Besetzung:
Zitator, Sprecher, Übersetzerin
Aussprache: Alle russischen Namen und Begriffe sind in phonetischer Umschreibung wiedergeben.
Anmerkung zu den O-Tönen:
Die Länge der O-Töne ist exakt angegeben. Zähleinheit ist 4,5 sec. pro Zeile plus 4,5 Sec. für die Auf- und 4,5 Sekunden für die Ausblendung. Die Töne sind so geschnitten, dass Anfang und  – wenn am Schluss aufgeblendet werden soll dann auch – das Ende in der Regel für jeweils mindestens 4,5 Sekunden den (fett) angegebenen Textanfängen oder Textenden entsprechen. Evtl. Schnittstellen ( in denen Übersetzung und Ton nicht mehr wortidentisch sind) liegen in der Mitte der Töne. Abweichungen von diesem Schema sind besonders angegeben.

Länge des Manuskriptes: 20.000 Zeichen (einschl. Leerzeichen)

O-Töne weich auf- und abblenden, bitte

Falls Kürzung notwendig, dann O-Ton 3 einschließlich Vortext ab: „Dass dies kein Einzelfall ist…“ fünf Zeilen über O-Ton 3. Weiter dann mit: „Die Tür sollen die Jungs…“)

Freundliche Grüße

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

Babuschkas Töchter (Teil 2)
Marina,Tanja, Rosa … die Suche nach der neuen Frau

Russlands Krise ist nicht nur eine Krise der Wirtschaft. Perestroika hat auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in Bewegung gebracht. Die traditionelle Pyramide patriarchaler Vorherrschaft ist erschüttert, zeigt Risse und bröckelt. Aus ihr geht eine neue Generation von Frauen hervor. Wie ist ihr Selbstverständnis? Wohin wenden sie sich?
Kai Ehlers berichtet über Gespräche mit russischen Frauen.

O-Ton 1: Junge Mädchen in Belowo                                    0,50
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, Lachen
Auf dem Paradeplatz von Belowo. Der Tag der Veteranen ist angekündigt. Auf offener Bühne übt die Band. Drei junge Mädchen warten auf einer Bank. Schülerinnen der Abschlussklasse. Gut gehe es ihnen, lachen sie. Sie freuen sich auf das Fest. Probleme? Ja, natürlich. Kein Geld für das Studium, Unsicherheit, ob sie die Arbeit finden, die sie sich wünschen. Psychologie wollen sie studieren. Aber irgendwie werden sie es schon schaffen. Die Menschen brauchen Hilfe finden sie.
… rasbiratsja schisn.“ Musik

Erzähler:
Was sie über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen denken?

O-Ton 2: Mädchen, Forts.                                0,44
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, ausblenden

Erzähler:
Musik, „Ismenilas…
„Haben sich geändert!“, sagt das Mädchen. “Sind schlechter geworden, Drogen, Alkohol, viele junge Leute sind daran schon gestorben.“ Das sage sie aus eigener Erfahrung, betont sie und als Beobachterin. Zum Umgang von Männern und Frauen miteinander meint sie: „Nun, die Beziehung zwischen Männern und Frauen hat immer von der Frau selbst abgehangen. Wie die Frau sich verhält, so ist die Beziehung des Mannes zu ihr. Darauf hat die Zeit keinen Einfluss, scheint mir.“
…mnje kaschetsja.“, Musik

Erzähler:
Die Freundinnen stimmen zu. Ein fragloses Selbstbewusstsein geht von den drei jungen Frauen aus. Männer sind so, wie sie es zulassen! Das ist der Geist, in dem sie aufgewachsen sind.
Dass dies kein Einzelfall ist, macht ein anderes junges Mädchen klar, das in der Kohle- und Krisenstadt Andschero-Sudschinsk zusammen mit ihrer Mutter den Vater zur Anti-Alkohol-Therapie begleitet. Auf die Frage, ob sie Probleme mit Jungen habe, antwortet sie, obwohl selbst eher unscheinbar und schüchtern, doch unmissverständlich:

O-Ton 3: Junges Mädchen in Andschero-Sudschinsk                 0,48
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nje snaju, mnje…
„Ich weiß nicht. Für mich ist mit Jungs immer alles normal. Wir sind eigentlich immer gleichberechtigt. Aber es gibt natürlich so Jungs, die Mädchen nicht achten, weil sie sich selbst nicht achten, nicht wissen, wie man sich als echter Junge verhalten muss. Und es gibt Mädchen, welche die Jungs nicht achten. Ein Junge sollte ein Junge sein, er soll stark sein, sich nicht schwach zeigen. Mädchen müssen sich ihres Wertes bewusst sein, Stolz zeigen, sich nicht herumtreiben mit Jungs, sich ein bisschen höher stellen als sie.“
…sebja vesti.“

