Islam in Russland – Front im Krieg der Kulturen oder Ansatz für eine Alternative?

Der andauernde Terror in Tschetschenien lässt die Befürchtung aufkommen, dass Russland zur Front im Krieg der Kulturen aufrücken könnte. Im schwarzen Loch Tschetschenien konzentrieren sich fundamentalistische Energien, christlich orthodoxe ebenso wie islamistische, rassistische und nationalistische.

Tschetschenien ist zudem nur ein Teil des Problems, soweit es die Beziehung von christlicher und muslimischer Welt betrifft: Ca. 20 Millionen Muslime leben heute in der russischen Föderation, das sind 15% der Bevölkerung des Landes. Gut zehn Millionen dieser Muslime leben in einer Enklave an der Wolga; vier von sechs autonomen Republiken sind dort muslimisch geprägt: Das sind – ihrer Bedeutung nach – Tatarsatan, Baschkortastan, Utmurtien, Mordawien. Dazu kommt El Mari mit einem hohen Anteil muslimischer Einwohner und die tschuwaschische Republik. Die Tschuwaschen sind zwar christlich-orthodox orientiert, sofern sie nicht naturreligiösen Gebräuchen anhängen, ethnisch jedoch mit den Tataren verwandt.

Die Mehrheit der im Wolga-Raum lebenden muslimischen Gläubigen gehört nicht-slawischen Völkern an, die im Zuge der Völkerwanderungen mit den Hunnen, später mit den Mongolen als Nomaden aus dem Osten kamen und dann im Wolga- Don- und Donauraum sesshaft wurden. Doch weder die inneren noch die äußeren Grenzen Russlands decken sich mit der religiösen Landkarte. und diese wiederum nicht mit der ethnischen.

Die restlichen zehn Millionen Muslime sind über die ganze russische Föderation verstreut. Die Enklave an der Wolga, insbesondere Tatarstan mit seiner Hauptstadt Kasan, ist ihre Orientierung. Zwischen dieser Enklave und den kaukasichen Muslimen wie auch denen Zentralasiens – insbesondere Usbekistans – bestehen direkte Verbindungen. Die Mehrheit der muslimischen Geistlichen, die heute in Zentralrussland lehren, kennen sich noch aus der gemeinsamen Studienzeit an der Islamischen Universität, die sie zu Sowjetzeiten in Usbekistan besucht haben. Den Tschetschenen, auch wenn man unterschiedlichen muslimischen Konfessionen angehört, fühlt man sich solidarisch verbunden.

So ragt ein Dreieck islamischen Einflusses, das seine Basis in Zentralasien und dem Kaukasus hat, mit seiner Spitze direkt ins Herz des orthodoxen Russland hinein. Türkei, Pakistan, Iran und nicht zuletzt Saudi-Arabien wetteifern um Einfluß auf den wieder entstehenden russischen Islam. Dies alles zusammen ist eine Gemenge-Lage, die eine Konfrontation zwischen dem Restaurations-Anspruch des russischen-orthodoxen Zentralismus und der Ausrufung eines islamischen Gottesstaates, wie man sie gegenwärtig in Tschetschenien erleben muss, als nahezu zwingend erscheinen lässt. Hinzu kommt schließlich noch die Tatsache, dass die russisch-orthodox orientierte Bevölkerung stärker vom Bevölkerungsrückgang Russlands betroffen ist als die muslimische.

Umso erstaunter muss man sein, in Kasan auf das genaue Gegenteil einer islamischen Bedrohung zu stoßen, nämlich auf ein exemplarisches Modell für die Koexistenz von orthodoxer russischer Kirche und aufgeklärtem, nach europäischem Verständnis modernisiertem Islam auf der Basis eines gleichberechtigten Zusammenlebens von russisch-slawischer und tatarisch-mongolischer Bevölkerung.

Kasan, das sich zur Zeit auf seinen tausendjährigen Geburtstag vorbereitet, ist traditionell das Zentrum des russischen, genauer des euro-asiatischen Islam. Gegründet 1005, wurde die Stadt nach der Vernichtung des bolgarischen Wolgareiches 1237, der anschließenden Niederlage der russischen Fürstentümer und schließlich des Falles von Kiew im Jahre 1247 zur nördlichen Residenz der Goldenen Horde, sehr bald zu einem eigenen Chanat.

