Boris Nemzow wurde erschossen. Wurde Wladimir Putin damit gestärkt oder  geschwächt? Spekuliert wird, was das Zeug hält. Es ist ein Strudel, der abwärts zieht. Es ist ein Ereignis, das einen Punkt setzt, dessen weitreichende Folgen aber zugleich nicht absehbar sind. Man muss sich fragen, was das alles bedeutet.

Die Mehrheit der Kommentare bewegt sich auf der Ebene geiler Neugier, auf der Ebene von Gerüchten, von Spekulationen und auch von haltlosen Anschuldigungen gegen Putin. Das alles ist traurig, langweilig, hysterisch und im Kern unklar, unwahr und alles in allem „irgendwie“ auch bedrohlich.

Wichtig ist jedoch allein die Frage: Wofür steht dieser Mord? Was wird mit ihm abgeschlossen? Was wird mit ihm neu eingeleitet?

Im Scheinwerferlicht stehen zwei Männer, der eine als Opfer, der andere als

vermeintlicher Täter. Der eine wird zum Märtyrer des demokratischen Wandels erhoben, der andere zum Mörder, zum Diktator, zum StalinHitler-Monster dämonisiert, das nicht  nur Russland, sondern die Welt bedrohe.

Eins ist so unwahr wie das andere. „Opfer“ und „Täter“ sind viel enger miteinander verwandt als es manchen Beobachtern erscheint: Beide, Boris Nemzow ebenso wie Wladimir Putin wuchsen auf, gingen zur Schule, erhielten ihre Ausbildung noch unter den Bedingungen der Sowjetunion. Putin, geboren am  7.10.1952, war 33 Jahre alt, Nemzow, geb. am 9.10.1959, war 26 Jahre alt, als Perestroika sich 1985 mit dem 27. Parteitag erstmals öffentlich wahrnehmbar outete. Beide gehen nach Einsetzen der Perestroika bei der neuen Macht in Dienst – Putin bei Anatoly Sobtschak in St. Petersburg (Leningrad),  Nemzow von Jelzin patroniert, als jüngster Gouverneur in Nischni Nowgorod, wo er sich als einer der radikalsten Privatisierer einen Namen machte.

In  diesen Positionen haben beide ein vergleichbares Profil. Beide begaben sich aktiv in die Dienste der Neo-liberalen Wende, jener „Revolution“, die unter Jelzin das Land im Zuge der „Schocktherapie“ zu kapitalisieren begann.

Putin wurde Chef des Komitees für Außenwirtschaft in Leningrad/St. Petersburg, danach stellvertretender Bürgermeister. Er beteiligte sich aktiv an der privaten Verschiebung von Geschäften im großen Stil. Dazu eingeleitete Verfahren, wurden später niedergeschlagen wie viele andere auch. Nach seinem Amtsantritt 1999 holte Putin diverse Mitglieder des Sobtschak-Kommandos  wie z.B. Dimitri Medwedew,  aber noch viele andere nach Moskau.

Nemzow agierte im Prinzip nicht viel anders in Nischni Nowgorod. Unter seiner Führung, genauer unter direkter Führung der Weltbank, wurde Nischni Nowgorod zum Pilotprojekt für zwangsweise Entkollektivierung, wirtschaftsliberale Experimente und Privatisierungen in Russland. Nemzow war Jelzins Liebling bis 1998. Jelzin wollte Nemzow zu seinem Nachfolger machen.

Aber dann kam die Krise vom August 1998. Ich zitiere aus meinem Buch „25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki“, wo die damalige Lage unter der Überschrift „nach der Krise 1998“ wie folgt skizziert wird: „Die Situation: Russland hat einen neuen Höhepunkt seiner Agonie erreicht. Nach vergeblichen Versuchen des kranken Jelzin, beraten von seiner Tochter Tatjana Djatschenko, die er zu seiner persönlichen Imageberaterin gemacht hat, den Bankenkrieg zwischen den Oligarchen zu schlichten, und ihren Einfluss auf die Politik durch Entlassung Beresowskis aus dem Sicherheitsrat ein­zuschränken, hat sich die überhitzte Konkurrenz und Spekulation im Banken­krach vom 17. August 1998 entladen. Die künstliche Blüte der zurückliegenden Jahre bricht zusammen. In Moskau herrscht Panik. Es folgt ein widersprüchli­ches Krisenmanagement kurzlebiger Regierungen: Kirijenko, Tschernomyrdin, Primakow, Stepaschin lösen einander im Halbjahrestakt ab. Ein erneuter Misstrauensantrag der Opposition gegen Jelzin in der Duma folgt, kommt aber auch dieses Mal nicht durch. Wer im Mai 99 durch die Läden geht, versteht auch, warum: Es ist wieder alles zu kaufen. Mehr noch, wo vor dem Krach nur noch Importwaren zu sehen waren, tauchen nun zunehmend Waren auf, die als hei­mische Produktion gekennzeichnet sind. Gespräche über die Folgen des Krachs vertiefen diesen Eindruck: Russland beginnt sich vom Westen abzukoppeln, der Kosovokrieg, der auch Europa in der Krise zeigt, beschleunigt diesen Effekt.“ (siehe Buchangabe unten)

