Autor: Kai

„In Russland wird am schärfsten sichtbar, dass es keine fertige Antwort auf den Zusammenbruch der Utopie vom besseren Leben gibt“

Hans Wagner (Eurasisches Magazin) im Gespräch mit Kai Ehlers

In der Entwicklung seiner Wirtschaft hat Russland einst einen weitgehend anderen Weg genommen als Westeuropa. Wer reich wurde, sah sich dem Verdacht ausgesetzt, sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichert zu haben. Darauf konnte schließlich der reale Sozialismus aufbauen. Heute entsteht in Russland etwas, das über den realen Sozialismus wie auch über den gegenwärtigen Kapitalismus westlicher Prägung hinausweist. Das sind einige der Thesen des Transformationsforschers Kai Ehlers im Gespräch mit dem Eurasischen Magazin.

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Russischer Kapitalismus – oder Entwicklungsland neuen Typs?

Experten aller Richtungen sind uneins, ob das, was in Russland aus der Auflösung der sowjetischen Verhältnisse entstanden ist, Kapitalismus zu nennen sei oder nicht; einig ist man sich am Ende jedoch in einem: Was da in Russland heute entsteht, ist irgendwie anders, irgendwie russisch und irgendwie nicht prognostizierbar. Optimisten sahen Russland unter Putin auf gutem Wege zur Marktwirtschaft, wenn auch zunächst unter autoritären Vorzeichen und erwarten von Medwedew die Fortsetzung dieses Kurses, nur in leicht liberalerer Variante. Skeptiker stoßen sich an dem nach wie vor herrschenden Chaos, in dem die rechte Hand nicht wisse, was die linke tue. Pessimisten erwarten angesichts der globalen Krise wachsende soziale Spannungen, die einer Explosion zutreiben könnten. Für Russlands Gegenspieler, wie den unversöhnlichen Russlandhasser Zbigniew Brzezinski befindet sich Putins Land auf dem Weg in einen faschistischen Öl-Staat.

Unterschiedlicher können Einschätzungen kaum sein und hier liegt schon eine erste Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage. Sie lautet: Die russische Entwicklung von heute entzieht sich den Kategorien der klassischen Polit-Ökonomie, wenn man darunter das fasst, was sich seit Karl Marx in Zustimmung oder auch in Ablehnung zu ihm an polit-ökonomischen und soziologischen Sichtweisen zur Klassifizierung ökonomischer Modelle im Westen entwickelt hat.

Es beginnt schon bei der Definition des Ausgangspunktes: War die Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft? Hatte sie den Kapitalismus überwunden? Hat Perestroika eine „Rolle rückwärts zum Kapitalismus“ eingeschlagen oder umgekehrt eine Rolle vorwärts? Ist das, was sich seit Einleitung der Perestroika in Russland abspielte, eine nachgeholte ursprüngliche Akkumulation, wie viele noch heute meinen, durch die Russland nunmehr im Kreise der entwickelten kapitalistischen Industriestaaten ankommt?

Fragen  über Fragen, eine schwerer als die andere zu beantworten: Werfen wir einen Blick zurück auf die innersowjetischen Diskussionen der Jahre 1970 und folgende, dann treffen wir an vorderster Stelle auf die Analyse der Nowosibirsker Schule, damals geleitet von Frau Tatjana Saslawskaja: Sie bezeichnet die Sowjetunion der 70er und 80er Jahre als einen „Hybrid“, nicht sozialistisch, aber auch nicht kapitalistisch, wenn man unter kapitalistisch eine Gesellschaft versteht, die auf der Selbstverwertungsdynamik  des Kapitals aufgebaut und von ihr vollkommen durchdrungen ist und unter sozialistisch eine Gesellschaft, die diese Dynamik aufgehoben und durch gesellschaftliche Kontrolle und gemeinschaftliche Produktion ersetzt hat.

Frau Saslawskaja kam damals zu dem Schluss, dass keine der beiden Beschreibungen auf die Sowjetunion vor Perestroika zuträfe; andererseits verwarf sie aber auch deren Charakterisierung als „Kommandowirtschaft“. Sie wählte stattdessen die Bezeichnung „Verhandlungswirtschaft“, das heißt, eine Gesellschaft, in der nicht nur Kapital, sondern auch Beziehungen des gegenseitigen Nutzens akkumuliert und der Verwertung zugeführt werden. Einfach gesagt: Geld und ein über Geld regulierter Markt war nicht das allein bestimmende Äquivalent des gesellschaftlichen Austausches und der offene Markt nicht die einzige Ebene, auf der der Saustausch vor sich ging. Die Phänomene dieser Beziehungswirtschaft sind Selbstversorgung, Tausch, Privilegienhandel nicht statt, aber in Ergänzung zur Geldwirtschaft, wenn nicht gar Geldwirtschaft in Ergänzung zur Gunstwirtschaft, in der nicht der sachliche, sondern der moralische Wert das Äquivalent ist. Anders gesagt: Du hast mir einen Gefallen getan, ich tue Dir einen; das vergleich sich nicht vorrangig in Geld- oder Sachwert, sondern in der Tatsache der gegenseitigen Hilfe.

Mit dem Stichwort der Akkumulation sind wir bei dem nächsten Problemkreis: Selbstverständlich handelte es sich bei der durch die Privatisierung eingeleiteten Entwicklung in den 90ern nicht um eine ursprüngliche Akkumulation, sondern um das genaue Gegenteil, die Umverteilung bereits akkumulierten Kapitals, bzw. Volksvermögens in allen gesellschaftlichen Bereichen einschließlich der Zugriffe auf die Ressourcen. Das galt zunächst für die wilde Privatisierung in den achtziger Jahren, nach 1991 dann für die von Boris Jelzin eingeleitete Schocktherapie und die gesetzliche Privatisierung.

Karl Marx, um daran zu erinnern, verstand unter ursprünglicher Akkumulation die Ansammlung von Geld vor dessen Verwandlung in Kapital. Bestandteile der ursprünglichen Akkumulation sind nach Marx das Bauernlegen, die Sprengung der Zünfte, die Überwindung des Feudalismus, sowie ein „wertschaffender  Kolonialismus“ und schließlich noch der  „stückweise Verkauf“ des so geschaffenen Staatswesens in der Form der Staatsanleihe bei privaten Geldgebern, durch welche dem Volk das Ergebnis der eigenen Ausbeutung verkauft und die Ausbeutung so noch einmal verdoppelt werde.[1]

All dies konnte man in Ansätzen, variiert durch Besonderheiten der zaristischen Verhältnisse, vom Ende des 19. zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland beobachten, bis die Gewalt der einsetzenden Akkumulation den Zarismus wegspülte. Die bolschewistische Revolution überführte die einsetzende kapitalistische Akkumulation jedoch in den planmäßigen, zumindest geplanten „Aufbau des Sozialismus“; Stalin steigerte die Akkumulation des staatlich kontrollierten Kapitals mit militärischer Gewalt.

Nichts dergleichen geschah im nach-sowjetischen Russland: Schon in den sechziger und siebziger Jahren lebte die Sowjetunion vom Speck; mit Perestroika ging man zu dessen Verteilung über. Von Akkumulation, gar von ursprünglicher konnte keine Rede sein: Weder wurde die Bauernschaft weiter in den Verwertungsprozess des Kapitals gezogen, noch das kleine Handwerk: Die Bauern und sogar die große Masse der Städter wurden Anfang der 909er im Gegenteil wieder in vorindustrielle Produktions- und Versorgungsweisen getrieben. Handwerksbetriebe, Zünfte, die zu sprengen gewesen wären, gab es nicht, nicht einmal einen auch nur ansatzweise entwickelten handwerklich oder an Dienstleistungen orientierten Mittelstand, stattdessen wurde vergeblich versucht, einen Mittelstand künstlich zu schaffen. Dieser Versuch ist bis heute nicht gelungen. Hieraus erklärt sich u.a. das Programm des gegenwärtigen russischen Präsidenten Medwedew, mehr Initiative für mittleres Kapital durch Eindämmung der Bürokratie schaffen zu wollen.

Von einer Überwindung des Feudalismus war ebenfalls nicht zu reden, im Gegenteil zerlegte der Prozess der Privatisierung die bereits zentralisierten Kapitalien in feudale Teilstücke unter der privaten Verfügungsgewalt der später so genannten Oligarchen, die sich den künstlich geschaffenen Mittelstand zudem noch als von ihnen abhängige persönliche Zuarbeiter unterwarfen. Auch von einem „wertschaffenden Kolonialismus“ kann nicht die Rede sein; im Gegenteil löste Boris Jelzin den kolonialen Verband der UdSSR auf und entließ auch die russischen Republiken noch in die Eigenständigkeit.

Noch weniger gab es einen „stückweisen Verkauf“ des akkumulierten Kapitals in Form von Staatsanleihen; stattdessen wurde das akkumulierte Staats- und Gemeineigentum zu Dumpingpreisen verschleudert. Das betrifft sowohl das allgemeine Staatseigentum an Ressourcen und Produktionsmitteln wie auch kommunales oder agrarisches Gemeineigentum in den Regionen oder vor Ort, das über Beziehungen an Privatpersonen überging. Was Russland auf diese Weise erlebte, war keine ursprüngliche Akkumulation von Kapital, sondern die Umverteilung des bereits akkumulierten gesellschaftlichen Vermögens. Akkumuliert wurde, wenn man denn schon von Akkumulation reden möchte, nicht Kapital, sondern Verfügungsgewalt, Macht. Innerhalb dieser Verhältnisse spielen persönliche und politische Beziehungen eine größere Rolle als die Mechanismen der Selbstverwertung des Kapitals. Dem entsprechen auch die Methoden, mit denen Wladimir Putin dem weiteren Abbau des gesellschaftlichen Reichtums entgegenarbeitete. Das war nun mit Sicherheit nicht mehr eine ursprüngliche, sondern, wenn überhaupt, dann eine restaurative Akkumulation, die darauf gerichtet war und immer noch ist, verlorenes Kapital wieder einzusammeln – aber dies eben auch nicht mit marktwirtschaftlichen Methoden, sondern durch politische Macht. Der Aufstieg und Fall Michail Chodorkowskis sind das anschaulichste Beispiel für diese russische Realität: Nicht wirtschaftliche Macht, sondern das Geflecht gesellschaftlicher und politischer Beziehungen entschied über das Schicksal des Ölkönigs von Yukos.

Damit sind wir zur Beschreibung der heutigen Situation vorgedrungen: Weder vorwärts noch rückwärts zum Kapitalismus ist Russland gerollt; Perestroika hat den sowjetischen Hybriden weder zum Sozialismus veredelt, wie Michail Gorbatschow und die mit ihm anfangs zusammen arbeitende Tatjana Saslawskaja das bei Einleitung der Reformen hofften, noch ihn zu einer „funktionierenden Marktwirtschaft“ werden lassen. Vielmehr entstanden neue Varianten des von ihr beschriebenen Hybrids unter neuen Bedingungen, in denen Privat- und Staatswirtschaft eine noch ungeklärte Symbiose miteinander eingingen. Viele Analytiker sprachen deswegen von einer „Drittweltisierung“ Russlands, ein schreckliches Wort, das einen noch schrecklicheren  Zustand des Landes beschrieb. Russland sei auf das Niveau eines Entwicklungslandes mit klassischer Kolonialwirtschaft reduziert worden, das vom Export seiner Ressourcen und dem Import von Fertigwaren lebe. Ende der 90er charakterisierte Tatjana Saslawskaja die so entstandene Gesellschaft als „undefinierbares Monstrum“, das sich den Kriterien von „sozialistisch“ oder „kapitalistisch“ entziehe. Putin hat – gestützt durch die hohen Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt – diesem Monstrum ein neues staatliches Rückgrat eingezogen, das ausländische Investoren ermutigte und inländische zum Bleiben bewegte, Prinzipielles hat er an der hergebrachten Symbiose von Markt- und Staats- bzw. Kollektivwirtschaft nichts geändert.   Tatsache ist: Teile der russischen Wirtschaft funktionieren heute nach den Gesetzen des Marktes, nach Angebot und Nachfrage, auch nach den Mechanismen der im Westen üblichen Profitmaximierung, andere Teile entziehen sich diesen Kriterien. Die Industrieproduktion fiel im Verlauf der Reformen um gut die Hälfte, die industrielle Agrarproduktion noch stärker, die bäuerliche und familienwirtschaftliche Selbstversorgung stieg im gleichen Zeitraum in einem Maße, dass die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Nahrungsmitteln heute zu 60% abdeckt. Wenn es in der extremen Krise nach 1991 nicht zu Hungerkatastrophen kam, dann deshalb, weil die Bevölkerung nicht nur auf die traditionell gewachsenen Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung zurückgreifen konnte, sondern diese Strukturen sich in dieser Zeit darüber hinaus zur Grundlage des Lebens der Mehrheit der Bevölkerung ausweiteten. Man sprach in Russland deshalb von einer das ganze Land erfassenden Datschaisierung. Das beinhaltete: Hofgarten auf dem Dorf, Schrebergarten und kleine Parzellen für die Städter und dies alles verbunden durch ein Netz der nachbarschaftlichen Grundversorgung. In der Aktivierung dieser Struktur der gemeinschaftlich organisierten familiären Zusatzwirtschaft lag ein von den Reformern gänzlich unerwartetes Ergebnis der Privatisierung, das mindestens genau so tiefe Auswirkungen auf die soziale Struktur der russischen Gesellschaft hatte wie die Umverteilung des Staatseigentum an wenige oligarchische Nutznießer.

Theodor Schanin, russischer Agrarökonom, Lektor einer halbstaatlich geführten „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ und zugleich Professor an der Universität von Manchester, fand für die heutigen russischen Verhältnisse den Begriff einer „expolaren Wirtschaft“. Er versteht darunter, ähnlich wie Tatjana Saslawskaja, aber weniger entsetzt als sie, Ansätze einer Mischwirtschaft, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“, „Dirigismus“ oder „Liberalismus“ hinausgehe. Andere russische und auch ausländische Analytiker/innen bestätigen nur diese Sicht, wenn sie stattdessen von Unübersichtlichkeit, Clanwirtschaft, Korruption, von Nomenklatur-, Schatten- oder Mafiawirtschaft oder auch nur von einer Quasi-Rückkehr zur Beziehungswirtschaft sowjetischen Typs sprechen. Es meint immer dasselbe: Kein Sowjetismus, kein Kapitalismus, irgendetwas dazwischen. Das hat auch Putin nicht geändert; er schaffte es lediglich, den Ausverkauf der Ressourcen des Landes zu stoppen, bzw. in für Russland nützliche Bahnen zu lenken, und so den allgemeinen Wohlstand des Landes zu heben und eine Rationalisierung der überalterten Industriestruktur einzuleiten.

In der Ergänzung von rationalisierter Industrieproduktion, Verkauf der Ressourcen und ausgedehnter Natural-, bzw. Selbstversorgung durch familiäre und gemeinschaftliche Zusatzwirtschaft liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird auch ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nur partiell – und auch nur solange die Ölgelder fließen. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung auf der Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also tendenziell auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend aus der Sicht neo-liberaler Wachstumsorientierung, fördernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation, die über die bisherigen Modelle von „Sozialismus“ oder „Kapitalismus“ hinausgehen.

Voraussetzung für die Weiterentwicklung der in Russland zu beobachtenden Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion weiter intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, dass die Selbstversorgung nicht nur als individueller Ausweg verstanden, sondern  bewusst und kollektiv organisiert und gefördert wird, dass die Ressourcen nicht nur verkauft, sondern die Förderungsmethoden und -wege modernisiert und der Gewinn in die Modernisierung der allgemeinen technischen und sozialen Infrastruktur des Landes eingebracht wird.

Unter solchen Umständen bekäme der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung: Darin hieße Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin wäre die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Zu sprechen wäre dann von einem Entwicklungsland neuen Typs, in dem Ansätze einer neuen Wirtschafts- und Sozialordnung hervortreten, welche eine neue Beziehung von Lohnarbeit und anderen, durch die Lohnarbeit freigesetzten Formen der Arbeit beinhaltet. Eine solche Entwicklung wäre auch über Russland hinaus von Bedeutung. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.[2]

In Russlands Reichtum, gerade in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt allerdings auch seine Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung der russischen Bevölkerung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: ‚Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.’ Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich gerade darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, könnte man sagen, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert. Siehe noch einmal den Fall Chodorkowski.

Und hier stellen sich selbstverständlich auch Fragen an die künftige Politik Russlands: Sind die Nachfolger Putins, Medwedew, aber auch Putin selbst in neuer Funktion wie duie ganze neue herrschende Schicht Russlands bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?

In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein „Kommando“ sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der im Sommer 2004 eingeleitete Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür.[3] Seit ersten Januar 2005 ist ein entsprechendes Gesetz in Kraft, das die unentgeltlichen Vergünstigungen nach westlichem Muster in antragspflichtige Sozialleistungen verwandeln soll. Dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher aber nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Dagegen entwickelte sich ein breiter Widerstand an der Basis und in den Peripherien der Gesellschaft. Putin reagierte mit einem breit angelegten Programm der sog. „Nationalen Projekte“, die das Versprechen enthielten, die aus den Öl- und Gaseinnahmen resultierenden Einahmen ergänzend zur Moedernisierung der Industrieanlagen in den Wiederaufbau der sozialen Strukturen des Landes zu führen, konkret in eine Sanierung des Gesundheits- , des Wohnungs- und des Bildungswesens wie auch der niedergegangenen Agrarwirtschaft, sowie spezielle regionale Aufbauprogramme in besonders armen Regionen. Dimitri Medwjedew übernahm diese Staffette mit seinem Amtsantritt als Regierungsprogramm. Er orientierte auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke noch übersteigen sollte. Im Schweizer Davos versprach er, noch vor der Wahl, den versammelten Vertretern des ausländischen Kapitals optimale Investitionsmöglichkeiten. Auf  dem russischen Wirtschaftsforum in Krasnojarsk erklärte er, er werde sich als Präsident auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. Freiheit sei besser als Unfreiheit, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“ Praktisch und im Kern zielte dieser Ansatz darauf, der Privatisierung der Produktion nunmehr die Privatisierung des sozialen und kommunalen, also des gesamten reproduktiven Sektors folgen zu lassen, die unter Putin noch am Widerstand der Bevölkerung gescheitert war. Im russischen Sprachgebrauch wird dieser Prozess als Monetarisierung bezeichnet.

Das Aufbrechen der weltweiten Finanz- und Spekulationskrise, die den Öl- und in seiner Folge den Gaspreis auf einen Bruchteil der Höhe fallen ließ, den er vor Ausbruch der Krise hatte, ließ dieses Programm zunächst weitgehend auf Absichtserklärungen zurückschrumpfen. Mehr noch, die bisher noch nicht angetasteten kollektiven Versorgungsstrukturen erweisen sich ein weiteres mal, wie schon so oft in der russischen Geschichte und wie zum letzten Mal 1998, als der IWF sich weigerte Russland aus seiner akuten Krise zu helfen, als Rückversicherung für das Überleben der russischen Volkswirtschaft. Die Möglichkeit der Selbstversorgung durch Datscha und Hofgarten, ebenso wie kommunaler Versorgungsstrukturen, von denen manch einer glaubte, sie gehörten schon der Vergangenheit an, erhalten eine neue Aktualität.

Das heißt nicht etwa, dass Russland jetzt doch auf den Stand einer agrarischen Subsistenzwirtschaft zurückfiele; es zeigt aber, dass Russland sich dem Zwang der nackten Selbstverwertungsspirale des Kapitals noch entziehen kann. Die globale Finanzkrise, so paradox es klingt, rettet Russland im letzten Moment vor einer Zerstörung seiner gewachsenen Entwicklungskräfte durch die schon geplante Total-Monetarisierung und erneuert seine Fähigkeit zur Autarkie, die aus einer bewussten Weiterentwicklung seiner Hybridstrukturen zu einer Wirtschaftsform resultiert, in der marktwirtschaftlich orientierte Industrieproduktion, kontrollierte Ressourcennutzung und gemeinschaftliche Selbstversorgung bewusst miteinander verbunden werden. mit solch einer Entwicklung könnte Russland über die herrschenden neo-liberalen Modelle von Kapitalismus hinauswachsen – gewissermaßen exemplarisch.

Kai Ehlers

Unter www.kai-ehlers.de


[1] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Herausforderung Russland, Vom Zwangskollektiv zur selbstbestimmten Gemeinschaft? Eine Bilanz der Privatisierung , dort das Kapitel: „Das Missverständnis vom kapitalismus – Umverteilung statt ursprünglicher Akkumulation“, Schmetterlingverlag, Stuttgart, 1997

[2]Siehe dazu: Kai Ehlers,  „Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung  aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation.“, edition 8, Zürich, Mai 2004;

[3] Siehe dazu: Kai Ehlers, „Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung Gespräche und Impressionen“,  April 2005 im Verlag Pforte/ Entwürfe

veröffentlicht in: Streifzüge

Öl-NATO contra Gas-Russland Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? Um diese Fragen kreisen die aktuellen politischen Debatten in der Europäischen Union und in der NATO. Zwei Strategien stehen sich gegenüber:
Auf der einen Seite forcieren die USA die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Luger erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Sbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird. [2] Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauchen zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Es gehe darum die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entstehe. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Seit der NATO-Sicherheitstagung 2007 in München stehen sich die Forderungen nach einer „Energie-NATO“ und einer „Energie-KSZE“ gegenüber. Die EU ist in der Frage gespalten.

Die Geschichte der genannten Konzepte ist die Geschichte einer Eskalation.

Seit 1991 bemüht sich das „atlantische Bündnis“ unter Führung der USA aggressiv um die Neuaufteilung des zentralasiatisch-kaukasischen Raumes. Dabei ging es vorrangig um Erdöl und Erdgas, die in diesem Raum konzentriert sind. Der führende US-amerikanische Stratege Brzezinski spricht vom „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf das die USA sich den Zugriff sichern müssten. Kernstück der daraus entwickelten Strategie wurde der Ausbau eines Transportkorridors, auf dem Öl und Gas südlich des Bauches von Russland von Ost nach West befördert werden könnten, ohne durch russische, aus der Sowjetzeit noch vorhandene Röhren gehen zu müssen. Das bedeutete, Russland von Zentralasien, vom Süd-Kaukasus und vom Iran zu trennen, den russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk, sowie die Pipelines durch Tschetschenien zu umgehen.
Die EU beteiligte sich an dieser Strategie mit den Programmen TACIS, INOGATE und TRACECA, über welche Milliarden Euro in den Ausbau der Ost-West-Transport-Infrastruktur von Usbekistan bis Europa flossen. TACIS, das ist die Abkürzung für “Technical assistance to the commonwealth on independent states”, INOGATE für “Interstate Oil and Gas Transport to Europe”, TRACECA für “Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia”. Die drei Programme sind ausgelegt als Aktionsbündnisse mit den aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und des Balkan (selbst Griechenland partizipierte) – nur Russland wurde expressis verbis ausgegrenzt.
Wichtigstes Ergebnis dieser Programme waren drei neue Pipelines, die unter Umgehung der bis dahin genutzten sowjetischen Transportwege gebaut wurden:
– Öl von Baku in Aserbeidschan zum Schwarzmeerhafen Supsa – seit 96 in Betrieb,
– Öl von Baku über Tiblissi nach zum Mittelmehrhafen Ceyhan in der Türkei –
„BTC“ genannt nach den drei Städtenamen, seit 2005 in Betrieb;
– Gas von Baku über Süd-Europa in die EU –“Nabucco“– geplant ab 2012.
Nicht erfolgreich war der US-Plan, eine Pipeline durch Afghanistan in den Persischen Golf zu führen. Der in den 90er Jahren gemachte Ansatz blieb in den Kämpfen mit den Mujaheddin stecken. Auch die neueren Pläne, die von Sbigniew Brzezinski kürzlich wieder ins Gespräch gebracht wurden, werden nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn Afghanistan schnell „befriedet“ wird.
Zeitgleich mit der Entwicklung des Ost-West-Transportkorridors unternahmen westliche Öl-Konzerne den Versuch, den innerrussischen Öl- und Gas-Markt zu „liberalisieren“, „für den Weltmarkt zu öffnen“, kurz, unter Kontrolle westlicher Konzerne zu bringen. Das geschah zum einen über Einflussnahme auf den seit 1991 privatisierten russischen Öl-Markt. Der nach-sowjetische private Öl-Konzern YUKOS wurde in de4 Jahren 2003/2004 bereits von New York aus geleitet. Yukos-Chef Chodorkowski stand vor seiner Verhaftung und vor der gerichtlichen Auflösung des Konzerns kurz vor dem Verkauf von Mehrheitsanteilen an US-Texaco.
Es geschah zum Zweiten über Versuche der EU über Verhandlungen mit Russland für eine Europäische Energiecharta, über ein gesondertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen und über die Entwicklung einer „strategischen Partnerschaft“ zu einer „Liberalisierung“ des Öl- und Gasmarktes zu kommen.
NATO-Erweiterung und EU-Erweiterungen flankierten diese Strategie der Einkreisung Russlands, gepuscht von den USA; die EU konnte, sehr zum Ärger der USA keine klare einheitliche Linie zur Energiepolitik gegenüber Russland finden, sondern schwankte immer wieder zwischen aktiver Beteiligung an der US-Einkreisungspolitik und langfristiger Kooperation im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. – was u.a. dazu führte, dass die Nabucco-Pläne nur zögernd voran kamen und kommen.

Russlands Antwort

Nach Auflösung der Sowjetunion und Einleitung der Schock-Therapie der Totalprivatisierung war Russland dieser Strategie zunächst weitgehend ausgeliefert. Aus dem Gas-Ministerium der Sowjetzeit entstand Gasprom als eine undefinierbare Mischung aus alten sowjetischen und neuen privatwirtschaftlich genutzten Strukturen. In der Bevölkerung galt diese Organisation als Selbstbedienungsladen ihrer Funktionäre. Die Ölindustrie wurde zum Privateigentum weniger Oligarchien, verquickt mit ausländischem Kapital. Erst mit der Krise 98, als der IWF sich weigerte Russland mit Krediten aus der Patsche zu helfen, bzw. für Russland unannehmbare Bedingungen stellte, begann Russland sich wieder auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die wesentlichen Schritte sind schnell aufgezählt:
– 2002 Reform Gasproms zum internationalen Multi. Die korrupten Funktionäre der 90 Jahre werden durch Vertraute Putins ersetzt, Gasprom zu einem politischen Instrument des Staates und einer Stütze des russischen Budgets entwickelt.
– 2003/4 mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Auflösung des YUKOS-Konzerns nimmt der russische Staat auch die größten Teile der Öl-Wirtschaft wieder unter Kontrolle.
– 2005/6 wird am Plan der Ostseepipeline erkennbar, dass Gasprom die Strategie einer aktiven Vernetzung des russischen Energiemarktes mit der EU verfolgt; mit Kasachstan und Turkmenistan werden alte Verbindungen aktiviert.
– am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline („South-Stream“) zusammen[4]: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga (bei Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen[5].
– 2008 geht es Schlag auf Schlag: Vertrag zum Bau der „South-Pipeline“ mit Serbien im Januar 2008[6], mit Ungarn im Februar[7], mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an der “Nabucco“Pipeline als auch an „North-Stream“ beteiligen. Ein Joint Venture von “Nabucco“ und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Transmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. [8] Im Juli 2008 offeriert Gasprom Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. [10] Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. [11] Gasproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten[12]: Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Ebenfalls im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. [13] Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein. [14] Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“ [15], d.h. ein umfassendes Netz von der Förderung bis zum Endkunden aufzubauen.

