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Autor: Kai
Medwjedews Programm – Start in eine zweite Welle der Privatisierung?
In wenigen Tagen wird Dmitri Medwjedew offiziell in sein neues Amt als Präsident Russlands eingeführt. Zeit sich sein Programm genauer anzuschauen: In seinen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert er auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums und die Beseitigung von administrativen Hindernissen sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: persönliche Freiheit, wirtschaftliche Freiheit und letztlich Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte z.B. der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man abwarten müsse, was tatsächlich geschehe.
Wer wissen genauer möchte, was sich hinter den Ankündigungen Dmitri Medwjedews andeutet, muss hinter die Worte schauen:. Auch Putin trat mit dem Versprechen an die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Tatsächlich legitimierte er die Jelzinsche Privatisierung und konsolidierte sie, indem er sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ staatlicher Kontrolle unterwarf. Das bedeutete durchaus auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Putin vermittelte der Bevölkerung damit zugleich das Gefühl eines gewissen Aufschwungs. Seine Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben zunächst unentschieden. Als die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis an die „Monetarisierung“ bis dahin unentgeltlicher sozialer Leistungen gehen wollte, musste sie vor landesweiten Protesten zurückweichen.
Putin reagierte schnell. Schon im Herbst 2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Kern seiner Vorschläge war ein Finanzierungsversprechen, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte dieser an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.
Möglich schien eine solche Politik, weil die steigenden Ölpreise den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Mrd. $ hatten anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Mrd. $. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Das Problem der russischen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine oder kaum Löhne gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg“ der Ausgaben der Bevölkerung führte, „welcher einer durchschnittlichen russischen Familie keine Chancen lasse, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs… Die Blütezeit“, so Kagarlitzki, „ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“ zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung. Deren Ziele beschränkte das Wirtschaftsministeriums darauf, die Zahl der Menschen unter der Armutsschwelle von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% senken zu wollen. Kommt hinzu, dass nicht alle verfügbaren Devisen auf den Geldmarkt geworfen werden können, ohne die Inflation anzuheizen. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden und hierbei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland auch heute kein kapitalistisches Land ist. So forderte Putin laut „Russlandanalysen“ Anfang 2006 die verstärkte Übernahme „sozialer Verantwortung“ durch die Wirtschaft: „In der Praxis sah das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, sprich zur Entbürokratisierung des kommunalen Sektors auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung 1990/1 glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft, also die traditionelle private Bewirtschaftung von Hofgarten, Datscha oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte ist laut aktueller Statistik mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Schätzungen gehen auf 60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien, sogar dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung zu finanzieren.
Vergleichbare Risse treten auch Wohnungsbereich auf, in dem von Anfang an versäumt wurde, parallel zur Privatisierung adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften, die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Auch dort zeigen sich wie überall Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen, sich dem Abbau administrativer Schranken widmen zu wollen, den Charakter einer Kampfansage gegen die noch bestehenden gemeineigentümlichen Strukturen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften usw. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen und wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen so ohne Weiteres abkaufen ließe. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen der geplanten Monetarisierung könnten jedoch auch Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.
veröffentlicht in: Freitag
Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung
An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden.
Wachstumsorientierng: Die „vier großen I’s“
In seinen bisher seltenen Äußerungen zu der von ihm beabsichtigten Politik orientiert Dmitri Medwjedew auf ein Wachstum, das die gegenwärtige jährliche 7%-Marke noch übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Das sind Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwjedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“
Nach solchen Äußerungen wird Medwjedew international allgemein als Liberaler begrüßt. Seine Reden über Marktwirtschaft und bürgerliche Freiheiten „waren spektakulär in unseren Ohren“ erklärte zum Beispiel der deutsche Außenminister Steinmeier beim Treffen der EU-Außenminister in Brdo Ende März, auch wenn man natürlich abwarten müsse, was tatsächlich geschehe. Wer wissen möchte, was auf Russland zukommt und was sich hinter den wohl klingenden Ankündigungen der „Entbürokratisierung“ andeutet, muss genauer hinschauen.
Schon Michail Gorbatschow versprach: Uskorennije, Perestroika und Glasnost, wirtschaftliche Beschleunigung, Umbau und Transparenz. Boris Jelzin puschte Gorbatschows Ansatz zum „Schockprogramm“ der uneingeschränkten Privatisierung hoch, gab die Preise frei, setzte auf Selbstregulation des Marktes, flankierte das Ganze mit den Aufforderungen „Nehmt Euch soviel Souveränität wie ihr braucht!“ und „Bereichert Euch!“ Ein „Volk von Kapitalisten“ sollte so entstehen. Ergebnis war die wilde bis kriminelle Privatisierung, war das Ende der Sowjetunion bis hin zur katastrophalen Zersetzung der sozialen Netze des Landes – insonderheit der betriebsbasierten Gemeinschaften, die als kommunale Basisstruktur die soziale Versorgung der Bevölkerung getragen hatten. Gleichzeitig wurde der bis dahin unentgeltliche Wohnraum privatisiert. Versuche Jelzins auch für kommunale Leistungen wie Miete, Gas, Wasser, Strom u.ä. individuelle Zahlung einzuführen, scheiterten jedoch.
Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden; es ist jedoch wichtig daran zu erinnern, um zu verstehen, was unter Putin im sozialen Bereich geschah und was nun geschehen kann.
Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sich entzogen hatten. Das hieß auch ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug er mehrere mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Übertreibungen, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige bereiche wieder her und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.
„Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Putins Versuche die Privatisierung auf die kommunale Sphäre auszudehnen blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Eine Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde derzeit nicht diskutiert. Gesundheitswesen ebenso wie das Bildungswesen verwandelten sich, verursacht durch katastrophale Unterfinanzierung, in ein El Dorado der Korruption. Wer damals durchs Land fuhr, konnte erleben, dass Menschen in Krankenhäusern von ihren eigenen Verwandten verpflegt und mit Medikamenten versorgt werden mussten.
Als Putin nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 nun auch an die Privatisierung der sozialen Sphäre gehen lassen wollte, musste er vor massiven landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus, der sich auch Studenten, Lehrer und Ärzte anschlossen. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen blieb in halben Maßnahmen stecken.
Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst 2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern.
Kern der putinschen Vorschläge war ein Finanzierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwjedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 kündigte Medwjedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen. Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Millairden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.
Die Reaktion Putins im Herbst 2005 war eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwjedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem man nun wirklich keine besondere Liebe für Putin nachsagen kann, zum Ende der Ära Putin kurz vor den Duma- und Präsidentenwahlen, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“.
Das Problem der putinschen Sozialpolitik, darin ist Kagarlitzki zuzustimmen, lag nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt wurden, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückt, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte. „Im Großen und Ganzen“, fasst Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“
Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichen, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränken, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken. Schon nach den ersten Ausschüttungen des neuen Geldsegens wurde für 2007 ein Anstieg auf 7%, für 2008 auf 11% befürchtet.
Kurz, es muss nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wird nach ihnen gesucht. Hier treten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und gerade eben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird.
Risse in der marktwirtschaftlichen Fassade
Da war beispielsweise in den monatlich erscheinenden „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa kurz nach Propagierung der „nationalen Programme“ Anfang 2006 zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“ Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.
Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten zur Produktionsstruktur auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte.
Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.
Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf 60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.
Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von den älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden.
Im Übrigen ist hier noch anzumerken: Unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens gehen viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.
Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern eine Frage der Lebensweise sein, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.
Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungs“markt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.
Ob die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ gelingt?
Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“ zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.
Vor diesem Hintergrund bekommen Medwjedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die „nationalen Projekte“, selbst nicht die angekündigte Entbürokratisierung. Neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles in Zukunft im Zentrum eines Regierungshandelns stehen soll, welches seinerseits erklärtermaßen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen will.
In dieser Perspektive kündigt sich die Entschlossenheit der russischen Führung an, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF , etwa Erleichterungen für private Investoren im Wohnungssektor, Anpassung des Bildungswesens an die EU-Normen, Kommerzialisierung des Dienstleistungssektors, Förderung der Agro-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften und schließlich, selbstverständlich, ein zweiter Versuch, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen. Dies klingt in der Tat „spektakulär“.
Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung des erreichten Standes der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht.
Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwjedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die nicht nur von steigenden Öl- und Gaspreisen beantwortet wird. Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit möglichen inflationären Folgen dieser Monetarisierung könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.
Vortrag auf dem Kasseler Friedensforum, 2008
Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung
An der zukünftigen Weichenstellung Russlands wurde lange hantiert. Aber erst nach der Wahl des neuen Präsidenten kann der Zug jetzt abgepfiffen werden. Jenseits aller Annahmen jedoch, die den Zweck des Tandems Medwjedew-Putin allein im Machterhalt sehen wollen und sich in Spekulationen ergehen, wie lange es halten könne, wann und wie Putin wieder antreten werde, geht es keineswegs um pure Stabilisierung des „Systems Putin“. Es geht vielmehr um die Einleitung einer neuen Phase von Reformen, genauer, um eine zweite Welle der Privatisierung, nachdem die Ergebnisse der ersten von Putin einigermaßen stabilisiert wurden. Continue reading “Russland nach der Wahl – Vor einer zweiten Welle der Privatisierung” »
Russland: Nach der Wahl alles glatt – oder doch nicht?
Wie zu erwarten, wurde Putins Wunschkandidat Dmitri Medwjedew zum neuen Präsidenten Russlands gewählt. Er erhielt rund 70% der abgegebenen Stimmen. An zweiter Stelle folgt Gennadi Sjuganow mit ca. 18%%, Wladimir Schirinowski mit 9%, Andrej Bogdanow mit etwas mehr als 1%. Die Wahlbeteiligung lag bei 70%. Putin wird abtreten und sich um das Amt des Ministerpräsidenten bewerben, das weder Medwjedew noch die Duma ihm abschlagen wird. Sjuganow wird wegen Wahlbetrug klagen. Schirinowski ist zufrieden dabei gewesen zu sein. Bodganow fährt heim ins Exil, um sich dort auszuruhen. Die liberal-radikale Opposition hat Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg angekündigt.
Ist damit alles gesagt, die Straße geebnet? Putin packt ein, Medwjedew räumt auf? Oder vielleicht doch nicht so ganz, wie es die meisten westlichen Medien zeichnen?
Da gab es ein paar winzige Meldungen, die in der Choreografie der letzten Tage und Wochen fast untergingen, die aber aufhorchen lassen, so nebensächlich sie auch scheinen. Da war beispielsweise zu lesen, Wladimir Putin habe sich im Namen Russlands auf dem letzten GUS-Gipfel wenige Tage vor der Wahl für Fremdenhass, Intoleranz und tödliche Überfälle auf Ausländer entschuldigen müssen, nachdem seine GUS-Kollegen diese Entwicklung als Ergebnis amtlicher Politik Russlands kritisiert hatten. Wer genau hinsah, konnte auch erfahren, dass schon vor dem Wahltag eine Demonstrationen der Putin-Jugend in Moskau von der Polizei aufgelöst und Fördergelder für die Organisation landesweit gekürzt wurden. Am Wahltag selbst kam die Meldung, dass der Protest der Kasparow-Freunde für St. Petersburg erlaubt, für Moskau verboten worden sei. Endgültig aufhorchen jedoch ließ die Meldung, dass am Tag der Wahl keineswegs nur der Präsident neu gewählt wurde, sondern zu gleicher Zeit regionale Wahlen zu gesetzgebenden Versammlungen stattfanden und nicht nur das, sondern darüber hinaus auch noch 106 Volksentscheide in achtzehn „Subjekten“ der Föderation durchgeführt wurden.
Das Bemerkenswerte an dieser letzten Meldung ist dabei allerdings nicht das, was, sondern das, was nicht mitgeteilt wurde, nämlich: Es wurden keinerlei Einzelheiten über den Inhalt dieser Entscheide berichtet. Selbst die sonst immer bestens informierte Internetzeitung www.russland.ru hatte dazu nichts weiter als die karge Zahl 106 zu bieten.
Mag man Putins Entschuldigung, den Rückpfiff der Putin-Jugend, selbst die angekündigten Demonstrationen der Radikal-Liberalen noch für Zeichen des Wandels halten, um den sich der Neue eben zu kümmern haben werde; zusammen mit der Tatsache, dass die Region mit 106 Volksentscheiden am Wahltag mit von der Partie waren, ohne dass dies ins öffentliche Bewusstsein gedrungen wäre, zeigt jedoch, wo der zukünftige Präsident Medwjedew und sein Ministerpräsident in Spe, Putin, in Zukunft ihre Schwierigkeiten haben werden: in einer Vermittlung der Politik der Spitze des Staates mit der Bevölkerungsbasis des Landes nämlich. In diese Richtung zeigt auch Medwjedews Ankündigung sich um eine freie Presse als Transmissionsriemen vom Volk zur Staatsspitze kümmern zu wollen. Diese Rolle hatten siebzig Jahre lang die Gliederungen der Kommunistischen Partei. Zurzeit ist sie unterbesetzt.
Um richtig zu verstehen, was auf die neu gruppierte russische Führung zukommt, dürfte es gut sein, sich die Ziele zu vergegenwärtigen, die Medwjedew angegeben hat. Die Politik des Staates solle auf dem Prinzip: „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ gründen, dabei gehe es um alle Formen des Freiheit von der persönlichen über die wirtschaftliche bis zur Freiheit der Selbstverwirklichung. Wenn dies nicht nur Sprüche, oder sagen wir freundlicher, politische Symbole bleiben sollen, die vom Kreml ausgegeben werden, um die Bevölkerung einzufangen, dann müssen sich diese Worte in der Praxis konkretisieren. Praxis findet in Russland vor allem in den Weiten der russischen Regionen statt – und nicht nur in achtzehn, ist noch zu ergänzen, sondern in vierundachtzig „Subjekten“.
Nur regional werden die großen „nationalen Projekte“ zu verwirklichen sein, die noch in der Amtszeit Putins beschlossen, aber zugunsten einer Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau bis nach der Wahl auf Eis gelegt wurden. Das ist die Entwicklung einer „Qualitätsmedizin“, die allen Menschen eine medizinische Versorgung garantieren soll, ist die Durchführung eines Wohnungsprogramms, das die Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum versorgen soll, ist die Entwicklung eines Bildungswesens, das die zusammengebrochene Schul- und weiterführende Bildung wieder herstellt und das ist die Umkehrung der demographischen Abwärtsbewegung der russischen Bevölkerungsentwicklung.
Der Stand ist in allen vier genannten Bereichen stark entwicklungsbedürftig, teils sogar katastrophal: Im Gesundheitsbereich hat eine Zwei-Klassen-Medizin die frühere kostenlose medizinische Versorgung verdrängt; die Preise auf dem entstehenden, aber chaotischen Wohnungsmarkt, der eine Mischung aus privatisiertem Mietwucher, Immobilienspekulation und noch bestehenden, sich der Privatisierung widersetzenden gemeineigentümlichen Wohnverhältnissen ist, sind für die Mehrheit der Bevölkerung unerschwinglich. Für die Bildung gilt das Gleiche wie für das Gesundheitswesen: Zwei-Klassen-Realität. Gegen den weiteren Abfall der demographischen Kurve hat die Duma unter Putin ein Muttergeld beschlossen; eine Umkehr der Entwicklungsrichtung wurde dadurch noch nicht erreicht. Dazu gehört in Russland wesentlich mehr: Vertrauen in die Zukunft, vor allem Sicherheit, dass nicht morgen wieder ein Stalin oder auch Jelzin kommt, und alles von vorn beginnt. All dies steht zur Regelung an, lässt sich aber mit Sicherheit nicht von Moskau aus dekretieren, sondern bedarf vierundachtzig verschiedener Anpassungs- und Durchführungsverordnungen – und dann auch noch der Bereitschaft der Bevölkerung, die Maßnahmen zu akzeptieren. Dies aber setzt voraus, dass die „nationalen Programme“ nicht nur zu sozialen erklärt werden, sondern sich in der Praxis auch tatsächlich als solche erweisen – was von der Mehrheit der Bevölkerung bisher so nicht erlebt werden konnte.
Auch die Verwirklichung der von Medwjedew angekündigten „Vier I´s“ seines Wirtschaftsprogramms – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen – sind bisher selbstverständlich nur gut gestylte Worte; ohne Mitwirkung der regionalen Führungsetagen und letztlich der regionalen Bevölkerungen selbst sind auch sie nicht zu verwirklichen.
Im Konkreten könnte sich zudem zeigen, dass die Verwirklichung des von Medwjedew angekündigten Wirtschaftsprogramms der Verwirklichung der “nationalen Programme“ der Sozialpolitik diametral entgegenläuft – ein Grund schließlich, warum diese vor der Wahl auf Eis gelegt wurden.
Wenige Blicke auf das Programm des einzigen wirklichen Kontrahenten Medwjedews, Gennadi Sjuganow, der ihm in der Wahl zum Präsidenten unterlegen, aber deswegen keineswegs politisch, vor allem auch in den Regionen aus dem Feld geschlagen ist, machen daher deutlich, was Medwjedew bei dem Versuch der Verwirklichung des von ihm formulierten Programmes bevorsteht.
Sjuganow fordert neben vielem, was mit Medwedews Programm, ähnlich wie Schirinowskis Positionen, oberflächlich gesehen eher konform geht – multipolare Außenpolitik, Befreiung der Wirtschaft von Ressourcenabhängigkeit, Presse- und Meinungsfreiheit und dergleichen – die Wiederherstellung staatlicher Kontrolle über die Ressourcen, ein staatliches Monopol über die Produktion und den Verkauf von Alkohol und Tabak, die Kontrolle der Presse von Treib- und Schmierstoffen. All diese Forderungen haben starke Fürsprecher in den Regionen, hinter der letzten steht eine landesweit entwicklungsbedürftige Landwirtschaft.
Vor allem aber fordert Sjuganow die Rücknahme aller Gesetze, welche die materielle Lage der Bevölkerung verschlechtert haben. Das ist allem voran das Gesetz zur Monetarisierung der „Sozialen Vergünstigungen“, das schon bei seiner Einführung 2005 auf den massenhaften Protest in der Bevölkerung stieß und von den Behörden teilweise und auf Zeit ausgesetzt werden musste. Das sind weitere Monetarisierungsgesetze wie das Wohn- und das Wassergesetz, Gesetze zur Privatisierung des Bodens, des Waldes, sowie das Arbeitsgesetz, das die Arbeitsbedingungen erschwerte und Streiks faktisch illegalisierte. Es handelt sich in allen Fällen um Forderungen, die den „Nationalen Programmen“ zum Teil diametral entgegenlaufen.
Die Machtübergabe vom zweiten auf den dritten Präsidenten des neuen Russland mag vorläufig gelöst sein. Aber weit entfernt davon, Ruhe zu schaffen, führen die Programme von Medwedew und Sjuganow erkennbar direkt in den Konflikt einer zweiten Privatisierungsphase nachdem die erste, die der Privatisierung der Produktionsmittel galt, weitgehend abgeschlossen ist und maßlose Bereicherungen seitens der Oligarchen eingegrenzt wurden. Jetzt geht es um die Privatisierung des kommunalen und sozialen Lebens. Dies wird zweifellos zu schweren und zudem sehr uneinheitlichen Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes führen. Die Natur dieses Konfliktes ist übrigens in schöner Einfachheit in dem Programm zu erkennen, mit dem Schirinowski antrat, wenn er die Abschaffung der „Subjekte“ durch einen zentralisierten Einheitsstaat und die Beseitigung der Sprachenvielkfalt durch Einführung des Russischen als Einheitssprache fordert: Russland, kann man dazu nur sagen, ist nach wie vor ein Vielvölkerstaat, dessen unterschiedliche Kulturen nicht einfach und möglicherweise überhaupt nicht über einen Kamm geschoren werden können.
Ein weiteres Problemfeld wird im Programm des ebenfalls abgeschlagenen Kandidaten der „Demokratischen Partei“, Andrei Bogdanow erkennbar. Ungeachtet der Tatsache, dass sein Antritt zur Wahl eher symbolischen oder sogar provokatorischen als faktischen Wert hatte, da er sich als im Exil lebender Russe nicht einbilden konnte, von der Bevölkerung als Präsident akzeptiert zu werden, treten doch in seinem Programm die Fragen hervor, die der zukünftigen russischen Führung von der anderen, der liberalen Seite her entgegenkommen.
Unter dem Stichwort. „ Annäherung an die Europäische Union“ forderte Bogdanow: Die „Umsetzung der Grundsätze der Europäischen Union in Russland“, den „Beitritt Russlands zur Schengener Zone“, „Löhne wie in der EU“ und Ähnliches mehr. Hier öffnet sich der klassische Spagat der russischen Gesellschaft zwischen Westlern und Anti-Westlern, zwischen einer Orientierung nach Westen und der nach Osten. Das Nebeneinander von angekündigten – westorientierten – Demonstrationen der außerparlamentarischen radikal-liberalen Opposition und der Feststellung der Zentralen-Wahl-Komission (ZIK) in Zukunft den Anteil der Wahlbeobachter aus den Ländern, die der zentralasiatischen Schanghai-Organisation angehören, erhöhen zu wollen, sind Indizien dieser Entwicklung.
Ob Putin oder Medwjedew auf dem zukünftigen Weg den Ton angeben, ob und wie sie sich ergänzen oder widersprechen, spielt strategisch letztlich keine Rolle. Die Frage, um die es in Russland in der nächsten Zeit geht, lautet nicht Putin oder Medwjedew, Medwjedew ohne Putin oder Putin wieder ohne Medwjedew, sie lautet viel grundsätzlicher: Sozial oder unsozial, Durchsetzung „europäischer Normen“ oder Bewahrung der eigenen russischen Strukturen, was nichts anderes bedeuten würde als die Suche nach einem Kompromiss zwischen privatwirtschaftlich organisiertem Markt und gemeineigentümlicher Tradition.
Anders gesagt, es stellt sich die Frage auf wessen Kosten der nächste Schritt der russischen Transformation bewältigt werden soll und wie er aussehen kann, wenn er nicht in einer einfachen Übernahme Russlands durch das internationale Kapital endet – was unwahrscheinlich ist. Die Offenbarung wird nicht lange auf sich warten lassen.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Gespräch zwischen dem Schriftsteller Kai Ehlers und dem Unternehmer Johannes Heimrath. Reif für das Grundeinkommen? Kulturkreatives Spektrum
Johannes Heimrath: Kai, du bist einer der wenigen Autoren, denen in Bezug auf ein Grundeinkommen bewusst ist, dass man eine derart weitreichende neue soziale Technik nicht einführen kann, ohne insgesamt fundamental umzudenken. Wir können das Grundeinkommen nicht wie ein neues Organ in den bestehenden Gesellschaftskörper einpflanzen. Zuvor – oder wenigstens zugleich – muss sich die Gesellschaft wandeln.
Russland: Putins 2. Rochade – „Traum am Rande des Faschismus“?
Es war kaum zu glauben: Eine Woche nach der Wahl zur russischen Duma war plötzlich Ruhe an der Front der Russlandkritik, nachdem zunächst eine Welle bissiger Kommentare durch die Medien geschwappt war, die „Putins bestellten Sieg“ in den unterschiedlichsten Tönen anprangerten. Lange nicht Gehörtes ging vor sich; westliche Politiker lobten Russland: Gernot Erler, deutscher Staatsminister im Auswärtigen Amt, ortete in der „Berliner Zeitung“ gar eine „Stärkung ziviler Kräfte in Russland“, US-Außenministerin Condoleeza Rice ließ sich, von „USA today“ zu Russland befragt, herab zu erklären, sie wolle “nicht im voraus spekulieren“, man werde nun „einfach zuschauen müssen, wie das alles vor sich gehen wird.“ Was war geschehen?
Sehr einfach: Am 11. Dezember, nur eine Woche nach der russischen Duma-Wahl und eine Woche früher als angekündigt, hatte Präsident Putin das Geheimnis gelüftet, für welchen Kandidaten er sich mit Blick auf die bevorstehende Wahl als Wunschnachfolger im Präsidentenamt ausspreche: den bisherigen Vizeregierungschef Dimitri Medwedew.
Ein „Politiker der neuen Generation“ komme damit ins Spiel, lobte Frau Rice; Medwedew komme nicht aus den Geheimdiensten, erklärte Erler und nicht aus dem Militär. Das alleine sei schon interessant, weil es eine Veränderung gegenüber dem jetzigen Zustand sei. Als stellvertretender Ministerpräsident sei Medwedew mit zentralen Reformaufgaben betraut gewesen und habe sich als liberaler Parteigänger Putins profiliert. Eitel Sonnenschein also?
Den Eindruck konnte man gewinnen. Daran änderte sich auch nichts, als Wladimir Putin wenige Tage später öffentlich und demonstrativ in Medwedews Angebot einschlug, nach der Wahl Ministerpräsident der neuen Regierung zu werden. Innerhalb Russlands herrschte ohnehin sofort Hochstimmung: Die russische Börse boomte, russische Unternehmer sahen in der Entscheidung Putins „eine Gewährleistung für die Fortsetzung des gegenwärtigen strategischen Kurses“. Sofort-Umfragen in der Bevölkerung ergaben eine Zustimmung von 60% zu Putins Wunschkandidat. Die fünf weiteren Prätendenten, Genadij Szuganow für die KPRF, Wladimir Schirinowski für die sog. „Liberal-Demokraten“, Boris Nemzow für die Ultra-Liberalen, außerdem noch Michail Kassjanow und Andrej Bogdanow sind ab sofort außer Konkurrenz, wenn nicht noch völlig Unvorhersehbare Ereignisse eintreten sollten.
Der negative Putin-Bann schien gebrochen: Zudem stellte das US-Magazin „Time“ ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt den russischen Präsidenten zur „Person des Jahres“ vor. Begründung: Putin habe sich um die innere Stabilität und die wieder gewachsene Bedeutung Russland in der Welt verdient gemacht. Der so Gelobte erhielt Gelegenheit zu einem ausführlichen Interview, in dem er die Ergebnisse seines Wirkens, seine Vorschläge zur internationalen Friedenssicherung einschließlich seiner Kritiken an der US-Politik ausführlich darstellen konnte.
Dass aber die Russland-Schelte nicht von Putins Tun und Lassen abhängig ist, sondern anderen Gesetzen folgt, sie sich auch auf den neuen Stern am russischen Himmel bald eingeschossen haben wird, zeigte sich schon, als Frau Rice sehr bald nachsetzte, es sei bedauerlich, dass der Ausgang der kommenden Präsidentenwahlen so gut wie sicher sei.
In krassester Schärfe aber trat die russlandfeindliche Grundhaltung, die auch Medwedew einholen wird, wenn er weiter russische Interessen mit russischem Selbstverständnis vertritt wie jetzt Putin, aus dem neuesten Bericht der einflussreichen „Russlandanalysen„ hervor, die von der Bremer Forschungsstelle für Osteuropa herausgegeben werden. Sie ließ ihre letzte Ausgabe des Jahres 2007 mit einem Kommentar von Heinrich Vogel erscheinen, der sich unter der Überschrift „Machtwechsel als Hütchenspiel“ nicht scheut, Russland in einer Weise, die er vermutlich für nützliche oder notwendige Polemik hält, mit dem faschistischen Deutschland zu vergleichen.
Putins Motive nicht zum dritten Mal als Präsident anzutreten und stattdessen die Rochade mit Medwedew zu inszenieren werden in Vogels Kommentar nicht nur auf Machterhalt reduziert, was verständlich wäre. Es wird auch der Vermutung Raum gegeben, es gehe Putin möglicherweise nur um Immunität, durch die er sich vor „peinlichen Enthüllungen“ bewahren wolle. Aber nicht nur das: Kein Gedanke wird daran verschwendet, Putins Vorgehen zumindest als Versuch zu sehen das Einüben von Verfassungstreue mit Machterhalt zu verbinden.
