Aufruhr in der Ukraine. Hunderttausende auf den Straßen. Nachdem Präsident Janukowytsch dem zur Unterschrift gereiften Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union eine Woche vor dessen geplanter Verabschiedung die Unterzeichnung verweigerte und statt dessen trilaterale Verhandlungen zwischen EU, Russland und der Ukraine vorschlug, schlug die oppositionelle Empörung hohe Wellen. Rufe nach Fortsetzung der „orangenen Revolution“ von 2004 wurden laut. Julia Timoschenko, inhaftierte Galionsfigur der ukrainischen Opposition schrieb aus der Haft einen Brief an den Präsidenten[i], in dem sie ihm vorwirft, mit der von ihm angestrebten „Neutralität zwischen EU und Russland“ das Assoziierungsabkommen zu zerstören; der Preis dafür werde der „Verrat der nationalen Interessen der Ukraine“ sein. In demselben Brief erklärt sie, sie dagegen sei bereit, den Vertrag sofort „ohne Erfüllung sämtlicher Kriterien“ zu unterschreiben.

      Zur Begründung ihrer Haltung erteilt sie dem Präsidenten einen Rat, der es verdient, in voller Länge zitiert zu werden: „Schlagen Sie nicht so unhöflich und hysterisch Geld von der westlichen Welt im Austausch für ein Abkommen ab. Es sieht primitiv und geschmacklos aus. Unterzeichnen Sie ein Abkommen und die westliche Welt wird Ihnen alles geben. Sie rettet Sie aus dem finanziellen und sozio-ökonomischen  Kollaps, den sie angerichtet haben. Verstehen Sie, wenn Sie einen Vertrag unterschreiben, dann wird es für diese ganze demokratische Welt eine Ehrensache, die ukrainische Gesellschaft in der europäischen Entwicklungsrichtung nicht zu enttäuschen. Alles wird getan werden, um 46 Millionen Menschen die positiven Effekte der Unterzeichnung  eines EU-Abkommens spüren zu lassen. Im Gegensatz zu Ihnen  gehen die Führer der westlichen Welt mit dem Glauben der Menschen an die europäischen Werte und Normen verantwortungsvoll um.  Sie werden Ihnen helfen, als Politiker nicht zu verlieren und das Land nicht zu verspielen. Auch wenn Sie sich stark widersetzen, werden Sie der europäischen Hoffnung der Ukrainer zuliebe zu einem erfolgreichen Präsidenten gemacht. Also mein zweiter Rat: Wenn sie die finanzielle, geistige und politische Unterstützung der ganzen Welt wollen, unterzeichnen Sie den Vertrag ohne demütigende  und ungeschickte  Versteigerung.  Sie bekommen alles ohne Zweifel und Zögern. Trotz der Größe der russischen Ressourcen können diese nicht mit der Gesamtkapazität der demokratischen Werte verglichen werden.“(Kursiv durch Julia Timoschenko selbst)

In zig-tausendfacher Variation war dieser Tenor, unterfüttert mit Forderungen nach Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes, in den zurückliegenden Tagen des Straßenprotestes zu hören. Aber was, muß man fragen, hält davon einer nüchternen Bestandsaufnahme der Situation der Ukraine stand? Muß man erst Wikipedia bemühen, um die Geschichte der Ukraine als Geschichte eines gespaltenen Landes zu erkennen? Muß man erst an den US-Strategen Sbigniew Brzezinski erinnern, der die Ukraine zum Dreh- und Angelpunkt erklärte, von dem aus Rußland auf dem eurasischen Kontinent kleingehalten werden könne und müsse? Auch seine neuesten Erkenntnisse[ii] in seinem Buch „strategic vision“, nach denen Rußland nicht mehr aus-, sondern eingeschlossen werden soll, ändern nichts an der Schlüsselrolle, die er der Ukraine für den Machterhalt der USA und des „atlantischen Bündnisses“ zuweist.

      Muß man schließlich erst an den Georgienkrieg von 2008 erinnern, bis zum dem die NATO- und EU Erweiterungsrunden eskalierten, wo sie dann strandeten? Muß man erst die Konkurrenzsituation beschreiben, die sich seitdem zwischen Europäischer Union und der entstehenden Eurasischen Union entwickelt? Muß man aufzeigen, daß nicht nur Rußland Druck auf die Ukraine ausübt, sondern die Europäische Union nicht minder? Rußland ließ durch nadelstichartige Handelsbeschränkungen erkennen, was geschehen könnte, wenn die Ukraine, wie in dem geplanten Assoziierungsabkommen gefordert, sich einseitig für die Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone entschiede; die Europäische Union bestand ihrerseits auf der Forderung, daß die Ukraine sich zwischen der eurasischen und der europäischen Zollunion entscheiden müsse. Auch die in das Assoziationsabkommen eingeschlossenen Bedingungen des IWF, nach denen die Ukraine u. a. ihre kommunalen Strukturen kapitalisieren müsse sowie die Koppelung der Unterzeichnung  Assoziierungsabkommens seitens der EU an die Haftentlassung Julia Timoschenkos gehören mit in diese Kataloge des Drucks, der auf die Ukraine ausgeübt wurde.

