Eine bemerkenswerte Blindheit hat sich dieser Tage über die medialen Wahrnehmungsorgane des Westens gelegt: Die Rede des russischen Präsidenten Medwedjew an seine Nation – einen Tag nach der Wahl Barak Obamas zum neuen US-Präsidenten – wird in einer Weise zitiert, die nur Erstaunen hervorrufen kann: Von einer Aufstellung russischer „Atomraketen“ an der polnischen Grenze ist die Rede, von Provokation, von Kriegsdrohung. Auch der Vorschlag Medwedjews, die Amtszeit des russischen Präsidenten von vier auf sechs Jahre zu verlängern, ruft helle Empörung der westlichen Kommentatoren hervor und animiert Kremlastrologen aller Couleur zu Spekulationen, Medwedjew sei nur ein Strohmann, der Putins Wiederkehr vorbereiten solle.

Ankündigungen des russischen Präsidenten, die Mandate der Duma-Abgeordneten von vier auf fünf Jahre verlängern, die Staatsbürokratie dezentralisieren zu wollen, indem zukünftig die Gouverneure von Parteien vorgeschlagen, ein Rotationsverfahren für Parteivorsitzende eingeführt, die 7%-Klausel für die Wahl zum Parlament gelockert, NGOs in die gesetzgebenden Verfahren einbezogen werden, tauchen in dieser Berichterstattung nur noch am Rande auf.

Völlig übersehen werden Mewedjews Ankündigungen einer neuen Geldpolitik. Dankenswerterweise war das Fehlende in der Internetzeitung russland.ru nachzulesen. Hat der Präsident doch wörtlich gesagt, es müssten „nun praktische Schritte zur Verstärkung der Rolle des Rubels als einer der Währungen bei internationalen Verrechnungen unternommen und endlich mit dem Übergang zur Rubelverrechnung begonnen werden.“ Dies gelte insbesondere für den Export von Erdöl und Erdgas durch Gasprom. Und mit Blick auf die Spekulationskrise fügte er hinzu, die Unterbringung von neuen Emissionswertpapieren müsse “gerade in Rubeln und wünschenswerter Weise auf dem russischen Markt“ stimuliert werden. Das Endziel all dieser Prozesse sei, „den Rubel zu einer regionalen Währung zu machen.“ Auch andere sich entwickelnde Länder könnten in dieser Weise aktiv werden. Je mehr starke Finanzzentren in der Welt es gebe, desto sicherer werde die globale Finanzentwicklung sein.

Auch Medwedjews Position zum Krieg im Kaukasus sucht man vergebens in der Berichterstattung unserer Medien: „Wir werden im Kaukasus nicht zurückweichen“, hatte Medwedjew erklärt und – wieder mit Blick auf die weltweite Spekulationskrise – ergänzt, Russland, das „in der Zeit des Wachstums deutliche Vorteile“ gehabt habe, sei „bereit gemeinsam die jetzigen Schwierigkeiten anzugehen.“ Aber es sei auch notwendig „Mechanismen zu schaffen, die die fehlerhaften, egoistischen und mitunter auch einfach gefährlichen Entscheidungen einiger Mitglieder der Weltgemeinschaft blockierten.“

Auf einen Rüstungswettlauf werde Russland sich zwar nicht einlassen, schränkte Medwedjew ein. Die „Installation eines Raketenabwehrsystems in unmittelbarer Nähe zum russischen Territorium“ müsse Russland jedoch als „direkte Bedrohung verstehen und dies bei der Gestaltung unserer Verteidigung berücksichtigen.“

Wer diese Rede nur für „powerplay“ oder Propaganda hält oder aus ihr nur eine blinde Reaktion Russlands auf das Raketen-Programm der USA in Polen und Tschechien heraushört, die aus Reflexen unverbesserlicher kalter Krieger resultiere, dem sei in Erinnerung gerufen, dass Russland unter dem Stichwort der Multipolarität spätestens seit Putins Rede auf der NATO-Sicherheitstagung Anfang 2007 in München beständig die Reform der europäischen wie auch der globalen Sicherheits- und Bündnissysteme anmahnt – allerdings nicht in der Bedeutung, wie man es seit der Spekulationskrise und nach der Wahl Obamas neuerdings auch von westlichen Politikern und Medien hört. Sie verstehen unter Multipolarität die Erneuerung der Führungsmacht der USA, die mit „stärkeren Anforderungen“ an ihre Bündnispartner einhergeht.