Stattdessen versteigt der Kommentar sich zu der Aussage, angesichts der in Russland zu beobachtenden „Für Putin“-Bewegung falle es schwer, „Erinnerungen an die Proganada der Nationalsozialisten beim Referendum nach dem Anschluss in Österreich im Jahr 1938 mit ihrem Motto ‚Dein Ja zum Führer’ zu unterdrücken. Die Techniken faschistischer Massenmanipulation und Mobilisierung haben sich nicht verändert, und ihre Eigendynamik sollte nicht unterschätzt werden.“ Der Gipfel ist die Aussage: „Einziger Unterschied zum deutschen und europäischen Faschismus jener Zeit ist das Fehlen eines zur Doktrin erhobenen Rassismus“ und die Eskalation des Personenkults zum Führerkult ließen „kein Ende der Überraschungen absehen, zumal die Träume an Rande des Faschismus nicht auf eine autoritär denkende Führung beschränkt sind.“
Heinrich Vogel, muss man dazu wissen, leitete von 1972 bis 1976 das „Osteuropa-Institut“ in München, danach war er bis 2000 Direktor des „Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien“ in Bonn, später Gründungsmitglied des „deutsch-russischen Forums“, das seinerseits den „Petersburger Dialog“ mit ins Leben rief. Die „Russlandanalysen“ gelten heute als führendes Fachblatt der deutschen Russlandforschung. Wenn solche Kommentare wie der aktuelle von Heinrich Vogel an dieser für die Meinungsbildung hervorragenden Stelle als Analysen verbreitet werden können, muss man das Schlimmste für die deutsch-russischen Beziehungen fürchten.
Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de
Kongress Solidarische & Ökonomie 24.-26.11.2007 – Workshop 20
Referent: Kai Ehlers
Impulse für solidarisches Wirtschaften aus der DDR und Russland?
Der Workshop sollte die Erfahrungen aus der Privatisierung der kollektiven Wirtschaftsstrukturen Russlands und der DDR thematisieren und der Frage nachgehen, was daraus für die Entwicklung solidarischer Wirtschafs- und Lebensformen folgt, was davon zu verwerfen, was daraus zu lernen sein könnte. Dabei war von der Tatsache auszugehen, dass die nach-sowjetische Umwandlung nicht so stattgefunden hat, wie von den Befürwortern der Privatisierung vorausgesagt. Stattdessen zerstörte die Privatisierung die bestehende Arbeits- und Lebensorganisation, insbesondere die Strukturen der Fürsorge und der sozialen Sicherung, in einem solchen Maße, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in existenzielle Unsicherheit geriet. Zwischen 20 und 30% der Bevölkerung rutschte unter das Existenzminimum. Trotz dieser Krise brach keine allgemeine Hungerkatastrophe aus. Warum nicht? Das ist eine der interessantesten Fragen, die man an die nachsowjetische Transformation stellen kann. Die Antwort ist verblüffend einfach: Weil die Bevölkerung auf gewachsene Strukturen der informellen Wirtschaft und der Selbstversorgung zurückgreifen konnte.
Mehr noch, statt der von den Reformern gewollten Kapitalisierung des Lebens entstanden wirtschaftliche Mischformen, die nicht mehr sowjet-sozialistisch, aber auch nicht privatkapitalistisch sind. In ihr gehen die traditionelle russische Bauerngemeinschaft, Óbschtschina, die Kollektivwirtschaft sowjetischen Typs und die heutige Marktorientierung eine hochinteressante Verbindung ein. Weit entfernt davon sich vollkommen aufzulösen, wird hier so etwas wie eine Alternative zu dem bisherigen Entweder-Oder von Kapitalismus ODER Sozialismus sichtbar.
Kern dessen ist eine Symbiose zwischen Lohnarbeit und der in Russland sogenannten familiäre Zusatzwirtschaft, die durch ein um die Betriebe herum organisiertes System der Vergütung miteinander verbunden sind. Dieses System ist nicht erst durch die Bolschewiki eingeführt worden, wie immer wieder fälschlich angenommen wird, insonderheit etwa durch die Zwangskollektivierung Stalins, es ist vielmehr in der langen Geschichte Russlands entstanden, in deren Verlauf sich das bäuerliche Gemeineigentum, die Allmende, im Gegensatz zum Westen nicht aufgelöst hat, sondern zum Grundmuster des Lebens wurde. Unter Stalin wurde der russische Kollektivismus nicht erfunden, sondern verstaatlicht. Die Bevölkerung wurde gewissermaßen von ihren eigenen Traditionen enteignet; ihre eigenen Basisstrukturen traten ihr als fremde Macht, als Zwangskollektiv, entgegen. Diese Entwicklung führte in die stalinsche Repression und letztlich Stagnation – mit der Auflösung der Union wurde sie gesprengt. Was blieb, und trotz aller aktuellen Versuche der Monetarisierung bisher nicht gesprengt werden konnte, ist die Grundstruktur von Lohnarbeit, Vergütung und Zusatzwirtschaft. In diesem Modell greifen die drei Elemente greifen so ineinander, das ein das andere stützte. Konkret: Lohn wurde nach Leistung gezahlt, ergänzt durch Möglichkeiten des Zusatzverdienstes. Arbeit wurde jedoch nicht nur in Geld entlohnt, sondern zu einem großen Teil auch über Verrechnungen aus dem Betriebs-Lohnfond, aus dem die Grundlebensbedürfnisse der Betriebsmitglieder, ihre Familien und sowie der gesamte kommunale Lebensbedarf getragen wurden. Das begann bei Wohn- und Lebensraum, umfasste Kindergarten, Schule, Bildung, medizinische Leistungen etc. pp. bis hin zur Gräberpflege. Man war rundherum in eine Grundversorgung eingebettet.
Zum Lohn und zur kollektiven Grundversorgung kommt die familiäre Zusatzversorgung. Auf dem Lande besteht sie aus Haus, Garten, Kleintierhaltung – wobei zu den Kleintieren inzwischen durchaus Schweine, Kühe, Ziegen, selbstverständlich Hühner, Enten Gänse etc. gehören. Für die Städter besteht sie aus Datscha plus Garten. Hofgarten und Datscha decken den privaten Grundbedarf. Zu Sowjetzeiten gehörte die Nutzung eines Hofes ebenso wie die Nutzung eines Datscha-Geländes zu den geldlosen Vergütungen.
In der Kombination von familiärer Zusatzwirtschaft und Versorgung mit Lebensgrundbedarf durch die betriebliche Vergütung entsteht faktisch ein geldfreier Raum, ein sozialer Puffer: Schon die betriebliche Versorgung fungiert als Ausgleich, insofern je nach Produktions- oder gesamtwirtschaftlicher Lage mehr oder weniger in die Grundversorgung der Betriebsmitglieder und der Kommune investiert werden kann. Entscheidend ist jedoch die familiäre Zusatzwirtschaft, deren Produkte gar nicht erst in die Kreislauf der Volkswirtschaft, die vielmehr einen varaiablen Bereich bilden, auf den mehr oder auch weniger zurückgegriffen werden kann. Konjunkturelle Schwankungen und – wie sich gerade jetzt wieder gezeigt hat – selbst krisenhafte Desorganisation der Versorgung kann so aufgefangen werden.
Heute sind die Betriebe weitgehend privatisiert, das heißt in Aktiengesellschaften mit Mehrheitsverhältnissen verwandelt worden. Die Vergütungsstruktur soll abgelöst werden durch einen nach westlichem Muster auf Lohn- und Einkommensteuer basierenden Geld-Ware-Geld-Kreislauf, in dem die betriebsorientierte geldlose Grundversorgung wie auch die außerhalb des Geldverkehrs liegende familiäre Selbstversorgung durch eine allgemeine staatliche organisierte, durch Geld in gang gehaltene Fremdversorgung ersetzt werden soll. Auch Hof und Hofgärten, Datscha und Garten wurden entweder privatisiert oder es soll Miete für die Grundversorgung mit Wohnraum, Gas, Wasser etc. verlangt werden. An die Stelle der familiären Zusatzwirtschaft soll der Supermarkt treten. Die Entwicklung ist jedoch nicht ausgekämpft: Per Gesetz ist die Privatisierung zwar vollzogen, der Betrieb ist eine Aktiengesellschaft geworden, statt Vergütung wird Lohn gezahlt, Wohnungen, Höfe, und Datschen und die zum Leben notwendige Infrastruktur sollen bezahlt werden; in vielen Fällen aber bestehen die alten Verhältnisse fort, bilden sich undefinierte Zwischenlagen, Übergangssituationen.
Nach zwanzig Jahren beginnen aus diesen Zwischenlagen, Provisorien und Übergängen jedoch Elemente hervorzutreten, die sich als dauerhaft erweisen könnten; das sind eben jene, welche die geschilderten traditionellen russischen wie sowjetischen Strukturen mit denen der Marktorientierung verbinden.
Aktiengesellschaft „Irmen“ –
Entwicklungswege jenseits des Entweder-Oder?
Ein Beispiel dafür ist die Aktionärsgemeinschaft „Irmen“. Irmen liegt anderthalb Autostunden von der sibirischen Metropole Nowosibirsk in Richtung Süden am Ufer des zum Obschen Meer gestauten Flusses.
Irmen ist eine AOST, das heißt eine Aktiengesellschaft geschlossenen Typs, auf russisch: eine Aktionerernaja Obschtschestwo Sakritawo Typa. Aktien einer solchen Gesellschaft – sei sie ein industrieller Produktionsbetrieb oder eine bäuerliche Wirtschaftsgemeinschaft – können nur von der Belegschaft des Betriebes selbst gekauft werden. Eine extreme Form der AOST sieht vor, dass jeder Aktionär nur eine Aktie und eine Stimme haben darf.
Organisationen dieses Typs entstanden als stiller Protest gegen den Privatisierungszwang, den Russlands Präsident Boris Jelzin und sein erster Ministerpräsident Jegor Gaidar auf Anraten des IWF 1991/2 in Gang setzten. Gaidar, Jelzin und der Fonds versprachen sich von ihrer Kampagne, die auf eine Beseitigung der Gemeinschaftsproduktion zielte, eine schnelle Kapitalisierung Russlands; die Befürworter und Vertreter der geschlossenen Aktiengesellschaften hofften auf diese Weise dem Zugriff fremden Kapitals aus dem In- und aus dem Ausland entgehen und kollektive Formen der Arbeitsorganisation erhalten zu können.
Viele der damaligen Sowchosen oder Kolchosen, auch einige kleinere Industriebetriebe gingen diesen Weg. Die AOST Irmen, früher „Sowchose Bolschewik“, ist eine von ihnen, zugegeben, eine besonders erfolgreiche. Sie ist über die Grenzen der Nowosibirsker Region hinaus als Musterbetrieb bekannt und gilt als prinzipielles Beispiel für einen Weg zwischen früherem sozialistischen und heutigem marktwirtschaftlichen Management.
Irmen strahlt, man wagt es kaum zu sagen, eine Athmosphäre des Wohlstands und der Geborgenheit aus. Man wird von dieser Athmosphäre empfangen, sobald man die von Nowosibirsk kommende Trasse verlässt und den Anzeiger passiert hat, der verkündet, dass man sich nunmehr auf dem Gebiet Irmens bewegt: Eine gut ausgebaute Teerstraße führt ins Hauptdorf zur zentralen Verwaltung. Die Straße wurde zweifellos noch in der sowjetischen Zeit angelegt, aber im Unterschied zu anderen Orten, die auf die man in Russland treffen kann, malträtiert sie ihre Benutzer heute nicht mit unübersichtlichen Schlaglöchern; sie ist sogar besser erhalten als manche Straße in der Metropole Nowosibirsk. Das will in Sibirien etwas heißen, wo der Frost jedes Jahr tiefe Löcher in die Straßen reißt.
Je weiter man ins Gebiet Irmens vordringt, um so befreiter fühlt man sich: Fragen nach dem Weg beantworten die Menschen mit selbstbewusster Freundlichkeit. Man ist Besucher gewohnt; man freut sich über das Interesse; man identifiziert sich mit der Verwaltung, weist zuvorkommend den Weg zum „Chef“. Wer öfter russische Dörfer bereist, kennt ganz andere Empfänge.
Gänzlich überrascht ist man schließlich, wenn man das Verwaltungsgebäude erreicht; auch dieses ist natürlich ein Bau aus sowjetischen Zeiten, aber er ist frei von der Tristesse abblätternden Glanzes, von dem Besucher in vielen anderen ehemaligen Sowchos- oder Kolchoszentren empfangen werden, die heute dem Zerfall anheim gegeben sind. Kurz, wer das Gebiet von Irmen betritt, taucht in das Klima einer sozialen Gemeinschaft ein, die auch für Außenstehende attraktiv ist.
Direktor Juri Bugakow, der uns, das heißt, mich als ausländischen Gast und Freunde aus Nowosibirsk, in seinem geräumigen Büro empfängt, tut alles, um diesen Eindruck zu vertiefen. Bereitwillig stellt er sich unseren Fragen zur Geschichte und zum heutigen Stand von Irmen. Danach weist er seine Helfer an, uns auf dem Gebiet Irmens herumzuführen. Diese Führung wird eine aufregende Reise durch weites Gelände, zu den Betrieben, durch die Dörfer von Irmen, bei der wir mehrmals Schuhe, Kittel, Kopfbedeckungen und Himmelrichtungen wechseln müssen; zwischendurch werden wir auch noch fürstlich verpflegt.
Am Anfang müssen wir natürlich die Daten verarbeiten: Die Gemeinde „Irmen“ umfasst heute ca. 3500 Menschen in zwölf Dörfern. Sie ging aus mehreren Einzel-Kolchosen hervor, erstreckt sich über ein Gebiet von 23.000 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche und 18.000 Hektar Weideland. Die Felder liefern einen Ertrag von 35 – 50 Zentner Korn pro Hektar je nach Niederschlag. Für sibirische Verhältnisse liegt das weit über dem heutigen Schnitt. Auf der Hälfte des Weidelandes wird Heu geerntet. Die Agrargemeinschaft hält 6500 Köpfe Großvieh, davon 2300 Milchkühe, die täglich 156 Tonnen Milch abgeben. Dazu kommen 3000 Schweine, eine ausgedehnte Pelztierzucht und Wildtierpflege, die aus Abfällen im eigenen nahen Wald unterhalten wird. Eine Schlachterei, Bäckerei, Molkerei versorgt die Bevölkerung der zwölf Dörfer in einem eigenen Hof-Laden, dazu einen modern eingerichteten Supermarkt in Nowosibirsk mit ausgesuchten Milch- und Fleisch-Produkten und sonstigen Lebensmitteln. Sechs Schulen, ein zentraler Kindergarten, ein Kulturhaus, ein Theater, ein Krankenhaus, mehrere kleine Kapellen, eine zentrale Kirche gehören mit in das Bild.
Der heutige Musterbetrieb „Irmen“ ging aus der vormaligen Muster-Sowchose „Bolschewik“ hervor. Das Museum der bolschewistischen Mustergeschichte lässt Direktor Bugakow, seinerzeit als “Held der Arbeit“ ausgezeichnet, auch heute noch seinen Besuchern vorführen, allerdings nicht ohne Lenins Büsten, die Trikoloren der Revolution und einiges anderes auf dem Gang durch das Museum entstauben zu müssen. „Es war nicht alles schlecht, was wir vor Perestroika gehabt haben“, sagt er. Doch der Direktor ist kein Apparatschik alten Typs, der sich an Vergangenem festklammert. Er versteht sich als Manager eines Großbetriebes, der traditionelle Formen der Gemeinschaftswirtschaft mit marktwirtschaftlicher Orientierung verbinden will. Er versteht sich als Experimentator, der neue Wege zwischen Markt und Gemeinschaftswirtschaft sucht. Das macht ihn zum gefragten Gesprächspartner und Irmen zum Anziehungspunkt für viele Besucher.
„Irmen ist nicht einfach ein landwirtschaftlicher Großbetrieb“, erklärt Direktor Bugakow, „es ist ein Kombinat mit vielen verschiedenen Arbeitszweigen. Wir produzieren jeden Tag sechsundvierzig Tonnen Milch. Wir verarbeiten sie hier bei uns. Wir haben eine schwedische Anlage zur Weiterverarbeitung der Milch. Wir stellen heute zwölf verschiedene Milchprodukte her – Jogurt, Smjetana (eine Art Sahnequark K.E.), Quark, Kefir, sogar Kumis (alkoholisierte Stutenmilch, wie sie in der Mongolei viel getrunken wird – K.E.). Das verkaufen wir in Nowosibirsk. Wir verarbeiten aber auch eine große Menge Fleisch weiter. Wir stellen Mehl her und verkaufen es. Und um nichts wegzuwerfen halten wir auch noch die Wildtiere. Wir haben auch unsere eigene Ziegelei. Sie stellt sieben Millionen Ziegel im Jahr her. Wir bauen damit selbst und verkaufen obendrein zu günstigen Bedingungen in die Umgebung. Das heißt, alles was wir produzieren, verarbeiten wir auch selbst weiter. Über die Weiterverarbeitung hinaus haben wir eine Produktion für den Eigenverbrauch und unsere Handelsabteilung. Wir unterhalten dreizehn Geschäfte – einen Laden hier vor Ort, einen im nahen Bezirkszentrum Ordinsk und ein sehr gutes Geschäft in Nowosibirsk. In das Geschäft in Nowosibirsk haben wir viel Geld investiert; es ist mächtig, schön, liegt mitten im Zentrum der Stadt, es ein Teil unserer Wirtschaft. Es heißt auch „Irmen“, direkt am Zentralen Markt. So also ist es: Produktion, Weiterverarbeitung und Handel, das heißt, wir lösen alles selbst, es ist ein Komplex.“
So weit, so unspektakulär, könnte man meinen. Dies alles könnte ja auch die bloße Wiederholung der Sowjetstrukturen unter neuem Kommando oder einfach nur Ergebnis früherer Privilegien sein. Aber so ist es nicht: Das Geheimnis des aktuellen Wohlstandes liegt, wie man von Direktor Bugakow, ebenso wie von den Beschäftigten in den Betrieben und den Dorfbewohnern erfahren kann, in einer günstigen Kombination von traditionellen Sowchostrukturen und Modernisierung, in der Verbindung von Gemeinwirtschaftsproduktion und persönlicher Interessiertheit, garantierter Privatheit bei gleichzeitiger paternalistischer Führung: Dabei ist die Organisation unmissverständlich: Das Kontrollpaket von 51% liegt in der Hand von Juri Fjodorowitsch Bugakow, die restlichen 49% sind auf fünfzig Mitaktionäre verteilt, Kapital-Einlagen von außerhalb gibt es nicht. Damit sind die Entscheidungsbefugnisse für den Zweifelsfall klar: Wenn es hart auf hart kommt, hat der Direktor das letzte Wort.
Demokratisch im Sinne westlichen formaldemokratischen Verständnisses ist das nicht. Darauf angesprochen, erklärt der Direktor, dass er sich die ihm zustehende Dividende nicht auszahlen lasse; er habe sogar einen Zusatz-Vertrag unterschrieben, daß die ihm jährlich zustehende Summe für die Modernisierung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur von „Irmen“ eingesetzt werden solle. Das geschehe auch in seinem eigenen Interesse, denn schließlich lebe er in Irmen und gedenke auch dort zu sterben. Zweitens sei er trotz seines Anteils von 51% gewählt und seinem Aktionärs-Rat verantwortlich. Wenn der Rat nicht hinter ihm stehe, könne er gar nichts bewirken. Drittens könne er „heutzutage“ so oder so nicht kommandieren, sondern müsse die Mitarbeiter wirtschaftlich und ideell motivieren, müsse sein Team von der Richtigkeit seiner Vorschläge überzeugen.
Dies alles erklärt er uns locker, freundlich, sichtbar interessiert, den Weg Irmens als möglichen Weg aus der russischen Transformationskrise auch im Westen in die Diskussion zu bringen. „Bei Ihnen ist ja auch nicht alles Gold, was glänzt“, lacht er, „besonders in der Landwirtschaft. Da werden ja auch neue Wege gesucht.“
Nur eine Frage beantwortet er nicht, nämlich wie es zu der Aufteilung der Aktienmehrheiten in 51% für den Direktor und 49% für die Betriebsgemeinschaft kam. Auch von den Mitgliedern der Irmen-Gemeinschaft ist dazu nichts zu erfahren. Diesen Vorgang möchten sie ganz offensichtlich lieber im Dunkel der Privatisierungsgeschichte verschwinden lassen. In anderen Betrieben, lassen sie wissen, möge das ein Problem sein, Ihnen reiche es zu wissen, dass ihr Direktor seine 51% nicht missbrauche. Beim Stand dieser Auskünfte ließen wir unsere weiteren Nachforschungen auf sich bewenden. Die Tatsachen machen deutlich genug, dass Perestroika, Privatisierung und darauf folgende Reorganisation der russischen Wirtschaft zwischen Plan und Markt noch nicht mit der Einführung einer gerechteren Gesellschaft verwechselt werden dürfen. Sie repräsentiert nur einen möglichen Schritt dorthin.
Die Mehrheit der übrigen Aktienbesitzer seien seinem Beispiel gefolgt, erklärt der Direktor weiter. Auch sie legten ihr Dividenden in Investitionen an. Sie könnten das, weil das Lohnniveau in „Irmen“ vergleichsweise hoch, das Niveau der Lebenshaltungskosten dagegen extrem tief liege – nicht zuletzt deshalb, weil jede Familie im Gebiet Irmens, wie ich auf einem Rundgang mit eigenen Augen sehen könne, selbst diejenigen, die nicht im Betrieb, sondern außerhalb Irmens im Distrikt oder gar in Nowosibirsk arbeiteten, einen eigenen Hof-Garten besäßen, in dem sie ihre eigene ergänzende Familienwirtschaft betrieben – also die zusätzliche Versorgung der eigenen Familie durch Kuh, Schwein und Kleinvieh sowie ausgedehnten Obst-, Frucht- und Gemüseanbau, zusätzlich sogar auch noch Blumen. „Sie werden selbst sehen“, schließt der Direktor, „dass manche Familie ihre eigenen Produkte sogar noch an den Gesamtbetrieb weiterverkauft.“
Perestroika, meint Direktor Bugakow, habe prinzipiell nicht viel verändert: Arbeiten müsse man immer noch. Die Umwandlung von „Irmen“ in eine AOST habe aber spürbar zu einer größeren Interessiertheit der früheren Kolchosmitglieder an den Arbeitsergebnissen geführt – bei den einen als Besitzer von Aktien, denen seit Jahren steigende Dividenden zuflössen, bei den anderen als Bezieher von Löhnen, die sie in die Lage versetzen, sich einen steigenden Lebensstandard zu leisten. „Irmen“, auf diese Feststellung legt Chef Bugakow besonderen Wert, existiere ohne staatliche Subventionen und ohne Kredite; er dulde aber auch keine Bartergeschäfte, also wilde Tauschpraktiken, wie sie sonst in weiten Teilen des Landes als Folge der Krise üblich seien. „Barter“ so Bugakow, „macht auch den ehrlichsten Menschen zum Gauner. Es bringt nur Verwirrung. Bei uns gibt es nur klaren Geldverkehr. Wir haben genügend flüssiges Kapital, um uns selbst zu finanzieren und uns unabhängig zu machen von den irrsinnigen Krediten, die heute verlangt werden.“ Wer sich darauf einlasse, so Bugakow, komme nie auf einen grünen Zweig.
So scharf Juri Bugakow hier die Prinzipien des Marktes betont, wenn es um die Arbeit auf den Feldern oder in den Betrieben und um den Handel zwischen den Dörflern und der AOST Irmen als Produktionsgemeinschaft geht, so bewusst setzt er andererseits auf die Nutzung der nicht-kapitalistischen gewachsenen Traditionen: Die AOST „Irmen“ ist nicht nur kollektiver Arbeitgeber, sie übernimmt auch – bewusst gegen den Trend einer allgemeinen kommunalen Verwahrlosung, ja, gegen die heute von Moskau betriebene Monetarisierung der betrieblichen und kommunalen Fürsorgestrukturen – die Kosten und die Verantwortung für Erhalt und Ausbau der infrastrukurellen, der sozialen und der kulturellen Versorgung ihrer Ortschaften. In Juri Bugakows eigener Schilderung der aktuellen Situation in Irmen klingt das so: „Die Wohnungen“ – er spricht von denen, die neu gebaut werden – „sind mit allem kommunalen Komfort ausgestattet: Da gibt es Gas, da gibt es ständig heißes Wasser, da gibt es kaltes Wasser, schlicht, es gibt allen kommunalen Komfort, den es geben muss.“ Diese Leistungen, erklärt er, werden als geldlose Vergütung für geleistete Arbeit, bzw. für diejenigen, die nicht in der Gemeinschaft, sondern außerhalb arbeiten, zu besonders günstigen Konditionen gestellt. „Darüber hinaus“, fährt er Direktor fort, „gibt es in den Dörfern eigene Gärten, eigene kleine Landstücke. Man hat dort außer dem allgemeinen Einkommen die Möglichkeit, ein ergänzendes Einkommen aus der eigenen Wirtschaft zu beziehen. Darauf können wir zur Zeit nicht verzichten.“
Was Direktor Bugakow zunächst als vorübergehenden Mangel formuliert, entpuppt sich bei näherem Nachfragen als bewusst angewandtes Prinzip: Es gehe nicht nur um den Garten, erklärt er, es gehe überhaupt um „persönliche Wirtschaft“, um „ergänzendes Einkommen“. „Da gibt es außer dem Garten auch noch die Tierhaltung: Kühe, Schweine, Hühner usw. Warum? Nun, in den letzten Jahren haben sich die Bedürfnisse der Menschen rasant erhöht. Früher war es so, dass man nur sehr wenig Geld verdiente und für das wenige auch noch wenig kaufen konnte. Es gab weniger gute Dinge, weniger Importware oder es gab sie überhaupt nicht. Jetzt gibt es in unseren Läden alles. Hier am Ort und auch in Nowosibirsk nur siebzig Kilometer von hier. Alle haben natürlich ein eigenes Auto und man hat kein Problem, mal eben nach Nowosibirsk zu fahren. Maximum eine Stunde und du bist im besten Geschäft von Nowosibirsk. Seit die Möglichkeit besteht, zu kaufen, was man möchte, haben sich auch die Ansprüche erhöht: Heute hat man ein Auto, morgen will man zwei haben; man hat es heute gut zu Hause, man will es noch besser haben; der Nachbar ist irgendwohin gefahren, um sich zu erholen, da will man auch hin. Man hat es auch nötig, sich zu erholen. Für all das braucht man Geld. Zunächst hat das die Arbeit generell stimuliert in unserer kollektiven Wirtschaft: Es gibt die Möglichkeit Geld auszugeben – also wuchs das Bedürfnis mehr zu verdienen. Und so gibt es heute Leute bei uns, die wirklich sehr gut verdienen. Das sind die Mechaniker, die das Korn auf den Feldern ernten, das sind die Beschäftigten, die tierische Produkte und Fleisch produzieren. Weniger verdienen diejenigen im Dienstleistungsbereich, welche die ganze Wirtschaft versorgen. Warum bekommen die weniger? Das machen wir bewusst so: Diejenigen, welche auf dem Feld arbeiten, haben weniger Zeit, sich mit der persönlichen Wirtschaft zu befassen. Auch jene, die mit den Tier- und Fleischprodukten zu tun haben, haben wenig Zeit dafür. Aber die, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, ihre geregelte Tageszeit haben, haben zwar ein geringeres Einkommen, aber sie haben die Möglichkeit, sich noch mit der eigenen Wirtschaft zu befassen. Sie haben zwei, drei Kühe, Schweine, Hühner – und nicht nur für die eigene Familie, sondern auch, um sie zu realisieren, um sie zu verkaufen. Sie haben es dabei nicht einmal nötig, zum Markt zu gehen, da wir eine eigene Weiterverarbeitung hier in unserer Gesellschaft haben, wir stellen fünfunddreißig verschiedene Fleischprodukte her, von der Grundversorgung bis zu Delikatessprodukten. Das heißt, man zieht sein Tier auf, bringt es her, kriegt sein Geld und weitere Fragen gibt es nicht. Das ist also wirklich sehr bequem. Das ist die Antwort, warum wir heute die eigene Wirtschaft zusätzlich zur kollektiven halten.“
Bereitwillig werden wir durch die Betriebe der AOST Irmen geführt: die Molkerei, in der mit soeben neu erworbener schwedischer Maschinerie hochwertige Milch-, Käse- Jogurtprodukte hergestellt werden; selbst der Kumis, sonst nur in der Mongolei zu bekommen, ist genießbar. Wir dürfen von allem nach Herzenslust kosten und werden darüber hinaus auch noch mit überreichlich Wegzehrung versehen. „Wir machen alles ohne chemische Zusatzstoffe“, wird uns wiederholt stolz erklärt, „nach neuestem Stand der biologisch orientierten Ernährungswissenschaft und mit regelmäßigen Kontrollen.“
In der Tierhaltung bemüht man sich, die in der Sowjetzeit üblich gewordene Masseneinpferchungen zu durchbrechen: Jungtiere werden in gut ausgestreuten Einzelboxen gehalten, die Milchkühe nach Möglichkeit auf die Weide getrieben und draußen gemolken. Fleischerei, Bäckerei, Ziegelei, Kindergarten, Kulturhaus, die im Bau befindliche neue Kirche – alles können wir ausführlich besichtigen. Wir dürfen reden mit wem wir wollen, worüber wir wollen, Ton- und auch Videoaufnahmen machen. Unsere Fragen werden beantwortet, so unbequem sie auch sein mögen: Fühlen die Menschen sich heute freier als zu sowjetischen Zeiten? Haben sie mehr Möglichkeiten. Können sie selbst über ihr Leben bestimmen? Die Antworten fallen sehr individuell aus: die einen loben den Chef, die anderen den Verdienst, die dritten wissen zu schätzen, dass ihnen Freizeit genug bleibt, ihren Garten zu richten. Kritik an den Arbeitsbedingungen hält niemand zurück: Die Maschinen – bis auf die Molkerei – könnten moderner, effektiver sein, die Arbeitszeit könnte kürzer sein. Aber man fühlt sich gut und gerecht entlohnt, immer mit dem Zusatz, dass man ja auch noch den eigenen Hofgarten zur Bewirtschaftung habe und die infrastrukturellen und sozialen Leistungen der Gemeinschaft teils kostenlos, zumindest aber zu sehr günstigen Bedingungen in Anspruch nehmen könne, wenn man das mit der Stadt oder mit anderen Orten vergleich, die nicht einen solchen Weg gingen wie Irmen. Man ist stolz an dem „Experiment Irmen“ teilnehmen zu können. Woanders als in Irmen zu leben, mag niemand der Gefragten sich vorstellen. „Wir haben hier alles, was ein Mensch heute braucht“ und wenn wir mehr brauchen, hindert uns niemand, in die Stadt zu fahren..