Erzähler:
Die Tür sollen die Jungs aufhalten, ihr in die Jacke helfen und sie einladen. Gleichberechtigt wollen die jungen Mädchen sein, zugleich aber als besonders wertvoll geachtet und sogar „höhergestellt“. Das ist durchgängige Haltung in kleinen und mittleren Städten der russischen Regionen und auf dem Lande, der in Russland etwas abfällig so genannten Provinz. In Moskau, in St. Petersburg und anderen größeren Städten stellen die jungen Frauen andere Ansprüche. Hören wir Marina, waschechte Moskauerin. Sie ist achtzehn, in der Ausbildung als Buchhalterin, wohnt noch bei ihren Eltern, ist nie im Süden oder im Osten Russlands gewesen. Gefragt, ob sie heiraten wolle, antwortet sie:

O-Ton 4: Marina, Moskau                                      0,12
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Njet, nje chatschu…
„Nein, ich weiss nicht. Jetzt will ich nicht. Ich will erst einmal meine eigenen Ziele erreichen, kann sein danach.“
…moschit bit patom.“

Erzähler:
Einen Freund hat Marina selbstverständlich; es ist keineswegs platonische Liebe. Aber heiraten? Eine gute Ehefrau werden, wie das heute in den Regionen noch üblich ist? Nein, das entscheidet jeder Mensch für sich selbst, findet sie. Zu die Ansichten ihrer Altersgenossinnen in der Region meint sie:

O-To 5: Marina, Forts.             0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu snaetje, tam..
„Wissen Sie, dort herrschen bis heute sehr starke und alte Traditionen, wie es von Jahrhundert zu Jahrhundert bei diesen Völkern war: dass die Frau in einem bestimmten Alter unbedingt heiraten muss. Sie muss arbeiten, sie soll den Mann versorgen. Ich bin dagegen, ich unterstütze diese Ansicht nicht. Ich denke nicht, dass das so sein muss. Wenn ich irgendwann Familie haben sollte, und das sollte sein, dann wird es aber nicht so sein, dass ich alles für meinen Mann mache und er nichts tut.  Im Prinzip habe ich alles gelernt, ich kann das Haus machen, ich kann kochen, ich kann das alles, aber ich denke nicht, dass das reine weibliche Aufgaben sind. Schließlich hat der Mann auch Hände. Er kann auch etwas tun.“
…eta djelatj.“

Erzähler:
Alle ihre Freundinnen, erklärt Marina, dächten so wie sie. Es sei eine Frage der Generation. Nicht selten habe sie deswegen auch Differenzen mit ihrer Mutter:

O-Ton 6: Marina Forts.                   0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja nemnoga padrugomom…
„Ich betrachte das Leben ein bisschen anders, ein wenig einfacher in jeder Beziehung. Meine Mutter sieht das Leben auch so, dass die Frau alles machen muss und der Mann nichts – nun, vielleicht nicht ganz so, aber fast so. Mir geht so eine Ansicht ab. Ich sehe das anders. Unterschiedlich sehen wir auch den Umgang von Männern und Frauen miteinander, dass eine Frau erst dann mit einem Mann leben darf, wenn sie verheiratet sind. Ich sehe das nicht so. Und so gibt es viele unterschiedliche Sichtweisen in solchen Lebensdingen. Ich sehe es so, dass ich tue, was ich will. Es ist mein Leben und niemand hat das Recht mir irgendetwas zu verbieten. Ich bin  ja schließlich in dem Alter, dass ich selbst mit meinem Leben klarkomme.“
…raspreschatsja schisnju.“

Erzähler:
„Alle meine Freundinnen sehen das so“ schließt sie. Das Einzige, was Marina stört, ist ihre materielle Abhängigkeit von den Eltern, die besteht, weil sie noch keine eigene Arbeit gefunden hat. Sie bemühe sich aber, so Marina, dies noch während der Ausbildungszeit zu ändern. Nur wenige Monate nach diesem Gespräch hat Marina  tatsächlich eine eigene Arbeit gefunden, der sie neben ihrer Ausbildung im Institut für Wirtschaftswissenschaften nachgeht.
Ganz anders die Generation der Frauen, die bei Einsetzen der Perestroika bereits junge Frauen waren und nun bereits Mütter sind.  Sie fühlen sich zwischen Tradition und neue Zeit hin und her gerissen.
Katharina Selesnjowa etwa ist Telejournalsitin in Nowosibirsk. Gereizt weist sie die Frage nach einer „moralischen Wende“ zurück, die mit der Perestroika eingetreten sei:

