung in der Ukraine und einen davon ausgehenden demokratisierenden Dominoeffekt in Weißrussland und in kaukasischen Staaten verhindern wolle. Wieder einmal steht der „Neo-Imperialist“ Putin am Pranger – und mit ihm pikanterweise zugleich auch sein Freund Gerhard Schröder, der ihn wenige Tagen zuvor in einer Talkshow zum „lupenreinen Demokraten“ erklärt hatte.

Man muss kein Mitglied der putin-nahen Partei „Einheitliches Russland“ und
kein rechter SPD-ler sein, um in diesen Bewertungen dasselbe Muster zu
erkennen, mit dem eine Gruppe von „internationalen Persönlichkeiten“ nach
den Ereignissen von Beslan auf Initiative US-amerikanischer Konservativer in einem “Offenen Brief“ an die NATO und EU eine Korrektur der bisherigen
kooperativen Russlandpolitik forderte und es muss darauf im Wesentlichen
dieselbe Antwort gegeben werden: Ja, es wurde manipuliert, allerdings von
beiden Seiten, so wie üblicherweise in den nachsowjetischen Staaten
manipuliert wird, wo bisher keine formaldemokratischen Wahlabläufe eingeübt sind, sondern nach patriarchalen Vorgaben gewählt wird. Aber müssen sich gerade die USA zur Kritikern aufwerfen, nachdem die Welt soeben ihre chaotischen Wahlverfahren mit ansehen musste? Und weiter: Ja, Putin hat sich eingemischt, Russland hat Interesse an einer autoritären Stabilisierung der Ukraine und mit dem Eingreifen wird die Entwicklung gestoppt, zumindest behindert, die gemeinhin als Demokratisierung bezeichnet wird.

Aber was ist das für eine Demokratisierung, die die Ukraine seit dem Ende
der Sowjetunion Schritt für Schritt an die NATO, an Europa bindet, sie aber
zugleich von einer Mitgliedschaft einer europäischen Wirtschafts-gemeinschaft ausschließt? Faktisch wurde die Ukraine zum Armenhaus, zum Frontstaat, zum Aufmarschgebiet zwischen Russland und der „einzig verbliebenen Weltmacht“ USA, die seit dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan systematisch daran arbeiten, Russland auf einen Kernbestand zu reduzieren, um die öl-haltigen „Filetstücke“, die Gas- und sonstigen Ressourcen Euroasiens neu verteilen zu können. Wer es nicht glaubt, lese Zbigniew Brzezinksis „Einzige Weltmacht“ und vergleichbare Äußerungen von konservativen US-Strategen, die gerade die Abspaltung der Ukraine aus dem ehemaligen russischen Verband als besonders dringlich bezeichnen.

Die EU-Strategen, weniger offen, aber nicht weniger begehrlich, sprechen verschämt von der „strategischen Ellipse“, die Objekt einer gezielten europäischen Sicherheitspolitik sein müsse. Diese „Ellipse“ ziehen sie von Saudi-Arabien, dem Iran, Afghanistan über die kaspische Region, den Kaukasus bis nach Nord-Russland. Die Ukraine ist Teil davon. Wer
auch dieses nicht glaubt, nehme sich die neuesten Veröffentlichungen der
regierungsnahen Zeitschrift „Osteuropa“ zur Hand, die soeben unter dem Titel „Europa unter Spannung –Energiepolitik zwischen Ost- und West“ erschienen sind.

Ins Niemandsland zwischen NATO, EU und Russland gedrückt, ist die Ukraine zum politischen Spielball zwischen den Blöcken geworden. Der Ausgang der jetzigen Wahlen, wie sehr im Detail auch manipuliert worden sein mag, ist daher nicht in erster Linie Ergebnis von äußeren Eingriffen, weder russischer, noch westlicher, auch nicht von Manipulationen, sondern mit seinem faktisch unentschiedenen Ergebnis authentischer Ausdruck dieser Situation: Die Ukraine ist ein geteiltes, ein gespaltenes Land, das zur Zeit nicht weiß, ob seine Zukunft in einer Wirtschaftsunion mit Russland liegt, die 2004 mit Aussicht auf eine Zollunion unter Einschluss von Kasachstan, Weißrussland und Moldawien gebildet wurde, oder ob sie einen Mitgliedschaft in der EU anstreben soll, die jedoch in unerreichbarer Ferne liegt.

