Ukraine:

Westwahl erfolgt – Problem gelöst?

Die vorgezogenen Wahlen zum Kiewer Parlament vom 26.10.2014 lassen ein interessantes Dejà vue  aufkommen. Erinnern wir uns: 1991, die Sowjetunion wurde aufgelöst. Francis Fukuyama schrieb, das Ende der Geschichte sei gekommen, Demokratie habe sich als Ordnungsmodell endgültig durchgesetzt. In ähnlicher Manier erklären die westlichen Regierenden und die regierungstreuen Medien heute, in den soeben in der Ukraine durchgeführten Wahlen habe die Ukraine und mit ihr der Westen heute die „Abkehr vom autoritären russischen Modell besiegelt“.

Tatsächlich kam Geschichte mit dem Zusammenbruch der bipolaren Nachkriegsordnung 1991 erst wieder richtig in Bewegung; Fukuyama musste sich sehr bald korrigieren. Nach vorübergehendem Siegestaumel der „einzig verbliebenen Weltmacht“, wie der wichtigste Stratege der USA, Sbigniew Brzezinksi den von Fukuyama so frenetisch begrüßten Sieger des Kalten Krieges, die USA, seinerzeit nannte, haben wir es inzwischen mit einer erheblich veränderten Weltlage zu tun. Ihre Haupttendenzen lassen sich, will man nicht nur platt von einer Krise globalen Kapitalismus sprechen, unter drei Aspekten beschreiben:

1. als Leben im nachsowjetischen Trauma, in dem es darum geht, eine neue soziale Utopie zu finden, nachdem die realsozialistische in die Krise gekommen ist und das neo-liberale Versprechen auf Glück, Wohlstand und Menschenrechte sich statt als Alternative zunehmend als Fortsetzung der Krise in kapitalistischer Form entpuppt. So brennt heute die Frage: Wie wollen wir leben?

2. als Zusammenprall einer Krise des Nationalstaates mit einer aus dem Zerfall des Sowjetimperiums zugleich resultierenden nachholenden Nationalisierung, die um das Maß radikaler verläuft, um das sie gegenüber den antikolonialen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts später die Weltbühne betritt.

3. als Übergang aus der vorübergehenden unipolaren Vorherrschaft der USA, die ihren Anspruch auf die Rolle des Weltpolizisten nicht mehr halten können, in eine Welt kooperativer, gleichberechtigter Beziehungen neu herangereifter globaler Großregionen.

In der Ukraine haben sich diese drei Tendenzen im Laufe der letzten Jahre zu einem geostrategischen Kampffeld zwischen Ost und West, zwischen Heute und Morgen, im letzten Jahr auch zwischen Krieg und Frieden verdichtet.

Mit dieser Grundkonstellation vor Augen erhält der aktuelle westliche Siegestaumel einen anderen Klang. So wenig wie vor zwanzig/fünfundzwanzig Jahren die Geschichte stillstand und sich in ein amerikanisches Zeitalter erfüllter demokratischer Träume auflöste, so wenig sind in der Ukraine jetzt „Grundentscheidungen für eine offene Demokratie“ getroffen worden.

Das genaue Gegenteil ist der Fall – vielleicht nicht unbedingt in den Köpfen und Herzen der ukrainischen Wähler und Wählerrinnen, sehr wohl aber mit Blick auf die Tatsachen, die durch den Wahlgang entstanden sind. Im Grunde sind diese Tatsachen offensichtlich, nicht zu leugnen und hinlänglich oft benannt, trotzdem ist es wohl unvermeidlich noch einmal deutlich an sie zu erinnern:

 

Der „Friedensplan“ wurde geschwächt

Die Wahl hat den „Friedensplan“ des ukrainischen Präsidenten Poroschenko nicht gestärkt, im Gegenteil,  sie hat ihn geschwächt. Er, der vor wenigen Monaten mit 54% der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, musste sich jetzt mit einer Zustimmung von 21,18 % zufrieden geben. Gleichauf mit Poroschenko und schließlich noch an ihm vorbei zog die „Volksfront“ des amtierenden Ministerpräsidenten Jazenjuk mit 22,16 %. Er hatte sich gegen die Verhandlungsbereitschaft seines Präsidenten mit aggressiven Forderungen nach Fortsetzung des Krieges gegen den Donbas und scharfen antirussischen Töne in Stellung gebracht. An Jazenjuk führt für den Präsidenten unter diesen Umständen kein Weg vorbei. Dazu kommen drei weitere nationalistische, antirussische Parteien, die es in die Rada geschafft haben: Das ist mit 10,99 % Andrei Sadowy, Bürgermeister von Lemberg,  mit seiner Partei „Selbsthilfe“. Seine Partei stützt sich wesentlich auf die durch den Maidan hervorgetretenen „Aktivisten“, einschließlich berüchtigter Milizkommandeure, die im Einsatz gegen den Osten bekannt wurden. Auf Sadowy folgen der Führer rechter Selbstjustiz Oleg Ljaschlo („Radikale Partei“) mit 7,44 %, die bekannte Julia Timoschenko („Vaterland“) mit 5,68 %. Auch auf ihren Listen stehen nationalistische Milizenführer auf den vordersten Plätzen.

