Am Anfang des Jahres 2015 steht ein Vexierbild. Auf den ersten Blick zeigt es den ukrainischen Präsidenten Poroschenko, der zur Fortsetzung der Minsker Gespräche nach Astana, in die Hauptstadt Kasachstans einlud. Im „Normandie-Format“, also ohne die USA, sollten dort Wladimir Putin, Angela Merkel, François Hollande und Poroschenko selbst am 15. Januar Gespräche zu Lösung der ukrainischen Krise führen.

Der Ansatz versprach Lockerung, hatte sich doch Poroschenko mit seinem Vorschlag des „Normandie-Formats (so benannt nach einem Treffen der vier oben Genannten am 6. Juni anlässlich des  Gedenktages an die Landung der Allierten in Frankreich 1944) ungeachtet seiner eigenen, häufig martialischen Posen in dieser Frage offenbar gegen seinen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk durchgesetzt, der eine Fortsetzung der Minsker Gespräche nur im  „Genfer Format“, das heißt, nur unter Beteiligung der USA  akzeptieren wollte.

Und hatte doch Putin über den von ihm im September 2014 vorgelegten Plan für einen international kontrollierten Waffenstillstand hinaus, der mit in die Minsker Vereinbarungen eingegangen war, in den letzten Monaten immer wieder deutlich gemacht, dass Russland an Entspannung interessiert sei.

Hollande hatte zudem zum Jahresende erklärt, er sehe keinen Sinn in weiteren Sanktionen gegen Russland; es könne nicht darum gehen Russland zu schaden, sondern man müsse Formen der Zusammenarbeit finden, die allen nützten, und sogar Kanzlerin Merkel hatte, ungeachtet ihres scharfen Auftrittes in Brisbane Ende letzten Jahres, immer wieder das deutsche Interesse an einer Verständigung mit Russland betont.

Und schließlich hatte man sich, auch dies ein beachtenswerter Aspekt, gerade Schulter an Schulter zur Demonstration gegen den Terror in Paris getroffen.

Und selbst die Tatsache, dass von einer Teilnahme der Donezker und Lugansker Republiken in Poroschenkos Einladung nicht die Rede war, hätte ja noch korrigiert werden können.

 

Der zweite Blick…

Beim zweiten Blick tritt aus dem Bild jedoch eine andere Szene hervor:  Zeitgleich zu Poroschenkos Vorschlag kommt Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk, nationalistischer Scharfmacher, Liebling der USA nach Deutschland zu Besuch, wird von Bundespräsident Gauck empfangen, wird ins Bundeskanzleramt eingeladen, wird von der Bundeskanzlerin für seinen entschlossenen, wie sie betont, demokratischen, wenn auch für die Bevölkerung sicher „nicht einfachen“ Reformkurs gelobt, der zeige, dass das neugewählte Parlament der Ukraine „in Richtung eines transparenten und demokratischen Landes weitergehen möchte. Deutschland möchte die Ukraine auf diesem Weg unterstützen.“

 

Jazenjuk ist der Mann, der Russland vorwirft, einen „unerklärten de-fakto- Krieg“ gegen eine unabhängige Ukraine zu führen,  der selber den Bürgerkrieg gegen den Osten des Landes als „Anti-Terror-Aktion“ forciert und der jedes Gespräch mit den Aufständischen ablehnt, der unablässig für ein schärferes Vorgehen des Westens gegen Russland trommelt und ultimativ die Rückführung der Krim, wenn nicht gar deren Rückeroberung propagiert.

 

Zur Förderung seiner „Entschlossenheit“ die von ihm selbst so genannten „unpopulären“ Reformen – „vorübergehende Streichung von Sozialprogrammen, Änderungen bei Tarifen und Steuern“, Privatisierung der großen Industrieanlagen, insonderheit der Energie-Infrastruktur u.a.m. – durchzusetzen, bekommt Jazenjuk einen 500 Millionen-Sofortkredit mit auf den Weg, 1,8 Milliarden werden ihm von der EU-Kommission angekündigt, für die Zukunft „fordert“ er weitere Finanzzusagen von Deutschland, von der EU, damit die Ukraine auf dem Weg zum Westen fortschreiten könne. Kurzfristig ist von mindestens 15 Milliarden die Rede.