Eine Rundfahrt durch die Dörfer, Gespräche über den Zaun und Blicke in Küchen und Gärten bestätigen Direktor Bugakows Darstellung und das Stimmungsbild in den zentralen Betrieben Irmens ohne Einschränkung: Kein Haus ist ohne Wasser, ohne Strom oder ohne eine auch in den Schlammmonaten des Frühjahrs und des Herbstes benutzbare Zufahrt; selbst die alten Holzhäuser sind an die Versorgungsnetze angeschlossen. Menschen, die nicht in Betrieben oder auf den Feldern der AOST arbeiten, loben die Organisation, die es möglich mache, die Lohnarbeit in der Umgebung, dem nahen Bezirkszentrum oder gar in Nowosibirsk mit der durch einen eigenen Hofgarten im Rahmen Irmens garantierten Selbstversorgung zu kombinieren. „Wir sind keine Krösusse“, sagt ein knorriger Alter, „aber wir fühlen uns gut, wir fühlen uns sicher.“ Dabei zeigt er auf das nicht weit entfernt liegende Krankenhaus, das von der AOST Irmen betrieben wird. „Wenn wir Probleme haben, können wir jederzeit da hin gehen. Wo hat man so was sonst noch heutzutage.“ Kritischen Fragen begegnen auch die Dörfler ungezwungen: Ja, natürlich, mit einem anderen Chef wäre es anders – aber wo, bitte sehr, sei das nicht so?!
Wie sehr die Kombination von gemeinschaftlicher Produktion und familiärer Selbstversorgung in Irmen als prinzipieller Weg verstanden wird, offenbart sich in besonderer Weise auch in den seit der nach-sowjetischen Wende angelegten Neubaugebieten: Die neuen Häuser, obwohl heute nicht aus Holz gezimmert, sondern aus Stein gemauert und entlang geteerter Straßen mit Kanalisation angelegt, sind in ihrem Grundriss den traditionellen Hofanlagen vollkommen angepasst: Vorn an der Straße steht das Wohnhaus, dahinter liegt ein Garten mit gemauerten Stallungen für die eigene Kuh, für Schafe, Schweine und Kleintiere jeglicher Art. Diese Häuser bieten Raum genug für eine Drei-Generationen-Familie, ggflls. auch für zwei allein erziehende Frauen, die mit ihren Kindern zusammenwohnen. Familien, wie immer sie zusammengesetzt sind, können sich auf diese Weise zusätzlich zu ihrem Lohneinkommen, aus dem sie auch die Kosten für das Haus und seine Versorgung mit Gas, Wasser, Strom, Straße usw. aufbringen müssen, ihre Grundversorgung auf eigenem Boden organisieren.
Früher wurden die Unkosten für Haus und Garten gänzlich aus dem Vergütungsfond der Gemeinschaftswirtschaft getragen; heute müssen sich die Familien an den Unkosten für Haus und Garten beteiligen, sofern sie nicht, was offenbar auch möglich ist, das Haus ganz privatisiert haben. Hier zeigt sich die Symbiose zwischen den kollektiven Strukturen der gemeinsamen und der eigenen privaten Wirtschaft, in der die eine Seite die andere nicht nur stützt, sondern überhaupt erst möglich macht. Die Grenzen zwischen ihnen fließen. Was als Protestlösung, als Übergang begann, wird zur Dauereinrichtung, ja, zum Modell, wenn auch mit erkennbaren Schönheitsfehlern: Die Position des Mehrheitsaktionärs erlaubt dem Direktor Entscheidungen gegen den Rest der Gemeinschaft durchzusetzen. Ein sozial rücksichtsloser Direktor kann eine solche AO auf dieser Grundlage privat ausbeuten; und tatsächlich gibt es mehr als einen Fall, in dem Direktoren früherer Sowchosen oder Kolchosen sich deren Mitglieder als abhängige Lohnarbeiter, tendenziell sogar Tagelöhner abhängig machen. Das System Irmen steht und fällt mit dem Vertrauen in eine am Wohl des Gesamten interessierten Leitung. Andererseits wird ein mit gesunden Egoismus ausgestatteter, aber langfristig denkender Direktor keine Entscheidungen treffen, die das – zumeist geringe – Kapital aus der AO heraus zieht, um es privat zu konsumieren, weil er sich damit auf Dauer die eigene Existenz zerstört. Er wird Interesse an einer Re-Investition der Profite haben, wenn es Profite gibt. Wenn es keine gibt, wird er darauf drängen, die Arbeit zu intensivieren, um die Erträge zu steigern und Geld für Investitionen wie für die Versorgung der AO zu gewinnen, er wird aber kein Interesse daran haben, den Arbeitstag seiner AO-Mitglieder über die Maßen auszudehnen, weil er ihnen – wiederum im eigenen Interesse – Raum lassen muss, ihre Gärten- bzw. Garten-Hof-Wirtschaft zu betreiben – wenn er sie nicht in Ware entgüten oder mit Geld entlohnen kann. Die Mitglieder der AO sind ihrerseits an einer Leitung interessiert, die Eigeninteresse und Interesse an der Effektivität des Betriebes miteinander verbindet, ohne sich die Familienwirtschaften einzumischen. So ist beiden Seiten geholfen.
Als Vorsitzender der Bezirksagrarkommission ist Juri Bugakow anerkannter Berater in der Region: Zusammen mit der Regionalen Agrarkomission von Nowosibirsk, hat er ein Netz sogenannter Basiswirtschaften entwickelt, in dem die Erfahrungen mit der Organisationsform von „Irmen“ weitergegeben werden. An einem Betrieb pro Bezirk werden die Erfahrungen von „Irmen“ für die anderen Wirtschaftseinheiten des Bezirks demonstriert. In Versammlungen werden die Ergebnisse beraten, wer Hilfe braucht, kann Unterstützung bekommen. „Es geht nur langsam“, meint Juri Bugakow“, „aber hier und da wächst inzwischen etwas heran.“
Zusammen mit der Vereinigung „Sibirische Übereinkunft“, welche offizielle und inoffizielle Machtträger aller sibirischen Regionen vertritt, und dem Russischen Unternehmerverband., der MARP, versucht man zudem, die agrarisch orientierten Basiswirtschaften mit örtlichen Industrien zu „Komplexwirtschaften“ zusammenzuführen. Auch hierbei wird mit marktwirtschaftlichen Methoden an alten Vorstellungen aus der Sowjetzeit angeknüpft.
Juri Bugakows „Irmen“ ist auch ein Beispiel für das, was Professor Theodor Schanin, einer der russischen Ökonomen, die heute die neuen sozialen Strukturen untersuchen, welche sich aus der Privatisierung in Russland ergeben, als „extrapolare Ökonomie“ beschreibt: Eine Mischung aus kollektiver und privater, dirigistischer und selbstbestimmter, sozialistischer und marktwirtschaftlicher Produktion und Lebensweise. Sicher: Irmen ist ein wohlhabendes Beispiel, vielleicht eine Ausnahme, könnte man einwenden. Als ehemalige Mustersowchose brachte Irmen beste materielle Voraussetzungen mit, den Sprung zu schaffen. Aber dem ist erstens die bemerkenswerte Tatsache entgegenzuhalten, dass es eben gerade eine ehemalige Mustersowchose ist, die diesen Schritt zur Symbiose von traditioneller Gemeinwirtschaft und Marktorientierung schafft. Schwächere Gemeinschaftsbetriebe sind an der Privatisierung zerbrochen; zweitens kann man in Russland inzwischen auch anderswo vergleichbare Strukturen finden. Keineswegs alle stehen ökonomisch auf dem hohen Niveau wie „Irmen“; manche dümpeln auf einem sehr niedrigen Niveau der sozialen Versorgung wie auch des persönlichen Konsums, nicht wenige liegen sogar im Elend. Die innere Struktur, die den einen ein gutes Leben ermöglicht, den anderen aber trotz Krise immerhin noch das Minimum eines sozialen Rahmens und den Erhalt der physischen Existenz, ist jedoch die gleiche: Eben die die Symbiose von kollektiver Bewirtschaftung mit Formen der ergänzenden familiären Subsistenzwirtschaft, die selbst in der Krise ein Minimum an wirtschaftlichem und sozialen Zusammenhang erhält. Unter günstigen Umständen garantiert sie ein Maximum an individueller Bewegungsfreiheit in der Gemeinschaft. Das mussten sogar unsere Begleiter aus Nowosibirsk eingestehen, obwohl sie als eingefleischte Städter nichts vom Landleben halten. Aber auch sie, das muss gesagt werden, gehören zu den 60% der russischen Bevölkerung, die von den zusätzlichen Einkünften ihrer Datscha leben, die sie draußen vor den Toren der Stadt unterhalten. Vor diesem Hintergrund darf man wohl den russischen Forschern zustimmen, die wie Alexander Nikulin, ein jüngerer Mitarbeiter Theodor Schanins, in der Kombination von „persönlichem Familiärem und grossem Kollektivem“, das sich zur Zeit in Russland spontan herausbilde, einen „sehr perspektivreichen Weg“ sehen und Wissenschaftler sowie Politiker auffordern, über diese neuen sozialen Strukturen nachzudenken, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen realen Entwicklung zu geben.
Drei Dinge möchte ich am Schluss noch anmerken:
Erstens: Selbstverständlich unterscheiden sich die heute in Russland bestehenden Gemeinschaften von Betrieb zu Betrieb, von Ort zu Ort, mehr noch: von Direktor zu Direktor und von Kollektiv zu Kollektiv. Das ist wichtig festzuhalten: Verantwortliche persönliche Beziehungen sind wesentlich für dieses Modell, ohne die es nicht wirken kann. Das zweite ist: Wenn es darum geht, aus der sowjetischen Vergangenheit zu lernen, dann muss klar sein, dass die beste sozio-okonomische Ordnung nichts taugt, wenn sie per Zwang und Gewalt hergestellt, aufrechterhalten oder fremden Verhältnissen aufgepfropft wird wird. Als Drittes möchte ich meiner Überraschung und Freude darüber Ausdruck geben, dass in der Debatte um diesen Vortrag, intensiver und noch viel lebendiger als erhofft, Parallelen aus der Geschichte der DDR und aus der Lage im heutigen Ostdeutschland zutage traten, die zeigen, dass hier im Interesse der Entwicklung einer solidarischen Ökonomie noch viele Probleme zu lösen, aber noch mehr Schätze zu heben sind. Wer sich dafür interessiert, möge sich bei mir melden.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
Kongress solidarische Ökonomie 24. – 26.11.2007 – Workshop 40
Kai Ehlers:
Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft
Vorstellung eines Buches.
Eine intensive Debatte zum Umbau des Sozialstaats hat in unserem Lande begonnen. Die Forderung nach Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens als existenzielle Absicherung gewinnt zunehmend an öffentlichem Interesse. In der Beurteilung, ob ein solches Grundeinkommen tatsächlich möglich wäre und wenn, dann wie gehen die Ansichten der Befürworter jedoch weit auseinander. Auf der einen Seite stehen die Vertreter oder Vertreterinnen eines bedingungslosen, die Existenz sichernden Grundeinkommens wie Götz Werner oder Katja Kipping, auf der anderen unterschiedlichste Verbände und Gruppen, auch Selbsthilfe-Initiativen von Erwerbslosen, die ein Grundeinkommen an eine Verpflichtung zur Gemeinwohlarbeit geknüpft sehen möchten, weil freie Entfaltung der Person erst gelernt werden müsse. Ganz zu schweigen ist von Ökonomen, die uns vorrechnen wollen, dass eine allgemeine Grundsicherung nur durch Vollbeschäftigung mit garantiertem Mindestlohn erreicht werden könne. Die ökonomischen Begründungen für die eine oder die andere Position gehen weit auseinander.
Kurz, die Debatte zeigt nicht nur, dass eine Auseinandersetzung um Alternativen zum Abbau des Sozialstaates begonnen hat, was äußerst erfreulich ist, sondern auch, dass dringender Klärungsbedarf besteht, worüber wir eigentlich sprechen.
Ich will dazu, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einige der Fragen anreißen, die mir über den Konsens hinaus, dass wir alle freie, selbst bestimmte Menschen sein wollen und das auch anderen gönnen, als besonders klärungsbedürftig erscheinen. Es sind die Fragen, um deren Beantwortung ich mich auch in meinem für diesen Workshop zur Diskussion stehenden Buch zur „Integrierten Gesellschaft“ bemühe.
Zuvor jedoch noch ein paar Worte zur Entstehungsgeschichte des Buches, die gleichzeitig den Charakter der entstehenden Debatte beleuchten: Seit langem bemühe ich mich, die Erfahrungen aus der russischen Gemeinschaftstradition, aus der nach-sowjetischen Transformation und genereller gesehen aus der Krise des Sozialismus in die heimische Debatte um Alternativen einzubringen. Ich bin dabei immer wieder auf den eisernen Vorhang gestoßen, der auch nach der Auflösung der Sowjetunion und ihres Einflussgebietes, einschließlich der DDR noch in der Weise weiterwirkt, dass Alternativen hierzulande nur als „westliche“ gedacht, im besten Fall auf eine „Nord-Süd-Schiene“ hin erweitert werden. Die aktuelle Entwicklung in unserem Land und in Europa – Stichwort: Senkung des Lebensniveaus, soziale Kontrolle und Entmündigung für die nicht vermögenden Teile der Bevölkerung, die mit der Einführung von Hartz IV verbunden sind und die beginnende Debatte um ein Grundeinkommen, dass diese Verengung aufbricht – hat die Bedingungen für die Aufnahme von Erfahrungen aus dem nachsowjetischen Raum jedoch merklich verbessert, verbessert in dem Sinne, dass nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Notwendigkeit gestiegen ist, sich nach allen Seiten um Erfahrungen und Impulse zu bemühen, die bei der zukünftigen Lösung der Probleme hilfreich sein könnten, selbst um solche aus dem ehemaligen „Reich des Bösen“.
Vor diesem Hintergrund fanden die Inhalte meines 2004 veröffentlichten Buches „Erotik des Informellen – Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt des Kapitalismus“, Untertitel: „Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation. Alternativen für eine andere Welt“ erstmals Eingang in unsere hiesige Debatte. In dem Buch untersuche ich die russischen und die darauf aufgebauten sowjetischen Gemeinschaftsstrukturen sowie deren heutige Transformation und gehe der Frage nach, was wir daraus für die Zukunft gesellschaftlicher Entwicklung lernen können. Menschen aus dem Umfeld von Attac Österreich baten mich dankenswerter Weise um eine konzentrierte Fassung der Inhalte dieses Buches für einen von ihnen geplanten Sammelband zur Krise der Lohnarbeit. Mit dessen Veröffentlichung landete ich unversehens mitten in der Debatte um die Einführung einer allgemeinen Existenzsicherung, insbesondere des bedingungslosen Grundeinkommens. In dem Buch zur „integrierten Gesellschaft“, zu dem ich hier spreche, bemühe ich mich die Erfahrungen aus der Transformation des sowjetischen Fürsorgestaates mit der im wiedervereinigten Deutschland aufkommenden Debatte um die Krise des Sozialstaates zu verbinden.
Ich gehe dabei von der Einsicht aus, dass die Entwicklung der menschlichen Versorgung in all ihren sozio-ökonomischen Stadien und kulturellen Formen ein Bestandteil der ökologischen Wechselwirkungen unseres Planeten ist. Die Art und Weise unserer heutigen Grundversorgung ist in einem kritischen Bereich angekommen, in dem Entwicklungsmöglichkeiten und Gefahren sich gleichermaßen potenzieren und alles gefördert werden muss, was geeignet ist, das bedrohte soziale und ökologische Gleichgewicht des Globus und die Chancen für eine freie Entwicklung des Menschen zu erhalten, zu pflegen und für die Zukunft – soweit es in unserer Macht steht – bewusst zu entwickeln. Diese Entwicklung begreife ich als Wachstumsprozess, gewissermaßen als Reifungsprozess der menschlichen Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur, die zugleich nichts anderes sein kann als ein Reifungsprozess des einzelnen Menschen. Ich nenne dies einen Weg in eine integrierte Gesellschaft, in der sich eine existenzielle Grundsicherung jedes einzelnen Menschen ohne Ansehen der Person, das Leben in einer selbst gewählten Gemeinschaft und die Freiheit zu frei bestimmter eigener Tätigkeit so miteinander verbinden, dass in dieser Wechselwirkung von Gleichheit, Solidarität und Freiheit ein Zusammenleben der Menschen miteinander und mit der Welt um sie herum entstehen kann, in welchem sie das im Laufe der Jahrtausende gemeinsam geschaffene Kapital auch gemeinsam nutzen. Im Gespräch mit Freunden um diesen Entwurf einer „integrierten Gesellschaft“ entstand die Frage, ob Kapital heute also als künstlich geschaffene Ressource und somit als Bestandteil der globalen Ökologie zu verstehen sei? Ganz genau! Ich denke, so ist es! Mehr noch, im Interesse einer tatsächlichen und nachhaltigen Nutzung der heutigen Krise, die über bloße Selbstberuhigung und Reformhuberei hinaus auf die Entwicklung einer zukunftsfähigen und lebenswerten Gesellschaft zielt, geht es heute aus meiner Sicht an aller erster Stelle darum, eben diese Erkenntnis zu vertiefen und zu verbreiten, weil erst sie eine neue Art der Nutzung des Kapitals effektiv nach sich ziehen kann.
Einschlägige Experimente bilden sich heraus, die vom Begriff ins Konkrete führen: So die Kommune Niederkaufungen in Kassel, so die internationalen Kooperativen von Longo-Ma?, so eine Reihe weiterer Lebensgemeinschaften, so das G.I.V.E – Projekt (Global integrated villages evolution), das Franz Nahrada von Wien aus betreibt oder die Initiativen der „Neuen Arbeit“, die unter Einsatz der eigenen Existenz herauszufinden versuchen, was sie „wirklich, wirklich wollen“ usw. usf. Ich will hier nicht alle Gruppen, Initiativen und Netze aufzählen, die heute alternative Wege gehen oder sie suchen. Der Ansturm auf diesen Kongress zeigt, dass etwas Neues im Entstehen begriffen ist.
Kommen wir also zu den offenen Fragen:
- 1. Stimmt der Slogan, dass genug für alle da ist, mehr noch, dass die Produktivität des Kapitals so wächst, dass die Existenz aller dadurch gesichert sein könnte, auch wenn sie nicht an der Produktion beteiligt wären? Diese Annahme ist schließlich die Grundlage für jede Grundsicherungsdebatte, gleich welche Details vorgeschlagen werden.
2. Stimmt die immer wieder vorgebrachte Behauptung, dass wir heute in einer „Fremdversorgungsgesellschaft“ leben? Wenn ja, muss die „Fremdversorgung“ durch Einführung eines Grundeinkommens noch gesteigert oder muss sie vielleicht durch zeitgemäße Formen der Eigenversorgung ergänzt oder gar korrigiert werden?
3. Führt ein staatlich garantiertes Grundeinkommen notwendigerweise zu mehr Freiheit des Individuums und der Wirtschaft oder – unter Fortbestehen der heutigen Produktions- und Lebensverhältnisse – vielleicht nur der Wirtschaft, vielleicht sogar weder der Wirtschaft noch des Individuums, sondern des Staates?
Der Reihe nach:
Unter Produktivkraft verstehen wir die materiellen, physischen und geistigen Kräfte, welche die Produktion eines Gutes ermöglichen. Diese Kräfte haben sich im Laufe der Jahrtausende, mit besonderer Beschleunigung seit Beginn der Industrialisierung so entwickelt, dass der zur Produktion eines Gutes notwendige Anteil physischer Arbeitskraft, tierischer wie menschlicher, im Vergleich zum instrumentellen, heute maschinellen Anteil immer geringer wird. Steigende Produktivität bedeutet also Freisetzung, Einsparung natürlicher, konkret menschlicher Arbeitskraft. Die „überflüssigen“ Arbeitskräfte werden ausgestoßen. Als „Reservearmee“, so schon Marx’ Analyse, dienen sie im Kapitalismus dazu, den Lohn für die Beschäftigten zu drücken. Dieser Prozess ist dem Kapitalismus immanent. Nicht „Vollbeschäftigung“, sondern Reduzierung des Anteils lebendiger Arbeit an der Produktion, ist sein Wirkprinzip – bestenfalls ausgeglichen durch eine quantitative Ausweitung der Produktion. Die Phase der „Vollbeschäftigung“ in Deutschland erweist als vorübergehende Ausnahmesituation.
Mit der allgemeinen Computerisierung erleben wir heute eine rasante Beschleunigung dieser Entwicklung; gleichzeitig zeigen sich Grenzen der quantitativen Ausweitung der Produktion. Das Ergebnis sind wachsende Massen von „überflüssigen“ Arbeitskräften, die aus dem bisherigen Kreislauf von Produktion und Konsumption ausgestoßen werden. Diese Zahl der „Überflüssigen“ erhöht sich noch durch die absolute Zunahme der Weltbevölkerung. Alle diese „Überflüssigen“ müssen entweder aus dem Erlös der Produktion unterhalten werden, obwohl sie nicht arbeiten, oder sich selbst einen Unterhalt organisieren, wenn sie nicht sterben wollen – oder sollen. Hier werden Grenzen der heutigen Produktionsverhältnisse erkennbar, jenseits derer die menschliche Gesellschaft zu neuen Formen der Arbeitsteilung übergehen wird – wünschenswerter Weise schrittweise und friedlich.
Damit sind wir auch bei der „Fremdversorgungsgesellschaft“. In der Tat: Einerseits werden Produkte rund um die Welt geschickt, andererseits haben immer mehr der „Überflüssigen“ vor Ort immer weniger Mittel, sich die Produkte zu kaufen. Damit stößt auch die „Fremdversorgung“ an ihre Grenzen. Die Menschen sind gezwungen nach neuen Formen eigenproduktiver Selbstversorgung zu suchen, nachdem die traditionellen Formen zerstört wurden und im Zuge der Globalisierung heute weiter angegriffen werden, sie sind gezwungen lokale und regionale Solidargemeinschaften zu bilden, die sie unabhängig von den, besser gesagt widerstandsfähig gegen die Unwägbarkeiten der „Fremdversorgung“ wie auch der Staatsfürsorge machen. Man kann von einem Puffer, von Schutz-, Kraft-, sogar Widerstandsräumen gegen die desintegrierenden Folgen der Globalisierung sprechen, die von ihr selbst hervorgebracht werden. Das gilt besonders für Länder, die jetzt erst in die Industrialisierung hineingezogen werden, aber auch für die Metropolen selbst, insonderheit der Länder des ehemaligen sowjetischen Bereiches, aus deren -ökonomischer Grundorganisation viel für die gegenwärtige Debatte um Grundsicherung gelernt werden kann, negativ, aber auch positiv.
So kommen wir zum dritten Aspekt, der Beziehung von Individuum und globalem Konzern, bzw. Staat. Menschliche Arbeitskraft wird nicht nur in zunehmendem Maße aus den Produktionsabläufen verdrängt, es wird auch zunehmend menschliche Arbeitskraft für selbst bestimmte Tätigkeiten außerhalb der Produktion und jenseits national-staatlicher Grenzen freigesetzt, über die der Einzelne frei verfügen kann.
Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass eine zukünftige Grundsicherung aus drei Elementen zusammenwachsen muss:
– Grundeinkommen, das gleiche Teilhabe aller Menschen am Konsum einer produktiver werdenden Welt ermöglicht. Das ist der Aspekt der Gleichheit. Er wird hauptsächlich durch Geld vermittelt, aber nicht nur: Teile des Grundeinkommens können auch in allgemeinen, jedem Menschen gleichermaßen zustehenden Versorgungsleistungen der jeweiligen Gemeinschaften bestehen. Das Grundeinkommen kann selbstverständlich durch eigene Arbeit aufgestockt werden.