Kooperation contra Konfrontation

Zum Gipfel der G8 in St. Petersburg im Mai 2006 legte Russland den Vorschlag vor, eine globale Energiepolitik zu entwickeln. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland brachten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vor und kündigten an, ihrerseits Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So wurden von dem „Energie-Summit“ harte Konfrontationen erwartet. Im Ergebnis verabschiedete der Gipfel überraschend einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben schienen. Nur ein halbes Jahr später, 26.11.2006 forderte US-Senator Luger beim NATO-Gipfel in Riga die Entwicklung einer Energie-NATO, die nach § 5 des NATO-Bündnisvertrages eingreifen müsse, wenn Gas- oder Öllieferungen mit erpresserischer Absicht unterbrochen würden. Auch eine befürchtete „Gas-OPEC“ geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“-Gesetz.
Die Erfolge Gasproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften auch als Hintergrund für die Eskalationen im Kaukasus im August 2008 zu sehen sein. 17] „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ [18] Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive[20]. Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das atlantische Bündnis dürfe „die Fortschritte, die in Aserbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblissi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen“ müsse „die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der “Nabucco“Pipeline gedient“ werde.
Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache liege darin, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ [21] Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Pipeline bombardieren wollen.
Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“ [22], habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der in erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“.
Unter den Bedingungen der globalen Systemkrise entspannte sich die Konfrontation vorübergehend. Auf der Müncher „Sicherheits“-Tagung 2009 standen andere Themen im Vordergrund, insbesondere der Wiedereintritt der USA ins internationale Bündnissystem. Zudem ist Gasprom durch den Preisverfall bei Öl- und Gas vorübergehend geschwächt. Ein neues Anziehen der Öl- und Gaspreise und damit die Aktualisierung des Wettlaufes um die kaukasischen und zentralasiatischen Ressourcen ist jedoch unausweichlich.

veröffentlicht in:  „Neues Deutschland“

Weltmacht im Wartestand – ? Oder: Angst vor Russland, warum? Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin

Kurz vor dem Ausscheiden Wladimir Putins, zwanzig Jahre nach Michail Gorbatschow lautet die herrschende Frage des Westens wieder, ob die Welt Angst vor Russland haben müsse. Die Anlässe für diese Frage sind beliebig. Man ist versucht zu sagen: Gleich, was oben reingegeben wird – unten kommen immer Warnungen vor Russland heraus: Ob Putin ankündigte, keine dritte Amtszeit anstreben zu wollen, ob bei den letzten deutsch-russischen Konsultationen Ende 2007 offene Fragen anstanden, ob Russland gegen die Stationierung von US-Rakten in Ost-Europa protestiert, ob neue Bedingungen im Luftverkehr ausgehandelt werden müssen oder die  turnusmäßige Leitung des Nato-Russland-Rats durch einen Vertreter Russlands anstünde – der Tenor ist immer der gleiche: Der Kreml zeige Muskeln, eine neue Eiszeit nahe, ein neuer Kalter Krieg stehe bevor, ein russischer „Energiefaschismus“ drohe, gar der „Dritte Weltkrieg“, wie G.W. Bush sich Ende 2007 nicht scheute zu ‚warnen’.
Selbst Putins Mahnungen, Russland müsse sich gegen den Druck westlicher „Eindämmung“ mit einer neuen Sicherheitsstrategie schützen, dürfe sich aber nicht zu einem Rüstungswettlauf zwingen lassen, die er dieser Tage seinen Nachfolgern in ihre „Agenda bis 2020“ schrieb, und seine erneute Aufforderung an die NATO-Staaten sich um Kompromisse für die Neuregelung der KSZ-Vereinbarungen zu bemühen, führte auf Seiten der NATO lediglich zu der Forderung Die „unnötig aufgeheizte Rhetorik“ zu beenden. Die Fronten sind, wie leicht erkennbar, verhärtet bis aggressiv.
All diesen Mahnungen, Forderungen, Vorwürfen und noch einigen Fragen mehr muss selbstverständlich nachgegangen werden, um zu verstehen, was sich in unserer Welt abspielt. Auch mit Putins Autoritarismus muss man sich auseinandersetzen. Hier soll jedoch zunächst die Frage aufgeworfen werden, die sich hinter all diesem erhebt: Was steht hinter diesen Warnungen? Wovor fürchten sich die USA – obwohl doch „einzige Weltmacht“, wie US-Stratege Brzezinski es bisher unübertroffen formulierte?  Wovor fürchtet sich die EU – obwohl doch im Besitz der höchsten zivilisatorischen Werte? Wovor fürchtet sich sogar China – obwohl doch in einem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg?
Die Antwort ist  umwerfend einfach, dabei jedoch, wie es scheint, ebenso schwer zu verstehen wie sie einfach ist: Sie liegt – wenn man sich nicht nur an der Person Wladimir Putins aufhalten will – in Russlands Möglichkeit zur Autarkie. Russlands potentielle Anarchie speist sich aus zwei Quellen, aus den natürlichen Ressourcen, aber auch aus den – zumeist übersehenen – sozio-ökonomischen: die natürlichen – das sind Gas, Öl, Erze, Wald, Tiere usw., die sozio-ökonomischen resultieren aus der Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Eigenversorgung auf der Grundlage der ins Land eingewachsenen kulturgeografischen Strukturen. Beides zusammen gibt Russland die Möglichkeit, wenn es denn sein muss, unabhängig von globaler Fremdversorgung oder – in feindlichen Kategorien gedacht – von Sanktionen zu existieren, zumindest wesentlich länger zu überleben als denkbare Kontrahenten. Dreimal versetzten diese Bedingungen Russland im Lauf  der neueren Geschichte bereits in die Lage, europäischen Eroberungsversuchen zu trotzen: denen Napoleons 1812, denen der Deutschen Wehrmacht 1917, denen Hitlers 1939.
Heute ist es wieder so: Trotz Krise schaffte es Russland zum Erstaunen der Welt nicht nur zu überleben, sondern noch gestärkt aus seiner Agonie hervorzugehen. Wladimir Putins Wirken spiegelt diese Tatsachen:
Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde, und schließlich die Disziplinierung der Oligarchen, die sich in der Flucht des Medien-Eigentümers Wladimir Gussinskis nach Spanien, der grauen Emenenz der Jelzin-Ära, Boris Beresowskis nach England und der Verhaftung und Verurteilung des Yukos-Chefs Michail Chodorkowski niederschlug.
Die Konsolidierung der neuen politischen Klasse ist noch nicht perfekt, reicht aber offensichtlich soweit, dass alte und neue, wie man in Russland sagt, Eliten sich darauf geeinigt haben, den Kampf aller gegen alle, der mit der Privatisierung Ende der 80er in den herrschenden Kreisen Russlands und zwischen Moskau und den Regionen Eurasiens ausgebrochen war, zugunsten der Verwaltung eines Rahmens einzuschränken, der die gemeinsame Ausbeutung des Landes ermöglicht. Dazu kommt – wenn auch auf den hohen Ölpreis gestützt – eine soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung in der zweiten Hälfte der Amtszeit Putins.
Konkret gesprochen: Unternehmen verpflichteten sich wieder Steuern zu entrichten, jahrelang nicht gezahlte Löhne, Gehälter, Pensionen, soziale Leistungen wurden endlich wieder zu zahlen. Ungeachtet der Tatsache, dass das so Gewonnene durch Privatisierung kommunaler Leistungen und Inflation für die Mehrheit der Bevölkerung sogleich wieder zerrann, trug es doch zur sozialen Beruhigung bei. Die hohe Zustimmung zu dem von Putin vorgeschlagenen gelenkten Machtwechsel an der Spitze des Staates, sowohl innerhalb der herrschenden politischen Klasse wie auch in der Bevölkerung, ist Ausdruck dieser Tatsache. Einfach gesagt: Wiederaufbau, nicht Protest steht auf der TO der russischen TO von heute und morgen.
Nach außen ist es die Kritik am hegemonialen Anspruch der USA. Stichworte dazu sind: Neue Militärdoktrin seit 2002, die das vom damaligen Außenminister Kirijenko formulierte Credo der Jelzin-Ära beendete, dass Russland heute keine Verteidigungsarmee mehr brauche. Einen Wendepunkt markierte Putins Auftreten bei der Münchner NATO-Tagung 2006, wo er „überraschend“ und außerhalb der üblichen diplomatischen Rücksichten das vortrug, was, wie er es formulierte, „ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke“, nämlich, dass es ein Ende haben müsse mit der US-Alleinherrschaft. Diese Entwicklung wurde möglich durch eine, so könnte man es nennen, konsequent „opportunistische“ Politik Russlands zwischen EU im Westen und Shanghaier Bündnis im Osten. Mit dieser Politik kehrte Russland auf die Weltbühne zurück, während die ehemalige Neue Welt, die USA, in dem Versuch, ihre Weltherrschaft zu behaupten, sich in Kriege verstrickt und am Verfall ihrer moralischen Autorität krankt.
Dabei ist anzumerken, dass die Tatsachen, die Putin in München vortrug, nicht neu waren: Die monopolare Welt, die nach dem Kalten Krieg „vorgeschlagen“ worden sei, erklärte er, sei nicht zustande gekommen, der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein, amerikanische Werte würden anderen Staaten übergestülpt. Jede/r verstand, dass damit vor allem anderen die US-Abenteuer in Pakistan, im IRAK und die Kriegsdrohungen gegen den Irak gemeint waren. Neu war aber der Ton, in dem Putin seine Kritik vortrug: Die USA hätten ihre Grenzen fast in jeder Hinsicht überschritten, erklärte er, militärisches Abenteurertum, ausufernde militärische Gewalt und Missachtung des Völkerrechtes hätten die Welt gefährlicher gemacht. Die Politik der USA heize das nukleare Wettrüsten an. Niemand fühle sich mehr sicher. Neu war auch Putins kategorischer Protest gegen NATO-Pläne, in Polen und Tschechien Stationen für ein europäisches Raketenabwehrsystem  zu bauen. Vor allem anderen aber war es das Selbstbewusstsein, mit dem Putin diese Sicht dem NATO-Bündnis vortrug, das neu war: Sieben Jahre Putin hatten gereicht, um Russlands Kraft soweit wieder herzustellen, dass das Land seine historische Rolle als integrierender Faktor zwischen Asien und Europa wieder zu übernehmen bereit war – nämlich als Impulsgeber und stabilisierender Faktor einer kooperativ organisierten, multipolaren Weltordnung zu wirken, die es durch die aggressive Hegemonialpolitik der USA zunehmend gefährdet sieht. Diese Rolle war Russland in den Jahren seit Putins Amtsübernahme in aller Stille zugewachsen. Mit Putins Auftritt vor der NATO-Versammlung wurde sie vor aller Augen benannt. Mit dem Besuch Putins in Teheran Ende 2007, die zeitgleich zu Konferenzen des Shanghaier Bündnisses wie auch der Anrainer des kaspischen Meeres stattfand, zeigte Russland den USA auch praktisch die rote Karte. Die Teilnehmer der kaspischen Konferenz – Kasachstan, Tadschikistan, Iran, Aserbeidschan, Russland – versicherten sich gegenseitig, keine unabgesprochene Gas- und Ölförderung durch das kaspische Meer und keine Stationierung fremden Militärs auf ihrem Gebiet, die gegen eins der an der Konferenz beteiligten Länder gerichtet sei, zuzulassen. Das Shanghaier Bündnis der zentralasiatischen Staaten nahm den Iran demonstrativ als assoziiertes Mitglied in seine Runde auf.
Diese Entwicklung gibt Grund genauer hinzuschauen, woraus die potentielle Autarkie hervorgeht, aus der Russland seine neue Kraft schöpft: Sie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch. Das sind Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden konnten, sie haben eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet. Sofern doch, waren es regionale Ausnahmen wie Sibirien, wie der Süden Russlands oder es waren vorübergehende Erscheinungen wie jene am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als aus den dörflichen Strukturen private Industrie entstand. Ihre privaten Rechtsformen wurden jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt.
Im Ergebnis hat man es im alten Russland mit einer Organisation des Lebens zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit im Gegensatz zur europäischen Entwicklung als „asiatische Produktionsweise“ bzw. auch als „agrarische Despotie“ charakterisierten. Autarkie und Autokratie sind darin untrennbar miteinander verbunden. Die Moskauer Zaren waren Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die Struktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau, autonome Versorgung im Lande, die sich tief in die geo-soziologische Struktur des Landes und in die Mentalität seiner Bewohner/innen eingrub. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Marx und Engels kamen deswegen zu der Einschätzung, dass die russische Gesellschaft einen anderen Weg gehen werde al die europäische, sich aber nur im Zusammenhang mit einer Revolution in Europa weiter entwickeln könne.
In der Tat: Krisen gingen über das Land ohne diese Grundbeziehung von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin scheiterte am bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die gemeinschaftliche Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus. Unter Stalin steigerte sich der agrarische so zum industriellen Despotismus.
Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels – Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde. Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele – bei gleichzeitiger technischer Modernisierung der Gesellschaft.
Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: Es gelten offensichtlich Regeln, die sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: eine lang andauernde Stabilität endet in Stagnation. Phase zwei: Chaos tritt ein, eine „verwirrte Zeit“, russisch: Smuta, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses dieser Schicht auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt erhalten.
Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe besser erkennbar: Unter der Decke der gemeinwirtschaftlichen Ordnung der Sowjetunion waren im Laufe der 70er Jahre seit 1917 individuelle und regionale Qualifikationen herangewachsen, die nach Verwirklichung drängten. Gorbatschows Perestroika („Neues Denken“ und „Glasnost“) zielte auf eine gelenkte Befreiung dieser Potentiale privaten Interesses im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Ordnung, ohne diese aufheben zu wollen. Es ging um eine Effektivierung der kapitalisierten Gemeinwirtschaft, nicht um deren Abschaffung.
Die herrschende Bürokratie der Sowjetunion hatte jedoch das Ausmaß der bereits erreichten Individualisierung sowie die Dynamik der regionalen Entwicklungen, vor allem auch die Folgen der Computerisierung unterschätzt, so dass die Lockerung der staatlichen Vorgaben zu einem allgemeinen Zerfall führte. Die „Schocktherapie“ Boris Jelzins war Ausdruck dieser Dynamik.
Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt, dessen Inhalt darin bestand, die nach-sowjetische gemeinwirtschaftliche Produktionsweise unter Einbeziehung westlicher Impulse und nach dem Abstoßen ineffektiver Ballaste im Lande wie an seinen Außenbereichen auf einem neuen Niveau wieder funktionsfähig zu machen. Auch für ihn galt: Nicht Nachvollzug westlicher Produktions- und Lebensweise, sondern Effektivierung der russischen Gesellschaft mit Anleihen aus dem Westen, der gemeinwirtschaftlichen Ordnung mit Elementen des Privatwirtschaft. Was dabei herauskommen wird, ist selbstverständlich offen – auf keinen Fall aber eine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus.
Es entsteht eine Mischkultur, deren widersprüchlichen Elemente sind: Öffnung für internationale Investitionen, Beitrittsabsichten zur WTO und Angleichung an deren Standards sowie Front mit den USA gegen internationalen Terror auf der einen Seite, die Beibehaltung von Staatskapital und staatlichem Zugriff auf Ressourcen, die erklärte Absicht Subventionen für die eigene Landwirtschaft beibehalten zu wollen und der Anspruch auf eine Integrationsrolle Russlands für die Völker der russischen Föderation und Eurasiens mit Auswirkung auf die globale Ordnung auf der anderen.     Klar gesprochen: Russland wird sich nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen, was nichts anderes bedeutet, als für die Länder, die wie es selbst von der asiatischen Produktionsweise herkommen, eine Impuls- und Führungsrolle gegen den unipolaren Herrschaftsanspruch der USA und für eine multipolare kooperative Weltordnung einzunehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, solange es die Quellen seiner doppelten Autarkie – natürliche Ressourcen und Fähigkeit zur Selbstversorgung – schützt und entwickelt. Jede „Liberalisierung“ des Welt-Ressourcenmarktes dagegen wie auch jede Verdrängung und Zerstörung der traditionellen Selbst- und Eigenversorgungsstrukturen durch forcierte Fremdversorgung und „Monetarisierung“ im Lande selbst schwächen und seine Identität tendenziell zerstören. Erfolg oder Misserfolg russischer Politik, innen- wie außenpolitisch, misst sich an diesen Vorgaben.
Wird Putins Politik daran überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Die Restauration staatlicher Grundelemente, die er durch seine Reformen von oben einleitete, war unausweichlich. Die Ergebnisse seiner Politik bringen selbst radikale Kritiker der russischen Neu-Linken wie Boris Kagarlitzki zu der Aussage, Putin dürfe sich als erfolgreichster Herrscher Russlands betrachten, dessen Politik nur den einen Fehler habe, dass das Erreichte nicht gerecht verteilt werde. Auch außenpolitisch sei das erfolgreiche internationales Come back unübersehbar. Dem ist zuzustimmen, wenn man nicht in bloße Kritikasterei á la Kasparow, Nemzow und anderen russischen Ultraliberalen verfallen will, die zum Liberalismus der Jelzinära zurückkehren wollen. Die Frage ist allein: wie weiter? Kann Putin selbst oder können seine Nachfolger die Geister bannen, die sie im Zuge dieser Stabilisierung riefen? Wird die im Rahmen der WTO geforderte Internationalisierung des Energiemarktes und die Monetarisierung des Landes die russische Autarkie beenden oder wachsen unter dem Schutz des von Putin erneuerten bürokratischen Konsenses neue Formen eigener russischer Produktions- und Lebensstrukturen heran, die den Rahmen der WTO sprengen?
Signale, die auf Sprengung hindeuten, gab es, als Putin erklärte, dass Russland zwar in die WTO wolle, aber „zu unseren Bedingungen“. Von selbst wird dies allerdings nicht geschehen, mehr noch, Putins Ansatz das Land durch eine Reform von oben zu modernisieren, findet seine Grenzen in sich selbst, insofern die Gefahr besteht, dass die Entwicklung von Initiative aus der Bevölkerung durch die unter Putin entstandenen Formen der „gelenkten Demokratie“ nicht gefördert, sondern eher gebremst werden. Das wird durch Putins Abschiedsrede im Kreml deutlich, ungeachtet der von ihm zutreffend benannten Erfolge, Steigerung des BIP um 8.1% im letzten Jahr, 22fach gesteigertem Kapitalzufluss gegenüber 1999 usw. usf, wenn er die mangelnde Arbeitsproduktivität beklagt, wenn er die „furchtbare Verhältnisse“ für russische Kleinunternehmer beklagt und auffordert, einen „innovativen Entwicklungsweg“ zu suchen.

Für die Wiederherstellung rudimentärer sozialer Funktionen des russischen Staates war die Phase der putinschen Restauration zweifellos unumgänglich, für die Zeit nach Putin stellt sich jedoch die Frage, wohin der von Putin beschworene innovative Entwicklungsweg führt, ob der in seiner Amtszeit geschaffene Rahmen die Entstehung neuer Initiativen von unten zulässt, die traditionelles Gemeinschaftsdenken und die Impulse neuer individualisierender Selbstbestimmung so miteinander verbinden, dass sie einer einseitigen, autoritären Ausrichtung der russischen Gesellschaft an den Interessen ausländischer und inländischer Investoren von unter her aktiv entgegentreten. Ansätze dazu hat es mit den massenhaften Protesten von 2005 gegeben, in denen Rentner, Studenten und andere die Absicht der russischen Regierung vereitelten, kommunale und soziale unentgeltliche Dienstleistungen und bestehende materielle Vergütungsstrukturen in Geldbeziehungen nach WTO-Vorgaben umzuwandeln. Neue Anläufe zur Monetarisierung sind aber bereits von der Regierung beschlossen. Ihre Umsetzung ist nach den Wahlen 2007/2008 geplant. In den zu erwartenden Auseinandersetzungen darum wird sich zeigen, ob Russland tatsächlich auf ein neues Niveau der Entwicklung kommt, das Sowjetismus und Kapitalismus gleichermaßen hinter sich lässt, anders gesagt, ob es eine Symbiose aus modernen Formen der Industriegesellschaft und Erhaltung, bzw. Weiterentwicklung der Selbstversorgung zu entwickeln imstande ist.

veröffentlicht in: Junge Welt

Ukraine – Kampfplatz der Vermittler

 

Der Staub, den der neuste Gas-Streit zwischen Russland und der Ukraine aufgewirbelt hatte, beginnt sich zu lichten. Aber immer noch ist schwer erkennbar, wer da wen über den Tisch ziehen wollte, wer wen zu Recht beschuldigt. Die Ukraine zeigt auf Russland, Russland auf die Ukraine; beide zusammen auf den ominösen Zwischenhändler RosUkrEnergo, der Millionen aus der Veruntreuung russischer Gaslieferungen gezogen haben soll. Die EU, als Vermittler angerufen, verhielt sich neutral, verwahrte sich sogar gegen die Rolle des Vermittlers, weil sie den Anschein der Parteinahme vermeiden wollte. Selbst aus den USA war nicht viel mehr als eine milde Mahnung zu hören, die streitenden Parteien sollten die „humanitären Implikationen der Versorgungsunterbrechung“ bedenken. Sogar die übliche Suada der Medien gegen Russland blieb weitgehend aus. Nur Russland, konnte man schließlich doch noch lesen, habe es nicht unterlassen können, die USA zu beschuldigen, die Ukraine zum Gasdiebstahl angestachelt zu haben. Typisch Russen, aber absurd, so der Tenor. Soweit, so langweilig, könnte es scheinen.

Allmählich werden durch den abziehenden Dunst jedoch die Hintergründe erkennbar: Da wären zunächst einmal die beiden Abkommen zu erwähnen, die dem aktuellen Konflikt direkt vorauf gingen. Genau genommen folgten sie unmittelbar auf die Tatsache, dass NATO und EU der Ukraine in diesem Jahr sowohl den Zugang zur EU als auch zur NATO versperrten, bzw. mit windigen Erklärungen auf die lange Bank schoben. Ersatzweise aber schloss die EU mit der Ukraine im September 2008 ein Assoziierungsabkommen, das zwar keine Zusage auf Mitgliedschaft in der EU enthält, doch die Aussicht darauf eröffnet. Ein wesentlicher Punkt darin ist die verstärkte Zusammenarbeit in Fragen der Energiesicherheit.

Im Dezember 2008, zwei Wochen vor Ausbruch der Streitigkeiten, unterschrieb US-Außenministerin Condoleeza Rice dann die „Charta über strategische Partnerschaft“ zwischen der Ukraine und den USA. „In Übereinstimmung mit dem US-EU-Gipfel vom 10. Juni 2008“, heißt es darin, „vertiefen die Ukraine und die USA den dreiseitigen Dialog (wenn es denn einen dreiseitigen Dialog gibt! – ke) mit der Europäischen Union  für eine verbesserte  Sicherheit der Energieversorgung.“ Das bedeute, „die USA wollen der Ukraine bei der Modernisierung der veralteten ukrainischen Gaspipelines helfen.“

Hinter diesen Abkommen tritt sodann die Erklärung eines „US-EU Partnership Committees for Ukraine“ hervor, das am 14. Mai 2007, also weit vor diesen offiziellen Vereinbarungen in Berlin gegründet wurde. Es hat sich den Ausbau der Energiesicherheit in Zusammenarbeit von EU und Ukraine und die Verringerung der Abhängigkeit der Ukraine von Russland zum Ziel gesetzt. Initiator dieses Komitees war kein Geringerer als der Kurator und Berater des „Center for strategic and international studies“ (CIS), Sbigniew Brzezinski von amerikanischer Seite; auf deutscher Seite steht der Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe im Namen der „Deutschen Gesellschaft für ausländische Politik“ (DGAP) Mit von der Partie sind Personen wie die Ex-Außenministerin der USA, Madeleine Albright, wie der bekannte US-Senator R. Luger, der Mann, der seit dem NATO-Gipfel in Riga öffentlich den Einsatz der NATO zur Verteidigung der Energiesicherheit der Mitglieder des Bündnisses fordert, und weitere einschlägige „adviser“ aus dem Umkreis Brzezinskis, die sich für eine Demokratisierung der Ukraine in diesem Komitee zusammengefunden haben – ähnlich wie früher schon im „Komitee für den Frieden in Tschetschenien“, dessen 2. Vorsitzender ebenfalls Brzezinski ist.

Eine seiner zentralen Aufgaben sieht das „US-EU-Partnership Komitee for Ukraine“ laut einer Erklärung vom Mai 2007 darin, ein zunehmend autoritäres und imperial orientiertes Russland davon abzuhalten, politische Konflikte mit der Ukraine dafür zu benutzen, die Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung auf einen äußeren Feind zu lenken. „Noch ist die Ukraine kein Ziel gewesen“, heißt es, aber „sie könnte es werden…“

Brzezinski erklärt in einem Interview zu den Zielen des Komitees u.a.: „„Wenn die Ukraine sich  nicht nach Westen bewegt, dann wird sich Russlands Nostalgie für eine imperiale Rolle intensivieren, und dadurch wird Russland zu einem größeren Problem, die Ukraine könnte weiter bedroht werden, und deshalb liegt es im Interesse aller, diesen Prozess (der Demokratisierung der Ukraine – ke) voranzubringen.“

Wer dies liest, tut gut, sich daran zu erinnern, was Brzezinski schon vor zehn Jahren in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ zur Ukraine schrieb: „ Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ Auf die Ukraine müsste sich US-Politik konzentrieren, wenn sie sicherstellen wolle, dass ihr kein Konkurrent in Eurasien entstehe. Nato- und EU-Erweiterung, Unterstützung der „orangenen Revolution“ waren Schritte auf diesem Weg. Jetzt ist „Zückdrängung der Energie-Abhängigkeit“ auf die Agenda gerückt.

Russland –- Worüber lohnt es zu diskutieren?

Ist Russland eine Demokratie? Nein. Es ist ein Land im Übergang von einer zentralistischen Gesellschaft in eine ungewisse Zukunft. Sicher ist aber keine Kopie des Westens zu erwarten. Ist Putin ein Demokrat? Nein! Aber auch kein Diktator, wie immer wieder in westlichen Medien zu lesen ist. Putin war der mit großer Mehrheit gewählte und mit ebenso großer Mehrheit noch einmal im Amt bestätigte Präsident dieser Übergangsgesellschaft, dem die Aufgabe zufiel ein Minimum an Versorgungssicherheit im Lande wieder herzustellen und dem geschwächten Land wirtschaftlich und politisch wieder auf die Beine zu helfen. Er tat dies, indem er die von Gorbatschow eingeleitete, unter Jelzin aus dem Ruder gelaufene Privatisierung legalisierte, ihre Auswüchse einschränkte, den wirtschaftsliberalen Kurs fortsetzte, zugleich aber die Verwaltungsstrukturen zentralisierte, die Kontrolle des Staates über lebenswichtige Ressourcen wieder herstellte. Es war der Kurs einer restaurativen Modernisierung, der Russland innenpolitisch befriedete und außenpolitisch wieder handlungsfähig machte. Der Kurs war  autoritär und liberalistisch zugleich, es war pragmatische Machtpolitik im Interesse der neuen russischen Eliten. Ich bezeichne diesen Kurs als autoritäre Modernisierung. Die immens steigenden Weltmarktpreise für Öl- und Gas machten ihn möglich und erträglich für die Bevölkerung. Über diesen Verlauf der Geschichte gibt es eigentlich wenig zu streiten.

Die offene Frage ist vielmehr: Was wird jetzt geschehen? Will, kann und wird Putins Nachfolger Dmitri Medwedew, unterstützt durch einen Ministerpräsidenten Putin, die Zügel jetzt, auf dem Boden des Erreichten, wieder lockern, wie angekündigt, wird er die Bürokratie zurückschneiden, das Recht stärken, um mehr Möglichkeiten für private Initiative freizusetzen? Und kann Russland in der erkennbaren aktuellen Krise Impulse für eine Erneuerung der internationalen Beziehungen, nicht zuletzt der globalen Energieversorgung geben? Oder muss die Welt imperiale Abenteuer eines autoritären Energie-Riesen Russland fürchten?

Dies sind einige der Fragen, die sich zu diskutieren lohnen. Und wo Dr. Dr. Umland in seiner Replik zu Alexander Rahr und mir auf diese Fragen eingeht, da kann es interessant werden, die Situation von verschiedenen Seiten anzuschauen. Unter Umgehung akademischer Spitzen und Spitzfindigkeiten möchte ich daher geradewegs auf diese Fragen losgehen.

Da ist aus meiner Sicher zunächst Dr. Dr. Umlands Grundansatz, den er in seinem Vorwort vorausschickt, Politologie sei „de facto eine Demokratiekunde“ und „zudem eine ausdrücklich universalistisch orientierte Wissenschaft“, was im Fall des von ihm vorgelegten Beitrages ja wohl heißen soll, dass er die russische Entwicklung am Maßstab von demokratischen Werten misst, die er für allgemeingültig hält, auch wenn diese Politologie, wie er selbst angibt, „als solche zunächst in Großbritannien und den USA entstand.“

Nun sind Dr. Dr. Umland und ich vermutlich nicht unterschiedlicher Meinung, was die Wertschätzung der demokratischen Verhältnisse betrifft, in denen wir selbst hier in Deutschland leben dürfen. Und ich hoffe sehr, dass wir auch darin einig sind, dass demokratische Rechte verteidigenswert sind, wenn sie eingeschränkt werden. Aber hier beginnen schon die grundsätzlichen Fragen: Von welcher Demokratie sprechen wir? Vom deutschen Grundgesetz? Von der österreichischen Verfassung? Von EU-Recht? Von Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten durch Polizeirecht? Gehört ein Grundrecht auf materielle Versorgung mit zur Demokratie? Und wie sieht es mit dem Völkerrecht aus? War die Anerkennung des Kosovo völkerrechtlich richtig, die Anerkennung Abchasiens und Süd-Ossetiens dagegen nicht? Da gehen selbst im Westen die Meinungen der Völkerrechtler auseinander. Fragen über Fragen.

Ganz problematisch wird es aus meiner Sicht, wenn Dr. Dr. Umland behauptet, die „nachhaltige Stabilität“ des Westens scheine „ein – wenn auch nicht der einzige – Faktor zu sein, der den Westen international so dominant gemacht“ habe, um diese Aussage dann noch dahin zu steigern, der Westen sei „nicht nur demokratisch, weil er einen entsprechenden ökonomisch-sozialen Unterbau“ habe; er habe „diesen Unterbau und ist so relativ hochentwickelt, stabil sowie einflussreich, unter anderem weil er demokratisch ist“.

Ja, lieber Dr. Dr. Umland – „unter anderem“! Wie immer liegt der Teufel auch hier im Detail: Westliche Demokratie ist zunächst Produkt eines Jahrhunderte langen Raubens, Ringens und Schlachtens auf europäischem Boden, von wo aus Raubzüge, Ausrottung ganzer Völker und Kriege immer wieder die ganze Welt erfassten. Die „nachhaltige Stabilität“ des Westens ist „unter anderem“ eben auch Produkt von Imperialismus, Kriegen und Faschismus. Nicht zuletzt Russland war mehrfach Opfer dieser Entwicklung: Napoleon, 1. Weltkrieg, Hitler. Auch die „Demokratisierung“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ähnelte doch eher einer „feindlichen Übernahme“ Russlands durch den Westen, allen voran durch die USA als einer partnerschaftlichen Unterstützung auf dem schwierigen Weg der unvermeidlichen Perestroika.

Kurz, der Anspruch westlicher Politologie, die Entwicklungen anderer Gesellschaften, in unserem Falle Russlands ausschließlich unter dem Maßstab ihrer eigenen Werte zu beurteilen, erscheint mir nicht nur reichlich vermessen und hybrid, sondern auch sachlich nicht haltbar, auch wenn man selbst davon überzeugt sein mag, im besten aller Systeme zu leben – was, wie oben angedeutet, auch noch eine Frage von Auseinandersetzungen bei uns selbst ist. Der Anspruch der „Universalität“ westlicher Demokratie erweist sich bei genauerer Betrachtung als ideologische Brille, durch welche die Wahrnehmung der tatsächlichen Bewegung passend zur gegenwärtig gültigen westlichen Mode verzerrt wird, wenn nicht gar gewaltsame „Implantationen“ der eigenen Werte in fremde Gesellschaften erfolgen.

Sehr deutlich tritt dies in den weiteren Ausführungen Dr. Dr. Umlands hervor, mit denen er aus der von ihm so hervorgehobenen „nachhaltigen Stabilität“ des Westens die Schlussfolgerung zieht, „Das nichtendenwollende (sic) Plädoyer der Russen für eine ‚multipolare’ Welt“ wirke daher „pathetisch“: Die USA seien bisher der einzige Pol, „schlicht weil sie es sind“ und sie würden „aufgrund ihrer flexiblen Gesellschaftsstruktur“ diese Position auch halten. Russland habe „in der Welt wohl die geringsten Chancen, sich je zu einem ernsthaften internationalen Konkurrenten der USA zu entwickeln.“

Uff! Das klingt überzeugt. Aber wo sind die Fakten? Wie erklärt man sich dann die auch nach der Auflösung der Sowjetunion andauernden Bemühungen der USA Russland einzukreisen und klein zu halten? Wieso nimmt Russland in der Strategie Sbigniew Brzezinskis seit dem Ende der SU die Stelle eines „schwarzen Loches“ ein, das man eindämmen müsse? Am liebsten sähe er Russland dreigeteilt, ein westliches, ein östliches und ein mittleres Rest-Russland. Wieso wird diese Strategie Brzezinskis unter dem designierten Präsidenten Obama soeben noch einmal aktualisiert? Kurz: Unipolare Weltordnung oder multipolare – das ist doch heute keine Glaubensfrage mehr! Hier gibt es neue Fakten zur Veränderung der Rolle der USA, konkret ihre Schwächung als globaler Hegemon auf der einen Seite, zur Entwicklung neuer Integrationsräume auf dem Globus (China, Russland, Indien, EU, Südamerika ua.) auf der anderen, die mit den USA in neue Beziehung nicht nur treten werden, sondern bereits getreten sind und nun in die Phase der politische Realisierung dieser neuen Tatsachen steuern. Die gegenwärtige Finanz-Wirtschaftskrise ist ein Ausdruck davon. Ein anderer sind die anhaltenden Spannungen im Kaukasus, wo sich zwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion zeigt, dass das „atlantische Bündnis“ Russland trotz intensivster Bemühungen um den Ausbau eines Ost-West-Transport-Korridors am Bauch Russlands entlang nicht daran hindern konnten, über Gasprom erneut präsent im globalen Energiemarkt zu sein.

