O-Ton 1: Bahnhof und Straßenbahn 1.20.00
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
hochziehen und mit O-Ton 2 verblenden
Erzähler:
Wladiwostok. Ende der transsibirischen Eisenbahn. Oder ist es ihr Anfang? Wer
hier mit der Bahn ankommt, hat die gewohnten Koordinaten verloren:
Schulgeografie und Landkarte verorten Wladiwostok als asiatischen Ausleger
Russlands am östlichsten Rande des euroasiatischen Kontinents. Man erwartet ein
fremdartiges Stadtbild, mindestens aber Plattenbauten sowjetischen Stils.
Ein Blick aus dem Fenster des einfahrenden Zuges, der erste Schritt auf den
Bahnhofsvorplatz hinaus, der sich direkt ins Stadtzentrum und zum Hafen hin
öffnet, lassen dagegen ein ganz anderes Gefühl aufkommen: Hier wendet sich der
Osten wieder nach Westen; dies ist eine europäische Stadt. Hier ist man näher an
New York, Bordeaux oder Hamburg als an Moskau – zumindest heute, seit
Wladiwostok keine geschlossene Stadt mehr ist, die sie bis 1992 als Kriegshafen
der UdSSR war.
O-Ton 2: Bahnhofsvorplatz und Straßenbahn 0.34.59
Regie: Ton verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende
hochziehen und langsam abblenden
Erzähler:
Schon die Straßenbahn hinterlässt einen anderen Eindruck als die Verkehrsmittel
der Städte Ulan Udé, Tschita, Blagoweschinsk, Chabarowsk; das sind die Zentren
der Verwaltungsbezirke, durch welche die transsibirische Eisenbahn sich entlang
der mongolischen und chinesischen Grenze nach Osten arbeitet. In diesen
Regional-Zentren bestimmen asiatische Gesichter das Bild. Selbst die sibirischen
Millionenstädte Irkutsk und Nowosibirsk sind bunte ethnische Schmelztiegel
gegenüber dem weißen Bild von Wladiwostok. Das ist so, obwohl Japan, Korea
und China direkt vor der Tür von Wladiwostok rund um das japanische Meer
liegen.
Regie: Geräusche der Straßenbahn hochziehen und abblenden
Erzähler:
Im „Archeologischen und ethnografischen Institut für die Völker des Ostens“, in
dem ich forsche und übernachte, wird der erste Eindruck gleich wissenschaftlich
bestätigt. Dr. Wladimir Turajew, Leiter der ethnografischen Abteilung, spezialisiert
auf sibirische Völker im Prozess der Globalisierung, greift zur Beantwortung der
Frage, wie Wladiwostok in die globalen Umbrüche von heute einzuordnen sei,
gleich tief in die historische Truhe: Entschieden grenzt er sich von Ideologien eines
neuen Euro-Asiatismus ab, in denen der alte russische Streit zwischen Slawophilen
und Westlern aus der Mitte des 19. und vom Anfang des 20. Jahrhunderts heute
wieder auflebt. Damals ging es darum, ob Russland zu Asien oder zu Europa
gehöre oder zu keinem von beidem:
O-Ton 3: Dr. Wladimir Turajew, Ethnograph 0.50.00
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Ja nje otnatschus sebja…
„Ich bin kein Freund des Euroa-Asiatismus. Ich denke, das ist für unser Land nicht
gut. Ich bin tief überzeugt davon, dass Russland ein europäisches Land ist. Sicher
hat es viele Elemente des Ostens, Asiens. Aber die heutigen Bedingungen der
Globalisierung bringen Veränderungen ähnlich wie beim Übergang vom 19. auf das
20. Jahrhundert mit sich, in denen sich damals das ganze Leben änderte. In solch
einer Situation muss das Land sich dahin wenden, wo die allgemeine Entwicklung
der Welt hingeht: Das ist heute die westliche Richtung. Wenn Sie es in den
Kategorien unserer alten russischen Auseinandersetzung zwischen Euroasiaten und
Westlern ausdrücken wollen, dann bin ich ein Westler.“
…otnatschus sapdnikom.“
Erzähler:
Mehr noch, setzt Dr. Turajew fort, Wladiwostoks Aufgabe bestehe heute darin,
westliche Kultur gegenüber Japan, Korea, China und der übrigen asiatischen Welt
zu vertreten:
O-Ton 4: Wladimir Turajew 1.13.01
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Wot, dalni wastotschni …
„Die fernöstlichen Verwaltungsbezirke sind in gewissem Sinne Vorposten.