      Ja, das muß man wohl alles anschauen, wenn man verstehen will, warum die Ukraine, seit sie den Staatsverband der Sowjetunion 1991 verlassen hat, nicht in der Lage war, eine kohärente neutrale Politik zu betreiben, die seiner Lage zwischen den entstehenden Regionalmächten Rußland/Eurasien, Europäische Union und Türkisch-kleinasiatischen Raum entspräche – oder sich eindeutig einer der Mächte anzuschließen. Von Selbstbestimmung jedenfalls keine Spur! Um so empfänglicher ist natürlich die Ukrainische Bevölkerung, ihr Leben und ihre Zukunft selbst bestimmen zu können!

      Um es mit anderen Worten zu sagen: dies alles muß man bedenken, um zu verstehen, daß ein Vorwurf des „Verrats nationaler Interessen“ in der heutigen Ukraine nichts anderes als eine Luftblase ist, wenn nicht gar bewußte Demagogie, mit der wirtschaftliche oder sonstige Sonder-Interessen dieser oder jener Oligarchenclique oder Seilschaft verschleiert werden. Für die Masse der Bevölkerung gelten diese „nationalen Interessen“ nicht; sie hat andere Sorgen, z.B. die Forderung nach freiem Visaverkehr, um im Ausland Arbeit zu finden. Das macht das Assoziierungsabkommen mit der EU natürlich attraktiv, aber auch den freien Zugang zu Rußland.

      Das einzige „nationale“ Interesse, das der Geschichte und der heutigen Situation des Landes entspräche, bestünde in der Erkenntnis, daß es dieses „nationale“ Interesse nicht gibt, dagegen den dringenden Bedarf eines innenpolitischen und ins Außenpolitische reichenden Konsenses zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen, wirtschaftlichen und kulturellen Teilen der Bevölkerung  – wenn die Ukraine nicht zum permanenten Kampfplatz oder gar zum Schlachtfeld zwischen den sich seit dem Ende der Sowjetunion neu formierenden Blöcken Eurasiens werden soll.

      Sehr viel mehr Rationalität als eine Europäisierung gegen eine Russifizierung auszuspielen – wobei Europäisierung, wie bei Julia Timoschenko überdeutlich, mit Modernisierung und zivilisatorischen Werten, Rußland dagegen mit unausgesprochenen rückwärts gewandten Bedrohungen identifiziert wird – läge in der Erkenntnis, daß nur eine enge Kooperation zwischen diesen Kräften           zur friedlichen Entwicklung einer neuen eurasischen Ordnung führen kann, auf deren Weg sich ja nicht nur die Europäische Union, sondern auch Rußland befindet – und zwar da am Besten, wo beide freundschaftlich miteinander kooperieren. Konkret: Als eindeutig kontraproduktiv hat sich die Forderung an die Ukraine erwiesen, sich zwischen einer Mitgliedschaft in der europäischen oder eurasischen Zollunion zu entscheiden Es ist klar, daß ein solches Entweder-Oder die Ukraine allenfalls spalten kann. Das mag manchem als die zukünftige Option erscheinen. Mit tödlicher Sicherheit würde eine solche Entwicklung unter heutigen Bedingungen jedoch eine deutliche Blutspur hinter sich herziehen. Hilfreicher für die Entwicklung einer förderlichen, um nicht gleich zu sagen demokratischen eurasischen Ordnung wäre es zur Zeit zweifellos, die ukrainischen Polaritäten, ähnlich wie es der gegenwärtige Präsident Janutkowytsch zur Zeit versucht, in ein neutrales Feld langfristigen Ausgleichs zu überführen. Das ist selbstverständlich kein Plädoyer für Janukowytsch`s autoritären Politikstil. Aber weder eine einseitige Orientierung auf Rußland, noch eine ebenso einseitige auf den Westen, wie sie Julia Timoschenko und Teilen der westlich politisierten Bevölkerung zur Zeit vorschwebt, gleich wie attraktiv und wie verläßlich die westlichen Werte ihnen zur Zeit erscheinen mögen, können  eine zukunftstragende Lösung der Ukrainischen Gespaltenheit sein.


[i] Hier und im Folgenden zitiert nach einer „inoffiziellen Übersetzung“ in „Ukraine Analysen“ Nr. 124 vom 26.11.2013. Einige grammatische sind bitte zu überlesen.

[ii] In seinem Buch „Strategic Vision“, Center of Strategic and International Studies, 2/2012