O-Ton 7: Katharina Selesnjowa, Telejournalistin        0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Wy imejete vidu…
„Sie meinen die amoralische Wende, den A-Moralismus. Die Menschen überprüfen ihre Wertvorstellungen, der patriarchale Aufbau der Familie, die Beziehung zwischen Männern und Frauen, gut und schlecht, die alten sowjetischen Muster, das ist alles nicht mehr aktuell. Aber neue Moral-Kodexe können erstens nicht zusammen mit den Nahrungsmitteln aus dem Westen werden, und auch hier lassen sie sich nicht allzu schnell herstellen.“
…slischkom bystra.“

Erzähler:
Es sind bittere Betrachtungen, die Frau Selesnjowa über die Veränderungen anstellt, die sie im Zuge der Perestroika erleben musste:

O-Ton 8: Frau Selesnjowa Forts.            1,11
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Nu, viditje li…
„Nun, sehen Sie, mir scheint, wie ich es nach meiner Familie beurteilen kann, dass es gewisse hergebrachten Strukturen gab, die sich vor allem auf die Frauen stützten. In den letzten siebzig Jahren trug die Frau die Verantwortung für ihre Kinder, für ihre Familie und sie glaubte, das sei das Wichtigste. Sie glaubte, dass man dafür alles opfern könne, das eigene Leben, das eigene materielle Versorgung, sogar sein Äußeres, buchstäblich alles, um nur die Kinder aufzubringen. Mir scheint, die höchste Vorstellung unseres Volkes in den letzten siebzig Jahren war, den Kindern Leben zu geben. Wenn wir auch leiden, so werden doch unsere Kinder besser leben! So dachte unsere Gesellschaft. Nun sind wir aber in einer Periode angekommen, in der klar wird, dass das nicht aktuell ist, dass die Kinder nicht besser leben werden. Auf jeden Fall wird durch unser Opfer nichts besser. Und ich habe deswegen zu nichts weniger Lust, als mich zum Opfer dieser jetzigen Gesellschaft zu machen.“
…schertwa saboi.“

Erzähler:
Sie sei ein `Paraschenits´, ein Nichtsnutz, ein Aussteiger, fasst Frau Selesnjowa die Konsequenzen zusammen, die sie für sich selbst aus der Entwicklung zieht. Sie sei nicht mehr bereit, mich für den Staat zu opfern.  Die Desillusionierung Frau Selesnjowas trägt epochale Züge. Frauen waren immer die Lastesel der Gesellschaft, zürnt sie, sie brauchen ein neues Bewusstsein. Frau Selesnjowas eigene Vision, was aus der Krise der patriarchalen Pyramide folgen solle, verhakt sich jedoch im Niemandsraum zwischen Kritik an den bestehenden Verhältnissen und  Befangenheit in der  traditionellen Rolle weiblicher Opferbereitschaft:

O-Ton 9: Frau Selesnjowa, Forts.                    1,34
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Da paschalu…
“Bitte, heut steht ja praktisch die ganze Welt unter männlicher Herrschaft. Aber wissen Sie, was ich denke? Im Grunde würde ich nicht wollen, dass wir zu einer Welt der Frauenherrschaft übergingen. Ich denke oft daran dass es ein Matriarchat gegeben hat, hin und wieder stelle ich mir vor, dass ich die Männer beherrschen könnte wie seinerzeit Medäa. Im Grunde können Frauen die Männer sehr wohl beherrschen. Ich denke sogar, wenn zwei Armeen miteinander kämpfen würden, eine männliche und eine weibliche, dann würde selbstverständlich die weibliche siegen, weil die Frauen nicht saufen würden, weil sie gute Disziplin hätten. Für mich ist es keine Frage, welches Geschlecht stärker ist: Letztlich sind diejenigen stärker, die überleben; es überleben aber die Frauen. Das ist vermutlich so, weil wir psychologisch stärker sind. Deshalb hat Gott wohl der Frau das Kinderkriegen auferlegt, damit sie ihre Kraft noch an das Kind weitergibt, wahrscheinlich so. Aber sollen die Männer doch die Machtspielchen spielen, die noch übriggeblieben sind, nur muss das alles irgendwie geregelt werden, damit es mehr oder weniger zivilisiert abläuft. Mag meinetwegen der Planet der Männer bleiben, wenn nur ein gemütlicher Ort für die Frauen gibt.“
…glja dschjenschina.“