Zu ergänzen ist noch: Die Zeit der russischen Liberalen, das heißt, die Zeit der Umverteilung des Volkseigentums an Privateigentümer, die Zeit einer nachholenden Akkumulation, von der ein Marx sich bei seiner Analyse der ursprünglichen Akkumulation nichts hat träumen lassen, war abgelaufen. Das Ende der wilden und dann auch der gesetzlich legitimierten kriminellen Privatisierung, die im Volksmund nur noch „Prichwatisierung“ hieß (vom Verb „prichwats = Rauben), war unübersehbar erreicht. Es war klar: Entweder der Krieg der Oligarchen untereinander und die Zerstörung der sozialen Strukturen des Staates gehen in einen Bürgerkrieg vermischt mit einer Revolte der durch die Privatisierung enteigneten Volksmassen über, ähnlich dem Vorgang, der heute die Ukraine zerreißt, – oder es wird jetzt ein Übergang in die Wiederherstellung einer Staatlichkeit geschafft, die wenigstens eine Basisversorgung der Bevölkerung sichert und eine irgendwie geartete Identität der im nachsowjetischen Raum lebenden Bevölkerung ermöglicht.

Die Apologeten der Privatisierung, Jegor Gaidar, Grigori Jawlinski, Anatoly Tschubajs und andere, unter ihnen auch Boris Nemzow mussten zurücktreten. Aus St. Petersburg holte der kranke Jelzin Wladimir Putin. Für die etablierten Moskauer Kräfte und die tonangebenden Oligarchen dieser Zeit, Boris Beresowski, Wladimir Gussinski, Michail Chodorkowski und andere, die die Macht im Hintergrund hielten, war Putin ein „Mr. Nobody“, von dem sie keine Einschränkungen glaubten befürchten zu müssen. Aber Putin leitete die Restauration russischer Staatlichkeit, die im Krieg der Oligarchen um die Aneignung des Volksvermögens zerstört worden war, gerade aus dieser Position ein. Sie machte ihn als „Vermittler“ geeignet.

Aus der Krise 1998 gehen Nemzow und Putin sehr unterschiedliche Wege – Gegensätzlicher konnten die Konsequenzen, die aus dem Zusammenbruch gezogen wurden, kaum sein. Nemzow setzte seine liberale Spur fort – Putin setzte auf Restauration russischer Staatlichkeit. Ein Thermidor der nachsowjetischen bürgerlichen „Revolution“ trat ein, könnte man sagen, oder mit Rückgriff auf die russische Revolution, ohne Gleichsetzungen damit verbinden zu wollen,  ein Trotzki und ein Stalin der Perestroika agierten auf der Szene – „permanente Revolution“ hier, Stabilisierung dort. Beides allerdings mit den Vorzeichen einer  bürgerlichen Restauration, statt einer proletarischen Revolution. Damit war der ganze Vorgang eher einem mit diesen Rollen besetzten Theater ähnlich, das vor der Bevölkerung aufgeführt wurde – denn im Prinzip blieben sowohl Nemzow als auch Putin neo-liberale Liquidatoren des sowjetischen Kommunismus und seiner traditionellen russisch-sowjetischen Gemeinschaftsstrukturen. Allein, Putin war der Macher, der dem Kapital Stabilität verschaffte; Nemzow blieb in der Rolle des Umstürzlers.

Nach 2000, als Nemzow Putins Weg noch begrüßte, führten beider Wege konsequent in gegensätzliche Positionen: Nemzow in die Dauerprovokation,  Putin in die autoritäre Modernisierung, Nemzow in die Fragmentierung der Opposition, in die Zersplitterung der liberalen Opposition, die sich in Positionskämpfen marginalisierte. Putin dagegen suchte den Konsens der Mächtigen, in den er a) die Oligarchen, b) die Gebietsfürsten, c) die Machtapparate einzubinden verstand. Das gelang ihm unter der Aufforderung, Russland vor dem Zerfall zu retten, Russlands Staatlichkeit wiederherzustellen, Russlands Rolle in Eurasien neu zu begründen, und vor allem: Russlands soziale Strukturen soweit zu sanieren, dass eine sich abzeichnende Revolte der enteigneten Bevölkerung gegen die Raubprivatisierung der Ära Jelzins verhindert werden konnte. Revolte, Revolution ist d a s Trauma  Russlands.

Weiter konnten die Wege dieser beiden Männer kaum noch auseinander führen. Welches Zeichen setzt die Ermordung Nemzow zum jetzigen Zeitpunkt? Was bedeutet der Wegfall dieses Alter Ego „Nemzow“ für Putin, für das von ihm aufgebaute Konsensgefüge der „gelenkten Demokratie“? Dieses Gefüge ist ja eine äußerst fragile, in sich widersprüchliche Verbindung von neo-liberalen und sozialen, modernistischen und traditionellen, zentralistischen und zentrifugalen Kräften und Zielen. Ist es durch diesen Mord zerstörbar? In welche Richtung kann die Zerstörung wirken? Mehr „Putin“ oder weniger „Putin“? Das sind die Fragen. Antworten werden nicht lange auf sich warten lassen, denn so viel ist klar: Dass dieser Mord möglich war, zeigt, dass das Gleichgewicht gestört werden kann.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                   Dienstag, 3. März 2015

 

Hierzu die Bücher:

Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht“, Pforte

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki Band 1 (demnächst auch Band 2), Laika

(Bücher im Buchhandel und beim Autor zu beziehen)