Seinerzeit sagten wir ja, Vorposten des Sozialismus – heute sind sie Vorposten der
westlichen Art zu leben. Wladiwostok war ja von Anfang an eine westliche Stadt
im Osten. Das war mit seiner Gründungsgeschichte verbunden. Hier gab es den
Porta Franka, den französischen Hafen. Es gab den intensivsten kulturellen,
politischen und wirtschaftlichen Austausch nicht nur mit den Ländern Asiens, also
mit Japan, Korea und China, sondern auch mit den Ländern des westlichen Europa.
Und so hat sich Wladiwostok von Anfang an als eine Stadt wirtschaftlicher
Offenheit entwickelt. Über den Hafen stehen wir ständig in Verbindung mit
anderen Ländern, sind immer im Dialog: Die Fischer, die Seeleute. Dadurch hat
sich ein Leben entwickelt, das eher einer westlichen Stadt gleicht. In diesem Sinne
ist sogar eine so europäische Stadt wie meine Geburtsstadt Smolensk traditioneller,
östlicher, asiatischer als Wladiwostok.“
…tschem Wladiwostok.“
Erzähler:
Mit diesem Bogen von Wladiwostok bis nach Smolensk an der polnischen Grenze
hat Dr. Turajew ein russisches Paradoxon formuliert: Russland ist in seinem Herzen
asiatischer als in Asien selbst: Wladiwostok dagegen ist nicht Asien, Wladiwostok
ist Europa in Asien. Wladiwostok ist nicht aus der russischen Ost-Kolonisation
heraus gewachsen, wie die anderen sibirischen und fernöstlichen Städte, die sich
erst entlang der Seidenstraße und dann entlang des sibirischen Industriegürtels nach
Asien gefressen haben. Wladiwostok entstand vom Westen her, aus der Aktivität
der westlichen Kolonialmächte Frankreich, England und auch Deutschland, denen
die russischen Zaren mit der Gründung der Stadt am japanischen Meer im Jahre
1860 einen Riegel vorschoben. 1891 wurde die Stadt und mit ihr der Bezirk
Primorje, was so viel heißt wie Bezirk am Meer, mit dem Bau der Transsibirischen
Eisenbahn an die gesamtrussische Entwicklung angeschlossen; die Fertigstellung
der Bahn 1898 beschleunigte und besiegelte Russlands Eintritt in die Weltpolitik.
Für diese Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen die Historiker
von Russland als „Treibhaus des Kapitalismus“.
Dieser Entstehungsgeschichte verdankt Wladiwostok auch seinen Namen. Auf die
Frage, was unter „Vorposten“ zu verstehen sei, erklärt Professor Plaxen, ein älterer
Kollege Dr. Turajews, der im Institut das Laboratorium für Meinungsforschung
leitet, halb stolz, halb entschuldigend:
O-Ton 5: Prof. Jefgeni Plaxen, Meinungsforscher 0.40.15
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Kak skasats lutsche…
„Wie soll ich es am besten sagen? Wladiwostok irritiert mich immer wegen seines
Namens: Wlade – wostoka, das bedeutet, beherrsche den Osten! Es gibt bei uns
noch eine andere fernöstliche Stadt, auch spät gegründet, Blagoweschinsk am
Amur, direkt an der chinesischen Grenze. Ihr Name bedeutet so viel wie:
Verkündigungsstadt. Dieser Name liegt mir weit näher am Herzen; er wäre auch ein
besserer Name für unsere Stadt am äußersten Ende des russischen Reiches
gewesen. Das wäre auch heute die richtige Losung, unter der man hier vorgehen
sollte.“
…pod etim losungam iti.