– Gemeinschaftliche Grundversorgung, die aus einer Wiederaneignung der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Selbstversorgung erwächst. Dies beginnt bei der kollektiven Selbsthilfe der „Überflüssigen“ und steigt bis zur gemeinschaftlichen Versorgung mit selbst hergestellten agrarischen, handwerklichen und einfachen industriellen Gütern im lokalen und regionalen Rahmen auf. Unmittelbare Not der „Überflüssigen“ ist die eine, Bedürfnis und Fähigkeit
nach Wiederherstellung einer direkten Beziehung zum Produkt der eigenen Arbeit die andere Triebfeder solcher Zusammenschlüsse. Sie können Menschen von außerhalb, regional, sogar global in ihr Netz einbeziehen; ihre Basis ist jedoch die Kooperation vor Ort. Das ist der Aspekt der gegenseitigen Hilfe und der sozialen Grundabsicherung in Solidargemeinschaften. – Selbstbestimme Eigentätigkeit, in welcher der Einzelne über den Bezug eines Grundeinkommens, aber auch über den sozialen Stand hinaus, in dem er oder sie jeweils lebt, also Großfamilie, Kleinfamilie, Single, Kommune oder größere Solidargemeinschaft, seine eigenen Vorstellungen vom Leben verwirklicht. Das ist der Aspekt der persönlichen Freiheit, der über lokale, nationale, staatliche, aber auch über ethnische und kulturelle Grenzen hinausführt.
Die drei Elemente müssen ineinander greifen, eins kann nicht isoliert vom anderen verwirklicht werden, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verzerren: Grundeinkommen ohne Schaffung solidarischer Schutzräume öffnet Tür und Tor für staatliche Manipulationen. Gemeinschaftsbildung ohne Bezug zur Welt endet in Regionalismus und Zwangskollektiven. Beides hatten wir schon. Verabsolutierte Eigenarbeit endet in der Ich-AG als extremste Perversion persönlicher Freiheit. Eine lebendige Alternative kann nur aus der Wechselwirkung der drei Elemente und sie kann nur schrittweise erwachsen, wenn möglichst wenig Blut vergossen werden soll. Die Einführung eines Grundeinkommens kann ein Schritt auf diesem Weg sein. Umgekehrt können heute entstehende Gemeinschaften dazu beitragen, das vom Kapitalismus geprägte negative Menschenbild zu überwinden, indem sie zeigen, dass der Mensch zu solidarischer Lebensweise fähig ist. Voraussetzung für das eine wie das andere ist, dass aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wird, d.h. dass der Mensch in die freie Wahl gestellt wird, wie er oder sie arbeiten und wie er oder sie sein oder ihr Leben organisieren möchte, ohne eines der Elemente zu verabsolutieren. Ich nenne das den Weg in eine integrierte Gesellschaft.
Neue Heimat, neue Kultur. Porträt des Schriftstellers Kai Ehlers und der Künstlerin Frederike von Dall ´Armi
In: KursKontakte, Zeitchrift für neue Denk- und Lebensqweisen, 152, August/September 2007
Kulturkreatives Spektrum - Wandel zum Integralen
Wer sind die „Kulturkreativen“, die allmählich auch von den Mainstream-Medien wahrgenommen werden? Ist es tatsächlich ein Drittel unserer Bevölkerung – wie die jüngste Studie für Frankreich
zeigt –, das sich nicht mehr mit dem vorherrschenden materialistisch-naturwissenschaftlichen Weltbild identifiziert, sondern nach ganzheitlichen Erfahrungen und neuen Werten sucht? In einigen Zeitschriften der Mediengruppe Kulturell Kreative erscheinen in loser Folge Porträts von Persönlichkeiten, die man
als „Kulturkreative“ bezeichnen könnte – und das sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten und Bereichen. Dies ist der dreiundzwanzigste Beitrag dieser Serie in KursKontakte. Weitere
Porträts finden Sie auf www.kulturkreativ.net.
Neue Heimat, Neue Kultur
Hamburg im Sommer1950. Den sechsjährigen Kai Ehlers zieht es mit Macht zu seiner Mama. Zwar musste er schon zu Bett gehen, während sie noch einmal das Haus verlassen hat, um Bekannte in der neuen Reihenhaus-Siedlung zu besuchen – aber Kai kann nun einfach nicht mehr auf sie verzichten. In der Dämmerung steigt er aus seinem Bettchen, klemmt sich die Decke unter den Arm und verlässt das Haus über die Gartentür. Die Erwachsenen fragen sich später, wie der kleine Junge es wohl geschafft haben mag, mitsamt seines Gepäcks kreuz und quer über zahlreiche Gartenzäune zu steigen. Doch tatsächlich bringt seine Suche Kai irgendwann in das richtige Grundstück, wo er seine verdutzte Mutter in die Arme schließt.
Ein idyllisches Landhaus in der Bodenseeregion, Mitte der Sechziger Jahre. In der Familie eines gutsituierten Sägewerkbetreibers lebt die kleine Frederike als jüngste von sechs Geschwistern. Alle sind hier schwer beschäftigt. Notfalls bis spät in die Nacht hinein harrt Frederike manchmal in ihre Bettdecke gehüllt auf der Treppe aus, um die Mutter abzupassen. In den kostbaren zehn Minuten, in denen die beiden dann zusammen noch ein Brot essen, hat sie ihre Mama endlich einmal ganz für sich.
Kai und Frederike – obwohl sie doch durch stark unterschiedliche materielle Herkunftsverhältnisse, durch Zeiten und Orte (und schließlich auch durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Lagern innerhalb der westdeutschen Alternativgesellschaft) geprägt sind, werden die beiden Kinder, die damals in eine Bettdecke gehüllt auf ihre Mutter gewartet haben, später zueinander finden. Als es Mitte der 80er-Jahre dazu kommen sollte, arbeitete Kai, dem ein Lehrer prophezeite, er würde entweder als Verbrecher oder als Revolutionär enden, bereits Jahre als undogmatisch-weltoffener Redakteur in der Zeitung einer kommunistischen Splittergruppierung. Und Frederikes Weg hatte sie zu einer anthroposophischen Eurhythmiekünstlerin gemacht, die damals nach der richtigen Inspiration suchte, um dem eigenen Anspruch nach positiver Einmischung in die Gesellshhaft einen geeigneten Ausdruck zu geben.
Aber der Reihe nach:
Eine einfache, glückliche Kindheit sieht wohl anders aus. Als Kais Mutter gegen Ende des Krieges mit Mühe und Not vor den rachsüchtigen Tschechen aus dem Sudetengau flieht, stirbt das Baby fast an der Ruhr. Nur dank dem volksmedizinischen Ratschlag einer alten Russin – „Kind krank! Trinken schwarzen Tee mit Pferdemist!“ – kommt Kai gerade noch durch. In Dresden wird die Mutter verschüttet; verletzt macht sie sich mit dem rachitischen Kai und seiner älteren Schwester auf ins heimatliche Hamburg. Da der Jüngste jedoch nicht in der Stadt geboren wurde, sondern im April 1944 (leider nur fast termingerecht zum magischen NS-Datum „Führers Geburtstag“) im Sudetengau, lässt die städtische Nachkriegsverwaltung das papierlose Kind jahrelang nicht zu seiner Mutter ziehen. Erst mit sechs darf es nach langem Behördenkampf und langen Jahren bei einer Pflegefamilie zwar endlich bei ihr wohnen, doch sie kann nicht in dem Maße für den Sohn da sein, wie dieser es bräuchte. In diese zwei Jahre, während der sie „eine kleine Familie“ sind, fällt die eingangs wiedergegebene Anekdote um Kais Hintergarten-Odyssee; dann jedoch gibt sie ihn aufgrund ihrer Arbeitsbelastung abermals weg, diesmal in die Familie eines Dorfschmieds in der Lüneburger Heide. Den folgenden Abschnitt erlebt Kai als „eine der intensivsten Zeiten“ seines Lebens, während der er ungeheuer viel lernt. Neben der Schule muss er „wie ein Alter“ in Haus, Hof und Betrieb arbeiten. Rückschauend empfindet er seinen dortigen Platz zwar einerseits als quälend; auf der anderen Seite zieht er noch heute Kraft aus der intensiven Erfahrung des Bauern- und Schmiedelebens. Gut in Erinnerung ist ihm zudem die sonderbare Stellung seiner Pflegeeltern im Dorf: Da die Frau des Schmieds vormals als eine von drei begehrenswerten Schwestern in der Nachbargemeinde selbständig einen etwas abgelegenen Haushalt führte, hängt ihr noch immer der Ruf einer Hexe an. Im Dorf erfährt Kai wegen dieses vermeintlich schlimmen Umstands allgemeines Mitleid; der Schmied selbst jedoch erkrankt wegen den üblen Nachreden an seiner Frau am Magen. Kais Mutter erkennt die Unmöglichkeit der Situation, und da er ohnehin von der Mittel- auf die Oberschule wechseln soll, landet er für die folgenden zwei Jahre in einer himmelschreiend bigotten Pastorenfamilie am Rande Hamburgs. Als er 13 oder 14 ist, nimmt ihn die Mutter, die nun offenbar gewillt ist, ihre bisherige Nicht-Präsenz zu kompensieren, wieder bei sich auf. Sie hat ihm ein „perfektes“ Zimmer eingerichtet, mit farblich abgestimmten Möbeln und Wänden: „ Alles Etepetete!“ Entsetzt von diesem Ausdruck der Fremdbestimmung, gestaltet Kai zunächst einmal die Tapeten seines „perfektes Gefängnisses“ großflächig mit Kohlestiften um. Sofort begreift die Mutter die Vergeblichkeit ihres Versuches, die verlorene Zeit durch materielle Zuwendung wiedergutzumachen, und so hält sich ihr Zorn in Grenzen. Für anderthalb Jahre versuchen die beiden miteinander auszukommen, doch sie muss sich irgendwann eingestehen, dass sie mit dem pubertierenden Schlüsselkind nicht klarkommt. Abermals muss Kai weg, diesmal in ein Heim für schwererziehbare Schüler bei Osnabrück: „Einfach grauslich!“ Als aufkommt, dass er statt zum Konfirmandenunterricht in die Tanzstunde gegangen ist, will der Heimleiter handgreiflich werden, doch Kai kann die Ohrfeige abwenden, indem er mit seiner Mutter droht. Tatsächlich steht diese zwei Tage später vor der Tür und kümmert sich darum, dass ihr Sohn bis zu seinem Abitur in einer Pension unterkommt. „Das war insofern ganz toll“ hält Kai ihr heute zugute,„sie war zwar auf Distanz zu mir, aber wenn es drauf ankam, war sie solidarisch zur Stelle.“
Schon mit 14 Jahren hat Kai angefangen, intensiv ein Tagebuch zu führen, welches er bis zum heutigen Tag unter dem Titel „ME – Mein Ersatz“ weiterschreibt: „Meine Mutter redete nicht mit mir, deshalb musste ich mir das Buch zulegen.“ Nun, im Gymnasium der konservativen Kleinstadt, organisiert der aufbegehrende Junge Arbeitskreise und gründet eine Schülerzeitung. Die restlichen Schuljahre verbucht er als gute Zeit, weil er sich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihn tatsächlich interessieren; unter anderem besucht er etwa einen jungen Literatenzirkel. Nachdem sein Ruf im Ort spätestens durch ein phänomenales Abiturbesäufnis vollends ruiniert ist, zieht er für eine Weile durch die Welt – kehrt jedoch aus Italien zurück, weil seine Mutter möchte, dass er Lehrer wird.
In Göttingen studiert Kai „alles mögliche“, wohnt wunderschön in einem Gartenhaus, dessen romantisches Ambiente den Rahmen für erste Frauenbegegnungen abgibt. Endlich einmal so etwas wie Heimat? Sich-heimisch-fühlen auch in der lange entbehrten weiblichen Energie? Vielleicht. – Indes, das Studium von Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften vermag ihm bald nichts mehr zu geben. Ganz bewusst bricht Kai 1967 aus der Idylle nach Berlin auf, wo er – sicherlich nicht ganz zu unrecht – den Zeitgeist vermutet.
„Ich bin die ersten zwanzig Jahre in einer äußerlich total behüteten Situation aufgewachsen, an einem Ort mit fünf älteren Geschwistern und einem Kindermädchen“, beginnt Frederike die Erzählung ihrer Kindheit und Jugend. Die Holzhändlerfamilie bewohnt ein wunderschönes Anwesen in der „lyrisch-musikalischen Landschaft“ des Bodensees; der Vater, ein vertriebener adliger Gutsbesitzer aus Posen, hat noch weitere fünf Kindern aus erster Ehe. In der Familie wird viel gesungen, die Mutter hat eine tolle Stimme und lässt sie beim „Abwaschen, Äpfelpflücken oder Autofahren“ hören. Mit sechs bereits beginnt Frederike Klavierspielen zu lernen, zunächst drei Jahre lang autodidaktisch – ihr großes Ziel sind Beethovens Sonaten. Sehr früh schon fühlt sie außerdem eine starke Verbindung zur natürlichen Welt, zum Bach und zu den Bäumen des Grundstücks, denen sie sich ganz anvertraut; hier ist sie vielleicht mehr noch zu Hause als in der Welt ihrer Familie: „Das äußere Heil war im Grunde ziemlich marode, weil die Beziehungen nicht klappten.“ Dass sie nicht viel von ihrer Mutter hat, der faktisch die ganze Betriebsführung im Sägewerk obliegt – der Vater war innerlich an der Vertreibung zerbrochen –, davon kündet die eingangs beschriebene Treppen-Strategie der kleinen Frederike. Zwar wachsen die Geschwister teilweise in Internaten auf, aber die trotz dieser familiären Entlastung immer noch chronisch überarbeitete Mutter kann die kleine Frederike dennoch nicht angemessen begleiten, auch was die Förderung des jungen musischen Talents betrifft. Und noch etwas Anderes, eigentlich Unerklärliches überschattet Frederikes Leben schon früh: sie besitzt eine seltsame Affinität zu den Themen Tod und Krieg, die so etwas wie den Gegenpol zur lichten Seite ihrer Musikalität darstellt. In Friedrichshafen, wo sie den Kindergarten besucht, fühlt sie die Anwesenheit der vielen im Weltkrieg umgekommenen Menschen. Bereits zuvor hatte sie intuitiv die unverarbeitete Kriegssituation ihrer Eltern wahrgenommen. Die sprechen zwar durchaus viel über die Vertreibung, aber Frederike kann diese dunkle Vergangenheit nicht in Einklang bringen mit der eigenen, oberflächlich so heilen Gegenwart. Als sie mit drei Jahren – vielleicht zum ersten Mal bewusst – Musik hört, kommen ihr die Tränen, weil sich ihr hier alles Gegensätzliche der eigenen Situation offenbart. Nur mit einem Kirschbaum kann sie jedoch über diesen Abgrund sprechen. Zieht ein Gewitter herauf, hält sie die Spannung kaum aus. Oft läuft sie in den Wald, möchte sich am liebsten an die Wurzeln der Buchen klammern oder sich mit bloßen Händen in die mütterlich-schützende Erde eingraben. In der Schule zieht die eigentlich unnahbare Einzelgängerin Scharen von Kindern an, wenn sie die „tollsten Phantasiegeschichten mythischer Art“ erzählt. „Mich hat beschäftigt: Wo hört die Welt auf, und wo ist die Brücke, über die es in den Himmel geht?“
Die Pubertät bringt Frederike natürlich nur noch weitere Pein. Als Zwölfjährige schwört sie dem Fernseher ab und will nur mehr Klavier spielen; mit 14 beginnt die von Freunden und Lehrern Unverstandene in den Schriften Sartres und Camus’ zu suchen. Nihilismus gemischt mit Depression, Flucht in Musik und Natur, Existenzialismus und Surrealismus – Was klingt wie die Blaupause für einen rabenschwarzen Song von The Cure brachte Frederike an den Rand des seelisch Ertragbaren. An manchen Tagen, wie dem ihrer verhassten Konfirmation, überlässt sie sich völlig den Tränen.
Dann erkrankt ihre Patentante, eine überzeugte Anthroposophin. In ihrer Freizeit fährt Frederike wiederholt in das Steiner-Mekka Dornach, um sie zu pflegen. Bereits mit vier war sie dort erstmals im berühmten Goetheanum gewesen und hatte eine Eurythmieaufführung gesehen; die Darsteller vermittelten ihr damals den Eindruck von „tanzenden Engeln auf Erden“ – eine Offenbarung für das kleine Mädchen, das seitdem immer wieder nach Gelegenheiten giert, eine solche Aufführung zu sehen. Nun, mit 16, findet sie unter bei den Dornacher Anthroposophen heraus, dass es tatsächlich Menschen gibt, die danach streben Kunst und Natur zu verbinden! Frederike ist sich sicher, ihren Weg gefunden zu haben; sie verschlingt Steiner-Literatur und beginnt intensiv zu meditieren. Dies hilft ihr zunächst einmal über die allgemeine „Verzweiflung und Lieblosigkeit“ in Schule und Familie hinweg und sie versteht, dass sie als „absoluter Fremdling“ in dieser Welt nicht gezwungen ist, sich anzupassen. Anhand eines weiteren Buchs nimmt sie einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der offiziellen Geschichtsschreibung – doch die bewusstseinserweiternden Informationen führen letztlich nur zu weiterer Dissonanz mit dem Geschichtslehrer. „Groll und Zorn und eine unglaubliche Wut“ über das System erfassen sie. „Hätte ich nicht die Anthroposophie kennengelernt, wäre ich auch auf die Barrikaden gegangen“ meint sie heute mit Blick auf Kai. So aber habe sich ihre Revolution im Innern abgespielt.
Als Kai 1967 nach Westberlin kommt, gibt es dort zwar noch keine Barrikaden, wie ein Jahr später in Paris. Aber offenbar passiert in der Mauerenklave etwas völlig Neues und dieser Kulturbruch lockt ihn gewaltig. Er weiß, dass er zunächst etwas erleben muss, bevor er als Literat etwas Substanzielles schreiben kann. In den Trümmerhäusern der Stadt teilen die Hippies in spontanen und offenen Gemeinschaften ihr weniges Hab und Gut. Kai ist dabei, doch Jahre später erst wird er verstehen, was ihn an den 68er-Geschehnissen und an der später in der UdSSR miterlebten Übergangsphase so reizte: „Ich selber bin ein lebender Kulturbruch. In meiner Person bricht sich die mitteleuropäische Kultur sowohl sozial als auch kulturell-politisch. Schon als vater- und heimatloses Kind habe ich mich gefragt, ob ich der Sohn Goethes oder der Sohn Hitlers bin. Mein Grundproblem, mit dem sich auch alle meine Bücher beschäftigen, war und ist deshalb dies: Wie kann ich Heimat und Beziehung immer wieder neu herstellen?”
In Berlin und später in Hamburg erlebt Kai nun seine Revolutionszeit, die Zeit der Entstehung seiner Person, wie er es ausdrückt. Seine Erzählungen lassen darauf schließen, dass er innerhalb der 68er-Szene offenbar eine Art Grenzgänger war zwischen den Lagern der hyper-politischen Studenten und der Lebenskünstler-Hippies, die nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst transformieren wollen. 1970 zieht er nach Hamburg, wo er mit Freunden in einer alten Villa die „Ablassgesellschaft“ ins Leben ruft – eine berüchtigte revolutionäre Künstlerkommune mit anarchistischen Ansätzen, die bald noch weitere Ableger in der Stadt unterhält. Etwas vage umschreibt er die dortigen Aktivitäten so: „Wir waren der Kunstterror schlechthin. High life! Dort haben wir alles gemacht, was man den 68ern so nachsagt …“
Nach anderthalb Jahren verlässt Kai das Projekt und landet schließlich mit einem Salto-mortale in einer der größeren und undogmatischeren der zahlreichen Post-68er-K-Gruppen, dem „Kommunistischen Bund“. Diese Gruppierung streitet nicht zuletzt mit ihrer Zeitung „Arbeiterkampf“ (heute: „Analyse & Kritik“) gegen Krieg und neo-faschistische Tendenzen und für eine menschliche Gesellschaft. Als langjähriger Redakteur des Blattes ist es Kai ein besonderes Anliegen, die Gruppe für konkrete gesellschaftliche Utopien – das heißt für die Frage nach echter kultureller Erneuerung – zu öffnen. Da er nebenher Yoga macht und sich nicht scheut, etwa auch die Baghwan-Anhänger als Teil der Alternativbewegung mitzudenken, gilt er parteiintern als „bunte Kuh“.
Mitte der 80er Jahre beginnt Kai schließlich die Veränderungen, die er eigentlich für die eigene Gruppe und die eigene Gesellschaft erhofft, in der Sowjetunion zu spüren. Wie schon ’68 zieht ihn der dort sich ankündigende Kulturbruch wie ein Magnet an. Zwei, drei Mal reist er noch vor der Wende als Tourist und später als Touristenführer nach Russland – und bei einer dieser Fahrten begegnet ihm auf der Fähre nach Helsinki eine schüchterne Frau …
Frederike hatte sich schließlich für die Eurhythmie-Ausbildung entschieden und tourte nun bereits seit einigen Jahren mit einem Ensemble durch ganz Europa. Doch anders als das Gros ihrer Kollegen ist sie dabei getrieben von einer starken politischen Motivation: „Kriegen wir auch das, was dahintersteht, auf die Bühne?“ fragt sie sich, „Können wir beispielsweise die Menschen, die im Kohlenwerk rackern und mit dieser gesellschaftlichen Grundlagenarbeit unsere Arbeit erst ermöglichen, gedanklich einbeziehen? Wie kann ich diesen Menschen mit meiner Arbeit etwas zurückgeben?“ Viel stärker möchte sie gesellschaftlich wirken durch ihr Tun und endlich die normalen Menschen kennenlernen. Und sie will endlich den Mann treffen, der ihr bei ihrer Mission behilflich sein kann – ja sie weiß sogar, wie er aussieht. Schon als sie Kai auf der Hinfahrt über die Ostsee sieht, spürt sie sofort, dass er der Richtige ist und sie nun eigentlich handeln müsste. Gut, dass sie beide zufällig auch für die Rückfahrt dieselbe Fähre benutzten und er sich – seinerseits von der Fremden angezogen – in ihre Nähe setzt, während sie noch immer überlegt, wie sie über ihren eigenen Schatten springen und ihn ansprechen soll. Das nun folgende Gespräch dauert bis Nachts um vier, wobei Kai sich erinnert, dass es eher die Form eines Intensiv-Interviews annahm, das sie mit ihm führt Einfach alles will sie von ihm wissen und zeigt sich fasziniert von den Möglichkeiten des politischen Wirkens.
Nach dieser ersten Begegnung der Künstlerin und des Kulturbruchforschers dauert es noch eine Weile, bis aus den beiden unterschiedlichen Menschen ein Paar wird. Immer wieder, sagt Kai, müsse er sich seither entscheiden, mit dieser fremden Geschichte in Beziehung zu sein. An Frederike habe er jedoch gelernt, das Andere zu schätzen und es bewusst anzustreben, das Fremde kennenzulernen, weil es eine Bereicherung ist, wenn Gegensätze zusammen einen neuen Körper formen. Dies sei der Erfolg seiner Suche nach neuer Heimat.
1989 verlässt Kai nach 15 Jahren Mitgliedschaft den Kommunistischen Bund, da er merkt, dass es ihm nicht gelingen würde, diesen für neue Horizonte zu öffnen; am Erscheinungstag der letzten AK-Ausgabe unter seiner Beteiligung schenkt ihm Frederike einen Sohn. Wieder löst neue Heimat die alte ab.
Die Wende im Osten bringt dem Paar schließlich auch Gelegenheit, ihre unterschiedlichen künstlerischen und politischen Herangehensweisen sinnvoll zu verbinden. Als Teilnehmer eines russischen Kongresses von 400 denkoffenen Psychotherapeuten ermuntert Kai Frederike – die nie zuvor öffentlich gesprochen hat – vor dem Auditorium über „anthroposophische Psychotherapie“ zu referieren; im Foyer des Saales hat er selbst ein kretisches Labyrinth nachgebaut und gibt darin „Transformationsübungen“ für die Anwesenden. Das später noch oft wiederholte Seminar will anhand der Figur des Labyrinths den Wandlungsprozess „sinnlich erfassbar, methodisch erkennbar und auf die persönliche Befindlichkeit und Lebenssituation beziehbar machen.“ Die gelungene „Anschauungshilfe in Soziokultur“ im Verbund mit Frederikes Wirken gibt der Veranstaltung einen starken Impuls – eine Sternstunde für das Paar.
Noch weiter im Osten, in der Mongolei, knüpft Kai über viele Jahre hinweg Kontakte zur nomadischen Bevölkerung. Die transformatorischen Veränderungen, denen auch diese noch nicht industrialisierten Gesellschaften unterworfen sind, wird er später in einem Buch über die „Zukunft der Jurte“ beschreiben. Andere seiner zahlreichen Publikationen behandeln die für den Westen zunehmend lehrreichen Ansätze zur Selbstorganisation in der postsowjetischen Gesellschaft („Die Erotik des Informellen“; siehe KK 150) und im gesamten asiatischen Raum („ Asiens Sprung in die Gegenwart“).
Prägend auf sie beide wirkt die Begegnung mit dem Pionier der Neuen Arbeit, Frithjof Bergmann (siehe KK 148?). Frederike, die Eurhythmie seit der Geburt ihres zweiten Kindes nun schwerpunktmäßig therapeutisch einsetzt, hat sich seither darangemacht, gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiter die Vision eines „Eurhythmie-Werks“ zu realisieren, das nach Bergmann’schen Ideen die herrschende Arbeits- und Konsumlogik auf den Kopf stellen soll: „Für Wellness und Heilung ein Vermögen zu bezahlen, das stimmt für mich nicht. Mit Eurhythmie produzieren wir kostbare Energie – Wärme, Licht, gute Luft im geistigen Sinn. In unserem Werk sollen alle Leute mitarbeiten können: Hier geht man zu einem Eurhythmiekurs, arbeitet dort den ganzen Tag und nimmt anschließend noch hundert Euro mit nach Hause. – Das ist völlig anders als beim herkömmlichen Wellness-Konsum, wo man sich selbst aufbaut, nur um anschließend wieder vom System fertiggemacht zu werden.“ In der neuen Gesellschaft gehe es um die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Mittels der Eurhythmie könnten die Menschen an die Quelle der Sprache gelangen und endlich ihr eigenes Kreativitätspotential entdecken. – Wenn Frederike davon erzählt, wie sich ihre Hamburger Eurhythmiegruppe auf diese Weise allmählich zu einer politischen Kraft entwickelt, klingt diese Idee gar nicht so abwegig.
Kai begleitet Frederikes Projekte mit wohlwollendem Abstand: Er stehe der Gruppe als Gesprächspartner zur Verfügung, selber Tanzen möchte er aber nicht.
Es gibt andere Stricke, an denen sie besser gemeinsam ziehen können. Nach Erscheinen von Kais Buch über die Idee des „ Grundeinkommens für alle“ als einem „Sprungbrett in die integrierte Gesellschaft“ (siehe KursKontakte 150) gründen sie Anfang 2006 ein Forum, auf dem die Thesen des Buchs diskutiert werden und wo vor allem darüber nachgedacht wird, was zu tun ist, damit die gesamtkulturellen Veränderungen stattfinden können, die Kai zufolge Voraussetzungen dafür sind, dass die Einführung eines garantierten Grundeinkommens tatsächlich die erhofften positiven Effekte zeigen kann – Denn was hilft dieses Instrument in einer Gesellschaft, deren Mitglieder nie gelernt haben, selbstbestimmt zu arbeiten oder auch nur sinnvoll mit ihrer Freizeit umzugehen? Ein fundamental anderes Verständnis von Arbeit scheint nötig, und Kai setzt in dieser Hinsicht insbesondere auf den Vorbildcharakter der bestehenden Gemeinschaften sowie auf die transformatorische Kraft des Dreigliederungsgedankens Rudolf Steiners (siehe KursKontakte Nr. 129). – Hat sich Kai, der seine Bücher mittlerweile bei einem anthroposophischen Verlag veröffentlicht, zu einem „Anthro” gewandelt? „Mein Anliegen ist das, was ich integrierte Gesellschaft nenne: das In-Beziehung-Setzten der verschiedenen isolierten Ein-Punkt-Bewegungen. Hier ist es meine Rolle, denkerische Prozesse anzustoßen. Ich bin aber kein Nachbeter; ich habe über die Neue Arbeit geschrieben, bevor ich Bergmann kennengelernt hatte; ich war in Russland, bevor Gorbi an die Macht kam. Ich schaue mit meinen Augen und das trifft sich dann oft mit dem was andere sehen: auch zum Beispiel mit Steiner, obwohl ich kein Steinerist bin. Und wenn ich unabhängig zu ähnlichen Schlüssen komme wie andere, so erkenne ich daran die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit meiner Wahrnehmung.“
Die Beschäftigung mit den russischen und westeuropäischen Gemeinschaften neuen Typs lässt nun jedoch immer hartnäckiger die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf in den Vordergrund treten: Die Kleinfamilie mit zwei Kindern, Häuschen, Hühnern, Hund und Katze, das ist eigentlich nicht das, was Kai sich einmal so vorgestellt hat, selbst wenn – zur großen Empörung der Nachbarn – eine original mongolische Jurte im Garten steht.