Erzähler:
Ganz anders Tanja. Auch sie gehört zur Generation der Frauen, welche Perestroika als junges Mädchen erlebten. Tanja lebt als Krankengymnastin in Borodino, einem der Kohlestädte Sibiriens. Sie ist unverheiratet; seit kurzem ist sie auch alleinerziehende Mutter eines Töchterchens.
Frauen wie Tanja sind gegenwärtig selten in Russland:

O-Ton 10: Tanja             0,16
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Menja nasiwajet…
„Man nennt mich eine Heldin. Heute leisten sich sogar vollständige Familien keine Kinder. Aber eine alleinstehende Frau, das ist unglaublich, außergewöhnlich, das wird belächelt.“
…smeliwajetsja na eta.“

Erzähler:
Kinder sind heute in Russland eine Belastung. Die Sterberate übersteigt daher die der Geburten. Exakte Zahlen dazu gibt es nicht; zu groß sind Flucht- und Wanderungsbewegungen, die seit der Auflösung der Sowjetunion das Land überfluten. Schon lange aber macht das böse Wort vom „aussterbenden Volk“ die Runde. Besonders die patriotische Presse geht gern mit diesem Slogan hausieren. Tanja hat Geld für die Geburtshilfe in der Klinik bekommen, darüber hinaus bezieht sie ein minimales Kindergeld, das drei Jahre lang gezahlt wird; so lange wird ihr auch der Arbeitsplatz freigehalten. „Das klingt gut“, lacht Tanja, „aber von diesen Geldern kann ich nicht einmal die Windeln bezahlen. Ich muss also irgendwie arbeiten.“ Dass sie es dennoch schafft, hat sie allein ihren Eltern zu verdanken, die ihre Tochter mit Geld unterstützen und das Kind übernehmen, während sie außer Haus ist.
Aber die finanzielle Seite ist nur ein Grund dafür, dass Tanja arbeitet. Im Bus unterwegs zu einer ihrer ambulanten Einsätze erklärt sie den anderen:

O-Ton 11: Tanja, Forts.             0,10
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Schtobi nje…
„Um nicht zu versauern, nicht immer nur: Kochtopf denken zu müssen.
…kastrjule.“ Lachen

Erzähler:
Das sei wichtig für den Kopf, für das Herz und für das Kind, lacht sie. Sie möchte auf keinen Fall immer am Kochtopf stehen. Generell aber sieht sie es anders, generell hält Tanja es für eine gute Sache, dass Frauen sich heute wieder mehr um ihre Kinder und um ihre Familie kümmern können:

O-Ton 12: Tanja, Forts.            0,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja tschitaju eta…
„Ich denke, das ist gut. Für die Frauen, die das wollen, ist es richtig; sie sollten das bekommen. Ich denke, das wäre nützlich. Es würde mehr nach den Kindern gesehen; es gäbe weniger verwahrloste Kinder. Ich beobachte oft Kinder in unserem Hof, die noch nach um zwölf vor den Türen sitzen. Sie spielen da im Dreck, niemand kümmert sich um sie, sogar sehr kleine. Mama muss kochen, waschen usw., dann morgen früh zur Arbeit.; sie hat einfach keine Zeit, selbst wenn sie möchte. Wenn diese Mama in die Küche will, dann ist das einfach phantastisch, denke ich.“
…sameltschatelno.“

Erzähler:
Alleinerziehende Mutter zu sein, die arbeitet und gleichzeitig für eine heile Familie zu plädieren, mit dieser widersprüchlichen Haltung, steht Tanja ihrer scheinbaren Selbstständigkeit zum Trotz in derselben Zerrissenheit wie ihre verheiratete Altersgenossin aus Nowosibirsk, die es ablehnt, sich als Mutter zu opfern, die aber im selben Atemzug allein den Frauen die Fähigkeit zuspricht, das Überleben der Kinder zu sichern.
Frei von solchen Zweifeln, erst recht von dem aufrührerischen Geist solcher junger Frauen wie der Moskauerin Marina sind jene Frauen, die als Großmütter, Babuschka, hinter dieser mittleren Generation junger Mütter stehen. Sie sind es oft, welche die Familien zusammenhalten. Sie kümmern sich um die Kinder, wenn die Eltern arbeiten. Wohl der jungen Mutter, ob verheiratet oder nicht, die eine solche Großmutter hat. Darüber gibt es in Russland keine zwei Meinungen.
Eine solche Babuschka ist Rosa Schewlewi, pensionierte Lehrerin, Schriftstellerin, Schriftführerin im tschuwaschischen Kulturzentrum, einer Organisation für ethnische Gleichberechtigung, in Tscheboksary an der Wolga. Gebeten sich selbst vorzustellen, beginnt sie:

O-Ton 13. Rosa Schewlewi                              1,27
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Ja Rosa…
„Ich bin Rosa. Als Erstes bin ich wohl, wie jede Frau, Mutter. Ich glaube, dass die Natur die Frau zuallererst dafür bestimmt hat, dass sie Mutter ist. Ich jedenfalls verstehe das so. Ich bin Mutter dreier Kinder, zweier Töchter und eines Sohnes, jetzt bin ich Babuschka für vier Enkel. Ich hoffe, dass es noch mehr werden. Das ist das Allerwichtigste in meinem Leben. Das macht mir sehr große Freude. Weiter: Sehr wichtig ist es, dass der Mensch einen Beruf hat, der er liebt. Darüber hinaus, dass ich Frau, dass ich Mutter, dass ich Babuschka bin, will ich mein Wohlbefinden nicht nur aus dem Zusammensein mit der Familie ziehen, ich will auch in der Gesellschaft Mensch sein, vor allem durch meinen Beruf. Der Beruf, den ich gewählt habe, ist Lehrerin. Ich liebe ihn bis heute, obwohl ich inzwischen pensioniert bin. Jetzt beschäftige ich mich mehr mit Künstlerischem. Ich denke, dass Frauen von Natur aus sehr talentiert sind, aber das Elend ist, dass Männer mehr Möglichkeiten haben, sich mit Künstlerischem zu beschäftigen. Sie sind freier als Frauen. Dafür kann man die Männer wohl sogar beneiden.“
…nawerna muschini.“

Erzähler:
Hier schimmert auch bei Babuschka Schewlewi die Unzufriedenheit mit ihrer Rolle durch. Dass sie jetzt endlich dazu kommt, sich ihrer Schriftstellerei zu widmen, gibt ihr große Genugtuung. Endlich! Das ganze Leben lang habe sie sich immer nur kümmern müssen, um den Mann, um die Kinder. Aber weil sie aus eigenem Erleben wisse, wie schwer es für die jungen Mütter sei, helfe sie ihnen mit den Kindern.
Die generelle Rolle der Babuschka definiert sie so:

O-Ton 14: Rosa, Forts.             0,05
Regie: O-Ton ganz stehen lassen

Übersetzerin:
„Eta sami dobri tschelowjek na swetje“…lachen
„Das ist der allerbeste Mensch auf der Welt.“

Erzähler:
Babuschka ist wie der Fels in der Brandung der neuen Zeit. Babuschka verkörpert die Erinnerung an das, was früher war. Sie vermittelt die traditionellen Werte. Oft ist sie aber auch, fügt Rosa hinzu, der ärmste Mensch im heutigen Russland: .

O-Ton 15: Rosa, Forts.                                          0,33
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:
„Pensi miserni…
„Die Renten sind elend bei dem meisten; von diesen Renten können sie nicht leben. Darüber hinaus versuchen die meisten Alten von diesen Pensionen auch noch ihren Kindern zu helfen, die arbeitslos sind. Und so kommt es, dass viele auch auf den Strassen stehen, um irgendetwas zu verkaufen. Einen anderen Ausweg sehen sie nicht.“
…nje widjat.”

Erzähler:
„Schauen Sie mich an“, sagt Rosa, „ich bin eine arbeitende Babuschka“ und doch habe ich nicht das Geld, meinen Enkeln mal etwas zu schenken. Das einzige, was ich geben kann, ist meine Liebe.
So ist auch die Rolle der Babuschka nicht widerspruchsfrei. Einerseits brauchen die jungen Frauen mehr denn je die Unterstützung der Großmütter, andererseits brauchen viele der Großmütter selbst dringend Hilfe. Letztlich bedeutet dies alles, was Marina, Tanja und Rosa repräsentieren, dass Russlands Frauen durch die Krise der patriarchalen Ordnung in die komplizierte Situation gekommen sind, einerseits mehr Freiheiten zu haben, andererseits weniger materielle Möglichkeiten, diese Freiheiten zu nutzen. Für die einzelne Frau ist es  eine Frage der persönlichen Entscheidung, welcher Seite sie mehr Bedeutung beimisst; aufs Ganze gesehen ist die Entwicklung offen.

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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