Erzähler:
Der Wunsch Prof. Plaxens ist zu verstehen: Die Öffnung Wladiwostoks im Jahre
1991 war keineswegs gleichbedeutend mit Demokratisierung. Mit Hinweis auf die
Frontstadt Wladiwostok und eine angeblich drohende Gelbe Gefahr ertrotzte der
erste Gouverneur Wladiwostoks im neuen Russland, Nostratenko, sich
Sonderrechte von Moskau, konservierte aber zugleich das autoritäre Regime
sowjetischen Typs. Nostratenko ist inzwischen abgetreten, die Stadt öffnet sich.
Zweifellos sei Wladiwostok auch jetzt noch weit entfernt von Wohlstand, Ordnung
und Sauberkeit wie es sie in westlichen Städten, zum Beispiel Hamburg, gebe, so
Professor Plaxen, aber die Richtung sei doch immerhin schon einmal klar:
O-Ton 6: Prof. Jefgeni Plaxen, Meinungsforscher 0.40.23
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„No, Wladiwostoka…
„Ich glaube, dass wir eine Zukunft haben. Die Ergebnisse unserer Umfragen zeigen,
dass die Bevölkerung, auch die Regierung, sich allmählich verändert, dass man sich
zunehmend wieder als Avantgarde begreift, als eine Avantgarde, die russische
Interessen in der asiatisch pazifischen Region schützt; das bedeutet, das sie
europäische Werte schützt. Die Umfragen zeigen auch, dass man die Nase wieder
in den Wind steckt und das dieser Wind in die Richtung der USA, Frankreichs,
Deutschlands und anderer europäischer Staaten weht.“„
…ewropeskich stran.“
Erzähler:
Mit der asiatischen Seite der Stadt, vor der Gouverneur Nostratenko so eindringlich
warnte, konfrontieren uns die Mitarbeiter der chinesischen Abteilung des
Wladiwostoker Institutes für die Völker des Ostens. Mit fünf Mitarbeitern, drei
Männern, zwei Frauen, ist es dessen am besten besetzte Abteilung. Der Einfluss
Chinas auf den fernen Osten und Russland ist das Problem, zu dem das Institut die
umfangreichste Forschung unterhält. Korea oder auch Japan gehen dabei am Rande
mit. Die mongolischen oder turksprachigen Völker Russlands, ganz zu schweigen
von der Mongolei liegen schon gänzlich außerhalb des aktuellen
Forschungsinteresses des Institutes. Der Gigant China drängt alles andere beiseite.
Von Gelber Gefahr will hier indes heute niemand mehr sprechen. Sechs Millionen
Chinesen in Russland? Drohende Übernahme kommunaler Strukturen durch
Einwanderer? Die Zeiten Nostratenkos seien vorbei, heißt es. Unmissverständlich
weist ein Kollege des Teams, Nikolai Wrebschi die Millionen-Zahlen, die von
Moskau aus in die Welt gehen, als Spekulationen zurück:
O-Ton 7: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.41.35
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
“No, ja dumaju…
“Nun, ich denke, die Zahl, die Sie genannt haben – das ist reine Fantasie! Sie
können sich auf den Straßen von Wladiwostok überzeugen, dass man dort ziemlich
selten Chinesen trifft. Wenn man welche trifft, handelt es sich in der Regel um eine
Gruppe von Touristen, die kommen, um sich die Stadt anzusehen, sehr kultiviert,
sehr zivilisiert. Hier gibt es überhaupt keine Probleme. Was man da in Moskau
glaubt, dass es hier um Millionen geht, das ist absolut nicht wahr. Es ist eine
fantastische, an den Haaren herbei gezogene Zahl.“
…priviletschenije Ziffre.“
Erzähler:
Auf die Frage, wie er sich das Zustandekommen solcher Zahlen erkläre, fährt
Nicolai Wrebschi fort:
O-Ton 8: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.48.37
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
Ransche my gawarili…
“Früher hieß es, wir seien weit weg von Moskau. Ein berühmter sowjetischer
Roman hieß sogar so: „Moskau ist weit“. Jetzt kann man wohl sagen: Moskau ist
weit weg vom fernen Osten. Das hat vermutlich Auswirkungen. Und noch etwas:
Schon seit zehn Jahren zirkulieren diese Zahlen; wenn solche Zahlen erst einmal im
Druck sind, dann führen sie ein Eigenleben. Die Leute schreiben voneinander ab,
aber die Zahlen haben mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun. Man muss
kommen und nachschauen, wie Sie es jetzt tun. Die wirkliche Zahl ist um eine
Stelle kleiner oder sogar noch niedriger. Auf keinen Fall aber derart erschreckend
wie die aus Moskau.“
…kak we Moskwe.“
Erzähler:
Als 1991 das Visa-Regime an den fernöstlichen Grenzübergängen abgeschafft
wurde, berichten die Spezialisten, stieg die Zahl der Einwanderer, übrigens nicht
nur der chinesischen, sprunghaft an. Die meisten statistischen Angaben stammen
aus dieser Zeit, als Gouverneur Nostratenko die Hysterie anheizte. Nach
Wiedereinführung der Visumspflicht an der russisch-chinesischen Grenze 1996
flachte die Kurve der chinesischen Einwanderer erkennbar ab.