Die „Swoboda“ des bekannten Rechten Oleg Tjagnibog verfehlte mit 4,8 % den Einstieg in die Rada. Ihre Mitglieder  protestierten sofort lautstark gegen einen ihrer Ansicht nach von Russland gegen die Partei gesteuerten Wahlbetrug. Der Protest stützt sich darauf, dass der Partei Zwischenergebnisse von 5,8% vorausgesagt worden waren. Zusammen repräsentieren die drei kleineren, in die Rada eingezogenen nationalistischen Parteien 24,11 % der Wählerstimmen.  Gemeinsam mit Jazenjuk 22,16 %  sind den Kriegsbefürwortern damit innerhalb der Rada 46,17 % der Stimmen zugefallen.

Auch der „Rechte Sektor“, ebenso die KPU, die sich trotz Behinderung durch den Verbotsantrag zur Wahl stellte, und einige kleinere Gruppen scheiterten an der 5% Hürde. Als einzige nicht „westliche“ Kraft ging ein „Oppositionsblock“ mit 9,4 % aus den Wahlen hervor. Er wurde wesentlich in den östlichen Gebieten gewählt.

Insgesamt bedeutet dieses  Ergebnis: Gleich welche Koalition zustande kommt, wird sich Präsident Poroschenko in jedem Fall – wenn er unter diesen Umständen Präsident bleiben möchte – nach den Kriegsparteien ausrichten müssen Das beginnt bei Jazenjuks „Volksfront“ und schließt mindestens einer der drei anderen Gruppen ein. Diese Konstellation erlaubt fließende Koalitionen in der Rada, die sich fallweise personell, aber wohl eher nicht in ihrer nationalistischen Ausrichtung unterscheiden. Der Form nach ist diese Rada demokratisch, politisch ist sie ein Instrument radikaler Nationalisten bis hin zu offenen Faschisten.

Bedenkt man noch die außerparlamentarisch verbliebenen Potentiale der radikalen Rechten bis hin zu „Swoboda“, die sich unter den Umständen ihres Nichteinzuges ins Parlament auch wieder radikalisieren wird, dann geht die Ukraine politisch finsteren Zeiten entgegen.

 

Die Wahl hat das Land geteilt

Die Wahl hat nicht die Einheit des Landes befördert, sondern die faktische Teilung deutlich hervortreten lassen und sie vertieft. In den süd-östlichen Teilen des Landes, die wie Mariopol, Slawjansk oder Charkow von den Kiewer Stoßtruppen kürzlich „zurückerobert“ werden konnten,  wurde nicht „westlich“ gewählt. Vielmehr wurde hier der „Oppositionsblock“ stärkste Kraft, auf dessen Liste sich vor allem Kader aus der alten Garde der „Partei der Regionen“ des früheren gestürzten Präsidenten Janukowytsch einfanden. Die Wahlbeteiligung in diesen Bezirken lag zudem mit 30 Prozent weit unterhalb des Schnitts in dem westlicher Gebiete; sogar in Odessa, das bisher voll unter Kiewer Kontrolle steht, wurde nur eine 40%ige Wahlbeteiligung erreicht.

Über dies hinaus steht die für den 2. November 2014 im Namen der Donezker und Lugansker Volksrepubliken (DNR und LNR) ausgerufene Wahl an. Mit der Wahl von Staatsoberhäuptern und Parlamenten wollen die dortigen Verantwortlichen die Legitimität der von ihnen ausgerufenen Volksrepubliken begründen, die bisher nur auf den wackeligen Füßen des Referendums vom Mai des Jahres und den nachfolgenden Kriegshandlungen beruht. Die Wahl soll zudem staatliche Selbstständigkeit der Republiken demonstrieren und konstituieren und sie so auf diese Weise reif für internationale Anerkennung machen.