 

Zur Förderung gehört für die Kanzlerin Merkel auch, wie sie in der Pressekonferenz erklärt, bei der sie Jazenjuk als Schützling Deutschlands präsentiert, „dass die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt werden kann. Der Schlüssel dazu ist das Minsker Abkommen, darüber waren wir uns einig. Das Problem ist nur, dass das Minsker Abkommen seit September abgeschlossen ist, aber leider die verschiedenen Punkte noch nicht umgesetzt sind. Wir haben Fortschritte bei der Einhaltung der Waffenruhe, aber auch die ist nach wie vor fragil. Deshalb müssen alle Punkte des Minsker Abkommens umgesetzt werden.“

 

Zum Treffen in Astana befragt, antwortet sie, Verhandlungen machten nur dann einen Sinn, wenn „wir das gesamte Minsker Abkommen umgesetzt sehen“. Erst dann könnten auch die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden. Russland müsse seinen Einfluss auf die Separatisten geltend machen! – „Angela Merkel stellt Bedingungen für das Gipfel-Treffen mit Petro Poroschenko und Wladimir Putin“, jubelte tags darauf das Presseorgan namens BILD.

Es wundert nicht, dass Putin sich unter solchen Voraussetzungen ebenfalls rar machte: Zwei Tage vor dem anberaumten Treffen in Astana ließ er erklären, er werde über seine Teilnahme erst sehr kurzfristig entscheiden.

Danach lieferten sich die Außenminister Deutschlands und Russlands noch ein Nachtragsgefecht:  Es sei schwer vorstellbar, erklärte Walter Steinmeier, dass es ohne „belastbare Vereinbarungen zur Waffenstillstandslinie“, ohne „Entflechtung mitsamt dem Rückzug schwerer Waffen“ und ohne „ungehinderten humanitären Zugang“ weitere Umsetzungsschritte von Minsk geben könne.“  Ein Gipfeltreffen könne es nur mit Fortschritten geben. Da sei man noch lange nicht.

Russlands Außenminister Lawrow erklärte, man prüfe in Moskau Informationen, dass Kiew „in absehbarer  Zukunft einen neuerlichen  Versuch  zur gewaltsamen Lösung des Konfliktes im Donbas  unternehmen wolle.“  Im Übrigen ließ Moskau verlauten, dass Russland auf der vorzeitigen Rückzahlung des 3 Milliarden Darlehens bestehen müsse, das Viktor Janukowytsch im Oktober 2014 gewährt wurde, um den Staatsboykott abzuwenden.

 

Das Minsker Abkommen als Alibi

Im Ergebnis entsteht so ein neues Bild: Ohne nach Beweisen gefragt zu werden kann Jazenjuk in der deutschen Öffentlichkeit behaupten, sein Land habe alle 12 Punkte des Minsker Abkommens bereits umgesetzt. Der von ihm erhobene  Vorwurf, die Aufständischen hätten, unterstützt durch den von Russland „nicht erklärten de-facto-Krieg“ das Minsker Abkommen gebrochen, wird zum Alibi, das den nächsten Akt des ukrainischen Dramas schon im Voraus rechtfertigt.

Einige Tatsachen zu dem Abkommen von Minsk müssen deshalb wohl in aller Kürze Erinnerung gerufen werden.

Da sind zunächst die Beschlüsse, wie sie von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dokumentiert wurden[1]. Nachzulesen auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung.[2]

 „Ausgehend von den Ergebnissen der Begutachtung und Diskussion der Vorschläge, die von den Teilnehmern der Konsultationen in Minsk am 1. September 2014 eingebracht wurden, hat die Dreiseitige Kontaktgruppe bestehend aus Vertretern der Ukraine, der Russischen Föderation und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ein Einverständnis erreicht bezüglich der Notwendigkeit der Umsetzung folgender Schritte:

1. Gewährleistung eines sofortigen beidseitigen Waffenstillstandes.

2. Gewährleistung der Überwachung und Überprüfung des Waffenstillstands durch die OSZE.

3. Durchführung einer Dezentralisierung der Macht, u. a. durch die Verabschiedung des ukrainischen Gesetzes „Über die befristete Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in bestimmten Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk“ (Gesetz über den besonderen Status).

 4. Gewährleistung einer permanent aktiven Überwachung der ukrainisch-russischen Staatsgrenze und ihre Überprüfung von Seiten der OSZE durch die Schaffung einer Sicherheitszone in den grenznahen Gebieten der Ukraine und der RF [Russischen Föderation].