Es ist daher nicht die Zahl chinesischer Einwanderer, die das China-Team des
Wladiwostoker Ost-Institutes beunruhigt. Was sie aber doch beunruhigt, ist die Art,
wie die Chinesen im Lande tätig sind.
Alenija Gretina, eine der weiblichen Mitarbeiterinnen des China-Teams,
fühlt sich persönlich betroffen:
O-Ton 9:, Alenija Gretina, China-Forscherin 0.50.19
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzerin:
„Menja otschen bespakoit…
“Mich beunruhigt sehr, dass die natürlichen Ressourcen unseres Bezirkes Primorje
durch illegale Chinesen Schaden nehmen, die regelmäßig die Grenzen
überschreiten, ungeachtet der Grenzkontrollen. Unsere Taiga nimmt Schaden, weil
dort Frösche und seltene Pflanzen weggeschleppt werden; im Meer gibt es
Seegurken, die man kaum noch findet, Naturschutzgebiete plündern sie, wo sie nur
können. Das beunruhigt mich sehr! Ich kenne persönlich Chinesen, die dabei reich
geworden sind und weiter reich werden. Illegal natürlich. Das läuft alles
unreguliert. Damit unser natürlicher Reichtum nicht nur für Chinesen gut wäre,
sondern auch für uns, müssten die Behörden aktiver werden.“
…bolje aktivna.“
Erzähler:
Frau Gretinas Kollegen teilen ihre Befürchtungen. Das Problem liege allerdings
nicht bei den Illegalen, präzisieren sie; die illegale Zuwanderung hätten die
Behörden inzwischen unter Kontrolle. Das Problem liege gerade bei denen, die sich
legal im Land aufhielten:
O-Ton 10: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.40.45
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Eti graschdani kak….
„Diese Menschen agieren in der Regel auf offiziellem Boden, sie haben gültige
Dokumente, sie leben hier legal; bei ihnen ist alles in Ordnung. Die Übertretungen
von Gesetzen beginnen dort, wo sie wirtschaftlich aktiv werden: Oft kaufen sie
Holz, Fische und anderes unter der Hand und schaffen es weiter nach China. Darin
liegt das Problem; es ist nicht gelöst und es ist unklar wie es gelöst werden kann.