Wladimir Putins Eintritt für seinen Wunschkandidaten Janukowitsch ist unter diesen Umständen nicht mehr und nicht weniger zu kritisieren als die politischen Aufmunterungen aus Washington, die finanziellen Zuwendungen für die liberale Opposition oder die Ausbildungsprogramme der NATO. Beides ist Ausdruck schlichter Machtpolitik, die auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Themenheft 15/16: Wofür steht Russland? Wohin geht es?

THEMENHEFT 15/16:
Wofür steht Russland? Wohin geht es?

(zweite, korrigierte Auflage)

Reform oder Kriegserklärung gegen das eigene Volk? Anatomie der neo-liberalen Modernisierung am Beispiel Russlands

Modelle einer anderen Modernisierung; Ansätze für Alternativen in Russland und Deutschland

Erweitertes Tagebuch einer Bestandsaufnahme:  Sommer 2004

Aus dem Inhalt:

– Eindrücke nach der Wahl.
– Putins Sozialpolitik: Exemplarische Angriffe auf den Fürsorgestaat.
– Prinzipielles im Vergleich: Funktionswandel des Staates – Vom Sozialstaat zum präventiven Sicherheitsstaat?
– Kritiken, Proteste, neuer Untergrund? Rechte und linke Anti-Globalisierer.
– Von der Not zur Tugend? – Selbstversorgung, Selbstverwaltung, Kooperativen.
– Impulsgeber Russland: Entwicklungsland neuen Typs.
– An der Wolga – alles anders? Globale Dimension der Modernisierung.
– Generelle Alternativen für eine andere Modernisierung über Russland hinaus: Ziele, Forderungen, neue Formen des Widerstands.

Anhang:

– Bücher von Kai Ehlers zu Russland
– Über den Autor

Globalisierung –aber wie? Für eine andere Globalisierung, für weniger Staat, aber mehr soziale Gerechtigkeit, gegen die Entwicklung eines präventiven Sicherheitsstaates

Im Prozess der Globalisierung treten heute, ungeachtet aller Besonderheiten der einzelnen Länder, immer deutlicher die Grundzüge hervor, die der Modernisierung im einen wie im anderen Lande gemeinsam sind. Besonders deutlich wird das im Vergleich mit dem russischen, wie generell den nachsowjetischen Versuchen, das wissenschaftlich-technische Fortschrittsbild des Sozialismus gegen eine Modernisierung westlichen Zuschnitts auszutauschen. Kern all dieser Entwicklungen ist der Funktionswandel des Staates, das Ende des Sozial- und Fürsorgestaates alten patriarchalen Typs vor dem Hintergrund der generellen Krise des industriellen Wachstumsmodells und die damit verbundene sich überall ankündigende andere Organisation der Arbeit und der Familie.

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Erotik des Informellen Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus

Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation, Alternativen für eine andere Welt,

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edition 8, Zürich,

Themenheft 14: 0st-West-Dialog Projektmappe Umgang mit dem Tier

THEMENHEFT 14:
0st-West-Dialog Projektmappe Umgang mit dem Tier
Materialien zur interkulturellen Kooperation zwischen nomadischer Modernisierung und industrieller Ökologisierung

Projektmappe I, Mongolei

– Das Projekt
– Wie das Projekt entstand

Dokumente
– Aufruf zur gegenseitigen Transformation 1997
– Festival der Nomaden 1998
– Vertragsentwurf für ein Symposion 2002

Materialien, Hintergrund
– Gespräch mit Dr. Nalgar Erdenetsogt, Chefveterinär in Ulaanbaatar: Ursprüngliche nomadische Ökologie der Mongolei
– Gespräch mit Prof. Bira, Sekretär der internationalen Assoziation der Mongolenforscher in Ulaanbatar: Nomadisierung und Zivilisation
– Kulturraum Altai (Russland, China, Kasachstan, Mongolei)
– Strategische Lage der Mongolei (Kongress-Text, engl.)
– Zur Person des Autors

Sieben Kandidaten, aber keine Wahl?