Hier ist auch anzumerken, dass „Ehlers Artikel zu kritisieren“ in der Tat schwierig ist, wie Dr. Dr, Umland in seiner Replik richtig beklagt, wenn man nicht auf die Argumente eingeht, die von Ehlers für die Tatsache vorgebracht werden, dass es Putin war, der Russland – anknüpfend an die ersten Maßnahmen einer „antiwestlichen“ Neuausrichtung Russlands durch Primakow nach der Krise 1998 – Schritt für Schritt als internationaler Partner wieder handlungsfähig gemacht hat, indem er die anarchisierten alten und neuen „Eliten“ des Landes auf Russlands Wiederaufbau orientierte. Dies, wie es bei Dr. Dr. Umland geschieht, nur unter der Rubrik „Nationalismus“ abzuhandeln, geht an der Sache vorbei, was nicht heißt, dass die in Russland zur Zeit zu beobachtenden fremdenfeindlichen Tendenzen zu verharmlosen seien. Dies aber ist, wie wir wissen, nicht allein ein russisches Phänomen. Tatsächlich war es am Ausgang der Jelzin Zeit, die so etwas wie einen  Selbstbedienungsladen der Privatisierung hinterließ, für das Überleben des Landes unabdingbar, einen – wenn auch immer noch brüchigen  – nationalen Konsens zu finden, in der Hoffnung auf einen Effekt, dass wieder Steuern, wieder Löhne, wieder Renten und andere soziale Leistungen auf unter Ebene gezahlt würden. Dieser Effekt einer Art Selbstdisziplinierung der zuvor außer Rand und Band geratenen „Eliten“ Russlands trat dann auch tatsächlich ein. Die Entwicklung der „Machtvertikale“, ebenso wie die Reduzierung der sich zu den Wahlen anbietenden Parteien von gut sechzig in der Zeit Jelzins auf eine überschaubare Zahl, die Einführung einer Selbstzensur in den russischen Medien gehört mit dazu. Dies alles sind zweifellos keine Schritte der Demokratisierung im Sinne einer funktionierenden formalen Demokratie; es waren Schritte, die die den Menschen ein Minimum an handlungs- und Möglichkeiten der Selbstbestimmung im wirtschaftlichen und sozialen Alltag zurückgaben.

Entscheidend ist die Frage, wie oben schon angemerkt, ob Medwedew das Programm der relativen Liberalisierung, mit dem er angetreten ist, jetzt tatsächlich umzusetzen in der Lage ist. Dies aber ist eine Frage, die nicht nach westlichen Maßstäben und nicht nur theoretisch zu diskutieren, sondern im Lande selbst und nach dessen Maßstäben zu untersuchen ist. Hinzu kommt, dass dieselben Fragen, verschärft und nunmehr unübersehbar geworden durch die globale Wirtschaftskrise, auch an westliche Demokratien zu stellen sind.

Bleiben am Ende noch ein paar Äußerungen Dr. Dr. Umlands, die eine weitere Debatte lohnen könnten: So seine Sicht, das Grundproblem russischer Geschichte sei die „Allgegenwärtigkeit der staatlichen ‚Machtvertikale’“. Klingt einleuchtend, wenn man an die Geschichte der russischen Selbstherrschaft denkt, die in der KPdSU ihre Fortsetzung fand und auch jetzt wieder durchbricht. Es ist dies aber nur die eine Seite, die zudem ohne nähere Auseinandersetzung mit den Bedingungen kritisiert wird, die ursächlich dafür sind. Vollständig wird das Grundproblem Russlands erst sichtbar, wenn die Polarität von Zentrum und Peripherie, von bürokratischer Lenkung und lokaler gemeinwirtschaftlicher (früher vor allem dörflicher) Wirtschaft ins Auge gefasst wird. Marx und Engels charakterisierten diese Grundstruktur des russischen Lebensraumes in Ermangelung einer genaueren Analyse seinerzeit in Anlehnung an ihrer Untersuchungen der indischen Gesellschaft als „asiatische Produktionsweise“. Diese sei dann gegeben, wenn eine gemeineigentümliche dörfliche Grundstruktur durch eine zentralistische Bürokratie verwaltet und beherrscht werde, die von diesen Dörfern lebe. Für die russische Geschichte gilt dies in extremen Maße: Selbstherrschaft plus Dienstadel und Kirche auf der einen Seite, auf der anderen die von dieser Bürokratie verwalteten, über weite Strecken der alten russischen, unter Stalin auch der neueren Geschichte geradezu versklavten Dörfer. Diese Grundstruktur der russischen Gesellschaft hat sich durch alle Modernisierungsschübe ihrer Geschichte hindurch immer wieder auf neuer Ebene durchgesetzt. Die Frage erhebt sich, ob die aktuelle Modernisierung einen Schritt darüber hinaus schafft. Das ist Russlands Grundfrage.

In diesem Zusammenhang scheint mir auch die Sicht Dr. Dr. Umlands, die „jüngeren Machenschaften des KGB-FSB und weniger die ‚russische Tradition’“ seien der „Hauptgrund für die gescheiterte russische Demokratisierung“ wesentlich zu kurz zu greifen. Erstens ist die „Demokratisierung“ Russlands noch keineswegs gescheitert, sondern hat vor dem Hintergrund der skizzierten Geschichte und auf Grundlage der soeben erfolgten Stabilisierung durch Putin noch mehrere Runden vor sich und zweitens ist der FSB nicht die Ursache der Zentralisierung in Russland, sondern eines ihrer Produkte. Die Ursache liegt zweifellos in der „Tradition“, wenn man unter Tradition nicht nur folkloristische Äußerlichkeiten versteht, sondern die geschichtliche Gewordenheit des sozio-kulturellen Gefüges der russischen Gesellschaft zwischen Asien und Europa, zwischen Zentrum und Peripherie, Selbstherrschaft und Dorf, um nur einige der dualen Pole zu nennen, die für Russland charakteristisch sind.

Richtig weist Dr. Dr. Umland dagegen darauf hin, dass bei den Ereignissen um die Auflösung des Volksdeputiertenkongresses (den ich zugegeben allzu umgangssprachlich unter „Duma“ in den Text eingeführt hatte) die Nazi-Truppe der Barkaschowzis ein unrühmliche Rolle gespielt haben, was natürlich die Motive der Abgeordneten von einer sehr undemokratischen Seite her beleuchtet. Da habe ich keinen Widerspruch zu Dr. Dr. Umlands Darstellung der Vorgänge. Das Anwerben der Barkaschowzis durch die damaligen Deputierten ist aber vermutlich kein Argument, mit dem irgendetwas zu beweisen wäre. Es zeigt sich hier vielmehr ein grundlegendes Problem des nicht – oder zumindest recht anders als im Westen – entwickelten gesellschaftlichen Diskurses in Russland: So wie 1993 die Barkaschowzis die Abgeordneten des Volksdeputiertenkongresses gegen die neue Macht unterstützten, so verbündet sich heute der von der Mehrheit der Westmedien als Vertreter d e r  demokratischen Opposition gehandelte ehemalige Schachweltmeister Gary Kasparow mit den Nationalbolschewiken des Schriftstellers Limonow oder auch dem Chef des Verbands sowjetischer Offiziere, Ex-General Alexej Fomin und anderen.

Auch Alexander Dugins Karriere muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Mit seiner klerikal-faschistischen Grundorientierung war Dugin in den ersten Perestrioka-Tagen und auch noch zu Jelzins Zeiten marginalisiert; mit der Krise des Liberalismus, d.h., mit der Verwandlung der Privatisierung in eine Prichwatisierung, der versprochenen Demokratisierung in soziale Verelendung gewann Dugin schon unter Jelzin zunehmenden Boden, nach Putins Antritt fand er Zugang zum Präsidentenapparat. Stimmt. Aus dieser Tatsache lässt sich jedoch keine nationalistische Politik Putins ableiten, eher eine Erkenntnis über die pragmatische Natur der Putinschen Politik, der nach allen Seiten gleichermaßen „think tanks“ zu sich heranzog. Dugin fand seinen Zugang als Berater über den kommunistischen Dumapräsidenten Selesnjow, in ähnlicher Weise arbeiteten Mitglieder der KPRF, Liberale wie auch andere Parteilose die einen formal, die anderen informell am Apparat.

Damit möchte ich meine Ausführungen für dieses Mal schließen, obwohl ich mir bewusst bin, auf viele Fragen noch nicht eingegangen zu sein. Sie müssen für ein anderes Mal offen bleiben. Nur gegen eine der von Dr. Dr. Umland vorgebrachten Spitzen muss ich mich am Ende doch noch verwahren, nämlich die, ich hätte die „Rhetorik“ der Putinschen Rezentralisierung reproduziert, wenn ich z. B. vom „faulen Frieden“ in Tschetschenien spräche.

Stellen wir klar: Dieser Frieden war oberfaul, brüchig und hat dementsprechend nicht lange gehalten. Die Vereinbarungen zum Wiederaufbau wurden weder von der Moskauer Zentrale, noch von tschetschenischer Seite eingehalten. Tschetschenien entwickelte sich nach dem „Friedensschluss“ von 1996 zum politischen und moralischen Niemandsland, in das sich kein Journalist mehr traute aus Angst für Lösegeld gekiddnapped zu werden. Auch der jetzige Friede ist noch nicht viel mehr als das Ende größerer Kampfhandlungen. Dies, wie die ganze grauenhafte Geschichte des ersten und des zweiten tschetschenischen Krieges wie auch der Separationskriege um Berg Karabach, Abchasien, Südossetien und Transnistrien gleich nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 ist ein weiteres Kapitel der jüngeren russischen Geschichte, bei dessen Darstellung man nicht mit Argumenten Pro-Jelzin und Contra-Putin hinkommt. Darin wird mir vermutlich auch Dr. Dr. Umland nicht widersprechen wollen. Insofern kann es bei dieser kleinen Richtigstellung bleiben. Im Übrigen ist die Entwicklung in Tschetschenien ein Thema, das uns leider auch in Zukunft beschäftigen wird, solange im Kaukasus keine Lösungen gefunden werden, die Konkurrenz um den Zugriff auf die kaukasischen und zentralasiatischen Öl- und Gasressourcen zwischen USA, EU und Russland friedlich im Einvernehmen mit den dort lebenden Völkern zu regeln, statt sie für die jeweils eigenen Interessen zu instrumentalisieren.

Veröffentlicht in : Eurasisches Magazin

Gas-Russland und ÖL-NATO

Der Ton wird rauer
Gas-Russland und Öl-NATO
Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

(Schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kasseler Friedensforum: „Die Welt nach Bush“, vom 5. – 7-.12.2008)

Kooperation oder Konfrontation mit Russland? Um diese Fragen kreisen die aktuellen politische Debatten in der Europäischen Union und in der NATO. Der Krieg im Kaukasus und die Finanzkrise fließen in einer Bewegung zusammen, in der die Welt neu gestaltet wird. Von „globaler Perestroika“ spricht Michail Chodorkowski dieser Tage, in Sibirien einsitzender ehemaliger Öl-Zar Russlands.
Recht hat er – was den globalen Wandel betrifft, wenn auch seine Erwartungen einer neo-sozialistischen Wende ein wenig voreilig klingen. Perestroika, die Krise der Sowjetunion, genereller des Sozialismus, die manche für einen endgültigen Sieg des Kapitalismus hielten, ging der Krise der kapitalistischen Länder nur voran. Es sind zwei Stufen einer globalen Wachstumskrise des Industrialismus. Ihr Wesen liegt im Übergang von der beschleunigten globalen Expansion des Kapitals in eine Phase der Konzentration, der Rationalisierung und der Intensivierung. Diese Phase ist bestimmt durch einen sich verschärfenden Kampf um den privilegierten Zugriff auf die noch verbliebenen fossilen Ressourcen. Sie sind die Basis der gegenwärtigen industriellen Zivilisation und zugleich unersetzbarer Ausgangsstoff für die Entwicklung einer nicht mehr fossilen Energieversorgung von morgen. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund einer exponentiell wachsenden Bevölkerung unseres Globus. In der Frage, wie der aktuelle Zugriff auf Ressourcen organisiert und wie der wachsende Energiebedarf der Zukunft auf dieser Basis entwickelt werden kann, entscheidet sich die Zukunft der menschlichen Gesellschaft.
Zwei Strategien stehen sich in dieser Frage gegenüber:
Auf der einen Seite forcieren die USA die Entwicklung der NATO zur Energie-NATO. Angestoßen vom EU-Neumitglied Polen wurde diese Forderung von US-Senator Luger erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend damit, Russland auf einen Rohstoff-Lieferanten zu reduzieren und seinen politischen Einfluss zu isolieren. Die Strategie fügt sich in das unipolare Konzept der US-amerikanischen Hegemonialordnung ein, wie es von Sbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ entwickelt wird.
Dem steht Russlands Vorschlag gegenüber, über Gasprom eine weltweite kooperative Vernetzung von Energie-Lieferanten und Energieverbrauchen zu schaffen. Der deutsche Außenminister Steinmeier griff diesen Impuls auf der Münchner NATO-Tagung 2007 unter dem Stichwort einer Energie-KSZE auf. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferanten und Rohstoffverbrauchern, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Es fügt sich im Übrigen in die seit Gorbatschow in der russischen Außenpolitik entwickelten Vorstellungen einer multipolaren Weltordnung ein.
Entstehung der kaukasischen Eskalation

Die Geschichte der genannten Konzepte ist die Geschichte einer Eskalation. Sie hat mit dem 4-Tage-Krieg in Georgien inzwischen einen kritischen Punkt erreicht und wird zu weiteren Explosionen führen, wenn keine Lösung gesucht und gefunden wird: Seit 1991 bemüht sich das „atlantische Bündnis“ unter Führung der USA aggressiv um die Neuaufteilung des zentralasiatisch-kaukasischen Raumes, in demnach Auflösung der UdSSR kurzfristig ein, von westlichen Strategen so genanntes Machtvacuum entstanden war. Dabei ging es vorrangig um den Zugriff auf Erdöl und Erdgas, die in diesem Raum konzentriert sind. Der führende US-amerikanische Stratege Brzezinski spricht in seinem Buch vom „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf das die USA sich den Zugriff sichern müssten. Kernstück der daraus entwickelten Strategie wurde der Ausbau eines Transportkorridors, auf dem Öl und Gas unterhalb des Bauches von Russland von Ost nach West befördert werden könnten, ohne durch russische, aus der Sowjetzeit noch vorhandene Röhren gehen zu müssen. Das bedeutete, Russland von Zentralasien, vom Süd-Kaukasus und vom Iran zu trennen, den russischen Schwarzmeerhafen Novorossisk, die Pipelines durch Tschetschenien zu umgehen.
Die EU beteiligte sich an dieser Strategie mit den Programmen TACIS, INOGATE und TRACECA, über die Milliarden in den Ausbau der Ost-West-Transport-Infrastruktur von Usbekistan bis Europa flossen.
TACIS, das ist die Abkürzung für „Technical assistance to the commonwealth on independent states“, INOGATE für „Interstate Oil and Gas Transport to Europe“, TRACECA für „Transport Corridor Europe-Caucasus-Central Asia“. Die drei Programme sind ausgelegt als Aktionsbündnisse mit den aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten Zentralasiens, des Kaukasus und des Balkan (selbst Griechenland partizipierte) – nur Russland wurde expressis verbis von Beratungen und Teilhabe an Bauvorhaben ausgegrenzt.
Wichtigstes Ergebnis dieser Programme waren drei neue Pipelines, die unter Umgehung der bis dahin genutzten sowjetischen Transportwege gebaut wurden:
# Öl von Baku in Azerbeidschan zum Schwarzmeerhafen Supsa – seit 96 in Betrieb,

# Öl von Baku über Tiblissi nach zum Mittelmehrhafen Ceyhan in der Türkei – „BTC“ genannt nach den drei Städtenamen, seit 2005 in Betrieb;

# Gas von Baku über Süd-Europa in die EU -„Nabucco“- geplant ab 2012.

Nicht von Erfolg gekrönt war der US-Plan, eine Pipeline durch Afghanistan in den Persischen Golf zu führen. Der in den 90er Jahren gemachte Ansatz blieb in den Kämpfen mit den Mudjaheddin stecken. Auch die neueren Pläne, die von Sbigniew Brzezinski kürzlich wieder ins Gespräch gebracht wurden, werden nur erfolgreich umgesetzt werden können, wenn Afghanistan schnell „befriedet“ wird.
Zeitgleich zur Entwicklung des Ost-West-Transportkorridors unternahmen westliche Öl-Konzerne den Versuch, den innerrussischen Öl- und Gas-Markt zu „liberalisieren“, „für den Weltmarkt zu öffnen“, kurz, unter Kontrolle westlicher Konzerne zu bringen. Das geschah zum einen über Einflussnahme auf den seit 1991 privatisierten russischen Öl-Markt. Der nach-sowjetische private Öl-Konzern YUKOS wurde bereits von New York aus geleitet. Yukos-Chef Chodorkowski stand vor seiner Verhaftung und vor der gerichtlichen Auflösung des Konzerns kurz vor dem Verkauf von Mehrheitsanteilen an US-Texaco.
Es geschah zum Zweiten über Versuche der EU, Russland über Verhandlungen zur Europäischen Energiecharta, über ein gesondertes Kooperations- und Partnerschaftsabkommen und die Entwicklung einer „strategischen Partnerschaft“ zu einer „Liberalisierung“ des Öl- und Gasmarktes zu kommen.
NATO-Erweiterung und EU-Erweiterungen flankierten diese Strategie der Einkreisung Russlands, gepuscht von den USA; die EU konnte, sehr zum Ärger der USA keine klare einheitliche Linie zur Energiepolitik gegenüber Russland finden, sondern schwankte immer wieder zwischen aktiver Beteiligung an der US-Einkreisungspolitik und langfristiger Kooperation im Rahmen einer strategischen Partnerschaft. – was u.a. dazu führte, dass die Nabucco-Pläne nur zögernd voran kamen und kommen.
Russlands Antwort

Nach Auflösung der Sowjetunion und Einleitung der Schock-Therapie der Totalprivatisierung war Russland dieser Strategie zunächst weitgehend ausgeliefert. Aus dem Gas-Ministerium der Sowjetzeit entstand Gasprom als eine undefinierbare Mischung aus alten sowjetischen und neuen privatwirtschaftlich genutzten Strukturen. In der Bevölkerung galt diese Organisation zu dieser Zeit als Selbstbedienungsladen der Gaspromfunktionäre. Die Ölindustrie wurde zum Privateigentum weniger Oligarchen, verquickt mit ausländischem Kapital.
Mit der Krise 98, als der IWF sich weigerte Russland mit Krediten aus der Patsche zu helfen, bzw. für Russland unannehmbare Bedingungen stellte, begann Russland sich wieder auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Die wesentlichen Schritte sind schnell aufgezählt:
# 2002 Reform Gasproms zum internationalen Multi. Die korrupten Funktionäre der 90 Jahre werden durch Vertraute Putins ersetzt, Gasprom zu einem politischen Instrument des Staates und einer Stütze des Budgets entwickelt.

# 2003/4 mit der Verhaftung Michail Chodorkowskis und der Auflösung des YUKOS-Konzerns nimmt der russische Staat auch die größten Teile der Öl-Wirtschaft wieder unter Kontrolle.

# 2005/6 wird am Plan der Ostseepipeline erkennbar, dass Gasprom die Strategie einer aktiven Vernetzung des russischen Energiemarktes mit der EU verfolgt; mit Kasachstan und Turkmenistan werden alte Verbindungen aktiviert.

# am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline („South-Stream“) zusammen : Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga (bei Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen .

# 2008 geht es Schlag auf Schlag: Vertrag zum Bau der „South-Pipeline“ mit Serbien im Januar 2008 , mit Ungarn im Februar , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an der“Nabucco“Pipeline als auch an „North-Stream“ beteiligen. Ein Joint Venture von“Nabucco“und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Transmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“

Im Juli 2008 offeriert Gasprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. Gasproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom such auch nach Osten : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Ebenfalls im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein. Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“ , d.h. ein umfassendes Netz von der Förderung bis zum Endkunden aufzubauen.
Kooperation contra Konfrontation

Zum Gipfel der G8 in St. Petersburg im Mai 2006 legte Russland den Vorschlag vor, eine globale Energiepolitik zu entwickeln. Im Vorfeld des Treffens hatte Russland angekündigt, sich als Garant einer globalen Energieordnung ins Spiel bringen zu wollen. Die teilnehmenden westlichen Staaten, allen voran die USA, aber auch Deutschland brachten schwere Bedenken gegen Russlands „Anmaßung“ vor und kündigten an, ihrerseits Beschlüsse zur Liberalisierung des Energie-Weltmarktes durchsetzen zu wollen. So galt das G8-Treffen allgemein als „Energie-summit“, von dem globale Entscheidungen, zumindest aber schwere Unstimmigkeiten und Konfrontationen erwartet wurden. Im Ergebnis verabschiedete der Gipfel überraschend einen „Aktionsplan“ zur „globalen Energiesicherheit“, in dem alle Widersprüche in einem einstimmigen Programm aufgehoben schienen: Die G-8-Staten vereinbarten „offene und transparente Märkte“, „faire Investitionsbedingungen“, einschließlich „effektiven Rechtsschutzes“, sie verpflichteten sich zu den Zielen der „Energie-Einsparung, der Energie-Effizienz, der erneuerbaren Energien, des umweltschonenden Einsatzes von Energien.“ Zur Krönung hieß es auch noch: „Dem Zugang von umweltfreundlichen, erschwinglichen und verlässlichen Energiedienstleistungen als zentralem Aspekt der Armutsbekämpfung wird eine wichtige Bedeutung beigemessen.“ Statt der Konfrontation schien Kooperation angesagt.
Nur ein halbes Jahr später, 26.11.2006 forderte US-Senator Luger beim NATO-Gipfel in Riga die Entwicklung einer Energie-NATO, die die westlichen Energie-Abhängigkeiten gegenüber möglichen Erpressungen durch Russland entgegenwirken müsse. Luger verglich die mögliche Erpressung, die aus einer Einstellung der Gas- oder Öllieferungen hervorgehen könnte, mit einer militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration und forderte für diesen Fall die Anwendung des § 5 des Bündnisvertrages – also die Ausrufung des Bündnisfalles innerhalb der NATO.
Seit der NATO-Sicherheitstagung 2007 in München stehen sich beide Konzeptionen als Forderung nach einer „Energie-NATO“ einerseits und „Energie-KSZE“ andererseits gegenüber. Die „Energie-NATO“ wird allen voran von den Polen und von den USA gefordert und die Debatte darum in der NATO forciert. US-Think-Tanks und Sonder-Konferenzen der NATO befassen sich seitdem in zunehmendem Maße in intensiven Debatten und Schulungen mit der Fragestellung.
Für Eine „Energie-KSZE“ wirbt der deutsche Außenminister Steinmeier – und selbstverständlich GASPROM, das die Entwicklung einer globalen Vernetzung der Produzenten von Energiestoffen und Verbrauchern zum strategischen Programm erhoben hat. Die EU ist in der Frage gespalten.
„Energie als politische Waffe“

Die Erfolge Gasproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für die Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Auch die mögliche Gas-Oper geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“-Gesetz.
„Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“
Aussagen wie, Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“ , und ähnlicher Wahnwitz begleiteten diese Propaganda in den deutschen Mainstream-Medien.
Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gasproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Aserbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblissi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der“Nabucco“Pipeline gedient“ werde.
Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache liege darin, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“
Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Pipeline bombardieren wollen.
Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“ , habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der in erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“.
Gebremste westliche Alternativen

Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und kritisch konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde.
Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen „Nabucco“ und „South-Stream“ liege in der Frage der Eigentümer: „Nabucco“ werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, der ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“
Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn Turkmenisches und Kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ von Noworossisk durchs Schwarze Meer nach Samsung zu verlegen. Kapazitätsverluste für „Nabucco“ wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novorossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossetien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen.
Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmenisches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.
Wie sehr der Aufruf Brzezinskis Russland zu isolieren von Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen, die nach dem Ende der Kämpfe in Georgien – höchst widerwillig – bekannt gab, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom'“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“
Verhängnisvoll? – ja, wenn „BTC“- und „Nabucco“-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von „Nabucco“, „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, das auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll. Ökonomische und politische Vernunft spricht für solche und ähnliche Lösungen vernetzter Nutzung der noch vorhandenen fossilen Ressourcen – solange keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind; nur bei kooperativer, friedlicher, nachhaltig orientierter Nutzung der heute noch benötigten und heute noch vorhandenen fossilen Ressourcen ist eine Zukunft jenseits dieser Ressourcen überhaupt denkbar.
Mit Blick auf die angeblichen Gefahren, denen eine friedliche Perspektive durch eine russische Dominanz ausgesetzt sein könnte, gab Vizevorstandschef von Gazprom Alexander Medwedew, Mitglied des Aufsichtsrates von Gazprom der Presse im Sommer 2007 eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom‘ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risikos enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird.“ Die Frage ist nur noch, wie die gegenwärtige „globale Gemeinschaft“ zu einer Gemeinschaft ebenbürtiger Partner wird. Es ist die Frage danach, wie aus einer „Koalition der Willigen“ unter US-Dominanz die kooperativ handelnde Gemeinschaft einer multipolaren Welt wird.
Kai Ehlers

Der Ton wird rauer Gas-Russland und Öl-NATO Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

(Schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kasseler Friedensforum: „Die Welt nach Bush“, vom 5. – 7-.12.2008)
Kai Ehlers


Liebe Freunde, liebe Freundinnen, Ziel dieses Beitrages ist es, über den bloßen Wunsch nach Veränderung hinaus, weiterführende Argumente dafür zu liefern, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen heute keine Utopie mehr ist, oder wenn eine Utopie, dann eine konkrete, die zu verwirklichen ist und das dies angesichts der Finanzkrise umso aktueller ist.
Zweites Ziel des Beitrages ist, sich der Frage weiter zu nähern, wie das geschehen kann, wenn Grundsicherung nicht nur als monetärer Vorgang verstanden wird.

Die Ausgangssituation ist: Wir erleben heute eine Intensivierung der Arbeit, eine enorme Steigerung der Produktivität, allerdings auf der Basis fossiler Energieträger und unter der Voraussetzung, dass neue Wege der Energieversorgung im Zuge dieser Intensivierung gefunden werden. Hier könnte, wenn das nicht gelingen sollte, ein kritischer Einbruch in der Entwicklung der Menschheit liegen, denn gleichzeitig vermehrt sich die Weltbevölkerung weiterhin exponential. Aus dem Zusammentreffen beider Bewegungen ergibt sich die Krise der Globalisierung, die wir heute erleben.
Für den methodischen Ansatz zum Verständnis dieser Entwicklung macht es Sinn, die Begriffe zu aktualisieren, die Karl Marx seinerzeit in den Frühtagen des Kapitalismus gefunden hat: Die Produktivität schreitet voran, aber ihre Entwicklung wird durch die bestehenden Produktionsverhältnisse behindert. Dabei ist unter Produktivität im Weiteren die Fähigkeit zur Wertschöpfung zu verstehen, unter Produktionsverhältnisse die rechtliche Organisation des Lebens, die bestehenden Eigentums- und Besitzverhältnisse.
Konkret: Produktivität heute bedeutet Bildung von Kernbetrieben und Vernetzung der Produktion durch Auslagerung von Teil- und Zulieferbetrieben, sowie Einzelarbeiten, nicht zuletzt auch intellektuellen. Es bedeutet weiterhin Reduzierung der physischen Arbeit, Einsparung, vermehrte Freisetzung von Arbeitskräften relativ zur wachsenden Produktivität.
Vernetzung bedeutet dabei zugleich, dass das, was heute Fremdversorgung genannt wird, also die gegenseitige Versorgung über den Markt, zunimmt, die Fähigkeit und Möglichkeit der Eigenversorgung jedoch schwindet. Mehr noch, die materielle Basis und die Fähigkeiten zur Selbstversorgung werden systematisch zerstört. Ergebnis ist eine wachsende gegenseitige Abhängigkeit, in marxistischen Kategorien ausgedrückt, eine zunehmende Vergesellschaftung von Produktion und Konsumption, modisch formuliert, eine zunehmende globale Interdependenz.
Weiter: Die Produktionsverhältnisse sind heute durch das Privateigentum an Produktionsmitteln bestimmt; der Zweck des Produzierens – entgegen dem realen Effekt – ist aber nicht die gegenseitige Versorgung, also Fremdversorgung, sondern ganz wie Adam Smith es seinerzeit beschrieb, das private Gewinnstreben, aus dem der Markt resultiert, Profit um des Profites willen. Gegenseitige Versorgung ist unter heute den herrschenden Verhältnissen nur ein Abfallprodukt. Aber auch die traditionelle Selbstversorgung verwandelt sich; sie nimmt faktisch die Form der abstrakten Selbstvermehrung des Kapitals an.
Die Überschüsse aus gesellschaftlicher – arbeitsteilig, kollektiv und gemeinschaftlich organisierter – Arbeit werden nicht gesellschaftlich verfügbar gemacht, sondern privat genutzt. Sie werden nicht für die bewusste Veredelung der unbeabsichtigt aus dem Gewinnstreben hervorgehenden Fremdversorgung in eine allgemeine, planmäßige Grundversorgung aller genutzt, sondern gehen allein in die Selbstvermehrung des Kapitals ein. In der Finanz-Spekulation findet diese Realität ihre Spitze – Verselbstständigung der Selbstvermehrung des Kapitals, die sich von der gesellschaftlichen konkreten Produktion nahezu vollkommen löst. Überflüssiges, frei vagabundierendes Kapital.