Das Problem sind also nicht die Chinesen, sondern wir selbst, die wir keine
Regelungen für ihre wirtschaftliche Tätigkeit finden.“
…nawesti parjadok.“
Erzähler:
Es komme noch ein anderer Aspekt hinzu, ergänzt die zweite Kollegin des China-
Teams, Frau Karetina:
O-Ton 11: Galina Karetina, China-Spezialistin 0.30.05
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzerin:
„Jesli…
„Wenn früher der Primorje Bezirk ein Ort für eine ursprüngliche Akkumulation
war, für Kleinhändler, die hier erstes Geld gemacht haben, dann dient er den reich
gewordenen chinesischen Geschäftsleuten inzwischen nur noch als Sprungbrett für
den russischen Markt. Das hörten wir von Chinesen, die groß im Geschäft sind. Für
diese Leute ist es nicht mehr interessant, sich auf russischem Territorium
aufzuhalten; das, wiederum, ist für Russland nicht mehr interessant.“
…Eta problem ssutschustwouit.“
Erzähler:
In dem Fall, erklärt Frau Karetina, flössen nämlich nicht nur die Gewinne illegaler
Geschäfte außer Landes, Russland verliere auch mögliche Steuereinnahmen. Dies
lasse schwere Krisen befürchten. Letztlich aber hänge natürlich alles von der
Entwicklung in China selbst ab. Wider Willen fasziniert schildert die Forscherin
das chinesische Wirtschaftswunder, das sie mit eigenen Augen in den freien Zonen
des chinesischen Nordwestens in den letzten fünfzehn Jahren beobachtet habe:
O-Ton 12: Galina Karetina, China- Spezialistin 2.04.00
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzerin:
„Pajawilis prekrasnie…
„Hervorragende Straßen tauchten auf, ausgezeichnete Brücken, schnelle
Verbindungen, das heißt, modernste Kommunikation. Da kann man fahren, ohne
sich um die Straßen kümmern zu müssen. Das ist natürlich wichtig für die
wirtschaftliche Entwicklung jeder Region. Dann die Produktion von
Konsumgütern: Man trennte sich sehr schnell von den Billigwaren, die anfangs hier
auf den Markt kamen, weil wir sie in unserer Krise hier brauchten. Es tauchten
Waren höherer Qualität auf. Jetzt können die China-Waren sich ohne weiteres mit
denen aus Südkorea oder anderen südasiatischen Ländern messen. Weiter: Private,
kleine Pkws, modernste Produktion, bei der man mit anderen Ländern, z. B.
Deutschland, zusammenarbeitet. Und dann der Baumarkt: Wohnhäuser,
Bürohäuser, Banken, alles mit modernster Technik gebaut, das greift bis in unsere
Region hinein. Auch der Maschinenbau. Alle diese positiven Ergebnisse liegen
direkt vor Augen. Auch die soziale Politik hat sich geändert: Pensionen werden
unabhängig vom Betrieb gezahlt; dann die Lehr-Anstalten: Wenn wir seinerzeit mit
dem Lohn ungefähr gleich lagen, so haben sich die Löhne der wissenschaftlichen
Angestellten in China jetzt sichtlich erhöht. Man kann sich wissenschaftliche
Untersuchungen leisten und hat dabei noch hohe Gehälter – im Unterschied zu
Russland. In diesem Sinne stehen wir noch ziemlich ernsthaft hinten an.“
…otschen silna otstojom.“
Erzähler:
Chinas Weg, wirtschaftliche Freiheit zu geben, aber politisch den Staat fest im Griff
zu halten, habe sich gegenüber der russischen Perestroika eindeutig als der bessere
Weg erwiesen, so Frau Karetina. Andererseits wisse niemand, wohin die
wachsende Arbeitslosigkeit, die schon jetzt über 100 Millionen Menschen betrage,
China noch treiben werde.
„Sie haben die Menschen, wir haben die Ressourcen“, so fassen die drei
Spezialisten des China-Teams ihre Sicht zusammen. 20 Millionen Menschen leben
jenseits des Ural in Sibirien und dem fernen Osten, 140 Millionen sind es in ganz
Russland, Tendenz fallend. Dem stehen 120 Millionen Japaner, 100.000 Millionen
Koreaner, 1,25 Milliarden Chinesen jenseits der Grenze gegenüber.
Den Eindruck, die Zukunft Wladiwostoks hänge allein von Chinas Entwicklung
ab, will das China-team des Ost-Institutes dann aber doch nicht stehen lassen. Auf
die Frage, ob man die Aufgabe Wladiwostoks etwa darin sehe, die bedrohte
russische Ökologie gegen den Ansturm aus China zu verteidigen, antwortet Nikolai
Wrebschi:
O-Ton 13: Nikolai Wrebschi, China-Spezialist 0.34.24
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„My ne protiw Kitajia…
“Wir sind nicht gegen China, wir sind für Russland. Wir exportieren Ressourcen ja
nicht nur nach China und nicht einmal hauptsächlich nach China; das hängt mit den
Besonderheiten der nationalen Verbrauchsstrukturen zusammen. Nehmen wir zum
Beispiel das Holz: Holzhäuser werden vor allem in den USA gebaut und auch in
Japan. Die größten Verbraucher von Holz sind die USA und Japan; danach erst
kommen Südkorea, China und andere Länder.“
…nje tolka Kitai.
