Die Eurasische Union

zwischen Europäischer Union (EU)

und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit  (SOZ)

 

 

Die Gründung der Eurasischen Union ist die neueste Wendung im Prozess einer ins Globale erweiterten Perestroika. Besorgte Fragen tauchen auf, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Rußland, insbesondere auf die zwischen Deutschland und Rußland haben werde. Durch die meisten Positionen zu dieser Frage schimmert immer noch die Formel Michail Gorbatschows  vom „Europäischen Haus“  hindurch. Andererseits wird problematisiert, ob die Entwicklung einer eurasischen Union nicht zur Entstehung eines Integrationskonfliktes zwischen ihr und der Europäischen Union in Hinsicht auf Weißrußland, die Ukraine, Moldawien, Prednestrowien und den kaukasischen Raum führen könne.

 

Von der Hand zu weisen ist diese Gefahr auf keine Weise! Die Ost-Erweiterung der EU nach dem Ende der Sowjetunion, sowie das heute gültige Nachbarschaftsprogramm der EU machen das Interesse Brüssels, den Einfluß der EU auf den eurasischen Raum auszudehnen unübersehbar. Und unübersehbar ist auch, daß Russland sich demgegenüber behaupten muß. Die darin liegende Konkurrenz und der daraus resultierende Konflikt treten am klarsten im wechselseitigen Werben Rußlands und der EU um die Ukraine zutage. Man braucht sich nur der Strategien des ehemaligen US-Sicherheitsberaters und heutigen grauen Eminenz der US-Politik Sbigniew Brzezinskis zu erinnern, der die Herauslösung der Ukraine aus dem russischen Einflußraum als das Kettenglied zur Eindämmung Rußlands bezeichnete. Diese Option gilt nach wie vor. Eine klare und offene Behandlung dieser Fragen ist entscheidend dafür, ob es gelingt, friedliche und kooperative Beziehungen zwischen Russland und Europa zu entwickeln. Auf jeden Fall verdienen diese Fragen unsere höchste Aufmerksamkeit – sehr viel mehr, als das in letzter Zeit geschehen ist.

 

Ich halte es allerdings für notwendig, die Entwicklung der Eurasischen Union von einer etwas anderen Seite zu beleuchten als bloß mit der Laterne aus dem „europäischen Haus“ heraus. Mir scheint, es geht doch eher um ein „eurasisches Haus“ oder, um genauer zu sein und wie oben schon angedeutet, um einen neuen Impuls zur weiteren Umwandlung der globalen Beziehungen in Richtung einer multipolaren Ordnung.

 

Ich muß hier nicht lange die Gründungsgeschichte der Eurasischen Union referieren. An die wichtigsten Daten sei nur kurz erinnert: Die Idee zur Bildung der Union als Zusammenschluß von Russland, Weißrußland und Kasachstan wurde 2008 auf Initiative Rußlands ins Leben gerufen. Tadschikistan ist zum Beitritt bereit. Kirgisien könnte folgen. Angaben über weitere zukünftige Mitglieder sind zur Zeit politische Spekulation. Die Union soll nach dem Modell der Europäischen Union entstehen, aber deren Fehler nicht wiederholen. Eine Wirtschaftsunion mit Richtung auf engere Verflechtung in anderen Bereichen des Lebens bildet die Ausgangsbasis, Erweiterungen, wie sie die EU in die Krise getrieben haben, sollen vermieden werden.  Für 2015 ist die offizielle Gründung der Union im Plan.

 

Aus Brüssel wird die Eurasische Union als möglicher Garant der Stabilität, auch als mögliches Bollwerk gegen China sowie gegen den wachsenden Einfluß der SOZ begrüßt. Zugleich wird sie aber als Produkt einer Großmannssucht Wladimir Putins bespöttelt und durch vermehrte Einflußnahme auf die Staaten der – ich nenne sie einmal so – eurasischen Integrationszonen zu hintertreiben versucht. Das gilt insbesondere für die Politik gegenüber der Ukraine, aber auch Weißrußlands, sowie der kaukasischen und zentralasiatischen Staaten. Dabei ziehen EU und USA nach wie vor an einem Strang zur Eindämmung russischen Einflusses, auch wenn zu sagen ist, daß die Kaukasus- und Zentralasien-Politik der EU, wie auch die der USA anders als während der NATO- und EU-Erweiterungen zur Zeit nicht in die offene Konfrontation geht – wenn man die Raketenstationierung vor den Grenzen Rußlands nicht in Betracht zieht. Dort wird allerdings eine andere Realität sichtbar.