Das russische Verständnis der Multipolarität beinhaltet demgegenüber eine gleichberechtigte Kooperation der in der Welt herangewachsenen neuen Mächte; das sind im Kern zumindest die BRIC-Staaten, Brasilien, Russland, Indien, China, zudem die EU und die USA, im Weiteren auch die Staaten des arabisch-iranischen, tendenziell, versteht sich, auch des afrikanischen und Ozeanischen Raums. Im selben Sinne tritt Russland für eine Aktivierung der OSZE/KSZE, für eine Reform der UN, der WTO, des IWF und für eine Öffnung der G7 zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Beratungsgremium ein.

Die Abrüstung der NATO von einem globalen westlichen militärischen Interventionsbündnis zu einer regionalen Sicherheitsorganisation spielt in Russlands Anmahnungen einer neuen internationalen Ordnung angesichts der aggressiven NATO-Expansion rund um Russlands Grenzen eine besondere Rolle, versteht sich. Mit seinem jüngsten Eingreifen im Kaukasus, einschließlich der anschließenden Anerkennung der beiden de-facto-Staaten Abchasien und Süd-Ossetien hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht gewillt ist, eine weitere Expansion der NATO hinzunehmen.
Hinter den von Medwedjew vorgetragenen Vorschlägen und Forderungen steht keineswegs nur Luft, wie die Mehrheit der westlichen Beobachter nach wie vor zu glauben scheint. Immer lauter werden in den letzten Jahren, beschleunigt durch die schrittweise Einführung des Euro seit 1999, die Absichten der Öl und Gas exportierenden Staaten, die seit 1972/3 bestehende Koppelung der Öl- und Gaspreise an den Dollar zu lösen und stattdessen in Euro, Yen oder – seit ein paar Jahren geplant und nun offen ausgesprochen – auch in Rubel zu kassieren.

Bisher konnten die USA, deren Dollar-Stabilität und damit weltweite Vormachtstellung mit der Bindung des Ölpreises an den Dollar steht und fällt, eine solche Entwicklung verhindern. Das Schicksal Saddam Husseins, der als erster Öl gegen Euro verkaufen wollte, ist bekannt. Nach ihm plante der Iran eine internationale Ölbörse, die sich vom Dollar unabhängig machen sollte. Solche Pläne dürften die Spannungen zwischen Iran und USA wesentlich mit verursachen.

Mit der Entwicklung Gasproms zum führenden Unternehmen eines eurasischen Gas- und Ölverbundes in den letzten Jahren haben diese Bestrebungen zur Löslösung des Gas- und Öl-Geschäfts vom Petro-Dollar einen neuen, aktuellen Schub bekommen: Hinter Medwedjews Überlegungen zur Umstellung der Öl- und Gas-Verkäufe auf Rubel steht nämlich die bisher weitgehend unbemerkt gebliebene Tatsache, dass die seit 1991 betriebene „atlantische“ Ost-Expansion von US- und EU-Konzernen mit der von Gasprom betriebenen Entwicklung der Ost-See-Pipeline im Norden und einer spiegelbildlichen „South-Pipeline“ im Süden ihre vorläufige Grenze gefunden hat. Beide Gasprom-Projekte werden Europa, in Konkurrenz zu US- und EU-Plänen, mit russischem, bzw. über Russland geleitetem zentralasiatischen Gas versorgen.