Immer mehr „Überflüssige“

Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass relativ zur wachsenden Produktivität immer weniger physische Arbeitskraft gebraucht wird. Trotz Ausweitung der Produktion im globalen Maßstab sind immer mehr Menschen als Produzenten „überflüssig“. Als Konsumenten werden sie jedoch gebraucht und werden daher systematisch unfähig gemacht sich selbst zu versorgen, in Abhängigkeit vom Fremd-Konsum gebracht. In sog. Entwicklungs- oder Schwellenländern ist das besonders krass zu erkennen, wo die traditionellen Selbstversorgungskulturen vor aller Augen zerstört werden. Eine andere Seite desselben Prozesses vollzieht sich auf höherem Niveau jedoch auch immer noch in den Metropolen, wo die Abhängigkeit die Form des Weg-Werf- und Fast-Konsums annimmt, der durch leichte Kredite aus der Finanzblase ermöglicht wird. Ergebnis ist auch hier eine zunehmende Abhängigkeit des Einzelnen von industriellen Fertigprodukten und eine wachsende Unfähigkeit sich selbst zu versorgen. Zusammen mit dem weiterhin exponentiell ansteigenden Wachstum der Weltbevölkerung ergibt das eine wachsende Zahl von Marginalisierten, die keine Möglichkeit der eigenen Versorgung mehr haben. Globalisierte Arbeitslosigkeit entsteht, modernes Sklavenwesen, mit dem Unterschied, dass der klassische Sklave in der Regel zumindest grundversorgt war.

Not-Massnahmen…

Diese Situation kann durchaus auf längere Dauer aufrechterhalten werden – ideologisch, gewaltsam, indirekt oder direkt, durch Bürokratie, Justiz, Polizei oder auch Militär. Selbst die Ausgabe von Unterstützungsgeldern, also Sozialhilfe, Einführung von Mindestlöhnen, staatliche Almosen für die Armen und dergl. sind zunächst nur Mittel zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse. Sie sind notwendig um den Konsum aufrechtzuerhalten. Als Kaufscheine, die zum Konsum berechtigen, als jederzeit widerrufbare Ausnahmegenehmigungen, die gegen Wohlverhalten ausgegeben werden, sind sie die unauffälligste Lösung, die den zu erwartenden „Crash“ durchaus eine Weile hinauszögern können. Alle diese Maßnahmen aber sind gleichbedeutend mit einer Nicht-Nutzung der heute gegebenen Entwicklungspotentiale, der Nicht-Nutzung der „überflüssigen“, freigesetzten Kräfte, wie auch der Möglichkeiten der weiteren Intensivierung der Produktion – wie auch der Nicht-Nutzung der Kapitalien, die keine Anlage in der Produktion mehr finden.
Stattdessen verschärft eine solche Entwicklung, in der sich das Kapital ein Heer arbeitsloser Konsumenten hält, den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Kern-Gesellschaft und Marginalisierten in katastrophaler Tendenz: Zunahme des unproduktiven Kapitals, überbordende Spekulation, Stillstand der Modernisierung, Zerstörung, Krieg. Am Horizont einer solchen Entwicklung steht die leerlaufende Produktions-Diktatur des Kapitals, die nur in dessen Selbstzerstörung enden kann.
Die gegenwärtige Finanzkrise treibt die skizzierte Entwicklung ins Extrem. Spekulation ist zwar ein „normaler“ Zug des Kapitalismus; im Zusammenbruch der Blase, die wir zur Zeit erleben, schrumpft das Kapital sich „gesund“; neue Rationalisierungswellen, Intensivierung der Produktion, weitere Entlassungen werden daraus hervorgehen. Die quantitativen Ausmaße der gegenwärtigen Finanzkrise und ihr globaler Charakter führen jedoch schon an die Grenze zu einer neuen Qualität, an der die Alternative von Selbstvernichtung des Kapitals in den Fesseln der bestehenden Produktionsverhältnisse, d.h., privaten Verfügungsgewalt über Produktions- und daraus folgend Finanzmittel, oder Übergang zu neuen gesellschaftlichen Organisationsformen sichtbar wird. In den sich abzeichnenden möglichen zukünftigen Verhältnissen werden die Produktionsmittel nicht mehr Privatbesitz sein und Banken werden zu gesellschaftlichen Organen, die Geld im Dienst und zum Nutzen der Gesellschaft und nicht nur zur Selbstvermehrung verwalten.

… und echte Alternativen
Der richtige, lebensfördernde, in der abgegriffeneren Formulierung gesagt, nachhaltige Schritt in der geschilderten Situation ist jedoch die Befreiung der Produktivkräfte durch Umwandlung der sozialen Ausnahmehilfen in ein bedingungsloses Grundrecht auf Existenzsicherung, sprich, die Einführung eines allgemeinen bedingungslosen Grundeinkommens, oder auch, allgemeiner gefasst, einer allgemeinen bedingungslosen Grundversorgung. Die Grundversorgung schließt die monetäre Grundsicherung durch ein individuelles Grundeinkommen mit ein, geht aber darüber hinaus in den Bereich allgemeiner sozialer und infrastruktureller Existenzsicherung und –fürsorge. Sie soll jedem Menschen die Möglichkeit geben, ohne Angst vor Existenznöten zu leben und seine Kräfte optimal zu entfalten. Der Gesellschaft soll sie den Weg öffnen, die Fessel der Selbstvermehrung des Kapitals zu sprengen und den Weg für dessen Modernisierung frei zu machen, wobei unter Modernisierung die Entwicklung einer Arbeits- und Lebensorganisation verstanden wird, die optimal an den Bedürfnissen des einzelnen Menschen in einer wachsenden Menschheit orientiert ist.
Soweit, so klar – und kein leeres Gedankenspiel, sondern ein notwendiger und begehbarer Entwicklungsweg, wenn die Richtung politisch gewollt wird. Aber man täusche sich nicht: Zur Verwirklichung dieses Weges muss der Staat von einem „geschäftsführenden Ausschuss des Kapitals“, der die private Nutzung der Überschüsse garantiert, in einen rechtlichen Garanten eines allgemeinen Grundeinkommens (bzw. einer wie auch immer gearteten allgemeinen Grundversorgung) verwandeln werden, der die Überschüsse der gesellschaftlichen Produktion verteilt. Diese Umwandlung ist nicht ohne seine grundlegende Transformation, insbesondere der Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft zu haben.
Für die Umwandlung stellen sich Fragen: Was geschieht, wenn es nichts zu verteilen gibt? Um etwas zu verteilen, muss ja zuvor etwas produziert worden sein. Was werden die „Überflüssigen“ tun, wenn ein Grundeinkommen eingeführt wird? Wie kommt das „überflüssige“ Kapital an die Empfänger/innen, wie wirklich damit arbeiten? Wie sehen die Schritte aus, die in Richtung der notwendigen Transformation führen? Generell: Wie kommen wir zu Verhältnissen, in denen Fremdversorgung und Eigenversorgung auf einem neuen Niveau wieder miteinander in Beziehung gebracht werden, statt – wie jetzt – in einem zerstörerischen Entweder-Oder auseinander zu driften? Fragen über Fragen, die vor allem anderen erst einmal an den ideologischen Grundfesten rütteln, in denen wir heute sozialisiert sind: Kapital, Lohnarbeit, individuelle Freiheit, Gemeinschaft. Alle diese festen Größen müssen neu durchdacht und auf ihre zukünftig mögliche Bewegung hin überprüft werden.
So wird eine Wirtschaft gebraucht, die nicht als Nebenprodukt, nicht aus Versehen, sondern bewusst mit Blick auf Fremdversorgung produziert, das beinhaltet: konsumorientiert, bedarfsorientiert, grundversorgungsorientiert und die entsprechende Organe einer Bedarfsforschung dafür entwickelt. Sie muss das gesellschaftliche Grundeinkommen arbeitsteilig produzieren und über soziale Organe verteilen. Das sind Kooperativen unterschiedlicher Größe, die Produktion und Konsum miteinander ausgleichen, Lebensgemeinschaften, Netze, Kommissionen, staatliche Verteilerstellen. Um diese zu leisten, müssen unsere bisherigen, z.T. leider auch bitter schlechten, Erfahrungen mit kollektiver Wirtschaft, Gemeinschaftszwang und Volksgemeinschaft aufgearbeitet werden.
Und es wird nicht nur Geld verteilt, es muss zunächst ein sozialer Grundstandard für die Allgemeinheit hergestellt, bzw. auch für die Zukunft garantiert werden. Erst auf dieser Grundlage wird berechenbar, wie hoch ein darüber hinausgehende individuelle Grundabsicherung, bzw. ein individuelles monetäres Grindeinkommen sein kann oder auch sein muss. Darüber hinaus müssen Kooperativen, Gemeinschaften, Netze sich zu eigenproduktiven Puffern entwickeln, die imstande sind soziales Leben zu entfalten und im Notfall Krisen aufzufangen. Auch hierzu sind historische Erfahrungen aufzuarbeiten, nicht zuletzt die soeben zugrunde gehenden Selbstversorgungsstrukturen der sog. Entwicklungsländer, bzw. auch die der russisch-sowjetischen Entwicklung.
Diese Entwicklung beinhaltet die Transformation der traditionellen Selbstversorgung in eine gemeinschaftliche, vernetzte Eigenproduktion mit Querverbindungen zu Handwerk, Industrie und allgemeiner Wirtschaft. Hier wird soziale Verantwortung und „Heimat“ hergestellt, wird Entwicklungsraum für individuelle Initiativen freigesetzt, soziale, kulturelle, geistige Erneuerung geschaffen.
Diese Dreiheit von Wirtschaft, Gemeinschaft und Eigeninitiative nenne ich eine integrierte Gesellschaft, in der die Bereiche der Wirtschaft, der sozialen Organisation und der Kultur als selbstständige Souveränitäten wie drei voneinander getrennte, aber sich überschneidende Kreise aufeinander und miteinander wirken.

Ein neues Menschenbild
Hinter der skizzierten Entwicklungs-Erwartung steht ein Welt- und Menschenbild
das sich von dem gegenwärtigen herrschenden des „homo konsumens“ unterscheidet
und das ebenfalls „befreit“ werden will, soll und kann, soll heißen, das in seinen Keimformen bereits herausgebildet ist, nur erkannt, benannt und gefördert wurden muss.
Es ist die Welt der der Multipolarität, die das Entweder-Oder-Denken hinter sich lässt. Sie lässt sich, stark vereinfacht, in drei Begriffen skizzieren, die sich ebenfalls in vielfältigster Weise überschneiden und ineinander greifen: der mehrdimensionaler Mensch, die multikulturelle Gesellschaft, die mulitipolare Welt-Ordnung.
Der Weg dorthin ist nicht mit einem einzigen und nicht gewaltsam zu schaffen. Erst recht kann eine multipolare Ordnung sich nicht unter der Hegemonie eines einzigen Zentrums entwickeln, wie das nach der aktuellen Finanzkrise einige zu glauben scheinen, die jetzt von einer multipolaren Ordnung unter einem erneuerten „amerikanischen Traum“ sprechen. Erfolg auf dem Weg in eine multipolare, integrierte Gesellschaft kann nur Resultat eines vielgestaltigen Prozesses gleichberechtigter Kräfte sein, der dann und nur dann Wirkung haben wird, wenn seine einzelnen Elemente in eine bewusste Synergie gebracht werden.
Das heißt nicht zuletzt auch den Mut zu haben, die Frage des bedingungslosen Grundeinkommens mit der Frage nach der sozialen Verantwortung und der Frage nach dem Sinn des Lebens zusammenzuführen. Und es heißt, eine andere als die gegenwärtig bestehende imperiale Weltordnung und ihrer Ideologie für möglich zu halten.

Medwedes Jahresbotschaft

Moskauer Deutsche Zeitung 22 (245)

Wie bewerten Sie die Forderung Medwedews nach einer aktiven Rolle des Bürgers in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Ernsthafte Pläne oder leeres Gerede?

Meiner Meinung nach ist Medwedew – wie Putin vor ihm – in höchstem Maße daran interessiert, in Russland eine moderne Gesellschaft aufzubauen. Er will dabei russische Traditionen mit westlichen Standards, zum Beispiel im Management, verbinden. An der Ernsthaftigkeit seiner Absichten ist dabei nicht zu zweifeln.

Glauben Sie, ihm wird der Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft gelingen?

Ein Problem ist, dass in Russlands Geschichte Reformen immer von oben kamen. Das gilt auch für die neuere Entwicklung: Ob nun Perestrojka, Privatisierung oder Restabilisierung unter Putin – das haben immer einige wenige beschlossen und durchgesetzt. Dadurch ergibt sich auch für Medwedew der Widerspruch: Er will einen Mittelstand schaffen, kommunale Strukturen stärken, den Bürger zu mehr Aktivität animieren. Doch das alles funktioniert nur, wenn die Menschen dazu auch in der Lage sind. Deswegen muss erst einmal die Bildung verbessert werden, damit die Menschen überhaupt wissen, wovon die Rede ist. Es braucht einen auf Bildung fußenden, ehrlichen und offenen sozialen Dialog zwischen Regierung und Bürgern, damit die Menschen sich engagieren. Reformen können, müssen sogar von oben ausgehen, aber es müssen auch Impulse von unten kommen.

Stichwort Bürokratie: Was bedeutet Medwedews Kritik am bestehenden administrativen Apparat?

Einerseits hat er natürlich Recht, wenn er die Missstände in der Bürokratie anprangert. Anderseits ist der russische Staat historisch als bürokratische Verwaltungsstruktur angelegt. Sie ist Russlands Innovator, ausführendes Organ für alle Reformen und Triebkraft für Neuerungen. Sie hat sowohl die Perestrojka als auch die Privatisierung durchgeführt. Das ist die russische Art, einen Staat zu machen. Durch ihre enorme Machtstellung kommt es hierbei natürlich zu Wucherung und Korruption. Dass Medwedews zur Durchführung seiner Reformen also zunächst die Bürokratie erneuern will und muss, ist nur konsequent.

Viele sehen Medwedews verbalen Schlag gegen die Administration als Kritik an Putin, während dessen Regierungszeit die jetzigen Strukturen entstanden. Wendet sich der Präsident tatsächlich gegen seinen Vorgänger?

Ich sehe hier keinen Bruch zwischen Medwedew und Putin. Ganz im Gegenteil, die Kampfansage Medwedews gegen Korruption zeugt gerade von Kontinuität. Schon Putin prangerte dieselben Missstände an, und vor ihm Jelzin, und vor diesem Gorbaschtschow. Gerade weil die Bürokratie im russischen Staat eine so große Rolle spielt, muss sie immer wieder erneuert werden. Für Medwedews Pläne ist es hierbei abermals wichtig, dass nicht nur die Regierung, sondern auch die Administration in einen sozialen Dialog mit dem Bürger tritt. Das ist aber nicht gegen Putin  (oder alternativ : Putins Erbe – bitte nicht „System Putin“) gerichtet. Medwedew will die Bürokratie ja nicht abschaffen, sondern effektivieren, eben weil sie, wie schon gesagt, ein wichtiger Teil des russischen Staates ist.

Wie passt diese liberale Innenpolitik zu den außenpolitischen Drohgebärden Medwedews, etwa, was die Aufstellung von Raketen in Kaliningrad angeht?

Außenpolitische Drohgebärden? Wenn ich das schon höre! Sobald ein russischer Politiker den Mund aufmacht, schreiben die westlichen Medien , dass er „drohe“! Das Problem ist, dass im Westen ein krankhafter Anti-Putinismus herrscht. Er ignoriert komplett, dass die Russen seit Jahren konstruktive Vorschläge für eine multipolare Neuordnung der Welt machen, die eine klare Alternative zu den jetzt herrschenen Verhältnissen darstellen. Dabei handelt es sich um Maßnahmen zur Entmilitarisierung, nicht um Kriegstreiberei. Anstatt ein Ping-Pong-Spiel aus gegenseitigen Drohungen zu inszenieren, sollte der Westen sich lieber anhören, was der Inhalt dieser Vorschläge ist.

Glaubt man westlichen Medien, wird Medwedew ohnehin nicht mehr lange genug Präsident sein, um all dies durchzusetzen. Seinen Vorschlag zur Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten sehen viele als Zeichen der baldigen Rückkehr Putins…

Diese Logik verstehe ich nicht. Was macht es für einen Unterschied, ob ein Präsident fünf oder sechs Jahre im Amt ist? Wenn die Russen denken, dass ihre Politiker mehr Zeit brauchen, um Reformen durchzusetzen, dann brauchen sie sie eben. Auch was die Wiederkehr Putins angeht, verstehe ich nicht, wo das Problem liegt. Erstens hat er selbst gerade gesagt, dass es derzeit zu früh ist darüber zu reden.  Zweitens würde er sich, wenn er wieder als Präsident antreten wollte, wohl kaum an die Macht putschen wollen. Wenn die Wähler ihn aber als nächsten Präsidenten haben wollten, dann, bitte sehr, wäre es eben so.

GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation? veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

Über GAZPROM zu sprechen, heisst über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gasprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gasprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gasprom nützt, nützt Russland.. Gasprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA, Sbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden. Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gasprom. Was Gasprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, nach der Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte auf 50 Dollar pro Fass, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen. „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein. Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands. Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland. Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem Krieg in Georgien im August 2008 wieder heftig und her bewegt , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gasprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte. Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gasprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hat heute – hatte vor dem Finanzkrach – einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen. Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren. Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen. Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hin gewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gasprom und Rosneft um den russischen Ölmarkt sein. Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gasprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gasproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Djesterepublik, Serbien, selbst noch Georgien. Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren. Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie.“ Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht. Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“.

Blick zurück
Hier könnte die Darstellung zur Skizze des aktuellen Energiepokers übergehen, denn die Reaktionen auf diese Ankündigungen kamen prompt und sie fielen sehr schrill aus. Es wird aber gut sein, zuvor noch einen kurzen Blick in die Geschichte von Gazprom zu werfen, um besser zu verstehen, an welchem Punkt seiner Entwicklung der Konzern heute steht: Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“ Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf. Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen. André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“ charakterisierte den Konzern Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „eigen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“ Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft. Ein leitender Mitarbeiter von Gasprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“ „Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“, die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse. Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung. Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gasprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gasprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gasprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gasprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“ „Was Gazprom genau ist,“ wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“ Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“

Ein Korridor gegen Russland
Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen. Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinski´s Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen. Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe. Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am azerbeidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhaven Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden. Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013. In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien Ukraine Azerbeidschan, Moldawien und) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN
Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten. Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet. Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:

  • 2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipelene (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
  • Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien, erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Ekundungen“.
  • Beim Petersburger Treffen der G 8 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den Börsennachrichten vom 24.4. 2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
  • Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen : Sie soll vom russischen Schwarzmeerhaven Dschubga (Noworossisk) auf dem Grund des Meeres nach Varna an der Bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 2008 , mit Ungarn im Februar , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gasprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen. Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen. Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa. Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom such auch nach Osten : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation. Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.. Zudem rechne Gasprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“

„Energie als politische Waffe“
Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Ludger auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich. Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“, und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören. Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sog. „NOPEC“_Gesetz. „Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der Neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“ Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs Neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Azerbeidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für gerantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde. Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien“ (vor), „die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“ Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er u.a. damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen. Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, er klärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“

Gebremste westliche Alternativen
Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde. Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, der ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“ Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn Turkmenisches und Kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossteien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen. Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmensiches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen
Wie sehr der Aufruf Brzezinskis Russland zu isolieren von Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen, die nach dem Ende der Kämpfe in Georgien – höchst widerwillig – bekannt gab, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“ Verhängisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco, „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von North Stream und South Stream zeigen ebenfalls in diese Richtung. Okonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind. Muß die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab Vizevorstandschef von Gazprom Alexander Medwjedew, Mitglied des Aufsichtsrates von Gazprom der Presse im Sommer 2007 eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risikos enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird. Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind. Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de Kai Ehlers

veröffentlicht in „Hintergrund“, 21.11.2008

 

EU – Russland: Schluss mit Ping-Pong?

EU-Ratspräsident Sarkozy schlug auf dem EU-Russland-Gipfel in Nizza vor, demnächst Gespräche über einen Gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag mit Russland zu führen, statt sich weiter über Raketenstationierungen zu zerstreiten. Damit griff er, wie die FAZ korrekt berichtet, eine Idee des russischen Präsidenten Medwedew auf, der im Juni des Jahres angeregt hatte, einen neuen Vertrag über kollektive Sicherheit in Europa zu entwickeln. Sarkozy möchte diesen Plan nunmehr im Juni oder Juli 2009 beim nächsten Gipfeltreffen der OSZE beraten. Allerdings, schränkte Sarkozy ein, müssten auch die Amerikaner mit einbezogen werden. Das könne auf dem nächsten NATO-Gipfel im April 2009 geschehen.
Widerspruch zu diesem Vorschlag wurde nicht laut; die – bis auf die Stimme Litauens – geschlossene Zustimmung der EU-Mitglieder, ab sofort Sanktionsabsichten gegen Russland fallen zu lassen und in die Diskussion um die Entwicklung eines neuen Grundlagenvertrages zwischen EU und Russland einzusteigen, signalisiert eher allgemeine Bereitschaft auch diesen Plan gutzuheißen. Medwedew erklärte, er sei unter solchen Umständen in der Raketenfrage bereit zu einer „Null-Lösung“. Wäre nun in der Tat also nur noch Obama zu fragen?
Schön wär´s – zumindest als Ausgangspunkt. Außerhalb der Nizza-Diplomatie hört man jedoch Signale, die das schöne Bild stören: Die EU-Energiekommission legte soeben ein Strategiepapier vor, in dem sie die zukünftige Richtung der EU-Energiepolitik skizziert: Georgien sei als Transportkorridor nach dem Vier-Tage-Krieg keineswegs abzuschreiben, vielmehr müsse der Ausbau der Nabucco-Pipeline nun mit Volldampf vorangebracht werden; EU-Energiekommissar Andris Piebalgs reiste in dieser Angelegenheit in der letzten Woche nach Aserbeidschan und durch die Türkei. Aktive Diplomatie soll auch die Versorgung mit Gas aus Ägypten, Libyen, Algerien so in Gang bringen, dass Lieferungen von dort spätestens 2020 mit denen aus Russland gleichziehen können.
Der georgische Präsident Saakaschwili assistierte solchen Bemühungen im Funksender France Inter mit Bemerkungen wie: Seit Russland wieder begonnen habe „andere Länder zu erobern“, könne „das nicht einfach so wieder eingestellt werden, das wird fortgesetzt.“ Ein anderes Problem seien die Energielieferungen für Europa: „Sollte Aserbaidschan dem starken Druck Russlands nachgeben und einer Stationierung von 16 000 Soldaten zustimmen, wird man dem Alternativ-Korridor für die Öllieferungen ‚Adieu‘ sagen müssen. Von diesem Zeitpunkt an wird Russland 60 Prozent mehr Energie, Öl und Gas kontrollieren als heute.“
Mit wenigen Änderungen wiederholte er diese Argumentation am Donnerstagabend, nach seinem Treffen mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, im Fernsehsender Canal Plus und wenig später im Satellitensender France 24. Dabei verglich Saakaschwili die heutige Politik Russlands mit der Politik Hitlers und Stalins in der Tschechoslowakei, Polen und Finnland.
Die deutsche Kanzlerin Merkel empfing parallel zum Nizza-Gipfel den turkmenischen Staatspräsidenten Berdymuchammedow zu einem Staatsbesuch in Berlin. Neben Menschenrechten, wie immer bei solchen Treffen, ging es vor allem um turkmenisches Gas und Öl. Dazu ist daran zu erinnern, dass Turkmenistan erst vor wenigen Wochen einen langfristigen Liefervertrag mit Gasprom abgeschlossen hat. Das Gas soll nach Fertigstellung in die „South Stream“ eingespeist werden, die Gasprom zusammen mit italienischen, bulgarischen, griechischen, serbischen ungarischen und österreichischen Betreibern gegenwärtig in Konkurrenz zur Nabucco-Planung der EU selbst betreibt. Salopp gesagt: Der Kampf ist nicht vorbei. Er beginnt erst.
Als Russlands Ministerpräsident Putin ebenfalls dieser Tage erklärte, wenn die EU die Nordsee-Pipeline nicht haben wolle, „dann werden wir sie eben nicht bauen“, wurde dies in der westlichen Presse sogleich zur „Drohung“. Dem steht eine andere Meldung direkt entgegen, die besagt, das Gasprom und BASF einen langfristigen Vertrag zur gemeinsamen Erschließung neuer sibirischer Gasfelder abgeschlossen haben.
Hinter all diesen und weiteren ähnlichen Meldungen, die nur findet, wer die Medien aufmerksam studieren kann, wird eine weitere Zuspitzung der internationalen Konflikte auf die Frage der globalen „Energiesicherheit“ sichtbar. Zwei strategische Konzepte stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite die von den USA forcierte Entwicklung der NATO zur Energie-NATO, erstmalig auf dem NATO-Gipfel in Riga 2007 von US-Senator Luger öffentlich vorgetragen. Seitdem läuft innerhalb der NATO eine intensive Debatte um diese Frage. Die Entwicklung einer Energie-NATO wäre gleichbedeutend mit einer aktiven Isolierung Russlands.
Dem steht die Variante einer Energie-KSZE gegenüber, die vom deutschen Außenminister Steinmeier auf der Müncher NATO-Tagung 2007 ins Gespräch gebracht wurde. Die Grundidee darin ist, die Kooperation von Rohstofflieferant und Rohstoffverbraucher, konkret Russland und EU so weit zu steigern, dass eine untrennbare gegenseitige Abhängigkeit entsteht. Dieses Konzept zielt auf aktive Einbeziehung Russlands. Wofür wird die EU sich entscheiden? Zurzeit werden in der EU beide Strategien gleichzeitig verfolgt. So forderte der Generalsekretär der NATO soeben wieder die schnelle Einbeziehung der Ukraine in die NATO. Frau Merkel hält die Einbeziehung Georgiens und der Ukraine zwar für tendenziell richtig, erklärt sie aber nach wie für verfrüht. Es sieht alles so aus, als ob man in der EU auf ein Machtwort Obamas warte.
Vermutlich gibt es aber kein Entweder-Oder, sondern nur die weit größere Variante: Energiesicherheit nicht „atlantisch“ oder „eurasisch“ zu lösen, sondern, ganz abgesehen von der Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Energien, als wahrhaft globales kooperatives Verteilungssystem.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Georgien – Aus der Nähe betrachtet