Seit dieser Zeit ist Kasan nicht nur Hauptstadt des Wolgaraumes, sondern auch Zentrum des Islam in Eurasien. Nach der Eroberung Kasans durch die Truppen Iwans des IV. im Jahre 1552 wandelte es sich zum Zentrum der islamischen Enklave Russlands. Rund vier Millionen Muslime leben heute allein in dieser Republik.

Aber nicht von Anfang an war Kasan ein Modell für Koexistenz zwischen der russischen Orthodoxie und dem Islam: Iwan IV. und nach ihm die ersten Romanows, die seine Politik der Ostkolonisation und des Kampfes gegen die Tataren fortsetzten, versuchten den Islam im Herzen der neuen russischen Gebiete an der Wolga auszurotten. Erst Katharina II. erkannte, dass eine dauerhafte Unterdrückung des Islam immer neue Revolten im Lande hervorbringen musste, in denen sich soziale, ethnische und religiöse Problem in explosiver Weise verbanden. So beendete sie den Aufstand des Jemeljan Pugatschow von 1773 – 1775 nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern sie erließ eine Reihe von Ukasen, die den Islam in Russland legalisierten. Sie gestattete der islamischen Geistlichkeit den Aufbau einer eigenen Verwaltung, förderte den Aufbau von Moscheen und mit den Moschen verbundenen Schulen und Institutionen, kurz, seit dieser Zeit leben orthodoxe Kirche und Islam in Tatarstan, Kasan, gleichberechtigt nebeneinander – wohlgemerkt: Nicht in Russland, sondern in Tatarstan und – in schwächerem Maße – auch in den an Tatarstan angrenzenden muslimischen Ländern. Unter diesen Bedingungen bildete sich eine ethnisch-religiöse, eine christlich-orthodox-muslimische, eine slawisch-tatarische Mischkultur heraus, in der muslimische Tataren und slawische Christen paritätisch miteinander leben.

Damit wurde Kasan zum Orientierungspunkt nicht-russischer, nicht-christlich-orthodoxer Völker des russischen Imperiums. Sowohl in der Revolution von 1917, als auch bei Einsetzen der Perestroika Ende der 80er des vorigen Jahrhunderts stand Tatarsatan an der Spitze der innerrussischen Bewegungen für Souveränität. Heute ist die Stadt das Zentrum der neu-föderalen Bestrebungen Russlands, in dem sich die Hoffnungen religiöser, ethnischer wie kultureller Minderheiten Russlands treffen. Das nebeneinander der Mutter-Gottes-Kirche und der ganz aus eigenen Mitteln restaurierten neuen Zentral-Moschee im Kreml Kasan, direkt gegenüber dem Regierungsgebäude ist das Symbol dieses Selbstverständnisses der Regierung und Bevölkerung von Kasan/Tatarsatan. Das heutige Kasan ist ein Gegenentwurf zu Moskau – die heimliche dritte Hauptstadt Russlands. Neben Moskau als politischem Zentrum und St. Petersburg als Fenster zum Westen repräsentiert Kasan das euro-asiatische Russland, in dem sich Westen und Osten, Christentum und Islam, Slawen und asiatische Völker miteinander verbinden.

Forscht man nach dem Wesen dieser Koexistenz, trifft man auf den in West-Europa bisher weithin unbekannten Begriff des Jadidismus. Der Begriff leitet sich aus dem tatarischen Wort „jadid“ her, was so viel heißt wie neu; den Gegensatz dazu bildet „kad“, althergebracht. Strömungen, die einem traditionellen Islam das Wort reden, werden dementsprechend unter dem Begriff „Kadismus“ zusammengefasst. Bei Kasans regierenden Tataren, allen voran dem Präsidenten Schamijew, ebenso wie bei seinem engsten politischen Berater Dr. Raphael Chakimow genießt der Jadidismus den Rang einer Staatsideologie.

Dr. Chamikow spricht von einem aufgeklärten, einem reformierten, einem europäisch orientierten Islam. Die persönliche Beziehung zu Allah stehe vor den kollektiven Ritualen. „Im 18. Jahrhundert“, erklärt Dr. Chakimow, „gab es hier eine Reformation des Islam.“. Dr. Chakimow meint damit die Reformen der Katharia II., die deswegen in der tatarischen Bevölkerung bis heute zärtlich Baba, Großmütterchen, Katharina genannt werde.