Die Positionen dazu sind klar: Die Kiewer Kräfte, allen voran Poroschenko und Jazenjuk, sowie selbstverständlich ihre westlichen Unterstützer haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass sie die Wahlen nicht anerkennen werden, sondern auf die Einheit der Ukraine pochen. Bundeskanzlerin Merkel hat diese Position noch wenige Tage vor den Wahlen bekräftigt. Russland hat nach einer Anerkennung der von Kiew abgehaltenen Wahlen erklärt, man werde auch die Wahlen im Osten des Landes anerkennen, weil damit das Auftreten verlässlicher Ansprechpartner für weitere Friedensverhandlungen in Minsk ermöglicht werde.

Mit diesen Vorgängen ist die Teilung des Landes vorerst perfekt – wenn die Wahlen nicht noch heute oder morgen durch Kiewer Truppen verhindert werden oder – ungeachtet des Ergebnisses der Wahlen – Kiewer Truppen noch vor Einbruch des Winters auch Donezk und Lugans „zurückerobern“.

 

„Ein Winter von Blut und Eis“

Selbst wenn dieses Szenario nicht in dieser Weise eintreten sollte, ist diese Wahl kein Aufbruch zum Frieden, sondern der Startschuss in die drohende Verelendung für die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, und zwar auf beiden Seiten der Bürgerkriegsgrenzen, unterschieden nur durch die Entwicklungswege, die hier und dort zur Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme eingeschlagen werden.

Für die von der Kiewer Politik erreichbaren Gebiete steht die Durchsetzung des von IWF und EU  geforderten rigiden Sparprogramms und der schon beschlossenen Privatisierung der Großbetriebe, staatlichen Ressourcen und kommunalen Dienste auf der Tagesordnung, für die Donezker und die Lugansker Volksrepubliken dagegen eine Wiederverstaatlichung der großen, in der Zeit nach 1991 bereits in oligarchische Hände übergegangenen Betriebe, eine Wiederherstellung abgebauter kommunaler Versorgungsnetzte.

Selbst regierungstreue Medien, nachdem sie das Ergebnis der Westwahlen zum „Sieg der Demokratie“ und zum „prägenden Gründungserlebnis“ einer Nation hochgejubelt haben, können nicht umhin auf die Gefahren zu verweisen, die über den Winter drohen. „Der Kampf ist allerdings noch nicht gewonnen“ schreibt beispielsweise die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“  in skrupelloser demagogischer Verzerrung: „Der von russischen Waffen und russischen Mythen gestützte Separatismus im Donbas kann seine Stoßtrupps jederzeit weiter vorrücken lassen. Die Wirtschaft ist zerrüttet, die Industrie zerbombt, eine Energiekrise droht. Möglicherweise  steht ein Winter von Blut und Eis bevor. Das frisch erwachte Selbstbewusstsein eines Volkes im antikolonialen Befreiungskampf könnte in so einer Lage in Nationalismus umschlagen.  Das Auftauchen der rechtspopulistischen ‚Radikalen Partei‘ zeigt trotz ihres schwachen Abschneidens bei der Parlamentswahl, dass diese Gefahr  durchaus existiert. Populäre Feldkommandeure jener Freiwilligen Barone, die jetzt im Osten  geholfen haben, die russische Intervention zu stoppen, entziehen sich der Disziplin. In einer Krise könnte die Demokratie durch sie in Gefahr geraten.“ (Hier und im Folgenden, FAZ, 28.10.2014)

In der Zeitung „Die Welt“ wird gleich in einer ganzen Serie von Artikeln über die Gefahr eines „2.Maidan“ räsoniert, der daraus hervorgehen könne, dass – wie die von dem Blatt angeführten Zeugen des „Rechten Sektors“  es ausdrückten – „nur die Deckel auf dem goldenen Klo ausgetauscht“ worden seien, das heißt ins Sachliche übersetzt, die alten Oligarchen lediglich durch neue ersetzt wurden. Mehr noch, muss man ergänzen: War es bisher so, dass die Oligarchen aus dem Hintergrund die Politik des Landes gekauft haben, so sind sie jetzt nicht mehr allein mit ihrem Geld, sondern höchst persönlich in die Regierungsetagen und in die Kampffront gegen den Osten eingerückt.