Georgische Geschichte ist untrennbar mit der russischen verbunden. Russen und Georgier haben nicht nur jüngst aufeinander geschossen, sie streiten auch darum, wer wem im Laufe der Geschichte mehr zu verdanken hat und wer wen jetzt verraten habe. Russen streiten sogar mit Russen und Geogier mit Georgiern um diese Frage.  Gute oder auch schlechte Gründe gibt es auf beiden Seiten: Die einen weisen darauf hin, dass Russland Georgien vor dem Untergang als Nation bewahrt und zur kulturellen Blüte gebracht habe.  Die anderen erklären, der Zarismus, danach die Sowjetunion hätten Georgien zum Vasallen erniedrigt und unterdrückt; Russlands Vorgehen im Krieg um Südossetien sei nichts anderes als der Versuch, diese mit der Auflösung der Sowjetunion beendete Situation wiederherzustellen.
Wer diese Auseinandersetzung verstehen will, muss weit in die Geschichte des Kaukasus zurückgreifen: Der Kaukasus ist von Alters her Durchgangsraum der Völker zwischen Asien und Europa, ebenso zwischen der eurasischen und der afrikanischen Landmasse. Teils friedlich, teils im Krieg vermischten die Völker sich miteinander. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus heute, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch das „wilde Land“. Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Im Zentrum dieser Konflikte steht heute Georgien.
Unter den staatenbildenden Völkern des Kaukasus blickt Georgien, heute ein Gebiet von der Größe Schleswig-Holsteins mit einer Bevölkerung von ca. 4,5 Millionen Menschen, auf die längste Geschichte zurück. In vorchristlicher Zeit, so die georgische Geschichtsschreibung , bildete der Kaukasus einen einheitlichen Kulturraum. Im sechsten Jahrhundert entwickelten sich darin zwei georgische Königreiche als herrschende Mächte, Kolchis und Iberia. Mit Schmiedehandwerk, besonders einer hochstehenden Goldschmiedekunst, mit Wein, Getreideanbau, Imkerei, Rinderhaltung, Leinenproduktion waren Kolchis und Iberia wirtschaftlich hoch entwickelt. Sie standen in Verbindung mit den griechischen Kolonien an der Nordküste des Schwarzen Meeres. Für die Griechen wurde der Kaukasus so wichtig, dass sie ihn in ihren „mythischen Kosmos“ mit einbezogen. Den König Aietes der Argonautensage siedelten sie in Kolchis an; Prometheus sahen sie an einen Felsen im Kaukasus geschmiedet.
Im vierten Jahrhundert drang das Christentum in Kolchis und Iberia ein, gut 500 Jahre bevor es Russland erreichte. In den Jahrhunderten danach hatte das frühe Georgien wechselnde Angriffe der Römer, Perser, Byzantiner, Araber und Türken auszuhalten, die das Land immer aufs Neue verwüsteten. Im elften Jahrhundert gelang es georgischen Fürsten, das Land von türkischer, im zwölften dann auch von arabischer Vorherrschaft zu befreien. Unter dem König David IV. und der Königin Tamara Ende des 12. Jahrhunderts wurde Georgien zur beherrschenden Macht des kaukasischen Raumes zwischen Schwarzem und kaspischem Meer. Diese Hochblüte georgischer Kultur endete mit dem Sturm der Mongolen im 13. Jahrhundert, deren Herrschaft bis ins 14. Jahrhundert anhielt. Danach drangen Perser und Osmanen in Georgien ein, später noch einmal die Mongolen unter Timur Leng. Die ständigen Abwehrkämpfe brachten die georgische Kultur an den Rand des Unterganges. Das georgische Königreich zerfiel für Jahrhunderte in Kleinfürstentümer, Ethnien, Dörfer und Clans. Was das bedeutete, kann daran ermessen werden, dass noch im heutigen Georgien 26 Volksgruppen 23 verschiedene Sprachen sprechen.
Unter diesen Bedingungen, so kann man den georgischen Quellen übereinstimmend entnehmen , wandte Erekle II, König von Karti-Kacheti (Ostgeorgien) sich an Russland, das seit 1779 militärisch in den Kaukasus expandierte, um mit ihm einen Schutzvertrag abzuschließen. 1783 kam es zum „Georgiewsker Vertrag“. Georgien verpflichtete sich darin, keine Beziehungen zu islamischen Ländern zu unterhalten und erkannte die Oberhoheit und den Schutz des russischen Zaren an. Die Innenpolitik Georgiens sollte Angelegenheit des georgischen Königs bleiben. Russland stellte zwei Bataillone zum Schutz Georgiens zur Verfügung, verpflichtete sich aber, die territoriale Integrität Georgiens zu achten.
Mit der  Gründung der Festung Wladikawkas (Beherrsche den Kaukasus) 1784 wurde jedoch deutlich, dass Russland, das seit 1799 dabei war die kaukasischen Bergvölker zu unterwerfen, weitergehende Absichten für den Kaukasus hatte. Als die Perser 1795 erneut Georgien angriffen, blieb die russische Hilfe für das georgische Land aus. 1801 schickte Russland jedoch Truppen über den Kaukasus, setzte den georgischen König unter Bruch des Vertrages von 1783 ab und annektierte Ostgeorgien.  Im einem Manifest erklärte der russische Zar Alexander I. 1801, dass die Eingliederung Georgiens ins russische Reich “nicht zum Wachstum unserer Macht, nicht aus Habgier, nicht um die Grenzen des ohnehin schon größten Reiches der Welt auszudehnen“ erfolgt sei, sondern weil Russland die „Last des georgischen Zarentums“ auf sich genommen habe.
Von diesem Zeitpunkt an war Georgien Bestandteil des Zarenreiches, danach der Sowjetunion, nur unterbrochen durch eine kurze Periode der Unabhängigkeit nach der Revolution von 1917, nachdem  Georgien sich am 26. Mai 1918 zur unabhängigen Republik erklärt hatte. Am 25. Februar 2001 wurde es nach einem Sieg der Roten Armee über die menschewistischen Georgischen Truppen in die Sowjetunion eingegliedert, aus der es sich erst mit deren Zerfall 1991 löste. Das sind fast zweihundert Jahre gemeinsamer russisch-georgischer Geschichte. In ihr verhalten sich das kleine Georgien und das große Russland zueinander wie innere und äußere Matrioschka, die berühmte Puppe in der Puppe  – eigenständige Figuren, aber identisch in ihrer Lage zwischen Asien und Europa, identisch in ihrer Völkervielfalt, identisch in ihrer staatlichen Grundstruktur, die sich in der Polarität von Zentralstaat und Pluralität, ja, clanweise organisierten Anarchie bewegt, identisch in der patriarchalen Einheit von christlicher Kirche und Staat, später Partei, identisch in ihrer Sozialstruktur, in der das eigene Dorf, der eigene Clan, nicht der Staat die Lebenssicherheit bietet. Selbst das Phänomen einer „zweiten Ökonomie“ die berüchtigte realsozialistische Schattenwirtschaft, ist beiden aus einer grundsätzlich ablehnenden Haltung gegenüber einem säkularen profit- und effektivitätsorientiertem Denken gemeinsam; in der Sowjetunion übernahm Georgien dafür sogar die führende Rolle.  Nur kleinräumiger ist dies alles in Georgien, konzentrierter, extremer, immer auf Selbstbehauptung des nationalen Zentrums gegen äußere Angriffe und innere Zersplitterung orientiert. Es fehlt die Relativierung, die Russlands Autokratie, selbst der Stalinismus immer wieder durch die eurasische Weite erfuhr.  Georgien ist, so könnte man sagen, ein Konzentrat Russlands! Identifizierung und Abstoßung wechseln sich ab.
Politisch hat Georgien die russische, danach die sowjetische Herrschaft über den Kaukasus trotz der beständigen Träume der Georgier von eigener nationaler Selbstbestimmung stabilisiert. Man erinnere sich: Es war Georgien, das Stalin hervorbringen konnte. Er begann seine Laufbahn als Priesterschüler Iossev Bessarionisdse Dschughaschwili in Georgien. Auch sein Geheimdienstchef Berija kam aus Georgien. Er wurde als Sohn einer mingrelischen Bauernfamilie bei Suchumi in Abchasien geboren und begann seine Karrriere bei der georgischen Tscheka.  In der Politik dieser beiden flossen die Tradition der russischen Selbstherrschaft und georgisches Herrschaftswissen, das sich in der Auseinandersetzung mit der Völkervielfalt des Kaukasus herausgebildet hatten, zu einem autoritären Zentralismus zusammen.
Die Kämpfe um Abchasien und Südossetien stehen exemplarisch für diese Erfahrungen. Beide Völker wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich; 929 wurde es vom georgischen geschluckt. Als das georgische Königreich Ende des 15. Jahrhunderts zerfiel, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.  Mit dem „Georgiewsker Vertrag“ kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. 1918 wurde ein bolschewistischer Aufstand in Abchasien von Georgischen Menschewiki niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgischen Menschewiki besiegt hatte, wurden Georgien und Abchasien Bestandteil der Sowjetunion. Beide erhielten den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft.
Osseten und Georgier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Osseten, die sich erst im 18. Jahrhundert dort ansiedelten, wo sie jetzt leben, werden von den Georgiern als Einwanderer betrachtet. Die „Neuankömmlinge“ wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien hin und her geschoben; als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten). Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.
Das Ende der Sowjetunion ließ alle diese alten Konflikte aufbrechen und rückte eine Neuordnung des Kaukasus auf die Tagesordnung. Es begann mit Demonstrationen für eine abchasische Unabhängigkeit in Tiblissi 1989; sie wurden von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.   Im März 1991 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und ließ einmarschieren. Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinvali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer De-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinvali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen Saakaschwilis gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan.
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung GUUAM genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden. Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Politische Morde und rätselhafte Todesfälle trübten das Bild der rosenfarbenen Revolution. „Der Regierungschef Surab Schwania, Vertreter der armenisch-jüdischen Minderheit, wurde im Februar 2005 vermutlich ermordet. Der in Ungnade gefallene Verteidigungsminister Irakkli Okruaschwili sucht seit Ende 2007 in Westeuropa nach politischem Asyl. Der Medienmogul Otar Patarkazischwili verstarb unter mysteriösen Umständen Anfang 2008 in seiner Villa in London.“
Anfang November 2007 kam es zu Massenprotesten in Tiblissi, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakaschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte. Bleibt dennoch festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche an seinen südlichen Grenzen zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, dass die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin  in seiner Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden zudem die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen mit Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien; im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der Grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, dass Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen vor dem Krieg gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu lösen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet wurde von Russland öffentlich gemacht, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russischen Angriff zuvorkommen müssen, entbehrt daher jeglicher Realität. Sie wird  selbst von seinen eigenen Militärs als Unwahrheit bezeichnet.  Ob mit dem russischen Gegenschlag die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist eine andere Frage, die allerdings genauer Klärung bedarf.
Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische westliche Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – seien auch De-facto-Staaten, als die Abchasien und Ossetien nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne ein solcher Staat sich Hilfe zum Selbstschutz von außen herbeirufen. Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch geltender Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke. Als problematisch dagegen gilt Russlands Begründung auch bei diesem offenen Verständnis des Völkerrechtes, Russland habe russische Staatsbürger schützen müssen, die im Besitz russischer Pässe gewesen seien.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden lassen. Es gibt da noch vieles in den zukünftigen Beziehungen zwischen Russland, Georgien, Achchasien und Ossetien zu klären. Ebenso in den anderen noch nicht gelösten „eingefrorenen Konflikten“ um die armenische Enclave Berg-Karabach in Azerbeidschan, um die von Moldau abgespaltene Dnjester-Republik. Die Zukunft wird es zeigen. Darüber hinaus gibt es jedoch einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:
Da ist zuallererst die Tatsache, dass Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien im Vorfeld des Krieges abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbar gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland vom Berater McCains, Randy Scheunemann, wieder unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen.
Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt.  Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline von Baku über Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, nach den Transitstädten BTC-Pipeline genannt, sowie daran angeschlossen das EU-Projekt der Nabuco-Gaspipeline von Baku über Tiblissi, Ankara direkt nach Südeuropa. Diese Planung hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi , seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut einer der Hintermänner Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte.  Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es seit Jahrhunderten gelebt hat und in Zukunft leben muss.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Aus persönlichem Briefwechsel im Herbst 2008
Dmitri Rogosin, ständiger Vertreter Russlands bei der NATO in der FAZ vom 20.08.2008: „,Russland hat die Georgier immer für Brüder gehalten …Aber niemand erinnert sich daran, dass es eigentlich Russland war, das eine lange Zeit die Unabhängigkeit und Integrität des georgischen Landes gewährleistete. Niemand erinnert sich auch daran, dass die Georgier seit dem 15. Jahrhundert nach einem russischen Protektorat strebten.“ FAZ, 20.08.2008
www.georgische Zeitung.de; www.georgienseite.de
Aus: Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008, Krisen Region  Kaukasus: Ursachen, Akteure, Perspektiven, S. 135
www.georgienseite.de
www.georgienseite.de: Die Geschichte Georgiens
Wikipedia; außerdem: Maria Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach (Hrsg.): Der Kaukasus, becksche reihe,, München 2008
www.kaukasische-zeitung.de; www.georgieenseite.de
Nach: deutsch kaukasische gesellschaft e.V./  www.abchasien.de u.a.
Handelsblatt, 26.08.2008
In der Matrioschka, der russischen Puppe in der Puppe stecken mehrere immer kleiner werdende Ausgaben ineinander, die bis auf die Größe vollkommen miteinander identisch sind.
Dazu auch ein sehr interessanter Aufsatz von Boris Forkel, Georgiens  Weg nach Europa. Förderliche und hemmende Einflüsse der Kultur auf den gegenwärtigen Transformationsprozess, webtext, 2008
ebenda
Einzelheiten u.a. gut bei Wikipedia
Informationen aus: Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
Ebenda, A.123 ff, Der ungelöste Streit um Südossetien
Ebenda
Ebenda, S. 102 ff, Abchasien – Kämpfe um den schönsten teil der Schwarzmeerküste
Ebenda, S. 149 ff Internationale Organisationen – Hemmschuh oder Motor für eine Konfliktlösung im Kaukasus?
Siehe dazu: Stephen Bernhard, Nach der Rosenrevolution eine neue Revolution? Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08; außerdem laufende Berichterstattung von ria-novosti und russland.ru
Russland Analysen 169/08, S. 4; Spiegel online,13. August 2008
www.georgien.ru
Stephan Bernhard, Eurasisches Magazin  3/08 und 4/08
Siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008
Russland Analysen 169/08, S. 5 ff
Michel Chossudovsky, www.global research.ch, 10.8.2008
Robert Scheer, www.truthout.org, 12.08.2008
Osteuropa 9-10/2004, Europa unter Spannung, Energiepolitik zwischen Ost und West,
Einzelheiten zu den strategischen Programm des Korridors =  TACIS, TRACECA, INOGATE in: Kai Ehlers: Asiens Sprung in die Gegenwart, Russland, China, Mongolei. Die Entwicklung eines Kulturraumes „Inneres Asien“, Pforte, 2006
6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99
Mehr zu diesem Thema: Kai Ehlers, Gasprom – Expansion oder Kooperation, in Hintergründe, 21.10.2008

Für die chronologischen Angaben wurde u.a. die thematisch rubrizierte Berichterstattung von ria-novosti und russland.ru genutzt

Medwedews Sozialpolitik: Vor einer 2. Phase der Privatisierung

Thesen zur Diskussion der Zeit nach Putin

Dimitri Medwedew orientierte bei seinem Antritt als Präsident auf ein Wachstum, das die unter Putin erreichte jährliche 7%-Marke übersteigen soll. Dabei will er sich aktiv der „Förderung der sozialen Sphäre“ widmen: Ausländischem Kapital will er optimale Investitionsmöglichkeiten bieten, in der Innenpolitik will er sich auf die „vier großen I´s“ konzentrieren – Institute, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen und zudem die schon unter Putin beschlossenen vier „nationalen Projekte“ verwirklichen, also die Programme zur Förderung des Wohnungs-, des Bildungs-, des Gesundheitswesens sowie der Agrarwirtschaft. Für die Realisierung eines solchen Weges brauche das Land gesetzestreue Bürger und eine freie Presse. Oberstes Ziel des Regierungshandelns müsse die Garantie und der Schutz des Privateigentums sein. „Freiheit ist besser als Unfreiheit“, erklärte Medwedew: Es gehe um „Freiheit in allen Bereichen: um die persönliche Freiheit, um die wirtschaftliche Freiheit und letztlich um die Freiheit der Selbstverwirklichung.“

Nach solchen Äußerungen wurde Medwedew von vielen Menschen in Russland und im Westen als Liberaler begrüßt. Wer genauer wissen will, was zu erwarten ist, muss allerdings etwas zurückschauen: Auch Putin trat mit dem Versprechen an, die Wirtschaft zu modernisieren, Wohlstand und Freiheit zu fördern. Er konsolidierte die Jelzinsche Privatisierung, indem er die entstandenen anarchischen Besitzverhältnisse legitimierte und sie über die Schaffung eines Konsenses zur „Rettung Russlands“ zugleich staatlicher Kontrolle unterwarf, der sie sich nach Gorbatschow und Jelzin entzogen hatten. Das hieß auch, ein Minimum an sozialer Verantwortlichkeit wiederherzustellen, konkret, die Unternehmen dazu zu verpflichten wieder Steuern und Löhne zu zahlen. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inhaftierung und Verurteilung des Öl-Magnaten Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Damit schlug Putin mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er stabilisierte den erreichten Stand der Privatisierung, disziplinierte die Maßlosigkeiten der privaten Bereicherung, stellte die Kontrolle des Staates über strategisch wichtige Bereiche, insbesondere die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder her (ohne die Privatisierung vom Grundsatz her zurückzudrehen!) und vermittelte der Bevölkerung zugleich das Gefühl eines minimalen Aufschwungs.

Putins Versuche, die Privatisierung auf die soziale und kommunale Sphäre auszudehnen, blieben dagegen in der ersten Hälfte seiner Amtszeit weitgehend unentschieden, unkoordiniert, scheiterten an fehlenden Durchführungsbestimmungen und an regionalen Widerständen. Die dringend benötigte Reform des Rentensystems, das durch den Zerfall der Betriebsgemeinschaften vollkommen in der Luft hing, wurde nicht geschafft. Das allgemeine unentgeltliche, genauer, vergütungsbasierte Bau-, Gesundheits- ebenso wie das Bildungswesen verfiel und verwandelte sich in private Spielwiesen für Neureiche. Landwirtschaftliche Betriebe verfielen. Als Putin und die Regierung nach der Verhaftung Chodorkowskis, also nach abgeschlossener Umverteilung des Volksvermögens, Ende 2004 dann doch an die Privatisierung der sozialen und kommunalen Sphäre gehen wollten, musste er vor landesweiten Protesten zurückweichen. Auslöser der Proteste war die Verabschiedung eines Gesetzes im Frühsommer 2005 durch die Duma, mit dem bis dahin unentgeltlich an besondere soziale Gruppen ausgegebene Vergünstigungen wie freies Wohnen, freie Benutzung von Transportmitteln, freie Medikamente, freier Zugang zu kulturellen Veranstaltungen uam. in Geldleistungen umgewandelt werden sollten. Was niemand für möglich gehalten hätte, geschah: Ausgehend von den Rentnern in den großen Städten Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk, die in dem Gesetz eine Liquidation sozialer Leistungen sahen, breitete sich eine Protestwelle bis in die tiefsten Winkel weit entfernter Regionen aus. Die Regierung musste zurückstecken; die Monetarisierung der Vergünstigungen und Vergütungen blieb in halben Maßnahmen stecken.

Putin reagierte schnell, bevor sein Image als Stabilisator ernsthaften Schaden nehmen konnte. Schon im Herbst  2005 präsentierte er Vorschläge zur Förderung eines Marktes „erschwinglicher Wohnungen“, zur Förderung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie der Landwirtschaft als „nationale Programme“. Hinzu kamen Ansätze die ausstehende Rentenreformen einzuleiten und Familienpolitik durch Kindergeld und andere Leistungen zu fördern. Kern der putinschen Vorschläge war ein staatliches Kreditierungsprogramm, das die Ausgaben für den kommunalen Bereich um 200%, für das Gesundheitswesen um 80% für das kommende Haushaltsjahr erhöhen sollte, während die Ausgaben für Verteidigung derzeit demonstrativ nur um 20% angehoben wurden. Medwedew wurde mit der Durchführung der Programme betraut. Im Dezember 2007 – vor der Wahl – kündigte Medwedew an, die Leistungen für die „soziale Sphäre“, die 2006 230 Milliarden Rubel betragen hatten, für das Jahr 2008 noch einmal auf 300 Milliarden Rubel (8,4 Milliarden Euro) erhöhen zu wollen.

Das Glück, könnte man sagen, war mit den beiden: Die exorbitant steigenden Ölpreise hatten den 2004 eingerichteten Stabilitätsfonds Ende 2007 auf die, wie der russische Analytiker Boris Kagarlitzki es formulierte, „für Russland phantastische Summe“ von 127,48 Milliarden Dollar anschwellen lassen. Zugleich erreichten die Währungsreserven der Zentralbank ein Rekordniveau von 417,30 Milliarden Dollar. Diese Voraussetzungen reichten, um erste Schritte zur Sanierung der vier genannten Projektbereiche vorzunehmen: Kredite zum Bau und Erwerb „erschwinglichen Wohnraums“, Anhebung der Gehälter von Ärzten und Lehrerinnen, Erhöhung des allgemeinen Lohnniveaus, der Renten und Stipendien, Kreditangebote in der Landwirtschaft.

Die Ausrufung der nationalen Projekte durch Putins im Herbst 2005 war somit eine gelungene populistische Aktion, die vergessen machen sollte und konnte, was tatsächlich geplant war, so wie Medwedews Nachschlag kurz vor den Wahlen ein aktiver Stimmenfang war. Wenn Wladimir Putin Bilanz aus seiner zweiten Präsidentschaft ziehe, so Kagarlitzki, dem keine besondere Sympathie für Putin nachgesagt werden kann, könne er sich als der „erfolgreichste Herrscher Russlands betrachten“. Das allgemeine Lebensniveau sei gestiegen. „Selbst die Geringverdiener“, so Kargarlitzki, „konnten eine gewisse Erleichterung verspüren“. Das Problem der putinschen Sozialpolitik liege nicht mehr im Lohnniveau, wie noch zu Jelzins Zeiten, als jahrelang keine Löhne, Gehälter, Renten oder Stipendien gezahlt worden seien, sondern im Bereich der Kommerzialisierung der sozialen und kommunalen Bereiche, die zu einem, wie Kagarlitzki es ausdrückte, „rasanten Anstieg der Ausgaben der Bevölkerung“ führte.

„Im Großen und Ganzen“, fasste Kagarlitzki seinen Rückblick auf Putins Sozialpolitik zusammen, „wird der Druck der Marktwirtschaft auf eine durchschnittliche russische Familie durch die Teuerungen im Alltag immer größer und lässt ihr keine Chancen, ihre finanzielle Situation in der nächsten Zukunft zu verbessern – trotz des Wirtschaftsaufschwungs“. Gemeint sind die explodierenden Kosten für Wohnung, Telefon, Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Bildung usw. – Darin eben bestehe das Problem: „Die Blütezeit ging an der werktätigen Bevölkerung vorbei.“ – Nicht mehr unmittelbare Not ist Ursache wachsender Unzufriedenheit, sondern ein Verteilungsproblem, die ungleiche Teilhabe am wachsenden Wohlstand.

Dies im Blick wird klar, dass selbst die phantastischen Einnahmen aus den Öl- und Gas-Exporten nicht ausreichten, um die „nationalen Programme“, samt Rentenerhöhung und der (aus demographischen Gründen überfälligen) Familienförderung zu finanzieren, ganz zu schweigen von aktiver Armutsbekämpfung, deren Ziele sich nach Angaben des Wirtschaftsministeriums darauf beschränkten, die Zahl der Menschen, die unter der Armutsschwelle leben, von 2006 bis 2010 von 14% auf 9% zu senken. Kommt hinzu, dass nicht alle Devisen, die aus dem Exportgeschäft im Stabilitätsfonds und der Zentralbank auflaufen, umstandslos auf den Geldmarkt geworfen werden können, um damit Lehrer, Ärzte und andere mittelständische Schichten zu motivieren, ohne die Inflation, die in den zurückliegenden Jahren mit Mühe auf das Level von 6- 7% zurückgekämpft werden konnte, in unkontrollierbarer Weise anzuheizen und damit das allgemeine Niveau des mühsam errungenen relativen Wohlstandes wieder zu senken.

Kurz, es musste nach anderen, zusätzlichen Wegen als der bloß monetären Förderung der „Sozialen Sphäre“ gesucht werden. Und es wurde nach ihnen gesucht. Dabei traten unübersehbar die Paradoxien hervor, die daran erinnern, dass Russland kein kapitalistisches Land war, es nicht ist und soeben wieder in eine neue Runde der Auseinandersetzungen darüber geht, ob es das überhaupt sein kann und sein wird. Das ist das von Medwedews übernommene Erbe.

Da war beispielsweise bei deutschen Analytikern[1] zu lesen: „In Reaktion auf die begrenzten Möglichkeiten des Staates forderte Putin schon längst die verstärkte Übernahme ‚sozialer Verantwortung’ durch die Wirtschaft. In der Praxis sieht das so aus, dass die ehemals (oder immer noch bzw. bald wieder) staatlichen Unternehmen erneut die soziale Infrastruktur übernehmen, die sie in den 1990er Jahren im Rahmen ihrer Modernisierung und Marktorientierung aufgegeben haben. Mitte Dezember schlossen die Ölfirma Lukoil und der Gouverneur der Region der Chanten und Mansen ein Abkommen, das vorsieht soziale Objekte wie Wohnhäuser, medizinische Bildungs- und Sporteinrichtungen sowie Objekte der Kommunalwirtschaft zu bauen und zu rekonstruieren. Lukoil investiert in dieses Programm 38 Millionen Euro, während sich die Ausgaben der Region für soziale Infrastruktur auf 15 Millionen Euro beschränken.“

Voilá! das Paradoxon, dass zur Förderung der „nationalen Projekte“, die ja Privatisierung des kommunalen Sektors voranbringen sollen, auf die Unterstützung durch eben jene Gemeinschaftsstrukturen zurückgegriffen werden muss, die man bei Eintritt in die Privatisierung glaubte durch Geldwirtschaft ersetzen zu können.

Ein ähnlicher Riss in der marktwirtschaftlichen Fassade zeigt sich im Agrarbereich. Ohne hier Einzelheiten auszubreiten, sei nur auf einen einzigen Aspekt verwiesen, der ein Schlaglicht auf den gegenwärtigen Zustand wie auch den generellen Charakter des Agrarsektors wirft: Die in Russland so genannte ergänzende Familienwirtschaft ist, laut aktueller Statistik, mit nur 6,7% an der landwirtschaftlichen Nutzfläche beteiligt; sie liefert jedoch 50% der landwirtschaftlichen Produkte. Um zu verstehen, was dies bedeutet, muss man sich anschauen, was sich hinter dem Begriff der ergänzenden Familienwirtschaft heute verbirgt: Das ist die Bewirtschaftung eines Stück Gartenlandes – Hofgarten im Dorf, Schrebergarten der Städter (Datscha) – oder auch eines Stückchen Landes vor den Toren der Städte, über die Familien ihre Grundbedürfnisse an pflanzlichen Nahrungsmitteln decken. Eier, Milch und Fleischprodukte aus eigener Tierhaltung kommen oft noch dazu.

Diese Form der Wirtschaft ist keineswegs nur ein Relikt der Sowjetzeit – und damit etwa nur ein Produkt der nachsowjetischen Krisenwirtschaft. Sie ist vielmehr ein Element des russischen Lebens, das die Bolschewiki aus der Zarenzeit übernommen und in den Aufbau der Industriegesellschaft integriert haben. Die ergänzende Familienwirtschaft blieb auch nach 1917 Basisbestand der russischen Volkswirtschaft, ihre Erträgnisse waren fester Bestandteil betriebswirtschaftlicher Kreisläufe bis zum Ende der Sowjetunion – und sie sind es, wie die aktuellen Zahlen aus dem Agrarsektor zeigen, bis heute. Schätzungen gehen auf  60% der Bevölkerung, die heute in 16 Millionen Familien eine solche Gartenwirtschaft betreiben. Dass die russische Bevölkerung die tiefe Krise der zurückliegenden Jahre ohne Hungerkatastrophe überleben konnte, liegt in dieser Struktur der Volkswirtschaft begründet.

Die Datscha hat überdies noch mehrere andere Funktionen. Sie wird in der Regel von älteren Familienmitgliedern bewirtschaftet, die, solange es die Jahreszeiten erlauben, auch in ihr wohnen. Auch Kinder halten sich dort auf, so oft es geht. Das entlastet die zu engen Wohnungen und gibt der mittleren Generation die Möglichkeit ungestörter ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Das gilt mit Abwandlungen auch für die Hofgärten, die in der Regel von älteren Familienmitgliedern geführt werden. Im Übrigen gehen unter den Bedingungen der Monetarisierung des Wohnungswesens viele Menschen, auch ganze Familien dazu über, ganz in ihren Datschen zu leben, um sich aus der Vermietung der privatisierten Stadtwohnung, deren steigende Nebenkosten sie nicht mehr tragen können, eine Grundfinanzierung zu verschaffen.

Die Tradition der familiären Zusatzwirtschaft durch eine marktwirtschaftlich orientierte Konsumwirtschaft abzulösen, die ihren Bedarf aus allein dem Supermarkt deckt, dürfte vor diesem Hintergrund nicht nur ein wirtschaftliches Problem sein. Es ist darüber hinaus auch eine Frage der Lebensweise, die ähnlich wie die betriebsbasierten kommunalen Strukturen untrennbar mit den Traditionen gemeineigentümlichen Lebens verknüpft ist.

Vergleichbare Risse zwischen marktwirtschaftlichem Anspruch und Realität treten auch in den anderen „nationalen Projekten“ auf. Ein Kernproblem im Wohnungsbereich besteht etwa darin, wie durchweg allen Analysen zu entnehmen ist, dass von Anfang an versäumt wurde, parallel zum Gesetz adäquate kommunale und föderale Förderungsprogramme für Modernisierungen im Gemeinschaftseigentum zu schaffen. Konkret bedeutet das: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau, keine Eigentümergemeinschaften, kein System von Bausparkassen, keine Mietergemeinschaften usw., die an die Stelle der bisherigen gemeineigentümlichen Strukturen treten könnten. Die zusätzlichen Kredite des „nationalen Projektes“ stabilisieren den Wohnungsmarkt“ unter diesen Umständen nur weiter als Lieblingsobjekt der Spekulation.

Über das Bildungs- und Gesundheitswesen wäre noch gesondert zu reden, ebenso über Rentenreform, die Jugend- und Familienförderung. Überall zeigen sich neben den finanziellen auch strukturelle Probleme, die nicht einfach durch „Monetarisierung“, also die Verwandlung von Vergünstigungen und Vergütungsstrukturen in finanzielle Kompensationen, zu lösen sind, sondern Projekte erfordern, in denen sich gemeinwirtschaftliche Strukturen mit privatem Eigentum und Selbstbestimmung neu verbinden können.

Vor diesem Hintergrund bekommen Medwedews Ankündigungen ein anderes Gesicht. Da weder die vier „Großen I´s“ neu sind, noch die  „nationalen Projekte“, auch nicht die angekündigte Entbürokratisierung, neu auch nicht einmal ist, dass der Abbau administrativer Schranken durch die vermehrte Übergabe von staatlichen Funktionen an private Träger erfolgen soll, bleibt am Ende nur eines, was neu ist, nämlich, dass dies alles jetzt verstärkt im Zentrum des Regierungshandelns stehen soll. Zusammen mit Medwedews Ankündigungen ganz auf die Entwicklung und den Schutz von Privateigentum setzen zu wollen, wird darin die Entschlossenheit der russischen Führung deutlich, nun auch die „soziale Sphäre“ beschleunigt zu kapitalisieren zu wollen. Diese Orientierung liegt voll und ganz auf der Linie der Freihandels- und Privatisierungsdoktrinen von WTO, EU, IWF private Investitionen im Wohnungssektor zu erleichtern, das Bildungswesens an die EU-Normen anzupassen, den Dienstleistungssektor zu kommerzialisieren, die Agrar-Industrie zu Lasten des traditionellen Sektors der Nebenwirtschaften zu fördern und schließlich, selbstverständlich, einen zweiten Anlauf zu nehmen, das System der Vergünstigungen endgültig, auch bis in die Regionen hinein zu kippen.

Noch ist dies alles embryonal. Erkennbar wird jedoch die Doppelstrategie eines Konzeptes, das die weitere Konsolidierung der Privatisierung der großen Industrie durch die Privatisierung der noch gemeineigentümlich organisierten kommunalen, sozialen und mittelständischen Bereiche befördern soll. Das Tandem: liberaler Präsident, starker Ministerpräsident könnte sich als optimale Variante für die Durchsetzung eines solchen Konzeptes erweisen – wenn die Bevölkerung mitmacht. Wenn die Bevölkerung mitmacht, bedeutet zum einen, wenn die regionalen Eliten und mittelständischen Kräfte sich in das Konzept einbinden lassen. Darauf zielt Medwedews Versprechen auf mehr Freiheit. Es bedeutet aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung die Monetarisierung, das heißt den Verlust ihrer immer noch gewahrten gemeineigentümlichen Traditionen, mit Zuwendungen von mehr Geld – mehr Lohn, mehr Rente, also mehr Konsum – schmackhaft zu machen, machen zu müssen. Ob diese Mehrheit sich ihre gemeinwirtschaftlichen Traditionen und Gewohnheiten aber so ohne Weiteres abkaufen lässt, zumal wenn deren Auflösung, wie am Beispiel von Lukoil erkennbar, durch die Regierung selbst teilweise rückgängig gemacht wird, und ob ein privatisierter Alltag dann zudem praktikabel ist, ist eine offene Frage, die zum einen selbstverständlich vom Niveau der Öl- und Gaspreisen abhängt, aber auch damit nicht allein beantwortet wird. Es geht auch um generellere Fragen des Lebens- und Gesellschaftsentwurfes: Die Privatisierung der großen Betriebe war Eines, damit hatte man nur indirekt zu tun; unangenehm genug, aber aushaltbar. Die Privatisierung der „sozialen Sphäre“ und des allgemeinen kommunalen Lebens dagegen geht ans Eingemachte des russischen Selbstverständnisses, erschwert für viele Menschen das alltägliche Leben. In Verbindung mit abflachenden oder einbrechenden Gas- oder Ölpreisen, mit möglichen inflationären Folgen maßloser Kreditierungsexzesse könnten daraus neue Proteste erwachsen, die andere Lösungen als die bloße Ausschüttung von Geld verlangen. Die Ereignisse von 2005 haben gezeigt, wozu die russische Bevölkerung fähig ist.

Als Ergebnis einer Überprüfung dieser Analyse, die ich durch Gespräche im Lande selbst im Sommer 2006 in drei verschiedenen Orten durchführte – Moskau, Tarussa/Kaluga und Tscheboksary, möchte ich Folgendes festhalten:

1. Auch Medwedews Modernisierungsprogramm folgt, wie schon vor ihm das Gorbatschows, Jelzins, Putins dem für Russland typischen Muster der Reform von oben: Russlands Modernisierungsschübe sind immer Reformen von oben gewesen. Das entspricht der historisch gewachsenen Grundstruktur der russischen Ökonomie, die man traditionell als bürokratisch gelenkte Wirtschaft auf gemeinwirtschaftlicher Basis bezeichnen kann. Das Stichwort, welches Karl Marx und Friedrich Engels dazu seinerzeit gaben, lautet: asiatische Produktionsweise.

