Nun sollten die Kritiker doch endlich Ruhe geben, nicht wahr?  Zum 1. April  legte ein „Internationales Expertenteam“ des Europäischen Rates eine Untersuchung zu dem Massaker auf dem Maidan vom 20. Februar 2014 vor, das zum Sturz von Viktor Janukowytsch und seiner Regierung führte.

Die Untersuchung der Experten, eingeleitet im Namen des Europäischen Menschenrechtsgerichtes im Februar 2014, kommt zu einer harten Kritik an der Bereitschaft der nach dem Massaker angetretenen neuen Ukrainischen Regierungen, die damaligen Vorgänge aufzuklären und die Täter vor Gericht zu bringen. Angesprochen sowohl die provisorische wie auch die jetzige Regierung. Auf über hundert Seiten wird in äußerst akribischen juristischen Ausführungen nachgewiesen, dass und wie die Verantwortlichen von der Staatsspitze bis zu den ausführenden Organen die Aufklärung des Massakers nicht nur verschleppt, sondern aktiv behindert, mehr noch, erkannte Todesschützen gedeckt und wieder in Dienst genommen, auch mit ihren Zwischenberichten eher zur Verdunkelung als zur Aufklärung beigetragen haben.  (http://www.coe.int/de/web/portal/international-advisory-panel)

Von einem  „Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention“ sprechen die Experten; die „Untersuchungen der Gewalt auf dem Maidan  erfüllen europäische Menschenrechtsstandards nicht“, erklärt der Europäische Rat über seine Website. Mit der Überschrift „Vernichtend deutlich“ betitelte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ihren Bericht zu der Expertise. In der Unterzeile konkretisierte sie: „Bei der Aufklärung  der Schießerei auf dem Maidan im Februar 2014 war die neue ukrainische Regierung‚ unkooperativ und in mancher Hinsicht obstruktiv‘, sagen ausländische Fachleute.“ Die Tagesschau meldete: „Bericht des Europarates zu Maidan-Opfern: Regierung behindert Aufklärung“. Kurz, die ‚Empörung‘ und das ‚Entsetzen‘ über das Versagen der ukrainischen Regierung sind allgemein.

Wäre es nur dies, was aus dem Bericht folgt, könnte man sich über die Desillusionierung ehrlich freuen, die er bei den bisher blinden Romantikern der „demokratischen Revolution“ hervorrufen könnte, die angeblich in der Ukraine stattgefunden hat. Im Übrigen könnte man sich den Ermahnungen zur Einhaltung europäischer Standards anschließen, wie sie von den Experten selbst, von Kanzlerin Merkel und von der  regierungstreuen deutschen Presse jetzt vorgebracht werden. Und selbst darüber könnte man froh sein, dass der ukrainische Ministerpräsident Jazenjuk, soeben wieder einmal in Berlin, um dort weitere Millionen für den Kampf gegen die „russische Aggression“ und die „Verteidigung Europas“ einzutreiben, dieser Kritik nicht ausweichen konnte, auch wenn er die Schuld für das Versagen wieder einmal auf Russland schob.

Diesmal klang sein Versuch allerdings mühsam,  da die Experten in ihrer Untersuchung ausdrücklich feststellen, dass die schwierige Situation nach dem Umsturz „Mängel, die nicht unmittelbar auf diese Probleme zurückzuführen sind, nicht entschuldigen“ dürfe und sie zudem betonen, dass sie für die von Kiew immer wieder behauptete Einwirkung einer „Dritten Hand“, gemeint Russlands, am Tag des Massakers keinerlei Anhaltspunkte finden konnten.

Also, alles gut? Endlich ein Schritt in Richtung einer wahrheitsgemäßen Aufarbeitung der Ereignisse, endlich ein Schritt in eine mögliche Deeskalation des Informationskrieges? Endlich echte Bereitschaft zu Aufklärung der Vorgänge am 20. Februar auf dem Maidan – und nach dem Maidan?

Leider ist es nicht so. Unangenehmer noch: es wird auf hohem Niveau mit falschen Karten gespielt. Tatsächlich verfestigt der Bericht, nur mit Mühe erkennbar, aber erkennbar in der seitenlangen radikalen Klein-Kritik an der mangelhaften Verfolgung der Schuldigen und der Forderung nach Einhaltung  menschenrechtlicher demokratischer Standards, das vollkommen einseitige Bild der Ereignisse, das die Kiewer Regierung bisher von den Vorgängen auf dem Maidan gezeichnet hat. Danach hat letztlich Janukowytsch das Massaker angeordnet.