5. Unverzügliche Freilassung aller Geiseln und gesetzwidrig festgehaltenen Personen.

6. Verabschiedung eines Gesetzes über die Nichtzulassung von Verfolgung und Bestrafung von Personen im Zusammenhang mit den Ereignissen, die in einzelnen Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk in der Ukraine stattgefunden haben.

 7. Fortführung des inklusiven gesamtnationalen Dialogs.

 8. Verabschiedung von Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage im Donbass.

 9. Gewährleistung der Durchführung vorgezogener Lokalwahlen im Übereinstimmung mit dem ukrainischen Gesetz „Über die befristete Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in bestimmten Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk“ (Gesetz über den besonderen Status).

 10. Abzug der ungesetzlichen bewaffneten Einheiten, Militärgeräte sowie der Kämpfer und Söldner aus dem Gebiet der Ukraine.

11. Verabschiedung eines Programms zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des Donbass und Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der Region.

12. Sicherstellung der Garantie der persönlichen Sicherheit der Teilnehmer der Konsultationen.“

Unterschrieben wurde das Abkommen von der Sonder-Botschafterin der OSZE Heidi Tagliavini, dem zweiten Präsidenten der Ukraine L. D. Kutschma, dem Botschafter der Russischen Föderation in der Ukraine M. Ju. Surabow, außerdem durch die bei der Verhandlung ebenfalls anwesenden A. V. Sachartschenko für die Donetzk Republik und I. V. Plotnizki für die Lugansker Republik.

Zum Verständnis der Einleitung am Anfang des Dokumentes, in dem von Vorschlägen die Rede ist, die zu der Konferenz eingebracht worden waren, ist nachzutragen: Das am 5.9. 2014 in Minsk beschlossene Abkommen hatte zwei Vorläufer – den von Petro Poroschenko so genannten Friedensplan vom 21.06.2014 und den Plan für eine Waffenruhe von Wladimir Putin, vorgelegt von ihm am 03.09.2014. Das auf dieser Grundlage im Einvernehmen zwischen Poroschenko und Putin mit Billigung der übrigen Teilnehmer und Teilnehmerinnen ausgehandelte Minsker Abkommen ist kein „Friedensvertrag“. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine pragmatische Waffenstillstandsvereinbarung, die zunächst einmal darauf zielt Grundlagen für weitere Verhandlungen herzustellen und eine Richtung anzugeben, in die zukünftige  Lösungen laufen könnten. Bestimmungen zur Durchführung der einzelnen Beschlüsse sind entweder nicht vorhanden oder sehr offen.

Anzumerken ist auch, dass die Verhandlungen zwar im Beisein von Vertretern der Donezker und auch der Lugansker  Republik (DNR und LNR) geführt und das Protokoll von ihnen auch unterschrieben wurde; dass die Donezker aber unmittelbar anschließend an das Minsker Treffen durch ihren Sprecher Boris Litwinow verlauten ließen, die Unterschriften der beiden Vertreter der DNR und der LNR dokumentierten lediglich deren Teilnahme.

Dieses Wackeln kann man als unseriös kritisieren, es kennzeichnet aber den Stellenwert der Vereinbarungen, die als Richtungsangabe und nicht als Vertrag zu verstehen ist. Das ist bei der Bewertung des Abkommens mit einzubeziehen.

 

 

 

Kommen wir zu den einzelnen Punkten:

Im Verlauf der Ereignisse wurden zentrale Vereinbarungen von beiden Seiten nicht umgesetzt, allen voran die Waffenruhe (Punkt 1) sowie die Entwaffnung und der Abzug „ungesetzlicher“ Einheiten (Punkt 11). In diesen Fragen haben sich beide Seiten nichts – bzw. gegenseitig berechtigterweise vieles – vorzuwerfen, bewaffnete Gruppen beider Seiten haben die Waffenruhe immer wieder durchbrochen. Entsprechend war die Sicherheitszone nicht garantiert und konnte die OSZE nicht ungehindert tätig sein. Vollkommen offen ist selbstverständlich, was unter den Bedingungen des im Bürgerkrieg gespaltenen Landes „gesetzliche“ und was ungesetzliche Einheiten sind. Mehr noch: Bedauerlicherweise verselbständigten sich Milizen mit dem Andauern des Bürgerkriegszustandes zusehends als vagabundierende Banden, die sich keiner übergeordneten Macht, nicht der Kiews, nicht der der Donezker und Lugansker Autoritäten, aber auch nicht Russlands unterordnen.