Laut Umfragen ist der Sieg Wladimir Putins gewiß; 70 – 80 % der Befragten sind bereit ihn zu wählen. Von den übrigen sechs Kandidaten rangieren die ersten mit 3.5 % der Stimmen für Sergei Glasjew, 1,4% für Nicolai Charitonnow, 1,1, % für Irina Chakamada. Die restlichen drei Kandidaten vereinigen gerade einmal 1 % der Rating-Stimmen auf sich: 0,4 % für Iwan Rybkin, 0,3 % für Sergei Mironow und ganz am Ende mit 2 % Oleg Malyschin, den Kandidaten Wladimir Schirinowskis.
Warum treten die sechs Kandidaten unter solchen Umständen überhaupt gegen Wladimir Putin an?
Sergei Glasjew gilt als echter Herausforderer. Er war schon in der Dumawahl der Überraschungssieger, dessen neugegründeter Wahlblock „Heimatland“ von Null auf  9.04 %  aufstieg. Auch wenn er jetzt nicht als Kandidat des Blocks aufgestellt wurde, sondern unabhängig kandidiert, prescht er weiter voran: „Das Land steht vor einer Wahl“ so Glasjew. Statt den Oligarchen weiterhin zu erlauben, die Ressourcen des Landes rücksichtslos auszuplündern, müsse dieses Geld für eine neue Konzeption des Staatshaushaltes und eine neue Wirtschaftspolitik eingesetzt werden: Steuern für Superprofite, Verantwortung der Regierung für den Lebensstandard im Lande. Glasjew kritisiert dabei gleichermaßen Regierung wie Kommunisten, die mit Putin paktiert haben. „Wie die Armut zu besiegen ist in einem reichen Land“, lautet eine seiner zugkräftigen Agitationsparolen. 1961 geboren, tritt Glasjew damit nicht als aktuelle Konkurrenz zu Putin an, rechnet sich aber Chancen aus, die Kräfte zu bündeln, die eine Alternative zu Putin wollen, bzw. über Putins kommende Amtszeit bis zur nächsten Wahl im Jahre 2008 vorausdenken.
Für die übrigen Kandidaten liegen die Dinge anders: Nicolai Charitonnow, Kandidat der Kommunisten, tritt einen Pflichtweg an, um für seine schwer  angeschlagene Partei Präsenz zu zeigen. Charitonnow hat nichts vorzuweisen, was sich irgendwie vorteilhaft von den Vorstellungen Glasjews abheben würde: In seinem Programm verspricht er, den Mindestlohn und „die Mindestrente zu erhöhen, die Rechte der Bürger auf Arbeit und Erholung wiederherzustellen, Massnahmen zur Sanierung der Umwelt zu ergreifen, die staatliche Einheit des Landes zu sichern, Kriminalität und Terrorismus zu unterbinden sowie die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu erhöhen und die Autorität der Familie wiederherzustellen.“ Die erforderlichen Mittel möchte er – anders als Glasjew – nicht aus der Besteuerung, sondern aus der Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen gewinnen. Damit schrumpft sein Programm, vorgetragen zudem von einem Oberst des Inlandgeheimdienstes FSB und aktuellen Verehrer des stalinschen Geheimdienstchefs Dscherschinski, auf eine Überlebensgeste zur Rettung veränderungsunfähiger Traditionalisten und der Konservierung übriggebliebener alter Parteistrukturen.
Frau Chakamada ist Aushängeschild der Ultra-Liberalen und Oligarchen. Ihr Wahlkampf wird von einem Großaktionär des Yukos Konzerns finanziert. Sie macht Politik offenbar als Provokation: Sie eröffnete ihren Wahlkampf noch vor ihrer Nominierung mit frontalen Angriffen auf Präsident Putin, dem sie vorwarf, bei der Beendigung des Geiseldramas in einem Moskauer Theater im Herbst 2002 keine Rücksicht auf das Leben der Geiseln genommen zu haben. Vielmehr habe er ein gewaltsames Ende der Geiselnahme angeordnet, um sich als Law-and-Order-Präsident zu beweisen. Ebenso decke er die Verwicklungen des Geheimdienstes in den tschetschenischen Terrorismus. Auf ihrer Internetseite beklagt Frau Chakamada nach einem, wenn auch bisher ausgesetzten,  Haftbefehl gegen ihren Wahlkampfsponsor, den Yukos-Aktionär Lenid Newslin das „Anlaufen der Repressionsmaschine“. Offenbar solle sie eingeschüchtert werden. Eine politische Alternative hat Frau Chakamada jedoch nicht anzubieten. Eine neue Welle der Privatisierung, für die sie eintritt, wird von der Bevölkerung definitiv abgelehnt. Die „Union rechter Kräfte“, deren Mitglied Frau Chakamada ist, ist mit den Forderungen ihres Spitzenkandidaten Anatoly Tschubajs nach einer Privatisierung der kommunalen Strukturen bei der Wahl zur Staatsduma im Dezember sang und klanglos gescheitert. Da hilft es Frau Chakamada auch nichts, dass sie als unabhängige Kandidaten auftritt, die nicht von der Partei nominiert wurde. Ihre Angriffe gegen Präsident Putin, erwecken angesichts der Tatsache, dass ihre Partei in der Duma allen Kritiken zum Trotz letztlich Mehrheitsbeschaffer für den Päsidenten war, eher Irritation. Frau Chakamada kann den Verdacht nicht entkräften, nur verbal gegen Putin, praktisch aber mit ihm zu gehen.
Die restlichen drei Kandidaten leisten Schützenhilfe für einen Präsidenten und für ein Regierungssystem, dessen Stabilität dann gefährdet ist, wenn die Bevölkerung so sehr von der Übermacht des jetzigen Präsidenten überzeugt ist, dass sie zu 50% nicht zur Urne geht. Was den Dauer-Provokateur Schirinowski dazu bewogen hat, an Stelle seiner eigenen Person wie bei den vorherigen Präsidentenwahlen seinen ehemaligen Leibwächter  als Kandidat zu benennen, bleibt sein Geheimnis.

Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus

Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation, Alternativen für eine andere Welt

WEBbesprechung:  Der massive Abbau des Bruttosozialprodukts auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion führt nicht zu einer eigentlich zu erwartenden adäquaten Katastrophe im Alltag. Wie helfen sich Menschen ausserhalb der Oligarchie und der offiziellen Statistik? Kai Ehlers analysiert Hintergründe und neue Strukturen dieses Alltags und bettet die Erkenntnisse ein in den Prozess der Globalisierung. Die Menschen wurden mit Einsetzen der Industrialisierung aus ihrer tierwirtschaftlichen oder agrarischen Selbstversorgung herausgelöst und in die Lohnarbeit hineingezwängt. Sie werden nunmehr aus dem Lohnarbeitsprozess wieder in die Selbstversorgung hineingedrückt. Die jetzige Situation unterscheidet sich aber total von der Ausgangslage: Die Strukturen, Ressourcen und Kenntnisse der früheren Selbstversorgungswirtschaft sind weitgehend zerstört. Der Versuch ihrer Auflösung ist jedoch immer wieder am Widerstand der realen Verhältnisse gescheitert. Nach außen nehmen Mitglieder der Versorgungsgemeinschaft an der Lohnarbeit teil, während andere im Bereich der Selbstversorgung, des Tauschs und Service tätig sind. Die Ergebnisse werden in der Versorgungsgemeinschaft ausgeglichen. Eine nachhaltige Form der Arbeitsteilung entsteht mit veränderlicher Rollenteilung. Dies könnte sich als die – wenigstens eine – soziale Form erweisen, in der nachhaltiges Wirtschaften, Leben und Gestalten eine Zukunft ermöglicht.

edition 8, Zürich, April 2004

Dokumentierte Gespräche

Jedes Gespräch öffnet eine Welt – aber jede schritliche Fassung fodert auch einen großen Arbeitseinsatz. Darum ist die Zahl derer, die ich bisher schriftlich fassen konnte, begrenzt. Im Suchprogramm können Sie jedochthematischen Zugang zu den Gesprächen finden, die in Texten, Themenheften iund Features dokumentiert sind.