2. Es zeigt sich aber, dass eine Privatisierung der kommunalen und sozialen Strukturen auch unter den neuen Bedingungen nach dem Wechsel von Putin auf Medwedew nicht einfach zu dekretieren, auch nicht durch bloße Ausweitung des Kreditierungsprogrammes zu erkaufen ist, sondern nur in einem intensiven, im wahrsten Sinne nachhaltigen sozialen Dialog zwischen oben und unten entwickelt werden kann, in dem sich herausbildet, was die Bevölkerung, die aus einer gemeinwirtschaftlichen Tradition kommt, tragen kann und will.

3. Dieser soziale Dialog fehlt jedoch auch unter Medwedew, zumindest ist er nur in allerzartesten Ansätzen entwickelt. Die Privatisierung im Wohn-, Bildungs- und Gesundheitswesens erscheint immer noch als Zerstörung der gewachsenen sozialen Sicherungssysteme und Spaltung der Gesellschaft in Reihe und Arme – Gesundheitsangebote für Reiche, Wohnungen zu unerschwinglichen Preisen, Bildung nur über Beziehung oder für Geld, häufig sogar Bestechungsgeld, Verödung der Dörfer. Exemplarisch dafür die Häuserkämpfe in Moskau, die nach wie vor von der Bevölkerung nicht verstandene, nicht akzeptierte, sondern nur bürokratisch verordnete Monetarisierung in Kleinstädten wie Tarussa oder auch die sich weiter öffnende Schere zwischen mangelnder gesundheitlicher Versorgung auf dem Land und einem Klinikboom in einer Stadt wie Tscheboksary, um nur einige Beispiele zu nennen.

4. Wenn der soziale Dialog ungenügend geführt wird, reproduzieren die nationalen Projekte einschließlich der Monetarisierung jedoch nur die vorhandenen Strukturen der Bürokratie und der Trennung von oben und unten, lässt die Verfügbarkeit leichter Kredite bei gleichzeitiger sozialer Apathie der Mehrheit der Bevölkerung Korruption und Spekulation (im Bauwesen, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen ebenso wie in der Agrarwirtschaft) und eine für die Zukunft problematische Verschuldung entstehen.

5. Als Kern der Sozialpolitik, einschließlich Modernisierung der großen Produktion und der Entwicklung einer breiten mittelständischen wirtschaftlichen Tätigkeit, tritt unter diesen Umständen die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive zutage, die auf Entwicklung individueller Kompetenz, Bereitschaft, Initiative zielt, welche die bürokratischen Leitungsstrukturen ersetzt, bzw. von unten mit Leben erfüllt.

6. Die soeben beschlossene Einführung des EGE (des einheitlichen Staatsexamens), welche die Bildung nach Standarts der WTO und der Bologner-Beschlüsse der EU ausrichtet, ersetzt jedoch die Entwicklung individueller sozialer Kompetenz durch standardisiertes Spezialistentum zum einen und rudimentäre Grundbildung der Mehrheit der Bevölkerung zum Anderen, d.h. sie verfestigt die traditionelle Grundstruktur von oben und unten, statt sie aufzulösen.

7. Notwendig wäre eine Bildungspolitik, die das Prinzip der Pluralität – ausgehend von der eigentümlichen ethnischen, kulturellen und geografischen Pluralität Russlands bis hin zur Multipluralität der internationalen Beziehungen, wie sie Russland als Alternative zur heutigen Weltordnung vorschlägt – als ureigenen russischen Impuls aufnimmt und mit einem allgemeinen, international kompatiblen Standart verbindet. Dies könnte der Schritt sein, der Russland über eine bloße Kopie des westlichen Kapitalismus hinausführen würde.

Der Text wurde für eine Konferenz in der „Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ in Moskau Dezember 2008 formuliert, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau organisiert wurde.


[1] „Russlandanalysen“ der Forschungsstelle Osteuropa, Anfang 2006

Solidarische Ökonomie – Von der Gessellschaft der „Überflüssigen“ zur integrierten Gesellschaft

Schriftliche Fassung des gleichlautenden Workshops

Auf dem 3. Grundeinkommenskongress vom 24.-26. 10.2008 in Berlin

Liebe Freunde, liebe Freundinnen, Ziel dieses Beitrages ist es, über den bloßen Wunsch nach Veränderung hinaus, weiterführende Argumente dafür zu liefern, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen heute keine Utopie mehr ist, oder wenn eine Utopie, dann eine konkrete, die zu verwirklichen ist und das dies angesichts der Finanzkrise umso aktueller ist.

Zweites Ziel des Beitrages ist, sich der Frage weiter zu nähern, wie das geschehen kann, wenn Grundsicherung nicht nur als monetärer Vorgang verstanden wird.

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GAZPROM – Konfrontation oder Kooperation?

Über GAZPROM zu sprechen, heißt über gegenläufige Tendenzen der Globalisierung zu sprechen. Gazprom ist weit mehr als sein Name vermuten ließe, der übersetzt Gasindustrie bedeutet. Gazprom ist identisch mit Russlands Energiepolitik, korrekt gesprochen, rund 51% der Gazprom-Aktien sind Staatsbesitz. Der Vorgänger von Alexei Miller, des heutigen Chefs von Gazprom, Rem Wechirew pflegte zu sagen: Was Gazprom nützt, nützt Russland.. Gazprom ist der drittgrößte Konzern auf dem globalen Energiemarkt, Teil des internationalen Finanzgeflechtes mit Tendenzen einer Monopolisierung, was ihm von westlicher Seite den Vorwurf des Energie-Imperialismus einträgt. Allen voran geht dabei der Chefstratege der USA Zbigniew Brzezinski, der nach der Zerschlagung des Yukos Konzerns und der Inhaftierung dessen ehemaligen Chefs Michail Chodorkowski 2004 das Stichwort ausgab, Wladimir Putin wolle einen russischen „Energiefaschismus“ aufbauen. 1

Gazprom ist jedoch zugleich – nicht zuletzt auch von denselben Kritikern moniert – ein undurchsichtiger Gesamtzusammenhang von Staat, Geld und Gesellschaft, in dem nach wie vor keine „marktwirtschaftlichen“ Prioritäten gesetzt, sondern schlicht die Ressourcen des Landes verkauft, teilweise sogar noch im Tauschverkehr abgegeben werden.2 Von dem Verkauf lebt das russische Staatsbudget zu mehr als einem Drittel und mancher Betrieb und manche Kommune existiert nur dank geldloser Lieferungen von Gazprom. Was Gazprom schadet, könnte man sagen, schadet also auch Russland. Und in der Tat: Vor der Finanzkrise war Gazprom der Gewinner der exorbitant steigenden Ölpreise, in der momentanen Krise einer der stärksten Verlierer. Der Ölpreis stürzte fast über Nacht von 140 Dollar um mehr als die Hälfte, die 49% an der Börse handelbarer Aktien des Konzerns mit ihm. Der russische Staat musste mit Stützungsgeldern in Milliardenhöhe einspringen.3 „Mit dem Kopf in der Globalisierung und mit den Füßen im Garten“ dürfte daher nach wie vor eine passende Beschreibung für den widersprüchlichen Charakter dieses Riesen sein.4 Kurz: Gazprom ist ein authentischer Ausdruck Russlands.

Aber was resultiert aus dieser Sachlage? Sind die hysterischen Stimmen ernst zunehmen, die davor warnen, dass Gazprom die EU wegen ihrer Abhängigkeit von russischen Energie-Lieferungen in die Zange 5 nehmen könne? Immerhin bezieht die EU heute 44% ihrer Gasimporte aus Russland.6 Oder muss man umgekehrt fürchten, dass Gazprom sich in Krisenzeiten als unfähig erweisen könnte, seine Lieferverpflichtungen zu erfüllen und damit die Gesellschaften der EU in eine Wirtschaftskrise reißen könnte? Fragen dieser Art werden nach dem georgischen Krieg im August 2008 auf westlicher Seite wieder heftig hin und her bewegt 7 , nachdem sich die letzte Welle der Unsicherheit anlässlich der Preisstreitigkeiten zwischen Gazprom und der Ukraine bei der Vertragserneuerung am Jahresende 2005 einigermaßen gelegt hatte.

Eine Antwort auf diese Frage muss man in den Tatsachen suchen: Auf Gazprom entfallen 85% der russischen und rund ein Fünftel der weltweiten Erdgasförderung. Für das Pipelinenetz in Russland hält Gazprom das Monopol. Gazprom entstand im Zuge der Auflösung der Sowjetunion aus dem sowjetischen Ministerium für Gas- und Ölförderung und dem dazugehörigen Verteiler- und Zulieferernetz. Der Konzern hatte vor dem Finanzcrash einen Börsenwert von 360 Milliarden Dollar. Genau 50,002 % der Aktien befinden sich heute in der Hand des Staates, 29,482 gehören anderen Gesellschaften, 13,068 Privatpersonen, 6,5 % der deutschen E.ON Ruhrgas, 0,948“ ausländischen Personen.

Gazprom hat mehr als 50 Tochtergesellschaften, darunter viele, die nicht im Gasgeschäft tätig sind, unter anderem Gazprom-Neft (Öl) Gazprom-Bank, Gazpro-Media, dazu die mit der deutschen Wintershall zusammen gebildete Nordstream AG, ganz zu schweigen von dem Geflecht der Regionalniederlassungen, Service- und Zuliefererfirmen in den verschiedensten Sektoren.

Obwohl der Staat heute über 50,002% der Gazprom-Aktien hält, noch ergänzt durch andere Teilhaber von Gazprom, in denen der Staat ebenfalls Anteilseigner ist, also faktisch die absolute Mehrheit der Gesellschafterstimmen bei Gazprom innehat, bestimmt nicht der russische Staat, sondern Gazprom die Abnehmer-Preise. 8 Im Juli 2008 sah die russische Regierung sich sogar veranlasst, Gazprom wegen der von ihm im Inland verlangten Monopolpreise auf Benzin zu verwarnen.9 Zuvor war Alexei Miller bereits von Putin scharf darauf hingewiesen worden, dass Gazprom sein Pipeline-Monopol anderen Firmen gegenüber nicht ausspielen dürfe. Seit April 2008 läuft eine gerichtliche Klage eines kleineren Betreibers gegen Gazprom vor der russischen Antimonopolbehörde. Grund dürften interne Differenzen zwischen Gazprom und Rosneft, einer der privaten Ölfirmen, um den russischen Ölmarkt sein.10

Anzumerken ist auch noch: Gazprom macht bis heute keine „Marktpreise“, sondern entscheidet nach sozialen und politischen Kriterien. Zwei Drittel der Lieferungen gehen ins Inland, aber mit ihnen macht Gazprom nur ein Drittel des Umsatzes. Gazproms Auslandspreise sind bis heute politisch gestaffelt: Als Folge der immer noch nicht vollständig gelösten Versorgungslinien der Sowjetzeit zahlen ehemalige Sowjetrepubliken entsprechend ihrer politischen Nähe zur Russischen Föderation in unterschiedlicher Weise. Einen Sonderpreis bekommt Weißrussland; mit 130 Dollar pro 1000m³ liegt auch die Ukraine trotz der Erhöhung um 40% bei Vertragswechsel von 2005 noch unter dem Weltmarktpreis. Sonderkonditionen erhalten Südossetien, Dnjesterrepublik, Serbien, selbst noch Georgien.
Tendenziell will Gazprom die Vorzugspreise abbauen – sowohl im Inland als auch im Ausland – und mit seinen Preisen insgesamt auf Weltmarkniveau kommen, aber hierfür gibt es kein zeitliches Limit. Das heißt, Gazprom befindet sich noch im Umbruch, wenn es denn überhaupt dahin kommt. Umgekehrt ist Gazprom seit 2007 dazu übergegangen beim Abschluss neuer Verträge für den Bezug von Gas aus Turkmenistan und Kasachstan günstigere Bedingungen anzubieten als die westlichen Abnehmer, in der Absicht die Quellen dieser Länder für den eigenen Pipelineverbund zurückzugewinnen, nachdem die alten Verbindungen seit 1990 unterbrochen waren.11

Im Juni 2008 erschreckte der Vorstandsvorsitzende Alexei Miller die westliche Welt mit der Ankündigung, angesichts des steigenden weltweiten Gasbedarfs sei offensichtlich, dass die Bedeutung Gazproms in der Zukunft nur wachsen könne. In den kommenden Jahren werde Gazprom „nicht nur eine der großen Gesellschaften der Welt sein, sondern die einflussreichste auf dem Energiesektor.“ Gazprom plane zudem, das Netzwerk der Gas exportierenden Länder zu einer ständigen Organisation auszubauen, zu einer Art Gas OPEC. Im Unterschied zur bestehenden OPEC jedoch seien die prinzipiellen Ziele dieses Gas-Forums „nicht allein die Verteilung laufender Produktionsquoten, sondern langfristige Aktivitäten und Investitionspläne in der Gasindustrie“. Über den bloßen Export hinaus wolle Gazprom ein weltweites Verteilernetz direkt bis zum Endverbraucher hin ausbauen: „Wir schlagen unseren europäischen Partnern ein Projekt über die Schaffung eines dichten Netzes mit Gas-Tankstellen unter Beteiligung von Gazprom vor,“ so Miller. Für die nächsten zehn Jahre, in denen der Ölpreis voraussichtlich auf 250 Dollar steigen werde, sei keine bessere Alternative in Sicht.12 Alle aktuell von Gazprom betrieben Projekte, so Miller, wie die Ostseepipeline, die „South Stream“, die „Precaspian Gas Pipeline“, die „Stockmannfelder“ entwickelten sich sehr schnell. Mit Indien und China stehe man in Verhandlungen. Mit Nigeria stehe man kurz vor einem Abschluss. Darüber hinaus habe Gazprom Projekte in Nord Amerika, ebenso wie in Asien und Süd Amerika. „Nord Amerika“, hob Miller besonders hervor, “sehen wir als Region unseres strategischen Interesses“. 13

Spätestens diese Äußerung führte zu einer Eskalation gegenüber US-amerikanischen Interessen. Die Reaktionen kamen prompt und sie fielen sehr lautstark aus. US-Senator Richard G. Lugar beschwor kurz darauf vor dem „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ die Energieversorgung Europas als Waffe in der Hand Russlands. Ein Abstellen des russischen Gashahns käme einer militärischen Attacke auf ein Land gleich. Und der „Chefstratege“ Zbigniew Brzezinski legte bei derselben Veranstaltung im Juli 2008 nach, Russland wolle die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline übernehmen und drohe bereits Georgien. (s.w.u.)

Blick zurück

Doch der aktuelle Energiepoker ist nur vor dem Hintergrund der Entwicklung und Geschichte des russischen Akteurs und Energiegiganten Gazprom zu verstehen.

Gazproms Vorgeschichte, so könnte man sagen, beginnt mit der Erschließung der kaukasischen Felder Mitte des 19. Jahrhunderts. Das geschah wesentlich durch westliches Kapital, erst britisches, nach der Revolution 1917 amerikanisches. Erst ab 1923 begann die Sowjetunion selbst den Weltmarkt zu beliefern. Zu dem Zeitpunkt wurden 75% der in der SU benötigten Energien im kaspischen Raum gewonnen. Hitlers Angriffe auf Baku zwangen die Sowjetunion zur schnellen Erschließung und Ausbeutung neuer Felder in Sibirien. Die Bedeutung des kaspischen Raums ging zurück. Zudem gewann die Gasförderung gegenüber der des Öls seit den 70er an Bedeutung. „Wurden Anfang 1950 noch knapp 40% des Rohölbedarfs der Sowjetunion aus der Region Baku gedeckt, so reduzierte sich dieser Anteil bis 1980 auf nur etwas über 2%“14 Die Förderungen konzentrierten sich auf die neuen sibirischen Vorkommen. Die alten Anlagen verfielen, die neuen wurden überstrapaziert. Ende der 80er bestand für die gesamte Gas- und Ölindustrie dringender Modernisierungsbedarf.

Die Umwandlung des Branchenministeriums der Gas-Versorgung in einen Staatskonzern 1989, dessen Privatisierung als Aktiengesellschaft 1992 ließ eine autonome Organisation mit quasi hoheitlichen Funktionen entstehen. Die Modernisierung jedoch blieb stecken. Die Bevölkerung erlebte Gazprom als Selbstbedienungsladen ehemaliger Funktionäre und deren Klientel. Die Ölbranche ging eigene Wege; sie entwickelte sich zum Eldorado privater Oligarchen.

André Kolganow, Dr. der Ökonomie an der Moskauer Staatsuniversität, führendes Mitglied der Neulinken Gruppe „Alternative“15 charakterisierte die Situation des Konzers Mitte der 90er Jahre als „zur Zeit ziemlich einzigartige Struktur in Russland, die im Großen und Ganzen die Strukturen der sowjetischen Periode bewahrt hat. (…) Seit der Privatisierung verfügt Gazprom über die Mehrheit der eigenen Aktien; darüber hinaus sind die staatlichen Aktien ebenfalls der Leitung von Gazprom unterstellt. Gazprom führt also Aufsicht über sich selbst. Gazprom ist eine merkwürdige Organisation: Nicht staatlich und doch gleichzeitig ganz und gar staatlich – ein Staat im Staate. Gazprom ist überhaupt eine mächtige Struktur. Über die Förderung des Gases, dessen Transport und Weiterverarbeitung hinaus hat sie ihre eigenen Verbindungen: eine eigene Fluggesellschaft, eigene Banken, eigene Massenmedien; es ist ein ganzes Imperium.“ Interessant seien die „eigenen sozialen Strukturen“, die Gazprom befähigten sich „einen eigenen sozialen Kompromiss mit seinen Arbeitern zu leisten“16 Kolganow meinte damit die Gründung einer eigenen, Gazprom zugehörenden „gelben“ Gewerkschaft.

Ein leitender Mitarbeiter von Gazprom brachte die Verhältnisse in einem nicht-öffentlichen Untersuchungsgespräch auf den Nenner: „Was die transnationalen Aktivitäten anbetrifft, so handelt Gazprom wie eine normale europäische, westliche Kooperation. Was Gazproms Beziehungen zu den Regionen angeht und zu konkreten Menschen, so sind seine Unternehmen zwar nicht direkt Teil der extrapolaren Wirtschaft, aber über sie ist Gazprom doch gezwungen , sich den russischen Besonderheiten anzupassen.“17

„Extrapolare Wirtschaft“ ist ein Stichwort des russischen Ökonomen Prof. Theodor Schanin, mit dem er und die von ihm gegründeten „Moskauer Schule für Politik und Soziales“ die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Realität Russlands definieren, die nicht als sozialistische, aber auch nicht als kapitalistische, sondern als zwischen diesen Modellen befindliche „extrapolare“ beschrieben werden müsse.18 Gemeint ist das Ineinandergreifen von Geld- und Tauschwirtschaft in einer Symbiose von Industrieproduktion und Strukturen der ergänzenden familiären und kollektiven Selbstversorgung.

Für westliche Augen war diese Struktur einfach ein Rätsel: „Die Firma übernahm das sozialistische Erbe der Verantwortung für Kindergärten, Schulen, Wohnungen in den Gaszentren des Nordens; wo das ‚blaue Gold’ bei minus 30 Grad aus dem Eisboden geholt wird“, schrieb beispielsweise die „Zeit“. „Betriebsspartakiaden für die Belegschaft und Yachtclubs für das Management rundeten den Kleinkommunismus ab. Gazprom schluckte Milchfabriken, Banken, Metallhütten, Chemiebetriebe und Zeitungsredaktionen. Doch der Niedergang hatte begonnen. Die Gesamtproduktion von Gazprom sank von 602 Milliarden Kubikmetern 1992 auf 520 im Jahr 2001, während die Förderung im privaten Ölsektor steil anstieg. (…) Der Gasinlandsmarkt ist ein Plansystem der Quoten und der staatlich festgeschrieben Niedrigpreise, sodass Gazprom gezwungenermaßen ganze Industriezweige subventioniert. Eine Aufteilung des Konzerns in die Sparten Förderung und Transport und Verkauf würde verdeutlichen, wo Werte geschaffen oder vernichtet werden. Doch die Intransparenz ist vielen nützlicher.“ Fazit der „Zeit“: „So blieb Gazprom der größte russische Betrieb, der nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterliegt.“19

„Was Gazprom genau ist“, wunderte sich auch das deutsche „Managermagazin“, „lässt sich kaum in einen einzigen Begriff pressen (…) Wo hört Gazprom auf, wo fängt der Staat an? In der Region verwischen sich die Konturen. Was Bayer für Leverkusen oder VW für Wolfsburg, diese Rolle des sozialen Korrektivs nimmt die Firma für ganz Russland ein. In Westsibiriens Kreisstadt Badym lebt nahezu die komplette Kommune vom Geld des Megakonzerns.(…) Überall schimmert er durch, der eingebrannte Stolz auf die Autarkie“20

Gazprom wurde das Feld, auf dem sich die Auseinandersetzungen um den innenpolitischen Kurs Russlands in den 90er Jahren konzentrierten. Der bekannteste Rechte Russlands, Alexander Prochanow charakterisierte diese Auseinandersetzung mit den Worten: „Gazprom ist ein staatliches Monopol. Es ist eine der formgebenden Strukturen, an denen das Land hängt. Die Struktur ist eindeutig nützlich für den Staat. In ihr gewinnt man riesige Gelder. Gazprom bringt die Haupteinnahmen in die Staatskasse. In den schrecklichen letzten Jahren hat Gazprom die Industrie durch unentgeltliche Lieferungen am Leben erhalten. Wenn das nicht gewesen wäre, wäre die Industrie und die Landwirtschaft total zusammengebrochen. Gazprom hat aber zugleich die Verbindung zum Business. Das bereichert natürlich nicht das Land, sondern die Geschäftsleute, solche wie Wjecherew und Tschernomyrdin, den früheren Premier. Das ist übel. Außerdem arbeitet Gazprom leider nicht zu hundert Prozent produktiv, sondern nur zu sechzig – und vierzig Prozent gehen beiseite. Aber über Gazprom verwirklicht sich die Geopolitik Russlands. Gazprom reicht in die Ukraine, nach Weißrussland, es beliefert das ganze umliegende Territorium. Es wirkt sich auf die geopolitischen Potenzen Russlands aus. Deshalb richten sich auf Gazprom zur Zeit die Angriffe: Allzu schmackhaft sind die Teile! Man will sie aufteilen, will sie privatisieren, einige dem Westen, den Amerikanern übergeben, andere an Beresowski21 . Deshalb ist der Kampf um Gazprom wieder einmal der Kampf der liberalen, antirussischen, antistaatlichen Prinzipien gegen die staatstragenden, reichsorientierten, zentralistische Prinzipien. Wer siegt, das werden wir sehen“22

Ein Korridor gegen Russland

Parallel zur inneren und äußeren Auflösung der Sowjetunion gingen die westlichen Industriemächte daran, allen voran die USA und in ihrem Gefolge die EU, seit Anfang der 90er einen sog. Ost-West-Transportkorridor, romantischer auch „Projekt-Seidenstraße“ genannt, an Russlands „Bauch“ entlang zu führen, durch den zentralasiatisches und kaspisches Öl und Gas unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols nach Westen geschafft werden könne. Milliardenschwere Programme wurden dafür aufgelegt, Technische Entwicklungshilfe für die GUS (TACIS), das gigantische eurasische Pipelineprogramm (INNOGATE) und das Programm zu Modernisierung von Trassen-, Schienen und Hafenanlagen (TRACECA) – alles mit dem Ziel, den kaukasischen und zentralasiatischen Raum durch den Ausbau von Ost-West-Verbindungen von der bisherigen Zentrierung auf Moskau zu lösen. 23 Von einer Beratung und Mitwirkung bei diesen Programmen war und ist Moskau expressis verbis ausgeschlossen.24

Den strategischen Hintergrund für die Programme konnte man in Bzrezinskis Buch „Die einzige Weltmacht“ nachlesen.25 Eurasien sei der „geopolitischer Hauptgewinn“ der USA schrieb er. Russland müsse unter allen Umständen daran gehindert werden, sich wieder zu einem eurasischen Imperium zu entwickeln. Das müsse und könne von drei „Brückenköpfen“ aus geschehen: von Seiten der NATO und EU-Erweiterungen im Westen, durch einen Block aus Japan, Korea und Taiwan im Osten, durch Eingriffe im „Eurasischen Balkan“ am „Bauch“ Russlands im Süden des eurasischen Kontinentes – Iran, Irak, Afghanistan und die kaspisch-kaukasische Region von der Ukraine bis Usbekistan. In diesem südlichen Raum gehe es für die USA darum, sich die „Filetstücke“ der globalen Energie-Ressourcen zu sichern. Mit TACIS, INOGATE und TRACECA folgte die EU dieser Vorgabe.

Ergebnis dieser Programme war als Erstes der „Jahrhundertvertrag“ von 1993, der die Ausbeutungsrechte globaler Multis, außer Gazprom, versteht sich, am aserbaidschanischem Öl für 30 Jahre regelte. In den Verhandlungen um die zukünftigen Transportwege setzten sich die USA mit ihren Vorstellungen durch, den neuen Transportkorridor sowohl an Russland als auch am Iran vorbei über Georgien und die Türkei zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu bauen. Die zentralasiatischen Felder sollten durch Zuleitungen am Boden des kaspischen Meeres mit einbezogen werden. 2005 konnte die Pipeline, noch ohne diese Zuleitungen, in Betrieb gehen; nach den Anfangsnamen der Städte Baku, Tiblisi, Ceyhan heißt sie heute BTC-Pipeline. 26

Zweites wesentliches Ergebnis war der seit 2006 auf Vorschlag der USA verfolgte Plan der EU eine Gas-Pipeline, genannt Nabucco-Pipeline vom Osten der Türkei über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis ins österreichische Baumgarten an der March führen. Von dort soll das Gas über das Verteilernetz des österreichischen Energiekonzerns OMV in die EU weitergeleitet werden.27 Baubeginn ist für 2009 geplant, Betriebsbeginn für 2013.

In Verbindung mit den EU- sowie NATO-Osterweiterungen, sowie der am 23. Mai 2006 beschlossenen Deklaration der Rest-GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldawien) eine „Brücke zur NATO und zur EU“ unterhalten zu wollen, konnten USA und EU sich als vorläufige Sieger in der Auseinandersetzung um den Zugriff auf die zentralasiatischen und kaspischen Energievorkommen betrachten, auch wenn der ökonomische Nutzen der BTC-Pipeline ohne die zentralasiatischen Zuleitungen noch zu wünschen übrig ließ.

Straffung durch PUTIN

Mit der Krise 98, noch unter Jelzin setzte die Gegenbewegung Russlands ein. Im Ergebnis der Krise löste Russland sich, nicht unbedingt freiwillig, aber effektiv, vom Tropf der IWF-Kredite. Unter der Vorgabe, die eigenen Kräfte zu stärken, machte Putin sich dann daran, die in den 90er gewachsene Macht der privaten Privatisierungsgewinnler zugunsten eines wieder erstarkenden russischen Staates zurückzudrängen. Das traf 2001 zuallererst die Führung von Gazprom. An die Spitze von Gazprom traten jetzt Alexei Miller als Vorstandsvorsitzender und Dimitri Medwedjew, der jetzige Präsident Russlands, als Aufsichtsratsvorsitzender. Wjechirew und sein Klientel mussten gehen. Von ihnen gehaltene Anteile gingen an den Staat über. Der private Charakter des Konzerns als AG sowie seine halbmarktwirtschaftliche Grundstruktur jedoch blieben erhalten.

Mit dem so erneuerten Instrument Gazprom ging Putin gegen den Medien-Oligarchen Gussinski und die graue Eminenz der Jelzin-Zeit Beresowski vor, die beide das Land verließen. Wendepunkt im Kampf um den Zugriff auf die Ressourcen wurde der Prozess gegen Michail Chodorkowski im Jahre 2004. Als die Prozesse gegen Chodorkowski begannen, hatte Yukos seinen Firmensitz in New York und Chodorkowski war drauf und dran große Anteile seines Imperiums an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco US-Kapital zu verkaufen. 28 Die Auseinandersetzung endete mit der Eingliederung des Öl-Konzerns Sibneft in den Gazpromverband. Damit war die (Wieder)Zusammenführung von Gas- und Öl-Industrie eingeleitet.

Nach der inneren Neuordnung der Energiewirtschaft gingen Putin und sein „Kommando“ planmäßig daran, verlorenes Terrain auf dem Energiemarkt zurückzugewinnen:
2005 schließen Gazprom mit Wintershall einen Vertrag zum Bau der Ostsee-Pipeline (North-Stream), die russisches Gas unter Umgehung der Transitländer Osteuropas direkt ins Herz der EU liefern soll. Sie soll ihren Betrieb spätestens 2013 aufnehmen.
Auf dem fünften Gipfel der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO) am 15. Juni 2006 schlägt Putin die Gründung „eines SCO Energieclubs“ vor. Er weist darauf hin, dass die SCO-Mitglieder 20 Prozent der Weltölreserven und 50 Prozent der Weltgasreserven kontrollieren. Bei einem Besuch Putins in Algerien erlässt er dem Land die Schulden und stellt umfangreiche Waffenlieferungen in Aussicht. Danach beginnen Gazprom und der algerische Energiemulti Sonatrac mit „geologischen Erkundungen“.
Beim Petersburger Treffen der G8 im Jahr 2006 bietet Russland sich als Kontrolleur des Welt-Energiemarktes an. In den deutschen Börsennachrichten vom 24.4.2007 wird gemeldet, Russland wolle Milliarden aus seinen gewaltigen Öl- und Gaseinnahmen in internationale Konzerne investieren. Man werde Anteile in diversen Branchen zeichnen, unter anderem im Öl- und Gasgeschäft. Auch Investitionen im Immobiliensektor seien möglich.
Am 23. Juni 2007 schließt sich Gazprom mit dem italienischen Konzern ENI für ein Projekt einer südlichen Pipeline (South-Stream) zusammen29: Sie soll vom russischen Schwarzmeerhafen Dschubga/Noworossisk auf dem Grund des Meeres nach Varna an der bulgarischen Küste führen. Der Betrieb soll ebenfalls 2013 beginnen30 .