 

Ungeachtet dieser Widersprüche hat sich die Idee der Eurasischen Union  seit 2011 zur Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrußland verdichtet, gibt es inzwischen eine gemeinsame Wirtschaftskommission, die in Moskau unter der Leitung von Tatjana Walowaja mit einem Büro von ca. 1000 Mitarbeiter/innen tätig ist. In Rußland regen sich Stimmen, die nicht nur Tadschikistan, sondern auch kaukasische Länder, sogar die Türkei in die Union einbeziehen möchten. Kurz, die Eurasische Union ist dabei zu einem neuen Faktor der internationalen Politik zu werden. Daneben unterzeichneten Russland, Kasachstan, Tadschiskistan, Armenien, Moldawien  sowie die Ukraine und Weißrußland ein Abkommen für die Bildung einer Freihandelszone. Inzwischen wird Wladmir Putin unterstellt, Russland auf einen anti-westlichen, sowjet-imperialen Weg zurückführen zu wollen.

 

Aber stimmt das? Was könnte an der Entwicklung der Eurasischen Union eine Rückführung sein? Was wäre an ihr wirklich neu? Mit diesen Fragen möchte ich mich im Folgenden näher auseinandersetzen.

 

Richtig ist, daß Russland sich heute von übertriebenen Erwartungen an den Westen zurückzieht. Man darf getrost von einer Ernüchterung in der Beziehung der russischen politischen Klasse gegenüber dem Westen sprechen. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, die gern verdrängt werden, an die man sich jedoch erinnern sollte. Im Kern ist es das, was nicht nur die politische Klasse, sondern auch große Teile der Bevölkerung als „Verrat“ der westlichen Politik an Russland begriffen haben. Michail Gorbatschows Politik hatte ein kooperatives, multipolares Weltbild propagiert und damit verbunden eine weltweite Entmilitarisierung und Abrüstung. Das von Gorbatschow geführte Russland ging dabei selbst mit der Entmilitarisierung voran. Das geschah in Abwendung von der Konfrontationslogik  des Kalten Krieges  und in Anlehnung an chinesische Vorstellungen einer multipolaren Welt. Im Klima des neuen Denkens waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnaze, wie die Historikerin Susan Eisenhower seinerzeit berichtete, sogar gutgläubig genug den Westmächten ihr mündlich gegebenes Versprechen abzunehmen, die NATO nicht über die deutsch-deutsche Grenze  nach Osten ausweiten zu wollen, wenn Russland sich aus Ost-Deutschland zurückzöge.

 

Aber schon Boris Jelzin war trotz extremer Westöffnung seiner Politik mit dem Beginn der Osterweiterung der NATO konfrontiert und sah sich gezwungen die Notbremse zu ziehen. Sein Außenminister Kosyrew versuchte – um  es mit einem Begriff aus der Wirtschaft zu sagen – der „feindlichen Übernahme“ mit politischer Mimikry entgegenzuwirken. Er  glaubte durch Eintritt in die NATO deren Zangengriff auf Russland stoppen oder doch wenigstens neutralisieren zu können. Wir wissen wohin das führte – an den Katzentisch des NATO-Russland-Rates. Am Ende stand bereits unter Jelzin die demonstrative Kontaktpflege mit China. Kosysrews Nachfolger Jefgeni Primakow  verstärkte die Öffnung Rußlands nach Osten und auch nach Süden. Das hieß: Rückgewinnung  russischen Einflusses im nahen Osten, Dreierallianz mit Indien und China, Union mit Weißrußland.

 

Als Putin nach der innerrusischen Krise von 1998, in der die vom Ausland gestützte Kreditspekulation Rußlands zusammenbrach, zuerst als Stütze Jelzins, seit 2000 als dessen Nachfolger antrat, tat er das unter einem für manchen damaligen Beobachter lapidar erscheinenden Motto, das er nicht einmal als Programm vortrug, sondern lediglich als Interneterklärung veröffentlichte. Er wolle die eigenen Kräfte Rußlands als starker Staat entwickeln, erklärte er, Russland müsse zu sich selbst zurück kehren, ohne sich dabei von Europa oder den USA abwenden zu wollen.