Man könne den Jadidismus nicht direkt mit dem Lutheranismus vergleichen, aber eine Reformation sei es zweifellos: „Unsere Wissenschaftler stellten die Frage, warum der Osten gegenüber dem Westen zurückgeblieben sei. Die Antwort war, dass er gewissen Traditionen der Autorität gefolgt sei, auf arabisch ´taklid`; das eben hat den Islam geschwächt. Der ursprüngliche Islam ist dagegen auf kritisches Denken gerichtet. Jeder sollte nachdenken, jeder sollte selbst abwägen. Aber dann kam die Tradition auf, Autoritäten zu folgen, und der Islam wurde zu einer unumstößlichen Vorschrift.

Unsere Reformatoren sagten dann, man müsse sich an das kritische Denken wenden. Um den Koran zu lesen, muss der Mensch gebildet sein. Von daher folgt als Erstes, dass jeder Muslim eine gute Bildung haben muss. Also muss man neue Schulen bauen, nach europäischem Standart. Das war die erste Etappe. Das Zweite war, dass im tatarischen Islam, im Jadidismus, die Religion eine persönliche Angelegenheit ist. Da ist Allah – und da bist du; zwischen euch ist kein Advokat. Da ist kein Mullah und kein Imam: Du alleine sprichst mit Allah. Du sagst guten Tag, er antwortet. Hier hat die Obschtschina, die Gemeinde, nichts zu sagen. Also, der tatarische Islam ist eine persönliche Angelegenheit. Die Moschee ist natürlich ein Ort, wo man beten kann, aber vor allem ist sie ein Zentrum der Bildung. Ansonsten gehst du in die Moschee wann und wo du willst. Niemand kann mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe – fünf mal zu Boden oder nicht fünf mal? Soll ich meinen Kopf beugen oder nicht? Das ist meine Sache. Das unterscheidet den Tataren stark von anderen moslemischen Völkern.

Das war schon vor der sowjetischen Zeit. „Al Jadid“ ist die Bezeichnung für diese Reform: Andere Beziehung zu Frauen; Frauen sind den Männern in allem gleich; tolerante Beziehung zu anderen Religionen. Hauptsache du bist gläubig und tust gute Dinge. Allah ist für alle gut. In einem allerdings unterscheidet sich der Jadidismus vom Protestantismus: Durch den Protestantismus hat sich auch im Glauben selbst viel geändert, der Jadidismus kehrt nur einfach zum Koran zurück. Er wendet sich von der Prophetenvermittlung ab, der Autoritätsgläubigkeit. Für den Jadidismus ist die einzige Autorität der Koran selbst.“

Man könnte argwöhnen, der Jadidismus sei nur eine Erfindung der Politiker, um die ethnischen und religiösen Probleme der Republik ideologisch in den Griff zu bekommen. Angesichts der Lücke, die der Zusammenbruch der atheistischen Staatsideologie in Russland hinterlässt, wäre das nicht verwunderlich und nicht einmal zu kritisieren.

Kasans muslimische Geistlichkeit unterstützt jedoch nicht nur den Kurs des Präsidenten, sie hält nicht nur engste Kontakte zu Dr. Chakímow als aktivem Vertreter des Jadidismus im Kasaner Kreml, sie sieht sich auch selbst ganz und gar in dieser Tradition.

Und sie versteht den Jadidismus als ein Modell für das Zusammenleben von Christen und Moslems: „Kasan ist heute ein Beispiel“, erklärt Valjulla M. Yaghupow, Assistent des obersten Mufti im Kasaner geistlichen muslimischen Zentrum“, denn ungeachtet der Tatsache, dass hier 50% Christen und 50% Moslems leben, hat es bisher keine blutigen Zusammenstöße in religiösen Fragen gegeben. Das sagt schon viel aus. Selten sind die Länder in der Welt, wo es ein solches Verhältnis von Christen und Moslems gibt und wo kein Blut vergossen wird. Erinnern Sie sich an Bosnien usw. Kaum irgendwo außer bei uns gelingt es, diese Fragen friedlich zu lösen? Deshalb sind wir ein Modell und werden eins sein. Überhaupt haben wir hier eine einzigartige Situation in Bezug auf die Veränderungen, welche die islamische Welt heute in Berührung mit den Weltproblemen bringen. Für diese Prozesse kann der Islam, der hier bei uns besteht, der Jadidismus, zu einer allgemeinen Plattform werden, weil wir eine sehr reiche Erfahrung im Zusammenleben mit Christen haben. Das ist jetzt aktuell.“