So steht also einmal mehr die Suche nach neuer Heimat an. Gemeinsam machen sie sich daran, aktiv neue Beziehungen aufzubauen – Späteres Finden von Gemeinschaft und einer neuen Kultur nicht ausgeschlossen … •
Veröfffentlicht in KursKontakte, Nr. 152
Gespräch mit Kai Ehlers zum Thema: Lebensformen und sozio-politische Organisation; Transformationsprozesse und neue Alternativen am Beispiel des Engagements Deutschland/Mongolei. Bewegungen zwischen Theorie und Praxis mit Annette Stock
Anlässlich des 5. Mongolei-Festivals in Schlangenbad-Bärstadt
Gespräch mit Anette Stock
Ist eine Kombination aus Kapitalismus, Kommunismus und Sozialismus in der Praxis z. B. in der Mongolei, möglich? Nein, keine Kombination auch keine Synthese sondern eine Weiterentwicklung von dem, was Gesellschaft, bzw. soziales Leben, eigentlich sein kann. Das bedeutet, Man muß auf der einen Seite begreifen, dass der Sowjetismus als Krise zeigt, dass dieser Weg so nicht weiter beschritten werden kann, andererseits, das Reparaturkonzept Kapitalismus, was jetzt in die Sowjetunion bzw. Rußland hineintransportiert wird auch nicht funktioniert. Also Rußland wird nicht einfach kapitalistisch. Diese Art von Dualismus, da Sowjetismus, Sozialismus, hier Kapitalismus das war einmal, da haben wir eine neue Situation. Aber es wird nicht einfach eine Kombination geben. Die sowjetische Krise ist gewissermaßen exemplarisch für die Krise unserer heutigen industriellen Gesellschaft, des heutigen Entwicklungsmodells von industrieller Gesellschaft, als planbare Gesellschaft die wissenschaftlich technische Gesellschft als planbare Gesellschaft, das ist da in die Krise geraten. Und das nicht nur in der Sowjetunion sondern letztenendes setzt sich dies in unserer Gesellschaft fort. D.h.wenn wir unsere, die sogenannte westliche Gesellschaft anschauen sehen wir, dass wir eigentlich genau dieselben Probleme haben. Nämlich das dieser Entwurf der industriellen Gesellschaft, als Fortschritt, der immer weiter geradlinig fortgeschriebenen werden kann, so nicht funktionieren kann. Es muß also was anderes her, es müßen also andere Prinzipien her, wie man miteinander leben kann, wie man mit dem Kapital umgehen kann, das wir uns als Menschheit über die Jahrhunderte erarbeitet haben. Diese ganzen Fragen stehen einfach neu nachdem der Entwurf den die Sowjetunion gemacht hatte nicht funktioniert und der Kapitalismus nicht einfach da eingeführt werden kann Und warum kann der Kapitalismus dort nicht einfach so eingeführt werden? Weil es nicht funktioniert, es ist nicht die Antwort. Es ist so, man kann das sehen, dass die Menschen von dem Konsum der ihnen angeboten wird, geblendet sind. Das ist klar, sie wollen erst mal alle so schön leben wie wir, d. h. in Anführungsstrichen schön, und dann merken sie, entweder wenn sie hier her kommen als Gäste, oder wenn sie auch dann dort sind , mit dem Konsum, mit dem sie ständig überschüttet werden, dass das auf die Dauer nicht funktioniert, weil die Freiheiten, die man ihnen vorgaukelt nicht durch die Realität getragen werden, d. h. sie haben zwar jetzt die Freiheit alles zu kaufen, aber kein Geld. Also da stoppt es dann. Da stoppt der Kreislauf, es funktioniert nicht, es funktioniert nur für eine kleine Oberschicht, die eine sehr un-egalitäre Gesellschaft herstellen, und die einfachen normalen Menschen die das erleben, die merken so kann man nicht leben, das kann nicht die Zukunft sein. Die Prinzipien des Kapitalismus, bereichere dich selber auf Kosten anderer, und das möglichst schnell, wie sie jetzt in Rußland propagiert worden sind, werden eben nicht von allen Menschen akzeptiert. Sie haben eine andere Art zu leben. Hat das vielleicht etwas mit ihren Traditionen zu tun? Ja, das hat etwas ganz entschieden damit zu tun, dass ihre Traditionen sehr viel stärker sind als diese 70 Jahre Sowjetismus. Die Traditionen stammen aus der sehr wechselvollen rusischen Geschichte zwischen Asien und Europa, der Vielvölkerkultur, die kein einliniges Denken erlaubt und auch einlinige Wirklichkeiten nicht erlaubt usw, und wo große ethnische Zusammenhänge geblieben sind in einem großen Zusammenhang aber eben kleine ethnische Zusammenhänge in diesem Sinn. Und damit zusammen hängt wiederum ein kollektives Gemeinschaftsdenken, also das sich in dieser russischen Bevölkerung entwickelt hat. Man produziert, man lebt gemeinsam. Das war schon vor dem Sowjetismus in der Dorfgemeinschaft usw. so. Sind das dort Klangruppen? Nein, das sind keine Klangruppen, das sind ganz klassisch gesehen die russischen Dorfgemeinschaften, das sind Produktions-Arbeitsgemeinschaften von mehreren Leuten im Rahmen von einem oder drei bis vier Dörfern, wo man sich unter idieologischen Gesichtspunkten zusammenschliesst um dieses Gebiet gemeinschaftlich zu bewirtschaften. Also in der Landwirtschaft das war ganz klassisch so, dass man die Dörfer hatte mit Ländertausch.und über Jahrzehnte hin hatte eine Familie einen Hof, und alle 15 bis 20 Jahre wurde das Land neu umverteilt, so traditionell, je nachdem wieviele Esser dazu gekommen waren, wurde neu verteilt. Das geschah auf dem Marktplatz, das wurde ausdiskutiert manchmal auch mit Fäusten, das ging nicht immer ganz friedlich vor sich, aber es wurde ausdiskutiert, es war also Ur-Demokratie, und unsere alten Sozialisten, also Marx und Engels usw sind ihrerseits gefragt worden, kann das ein direkter Weg zum Kommunismus sein? Daraufhin haben sie 10 Jahre lang geschwiegen, um dann zu sagen, also wenn in Westeuropa eine proletarische Revolution stattfände, und sie also eine neue stattlich gesellschaftliche Wirklichkeit aufbauen könnte, dann könnte das in Russland vielleicht eine Möglichkeit sein, das Stadium des Kapitalismus in Zusammenhang mit dem Westen zu überwinden/überspringen. So haben sie geantwortet, könnte, könnte, könnte, wenn… Also sie gaben eine richtige Sphinx-Antwort. Aber es zeigt natürlich, dass auch die beiden begriffen haben, das diese Gemeinschaftstradition ihre besondere Qualität hat, also diese Russische, vor dem Sowjetismus wohlgemerkt. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.. Was halten Sie von den Behauptungen einiger Leute, die sagen, der Kommunismus sei ein von gewissen Leuten initiiertes politisches Experiment auf russischem Gebiet gewesen? Ich verstehe die Frage, ich denke mir, es ist das unmittelbare authentische Interesse, des Kapitals, gewesen und auch heute, überall alles zur Ware zu machen, was man zu Ware machen kann. Da muß kein Oberlenker stehen, das ist ein anarchischer Prozeß, der findet statt. Ein selbst induzierter Prozeß, das ist ja eben das Merkmal des Kapitalismus, dass er eben anarchisch ist in seiner Grundstruktur. Dass Konkurrent gegen Konkurrent steht und Kapitalist gegen Kapitalist, und da wo der eine Kapitalist gewinnt, tritt er eben den Anderen und der tritt dann weiter nach unten,usw. usw. usw., also das ist ein anarchischer Prozeß. Und da..hm.. Andererseits ist es so, dass die Russen manchmal so reden, „mit uns hat man ein Experiment gemacht“…die da, also die haben hier ausprobiert“, usw., aber das ist eher auf einer mythischen Ebene. Wenn man es richtig als Soziologe analysiert, ist es ganz deutlich ein wirtschaftlicher anarchischer Prozeß, so wie Sie das eben gesagt haben. Und wenn man jetzt die heutige Situation anschaut, ist das ja auch wieder sehr interessant, dass sagen wir mal als die Sowjetunion in die Krise kam, so Ende der 1980er, Ende 81, 82, 83, und so ruch- bar wurde, das die Alte, die Autochthonie, die Alten-Herrschaft nicht mehr funktionierte. Als Breschnew dann starb, und dann ein Sekretär den nächsten ablöste, also irgendwie merkte man das geht nicht mehr so weiter, da hat der Westen gelauert, hat drauf gelauert, dass die Krise endlich ausbricht und hat nachgeholfen in Afghanistan, der US-amerikanische Alt-Stratege Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter z. B. spricht von der Afghanistan -Falle in die man die Sowjetunion hineingelockt habe, im Wissen, dass sie sich nach 70 Jahren ihrer Entwicklung in einer kritischen Situation befindet. Und die alten Parteisekretäre waren so verknöchert, dass sie auf diese Provokation hereingefallen sind, und haben sich nach Afghanistan, in diesen Krieg hineinziehen lassen. Und es war klar, dass sie ihn nicht gewinnen können, da hat der Brzezinski damals zu seinem Carter gesagt, „das wird Ihr Vietnam, wir haben was aus Vietnam gelernt“, damals hatten sie noch was gelernt, „… und das wird Ihr Vietnam…“. Und da sollten sie rein, und so wars dann auch, Afghanistan wurde die Falle, an der die Sowjetunion dann auch tatsächlich auseinandergebrochen ist. Das heisst, natürlich macht man in dem Rahmen Politik, trotzdem ist selbst diese Politik noch ein anarchischer Prozess, da ist kein großer Strippenzieher über der Politik, würde ich sagen letztenendes. Wie verhält sich das nochmal mit den Gruppierungen im Land? Sie sagten, dass die Leute sich historisch innerhalb von Dorfgemeinschaften organisierten. Schaun Sie, die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, weil, da gibt es natürlich Sprünge. In der Vor-Sowjetischen Geschichte, haben die Zaren im 19 ten Jahrhundert mehrmals versucht diese Gemeinschaftsstrukturen zu zerschlagen, Obscina heisst das, d. h. das Land befand sich im Kollektivbesitz (obscina) der Dorfgemeinde (mir), und auch der Kolchos fußte auf der obscina. Also eben diese Gemeinschaftsstrukturen wurden zu zerschlagen versucht, weil auch Rußland in den Prozess der Industrialisierung kam, am Ende des vor-vorigen Jahrhunderts. Und das war ein sehr rasanter Prozess, und sie meinten, dass diese Gemeinschaftsstrukturen, in denen ein sehr selbstgenügsames Leben geführt wurde, wo nur gearbeitet wurde wenn es nötig war, mehr nicht, dass die der Industriealisierung im Wege stünden, und standen sie auch. Dies geschah noch vor der Planwirtschaft und vor jeder Revolution. Diese Art von dörflicher Subsistenzwirtschaft und Dorfgemeinschaft, die war nicht dazu angetan, die nun gerade herannahende Industriealisierung zu befördern. Und diese Bauern, die damals dort so gelebt haben dachten, was soll uns das denn eigentlich alles. Es war nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft, der diese Industriealisierung sehr stark gefördert hat. Insofern haben schon die letzten Zaren, also Nikolai um 19 Hundert versucht die Obscina, also diese Gemeinschaftsstrukturen, zu liquidieren , und ihr habt vielleicht mal von dem Stolipin gehört, Minister unter dem letzten Zaren, der hat versucht als Ministerpräsident dann diese ganze traditionelle Gemeinschaftsstruktur der Gesellschaft per Gewalt aufzulösen. Aus diesem Grund spricht man bis heute auch immer noch von dem Stolipin`schen Kragen. Das ist der Strick, an dem Tausende von Bauern gehangen haben, die nicht aus den Gemeinschaftsstrukturen rauswollten, die nicht Privatbauern werden wollten, und die nicht in die Industrie wollten. Der Gedanke war bei Stolipin, also unter dem letzten Zaren, wir lösen diese Gemeinschaften auf, der eine Teil wird Privatbauern, und der Rest geht in die Industrie als Massenarbeiter. Das war der Grundgedanke. Vor der Sowjetischen Revolution, und das war ein Grund für die Revolution, weil die Bauern gemerkt haben, es ging ihnen an den Hals, man würde ihnen ihr Land wegnehmen. Und deshalb konnte Lenin später sagen, jeder Bauer ein Stück Land. Das war eine Parole. Frieden und Land. Das hat etwas damit zu tun was ich eben erzählt habe. Und die Sowjetische Revolution bestand dann unter anderem darin, dass eben den Bauern die Gemeinschaftstrukturen wiederhergestellt wurden. In diesem Fall also unter sowjetischer Führung, also in der Sowjet-Form, und jeder Bauer sein Land bekam, in der Form der Gemeinschafts-produktion, und da drin sein kleines Häuschen. Das war also grob die Situation, und in dieser Form der Staatsgemeinschaft, aber auch der selbstgebildeten Kollektivgemeinschaft, Sovchose und Kolchose, hat sich das dann über 70 Jahre entwickelt. So ungefähr. Es ist sehr schwer dies so einfach zu beantworten Wie hat sich das jetzt bis heute verändert? Das sind die Strukturen, so wie sie entstanden sind. Das sind die Bedingungen, unter denen sich die Sowjetunion während der letzten 70 Jahre entwickeln konnte. Dazu muss man sagen, dass diese gemeinschaftlichen Grundstrukturen auch auf die Industrie übertragen wurden, dann in der Sowjetunion, d.h. auch die Betriebe sind eben als Kollektive organisiert worden, und die ganze Arbeit ist um die Betriebe herum organsisiert worden. Das ganze Leben, es ist ein betriebs-zentriertes soziales Geschehen, wo der Betrieb X erstens die Arbeit kollektiv organisiert, aber zweitens auch das ganze private soziale Leben, alles, die ganze Infrastruktur, Strasse, Kindergärten, bis hin zum Begräbnis usw usw alles um diesen einen Betrieb. Also ländlich zum einen die Kolchose oder Sovchose, oder sei es städtisch, irgendein Industriebetrieb, der also für seine 20 Tausend, dann Wohnungen und Datschen und Pensionen gestellt hat, das ging alles über den Betriebsfond. Hatten die Menschen dort Mit-spracherechte? Die Leute hatten darin Mit-spracherechte. Es gab darin Betriebsräte, die waren natürlich parteiorientiert, d. h., also Mitsprache schon, im Rahmen der bestehenden Verhältnisse eben. Das ist aber eine sehr sehr schwierige Diskussion. OK… Und heute ist das so, das ist alles so gewesen, als die Perestroika begann. Bzw., dann als 1990/91 Jelzin mit seinem Privatisierungsprogramm kam, da hat es folgende Konfrontation gegeben, Jelzin und seine in Harvard ausgebildeten Leute, also Gaidard, erster Ministerpräsident Russlands usw.die haben ein Programm vorgelegt, dass fast 100-prozentig vom IWF (Internationaler Währungs Fond)abgeschrieben worden ist. Einer IWF-Untersuchung die in den Jahren 88/89 über die sowjetische Wirtschaft gemacht worden ist. Und in diesem IWF-Buch bzw. diesem IWF-Schinken hiess es, ungefähr also, die Sowjetunion ist überqualifiziert, sie ist überorganisiert, dass muss alles runtergefahren werden. Man muss mit ungefähr 20% Arbeitslosen rechnen…usw. usw., und dergleichen Dinge mehr. Unglaubliche Dinge haben sie da also von sich gegeben, aber der entscheidende Punkt war, diese kollektive Organisation des Lebens ist eine Fortschrittsbremse. Warum, weil die Menschen sich in diesem Kollektiv auf einem bestimmten Niveau gehalten haben, und mehr wollten sie nicht. Sie hatten was sie brauchten. Und es war nicht um andere Leute reich zu machen. Ja. Warum mehr arbeiten? Man arbeitet in Russland soviel wie man braucht und dann ist Sense. Deswegen gelten die Russen bei uns als faul, sie sind aber gar nicht faul, sie arbeiten nur periodisch da wo es nötig ist. Und das heisst, da gab es also die Konfrontation dass dann Jelzin und Gaidard so argumentiert haben.. sie haben also die Analyse des IWF übernommen, und sie haben dann gesagt, dass wichtigste in der Privatisierung, die wir jetzt vorhaben, ist, dass die Betriebe ent-kollektiviert werden. Ent-kollektiviert hieß in dem Programm, dass sie dann aufgeschrieben haben, dass die Betriebe in private Besitzverhältnisse, also Aktien-verhältnisse usw. überführt werden, und da muss dafür gesorgt sein, dass Anteile von Betriebsangehörigen und Direktor nicht mehr als 49 % erreichen. D. h. das Fremdkapital muss die Mehrheit haben. Das war geplant. Passiert ist etwas ganz anderes, passiert ist, dass einige grosse Betriebe unter kriminellen Umständen für nichts verschleudert worden sind. Das sind die sog. Oligarchen, die entstanden sind, Kolokowski und Beresowski und wie sie alle heissen, diese ganzen Leute und auf der anderen Seite, die weniger lukrativen Betriebe und vor allem kommunale Betriebe sind bei den Kollektiven geblieben. Warum? Weil die keiner haben wollte. Diese Betriebe hat man den Leuten überlassen, die darin arbeiteten, auf das sie sich selbst ernähren und dass sie den Betrieb selbst erhalten, weil sonst wären diese Betriebe kaputt gegangen. Und die haben sich dann zusammen geschlossen und dann hatten sie wieder ihren Betireb. Es ist aber dann auf einem Niveau gelaufen, dass sie zum Teil über Jahre marode Betriebe auf ihre eigenen Kosten halten mussten. Das ist ein irrer Vorgang. Und heute hast du so eine Situation, dass Putin, nachdem das nun 10 Jahre lang so gelaufen ist, einen Kurs eingeschlagen hat, dass er gesagt hat, also das geht so nicht, wir wollen zwar eine starke modernisierte Industrie haben, aber diese Industrie soll in vernünftigen Strukturen laufen, also auch in Strukturen, die dem Staat nützen. Deswegen hat er einen Chodorkowski z. B. verhaftet. Also das ist eindeutig politischer Prozess, also den Ölmagnaten Michail Chodorkowski, hat ihn also in seine Schranken weisen lassen. Darüber über Rechtsstaatlichkeit zu diskutieren halte ich für völlig albern, hier geht es um etwas ganz anderes. Hier geht es darum dass Chodorkowski den Griff auf die gesamten Ölressourcen Russlands hatte, und drauf und dran war an US-amerikanische Konzerne zu verkaufen, und das hätte bedeutet, dass Russlands Grundressourcen in den Händen der Amerikaner wären. Und da gab es nur eins, ihn stoppen, also aus der Staatraison heraus. Ob das nun moralisch richtig ist, das ist eine ganz andere Frage, darüber rede ich im Moment nicht. So einer, und auch Beresowski, und wie sie alle heissen wurden also gestoppt, und sie haben sich im Prinzip auf diesem Niveau eingeordnet. Auf der anderen Seite ist es so, dass viele kleine Betriebe in den Händen ihrer Arbeiter/Produzenten sind. …Es ist ein sehr gemischter Prozess, wenn sie zusammen mit dem Direktor 51 oder 52 % haben. Also die Direktoren sind auch nicht immer die Feinsten. Dann sind zwar alle die, die im Betrieb mitarbeiten in Besitz der Mehrheit der Aktien, aber häufig hast du Arschlöcher…der Direktor hat dann das Sagen und die anderen haben noch ein paar Anteile… Welche Strategien wenden dort die Leute an? Können sie ihre eigene Postition von außen betrachten? Ja, es gibt also auch in diesem Bereich diese Strukturen wo also der Direktor privatisiert hat, wo er also 51% als Direktor hält und der Rest ist auf die Belegschaft aufgeteilt. Und da gibt es sehr unterschiedliche Situationen. Ich kenne da ein Beispiel, in NovoSibirsk , da ist eine ehemalige Sovchose, es sind also neun Dörfer, da hat der Direktor 51% , jetzt durch die Privatisierung, die er hält, wie er dazu gekommen ist, weiß keiner so recht aber so ist es halt jetzt eben, und die restlichen 49 % sind auf die Belegschaft verteilt, die nennen sich geschlossene Aktiengesellschaft, da geht kein Fremdkapital rein, nur eigenes. Und das ist eine Konstruktion, die ist von der Form her eindeutig, autoritär ist nicht richtig, aber Autoritäts bezogen. Also auf diesen Patriarchen bezogen. Guter Direktor=Guter Betrieb. Wenn der Direktor aber ein Arschloch ist, oder sein Sohn z. B. dann vielleicht in die Rolle käme, dann wäre dieselbe Konstruktion schlecht. Da er aber ein guter Direktor ist, bedeutet dass, diese Konstruktion, dass er zu mir sagt, ich bin nämlich dagewesen, ich habe ihn gefragt usw., dass er also zu mir sagt, ich werde doch nicht etwas tun das mir selber oder meinem Betrieb schadet, so etwas mache ich nicht. Ich tue alles Beste für meinen Betrieb und für meine Leute und so leben wir zusammen. Also die leben bestens und alle sind total zufrieden, und sie haben Mitbestimmungsrechte, da gibt es einen Sowjet, also einen Betriebsrat, und den Anteilseigner, die gemeinsam entscheiden. Er trifft keine Entscheidung alleine, er berät das alles mit den anderen, aber es läuft über den Weg der Aktienbeteiligung. Aber die anderen, die da woanders arbeiten, die haben diese Struktur vor Augen und sagen, solange das so läuft, sind sie zufrieden. So läuft das, es gibt da keine Mitbeteiligungs-modelle im Sinne von Demokratie oder sowas, das ist da alles nicht so, das läuft da ganz anders. Das ist ein positives Modell sozusagen, da gibt es aber noch andere Modelle die sind noch gewissermassen positiver. Wo also der Direktor keine 51% hat sondern wo man gemeinsam gleiche Anteile hat, auch geschlossene Aktiengesellschaften. Solange geschlossene Aktiengesellschaften bestehen, hat man eine Chance, den Einfluss des Kapitals von aussen rauszuhalten, solange hat man die Chance einigermassen selbst zu bestimmen. Es sei denn, der Direktor bestimmt. Es sei den der Direktor bestimmt, aber das ist nur eine Voraussetzung, die Realität ist häufig sehr viel härter, weil dann versucht wird von aussen einzukaufen, Bedingungen zu setzen usw usw es ist ein richtig schwerere Kampf. Gewaltsame Übernahmen, Übernahme-Kämpfe usw usw….Finanz-Gewalt oder auch bürokratische Gewalt. Es kann also auch sein, dass eine Gemeinschaft, die so funktioniert, dann auf bürokratische Probleme stösst , die ihnen von der Umgebung, also von der Provinz-administration in Verbindung mit .., die also in dem Gebiet da tätig sind, Hindernisse in den Weg gelegt werden. Und die sind auch nicht von Pappe, d. h. also es ist eine richtig schwere Auseinandersetzung, die gegenwärtig in Russland geführt wird um die Frage, wohin geht es eigentlich. Und arbeiten Sie selbst in Ihrer Initiative gemeinsam mit politischen Analysten an Prognosen und der entsprechenden Entwicklung von Strategien? Schwierige Frage..es gibt ganz viele Leute, die Russland-Soziologie betreiben, die meisten, die ich im Laufe der 20 Jahre jetzt an mir habe vorbeiziehen lassen…müssen, sind solche Leute, die diesen Privatisierungskurs nachhaltig und ohne Einschränkung unterstützt haben, und das alles toll fanden. Und die der Meinung sind, das diese alten Strukturen, diese alten Selbstorganisation- bzw. Selbstversorgungsstrukturen, also überhaupt diese Gemeinschaftstrukturen, alle beseitigt gehören, also genau in dem Sinne von Gaidard argumentiert haben. Seit Gaidard aufgetreten ist eine ganze Phalanx von deutschen, europäischen Soziologen, die also nur diesen ganzen Mist immer geschrieben haben. Waren sie vielleicht zu stark von den Institutionen beinflusst? Nö, das ist einfach eine Kopffrage, das ist die Denke hierzulande. Hierzulande besteht die Überzeugung, dass wir das beste aller Systeme haben. Es gibt aber auch andere Stimmen, wie z. B. Pierre Bourdieu. Ja sicher, die gibt es. Gibt es aus ihrer Sicht auf die spezielle Situation in die Mongolei Parallelen zu anderen Global-Villages auf der Welt? Das was jetzt in der Mongolei passiert, das ist zuvor in Südamerika passiert. Das Kapital geht jetzt in der Mongolei genauso vor, wie vorher in Südamerika oder in Afrika. Es ist interessant zu sehen, es sind immer dieselben Strukturen und Vorgänge, aber das ist nicht einer der am Draht zieht, es ist ein authentischer Prozess der Verwahrung der Welt, der Ranschaffung von Ressourcen und dann die Fertigwaren zurücktransportieren. In etwa so wie es Weber`s Theorie beschreibt? Der Mensch in seinem systemischen Eingebunden-Sein in Sachzwänge, ohne die grosse Möglichkeit einer individuellen Einflussnahme? Ja, der einzelne Mensch glaubt Entscheidungen treffen zu können, und befindet sich aber in einem ganzen Konzert von Entscheidungen, die sich hinter seinem Rücken, so hat es auch Marx formuliert, die sich hinter seinem Rücken verwirklichen. Bewegen Sie sich nicht in einer Art der priviligierten Schlüsselposition, an einer Schnittstelle, die es Ihnen erlaubt mit gewissen theoretischen Ansätzen auch praktisch zu operieren…? Das ist richtig, denkerisch bin ich an dieser Stelle, praktisch habe ich keinen Einfluss, das muss man auch ganz klar sehen, d. h. wir mit unserer kleinen Initiative hier, wir sind ein Pfiff im Wind. Es ist so, und es gibt viele solcher Initiativen, die so im Wind stehen, und versuchen irgendwas zu tun, und da kann man nochmal eine andere Ebene einschlagen. Und sagen aha, ja ok, daraus ergibt sich vielleicht etwas. Aber der entscheidende Punkt an dieser Stelle ist aus meiner Sicht, nachdem ich mich lange mit diesen Fragen herumgeschlagen habe, eindeutig das Denken, das richtige Denken an dieser Stelle. Das heisst, indem ich also diese Fragen, die Sie mir jetzt stellen durchdringe, und wir dies hier gemeinsam machen, das ist das Entscheidende, was als Impuls in die jetzige Situation eingehen muss. Weil gegenüber der Macht des Kapitals und vor allem des militärisch gestützten Kapitals, noch dazu, also US-Situation, sind wir konkret erstmal machtlos. Die einzige Chance die wir haben ist an Bewusstsein zu arbeiten, und für den Tag, wann immer der sein mag, an dem sich eine Chance bietet, hier, dort oder auch insgesamt, wirklich parat zu sein, d. h. daran arbeiten wir eigentlich. Das ist meine Arbeitsauffassung. Also in dieser vorausschauenden Art Situationen für Menschen zu ermöglichen sich ihre Authentizität zu erhalten und zu bewahren und dann zu handeln, in der richtigen Situation. Also auch Ideelle und praktische Räume erschaffen? Wie bewerten Sie darin den Faktor der Dynamik. Also wenn wir davon ausgehen, dass es sich hier um enorm rasche Prozesse handelt, in denen Energie sich materialisiert und wieder zerfällt? Wie würden Sie sich, physikalisch gesehen darin wahrnehmen? Ja, das ist ein permanenter Prozess in dem wir drin stehen, physikalisch gesehen sind wir das kleine Flämmchen, dass dazu führt, dass die Luft ein bisschen heisser wird. Oder, wir sind das Salz in der Suppe, oder weiss der Geier. Wie immer, der Impuls kommt aus der Minderheit. Das ist ganz eindeutig, die Mehrheit, der grosse Fluss ist heute eine privatisierende, und profitisierende Kapitalisierung, Globalisierung. Das ist der Gesamtfluss, der heute stattfindet, wir sind noch mittendrin, es hat erst angefangen. Sehen Sie sich selber darin als neutral? Ihr Dazwischen-Sein? Sie sind doch eigentlich hier der Transformator/Katalysator, der beide Seiten verstehen und einschätzen kann, oder? Ja natürlich, das bin ich, ich bin als solcher tätig, und nicht nur das, ich kann das noch mal konkret machen. Ich habe eine lange linke Geschichte. Bis 1982-83 war ich Redakteur auch in einer linken Zeitung hier bei uns aktiv, und auch in der AKW-Bewegung, und weiss der Geier alles was da gelaufen ist bei uns. Und dann bin ich von da aus in die Sowjetunion rüber, seit 20 Jahren bin ich da also untersuchend tätig und habe erstmal dieses Deutschland hinter mir gelassen. Hab mich hier gar nicht mehr eingemischt, hab meine Bücher gemacht, hab recherchiert, also ich hatte sehr viel zu tun ich konnte mich hier nicht gleichzeitig einmischen. So, jetzt komme ich aber durch die ganzen Geschichten die wir hier jetzt besprechen nach 20 Jahren an den Punkt an, dass ich sage, Donnerwetter, das ist ein Prozess, und was sich da sehe, das gilt auch hier, und ich komme mit der Einsicht in diesen Transformationsprozess, komme ich nun nach 20 Jahren zurück und mische mich jetzt auch hier wieder ein. Aber anders wahrscheinlich? Aber anders, logischerweise, das erste was ich in Russland in der Sowjetunion lernen musste war, es gibt kein links und kein rechts, es gibt nur ein mittendrin. 