„Schlüsselfrage“ sei daher nicht, so „Die Welt“, was Poroschenko jetzt wolle, „sondern ob sich die ukrainischen Eliten erneuern könnten.“ Dazu brauche es jetzt eine konsequente „Lustration“, eine Anti-Korruptions-Reform sowie ein neues Beamtengesetz, praktisch heißt das, eine „Reinigung“, um den Staatsapparat von Kräften zu „säubern“, die den Kurs der nationalen Einigung nicht mittragen. Dass die Wahlen vor diesem Hintergrund zu einem Run auf die Immunität verkommen, muss in die Augen springen.  Um der Korruption vorzubeugen, brauche es zudem zwischen 670 Millionen und 1,7 Milliarden Euro, um die Gehälter zu erhöhen, heißt es – Geld das die Ukraine jedoch zur Zeit nicht habe. Dies erklärt der aus der Maidan-Bewegung kommende, neue stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Dmytro Schimkiv, vor seiner jetzigen Tätigkeit Chef von Microsoft Ukraine. Sein Schreibtisch ist, wie „Die Welt“ mitteilt, „voll geschrieben mit Grafiken und Strategiebegriffen auf Englisch.“ (Die Welt, 26.10.2014)

Kein Wort fällt über die unterschiedlichen Perspektiven im Westen der Ukraine und in den Gebieten Donezk und Lugansk, wie auch generell in den östlichen Regionen. Welche der beiden oben genannten Varianten, Privatisierung hier, Sozialisierung dort, sich als die gefährlichere für den Frieden, welche, von der positiven Seite betrachtet, sich als die attraktivere für die Mehrheit der Bevölkerung erweist, das wird in der Tat der Winter zeigen.

 

Und Russland ist nach wie vor im   Visier

Die geostrategische Begleitmusik der Wahlen ist nicht minder krass: Um zu verhindern dass der „Winter von Blut und Eis“ eintrete, sei die Hilfe des Westens nötig, fordert z.B. die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Einiges sei schon getan worden, „aber nicht genug. Die Sanktionen gegen Russland stärken zwar die Ukraine, aber die Aggression geht weiter. Die Ukraine braucht für den Winter viel Geld und viel Erdgas sowie – weil man Schützenpanzer nicht mit warmen Decken stoppt – moderne Ausrüstung für ihre solange vernachlässigte Armee.“

Es folgen Sätze, die stark an Brandreden aus einem anderen Jahrhundert erinnern: Die Hilfe werde nicht billig sein. Sie werde die „Eliten Europas zwingen, ihren Wählern, die lange glaubten, der Kalte Krieg sei vorbei, klar zu sagen, dass eine diplomatische Lösung , so wünschenswert sie auch wäre, vielleicht so bald nicht kommen wird und dass vielleicht ein langer westöstlicher Winter bevorsteht. Europa wird neue Prioritäten setzen müssen, manches wird man sich nicht mehr leisten können. Das wird Wähler kosten und Mut erfordern.“

Und dann die Fanfare: „Es geht hier nicht nur um die Ukraine, sondern um Europas eigene Interessen, um seine Zukunft. So viel mehr Hilfe für die Ukraine auch kosten mag, sie ist unausweichlich. Putin spricht weiter von ‚Neurussland‘, und manche Separatisten im Donbas verlangen offen, noch weiter vorzudringen. Wenn das so kommen sollte, wenn der Hybridkrieg des Kreml weitere Teile der Ukraine verwüsten und das Chaos bis an die Grenzen der EU führen sollte, wenn die Flüchtlingsströme anschwellen und das Gas ausbleibt, werden die Kosten, die mancher heute scheut, wie Kleingeld wirken. Dass ein gestärkter russischer Nationalismus dann vor EU-Staaten wie Estland oder Lettland, in denen große russophone Minderheiten leben, halt machen würde, könnte eine leere Hoffnung sein.“

Nichts ist also entschieden. Die Ukraine bleibt Aufmarschgebiet gegen Russland. Zeitungen wie die „Frankfurter Allgemeine“ oder „Die Welt“ sind ja nur die aktuellen Spitzen der Propaganda. Noch nicht verklungen ist die Rede Barak Obamas vor der UN-Vollversammlung Ende September des Jahres, in welcher er IS, Ebola und die „russische Aggression“ in einem Atemzug als Hauptübel kennzeichnete, gegen welche die Menschheit sich zurzeit wehren müsse. Die deutsche Bundeskanzlerin wiederholte Obamas Kriegsruf eine Woche später, konkretisiert um die Ergänzung, gegen diese Gefahren müsse Europa sich zusammenschließen. Der polnische Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak forderte vor Kommandeuren der deutschen Bundeswehr soeben eine „Abschreckungspolitik“ gegenüber Russland. Eine stärkere Präsenz des Westens im Osten sei erforderlich. Russland stelle angesichts der Aggressionen gegen die Ukraine eine Gefahr dar. Deshalb müsse die „kollektive Verteidigung“ verstärkt werden. Siemoniak steigerte sich zu der bemerkenswerten Aussage: „Nur Demokratien führen keinen Krieg.“ Wenn die Ukraine in die NATO wolle, werde Polen sich dem nicht entgegenstellen. Die Deutsche Ministerin für Verteidigung, Ursula von der Leyen dankte für die „klaren Worte“ und erklärte an die Polen gewandt: „ Seid gewiss, ihr könnt Euch auf uns verlassen.“ (FAZ, 30.10.2014)