Erzähler:
So wird aus dem „Vorposten Europas in Asien“ unversehens ein Vorpostens zum
Schutz der globalen Ressourcen. Mit dieser Sicht konfrontiert, bestätigt Professor
Viktor Larin, der Direktor des Instituts, zunächst kollegial die Angaben seiner
Spezialisten. Larin ist selbst Sinologe und Autor mehrerer Bücher, Mitarbeiter an
der in Moskau herausgegeben Zeitschrift „Diaspora“, die sich mit den Fragen
russischen Migration beschäftigt. Er nennt Zahlen zur Einwanderung von Chinesen,
die sich auf nachprüfbares statistisches Material stützen: 33.000 sind es im Fernen
Osten, ca. 200.000 für den gesamten Raum hinter dem Ural, die meisten von ihnen
als Pendler, die als Händler oder Gastarbeiter über die Grenze kommen. In der Zahl
sind aber auch Touristen und Studierende bereits enthalten. Ganze 600 Menschen
erhielten im fernen Osten seit 1990 die Staatsbürgerschaft. Illegale, so der Direktor,
könnten sich nur halten, solange sie Schmiergelder an die Grenzbehörden und die
Polizei zahlten. Wer nicht zahle, werde abgeschoben. Im Grunde stünden also auch
sie unter Kontrolle und wenn die Behörden wollten, dann könnten sie dem Spuk
von heute auf Morgen ein Ende bereiten.
Aber Direktor Larin nennt nicht nur Zahlen, er nennt auch Gründe, warum die
Zahlen nicht anders sein können:
O-Ton 15: Viktor Larin, Direktor des Ost-Instituts 1.01.36
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Est sdjes dwe…
„Es gibt zwei Hauptgründe, welche die Migration begrenzen, objektive Gründe:
Der erste ist die Kontrolle durch die Ausländerbehörde. Da gibt es jetzt auch eine
Übereinstimmung zwischen russischen und chinesischen Behörden, Grenzbehörden
und Organen der Polizei; sie arbeiten auf diesem Gebiet eng zusammen. Der zweite
Grund ist der begrenzte Markt: Die Chinesen kommen, um hier Geld zu verdienen.
Dafür haben sie zwei Möglichkeiten: Entweder als Arbeitskraft oder im Handel.
Der Markt für die Arbeitskräfte ist begrenzt. Die Nachfrage ist jetzt nicht so sehr
hoch, obwohl, wie bekannt, unsere Leute abwandern. Der Markt der Händler ist
ebenfalls begrenzt. Sie wissen: Acht Millionen im Fernen Osten, 20 in ganz
Sibirien! Mehr Kleinhändler, als heute hier sind, sind einfach nicht möglich, oder?
Wenn jetzt 5000 Händler hier tätig sind – was werden dann 10.0000 machen? Die
haben dann einfach keine Arbeit.“
…nje budit prosta rabota.“
Erzähler:
Direktor Larin bestätigt auch die Angaben seiner China-Abteilung, dass die
chinesischen Einwanderer bei weitem nicht die einzigen seien, die kontrolliert
werden müssen. Gastarbeiter kommen auch aus den ehemaligen sowjetischen
Gebieten Zentralasiens und des Kaukasus. Im Gegensatz zu den chinesischen
Pendlern bleiben sie sogar oft länger.
Kategorisch jedoch weist der Direktor die Vorstellungen zurück, die seine
Mitarbeiter zum Schutz der sibirischen Naturschätze entwickelt haben. Solche
Vorstellungen, erklärt er, glichen bedauerlicherweise den Argumenten, mit denen
seit Jahren der bereits beschlossene Bau von zwei Brücken, eine in
Blagoweschinsk, die andere in Chabarowsk verschleppt werde, die China und
Russland über den Amur hinweg verbinden sollten:
O-Ton 16: Viktor Larin, Direktor des Ost-Instituts 1.07.01
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Eta mentalität naschich…
„Das ist die Mentalität unserer Beamten. Sie haben Angst. Aber das einfach
dumm: Auch jetzt kann man die Ressourcen wegschaffen; über das Meer, über den
Bezirk Primorje geht das problemlos. Und dann: Es roden doch nicht die Chinesen,
es roden die Russen, es fördern doch nicht die Chinesen das Öl, es fördern die
Russen. Und die Zedernkerne sammeln doch auch nicht die Chinesen, die sammeln
doch unsere Leute! Die Chinesen kaufen, wenn es Nachfrage und Angebote.