Wie die politische Fühung spricht auch die muslimische Geistlichkeit von „Euro-Islam“, „das ist Alltags-Islam unter den Bedingungen einer christlichen Zivilisation, der heutigen Zivilisation, die Anpassung des orthodoxen Islam an die Bedingungen der heutigen Welt, das heißt auch, Alltagsbedingungen des Islam heute generell.“ Für dessen Entwicklung bestünden unter den Bedingungen der nach-sowjetischen Aufarbeitung besonders günstige Voraussetzungen. Doch, schränkt er ein, sei dies nicht gleichzusetzen mit einer Modernisierung des Islam.

Der Islam bestehe aus drei Teilen, von denen aber üblicherweise nur zwei bekannt seien, erklären Kasaner Religionsforscher wie Rafik Muhamedschin diesen Widerspruch, der Koran, das Wort Allahs, als eigentlicher Kern des Islam und die Scharia, der Alltag, der sich auf Grundlage des Islam herausbilde.

Ein drittes jedoch werde in der Regel vergessen, was hinzutrat, als viele verschiedene Völker zum Islam übergingen, nämlich: „urf adak“, die Einrichtung der „abweichenden Rechte“, die sich aus der besonderen Lage der jeweiligen Völker ergeben.

Wenn sie dem Islam nicht widersprächen, so Rafik Muhammedschin, könne man sie in Anspruch nehmen. In diesem Sinne existiere auch im Islam schon lange der Liberalismus, der zwischen Religion, Staat und jeweiliger Gesellschaftsform differenziere. Wenn der Koran und die Scharia als Kanon zu verstehen seien, die prinzipiell nicht in Frage zu stellen sind, so unterstreiche „urf adak“, der Teil der „abweichenden Rechte“ die Besonderheiten der verschiedenen Regionen – Iran oder Mittleres Asien, die Tataren, Dagestan, Kaukasus – und selbstverständlich auch der verschiedenen Zeiten.

In diesem Verständnis sind sich Vertreter des Jadidismus mit denen des Kadismus im Grundsätzlichen einig; die Unterschiede zwischen ihnen liegen im Detail. Damit steht die große Mehrheit der tatarischen Muslime und mit ihnen die Mehrheit aller Muslime Russlands bei aller Solidarität mit den Verfolgten Glaubensbrüdern und –schwestern in prinzipiellem Widerspruch zu den Fundamentalisten arabischen Herkommens in Tschetschenien, die „urf adak“ als Verunreinigung des wahren Islam ablehnen und den Koran als Grundlage eines Gottesstaates begreifen. Die Verbreitung solcher Vorstellungen im russischen Islam ist jedoch marginal. Ebenso marginal sind Strömungen wie die der Sufis auf der anderen Seite des Spektrums, die überhaupt keine Beziehung zwischen Religion, Staat und Gesellschaft herstellen wollen.
Differenzen unter den Muslimen Russlands betreffen heute eher die Frage in welcher Form sich die islamische Kirche organisiert, als Teil der russischen Zentrale oder als dezentrale Kraft von unten. Diese Frage ist bisher nicht entschieden. Zur Zeit gibt es zwei zentrale Vertretungen des Islam, die eine im alten Stil von einem „Obersten Mufti der russischen Föderation“ aus Moskau geleitet, die andere aus den muslimischen Gemeinden Tatarstans und anderer Republiken Russlands demokratisch gewählt. Beide existieren nebeneinander. Angesichts der Tatsache, dass außerhalb Tatarstans von gleichen Rechten für die muslimische und die orthodox-christliche Kirche nicht die Rede sein kann, ist die demokratische Variante, die sich mit einer Orientierung nach Europa verbindet, das attraktivere Modell.

Mehr zum Thema in: Themenheft 12: Modell Kasan? Modell Kasan

Kai Ehlers. Publizist,
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