Offen bleibt bei all diesem Gerede nur eines, nämlich warum USA, NATO und EU unisono zugleich auch immer wieder versichern, man wolle auf keinen Fall einen großen Krieg riskieren. Darauf gibt es indes eine in der Öffentlichkeit fast vergessene Antwort: Die Welt lebt immer noch unter den Bedingungen eines atomaren Patts. Unter diesen Vorzeichen erscheinen die permanente Vorverlagerung der NATO nach Osten, die Raketenstationierungen in Osteuropa während der letzten Jahre bis hin zu den aktuellen Aufrüstungen an der polnischen Grenze und dem informellen Eindringen der NATO in die Ukraine in einem anderen Licht als dem der bloßen „Einkreisung“. Sie erscheinen vielmehr als Versuch, über Abfangraketen direkt an den Grenzen Russlands eine Erstschlags Kapazität für die USA herzustellen – und damit ihre bröckelnde Hegemonie zu zementieren. Ähnliches übrigens an den Grenzen Chinas und im Süden und Osten Russlands.

Der zweite Grund, warum die überbordende Kriegsrhetorik und Sanktionspolitik nicht in den großen Krieg übergeht, liegt in der taktischen Zurückhaltung Russlands, das im Gegensatz zu dem vom Westen entworfenen Bild des „Aggressors“ auf permanente Provokationen nicht im gleichen Ton, sondern mit dem Aufruf zur Bildung einer kooperativen pluralen Weltordnung gleichberechtigter Partner antwortet. Das wurde von Wladimir Putin soeben wieder auf der Waldai-Konferenz in Sotchi vorgetragen. Zur Entwicklung einer solchen Ordnung gehört selbstverständlich auch das Recht, ja geradezu die Pflicht  Russlands, zusammen mit seinen Nachbarn an der Integration des Eurasischen Raumes zu arbeiten. Ein Zerfall dieses Raumes, gar ein Machtvakuum im Herzen Eurasiens, wäre eine tödliche Gefahr.

Statt den USA als Juniorpartner bei dem Versuch zur Hand zu gehen, Russland über ein Herauslösen der Ukraine aus dem russischen Kultur- und Wirtschaftsraum zu schwächen, täte die Europäische Union gut daran, die Stabilisierung der sich herausbildenden Eurasischen Union mit ihren Erfahrungen einer 50 jährigen Geschichte zu unterstützen. Der Übergang aus der Welt der US-Hegemonie in eine multipolare globale Ordnung gleichberechtigter globaler Kräfte ist letztlich unaufhaltsam, und dazu gehört zweifellos Eurasien als Region mit eigener Zukunft. Unaufhaltsam ist auch die Überwindung des nachholenden Nationalismus, wie er jetzt in der Ukraine wütet, in Richtung einer föderativen Vernetzung autonomer Regionen und schließlich auch die Überwindung der gegenwärtigen sozialen Desintegration in Richtung auf eine zukünftige solidarische Grundstruktur der Gesellschaft. Die Ukraine wird weiter zerrissener Kampfplatz bleiben, wenn diese Tendenzen, wie sie auch vorn angesprochen worden sind, nicht gezielt, von innen wie auch von außen gemeinsam in die Mitte genommen werden.

Was also zu allererst gebraucht wird, ist, so wahr wie banal, die Aufnahme des Dialoges um andere Formen der Nutzung, der Entwicklung und der Umverteilung  der großen natürlichen und kulturellen Reichtümer des Landes  – aber nicht etwa nur zwischen Osten und Westen, sondern ebenso intensiv auch zwischen oben und unten und selbstverständlich auch zwischen den „playern“ der Welt, großen und kleinen, denn, salopp gesagt, die Ukraine ist überall.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de                                                           28. Oktober 2014