Angst vor den Brücken – das ist nur die Rechtfertigung der eigenen Tatenlosigkeit,
der Unfähigkeit zu arbeiten, der Unfähigkeit diese Dinge zu organisieren Die
Entscheidung über unsere ökonomischen Probleme liegt nicht bei den Chinesen,
sondern in unseren eigenen Händen. Nicht die Chinesen haben schuld, dass die
Dinge von Contrabanden dorthin geschafft werden. Sie kaufen, Das ist für sie
profitabel. Aber wir sind es, die verkaufen.“
…my sche prodajom.“
Übersetzer
Richtig, so Direktor Larin, wäre die Überführung des illegalen Verschiebens von
Waren in einen offenen, besteuerten Handel. Die Brücken wären ein Schritt dahin
Das würde der Entwicklung beider Seiten nützen. Bei einer solchen Entwicklung
hätte Russland nur zu gewinnen. Warum sollte Russland sich vor China fürchten?
Fragt der Direktor: Noch nie in der Geschichte habe Russland mit China Krieg
geführt, ganz anders als mit Japan und auch Korea. Vor Japan und Korea fürchte
man sich auch nicht, warum also vor China? Auch in Zeiten der Globalisierung, so
der Direktor, werde sich diese Beziehung zu China kaum ändern.
Den Grund dafür sieht er in dem, was er die chinesische Idee nennt:
O-Ton 17: Viktor Larin, Direktor des Ost-Instituts 0.54.14
Regie: Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss hochziehen
Übersetzer:
„Kakaja kitaski swjer …
„Was ist die chinesische Idee? Es ist Vorstellung einer einheitlichen Nation. Für die
Chinesen ist nicht das Territorium wichtig, wichtig ist ein einheitlicher chinesischer
Ideenraum: Das große China. Aber das Große China – das ist nicht die territoriale
Ausdehnung; das eigentliche China waren immer die südlichen Provinzen, nicht
Sinkiang, nicht die Mandschurei, nicht Tibet. Diese Gebiete waren immer Vasallen-
Räume. Die Chinesen haben dort nie Verwaltungen aufgebaut. Es reichte Ihnen,
alle fünf Jahre ein kleines Geschenk zu bekommen. Eine territoriale chinesische
Expansion ist deshalb kaum zu erwarten. Chinesen haben immer anders gewirkt:
durch kulturelle Expansion. Das ist ihre Waffe, die ist erfolgreich.“
…uspeschno.“
Erzähler:
Mit dieser Sicht hat Direktor Larin ausgesprochen, was der eigentliche Inhalt der
Losung vom „Vorposten Europas“ für Wladiwostok heute ist: Der kulturellen
Expansion Chinas eine ebenbürtige Kraft entgegen zu setzen. Dies ist in seinen
Augen, wie in den Augen der Mehrheit der Bevölkerung von Wladiwostok das alte
Europa, das wie das alte China heute über die Kraft verfüge, sich kulturell zu
erneuern. Daraus, so hoffen sie, werde etwas Neues entstehen. Der Hauptkonflikt
jedoch, der das nächste Jahrhundert bestimmen werde, davon ist Larin ebenso
überzeugt wie die Mehrheit der fernöstlichen Intellektuellen, ist der zwischen China
und den USA. „YinYan“, sagt Direktor Larin mit knapper Selbstironie, „es gibt
keinen leeren Raum.“ Wo vorher die Sowjetunion war, fülle jetzt China den Raum
aus. Mit dieser Sicht und nicht zuletzt mit deren klassisch-chinesischer
Formulierung ist der Direktor des Wladiwostoker Ost-Institutes selbst bereits ein
Produkt der von ihm prognostizierten neuen Begegnung von Europa und China.
©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist
www.kai-ehlers.de