2 Teil Thema Finanzgewalt Buchempfehlung: Grundeinkommen als Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, von Kai Ehlers im Pforte Verlag erschienen. Wenn man die Strukturen auf der einen Seite kennenlernt und die Strukturen in der eigenen Gesellschaft gut kennt, wird es dann möglich dadurch eine sinnvolle kommunikatie Situation für beide Seiten zu gestalten? Ich sehe in der Sowjetunion gewisse Gemeinschaftstrukturen, da sehe ich dieses Element der Selbstversorgung als grundlegendes Element, nicht als ausweglos, sondern da ist viel dran, worüber man nachdenken kann, und das in die Zukunft weist, das auch über den jetzigen Zusammenbruch hinausgeht. Und umgekehrt, bei uns ist es so, dass ich mich natürlich frage, also wie ist das eigentlich mit dem Kapitalismus, hat unsere Gesellschaft tatsächlich die Prinzipien der Französischen Revolution verwirklicht, also Freiheit, Gleicheit, Solidarität, oder nicht, oder werden diese Prinzipien heute vielleicht ins Gegenteil verkehrt? Wenn man z B. die Freiheit im Irak auf den Bajonetten und auf den Panzern dahin bringen möchte, dann ist das ja nicht mehr dasselbe, wie die sogenannten Europäischen Werte, die werden da ja praktisch ins Gegenteil verkehrt, da muss man also genau sortieren. Und indem ich die beiden Seiten nun sehe, und sehe auch wie sie interagieren miteinander, wie also unsere Leute jetzt auftreten, und meinen sie haben die Wahrheit gepachtet und müssten das alles nach dahin transportieren und die anderen wehren sich dagegen und sagen nein, so nicht. Also in diesem ganzen Prozess bin ich ja aufgefordert eine Position aufgrund meiner Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich jetzt gewonnen habe, zu beziehen, und das tue ich. Wo lokalisieren Sie Ihre eigene Positionierung hinsichtlich Ihres strategischen Vorgehens? Sehen Sie sich als Europäer oder Deutscher? Einerseits ist mir das ziemlich egal, andererseits muss man ja einen Ort angeben wo man sich befindet, und das mache ich immer. Wenn ich Bücher schreibe, wenn ich Veranstaltungen mache, dann sage ich immer, ich argumentiere von diesem Ort aus: d. h. ich bin als Deutscher unterwegs in Russland, und ich bin auch als Europäer, als Deutscher, der sich in der EU befindet unterwegs. Und das gibt dann ja nochmal eine andere Ebene. Genau. Und nun nochmal ganz konkret zu dieser Frage, bis zum Kosovo-Einsatz hin bin ich von meinen russischen Freunden immer gelobt worden, da haben sie gesagt “Du bist aber ein Deutscher“, und „du transportierst hier das neue Deutschland, das ist ja schon beinahe Kommunismus bei euch“, usw. „das ist ja alles Freiheit, Gleichheit , Brüderlichkeit und Solidarität, wie das bei euch so stattfindet“, also diese Illusion von diesem Deutschland, und ich wurde als Botschafter dieser Illusion begrüsst, oder auch dieser Werte, und nach dem Kosovo-Einsatz, ganz klar, „Wie konntest du das zulassen?“, haben sie zu mir gesagt, „wie konntest du sowas zulassen, dass die den Amerikanern helfen Jugoslawien zu zerstören?“ Woran glauben Sie liegt es, dass Sie dort als so starker Pol wahrgenommen wurden? Weil ich selbst so aufgetreten bin. Ich bin mit dem Impuls des Nachkriegsdeutschland unterwegs gewesen. Also erst mal politisch hier in unserem eigenen Land, nie mehr Krieg, nie mehr Faschismus, das war meine politische Tätigkeit lange Jahre. Und mit diesem Impuls bin ich auch da rüber gegangen, nie wieder Krieg nie wieder Faschismus, und dieses Bild von Deutschland, also diese deutsche Botschaft. Und auch die deutsche Situation in der sich das ökologische Denken sich am schnellsten und am weitesten entwickelt, auch das alles, das habe ich mitgenommen, und da war ich für sie einfach der Botschafter dieses hoffnungsvollen neuen Deutschland, also in den Gesprächen die ich dort geführt habe. In diesen Gesprächen, indem sie diese Art der Inhalte dort verbalisiert haben? Ja, ich habe das da reingetragen, habe gesagt, was macht ihr hier, aha, ihr Tschuwaschen, z. B eine an der Wolga lebende ethnische Einheit, ihr wollt nationale Wiedergeburt, das ist in Ordnung, und warum ist das in Ordnung, diese Gespräche haben wir da geführt, und wo ist die Grenze, wo bin ich nicht einverstanden, wo wird aus Nationaler Wiedergeburt Nationalismus, hab ich auch ganz klar gesagt, bin ich nicht einverstanden, und ich bin auch nicht einverstanden, dass ihr einen neuen Zaren kriegt, ich finde das also so und so richtig, also wir haben diese Gespräche geführt, so war ich unterwegs, ich war nicht einfach als Soziologe unterwegs, sondern ich bin als Person unterwegs gewesen, so hat sich das ergeben. Was sagen Sie zu den spezifischen sozio-politischen anarchischen Regulationsmustern, gibt es da Parallellen zu z. B. Ethnien im subsaharansichen Raum, die in relativ kleinen akäphalen (Führungslos; ohne Kopf) Verbänden über das Gebiet verteilt leben, die aber im Falle dass Gefahr oder Bedrohung von Aussen droht, dazu fähig sind, sich jederzeit sofort zusammenzuschliessen um einen Widerstand zu bilden und sich konkret zur Wehr zu setzen. Würden Sie sagen, dass Sie nun selbst durch ihre intellektuelle Arbeit und Ihr theoretisches Wissen wenn Sie in der Mongolei in aktuelle Situationen gehen, sich in bestimmten Gruppen eine Weile lang positionieren, und dadurch dass Sie Strategien diskutieren oder zum Thema machen vielleicht kurzfristig so eine Art funktionalen „Kopf“ bilden, und dann wieder gehen? Also das ist wahrscheinlich so, ich liebe das nicht sehr, aber es ist wahrscheinlich so, es ergibt sich eben einfach durch die Tätigkeit. Aber ich kann auch das wieder konkret beantworten, ich habe dieses Buch da gemacht, in der Weise, mit den Gedanken, die wir hier eben besprochen haben, dann hat sich um mich herum, im Prozess während dieses auch Buch entstand eine Gruppe gebildet, das Forum für eine integrierte Gesellschaft. Und in diesem Forum diskutieren wir jetzt ein Symposion, planen wir für Anfang nächsten Jahres, wo wir aus den verschiedensten Gebieten der Gesellschaft ganz unterschiedliche Menschen zusammenrufen wollen, also einmal GemeinschaftsvertreterInnen, aus aktiven Gemeinschaften, die einen neuen Lebensentwurf versuchen, aber auch konzeptionelle Denker, Frau Abendroth, z. B. als Matriarchatsforscherin, oder diese oder diesen oder jene, also verschiedene Leute, also eine Mischung zwischen Leuten, die praktisch Alternativen leben und auch denken, und solchen die konzeptionell so etwas entwickeln, und wir wollen das miteinander, das ist meine Vorstelleung, wir wollen das miteinander versuchen, ob wir was zustande kriegen und zwar aus den verschiedensten Lagern, bis hin, also das Thema lautet: Gemeinschaften zwischen Grundeinkommen und Regionalpolitik. An der Stelle nochmal zum Punkt der Dynamik. Frage: Das sind ja Prozesse der Theorie und Praxis darin wird ständig vor und zurück agiert. Nehmen wir nun einmal die Jurte als einen mobilen Lebensort, was im Rahmen des Semi-Nomadentums impliziert, dass hier eine andere Situation von Räumlichkeit gegeben ist. Die Nomaden wandern, also es gibt für sie keine Grenzen. Und hier bei uns sind wir es gewohnt die Situation der Immobilität, Statik, dadurch aber dann auch sozio-ökonomisches Eingebunden-Sein in die gesellschaftlichen Bedingungen. Wenn Sie also von Transformations-Prozessen sprechen, und Sie erwähnten Ihr Projekt mit den Holzhütten..Wo sehen Sie sich innerhalb dieses Spektrums? Wenn wir also auf der einen Seite den Pol: Jurte, Mobilität, und auf der anderen Seite den Pol: Backsteinhaus, Immobilität, haben. Stehen dann irgendwo als ein Dazwischen die Holzhütten? Ich denke nicht, dass man das so sagen kann. Wie ist Ihre Sicht auf die Mobilität bzw. Sesshaftigkeit in Bezug auf den Raum? Ein Übergang hin zur zentralisierten Organisation der Bevölkerung, so wie in den Städten? Ich sehe es so, dass Nomadentum und Sesshaftigkeit, wie Ying und Yang nur zwei Pole sind , bzw. zwei Seiten sind, und so wie in Ying ein Pünktchen Yang ist, so verhält es sich auch umgekehrt, es sind keine polaren Gegensätze, die sich gegenseitig ausschliessen, sondern es sind Übergänge. Und da hat man, wenn man jetzt in die sesshafte Kultur hineinsieht, auch viele nomadische Elemente. Es lohnt sich darüber nachzudenken, was in der sesshaften Kultur alles nomadisch ist. Im Russischen ist es konkret so, dass diese Holzhütten eigentlich fast etwas nomadisches hatten, also es wurde heute hier urbar gemacht, also Brandrodung und morgen, bzw. nach der ersten oder zweiten Generation, zog man dann schon weiter. Aber das ist schon erweitertes Nomadentum bzw. eingegrenztes Nomadentum, je nachdem wie man es sieht. Es ist eine Form der Zwischen-Städte? Aber die Holzhäuser selbst, sind natürlich für den Zeitraum für den sie gebaut werden stationär. Da muss man auch nicht darüber hinwegsehen. Und umgekehrt ist es so, als ich in der Mongolei war, ich war ja bisher viermal dort, und habe auch mit den Leuten gelebt, auch in der Stadt, nicht nur auf dem Land. Es gibt glaube ich keine Kultur, die so streng geregelt ist, wie die Nomadische Kultur. Was heisst hier Mobilität, nix da… Ja, ich hatte das auch auf den grösseren Zusammenhang bezogen. Genau. Konkret ist eine Jurte genauestens festgelegt. Frauenseite, Männerseite, das, das, dies, das gehört dahin, wann sie wo zu stehen hat, wo sie offen zu sein hat usw. usw. bis hin in die sozialen Strukturen. Also eine Ritualistik, die so scharf ist, dass ich so nicht leben möchte, ganz klar, dass sage ich meinen Freunden auch. Auf der anderen Seite ist es im grossen Zusammenhang so, sie ziehen den Herden hinterher, und die Mobilität ist ganz anderer Art, als diese etwas unbedarften West-Europäer sich dies hier häufig vorstellen. Richtig, denn sie sind ja oft auch von den Tieren abhängig. Ja. Das ist gar keine Mobilität, das ist Abhängigkeit. Die Mobilität liegt auf einer ganz anderen Ebene. Und ist es nicht unheimlich spannend, das zusammnzufügen, dazwischen zu stehen, und sowohl die eine, als auch die andere Dimension gleichzeitg mitzuerleben? In der Tat ist das sehr spannend. Man entdeckt in sich selber diese Elemente, also das sesshafte in mir und das nomadische in mir, und wie das miteinander wechselwirkt, und dann ist man in Bewegung. Schlagwörter: Modernisierung, Mongolei, Tradition, Transformation Weder Kommentare noch Trackbacks sind für diesen Artikel freigeschaltet. Diesen Artikel im Backend bearbeiten…. Kommentare sind für diesen Artikel deaktiviert. Suche: Aktuelle Bücher: Russland – Herzschlag einer Weltmacht Russland Rolle im globalen Kulturwandel. Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft Alternativen in der gegenwärtigen Kulturkrise Asiens Sprung in die Gegenwart Die Entwicklung eines Kulturraums \\\“Inneres Asien\\\“. 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Quo vadis Europa? Irrwege und Auswege.
Quo vadis Europa? Irrwege und Auswege.
Reader zur Konferenz „Eu global – fatal 2“,
Stuttgart 30.und 31.März 2007;
Herausgegeben von Attac EU-AG Stuttgart und Region
ISBN 978-3-00-022080-7, 10 € regulär, 15€ Soli
Darin ein Referat von mir, S. 40 ff
„Die europäische Union zwischen Russland und den USA.“
Globalisierung und Mongolei: Eine Prüfung in der Steppe
Mongolei – Pferde, Jurten, Gastfreundschaft? Erholung vom Stress der Industriegesellschaft? Oder Treffen und Tätigwerden mit Menschen, die in der globalisierten Welt von heute den Ort suchen, an dem sie überleben und sich behaupten können? Wir hatten uns für eine Verbindung von beidem entschieden: Wir, das waren neun Menschen einer in Hamburg ansässigen Initiative „Schafft zwei, drei viele Jurten“. Wir waren zu Gast bei mongolischen Freunden, die ihrerseits in der Mongolei eine Gruppe „Kultur der Jurte“ bilden. Gastgeber waren Frau Prof. Dorjpagma Sharaw, Ethnopädagogin, und Dr. Ganbold Dagwadorj, leitender Forscher am veterinär-wissenschaftlichen Institut der Universität von Ulaanbaatar sowie Mitglieder ihres weitläufigen Familien- und Freundschaftsnetzes. Ziel der Reise war herauszufinden, wie eine Unterstützung für die Modernisierung einer nomadischen Jurtengemeinschaft aussehen kann, welche die traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweise nicht zerstört, sondern entwickelt.
Unsere Planung war zweifellos super, das Ziel definiert, das ganze Vorhaben zudem so organisiert, dass genügend Spielraum für die reichlich vorhandenen individuellen Wünsche bleiben sollte: Eine Kernzeit im Juli war vereinbart, während der wir alle an einem Ort in der Steppe sein wollten; eine Jurte würde für uns bereit stehen, um die herum Zelte aufgebaut werden könnten. Verpflegung würde vor Ort geregelt, halb aus eigenen Vorräten, halb aus Ressourcen unserer Gastgeber in der Steppe. Die Organisation vor Ort lag in den Händen unserer mongolischen Freunde, die ihre deutschen Gäste nacheinander vom Flughafen in Ulaanbaatar zur Jurtengemeinschaft in der Steppe geleiten würden. Für Übersetzer würde gesorgt sein. Die Finanzierung hatten wir privat geregelt. Dies alles und noch viel mehr war schon im Frühjahr 2006 besprochen worden, als wir – sozusagen im deutschen Teil der Reise – mit mongolischen Gästen über mehrere norddeutsche Bio-höfe und Einrichtungen tourten. Danach wurde alles per Telefon und E-Mail weiter fixiert.
Drei Varianten hatten zur Wahl gestanden, als wir – noch in Hamburg – mit unseren mongolischen Gästen berieten, welchen Ort wir für unsere Studien wählen sollten: die Orchon-Ebene bei Karakorum, die mittleren Höhen weiter den Orchon hinauf oder schließlich eine Gegend ganz oben in den Bergen des Changai Nuruu. An allen drei Orten würden wir uns in Familienkreisen unserer Freunde bewegen.
Der Orchon, sei kurz angemerkt, entspringt ca. dreihundert Kilometer westlich der Hauptstadt Ulaanbaatar in den Changai Nuruu Bergen der Provinz Archangai. Über mehrere Stromschnellen fließt er eine Weile westwärts, biegt dann nach der Stadt Karakorum, seinerzeit Regierungssitz Tschingis Chans, in eine große Flachsteppe nach Norden ein, um schließlich, vereinigt mit dem Selenga in den Baikalsee zu münden. Wir hatten uns für die mittlere der drei möglichen Varianten entschieden, in der Vorstellung, so Fluss, Gebirge und Ebene als typisches Erfahrungsfeld miteinander verbinden zu können. Also, wie gesagt: alles geplant, was man bedenken konnte.
Als wir kamen, lief alles ganz anders: Die Kernzeit, die wir alle gemeinsam in der Steppe verbringen wollten, musste verschoben werden, weil eine Familienhochzeit für den in Japan lebenden ältesten Sohn unserer Freunde zu bestehen war. Den Termin hatten die Brauteltern gesetzt, die auf einer Feier nach traditionellen Riten in der Mongolei bestanden, obwohl das Paar schon längst miteinander verheiratet ist und ein Kind von anderthalb Jahren hat. Unsere Freunde baten uns, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, wohl auch, um ihrem Familienanhang mehr Gewicht zu verleihen. Mit diesem Empfang war unsere Planung, soweit es Termine betraf, erst einmal über den Haufen geworfen. Von nun an regierte die Spontaneität. Unveränderlich blieben nur An- und Abflugtermine und selbst da gab es Unsicherheiten. Das war die erste Überraschung.
Die zweite Überraschung bescherte uns der Transport: Verabredet war, mit Jeep oder Minibus in die Steppe hinaus zu fahren. Aus Kostengründen hatten sich unsere Freunde jedoch entschieden, ihren eigenen PKW, einen japanischen Stadtwagen, für diese Tour einzusetzen. Die Fahrt wurde zu einem Abenteuer für sich: Mit Gepäck und Personen absolut überladen rutschen wir bei sengender Hitze auf der Ölwanne des zu flachen PKW über die dreihundert Kilometer lange Schlaglochpiste bis Karakorum. Der Fahrer, ein junger Freund der Familie, gab trotzdem gnadenlos Gas. Bei jedem Aufsetzer stockte uns der Atem. Was würden wir tun, wenn er den Wagen schrottreif führe? Wer könnte den Schaden tragen? Wir zogen es vor, hin und wieder auszusteigen und zu Fuß weiter zu gehen. Morgens in aller Frühe waren wir aufgebrochen, bei einsetzender Dunkelheit kamen wir an.
Bei der Ankunft erwartete uns die dritte Überraschung. Gleich hinter Karakorum endete unsere Reise, allerdings nicht auf halber Höhe in den Bergen wie erwartet, sondern vor zwei Jurten in der Ebene gleich hinter der Stadt. Tschoigin, Gastgeber einer abendlichen Zwischenrast in Karakorum, lieferte uns dort ab. Am Morgen erkannten wir, dass wir genau an dem Ort gelandet waren, den wir ausdrücklich nicht gewählt hatten, nämlich in der einem Delta ähnelnden Flachsteppe nördlich von Karakorum, durch die der Orchon sich in vielen Verästelungen nach Norden wälzt. Links und rechts wichen die Berge so weit zurück, dass sie kaum noch zu erkennen waren, dafür war Karakorum so nah, dass man einzelne Häuser ausmachen konnte. So hatten wir uns den Aufenthalt in der Steppe nicht vorgestellt.
Irritiert, allerdings auch herausgefordert durch diese ganz andere Art mit Planung umzugehen, begannen wir nun intensiver nach dem Nomadischen in der mongolischen Kultur zu fragen, dann schrittweise auch zu verstehen: Zunächst lernten wir unsere Gastgeber kennen: Großvater Demberl und seine Familie, Sarangirel, Naigal und die sehbehinderte Darima. Bis vor kurzem lebten alle in einer Jurte. Als Naigal und Sarangirel heirateten, erhielt Naigal eine eigene Jurte, in der das junge Paar jetzt wohnt. Für uns haben die beiden ihre Jurte vorübergehend geräumt, allerdings nur nachts, tagsüber wird auch diese Jurte für die alltäglichen Verrichtungen gebraucht.
Zu den zwei Jurten gehören ca. 50 Ziegen und Schafe, dazu fünf Yaks und deren Kälber. Tagsüber ziehen alle Tiere weit in die Ebene, die Yaks waten auch schon mal durch einen Seitenarm des Orchon in die matschigen und steinigen Brachen zwischen den Flussarmen. Nachts werden Ziegen und Schafe in einen Pferch direkt vor der Jurte getrieben. Erwachsene Tiere werden von Jungtieren getrennt. Die Trennung erfolgt, damit die Jungtiere nachts nicht die Euter der Muttertiere leer trinken. Auch die Yakkälber kommen in den Pferch. Nur die erwachsenen Yaks bleiben draußen. An sie würde sich kein Wolf herantrauen. An einer Querstange vor den Jurten stehen zwei Pferde. Die ganze Szene wird von zwei Hunden beaufsichtigt. Die arbeiten allerdings nur nachts, tagsüber schlafen sie, wenn nicht etwas sehr Außergewöhnliches geschieht.
Morgens um sechs erheben sich Sarangirel, Darima, Naigal ebenso wie der alte Demberl, um zu melken. Eins nach dem anderen fangen die jungen Frauen die Muttertiere im Pferch ein, führen sie zum Seil, das Demberl außen am Pferch befestigt hat, um sie dort wie Perlen Kopf an Kopf, eins mit dem Schwanz nach rechts, das nächste mit dem Schwanz nach links nebeneinander anzubinden. Sobald die ersten Tiere stehen, beginnen die Frauen zu melken. Wer immer zur Zeit zu Besuch ist, ob groß oder klein, hilft mit, wo es geht. Wir klinken uns ebenfalls ein.
Auch die Yaks werden gemolken. Sie werden nicht angeleint, sondern einzeln dort aufgesucht, wo sie stehen. Aber auch von ihnen werden die Jungtiere entfernt gehalten. Nach dem Melken werden alle Tiere entlassen. Die Jungtiere eilen zu ihren Müttern. Jedes zu seiner. Ein lustiges Chaos. Alle Tiere gemeinsam ziehen dann gemächlich in die Ebene hinaus. Erst am Abend werden sie wieder geholt.
Üblicherweise werden auch Stuten gemolken. Alle zwei Stunden werden die Fohlen zu den Stuten getrieben, damit die bereit sind Milch zu geben. Nach dem Melken dürfen die Fohlen den Rest aus den Eutern ziehen. Aus der Stutenmilch wird der schwach alkoholhaltige, aber äußerst vitaminreiche Kumis gewonnen, mongolisch Airag. Er ist das wichtigste Getränk der Mongolen. Wer eine Jurte betritt, wird mit Airag begrüßt. Keine Begegnung, kein Gespräch ohne vielfaches Kreisen des Bechers mit Airag, den die Frau der Jurte beständig nachfüllt.
Demberls Stuten werden nicht gemolken. Bei zwei Tieren macht das Melken keinen Sinn. Seine Pferde dienen nur noch dem Reiten. Früher standen mehr Pferde vor Demberls Jurte. Auch seine Schaf- und Ziegenherde war größer, ebenso die Zahl seiner Yaks. Mehr als die Hälfte seiner Tiere hat er in den schweren Wintern der Jahre 2004 und 2005 verloren. Geblieben sind die wenigen, mit denen eben noch die einfachsten Grundbedürfnisse der Familie gedeckt werden können. Wenn es nicht Demberls kleine Pension, wenn es nicht die eine oder andere Hilfe von Söhnen, Töchtern oder anderen Verwandten aus der Stadt gäbe, müsste die Familie die restlichen Tiere verkaufen und ihr Leben in der Steppe aufgeben. Das hieße sich wieder zu finden im Heer der Arbeitslosen, die in den Außenbezirken von Ulaanbaatar zu überleben versuchen.
Nach dem Melken wird die Milch gekocht und weiter zu Butter, Käse. Jogurt usw. aufbereitet. Damit sind Sarangirel und Darima den Vormittag über beschäftigt. Dasselbe wiederholt sich noch einmal am Abend gegen 18,00 Uhr. Gegen zwischen 21,00 und 22,00 Uhr wird es dunkel. Dann ist der Tag. der hier nicht durch elektrisches Licht verlängert wird, beendet. Daran kann auch die kleine tragbare Solaranlage, die wir mitgebracht haben, im Prinzip noch nichts ändern. Nach ein paar Tagen haben auch wir den Rhythmus dieser Arbeit so verinnerlicht, dass wir mit unseren Gastgebern bei Einsetzen der Dunkelheit schlafen gehen.
Nun beginnt die Stunde der Hunde. Unruhig streifen sie um die Jurte und um das Gatter herum. Sie sehen Ihre Aufgabe darin, die Jurte nachts vor ungebetenen Besuchern zu schützen. Was immer Fremdes sich nähert, wird verbellt – und dies schon aus Entfernungen, in denen das menschliche Auge und Ohr noch keinerlei Störung wahrnimmt. Die Geräusche der Nacht werden wesentlich von den Hunden bestimmt. Sie unterhalten eine Art Meldesystem, das sich von einer Jurtengruppe zur anderen fortpflanzt. Für Ausländer ist an Schlaf kaum zu denken, jedenfalls nicht in der ersten und auch nicht in der zweiten Nacht. Irgendwann begreift man dann aber, dass man sicher ist, solange die Hunde bellen, solange Yaks, Ochsen und Pferde wiehern, grunzen, rülpsen und gemütliche Verdauungsgeräusche von sich geben. Eine merkwürdige Ruhe entsteht, ein lebendiger Raum, der einen einhüllt. Die Steppe.