Mit der Einbindung von EU-Staaten – Bulgarien, Serbien, Ungarn, Slowakei, Österreich – in Planung und konkrete Vorbereitung dieser Pipelines hat Gasprom die seit 1990/91 verfolgte Strategie der USA und ihr folgend der EU durchkreuzt, durch den Ausbau eines Ost-West-Transportkorridors kaukasisches und zentralasiatisches Gas und Öl unter Umgehung des früheren sowjetischen Transportmonopols an Russland vorbei in den Welthandel einzuleiten. Zwar ist die BTC-Pipeline, benannt nach den Städten Baku, Tiblissi und Ceyhan an der türkischen Küste seit 2005 in Betrieb; durch sie wird Öl aus Azerbeidschan über Georgien an die Türkische Küste gepumpt. In Planung ist zudem die von der EU auf Betreiben der USA projektierte Nabucco-Pipeline, die Gas aus Zentralasien durch das Kaspische Meer ebenfalls über Georgien und die Türkei nach Bulgarien und von dort über Ungarn nach Österreich schaffen soll. Von dort aus soll das Gas dann über Europa verteilt werden. Mit „North-Stream“ und „South-Stream“ wird Gas jedoch nicht mehr allein über die Nabucco-Pipeline in den Handel gelangen, sondern auch über das russische Pipelinenetz. In den Ländern der EU werden die Anlagen streckenweise direkt parallel neben einander verlaufen.

Sowohl „North-Stream“ als auch „South-Stream“ sind trotz intensivsten Einsatzes der USA für die Entwicklung eines einheitlichen EU-Energiesicherheitskonzeptes durch Sonderverträge zwischen Gasprom und einzelnen EU-Staaten zustande gekommen. Mit Turkmenistan hat Russland 2008 langfristige Verträge abgeschlossen, die vorsehen, dass turkmenisches Gas (wieder) durch russische Leitungen und später, wenn sie fertig gestellt ist, in „South-Stream“ eingespeist werden soll. Die Verhandlungen dazu begannen vor dem Krieg um Süd-Ossetien; gleich danach wurden sie endgültig abgeschlossen. Die Verwirklichung der Nabucco-Pipeline, die über das Stadium der Planung noch nicht hinausgekommen ist, steht damit in den Sternen, denn ohne turkmenisches Gas ist sie nicht wirtschaftlich zu betreiben.. Aber auch der Betrieb der BTC ist gefährdet, seit Azerbeidschan bestrebt ist, sich vom Diktat des 1991 abgeschlossenen „Jahrhundertvertrages“, der westlichen Multis die alleinige Ausbeutung der Vorkommen garantierte, durch „Diversifizierzung“ seiner Lieferungen an unterschiedliche Abnehmer zu emanzipieren.

Kurz, seit die russische Regierung in den ersten Amtsjahren Putins Gasprom von einem Selbstbedienungsladen zu einem effektiv arbeitenden international agierenden Konzern reformierte, noch einmal verstärkt, nachdem sie 2004 das Yukos-Imperiums aufgelöst und die Verfügung über die fossilen Ressourcen wieder an sich gezogen hat, ist ein Patt zwischen USA/EU und Russland im Zugriff auf die fossilen Energien jenes Raumes entstanden, den US-Stratege Sbigniew Brzezinski nach dem Ende der Sowjetunion unter der Bezeichnung „Filetstück“ des „eurasischen Balkans“ als neuen Einflussbereich der USA reklamiert hatte.

Bei klarem Verstand ließe diese Sachlage eigentlich nur eine Lösung zu, wenn es nicht zu weiteren militärischen Konfrontationen im Kaukasus kommen soll: die Förderung und die Verteilung der Gas- und Öl-Ressourcen dieses Raumes kooperativ statt nebeneinander oder gar gegeneinander zu betreiben, gestützt auf einen Rat der kaukasischen und zentralasiatischen Anrainer. Medwedjew hat eine klare Ansage gemacht, wie Russland sich die Zukunft des Ölgeschäfts vorstellt: als Kooperation gleichwertiger Partner. Jetzt sind die USA und die EU am Zug, ihr Teil dafür zu tun, die nach der Wahl Obamas viel beschworene „neue Ära“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

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