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Bei Interesse an einzelnen Fragen – einfach Kontakt zu mir aufnehmen.

Brücke über den Amur – Integrationsraum Inneres Asien

Koopeeration mit dem „Zentrum Inneres Asien“ in Irkutsk unterstützt von Rosa Luxemburg Stiftung

Unter diesem Thema fand nach langjähriger Vorarbeit und als Ergebnis einer eigenen Forschungsreise entlang der russisch-chinesischen und chinesisch-mongolischen Grenze im Jahre 2002 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum „Inneres Asien“ in Irkutsk (der Irkutsker Staatsuniversität angegliedert) im Dezember 2003 ein erstes Arbeitstreffen statt, das sich mit dem Problem der nach-sowjetischen Migration um Raum zwischen China, Korea, Russland, Mongolei und Zentralasien befasst. Im Zentrum steht die Frage nach dem Zusammenleben der dort entstehenden nicht-russischen Diasporen mit der russischen Bevölkerung. Russische, mongolische und zentralasiatische Forscher/innen trugen die bis dahin zu diesem Thema bekannten Tatsachen zusammen. Parallel wurden im Rahmen des Projektes eigene Befragungen durchgeführt. Ziel des ersten Arbeitstreffens war, den hysterischen Gerüchten über eine „Invasion“ Chinas nach Westen entgegenzutreten, Probleme der Migration herauszuarbeiten, die Russland und Europa gemeinsam sind, und zu untersuchen, welche Chancen es für die Herausbildung eines neuen östlichen Kulturraumes in diesen Prozessen geben könnte. Die Ergebnisse des Treffens erschienen im September unter dem Titel „Brücke über den Amur“ als Buch in englischer und deutscher Sprache. IM Sommer 2004 fand in Ulan Udé ein Arbeitstreffen statt, das die neuerliche Begegnung von Russen und Mongolen nach der vorübergehenden Zurückhaltung beider Seiten seit 1991 zum Thema hatte. Im Mai 2005 folgte eine Konferenz in Blagoweschtschensk am Amur. Dort stand die unmittelbare Nachbarschaft Begegnung von Chinesen und Russen (diesseits und jenseits des Flusses) im Mittelpunkt. Eine Aufarbeitung der Ergebnisse steht noch aus. Die Konferenzen in Irkutsk und Blagoweschtschensk wurden von der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert.

In der Auswertung dieser Aktivitäten entstand mein Buch „Asiens Sprung in die Gegenwart. China, Russland Mongolei – die Entwicklung eines Kulturraums Inneres Asien“

Themenheft 13: Amerikanischer Friede ?

THEMENHEFT 13:
Amerikanischer Friede ?
Einzige Weltmacht – oder Anfang vom Ende der amerikanischen Welt?

Das Heft steht im Zusammenhang zu dem Heft: „Der amerikanische Krieg“. (Heft Nr. 11), es liefert Anregungen zur Wahrnehmung der Welt nach der US-Invasion in den IRAK.

INHALT:
– Ortsbestimmung… Betrachtungen zur neuen Unordnung unserer Welt
– Einzige Weltmacht – oder Anfang vom Ende der amerikanischen Welt?
Zur Entstehung neuer Integrationsräume in einer nachkolonialen Welt.
– NATO-Gipfel – eine Neu-Orientierung?
– Atempause
– Danke Uncle Bush!
– Deutschland im IRAK-Konflikt -isoliert, ruiniert, Nachkriegs-Erbe verschleudert?
– Russland, China, Europa – Unipolar, multipolar, neue Achsen?
– Ein Pyrrhus-Sieg für G.W. Bush – oder wo wollen die USA ihren Limes bauen?
– Nie wieder Appeasement? Saddam Hussein – ein neuer Hitler?
– Memorandum im UN- Sicherheitsrat:
Achse des Friedens – oder ernten auf fremdem Feld?
– Memorandum im UN- Sicherheitsrat:
Achse des Friedens – oder ernten auf fremdem Feld?
– Der Mythos vom Blitzsieg
– Europa – Modell oder Festung?
– Terror, Anti-Terror – und dann?

– Nachtrag
– Zur Person des Autors