Dann geht es Schlag auf Schlag: Vertrag mit Serbien im Januar 20083 1, mit Ungarn im Februar32 , mit Griechenland im April. Die Ungarn erklären, sie wollten sich sowohl an Nabucco als auch an North-Stream beteiligen. Ein Joint Venture von Nabucco und Gazprom unter der Bezeichnung „New Europa Tansmission System“ (NETS) könne auch mit zentralasiatischen Staaten und mit Iran Verhandlungen aufnehmen.33 Putin versichert: Der Bau der „South Stream“ bedeute nicht, „dass wir gegen alternative Projekte kämpfen. Wenn jemand in der Lage ist, andere derartige Projekte zu wirtschaftlich annehmbaren Bedingungen zu verwirklichen, würden wir uns freuen.“ 34

Im Juli offeriert Gazprom-Chef Miller Gaddafi den Aufkauf von Libyens Gas- und Öl-Industrie zu aktuellen Marktpreisen.35 Mit Nigeria steht Gazprom in Verhandlungen über eine Gasleitung Richtung Europa.36 Gazproms Partner Wintershall gewinnt Exportlizenzen in Chile und Argentinien. Zugleich wendet Gazprom sich auch nach Osten37 : Der Konzern und Südkorea verabschieden eine Absichtserklärung auf Abschluss eines Liefervertrages von Gas mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. Die dazu nötige Pipeline soll durch Nordkorea geführt werden. Im Juli 2008 verabreden Alexei Miller und Irans Präsident Ahmadinedschad zukünftige Kooperation.38 Im Oktober erklärt Gazprom seine Absicht, ein schwimmendes AKW für die Gas-Verflüssigung werde 2011 betriebsbereit sein.39 Zudem rechne Gazprom damit, so Miller, „unsere Positionen auf den Märkten für Gas-, Strom-, und Kohlenhandel zu festigen“40

Energie als politische Waffe

Die Erfolge Gazproms bei der Aufweichung des „atlantischen“ Transportkorridors dürften als Hintergrund für Eskalationen im Kaukasus zu sehen sein. Bereits im November 2006 hatte US-Senator Richard G. Lugar auf dem NATO-Gipfel in Riga erklärt, die von Gazprom geplante OPEC sei eine „explizite Bedrohung“, die unter den Artikel 5, Beistandsverpflichtung des NATO-Bündnisvertrages falle und die „Erpressung durch Einstellung der Energieversorgung“ komme einer „militärischen Blockade oder einer militärischen Demonstration“ gleich.41 Putin nutze Gas, Öl und Pipelines „nach Ansicht von Kritikern als Machtmittel und Waffe wie einst die Sowjets die Atombombe“ und ähnliche Aussagen konnte man wenige Wochen später in den deutschen Mainstream-Medien lesen und hören.42

Auch die Gas-OPEC geriet ins Schussfeld: „Am 22. Mai 2007 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz (H.R. 2264), mit dem Ländern, die per Kartell die Ölpreisbildung beeinflussen, mit Sanktionen und Klagen in den USA gedroht wird“ – das sogennante „NOPEC“_Gesetz. 43

„Die wachsende Abhängigkeit Europas von Energie und Infrastruktur Russlands“ sei „ein negativer geopolitischer Trend“ war im November 2007 aus der neo-konservativen Heritage-Foundation zu hören. Er berühre die Interessen der USA in wichtigen geopolitischen Punkten „wie die NATO Ausweitung in die Ukraine und Georgien, die Raketenabwehr, den Kosovo, und den US sowie europäischen Einfluss im nachsowjetischen Raum.“44

Im Juli 2008 erneuerte Richard G. Lugar seine Offensive45 . Bei einer Anhörung im „Komitee für Auslandsbeziehungen der USA“ beschwor er aufs neue die europäische Abhängigkeit von Russlands Energieliefungen: Die „dauerhafte Abstellung von Gas mitten im Winter könnte für ein europäisches Land Tod und wirtschaftlichen Niedergang vom Gewicht einer militärischen Attacke verursachen“, brachte er vor. Gazproms monopolorientierte Aktivitäten könnten nicht allein mit ökonomischen Motiven erklärt werden. Es sei schwierig zu sagen, wo die russische Regierung aufhöre und wo Gazprom beginne. Die „atlantische Gemeinschaft“ müsse sich deswegen auf die Fertigstellung des Ost-West-Korridores konzentrieren. Das fordere „Führung“ durch die USA in drei Punkten: erstens „diplomatisches Engagement in Asien. Ein US-Präsident müsse sich dort zeigen!“ Zweitens könne das atlantische Bündnis „die Fortschritte, die in Aserbaidschan und in Georgien gemacht wurden, nicht für garantiert halten. Um ein Maximum an Nutzen aus der Baku-Tiblisi-Ceyhan und der Süd Kaukasus Pipeline zu holen, muss die transatlantische Gemeinschaft fortfahren, die demokratische Transformation im Kaukasus zu unterstützen.“ Und drittens müssten „widerspenstige europäische Regierungen (…) davon überzeugt werden, dass ihrer langfristigen Sicherheit mit der Nabucco Pipeline gedient“ werde.

Brzezinski, gleichfalls Teilnehmer des Hearings, assistierte mit der Behauptung, den Behörden der USA lägen Beweise über „Drohungen Russlands gegen Georgien (vor), die nicht durch territoriale Dispute motiviert seien, obwohl es die durchaus gebe, sondern ihre Ursache darin liege, die Kontrolle über die Baku-Ceyhan-Pipeline zu übernehmen.“46

Nur ein paar Wochen später hatte Saakaschwili den georgischen Krieg ausgelöst, den er unter anderem damit rechtfertigte, Russland habe die BTC-Linie bombardieren wollen.

Nach dem Krieg wurde Brzezinski noch deutlicher: „Unglücklicherweise“, erklärte er in der „Welt“, habe Putin „Russland einen Kurs einschlagen lassen, der erschreckender Weise dem von Stalin und Hitler in den 1930er Jahren sehr ähnlich“ sei. Wenn Russland diesen Kurs fahre, müsse es isoliert und aufgehalten werden, „indem man eine kollektive, globale Reaktion initialisiert.“ Sanktionen seien nötig. Rücksicht auf Putin sei „kontraproduktiv“47

Gebremste westliche Alternativen

Was so entsteht, ist ein globales Pipeline-Wettrüsten, bei dem selbst die US-Urheber der neuen Transportwege nicht mehr ganz durchblicken. So ist es in den Anhörungen des Komitees für Auslandsbeziehungen der USA zu lesen, wo der Regierung Bush vorgehalten wird, sie habe den Fokus in der Energiepolitik verloren und bedauernd konstatiert wird, dass Putin gelinge, was vom „atlantischen Bündnis“ nur diskutiert werde.48

Ein weiterer Teilnehmer des Hearings, Zeyno Baran, versucht das Problem auf den Punkt zu bringen, indem er feststellt, der wichtige Unterschied zwischen Nabucco und Süd-Strom liege in der Frage der Eigentümer: Nabucco werde privat finanziert und müsse deshalb kommerziell lebensfähig sein, „während Süd-Strom durch die staatseigene Gazprom gestützt wird, die ganz und gar willens ist Projekte zu finanzieren, die keinen kommerziellen Sinn machen, solange sie den strategischen Zielen Moskaus dienen.“49

Richtig an diesen Feststellungen ist, dass sich die Schwachstellen der vom „atlantischen Bündnis“ angelegten neuen Transportwege inzwischen zeigen: Der kürzeste Weg für den Transport kaspischen, zentralasiatischen und sogar Teilen des sibirischen Gases und Öls wäre zweifellos der über den Iran gewesen, stattdessen hat man den Korridor Georgien gewählt. Zur BTC-Pipeline kommt seit 2006 auch noch die Gaspipeline bis zum türkischen Erzurum, mit Abzweigungen zu den georgischen Häfen und Supsa. Die Kapazitäten beider Pipelines, Öl wie Gas, können nur dann ausgelastet sein, wenn turkmenisches und kasachisches Öl und Gas nicht mehr über Russland abfließt. Das geschieht aber wieder verstärkt, weil Russland es trotz aller Störmanöver seitens der Betreiber des atlantischen Ost-West-Transportkorridors seit Ende der 90er geschafft hat, eine Gas-Pipeline, die sog. „Blue Stream“ vom südrussischen Schwarzmeerhafen Noworissisk durchs Schwarze Meer nach Samsung an der türkischen Nordküste zu verlegen. Kapazitätsverluste für Nabucco wird es geben, weil „South Stream“ auf kürzerem Weg, ebenfalls unter Wasser, von Novororossisk nach Bulgarien führen wird. Und schließlich wird sogar noch eine Minipipeline Gas von Nordossetien nach Südossetien führen. Am 29. Mai, dem Unabhängigkeitstag Südossetiens, wurde in Südossetien die „goldene Schweißnaht“ gesetzt. Russisches Gas soll Ende 2008 zum Inlandpreis von Norden nach Süden fließen.50

Die Alternativen für den Westen sind dürftig: Schürfrechte auf dem Boden des Kaspischen Meeres zum Bau der geplanten Unterwasserpipeline, die turkmenisches Gas in die türkisch-georgische Gaspipeline führen soll, sind ungeklärt. Der Anfang der 90er Jahre geplante Weg über Afghanistan ist im Krieg mit den Taliban untergegangen, neue Ansätze für eine afghanische Lösung stocken in den wieder aufgeflammten Kämpfen. Daher gehen die Prioritäten Turkmenistans und tendenziell auch anderer asiatischer Förderer heute eindeutig wieder in Richtung Russland. Russlands Teilhabe am Bündnis der „SOC“-Staaten, ebenso wie der 2008 in Teheran beschlossene gegenseitige Beistandspakt der Anrainer des kaspischen Meeres begleiten diese Entwicklung. Die gesonderten Verträge einzelner EU-Staaten mit Gazprom zu „North Stream“ und „South Stream“ sind eine Folge dieser Realität.

Gebremste Alternativen

Wie sehr der Aufruf Brzezinskis, Russland zu isolieren, vom Wunschdenken diktiert ist, springt aus einer Meldung der Internetseite polskaweb.eu in die Augen. Nach dem Ende der Kämpfe in Georgien gab man dort – höchst widerwillig – bekannt, zwischen der „russischen Politzange ‚Gazprom’“ und Turkmenistan sei nun ein langfristiger Gasliefervertrag abgeschlossen worden und kommentiert: „Die ersten verhängnisvollen Folgen des Krieges im Kaukasus nehmen (damit) ihren Lauf; denn Turkmenistan hat beschlossen, dass das Gas, was eigentlich über Georgien an Westeuropa geliefert werden sollte, zukünftig an Russland und China verteilt werden soll.“51

Verhängnisvoll? – ja, wenn BTC- und Nabucco-Pipeline weiterhin ökonomischer Vernunft zum Trotz in Konkurrenz zu Gazprom betrieben werden sollen. Nein, wäre die Antwort dagegen, wenn „marktwirtschaftliche“ Motive und „strategische Ziele“ nicht gegeneinander gestellt, sondern zum allgemeinen Nutzen eines globalen Energieversorgungsnetzes zusammengeführt würden, wie es das von Ungarn vorgeschlagene Joint Venture von Nabucco und „South Stream“ zum Beispiel als Möglichkeit andeutet, wenn es auch die zentralasiatischen Staaten und den Iran einbeziehen soll.52 Die tatsächlich stattfindenden Vorbereitungen für den Bau von „North Stream“ und „South Stream“ zeigen ebenfalls in diese Richtung. Ökonomische und politische Vernunft spricht für solche Lösungen – solange noch keine Alternativen zur Abhängigkeit der heutigen Gesellschaften von Öl und Gas entwickelt worden sind.

Muss die Welt eine solche Entwicklung fürchten? Auf diese Frage gab der Vize-Vorstandschef von Gazprom, Alexander Medwedew, im Sommer 2007 der Presse eine bedenkenswerte Antwort: „Unsere industriellen Partner“, erklärte er, „haben solche Sorgen nicht. Im Gegenteil. Sie wissen, dass wir unsere Verpflichtungen einhalten werden. Gewisse politische Kreise jedoch kultivieren absichtlich ein Image vom ‚bösen Gazprom’ im Bewusstsein der Bevölkerung. Zudem zielt dieses negative Image über Gazprom hinaus, um das ganze Russland mit einzuschließen. Aus meiner Sicht ist folgendes Dilemma entstanden: Welches Russland ist besser für die globale Gemeinschaft, ein starkes oder ein schwaches? Mir scheint, dass ein schwaches Russland wesentlich mehr Risiken enthält, während ein starkes Russland ein ebenbürtiger wirtschaftlicher und politischer Partner sein wird.53

Dem ist nur noch die Frage hinzuzufügen, ob die EU und USA an einem solchen Partner interessiert sind.

Quellen:

1 Sbigniew Brzezinski in Wallstreet, 20.9.2004
2 So von dem Anwalt Michail Chodorkowskis, Robert Amsterdam in ww.robertamsterdam.com,
vom 6.1.2008: (…) Gazproms achievements are exaggerated for many reasons, perhaps the most important being that it is not actually a company, corporation, or purely commercial entity in the traditional sense of the term. Neither is Gazprom a Government, but rather the lines are so blurred between the two, as many OECD reports have noted, that it is often difficult to tell, which is the horse und which is carriage.”
3 Novosti, 17.9.2008 und folgende Tagesmeldungen
4 U.a. in: Kai Ehlers, Erotik des Informellen , edition 8, 2004, S. 53ff
5 Spiegel online 18.01.2008
6 Greenpaper, Towards a european strategy fort he security of energy reply, european communities, 2001
7 Handelsblatt, 01.10.2008, Gespräch mit Energiekommissar der EU, Andris Piebalgs
8 Russland Analysen 170/08, S. 13 ff
9 Russlan aktuell, 14.07.2008
10 russland aktuell, 28.4.2008
11 Lfde. Berichterstattung 2008 von rusland.ru
12 Gazprom, Pressezentrum, 26.Juni 2006
13 Süddeutsche Zeitung, 27.06.2008 und Wirtschaftsblatt, 23.06.2008
14 Angaben nach Markus Brach-von Gumppenberg, in: Der Kaukasus, Hrgn. von Maria-Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach, becksche Reihe, München 2008, S. 159ff ; außerdem: Europa unter Spannung, Energiepolitik zwischen Ost und West, Osteuropa, 9/10-2004
15 So genannt nach der von der Gruppe herausgegebenen Zeitschrift
16 In „“Gazprom – Anatomie eines Giganten“, Kai Ehlers, NDR-Forum, 12.08.2000
17 „Gazprom – Anatomie eines Gazprom – Feature im NDR Forum, 12.8.2000
18 Kai Ehlers, Erotik des Informellen. Impulse für eine andere Globalisierung aus der russischen Welt jenseits des Kapitalismus. Von der Not der Selbstversorgung zur Tugend der Selbstorganisation“, edition 8, Zürich, 2004
19 Zeit Online, 12/2004
20 Manager Magazin 6/1999, S. 130ff
21 Bekanntester Oligarch der Jelzin-Zeit und Haßobjekt aller Kritiker des Privatisierung.
22 In “Gazprom – Anatomie eines Giganten“, Kai Ehlers, NDR-Forum, 12.08.2000
23 TACIS = Technical Assistance to the Commenwealth of Independent States; INOGATE = Interstate OIL and Gas Transport to Europa; TRACECA = Transport Corridor Europa-Caucasus-Central Asia (Unter diesen Abkürzungen auch im Internet auffindbar)
Siehe dazu: Kai Ehlers, Asiens Sprung in die gegenwart, Russland China, Mongolei – Die Entwicklung eines Kulturraumes ‘Inneres Asien’”
24 Evaluation of TACIS/TRACECA programme. Transport Corridor Europa Caucasus Asia, Request for Services No. 2002/47681, Final Report, Jacobs Consultancy, London, Juli 2003 Caucasus Asia
25 Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer tb, 14358, 1997
26 Angaben z. T. nach Markus Brach-von Gumppenberg, in: Der Kaukasus, Hrgn von Maria-Carin von Gumppenberg, Udo Steinbach, becksche Reihe, München 2008, S. 159ff
27 Michael Liebig, www.solon.online.de
28 Kai Ehlers, Der Fall Chodorkowski oder: Russland im aktualisierten „Great Game“, Ralph-M. Luedtke/Peter Strutynski (Hrsg.), Neue Kriege in Sicht, Verlag Winfried Junio, Kassel 2006
29 Novosti 16.09.2008
30 Solon online, 7.07.2007
31 Novosti 16.09.2008)
32 Novosti 16.09.2008
33 Russlandktuell12.2007
34 Novosti, 29.04. 2008
35 Taz, 26.07.2008
36 ebenda
37 Novosti, 10.12.2008
38 Focus, 14.7.2008
39 Russland Taz, 07.10.2008
40 russland.ru, Juli, 2008
41 Energy and NATO, Senator Lugar´s keynote speech t the German Marshall Fund Conference on Monday; November 27, 2006 in Riga, Tavia, in advance of the NATO Summit, zitiert nach Jürgen Wagner, der russisch – Europäische Erdgaskrieg, Linksnet1, August 2007
42 Focus, 21.08 06
43 Linksnet, JÜRGEN Wagner in Ausdruck
44 Backgrounder, published by The Heritage Foundation, No 2083, November 5, 2007
45 OIL; Oligarchs and Opportunity: Energy from Central Asia To Europa, Committe on Foreign Relations The Uniated States, Julne, 12, 2008
46 ebenda
47 Welt, 11.8.2008
48 Oil, Oligarchs and Opportunity: Energy From Central Asia to Europa, Dr. Leon Fuerth, 12.06.2008
49 ebenda
50 www.steinbergrecherche.com
51 polskaweb.eu, 2.09.2008
52 Russlandktuell12.2007
53 Gazprom pressezentrum, 17.06.2007

veröffentlicht in: Hintergrund

Kaukasus – Öl statt Sanktionen

Vertreter der deutschen Wirtschaft in Moskau sollen sich die Haare gerauft haben, als nach dem Aufkochen der lange „eingefrorenen“ kaukasischen Konflikte auf dem Krisengipfel der EU Anfang September das Wort „Sanktionen“ im Raum stand. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Jürgen Thuman erklärte: „Überlegungen, Russland mit Sanktionen unter Druck zu setzen oder Verhandlungen oder Verhandlungen zum WTO-Beitritt und zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU zu stoppen, führen in die falsche Richtung.“
Nichts scheint zusammen zu passen: Während in den Führungsetagen der USA und des „atlantischen Bündnisses“ nach dem russischen Eingreifen in Georgien laut über den Ausschluss Russlands aus dem Kreis der G8, der WTO und sogar der Vereinten Nationen nachgedacht, in der NATO gar demonstrative „Strafmaßnahmen“ praktiziert wurden, setzte der österreichische Öl- und Gasverbund OMV seine Verhandlungen mit Gazprom über die Beteiligung Österreichs an der „South Stream“-Pipeline fort, durch die Russland und die EU im Energieverbund näher aneinander heranrücken, Der Baubeginn von „North Stream“, besser bekannt als Ostsee-Gas-Pipeline steht ohnehin vor der Tür.
Forderungen nach wirtschaftlicher Kooperation mit Russland, nach eurasischer Energiesicherheit, nach einer „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“ stehen einer Medienkampagne gegenüber, die Russland nur noch mit Panzern, Imperialismus oder gar Faschismus assoziiert.
Russlands Präsident Medwjedew erklärt indes, sein Land sei selbstverständlich nicht an einem Bruch mit der EU gelegen, habe auch kein Interesse an einer Besetzung des Kaukasus, sondern wünsche sich eine internationale Kontrolle des Gebietes unter Führung der KSZE oder der UNO. Wenn nötig, sei man allerdings bereit und auch in der Lage sich anders zu orientieren.
Im Ergebnis beließ die EU es seit ihrem Krisengipfel dabei die „territoriale Integrität“ Georgiens zu betonen.  Die USA begrüßten die Beschlüsse des Gipfels, die NATO verspricht Hilfe zum Wiederaufbau Georgiens, Zusicherung für dessen zukünftige Mitgliedschaft im Bündnis jedoch gibt sie nicht.
Verständlich werden all diese widersprüchlichen Signale nur, wenn man sich die langen Linien vor Augen führt, die sich seit dem Ende der Sowjetunion durch das Dickicht der globalen Neuordnung ziehen. Da sind zunächst die USA: Ihre Strategen glaubten als „einzige Weltmacht“, und nicht nur das, sondern auch als einzige zukunftsfähige Alternative aus dem „Kalten Krieg“ hervorgegangen zu sein. Man lese dazu das nach wie vor höchst aktuelle Buch Sbigniew Brzezinskis.
Zur Wahrnemung ihrer historischen Aufgabe, so Brzezinski, müssten die USA die Wiederentstehung anderer führender Kräfte, vor allem auf dem eurasischen Kontinent als dem territorialen Zentrum der Welt, im Keim unterbinden. Systematische politische Interventionen der USA auf dem Eurasischen Kontinent waren und sind politischer Ausdruck dieser Strategie. Sie stützt sich auf die EU und auf Japan als „Brückenköpfe“ im Westen und im Osten des eurasischen Raumes sowie auf die „Stabilisierung“ des „eurasischen Balkans“ vom Süden her. Darunter versteht Brzezinski Zentralasien und den Kaukasus.
Nach 15 Jahren und drei Präsidenten – Bush I, Clinton, Bush II – müssen die führenden Strategen der USA jedoch feststellen, dass die USA sich übernommen haben. Auch hierzu wieder Brzezinski,  der in einem neuen Buch Bilanz aus 15 Jahren US-Politik zieht:  Anders als erhofft haben sich die US-Kräfte im südlichen Interventionsabschnitt Eurasiens festgefahren. Was den USA Einfallstore durch den Sperrgürtel öffnen sollte, den China, Afghanistan, Iran und Irak für ein Eindringen in den Süden Eurasiens bilden, verkehrte sich nach schnellen Anfangserfolgen über die Taliban und über Saddam Hussein zu lang andauernden Kriegen, in denen die USA militärisch und moralisch versanken, während China, EU und auch Russland im Schatten dieser Situation an Kraft gewannen und sich auch außerhalb Eurasiens neue Kräfte bündeln.
Zentraler Konfliktraum, in dem die neuen globalen Interessenlinien sich jetzt kreuzen, ist die von den Geo- und Energiepolitikern so getaufte „strategische Ellipse“. Sie umfasst den „eurasischen Balkan“, konkret, die Räume nördlich und südlich des Kaukasus, in deren Mitte die Bergketten des Kaukasus eine Schwelle bilden, welche die afrikanische von der eurasischen Landmasse trennt – bzw. sie miteinander verbindet. Für die USA ist der Kaukasus jedenfalls zur Zeit der einzige verbliebene südliche Zugang nach Eurasien.
80% der heute verfügbaren fossilen Ressourcen lagern im Bereich der „strategischen Ellipse“. Gut die Hälfte davon liegt im südlichen Einzugsbereich – Arabien, Irak, Iran. Im Norden umfasst sie die Ölfelder Azerbeidschans, Russlands, Kasachstans und Turkmenistans, öffnet sich für die Zugänge zu sibirischem Gas und Öl. Nach dem Ende der Sowjetunion galt den Westmächten dieser Raum als „Machtvacuum“. Eine Neuaufteilung der Einflusssphären schien möglich, wenn es gelänge, das bis dahin bestehende Förder- und Transportmonopol Moskaus für Öl und Gas zu brechen.
Seit 1990 forcierten die USA daher die Erschließung des Raumes entlang eines „Transportkorridores“, der Öl und Gas in neuen Pipelines unter Umgehung Russlands, sozusagen an seinem Bauch entlang über die kaspische Schwelle nach Westen transportieren könnte. In einem Zug sollten so auch zugleich Iran und China außen vor gehalten und das Monopol der arabischen Staaten gebrochen werden. Demokratisierung der fossilen Weltressourcen, etwas sachlicher ausgedrückt, Diversifikation lautete das politische Zauberwort, mit dem diese Strategie verkauft werden sollte.
Herausragendes Ergebnis war der Bau der Pipeline vom azerbeidschanischen Baku über das georgische Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Küste des Mittelmeeres, nach den Städtenamen kurz BTC-Linie getauft. Sie ist seit 2005 in Betrieb. Die Europäische Union folgte mit dem Plan der sog. Nabuco-Pipeline, die zentralasiatisches und kaukasisches Gas, ebenfalls unter Umgehung Russlands durch die Türkei über Bulgarien, Ungarn mit Endpunkt in Österreich direkt nach Europa schaffen soll. Ihre – von den US-Think-Tanks wie der Heridage Foundation und anderen – immer wieder formulierte Aufgabe ist, die EU von Russland unabhängig zu machen. Dahinter steht das Ziel, die EU als „Brückenkopf“ zu erhalten.
Seit Wladimir Putin 2004 mit der Zerschlagung von Yukos die Übernahme des russischen Ölmarktes durch US-Konzerne stoppte, hat sich der Wind gedreht. Mit „North Stream“ entstand 2005 ein deutsch-russisches Projekt, das die Verbindung zwischen Russland als Gaslieferanten und Deutschland und von Deutschland aus mit der EU langfristig vertiefen wird. Mit „South Stream“ kommt seit Mitte 2007 das südliche Pendant dazu, mit dem Gasprom den Nabuco-Plänen unmittelbare Konkurrenz macht. Die Mitglieder der EU Bulgarien, Ungarn, Österreich schlossen seit 2007 nacheinander Einzelverträge mit Gazprom als Betreiber der „South Stream“ ab, statt in „atlantischer Solidarität“ auf die Fertigstellung des Nabuco-Linie zu orientieren, die ebenfalls über ihre Territorien führen soll.
Während mit den Bauabschnitten zur „South Stream“ schon begonnen wurde, liegt das Nabuco-Projekt noch in der Planung. Im Mai 2007 zwischen Gazprom und Turkmenistan abgeschlossene Verträge, turkmenisches Gas in Zukunft über bereits bestehende russische Leitungen an Gasprom zu verkaufen, statt auf die Inbetriebnahme einer im Zusammenhang mit Nabuco projektierten Unterwasser Pipeline durch das Kaspische Meeer zu warten, bilden den aktuellen Abschluss dieser Entwicklung.
Ohne turkmenisches Gas ist Nabuco jedoch nicht mehr gewinnbringend zu betreiben. Damit ist der Versuch der USA, die EU von russischer Energieversorgung unabhängig zu machen, um sie als westlichen „Brückenkopf“ für die Beherrschung Eurasiens zu erhalten, vorerst gescheitert. Es entsteht ein eurasischer Energieverbund mit einem wieder erstarkten Russland als Zentrum für die Gas- und Ölversorgung, in dem umgekehrt die EU, speziell Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands ist. Das ist eine Tatsache, der sich europäische, wie auch US-amerikanische Politik zu stellen hat. Forderungen nach „Sanktionen“ gegen Russland sind vor diesem Hintergrund bestenfalls Gesten, die den Zweck haben, den „atlantischen Partner“ zu beruhigen, um ihn nicht ganz zu vergraulen, wenn sie nicht schlicht Ressentiments aus unbewältigter Geschichte sind. Dem gleichen Muster folgt die Propaganda, die Russland ökonomisch umwirbt, aber politisch und moralisch klein halten will. Die Frage ist allein, ob die USA sich mit solchen Gesten abspeisen lassen. Zur Zeit hält man sich in diplomatischen  Floskeln. Nach der Wahl wird man es sehen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer 1997

Sbigniew Brzezinski, The second chance (englisch), basisic books, New York, 2007

Brennglas Kaukasus

Die jüngste Eskalation im Kaukasus, die mit der Offensive Georgiens gegen Südossetien in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 in einen offenen Krieg überging, kam nicht überraschend. Seit dem Zerfall der Sowjetunion laufen die Konfliktlinien neuer Staatenbildung ebenso wie die der Neuordnung der geopolitischen Kräfteverhältnisse in dieser Region wie in einem Brennglas zusammen.
Die lokalen Ursachen der Konflikte liegen zweifellos in der ethnischen Vielfalt des Kaukasus. Historisch ist der Kaukasus Durchgangsraum zwischen dem Osten und dem Westen Eurasiens sowie zwischen der eurasichen und der afrikanischen Landmasse. Am „Berg der Sprachen“ werden im Kaukasus, je nach Zählweise nicht weniger als 40 – 60 Sprachen gesprochen, manchmal in einem Dorf mehrere nebeneinander. Zugleich ist der Kaukasus auch „wilde Land“, in das schon Griechen und Römer sich nur ungern begaben. Die russischen Zaren unterwarfen sich das Gebiet als Zugang zu den warmen südlichen Meeren, für die Sowjetunion wurde es Kornkammer und Energielieferant; für die russische Föderation ist es heute die Achillesferse ihrer Stabilität.
Von 76 Territorial- und Nationalitätenkonflikten, die der Auflösung der Sowjetunion 1990 folgten, betrafen mehr als zwei Drittel den Kaukasus. Sie alle sind ein spätes Produkt der Sowjetzeit. Hatte Lenin von 1917 bis 1921 noch versucht durch eine Politik der „Korennisazija“, Verwurzelung, der Vielfalt gerecht zu werden, damit jedes Volk in den sowjetischen Machtstrukturen mit eigenen Repräsentanten vertreten sein könne, so wurden viele der von ihm gewährten Autonomierechte durch Stalins Gebietsreformen, später Deportationen ganzer Völker wieder rückgängig gemacht. Einige der Kriege, die um die 90er aus dieser Geschichte hervorgingen, überlebten als „eingefrorene Konflikte“: so Berg Karabach zwischen Aserbeidschan und Armenien, die Djnesterrepublik als Abspaltung von Moldawien, Abchasien und Südossetien als Gebiete, auf die Georgien Anspruch erhebt.
Abchasien und Südossetien haben eine besonders unruhige Geschichte. Beide Gebiete wehrten sich schon in vorzaristischer Zeit gegen georgische Herrschaftsansprüche. Im 8. Jahrhundert bildete sich im heutigen Westgeorgien ein abchasisches Königreich, das 929 vom georgischen geschluckt wurde. Als dieses sich Ende des 15. Jahrhunderts spaltete, wurde Abchasien erneut ein selbstständiger Staat.
Im 16. Jahrhundert gerieten Abchasen wie auch Geogier in den Einzugsbereich des Osmanischen Reiches. 1810 kamen beide unter den Einfluss der russischen Zaren. Ein bolchewistischer Aufstand in Abchasien wurde von Georgischen Menschewiki im Juni 1918 niedergeschlagen; 1921, nachdem die Rote Armee die georgische Republik unterworfen hatte, erhielten Georgien und Abchasien den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik, waren einander also gleichgestellt. 1931 wurde Abchasien zu einer autonomen Republik innerhalb der georgischen SSR zurückgestuft. Dies alles war immer wieder von Kämpfen begleitet.
Osseten und Geogier liegen ebenfalls seit Jahrhunderten im Konflikt miteinander. Die Georgier besiedelten das Gebiet an der Südgrenze Russlands im 17. Jahrhundert; die Osseten wanderten im 18. Jahrhundert zu. Sie wurden wiederholt zwischen Russland und Georgien aufgeteilt. Als Georgien sich 1918 zur Republik erklärte, wurde Ossetien in Nord- und Südossetien geteilt. Aufstände zur Vereinigung Südossetiens mit dem Norden in den Jahren 1918 – 1920 wurden von Georgien niedergeschlagen. Die Kämpfe kosteten mindestens 5000 Tote, 20.000 Südosseten flohen nach Nordssetien (bei damals ca. 100.000 Einwohnern Südossetien, davon 65.000 Osseten).
Nach Eingliederung Georgiens in die UdSSR 1922 wurde Südossetien zum autonomen Gebiet innerhalb der georgischen SSR erklärt, Nordossetien verblieb in der UdSSR, bekam dort 1936 den Status einer autonomen Republik.