Es wird eben – auch in diesem Expertenbericht – nicht nach allen Seiten hin untersucht, wie es in jedem x-beliebigen forensischen Vorgang üblich ist, sondern es wird allein nach der Schuld der damaligen Staatsmacht, konkret der den Berkut-Einheiten gefragt. Auch sie haben tödliche Schüsse abgegeben, das ist eine Tatsache. Wie, unter welchen Umständen, ob im Auftrag zu töten oder in Verteidigung gegen bewaffnete Angreifer, wird jedoch nicht problematisiert. Andere Spuren werden nicht verfolgt, obwohl sie schon wenige Tage nach den Ereignissen kein Geheimnis mehr waren.  An die wichtigsten sei kurz erinnert:

Da ist das abgehörte, von den Beteiligten später bestätigte Telefongespräch zwischen dem estnischen Außenminister Urmas Paet und  der Außenbeauftragten der EU, Catherine Ashton nur wenige Tage nach dem Massaker, am 26.02. 2014, in dem Paet die Außenbeauftragte der EU davon in Kenntnis setzte,  was er bei seinem Aufenthalt in Kiew u.a. von einer auf dem Maidan aktiven Ärztin erfahren hatte: „Olga Bogomolez“, berichtete Paet, „die die Verletzten auf dem Maidan behandelt hatte, informierte mich  über Scharfschützen,  die Menschen in Kiew töteten.  Ihr zufolge deuten alle Indizien darauf hin, dass Menschen auf beiden rivalisierenden Seiten  von ein und denselben Scharfschützen  erschossen wurden.“ Bogomolez habe ihm auch Bilder gezeigt  und gesagt, dass in allen Fällen die gleiche Munition genutzt und Menschen auf die gleiche Art getötet worden seien.  „Besorgniserregend ist“, so Paet weiter, „dass die neue Koalition  nicht gewillt ist, die Umstände  dieser Todessschüsse zu klären.  Somit wird der Verdacht erhärtet, dass hinter den Scharfschützen nicht (Präsident Viktor) Janukowytsch, sondern jemand aus der Koalition gestanden hat.“ (russland.ru, 5.3.2014)

Im Dezember 2014 legte der ukrainisch-kanadische Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski eine Untersuchung vor, die er auf Basis öffentlich zugänglicher Informationen in monatelanger Recherche erstellt hatte. Er wertete dafür Zeugenaussagen, Filmmaterial, Funkübertragungen aus, um den Massenmord im Zentrum Kiews zu rekonstruieren. Katchanowski konnte belegen, was aufmerksame Beobachter in den Tagen vor dem Massaker schon mit eigenen Augen sehen konnten, dass auch Oppositionskräfte  Scharfschützen einsetzten und dass die Maidan-Schützen  dabei nicht nur Polizisten, sondern auch die eigenen Leute und Journalisten unter Feuer nahmen. Die Spur führte zum „rechten Sektor“ (Nach Telepolis, 14.12.2014)

Wenig später, am 15.Februar 2015,  stellte BBC in ihrem News Magazine unter der Überschrift „The untold story oft the Maidan massacre“ einen Zeugen vor, der berichtete, wie er in den Tagen vor dem Massaker auf einen Spezialeinsatz vorbereitet, wie er mit den notwendigen Waffen ausgerüstet worden sei und wie er dann am 20.02. in Begleitung eines zweiten Mannes morgens um 7.00 Uhr vom Konservatorium aus, das von Maidan Kräften besetzt war, 20 Minuten lang auf die eingesetzte Polizei feuerte. Aus seinem Bericht geht auch hervor, dass Andrej Parubij zu der Zeit „Kommandant des Maidan“, in der provisorischen Regierung danach Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine, von diesen Einsätzen wusste. (http://www.bbc.com/news/magazine-31359021)

Keine von diesen Spuren wird von dem Expertenbericht auch nur erwähnt, geschweige denn verfolgt, obwohl die Experten eingangs versichern, nicht nur mit offiziellen Quellen des Innenministeriums, des Geheimdienstes und der Staatsanwaltschaft, sondern auch mit allen verfügbaren Zeugenaussagen der Zivilgesellschaft arbeiten zu wollen. Kritisiert wird indes keineswegs die mangelhafte Aufklärung der Ereignisse, die allen Spuren nachgehen müsste, auch jenen, die zu rechten Vertretern des Maidan, nach dem Umsturz in die provisorische und darüber hinaus in die jetzige Kiewer Regierung führen, kritisiert wird allein, dass die von der Regierung als schuldig Bezeichneten nicht verfolgt und nicht bestraft werden. Ins Visier kommen damit nach dem Stand der bisherigen Ermittlungen, vom Expertenbericht bekräftigt, allein die Polizeikräfte der Janukowytsch-Regierung, Berkut und andere Spezialeinheiten.

Bei aller vordergründig so radikal erscheinenden Kritik an der jetzigen Regierung, läuft die Wirkung des Expertenberichtes Berichtes damit im Ergebnis auf eine Zementierung der Kiewer Variante der Ereignisse im öffentlichen Bewusstsein hinaus.  Man mag es kaum aussprechen, aber faktisch wird damit die Autorität des Europäischen Menschenrechtsgerichts und der Menschenrechtskonvention benutzt, um nicht zu sagen missbraucht, um eine Aufklärung des Massakers zu verhindern, die mehr wäre als eine bloße Bestätigung der Kiewer Variante von der Schuld der Staatsorgane unter Janukowytsch. Dies lässt für die Zukunft einer Ukrainischen Demokratie und für die Aufrichtigkeit ihrer Unterstützer nichts Gutes erwarten, auch wenn Angela Merkel nicht müde wird, die Fortschritte der ukrainischen Reformen zu loben. Es fragt sich vielmehr, wie lange sie dies wider besseres Wissen tun kann.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Bücher zum Thema:

– Peter Strutynski (Hg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, Papyrossa.

– Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine m Visier, Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, – Selbrund Vlg.

(alle Bücher über Buchhandel oder direkt beim Autor: www.kai-ehlers.de)