Andere Beschlüsse des Abkommens sind durch die politische Entwicklung inzwischen überholt. So unter Punkt 3 – das Gesetz über den besonderen Status der östlichen Teile des Landes. Das Gesetz wurde von Poroschenko zurückgezogen. So unter Punkt 8 – die Verabschiedung zur Verbesserung der humanitären Lage. Sie ist allein schon durch die Bombardierung der Städte des aufständischen Gebietes durch Kiewer Artillerie mehr als konterkariert, von anderen Maßnahmen der „Entstaatlichung“ dieser Gebiete zu schweigen. So schließlich auch unter Punkt 9 – die Verabredung zur Durchführung lokaler Wahlen. Sie wurde durch die getrennten Wahlen in Kiew und danach in Donezk und Lugansk inzwischen schlicht zur Vergangenheit.

Tatsächlich, zumindest teilweise umgesetzt wurde der Punkt 5 – Freilassung von Geiseln und Austausch von Gefangenen – allerdings auch dies behindert durch die andauernden Kriegshandlungen. Überhaupt nicht kontrollierbar ist die Vereinbarung unter Punkt 6, der die komplizierte Benennung trägt: „Verabschiedung eines Gesetzes über die Nichtzulassung von Verfolgung und Bestrafung von Personen im Zusammenhang mit den Ereignissen, die in einzelnen Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk in der Ukraine stattgefunden haben.“ Weniger kompliziert ausgedrückt handelt es sich bei diesem Punkt um Vereinbarungen zur Amnestie und Rechtssicherheit. Dieser Punkt ist in der Schwammigkeit seiner Formulierung  und unter den Bedingungen der andauernden politischen  und militärischen Konfrontation auf dem Gebiet der Ukraine praktisch ohne fassbaren Inhalt. Tatsache ist vielmehr, dass sich die gesamte Ukraine, Kiewer Westen ebenso wie die Republiken Donezk und Lugansk in einem Klima politischer und juristischer Willkür bewegen, das von „demokratischer Transparenz“ , wie Angela Merkel sie in der Ukraine zu erkennen glaubt, weit entfernt ist.

Insgesamt ist festzuhalten, um das noch einmal unmissverständlich klarzustellen, dass die Minsker Vereinbarungen in einem solchen Maße offen gehalten sind, dass ihre Umsetzung einer fortwährenden Konkretisierung und Absprache bedarf, wenn sie nicht der beliebigen Interpretation anheimfallen sollen. Unter der Voraussetzung jedoch, dass von einer „Fortführung des inklusiven gesamtnationalen Dialoges“, wie er  in dem Abkommen unter Punkt 7 gefordert wird, bei den sich eskalierenden Kriegshandlungen des zurückliegenden Jahres nicht die Rede sein konnte, konnte eine solche Konkretisierung praktisch nicht stattfinden. Die Vereinbarung, die in Minsk am 5.9. 2014 beschlossen wurde, kann unter all diesen Umständen nicht mehr sein als der Ausgangspunkt zu neuen Gesprächen. Sie ist kein gültiger Vertrag, schon gar kein Friedensvertrag, dessen Bestimmungen Punkt für Punkt klar und eindeutig einklagbar wären, ganz zu schweigen davon, dass einige der Vereinbarungen schon lange von der Realität überholt worden sind.

Einfach gesagt: die Forderung der deutschen Kanzlerin und ihrer Parteigänger in der Ukraine wie in der EU, als Voraussetzung für eine Entspannung „das gesamte Minsker Abkommen umgesetzt sehen“ zu wollen, ist entweder vollkommen realitätsfern – oder bewusst gegen eine Verständigung gerichtet. Das lässt von dieser Seite nichts Gutes erwarten – ganz ungeachtet der Tatsache, dass selbst Poroschenkos Vorschlag für ein Treffen in Astana ohne den eigentlichen Dialogpartner, nämlich die Vertreter der Republiken Donezk und Lugansk glaubte auskommen zu können. Aber über die Köpfe der Menschen in den Republiken Donezk und Lugansk hinweg oder gar gegen sie wird es in der Ukraine keinen Frieden geben. Schon gar nicht wird man sich in dieser Weise der Verabschiedung eines Programms zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des Donbas und der Wiederherstellung der Lebensfähigkeit der Region nähern können, wie es unter dem Punkt 11 Abkommens formuliert ist.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de



[1] http://www.osce.org/home/123257

[2] http://www.bpb.de/internationales/europa/Ukraine/191799/dokumentation-minsker-protokoll-vom-5-september-2014