Das nahende Ende der Sowjetunion ließ 1989 die alten Konflikte aufbrechen. Demonstrationen für eine abchasische Unabhägigkeit in Tiblissi wurden am 9. April 1989 von der Roten Armee niedergeschlagen; 19 Menschen kamen ums Leben. 1989/90 bildete sich auch in Südossetien eine nationale Bewegung, Georgien erklärte daraufhin Georgisch, Ossetien im Gegenzug Ossetisch zur Amtssprache.
Im März 1990 deklarierte Georgien seine Unabhängigkeit. Der neue Präsident Georgiens, Gamsachurdija erhob – ohne dass darüber völkerrechtlich entschieden worden wäre – Anspruch auf Eingliederung Abchasiens und Südossetiens in das georgische Staatsgebiet und liess einmarschieren.     Im Krieg zwischen georgischen und abchasischen Milizen um die Autonomie Abchasiens kamen 1990/1 mindestens  8000 Menschen zu Tode; fast die Hälfte der Einwohner (meist Georgier, etwa 250 000) floh aus Abchasien.
1992 wurde Gamsachurdija gestürzt. Sein Nachfolger Schewardnaze, vormals sowjetischer Außenminister unter Gorbatschow,  versprach eine gemäßigtere Politik in der „Nationalitätenfrage“. Trotzdem marschierten georgische Truppen in Abchasien ein. Im Verlauf des Jahres 1993 wurden sie von abchasischen Truppen zurückgeworfen. Russland erkannte zwar Georgiens Souveränität an, unterstützte dennoch die Abchasischen Truppen.
Nicht viel besser ging es in Ossetien zu: Am 20. September 1990 erklärte Ossetien sich für souverän, ein blutiger georgisch-südossetischer Krieg folgte. 1991 drangen georgische Milizen auf südossetisches Gebiet vor, zerstörten hundert Dörfer und belagerten Zchinvali. Moskau griff nur zögerlich ein. Unterstützung bekam Süd-Ossetien von Freiwilligen einer zuvor entstandenen „Konföderation der Bergvölker Kaukasiens“. Im Mai 1992 erklärte die Republik Südossetien endgültig ihre Unabhängigkeit. Erneut folgten schwere Kämpfe, in deren Folge Zchinwali erstmals zerstört wurde.
Nach dem Sturz Gamsachurdias kam ein erstes Friedensabkommen zustande, das zwischen Schewardnaze und Boris Jelzin ausgehandelt wurde. Es sah eine gemeinsame Friedenstruppe von 1500 Mann vor, die zu gleichen Teilen aus Russen, Georgiern, Süd- und Nord-Osseten bestand. Sie sollten in einem 15 km breiten neutralen Streifen rund um das südossetische Gebiet Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Als Zeichen des Goodwills räumte Schewardnaze den Russen darüber hinaus den Bau von vier Stützpunkten ein, veranlasste den Eintritt Georgiens in die GUS und dessen Teilnahme am Taschkenter Bündnis, das 1992 zwischen den Staaten der GUS „zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes“ abgeschlossen worden war.
Eine Kommission der OSZE, KSZE überwachte, von Minsk ausgehend, die Vereinbarungen Georgiens mit Abchasien und Südossetien. Sie entwarf mehrfach Friedenspläne, die aber immer wieder auf Eis gelegt wurden; die Konflikte froren auf dem Stand einer de-facto-Existenz Abchasiens und Südossetiens ein. Eine internationale Anerkennung kam – wie auch zu Berg Karabach und der Djnesterrepublik – nicht zustande.
In der „Rosenrevolution“ 2003, die Schewardnaze stürzte, kam Michail Saakaschwili mit der erklärten Absicht an die Macht, Abchasien und Südossetien wieder unter „volle Kontrolle“ des georgischen Staatsgebietes bringen zu wollen. Die Beziehungen blieben zunächst noch entspannt. Saakaschwili stand sogar zur Mitgliedschaft in der GUS und hielt ausdrückliche Distanz zur NATO.
Im Mai 2004 jedoch, nach der Wiederwahl des ossetischen Präsidenten Eduard Kokoitys, der Saakaschwilis Eingliederungsabsichten mit nationalen Tönen beantwortet hatte, sperrten georgische Truppen die Grenze zu Südossetien und richteten Kontrollpunkte entlang der südkaukasischen  Fernstraße ein. Sie schlossen den Ergneti-Markt, Südossetiens wichtigste Einnahmequelle. Truppen wurden an der Pufferzone stationiert. Als Russland daraufhin zusätzliche Kräfte in die Region transportierte, brachen erneut Kämpfe aus.
Am 13. August 2004 wurde der Waffenstillstand erneuert. Seine Einhaltung wurde ab 2005 von der KSZE mit acht Militärbeobachtern kontrolliert. Seit 2006 jedoch häuften sich die Konflikte. Saakaschwili erklärte wiederholt, dass er auch militärisch die Einheit Georgiens wiederherstellen werde, wenn Südossetien sein Angebot eines Autonomiestatus nicht annehmen werde. Zchinwali lehnte dieses Angebot mit Hinweis auf seine faktische Selbstständigkeit ab.
Auch die Friedenstruppe wurde Gegenstand der Auseinandersetzung: Saakaschwili warf Russland vor, in der Friedenstruppe durch Unterstützung der Südosseten zweifach, zusammen mit dem nordossetischen Kontingent sogar dreifach vertreten zu sein. Er wertete das als Besetzung Georgiens durch russische Truppen. Zudem forderte er den Rückzug Russlands aus den von Schewardnaze 2004 zugestandenen Stützpunkten. Im Juli 2006 verlangte das georgische Parlament, die Friedenstruppen, vor ihren russischen Teil durch eine internationale Polizeitruppe zu ersetzen. Seit 2007 baute Georgien, gefördert von den USA und der NATO, ca. 20 km. von Zchinwali entfernt bei der Stadt Gori eine Militärbasis auf. Die Ausgaben für den Militärapparat hatten sich zu diesem Zeitpunkt von 0,5% des georgischen Bruttosozialproduktes im Jahr 2003 um das Sechsfache auf 3% im Jahr 2007 erhöht.
Politische Provokationen gegen Russland begleiteten diesen Kurs: so die offene Unterstützung der „orangenen Revolution“ in der Ukraine,  so die wiederholten Ankündigungen Saakaschwilis, dass Georgien die GUS verlassen, dafür in die NATO eintreten wolle, nicht zuletzt die offene Finanzierung dieses Kurses durch die USA: Nach Angaben des Statedepartments erhielt Georgien seit 2002 820 Millionen US-Dollar an Hilfe. Damit war Georgien der drittgrößte Empfänger von US-Hilfe per pro Kopf nach Irak und Armenien und noch vor Afghanistan. („Russland Analysen“, S. 4)
Am    23. Mai 2005 konstituierte sich schließlich, ebenfalls gefördert von den USA, die GUAM (bei ihrer Gründung so genannt nach den Mitgliedstaaten Georgien, Usbekistan, Ukraine, Aserbeidschan und Moldawien) unter Hinzutreten von Litauen und Rumänien neu als prowestlich orientiertes Konkurrenzbündnis zur GUS, nachdem Usbekistan und Aserbeidschan vorher ausgetreten waren.
Eine Zuspitzung der Konflikte trat ein, als am 27. September 2007 vier russische Offiziere in Georgien wegen Spionage verhaftet und öffentlich vorgeführt wurden Russland antwortete mit nahezu totaler Wirtschaftsblockade Georgiens. Trotz westlicher Hilfe kam Saakaschwili auf diese Weise in einen immer stärkeren Zugzwang: Sein Wahlversprechen auf Herstellung territorialer Einheit konnte er nicht einlösen; die Wirtschaft zeigte zwar Zuwachs, der aber an der Mehrheit der Bevölkerung auf Grund von Korruption und Clanwirtschaft vorbeiging. Anfang November kam es zu Massenprotesten, die Opposition forderte den Rücktritt Saakaschwilis. Er ließ die Demonstrationen zusammenknüppeln und einen oppositionellen Fernsehsender schließen. In den vorgezogenen Wahlen am 5. Januar 2008  stürzte er auf 53% der Stimmen ab.

Wer dies alles vor Augen hat, wird verstehen, warum Saakschwili in der Nacht vom 7. auf den 8. 8. 2008 sein Heil schließlich in einer militärischen Flucht nach vorne suchte, die selbst sonst russlandkritische Beobachter wie die in Bremen herausgegebenen „Russland Analysen“ zu der Frage führte: „Wer hat welchen Anteil an der Eskalation? Die Frage ist nicht einfach. Der Krieg ging aus einer sich im März 2008 verdichtenden Ereigniskette gegenseitiger Provokationen zwischen georgischen, ossetischen und russischen Akteuren hervor. Wie es dann zu der unseligen georgischen Offensive gegen Zchinwali vom 7.-8. August kam, bleibt gleichwohl eine offene Frage, die der georgische Präsident vor allem seinem eigenen Land zu beantworten hat.“
Bleibt festzustellen, dass Russland in seiner Rolle als Friedensmacht selbstverständlich nicht ohne Widerspruch dasteht. Russlands primäres Interesse nach dem Zerfall der Union 1990 bestand zunächst darin, die eigene Staatlichkeit vor weiterem Zerfall zu bewahren. Folge war der Krieg in Tschetschenien und der Versuch, die Konflikte im Süden nicht eskalieren zu lassen. Solange Russland s durch den Krieg in Tschetschenien geschwächt war, war das „Einfrieren“ der Konflikte aus russischer Sicht strategisch nützlich. Es half Russland Gewaltausbrüche zu verhindern und zugleich differenzierten innenpolitischen Einfluss auf die beteiligten Konfliktparteien im Kaukasus ausüben. Eine „Gemeinschaft der nicht anerkannten Staaten“ bildete sich; auch das stärkte Russlands Einfluss. Konfliktträchtig war die Tatsache, daß die russischen Friedenstruppen zugleich Konfliktpartei waren. Sie partizipierten zudem mit illegalen Waffenverkäufen an der Halblegalität. Als Folge offener Grenzen zu Russland und georgischer Sanktionen wurden die Gebiete in den russischen Wirtschaftsraum eingesogen. Hinzu kam die Ausgabe russischer Pässe an Bewohner Abchasiens und auch Südossetiens seit 2002, außerdem die Auszahlung Renten durch den russischen Staat, die über dem georgischen Niveau liegen.
Es entstand, so Stephan Bernhardt im Eurasischen Magazin in einer Analyse weit vor der offenen Eskalation, eine „schleichende Annexion“ der Schutzgebiete durch Russland. Nach der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die USA, Großbritannien und einige EU-Staaten im März 2008 gab Wladimir Putin den russischen Behörden die Anweisung  quasi-staatliche Beziehungen Abchasien und Südossetien aufzunehmen. Im Mai verstärkte Russland seine Truppen in Abchasien; im Juni 500 schickte es Fallschirmjäger nach Ossetien. Außerdem wurden im Sommer 2008 noch einmal 400 Mann zur Reparatur einer Bahnstrecke in Abchasien geordert. Am 15. 7. 2008 führte Russland ein Manöver „Kaukasus 2008“ an der grenze zu Georgien durch. Kurz, es ist offensichtlich, daß Russland mit einem möglichen Vorstoß Saakaschwilis rechnete. Noch in den letzten Wochen gab es allerdings Versuche von russischer Seite, die Konflikte auf dem Verhandlungswege zu entschärfen. Selbst der Abschuss einer Drohne über Abchasischem Gebiet war von Russland öffentlich gemacht worden, um Saakaschwilis Mobilisierung zu stoppen. Saakaschwilis Erklärung, er habe einem russische Angriff zuvorkommen müssen wird  selbst von seinen eigenen Militärs der Unwahrheit bezichtigt (siehe NATO-Bericht in der FAZ vom 6.9.2008). Nachträgliche Untersuchungen belgischer Abgeordneter kamen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Stadt Zchinvali nicht durch „Kämpfe“ zerstört worden sei, sondern dass sie bereits durch georgischen Beschuß dem Erdboden gleichgemacht war, bevor das russische Militär die georgischen Angreifer zurückschlug. Ob dabei die „Verhältnismäßigkeit“ überschritten und ob mit der anschließenden Anerkennung Abchasiens und Ossetiens das Völkerrecht verletzt wurde, ist unter westlichen Völkerrechtlern umstritten.

Vom Völkerrecht, argumentieren selbst russlandkritische Autoren –  wenn man denn in Bezug auf Krieg überhaupt völkerrechtlich argumentieren will – sei auch ein de-facto-Staat, als die Abchasien und Ossetien seit dem Zerfall der Sowjetunion nun einmal gelten müssten –  zweifellos geschützt, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits gegen Aggressionen von außen, andererseits könne er sich von außen Hilfe zum Selbstschutz herbeirufen.
Völkerrechtlich sei Russland auch zum Angriff berechtigt gewesen, weil die Friedenstruppen unter Bruch der geltenden Verträge von Georgien angegriffen und russische Soldaten dabei getötet worden seien. Auch Russlands Angriff auf Nachschubstellungen des georgischen Militärs sei gedeckt, soweit von ihnen Angriffe ausgegangen und weiter zu erwarten gewesen seien. Wie weit dabei die Verhältnismäßigkeit überschritten worden sei, sei eine Ermessensfrage, deren Beantwortung notwendig nach Einschätzung der Lage schwanke.

Bei diesen Feststellungen könnte man es bewenden. Es gibt da aber einige Elemente in der Eskalationsgeschichte dieses Konfliktes, die noch einer weiteren Ausleuchtung bedürfen:

Da ist zuallererst die Tatsache, Georgien parallel zum russischen Manöver „Kaukasus 2008“ auf georgischem Territorium ein Manöver zusammen mit der NATO durchführte. Man könnte also meinen, dass auch die NATO vorbereitet war. Bemerkenswert ist weiterhin, dass zwei der über Abchasien und Ossetien abgeschossenen Drohnen Fabrikate israelischer Bauart (Elbit Hermes 450) waren, offenbar also nicht nur die USA, sondern auch Israel am Aufbau der georgischen „Sicherheitskräfte“ beteiligt war. Festzuhalten ist auch, dass die USA nicht nur bereit, sondern auch in der Lage waren, die 2000 Mann zählende georgische Hilfstruppe aus dem IRAK umgehend zur Unterstützung des georgischen Militärs nach Georgien einzufliegen.
Zu erinnern ist weiterhin an die NATO-Tagung in Bukarest, auf der Georgien und der Ukraine angesichts erkennbarer gespannter Entwicklung der Lage im Kaukasus eine Beitrittsperspektive zur NATO zugebilligt wurde. Nur gestreift werden sollen hier schließlich die Kampfansagen aus den Tiefen des US-Wahlkampfes, in denen Russland wieder einmal unter die Schurkenstaaten eingereiht wurde.
Hinter der örtlichen Zuspitzung der Widersprüche taucht die große „stategische Ellipse“ auf, die NATO, EU und US-Planer immer wieder beschwören, wenn es um die globale „Energiesicherheit“ geht. Die „strategische Ellipse“ umfasst vom Süden her die arabischen Staaten und den Iran, von dort erstreckt sie sich über das schwarze Meer, den Kaukasus und das kaspische Meer bis in den mittleren Norden Russlands. Sie enthält 80% aller heute bekannten fossilen Ressourcen. Ihr südlicher Teil – Arabien und der Iran – ist vergeben, ihr nördlicher Teil ist Gegenstand der heutigen strategischen Auseinandersetzungen. Seit 1990 wirken USA und EU gemeinsam an der Herstellung eines sog. Transportkorridores, der von West nach Ost am Bauch Russlands entlangführt. Durch ihn soll Öl und Gas unter Umgehung russischer Beteiligung fließen. Die Pipelines, die dafür gebraucht werden, müssen und können nur  – sollen sie russisches Gebiet oder mit Russland befreundete Länder wie den Iran und Armenien umgehen – durch Georgien führen. Das ist die von den USA finanzierte Pipeline Baku – Tiblisi – nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste, demnächst auch noch das EU-Projekt der Nabuko-Linie von Baku über Tiblisi, Ankara direkt nach Südeuropa. Das hat Georgien zum unverzichtbaren Transitland auf dem Schachbrett des „großen Spiels“ gemacht, von dem Sbigniew Brzezinksi, seinerzeit Sicherheitsberater Clintons, heut Hintermann Obamas, bereits 1997 sprach: Er nannte den Kaukasus das „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“, auf den die USA sich den Zugriff als Weltmacht sichern müssten, indem sie verhindern das eine der dort beteiligten Kräfte sich auf Kosten anderer wieder zur Vormacht entwickeln könnte. Für die USA sind Geogier, Abchasen und Osseten Bauern in diesem Spiel; für Russland sind sie Nachbarn; mit denen es leben muss. Nach den neuesten Ereignissen stellt sich die Frage, wer auf dem kaukasischen Brett jetzt den nächsten Zug tut.

Kai Ehlers,
www.kai-ehlers.de

Quellen und weiterführende Literatur:

1. Russland Analysen 169
2. Mari-Carin von Gumppenberg; Udo Steinbach, Der Kaukasus, Geschichte, Kultur, Politik, becksche Reihe, München 2008
3. laufende Berichterstattung von russland.ru
4. Stephan Bernhardt, Eurasisches Magazin 3/08 und 4/08
5. Mündliche Berichte

6. Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer bt 14358, 1997/99

veröffentlicht in: Gazette

„Konsumterror“ 68 – Konsumoffensive im heutigen Russland

Skizze zu einem immer wieder ausgegrenzten Zusammenhang
Referat auf der Konferenz: „1968 – Eine globale Revolte und ihre Bilanz“

Was hat die 68er Parole „Kampf dem Konsumterror“ mit Konsumoffensive im heutigen
Russland zu tun? Zunächst scheinbar nichts außer dem Wort „Konsum“. Der tiefere
Zusammenhang erschließt sich jedoch, wenn beide Vorgänge nicht als begrenzte
nationale oder örtliche Ereignisse, sondern als Ausdruck eines Kulturbruchs
begriffen werden, dessen Kern die weltweite Transformation der industriellen in
eine nach-industrielle Gesellschaft seit dem 2. Weltkrieg ist und deren äußerer
Ausdruck das ist, was wir gemeinhin heute Globalisierung nennen.

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Interview: Saakaschwili hatte Rückendeckung der USA

Erscheinen in: Telepolis

„Saakaschwili hatte die Rückendeckung der USA“
Von Harald Neuber
Wie es zu dem Krieg im Kaukasus kommen konnte, wer von ihm profitiert und wie die Perspektive aussieht. Ein Interview mit Kai Ehlers (http://www.kai-ehlers.de)
Telepolis sprach mit Kai Ehlers – Publizist, Transformationsforscher und Autor zahlreicher Bücher über den postsowjetischen Raum
Herr Ehlers, der Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland ist vorerst beendet, nun sind die Diplomaten am Zug: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ebenso in die Region gereist wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die US-amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice. In der europäischen Presse wird die Krise um Südossetien gemeinhin als Wiederauflage des Kalten Krieges gesehen. Sind Sie mit dieser Interpretation einverstanden?
Nein, ich bin damit überhaupt nicht einverstanden. Meiner Meinung nach geht es hier nicht um eine Wiederauflage einer bekannten Situation. Was wir im Kaukasus derzeit erleben, ist eine neue Phase der Auseinandersetzung um die Neuordnung der Welt. Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, der Konfrontation der beiden Supermächte, stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Die USA meint, als einzig verbleibende Weltmacht eine bestimmte internationale Ordnung herstellen und aufrechterhalten zu können. Strategisch formuliert wurde das vom US-Geostrategen Zbigniew Brzezinski …
… der seit wenigen Wochen zum Beraterstab des Demokratischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama gehört …
… und der sich über dem Amtsinhaber George W. Bush mehrfach beschwert hat, weil dieser seine Außenpolitik schlecht umsetze. Auf der anderen Seite existiert eine Konzeption, die in China entstanden ist und sich in Russland von Michail Gorbatschow über Boris Jelzin bis hin zu Wladimir Putin und Dmitri Medwedew erhalten hat. Es ist die Konzeption einer multipolar organisierten und kooperativen Weltordnung unter Führung der Vereinten Nationen oder einer vergleichbaren internationalen Organisation.
Was sich der Zeit im Kaukasus abspielt, ist also mehr als ein Konflikt zwischen der Hegemonialmacht Russland und dem kleinen Georgien?
Eine solche Interpretation ist schlichtweg Unsinn. Im Gegenteil: Wir wurden im Kaukasus nach dem 8. August Zeugen eines Stellvertreterkrieges. Dieser unmittelbare Krieg ist nun zwar zu Ende, der dahinter stehende Konflikt ist aber nach wie vor ungelöst. Es ist ein Stellvertreterkrieg, der für die beiden Großmächte USA und Russland geführt wird, aber auch für die Europäische Union und andere Mächte, die auf diese Region schielen, aber an dem Geschehen nur mittelbar beteiligt sind: China, die Türkei, Iran.
Welche Rollen spielen – gerade vor dem Hintergrund der Balkankriege in den 1990er Jahren – Nationalgefühle und ethnische Komponenten?
Es ist ganz klar, dass der Kaukasus ein ethnischer Durchgangsraum ist, ein „Flickenteppich“, wie es immer so schön heißt. Brzezinski spricht vom „eurasischen Balkan“. Dabei kann man nicht von der Hand weisen, dass aus dieser ethnischen Struktur Probleme entstanden sind. Aber diese Probleme sind nicht die Ursache für die jetzigen heftigen Konflikte. Die ethnischen Unterschiede werden vielmehr als Vorwand genommen.
Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat wohl bewusst von einem „Völkermord“ gesprochen, nachdem die russischen Truppen in das Kriegsgebiet eingerückt sind. Offenbar hat er auf den Beistand des Westens, vor allem der USA, gehofft. Hat er sich verschätzt?
Nein, das war im Grunde keine Fehleinschätzung von Saakaschwili, denn er hat ja die notwenige Rückendeckung der USA gehabt. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass er bis zuletzt ohne das Wissen der im Land befindlichen US-amerikanischen Militärberater gehandelt hat. Ganz abgesehen davon, dass der Einmarsch der Russen nicht Ursache des Krieges war, sondern Folge des Überfalls georgischer Truppen auf die Enklave Ossetien.
Wie viele sind das denn?
Es gibt verschiedene Schätzungen, die von bis zu 1000 Mann ausgehen. Genau kann man das nicht sagen, weil es in Tiflis und Washington bestritten wird. Nach einer der offiziellen Angaben sind es lediglich 24 solcher Berater – aber das ist lächerlich. Die USA finanzieren seit langen den Aufbau des georgischen Militärapparates.
Saakaschwili hat sich also nicht verschätzt, sondern – und das ist ein wichtiger Unterschied – er ist aus dem Ruder gelaufen. Mit ihm ist im Endeffekt das gleiche passiert wie zuvor mit Osama Bin Laden oder Saddam Hussein. Diese beiden sind Washington auch aus dem Ruder gelaufen. Das ist ein Ausdruck der US-amerikanischen Interventionspolitik: Es wird jemand aufgebaut und als Oppositionsfigur international hoffähig gemacht. In diesem Fall war das Ziel, ein Instrument zu schaffen, um Russlands Einfluss einzugrenzen. Saakaschwili hat sich verselbstständigt, weil er glaubte, unabdingbar geworden zu sein.
Auf der diplomatischen Ebene verfolgen die USA aber weiterhin eine weitaus aggressivere Linie gegen Russland als die EU. Haben Washington und Brüssel unterschiedliche Interessen?
Die USA und die EU haben teilweise gleiche Interessen, vor allem in Bezug auf den Transitkorridor in Georgien. Es geht dabei um den Versuch, Russland von seinen Ressourcen und seinem südlichen Einzugsraum zu trennen. Von Europa aus wird dafür südlich von Russland ein Transportkorridor aufgebaut, und in dieses Projekt werden Milliardenmittel gesteckt. Dabei ist vor allem die Pipeline hervorzuheben, die von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über Georgien bis in die türkische Hafenstadt Ceyhan verläuft – die so genante BTC-Pipeline.
In der Sache stimmen Europa und die USA also überein. Differenzen gibt es in der Frage des Vorgehens. Die US-Amerikaner bevorzugen die militärische, die Europäer die ökonomische Variante, um ihren Einfluss geltend zu machen. Abgesehen davon stehen Washington und Brüssel auch in direkter Konkurrenz, was man sehr deutlich in der Trennung zwischen einen „alten“ und einem „neuen“ Europa beobachten kann. Gerade im Hinblick auf den NATO-Beitritt Georgiens wird hier von den USA aus ein Spaltkeil in die EU getrieben.
Aber hat die Einbindung der osteuropäischen Staaten in EU-Strukturen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik nicht auch dazu beigetragen, dass Russland sich in zunehmender Isolation fühlt?
Sicher, denn hier stehen sich zwei Integrationsräume gegenüber. Das ist auf der einen Seite der russische und auf der anderen Seite der europäische Integrationsraum. Dazwischen gibt es einen Grenzbereich, der vom Balkan bis zum Baltikum verläuft. Dazu gehören auch die Ukraine und der Kaukasus. Einerseits wird zwischen der EU und Russland eine so genannte strategische Partnerschaft formuliert, andererseits steht man sich in diesen Regionen in direkter, bissiger und harter Konkurrenz.
In den vergangenen Tagen war viel von der erwähnten BTC-Pipeline die Rede. Die Energiepolitik ist also auch hier eine treibende Kraft?
Sie ist ein ganz wesentlicher Punkt. Geopolitisch betrachtet würde man hier von einer strategischen Ellipse sprechen. Diese Ellipse reicht vom arabischen Raum und Iran über das kaspische Meer bis nach Norden in den russischen Raum hinein. Der südliche Raum – Arabien und Iran – ist besetzt, weil die Kontrolle über die dortigen Energieressourcen von den nationalen Regimes nicht abgegeben wird. Aber der nördliche Raum scheint zur Disposition zu stehen, deswegen sind darauf alle Augen gerichtet. Bedeutend ist das allein schon, weil im gesamten Gebiet der strategischen Ellipse etwa 80 Prozent der weltweiten Energieressourcen liegen.
Aber wer profitiert von der BTC-Pipeline? Errichtet wurde sie ja noch unter US-Präsident William Clinton, betrieben wird sie jedoch von British Petroleum …
Diese Frage lässt sich im Grunde nur auf der Basis strategischer Überlegungen beantworten. Die USA haben in der Region eine Reihe von Pipelines bauen lassen, die ökonomisch überhaupt keinen Sinn haben. Sie scheinen nur dem Zweck zu dienen, Russland zu behindern. Das ist auch der Sinn der BTC-Pipeline, die eigentlich auch nicht rentabel ist. Sinnvoller wäre es, das Erdöl aus dem kaspischen Raum über die vorhandenen russischen Leitungen gen Westen zu transportieren. Und viele machen ja genau das. Auch die Aserbaidschaner verkaufen keineswegs nur über die BTC-Pipeline ihr Erdöl. Die ökonomische Vernunft wird hier also offensichtlich durch politische Motive überlagert. Dabei ist dann offenbar der strategische „Gewinn“ – also die Behinderung der Russen – größer als der ökonomische Profit.
Nach dem kurzen und heftigen Krieg sind nach Schätzungen internationaler Organisationen bis zu 100.000 Menschen vertrieben worden, vor allem aus Südossetien. Wie kann der humanitären Lage begegnet werden?
Das ist sehr schwer. Zunächst muss man feststellen, dass 2000 Menschen durch den Überfall georgischer Truppen auf die Stadt Tschinvali ermordet wurden. Sie sind tot und das nicht mehr zu ändern. Viele andere haben ihre Häuser und ihre Habe verloren. Man kann sie nun in Zelten unterbringen und versorgen. Dabei ist jeder einzelne gefordert, die einschlägigen Hilfsorganisationen wie das Internationale Rote Kreuz zu unterstützen. Eine andere Sache ist, dass die Menschen in der Region die Leidtragen einer Machtpolitik sind, die sie nicht wollen. An diesem Punkt müssen wir uns im Westen fragen, inwieweit wir Anteil an dieser Misere haben. Wir müssen uns fragen, welchen Anteil unser westlicher Lebensstil an der Entstehung dieses Krieges gehabt hat. Es geht hier also nicht nur um
Hilfszahlungen, es geht eben auch um mittel- und langfristige Veränderungen bei uns.
Herr Ehlers, Sie kennen Russland und die kaukasischen Staaten aus vielen Reisen. Wie, denken Sie, reagieren die Menschen im Krisengebiet auf den Konflikt? Gibt es eine von Nationalismus geschürte Kriegsbegeisterung wie etwa zu Beginn der Balkankriege?
Nein, die gibt es auf keinen Fall. Ich habe vor wenigen Tagen einen Brief von einem russischen Freund bekommen, der völlig entsetzt über die Berichterstattung der westlichen Presse war. In Zukunft wird in Russland der westlichen Presse und westlichen Politikern mit großem Argwohn begegnet werden. Heute erst hatte ich russische Gäste zu Besuch, die das alles von sich gewiesen haben und nicht darüber reden wollten. Im Konfliktgebiet selber sind die Menschen einfach nur entsetzt. Es ist nicht ihre Politik, aber sie sind die Opfer dieser Politik und des Krieges.

Notizen über mich selbst „Gesättigt und versorgt träumten wir von einer konsumfreien Welt“,

in: Alles schien möglich, 60 Sechziger über die 60ziger Jahre und was aus ihnen wurde., Der grüne Zweig 252, Herausgegeben von Werner Pieper.

Wenn ich gebeten werde zu erzählen, wie es damals – in den 60ern - war, komme ich immer in Verlegenheit: Womit beginnen? Es gibt so viele Türen, durch die man gehen kann. Es gibt so viele Arten, wie man erzählen kann. Soll ich mit den Träumen beginnen? Vielleicht besser mit dem Zorn? Oder einfach nur erzählen, wie mein Leben in der Zeit zwischen dem fünfzehnten und dem dreißigsten Lebensjahr ausgesehen hat? Das alles liegt lange zurück und ist doch gegenwärtig.

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