Man wird bemerkt haben, dass ich inzwischen von weiteren Jurten gesprochen habe, deren Hunde sich nachts miteinander verständigen. Nicht weit entfernt von den beiden Jurten Großvater Demberls nämlich sind in lockerem Abstand von mehreren hundert Metern fünf weitere Jurten aufgebaut, die offenbar ihre eigene Wirtschaft betreiben. Die drei nächstgelegenen Jurten werden von sehr verschiedenen Familien bewohnt. In der einen leben zwei Halbwüchsige ohne Eltern, in der anderen eine Frau mit zwei Kindern, in der dritten eine kräftige Frau mit mehreren Kindern. Ihren Mann bekommt man nicht zu Gesicht. Die Wirtschaft ist bei allen die gleiche. Wenn ihre Schafe, Ziegen oder Yaks sich tagsüber miteinander vermischen, werden sie abends vor dem Melkeintrieb auseinander sortiert. Früher, sagt man uns, kannten die Hirten ihre Tiere Kopf für Kopf. Heute werden die Tiere mit Farbstreifen markiert, um sie zu unterscheiden.
Zwei weitere Jurten stehen einen Fünf-Minuten-Ritt weiter in Richtung der von der Stadt wegführenden offenen Steppe. Dort wird eine Herde von Pferden gehalten. Über diese Herde wird die ganze Jurtengruppe, wie es scheint, ohne Geldaustausch, mit Airag, versorgt. Man kennt einander. Dorjpagma meint sogar, hier einen weiteren Verwandten entdeckt zu haben. Aber kann man dies alles schon als eine Gemeinschaft, mongolisch als Chot Ail, gar als Ansatz für neue genossenschaftliche Entwicklungen verstehen? Wohl kaum. Man muss nur hinsehen, wie mühsam die Tiere abends auseinandersortiert werden, wenn sie sich tagsüber miteinander vermischt haben. Jede Familie melkt für sich selbst, versorgt sich selbst, verarbeitet Milch- und Fleischprodukte für sich allein, hat ihre eigene Familienwirtschaft. Die Folgen der Privatisierung seit 1992 sind unübersehbar.
Aber dann erfahren wir, dass man die Weidegründe gemeinsam aussucht, das man sich beim Hüten der Tiere abwechselt, dass nicht nur Airag auf die Jurten verteilt wird, sondern man sich in vielen Alltagsdingen gegenseitig unterstützt. Zum Schlachten kommt der junge Mann aus der Jurte nebenan herüber. Er weiß, wie man schlachtet, ohne Blut zu vergießen und ohne auch nur das geringste Teil des getöteten Tieres zu verlieren. Auch gefilzt wird gemeinsam. Die jungen Männer reiten gemeinsam hinaus um Heu für den Winter zu machen. Die Kinder fahren gemeinsam zur Schule nach Karakorum.
Am dritten Tag, in der Melkpause über Mittag, kommt so etwas wie eine Versammlung zustande. Mehrheitlich Frauen sind gekommen. Wir stellen uns vor. Unser Ziel zu erklären fällt uns schwer. Was haben wir anzubieten? Gut, wir haben den tragbaren Sonnenkollektor gebracht. Das hat Demberl fast zu Tränen gerührt. Auch hatten wir sonst noch einiges an Gerätschaften und Nützlichem bei uns. Aber unsere Frage, ob die fünf Jurten an diesem Ort sich als Gemeinschaft verstünden, bleibt irgendwie fremd in der Luft stehen. „Wenn einer krank ist, helfen wir“, bemerkt eine Frau schließlich knapp. „Die Weide“ wirft jemand ein. Weiterverarbeitung der Produkte? „Das wäre schon interessant“, murmelt der Gleiche. Kooperation mit der Stadt? „Würden wir gern: Gemüse anbauen“, sagt eine Frau, „Aber wie? Wir haben kein Land.“ „Es steht ihnen zu, aber die örtlichen Bürokraten wollen bestochen werden“, schimpft Dorjpagma. Eine lange Pause entsteht, in der nur Airag getrunken wird. „Uns fehlen die Kenntnisse“, meint eine Frau endlich. „Wir brauchen Instrumente“, ergänzt eine andere. Ein karges Gespräch. Wir können nichts versprechen. Wir fühlen mehr als wir hören, welche Mängel und welche Wünsche bestehen, auch dass es, trotz allem Hoffnungen gibt, irgendwie. Aber was können wir tun?
Nach ein paar Tagen bringt Naigal einen dunkelhäutigen Gast mit in die Jurte, seinen Freund Mindé, Pferdezüchter. Nach ein paar Runden Airags und freundlichen Worten zum Woher und Wohin kommt Mindé zur Sache: Er ist gekommen, um uns einzuladen, ihn und seine Familie in seiner Jurte weiter draußen im Norden zu besuchen. Er will uns seine Pferde zeigen, außerdem einen Garten, den er zusammen mit anderen angelegt hat. Wir sagen zu. Was wir ein paar Tage später vorfinden, sind drei Jurten in einer Steppe, die teils versandet, teils schon in Moor übergeht. Großmutter, Mutter, Vater, drei Jungs, drei Mädchen leben hier. Bei sengender Hitze ist die Familie dabei, meterhohen Treibsand auszuschaufeln und wegzukarren, der das große Pferdegatter unter sich zu begraben droht. Gut 200 Stuten hat die Familie. Airag und Pferdehandel machen ihr Einkommen. Alle sechs Kinder sind in der Ausbildung, die Jungs in Karakorum, die Mädchen an der Uni in Ulaanbaatar. Den Sommer verbringen die Kinder jedes Jahr hier in der Steppe. Selbstverständlich finden sie das. Nur mit ihrer Hilfe können Eltern und Großmutter die große Pferdezucht halten. Die Erlöse gehen für die Ausbildung drauf.
Vater, Mutter, drei Söhne und vier von uns schlafen nachts in der Jurte. Für Ausländer gewöhnungsbedürftig. Am Morgen kutschiert Mindé mich auf seinem Motorrad japanischer Bauart über die staubige Trasse an den Rand der Ebene. Dort liegt sein Garten, sein ganzer Stolz. Ich verstehe: Vom Berg kommt Sturzwasser, wenn es regnet. Das Wasser wird in einem selbstgebauten Stau aufgefangen, um dann in einem dünnen Rinnsal mitten durch ein ca. 200 Meter 50 Meter breites Feld zu sickern. Auf dem Feld stehen Kartoffeln, Gurken, Kürbisse, teils sehr sauber, teils bis zur Unkenntlichkeit verkrautet. Fünf Familien betreiben das Experiment dieses Feldes, erzählt Mindé. Man hätte gern Unterstützung durch westliches Kong Hob, durch Gerät, durch Maschinen. Man würde auch gern an einen anderen Ort wechseln, der nicht von Sturzwässern verschwemmt wird. „Was könnt ihr helfen?“ Das ist wieder so eine Frage, die wir nur mit nach haus nehmen können.
Im Zuge dieses Ausflugs lernen wir auch Demberls Winterquartier kennen. Es liegt, bestehend aus blockhausähnlich gelegten Naturstämmen, neben denen die Winterjurte aufgeschlagen wird, am Rande der Ebene auf halber Höhe windgeschützt in dem zu den Bergen aufsteigendem Gelände. Von hier aus schweift der Blick weit über die verästelten Arme des Orchon. Hierhin wird das Heu geschafft, das im Sommer in den Bergtälern gewonnen wird. Von seiner Menge und Qualität hängt das Überleben der Tiere im Winter ab.
Ganz allmählich treten die Konturen nomadischer Gemeinschaften aus der scheinbaren Unverbindlichkeit der ersten Tage hervor: Eine Jurte – das ist eine Familie. Wenn die Familie größer wird, können zwei oder drei Jurten einen Zusammenhang bilden. Oft, aber nicht immer tut sich eine solche Jurteneinheit mit ein oder zwei anderen zu einer Weidegemeinschaft zusammen. Selbstversorgung ist Grundlage des Lebens. Ihre Basis ist das private Eigentum an Tieren und einfachsten Produktionsmitteln. Milch- und Fleischprodukte werden geldlos zwischen der Jurteneinheiten getauscht, allein schon um deren Verderben zu verhindern. Bei grundlegenden Arbeiten, die eine Familie nicht allein leisten kann, geht man sich gegenseitig zur Hand. Die Beziehungen sind durch gemeinsame Suche nach dem besten Weideplatz im Sommer und Vorsorge für den Winter bestimmt. Generell repräsentiert die Sommer-Jurte nur eine Seite des nomadischen Lebens; die andere zeigt sich im festen Winterquartier, in dem die Jurte entweder selbst durch doppelten Filzbelag winterfest gemacht oder auch ein festes Holzhaus bezogen und die Jurte während der Zeit „eingefroren“ wird.
Soweit gekommen, verstehen wir auch, was es mit Tschoigin auf sich hat, der uns am ersten Tag in Karakorum im Empfang genommen und dann draußen in der Steppe abgeliefert hatte. Tschoigin ist nicht nur Werklehrer in einer der Schulen Karakorums. Er ist zugleich Erbauer von Jurten und Möbeln, die er mit Hilfe einer einfachen japanischen Säge und einer Allzweckwerkbank herstellt. Darüber hinaus taucht er als Mädchen für alles immer dann draußen auf, wenn es irgendetwas zu reparieren, zu organisieren oder zu kommunizieren gibt.
Tschoigin ist, wie wir auch bald herausfinden, der älteste Sohn Demberls. Dies ist er nicht nur dem Alter nach, sondern auch im Sinne der familiären Rangordnung: Nach Demberl ist er derjenige, der die Ansagen in der Familie macht. Ohne ihn läuft nichts. Mit ihm läuft alles. Über Tschoigin werden auch die Kinder dieser Jurtengemeinschaft versorgt, die in Karakorum zur Schule gehen. Höher als Tschoigin stehen nur noch die Aller-Ältesten, der Übervater und die Übermutter des Clans aus Ulaanbaator, Ganbold und Dorjpagma.
Ein Netz der gegenseitigen Hilfe zum gegenseitigen Nutzen auf Basis privater, familiengestützter Eigentumsverhältnisse wird erkennbar. Dabei ist unter Familie mehr zu verstehen als die nächste Blutsverwandtschaft. Zur Familie gehören noch die entferntesten Onkel, Tanten und Verwandten dritten, vierten fünften bis neunten Grades, einschließlich der als Verwandte angenommenen Mitglieder langfristiger Weidegemeinschaften und deren Kinder, die oft als die eigenen betrachtet werden. Dazu kommen noch besondere Freunde. Kurz, das existenzsichernde Netz der Verwandtschaften besteht aus einer familiengestützten, jedoch über bloße Blutsbande hinausgehenden, teils frei gewählten Solidargemeinschaft, zu der auch die in den festen Siedlungen, in Ulaanbaatar oder sogar im Ausland lebenden direkten oder entfernten Angehörigen und Freunde mit dazu gehören.
Als wir aus der Steppe bei Karakorum schließlich doch noch in die höheren Regionen des Orchon aufbrechen, um dort Verwandte aus Ganbolds Linie aufzusuchen, lernen wir dort eine im Vergleich zu Demberls Familie reiche nomadische Wirtschaft kennen, die sich vor allem auf die Produktion von Kaschmirwolle und umfangreichen Handel mit Pferden stützt. Der relative Reichtum ist unübersehbar, auch wenn er – den Hirten bewusst – mit der Überweidung der Steppe durch zu viele Ziegen erkauft und daher auf Dauer nicht sicher ist: Solarpanél, Fernsehschüssel, CD-Rekorder, Mähmaschine zur Gewinnung des Winterheues, LKW vor der Jurte. Aber gerade hier wird uns deutlich, dass die Solidargemeinschaft, die wir bei Demberl in ihrer ärmlichen Form kennen gelernt haben, unabhängig vom aktuellen Lebensstandard der jeweiligen Jurtengemeinschaften offenbar die typische Form des nomadischen Lebens darstellt. Das über alle anderen Einzelheiten hinaus bemerkenswerteste Element darin ist die Bewegung, in welcher Kinder, Verwandte und Bekannte im Jahreskreislauf um die Jurte rotieren: Im Sommer ist die Familie, ist die ganze familiengestützte Solidargemeinschaft zum Leben und zum Einsatz in der Jurte versammelt. So in den Jurten bei Karakorum, so in den Bergen.
Und nicht nur aus dem Sum, dem einfachen kleinen Verwaltungszentrum, nicht nur aus Karakorum oder aus Ulaanbaatar kommen die Kinder und Verwandten für drei Monate in die Steppe, wo sie sich voll und ganz in die Arbeit eingliedern, sondern selbst die im Ausland studierenden oder gar im Ausland lebenden Mitglieder des weiteren Familienzusammenhanges finden sich im Sommer in der Steppe ein. Im Herbst, im Winter und im Frühjahr, wenn Schule und Studium wieder eingesetzt haben, bleibt nur eine Kernfamilie aus Vätern, Müttern oder Großeltern in den Jurten (oder auch festen Winterquartieren), während die Kinder von ihren direkten Verwandten oder Mitgliedern des Verwandtschafts- und Freundesnetzes in den Sums, den kleineren Städten oder auch in Ulaanbaatar selber aufgenommen und während der Schul- und Studienzeit dort betreut werden.
Mit diesem Lebensrhythmus könnten die nomadischen Solidargemeinschaften den Anforderungen und Herausforderungen der Globalisierung möglicherweise wesentlich besser gewachsen sein, wenn es ihnen gelingt, ihren Lebensstandard auch ohne Überweidung der Steppen zuhalten, als die in feste Strukturen eingebundenen Mitglieder sesshafter industrieller Gesellschaften. Hierüber lohnt es nachzudenken.
Eine übergreifende Struktur öffnete sich schließlich am Ende unserer Reise, als uns – zurückgekehrt nach Ulaanbatar, Dorjpagma und Ganbold an den Stadtrand führten, wo eine mutige ältere Witwe im Umfeld der Vorstadt-Jurten einen künstlich bewässerten großen Garten angelegt hat, in dem sie Gurken, Tomaten, Kohl, Äpfel, Birnen, Sanddorn und vieles mehr biologisch rein erntet und in dessen Gelände sie zugleich Tiere hält, ein Holzhaus und eine Jurte stehen hat. Die Nachbarhöfe dagegen sind knochentrocken und staubig.
Die Anlage eines solchen Gartens ist, wie auch Mindés Beispiel schon gezeigt hat, für mongolische Verhältnisse, insbesondere natürlich für die slumähnliche Urbanisierung in der Jurten-Vororten Ulaanbaatars, eine äußerste Seltenheit, sehr schwer, fast revolutionär. Es ist der Versuch, nomadisches und sesshaftes Leben, Jurte und Stadt miteinander zu verbinden. Da nimmt es nicht Wunder, dass dieser Ort für die Gruppe „Kultur der Jurte“ zum Versammlungsort ihrer Initiative geworden ist. Ganbold und Dorjpagma haben einen angrenzenden Hof mit Holzhaus erworben, der an das Bewässserungssystem angeschlossen werden soll. Auf dem Hof steht ebenfalls eine Jurte. Darin lebt eine Familie mit behinderten Kindern, die nichts zahlt, dafür aber den Platzwart macht. Eine ökologisch orientierte, soziale und kulturelle Stadt-Jurten-Symbiose möchte man hier entwickeln.
So kehrten wir, ernüchtert zwar, doch eindeutig klüger geworden nach Hamburg zurück. Wir wissen jetzt, was unter Unterstützung von Jurtengemeinschaften verstanden werden kann, nämlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Entwicklung einer Kollektivfreundschaft, anders gesagt, eines Freundschaftsnetzes auf Basis gegenseitigen Nutzens, gegenseitiger Hilfe und gegenseitiger Achtung. Drehscheibe sind Solidargemeinschaften hier wie dort, die ein langfristiges Interesse daran haben, alternative – ökologisch und spirituell nachhaltige – Formen des Miteinander Lebens zu entwickeln.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Siehe dazu auch:
„Kai Ehlers, „Zukunft der Jurte. Kulturkampf in der Mongolei?“ Mankau Verlag, Murnau, 2006
Ausserdem: „Kultur der Jurte – Berichte 2006“
Kai Ehlers. Publizist,
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Tel./Fax: 040/64789791, Mobiltel: 0170/2732482
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Russland – Europa: Osterweiterung der unerwarteten Art
Bemerkenswerte Dinge spielen sich zwischen Russland und der EU ab, ohne dass die Öffentlichkeit beider Länder, ausgelastet mit verständlichen, aber vordergründigen Kritiken an Wladimir Putin und abgelenkt durch das Riesenprojekt der Ost-See-Pipeline es richtig realisiert: Mitte Oktober wurde von der russischen Regierung in aller Stille ein Gesetz zur Schaffung von Sonderwirtschaftszonen in Hafen.- und Flughafenbereichen Russlands beschlossen. Danach sollen für einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren sog. „Hafen-Zonen“ auf dem Gelände von Fracht- und Flughäfen des internationalen Verkehrs eingerichtet werden. Auf ihnen sollen dort angesiedelte Firmen von Einfuhrzöllen und Mehrwertsteuer für Baumaterialien, technische Ausrüstungen, sowie Anlagen für die Reparatur und die Ausrüstung von Schiffen befreit werden. Von Steuern befreit werden sollen ebenfalls Be- und Entladearbeiten, sowie die Lagerung von Waren, auch Mineralölsteuer muss nicht entrichtet werden. Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Ansiedelung wird den Investoren darüber hinaus eine Befreiung der Grund- und der Eigentumsteuer in Aussicht gestellt.
Das Gesetz war bereits seit Februar 2006 in der Diskussion, konnte aber wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen der „Föderalen Agentur für Sonderwirtschaftszonen“ und dem Finanzministerium, die beide an seinem Zustandekommen beteiligt waren, nicht verabschiedet werden. Jetzt einigte man sich auf einen Kompromiss. Danach werden die für die Sonderwirtschaftszone in Frage kommenden Unternehmen in zwei Gruppen unterteilt. Das sind zum einen solche, die sich am Aufbau der notwendigen Infrastruktur der „Hafen-Zonen“ beteiligen müssen und zum anderen Dienstsleister, die auf den so hergerichteten Geländen tätig werden wollen. Mindestens 100 Mio Euro müssen beim den Bau neuer Häfen, mindestens 50 Mio beim Bau neuer Flughäfen hingelegt werden, um in den Genus der Vergünstigungen zu kommen. Für die Aufbereitung der Infrastruktur bereits bestehender Häfen müssen 3 Mio Euro als Minimum faktisch eingesetzt werden. Für Unternehmen der Dienstleistung dagegen reicht es Bankgarantien in Höhe von 7.000 – 900.000 Euro nachzuweisen, um sich in den Sonderwirtschaftszonen ansiedeln zu können.
Russische Experten äußern sich befriedigt. Die Kosten für Neuanlagen seien problemlos aus dem laufenden Betrieb der bestehenden Häfen, bzw. Flughäfen aufzubringen. Das schließt selbstverständlich bestehende staatliche Zuwendungen und Vergünstigungen an die Hafen- und Flugbetriebe ein. Die ganze Aktion macht den harmlosen Anschein einer einfachen innerrussischen Modernisierung. Betrachtet man die Entwicklung der letzten sechs Jahre seit dem Amtsantritt Wladimir Putins genauer, dann wird allerdings deutlich, dass der aktuelle Beschluss nur einer der letzten Hammerschläge zu einem seit lange gezimmerten Gebäude einer schrittweisen Erweiterung der EU von ganz neuer Art ist, die über die Ost-Erweiterung in Tempo und Qualität weit hinausgeht und zu weiterer Kapitalflucht aus Europa und Senkung des Lebensniveaus, sprich Arbeitsplatzeinbußen, Lohn- und Sozialabbau führen wird.
Es begann mit der Einrichtung von Sonderwirtschaftsbedingungen in den Ländern des ehemaligen Comecon, die ihre Steuersätze nach ihrer Lostrennung von der Sowjetunion drastisch, auf 24 (Tschechien), 20 (Ungarn), 19 (Slowakei, Polen) reduzierten. Die baltischen Staaten boten noch bessere Bedingungen für Investoren. In Lettland wurden mehrere Sonderzonen eingerichtet, in denen Steuererleichterungen von über 80 Prozent angeboten werden. Estland hat Unternehmensgewinne vollkommen von Steuern befreit.
Russland zog erst sehr zögernd nach. 1996 wurde ein Ausnahmegesetz zur Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone für die Region Kaliningrad beschlossen. In den letzten Jahren der Jelzin-Ära und noch bis zur Ost-Erweiterung der EU wurden die in dem Gesetz gewährten Privilegien jedoch mit widersprüchlichen Nachbesserungen faktisch immer wieder außer Kraft gesetzt. Erst der Vollzug der Ost-Erweiterung, der die Kaliningrad zu Enklave der EU machte, veranlasste die russische Regierung zu einem Kurswechsel. In dessen Gefolge rückte die Enklave zum Muster für ein gesamtrussisches Entwicklungskonzept auf. Im Juli 2005 lag der Duma ein „Gesetz über die Sonderwirtschaftszone im Gebiet Kaliningrad und über die Änderungen in einigen Gesetzen der russischen Förderation“ vor, am 23. Dezember 2005 wurde es verabschiedet, wenige Tage später von Wladimir Putin gebilligt.
Noch nicht verabschiedet, hatte das Gesetzesvorhaben, wie es die deutsche „Bundesagentur für Außenwirtschaft“ (bfai) ausdrückte, bereits „einen wahren Boom von Ideen und Initiativen zahlreicher russischer Regionalverwaltungen und interessierter Investoren ausgelöst“. Anfang Oktober lagen der Regierung bereits 43 Anträge von Regionen für die Gründung solcher Zonen vor. Die erste Gründungswelle von Sonderzonen schwappte um Dezember 2005 / 2006 durch das Land. Nach der Versuchsphase vom Jahreswechsel 2005/2006 soll eine zweite Gründungswelle 2006/2007 folgen. Dabei wird die Zentralregierung einen beträchtlichen Anteil der Anfangsinvestitionen für die Errichtung der notwendigen Infrastruktur in den Zogen tragen. Im Haushalt 2005 waren dafür 8 Milliarden Rubel (235 Mio Euro) vorgesehen, 2 Milliarden Rubel sollten aus den beteiligten Regionen oder Kommunen kommen. Effektiv lief es dann auf eine Beteiligung von jeweils 8 Milliarden für die Zentralregierung sowie für die Regionen hinaus.
„Nach Berechnungen der Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Handel“, heißt es in einem bfai-Bericht von 2005 dazu, „können Unternehmen, die sich in einer Industriesonderzone ansiedeln, ihre Aufgaben für die Überwindung administrativer Hürden um 5 – 7% senken, und Unternehmen, die sich in einem Technologiepark ansiedeln, um 3 bis 5%. Des weiteren dürften die Ausgaben für Infrastruktur um 8 bis 12% und die Ausgaben für Produktionszwecke um 5 bis 7 % fallen.“ Dazu kommen Steuer- und Zollvergünstigungen und sonstige Voraussetzungen für Investoren in der Art, wie sie vor wenigen Wochen auch für die „Hafen-Zonen“ beschlossen wurden.
Beteiligt an dem Run auf die Einrichtung von Zonen der besonderen Bewirtschaftung waren zunächst russische Gemeinden, sehr bald aber auch ausländische Investoren, die sich über die Regionen und Kommunen in die Gründungsanträge für die Zonen mit einschalten. So plant die Stadt St. Petersburg zusammen mit finnischem Kapital der Firma „Technopolis“ eine „Technologie-Sonderwirtschaftszone“. Die Stadt Moskau hat gleich fünf Anträge gestellt. In allen Fällen sollen – zusätzlich zu den steuerlichen, den Zoll betreffenden und anderen Vergünstigungen die Entschließungs- und Infrastrukturkosten für die Einrichtung der Zonen von der „öffentlichen Hand“ getragen werden. Ein Eldorado für ausländisches Kapital!
Ende 2005 waren als Ergebnis der ersten Ausschreibung 2005/2006 sechs Sonderzonen vorgesehen. In Tatarstan werden im Gebiet Lipezk elektrotechnische Haushaltsgeräte und Möbel zusammen mit dem italienischen Unternehmen Idesit hergestellt. Vier „Technoparks“ werden in Zelonograd (Moskau) Dubna (Moskau), St. Petersburg und Tomsk gegründet. In Zelonograd ist die Firma Giesecke&Devrient beteiligt, in St. Petersburg handelt es sich, in der Formulierung des bfai, um ein „Projekt mit Beteiligung finnischer Developer“.
Man darf davon ausgehen, dass im Jahr 2006/2007 weitere Zonen zu den bisher sechs beschlossenen hinzukommen werden. Ganz in vorderster Front steht Nowosibirsk mit einem schon lange geplanten „Technopark“ direkt in seiner „Akadem-Gorod“, dem Universitären Forschungszentrum Sibiriens, aber auch der Oblast Kaluga mit der Stadt Obninsk, einem Zentrum der russischen Atomforschung steht in der Reihe, ebenso die Republik Sacha (Jakutien), in der eine „Industriezone für die Produktion von Brillianten und Juweliererzeugnissen“ Das kürzlich beschlossene Gesetz zur Einrichtung von „Hafen-Zonen“ wird die Einrichtung einer weiteren Reihe von Sonderzonen nach sich ziehen.
Befürworter preisen die Einrichtung von Sonderzonen als beste Form der Entwicklungshilfe, die Investoren ins Land ziehe, die Infrastruktur des Landes entwickle, Arbeitsplätze schaffe usw. usf. Gern wird dafür auf die Entwicklung der osteuropäischen Länder verwiesen, sich die jedes für sich als komplette Sonderwirtschaftszone betrachtet werden können, in einigen Fällen noch durch örtliche Super-Sonderkonditionen gesteigert. Ihr Aufstieg wird mit den „asiatischen Tigern“ verglichen. Tatsache ist, dass die Einnahme-Ausfälle, die diesen Ländern durch die steuerlichen Sondertarife und andere Vergünstigungen an die – zumeist ausländischen – Investoren entstehen, zu schweren Belastungen der Haushalte führen. Konsequenz ist eine harte Sparpolitik, die der Bevölkerung aufgelastet wird: niedrige Löhne, Streichung kommunaler und sozialer Leistungen. Die Löcher im Haushalt, die durch zu niedrige Steuereinnahmen entstehen, bergen zudem die Gefahr von Wirtschaftskrisen. Schon vor der Ost-Erweiterung der EU erreichte das Haushaltsdefizit Estlands fast 15 Prozent. Das ist fünfmal soviel wie 2001 in Argentinien, bevor dort die Finanzkrise ausbrach. In Ungarn kam der Forint unter Druck. Das Außenhandelsdefizit erreichte dort bereits 58 Prozent. In Lettland lag es bei 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Entgegen allen Verlautbarungen aus Brüssel, Berlin und anderen EU-Metropolen hat sich die beschriebene Entwicklung mit Eintritt der ost-europäischen Länder in die EU nicht verbessert, sondern im Tempo verschärft, was im Endeffekt bedeutet, dass sich die soziale Differenzierung in diesen Ländern verschärft. Mit der neuen Entwicklung in Russland tritt eine neue Komponente hinzu, die diesem Prozess noch einmal eine weitere Dynamik hinzufügt, denn durch die hohe Kapitaldecke, die Russland zur Zeit aus dem Export seiner fossilen Ressourcen bezieht, ist die russische Regierung in der Lage, die Einrichtung der Sonderzonen finanziell abzudecken, ohne dafür das Budget aushöhlen zu müssen. Im Gegenteil, die hohe Beteiligung an den Infrastrukturkosten gibt der Staatskasse die Möglichkeit, sich von überflüssigen Geldern durch Investition zu befreien und in ihren Sonderzonen Bedingungen anzubieten, bei denen die osteuropäischen Länder nicht mithalten können, ohne dabei die Knie zu gehen. Das ist eine Ost-Erweiterung der unerwarteten Art, die schwere Konflikte innerhalb der EU nach sich ziehen könnte. Was dabei mit Russland geschieht, ist eine zur Zeit nicht zu beantwortende Frage.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Eins der letzten Bücher des Autors trägt den Titel:
„Russland – Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung. Gespräche und Impressionen“, Pforte,/Entwürfe, 2005, 8,– €
Grundeinkommen – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft
Perspektiven für die Wiedergeburt des Sozialen unter dem Druck der Globalisierung:
Statt Arbeit für alle – in Zukunft Grundeinkommen für alle? So einfach wird es sicher nicht kommen. Aber die Einführung einer allgemeinen Existenzsicherung könnte ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine gerechte und menschlichere Gesellschaft werden. Allerdings kann es nicht bei einer staatlichen Garantie bleiben. Es bedarf auch neuer sozialer Strukturen, in denen sich Solidarität und Verantwortung entwickeln kann. Das Buch zeigt auf, wie Grundeinkommen, Solidargemeinschaften und individuelle Eigenarbeit sich zu einer Gesellschaft neuen Typs verbinden können, in der die zukunftsweisenden Impulse der Zeit bewusst aufgegriffen werden. Es fordert dazu auf, aus der Not eine Tugend zu machen, aus der Krise des Industrialismus den Mut des Aufbruchs in eine andere Art des Zusammenlebens zu finden. Es ist genug für alle da – wenn alle es miteinander nutzen.
Verlag Pforte/Entwürfe; 14,00 €
es ist in jeder Buchhandlung, beim Verlag oder beim Autor zu erwerben.
Verlagsadresse: www.pforteverlag.com
„Ökonomisch denken – solidarisch handeln? Regionales Wirtschaften durch Grundeinkommen.
Beitrag im Attac-Buch:
Hat die „Arbeitsgesellschaft“ noch eine Zukunft?
Ehrlich gesagt, die Hauptfrage des Buches, ob die „Arbeitsgesellschaft“ noch eine Zukunft habe, ebenso wie die konkrete Themenstellung des Aufsatzes, zu der ich eingeladen wurde und die Sie jetzt lesen, nämlich: „Ökonomisch denken – solidarisch handeln“ halte ich für keine besonders glückliche Formulierung. Jedenfalls fordert sie meinen Widerspruch heraus und ich kann es nicht unterlassen, mit einerkleinen Polemik zu dieser Fragestellung zu beginnen., auch wenn bei dem einen oder der anderen damit offene Türen einrennen sollte, insbesondere natürlich bei den Attac-Freunden, die mich zu diesem Beitrag eingeladen haben. Aber es gibt heute doch so viele Leute im Chor der Grundeinkommens-Befürworter, die allen Ernstes von einem Ende der Arbeit“ sprechen, dass es wohl einen Sinn macht, von dieser Irritation auszugehen und zunächst einmal Klarheit zu schaffen, wovon wir eigentlich sprechen.
Arbeiten muss der Mensch, so lang er lebt – und sei es nur, dass er sich den Tisch deckt, das Bett macht, die Wohnung in Ordnung hält und dergleichen. Eine Existenz wie der letzte Kaiser in China, der sich weder allein ernähren noch selber ankleiden konnte, ist persönlich kaum wünschenswert und gesellschaftlich ist klar, dass es niemals in der Geschichte der Menschheit eine Situation gegeben hat und auch in Zukunft keine geben wird, in der eine ganze Gesellschaft nicht arbeitet – selbst wenn die Bananen reif zum Verzehr auf den Bäumen wachsen. Dann müssen sie doch immer noch heruntergeholt werden.
Auch eine hoch-entwickelte, hoch-automatisierte Industrie-Gesellschaft muß doch wenigstens die Verteilung ihrer Güter organisieren, um die Versorgung ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Selbst die Auszahlung eines Grundeinkommens, wenn dies denn eines Tages als bedingungsloses und allgemeines verwirklicht wird, was ich hoffe und unterstütze, wird nicht ohne die Mühe der Steuereinnahme und der Auszahlung der Unterhaltsbeträge zu haben sein.
Nun könnte man, zugegeben, auch diesen Prozess noch rationalisieren, indem die steuerlichen Einnahmen wie die Auszahlungen des Grundeinkommens nur einmal im Jahr vorgenommen würden, die Organisation weitgehend computerisiert würde usw.; es biebe aber doch selbst in diesem Falle ein Minimum an physikalischer Organisation zu bewältigen, solange man es noch mit einer lebendigen Gesellschaft bestehend aus lebendigen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Wünschen etc. zu tun hat, von anderen Dingen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens wie der Beschaffung von Grundnahrungsmitteln, der Gewinnung und Veredlung von Naturressourcen, der Herstellung von Kleidung, der Gewährleistung von Heizung, Verkehr, der Produktion der banalsten Gegenstände des alltäglichen Lebens wie Teller, Tassen , Löffel usw., von Toiletten und allgemeiner Müllbereinigung ganz zu schweigen. Völlig außen vor bei dieser kurzen Aufzählung blieben dabei noch die pflegerischen Notwendigkeiten – vom Aufbringen der Kinder über die Ausbildung der Jugend und die Weiterbildung der Erwachsenen bis hin zur Pflege der Kranken, Alten und Sterbenden. Also, kurz und banal: Ohne Arbeit wird es auch in Zukunft nicht abgehen.
Zum Zweiten: „Öknomisch denken – solidarisch handeln?“ Nein! Mit der gleichen Logik könnte man sagen: „Solidarisch denken – ökonomisch handeln.“ Das klänge schon besser, wäre aber im Kern ebenso wenig akzeptabel. Im ersten Fall wäre zu klären, was denn „ökonomisch denken“ bedeuten soll. Von welcher Ökonomie ist die Rede? Ist damit die herrschende Logik der Profitmaximierung gemeint? Wenn ja, dann muss jede Aufforderung „ökonomisch (zu) denken“ und „solidarisch (zu) handeln“ ein frommer Wunsch bleiben, der offen lässt, ob dem „ökonomischen Denken“ entsprechend, in Kritik daran oder gar in Konfrontation dazu gehandelt werden soll. Wie auch immer, läuft die Formulierung auf eine Irreführung hinaus.
Mit der Umkehrung könnte schon eher ein Schuh daraus werden, also „Solidarisch denken – ökonomisch handeln“ – vorausgesetzt allerdings, das solidarische Denken wirkte sich auf die Art und Weise des „ökonomischen Handelns“ aus. Das hieße aber nichts anderes, als Ökonomie und ökonomisches Handeln unter dem Gesichtspunkt der Solidarität neu zu denken. Zu reden wäre dann über eine andere, eben eine solidarische Ökonomie. Aber was ist eine solidarische Ökonomie?
Mit dieser Umstellung der Prioritäten könnten wir schon mitten im Thema sein, wenn da nicht noch eine weitere Anmerkung notwendig wäre, denn auch die Formulierung „Regionales Wirtschaften durch Grundeinkommen“ muss in guter marxistischer Tradition erst vom Kopf auf die Füße gestellt werden, bevor wir weiter fortfahren können. Die jetzige Formulierung legt nämlich nahe, dass regionales Wirtschaften durch ein Grundeinkommen ermöglicht werde. Nun würde ein Grundeinkommen, das bedingunglos an jedes Mitglied einer Gesellschaft ausgegeben würde, zweifellos jedes Wirtschaften erleichtern, aber ein Grundeinkommen ist ebenso wenig V o r a u s s e t z u n g für eine Änderung regionalen Wirtschaftens, wie „ökonomisches Denken“ ohne Veränderung der herrschenden ökonomischen und sozialen Denk-Gewohnheiten, Vorurteile und Tabus Voraussetzung des „solidarischen Handelns“ sein kann. Eher schon ist regionales Wirtschaften eine Voraussetzung, wenn auch nicht die einzige, für die Entwicklung einer Gesellschaft, die ein Grundeinkommen einführen möchte
Das klingt jetzt weniger plausibel als die vorhergehenden Richtigstellungen in der Priorität von Ökonomie und Solidarität. Es trifft aber im Wesen das gleiche Problem: Grundeinkommen im großen Stil, damit will ich sagen, nicht nur innerhalb einer Familie oder einer überschaubaren Solidargemeinschaft, die ihre Mitglieder ohne Ansehen von deren jeweiliger Tätigkeit Verfassung grundversorgt, sondern bedingungslos und allgemein für jedes Mitglied der Gesellschaft ohne Ansehen ihrer Tätigkeit, körperlichen oder geistigen Verfassung, Rasse, Geschlecht oder Religion, wird nur dann überhaupt möglich sein, wenn es ein regionales, man könnte schon fast sagen, überhaupt wieder ein überschaubares Wirtschaften gibt. Das heißt ja nichts anderes, als dass eine andere Art des Wirtschaftens entwickelt wird, welche die zur Zeit herrschende Form des Wirtschaftens ablöst, zumindest tendenziell zurückdrängt.
Jetzt sind wir endlich da angekommen, wo es um die grundsätzlichen Fragen geht, die mit der Frage der Einführung eines Grundeinkommens verbunden sind, nämlich nicht o b, sondern w i e wir zukünftig arbeiten und w i e wir wirtschaften wollen und können, wenn es unter den zur Zeit herrschenden Verhältnissen nicht mehr möglich ist und wir es auch nicht mehr wollen.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse – das ist eine privatwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft, deren oberstes Ziel nicht die Bedürfnisbefriedigung, sondern die Profitmaximierung und Selbstverwertung des Kapitals ist, eine Wirtschaft in der Menschen auf die „Ware Arbeitskraft“ zum einen und „Kaufkraft“ für die produzierten Waren zum anderen reduziert werden.
Die zur Zeit herrschenden Verhältnisse – das ist weiterhin die Rationalisierung, Konzentration und global orientierte mobile Standortpolitik des Kapitals, welche die Schere zwischen unmittelbarem Produzenten und Konsumenten immer weiter auseinander treibt, die Menschen einerseits vom Produkt der eigenen Arbeit in rasant zunehmendem Maße entfremdet, bzw. sie als Arbeitslose ganz von der Arbeit trennt und damit den Regionen und darin lebenden Menschen die Lebensgrundlage entzieht, so daß sie nur noch als Konsumenten übrigbleiben, andererseits diese Rolle aber ebenfalls nicht mehr wahrnehmen können, da ihnen mit der Entlassung aus Lohnarbeit die Grundlage zum Kauf der Waren fehlt.
In dieser Situation ist aus Sicht des Kapitals die Einführung eines Grundeinkommens die einzige logische Konsequenz, um die Schere zwischen Produktion und Konsum nicht vollkommen aus dem Gelenk schnappen zu lassen: Nur wenn die hiesige Bevölkerung mit Geld versorgt wird, kann sie die Produkte kaufen, die andernorts produziert werden. Dies ist die Argumentation, wie sie von dem Drogerieketten-Besitzer Götz Werner vorgebracht wird.
Ich behaupte, er kann das nur, weil – und solange – eine solche Entwicklung objektiv im Interesse des Kapitals liegt. Es würde aber aus einer Einführung eines Grundeinkommens mit diesem Begründungszusammenhang k e i n e s f a l l s automatisch eine irgendwie geartete Belebung der regionalen Wirtschaft folgen – im Gegenteil. Der Spagat zwischen ausgelagerter globaler Produktion und lokalem Konsum wird zementiert und verschärft! Das heißt, die herrschende wirtschaftliche Grundorganisation, Selbstverwertung des Kapitals durch zunehmende, bessere Ausbeutung der „Ware Arbeitskraft“ einerseits und bessere Motivierung, um nicht zu sagen Nutzung des Menschen als „Kaufkraft“ auf der anderen Seite wird weiterhin ihrer Klimax entgegengetrieben.
Die Einführung eines Grundeinkommens, so betrachtet, wäre erst einmal nichts Weiteres als eine Notbremse, mit der einsichtige Vertreter des Kapitals das Auseinanderfallen von zunehmend produktiver Produktion einerseits und überblähter Konsumption andererseits, anders gesagt, zunehmender Arbeitslosigkeit und daraus folgender Verelendung einer wachsenden Zahl von Menschen auf der einen Seite und ebenso zunehmender Überschwemmung der globalen Märkte mit Produkten, die immer weniger Menschen sich leisten können, sie weil aus dem Lohnarbeitskreislaf herausfallen, auf der anderen Seite auffangen kann. Hierhin gehört die Argumentation Götz Werners, der unmissverständlich erklärt, dass „die Wirtschaft“ einen mit Grundeinkommen ausgestatteten Konsumenten braucht, wenn sie nicht zusammenbrechen soll. Mit dieser Argumentation ist er zweifellos k e i n Revolutionär, schon gar nicht einer sozialistischen Herkommens. Entsprechend grenzt er sich auch klar von allen Versuchen ab, ihn mit Marx, Engels oder sozialistischen Experimenten in Verbindung zu bringen. Mit Sicherheit aber ist er zur Zeit der radikalste Denker seiner Klasse, der ungeschminkt auf den P u n k t bringt, was die herrschenden Wirtschaft braucht, um nicht abzustürzen, sondern sich weiterentwickeln zu können.
Interessantester Ausdruck dieser Position ist Götz Werners Argumentation, „wir“ hätten uns von früheren Formen der Selbstversorgung zu einer Gesellschaft der Fremdversorgung entwickelt und es müsse nun alles dafür getan werden, einen Rückfall in die Selbstversorgung, die er als rückständig charakterisiert, zu verhindern. Diese Beweisführung scheint unmittelbar einleuchtend, weil niemand hinter die Moderne zurückfallen möchte. Tatsächlich liegt aber genau hier der Knackpunkt, an dem die reale Entwicklung über das hinausgehen wird, was Götz Werner oder auch andere gut meinende und subjektiv durchaus ehrliche Befürworter des Grundeinkommens, die ähnlich argumentieren, mit der Einführung eines Grundeinkommens verbinden.
Selbstverständlich müssen und wollen wir n i c h t z u r ü c k k e h r e n zu überlebten Formen der vorindustriellen Selbstversorgung. Sehr wohl aber müssen und wollen wir v o r a n s c h r e i t e n zu neuen Formen der Wiederaneignung von Möglichkeiten und Fähigkeiten einer eigenproduktiven Selbstversorgung auf dem Niveau der technischen Entwicklung von heute, die es erlaubt, sich auf dem Niveau von heute wieder durch Einsatz eigener Arbeit mit den notwendigen Produkten des alltäglichen Lebens, des einfachen, ggflls. auch gehobenen technischen Bedarfs zu versorgen – wenn man das muß, weil man nicht mehr anders an die Waren herankommt oder auch wenn man es aus eigener Entscheidung heraus möchte.
Schon heute praktizieren Menschen auf diese Weise eine a n d e r e, neue Stufe der Ökonomie. Das geschieht lange b e v o r ein allgemeines Grundeinkommen überhaupt im öffentlichen Gespräch war. Es geschieht auf der Basis der heute bestehenden sozialen Netze, die ja eine rudimentäre Form des Grundeinkommens sind.
Meine Vorstellung zu dieser Entwicklung, genauer meine Wahrnehmung dazu ist, dass unsere 100jährige Arbeits- und Lebensorganisation in einem prinzipiellen Wandel begriffen ist, in dessen Zuge sich die heute übliche Lohnarbeit auf bestimmte eingegrenzte Bereiche der Produktion und gesellschaftlicher Tätigkeit konzentriert und noch weiter konzentrieren wird, während viele andere Arbeiten, die bisher noch als Lohnarbeit organisiert waren, in die unterschiedlichsten Formen eigenproduktiver Selbstversorgung übergehen, z. T. auch radikal abgedrängt werden. Das geht vom individuellen Subunternehmer über den softwaregestützten geistigen oder auch handwerklichen Homeworker bis hin zu sich selbst versorgenden Produktions- oder Solidargemeinschaften, die sich selbst erhalten müssen und wollen. In diesem Prozess, in vielen Fällen zunächst von der Not diktiert, deutet sich eine neue Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung an. Sie enthält drei Elemente:
– hochkonzentrierte, roboterisierte Industrieproduktion, Verwaltungs- und Organisationsarbeit mit schrumpfendem Anteil von Lohnarbeit,
– gemeinschaftliche eigenproduktive Selbstversorgung im lokalen und regionalen Rahmen
– Eigentätigkeit, die über Tätigkeiten in diesen beiden Bereichen hinaus wahrgenommen werden kann.
Ich bin weit entfernt davon diese Entwicklung zu romantisieren. Die reale Entwicklung führt durch die Verelendung all derer, die von dem schrumpfenden Lohnarbeitssystem ausgestoßen oder auf der Seite derer, die noch Arbeit haben, noch brutaler ausgebeutet werden. Dennoch liegt hier – ich bin versucht zu sagen – der historische Ansatz für eine neue Organisation der Arbeitsteilung und er ist untrennbar verbunden mit einer Transformation unserer allgemeinen gesellschaftlichen Organisation. Es ist ein Prozess, der die allgemeine Industrieproduktion, eine eigenproduktive gemeinschaftliche Selbstversorgung auf dem technischen Stand von heute im lokalen und regionalen Maßstab und freibestimmte eigene Tätigkeit auf neue Weise miteinander verbindet.
Wer jetzt Utopie ruft, mag sich nur umsehen: Ansätze, die in diese Richtung weisen, sind allerorten zu sehen, wo die Automation und Konzentration des Kapitals massenweise Arbeitslose schafft, die keine andere Chance haben, als sich selbst zu versorgen, wenn sie nicht von unsicheren Staatszuweisungen abhängig sein oder – im schlimmeren Fall – verelenden und verkommen wollen.
Diese Entwicklung ist, wie gesagt, auch ohne Grundeinkommen möglich, genauer, sie hat auch ohne Grundeinkommen bereits begonnen. Mehr noch: In einer Gesellschaft, die kein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen kennt oder seine Einführung verweigert, ist die Entwicklung von Formen der eigenproduktiven Selbsthilfe der vor Abhängigkeiten, autoritärer Sozialkontrolle und letztlich Hungerkatastrophen oder allgemeinem Blutvergießen schützt. Mit Einführung eines Grundeinkommens ist die Chance für die Entwicklung solcher solidarischer Formen der Ökonomie selbstverständlich größer. Damit sind die Relationen benannt.
Anders gesagt: Niemand muß auf die Einführung eines allgemeinen flächendeckenden Grundeinkommens warten. Er oder sie kann jetzt, hier und sofort, im eigenen Umkreis beginnen, Grundsätze einer solidarischen Ökonomie selbst zu praktizieren, indem er oder sie das Prinzip des Grundeinkommens im kleinen Rahmen der eigenen Solidargemeinschaft, einer Gemeinde, Kommune, Region vorwegnimmt – und somit zugleich die Bedingungen für die allgemeine Einführung eines Grundeinkommens erprobt und verbessert. Ich nenne diesen Prozess die Entwicklung einer integrierten Gesellschaft, in welcher Lohnarbeit, eigenproduktive gemeinschaftliche Selbstversorgung und freie selbstbestimmte Eigenarbeit der einzelnen Menschen eine dynamische Verbindung miteinander eingehen. Letztlich wird hier auch eine allgemeine Entwicklungslinie deutlich, die geeignet sein kann, die Selbstverwertungsspirale des Kapitals zu durchbrechen, indem Produkte hergestellt werden, die in den lokalen und regionalen Versorgungsgemeinschaften für die Entwicklung einer eigenproduktiven Selbstversorgung gebraucht werden.
Voraussetzung solidarischen Handelns, heißt das alles, ist ein ökonomisches Denken, in dem die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens nicht als Befreiung von der Arbeit, sondern als U n t e r s t ü t z u n g zur Wiedergewinnung der Möglichkeit und Fähigkeit kreativer selbstbestimmter eigener
Arbeit in selbst gewählten Gemeinschaften begriffen wird, wo Arbeit und Konsum nicht mehr den Selbstverwertungsinteressen des Kapitals untergeodnet, sondern dem B e d a r f orientiert sind.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Mehr zu dem Thema:
Kai Ehlers: „Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft“, Pforte, September 2006
Zukunft der Jurte – Kulturkampf in der Mongolei?
Gespräche in Ulaanbaatar mit Prof. Dr. Dorjpagma Sharav und Dr. Ganbold Dagvadorj
Mit einem Anhang zur Fünf-Tier-Kultur von
Prof. Dr. Nalgariin Erdenetzogt und Zeichnungen zur Geschichte der Jurte.
Weltmacht Europa Auf dem Weg in weltweite Kriege
Weltmacht Europa
Auf dem Weg in weltweite Kriege
Herausgeber: Tobias Pflüger/Jürgen Wagner
VSA-Verlag, Hamburg, 2006
Adresse des Verlages:
www.vsa-verlag.de
Darin der Aufsatz:
Reicht Europa bis nach Kasachstan?
Neue Kriege in Sicht
Neue Kriege in Sicht,
Menschenrechte, Konfliktherde, Imperien. Hrsg. Ralph-M. Luedtke/Peter Strutynski, Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Bd. 13, Jenior Verlag, Kassel 2006.
Darin: „Der Fall CVhodorkjowski oder: Russlands Rolle im aktualisierten ‚Great Game’“.
Bilder zur Geschichte der Jurte
Die heutige Form der Jurte ist das Ergebnis einer mehrtausendjährigen Entwicklungsgeschichte. Die Bilder auf dieser Seite zeigen die verschiedenen Stationen...
Jurtenbilder
„Die Jurte besteht aus Holz und Filz, ist rund und weich, ist offensichtlich dem Vogelnest abgeschaut worden. Sie ist mein Nest: Ich bin darin geboren und aufgewachsen. Und als alternder Mensch bin ich zu ihr zurückgekehrt, weil ich mich darin wohler fühle als in einer vierecken Wohnung aus Glas und Beton.“ Dies schrieb Galsan Tschinag im Vorwort zu meinem Buch „Die Zukunft der Jurte„.
Wie rund eine Jurte ist und wiraus sie besteht, das ist in den Bildergalerien zu sehen, die Sie auf hier hier anschauen können.
Umsetzen einer Jurte – genauer Ablauf
Nachbarschaftliches Unverständnis bescherte uns diesen Blick in das Aufstellen einer Jurte. Geignet zum Kennenlernen und als Anleitung zum eigenen Aufbau...
Kapitalismen
Sammelheft zu Varianten des Kapitalismus heute
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 1+2 / 2006
Dietz Nachfolger Verlag, Bonn
Adresse: www.dietz-verlag.de
Darin von mir:
- Russland – ein Entwicklungsland neuen Typs? Eine Abhandlung über die Entwicklung der nachsowjetischen Wirtschaftsstrukturen in Russland
Europa minus Ukraine?
Die Formel „Russland minus Ukraine“, nach welcher der russische Konzern Gasprom seinen Lieferstop gegenüber der Ukraine betreibt, klingt nach Eskalation: Gasprom beschuldigt die Ukraine, trotz Lieferstop illegal Gas zu entnehmen, die Ukraine bestreitet das. Die westlichen Nachbarn der Ukraine dagegen melden verringerte Gasvolumen. Entsprechend hätte man scharfe Reaktionen seitens der EU erwartet, ähnlich wie seinerzeit zum Fall Chodorkowski; die blieben jedoch aus. Selbst die USA warnten nur vage, es bestehe die Gefahr, dass Energierohstoffe zum politischen Druckmittel würden.
Für die Zurückhaltung besteht guter Grund, wenn die Konflikte nicht aus dem Ruder laufen sollen: Auseinandersetzungen um russische Gaslieferungen an die Ukraine sind nicht neu. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte und in der Hoffnung auf eine Wiederannäherung im Rahmen einer „eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ bestehend aus Kasachstan, Russland, Weißrussland und der Ukraine, lieferte Russland der Ukraine dennoch seit nunmehr fast 15 Jahren Gas zu Sonderkonditionen ohne Gegenleistung. Seit der erklärten Abwendung der Ukraine von der Perspektive einer Union mit Russland, seiner demonstrativen Hinwendung zur EU und zur NATO in und nach der sog. „Orangenen Revolution“ vor einem Jahr ist die Basis für eine Vorzugsbehandlung der Ukraine, die Russland jedes Jahr drei Milliarden Euro kostete, jedoch nicht mehr gegeben. Weißrussland, das die Union mit Russland weiter anstrebt, behält seinen subventionierten Preis.
In der Ukraine stehen zudem neue Wahlen ins Haus. In ihnen sind Aktualisierungen der Auseinandersetzungen um die politische Orientierung des Landes zu erwarten, die zum Sieg der „Orangenen Revolution“ geführt haben. Die Ukraine ist weit davon entfernt, sich demokratisch stabilisiert zu haben: Die Popularitätswerte Juschtschenkos sinken gegen 30%, das Anti-KorruptionsBündnis Jutschtschenko/Timoschenko ist an Korruptionsaffären der neuen Regierung geplatzt. Die Anbindung der Ukraine an die EU ist ein Traum geblieben; bis heute ist die Ukraine für die EU nicht mehr als ein Transitland, über das 80% des aus Russland bezogenen Gases nach Europa kommen. Mit der Ostsee-Pipeline versucht man sich seitens der EU aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Dessen ungeachtet stehen die in- und ausländischen Akteure bereit, die seinerzeit zur Radikalisierung der „Orangenen Revolution“ beitrugen, ihre Interventionen für eine „demokratische“ Ukraine zu wiederholen.
Schließlich sind die Umgruppierungen auf dem russisch-eurasischen Öl- und Gasmarkt, die sich aus dem Verlauf der YUKOS-Chodorkowski Affäre ergeben, keineswegs abgeschlossen, sondern treiben neuen Konflikten zu. Der amerikanische Versuch sich über Yukos-Beteiligungen Zugriff auf die Öl- und Gasressourcen Russlands zu verschaffen, wurde von Russland mit der Zerschlagung von Yukos vorerst abgeschmettert. Gewinner dieser Runde ist der Konzern Gasprom, der seither auf dem Gas- und auf dem Ölmarkt expandiert. Noch wenige Tage vor dem Lieferstop schloß Gasprom mit Turkmenistan einen Vertrag, der eine Erhöhung der turkmenischen Gaslieferungen von bisher sieben auf dreißig Milliarden Kubikmeter vorsieht – nur einen Tag bevor die Ukraine ihrerseits einen Vertrag mit Turkmenistan über die Lieferung von 40 Milliarden Kubikmetern bekannt gab. Gasprom praktiziert jetzt, was russischen Managern von IWF, Weltbank, WTO usw. seit Jahren als zivilisierter Weg gepredigt wird: knallharte Marktwirtschaft, Einflussnahme über wirtschaftlichen Druck statt Subventionen, Diversifizierung des Energiehandels. Das wirft noch ein weiteres Licht auf die geplante Ostsee-Pipeline: Mit ihr will auch Gasprom sich unabhängig von den Transitländern Polen und Ukraine machen. Bleibt schließlich noch daran zu erinnern, dass Russland nach Abschluß des Yukos-Prozesses Ende letzten Jahres erklärte, seine Devisenreserven zukünftig nicht mehr allein in Dollar, sondern zu gleichen Teilen in Euro anlegen zu wollen. Dies alles mag die vorsichtigen Töne im aktuellen Konflikt erklären. Hinter den Kulissen jedoch rumort es heftig.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de