 

Aber Putin machte zugleich klar, was er unter einer Rückkehr Rußlands zu sich selbst verstand. Hören wir ein Zitat, das im gleichen Zeitraum wie seine karge Antrittserklärung veröffentlicht wurde:

„Die Dynamik, welche die euroasiatische Idee in sich trägt“ schrieb Putin, „ist heute, da wir authentische gleichberechtigte Beziehungen mit Ländern befreundeter unabhängiger Staaten aufbauen, besonders wichtig. Auf diesem Wege müssen wir all das Beste bewahren, das in einer langjährigen Geschichte der Zivilisation sowohl des Osten als auch des Westens zusammengetragen wurde. Russland hat sich immer als euroasiatisches Land gefühlt. Wir haben nie vergessen, dass ein grundlegender Teil unseres Territoriums sich in Asien befindet. Die Wahrheit ist, das muss man ehrlich sagen, dass wir dieses Vermögen nicht immer genutzt haben. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir zusammen mit den Ländern der asiatisch-pazifischen Region von den Worten zur Tat zu schreiten – die Wirtschaft entwickeln, politische und andere Verbindungen. Alle Voraussetzungen dafür sind im heutigen Russland gegeben. Für Russland öffnen sich neue Perspektiven im Osten, die wir, daran gibt es keine Zweifel, entwickeln werden. Wir werden uns aktiv an der Umwandlung dieser Region  in unser ‚allgemeines Haus’ beteiligen.

Die volle Beteiligung Russlands an der gegenseitigen Wirtschafts-Entwicklung des asiatisch-pazifischen Raumes ist natürlich und unausweichlich. Ist doch Russland ein ganz eigener Knoten der Integration, der Asien, Europa und Amerika miteinander verbindet.“  (veröffentlicht auf strana.ru 13.11.2000)

Mit diesen Positionen ihres neuen Präsidenten war Russland schon im Jahre 2000 voll und ganz zum Konzept der Multipolarität der 90er Jahre zurück gekehrt. Ausdruck dieser Politik unter Putin war allerdings keine weitere Entmilitarisierung, sondern die Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin 2002, die Russland anders als unter Gorbatschow als Militärmacht neu definierte. Ausdruck war darüber hinaus die Festigung der Beziehungen zur GUS, die weitere Intensivierung der Beziehungen zu China, die aktive Teilnahme in der Entwicklung der 2003 gegründeten „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ), der Ausbau des BRIC-Bündnisses (Brasilien, Russland, Indien, China). Gleichzeitig kooperierte Russland jedoch weiter mit der EU und den USA, wurde Mitglied der G7, die mit Russland zur G8 wurden, und betrieb Vorbereitungen für den Eintritt in die WTO. Auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes gehörte dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als „Einmischung in seine innere Angelegenheiten“ verbat.

Die Fortsetzung der Ausweitungpolitik seitens der NATO wie auch seitens der EU, die nach der Einbeziehung Ost-Europas auch vor der Ukraine und den Staaten des Kaukasus nicht Halt machte, sowie die US-Aktivitäten zur Stationierung von Raketenabfangstationen in Polen und Tschechien veranlassten Wladimir Putin im Februar 2007 nach Abschluss der offenen Kriegshandlungen in Tschetschenien schließlich zu einem neuen Schritt. Auf der jährlichen Sicherheitstagung der NATO in München kritisierte er die Einkreisung Russlands durch NATO und US-Politik und die von den USA betriebene Militarisierung der internationalen Beziehungen und trug Russlands Vorstellungen einer kooperativen internationalen Ordnung als Alternative vor. Mit dem Vorschlag zur Bildung einer „Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon“ auf KSZE-Grundlage statt weiterer Ausdehnung der NATO legte Medwedew Anfang 2008 nach.

Die USA sowie die NATO-Staaten gaben sich schockiert, versuchten Putin als Aggressor, gar als Faschisten zu isolieren. Medwedews Vorschlag wurde vollends beiseite geschoben. Aus der SOZ, aus dem BRIC-Bündnis, aus dem arabischen Raum dagegen kam Beifall für die russischen Vorstöße, selbst aus der EU kam verhaltene Zustimmung. Die Frage stellte sich nur, ob Russland die neue Rolle, die Putin und Medwedew für ihr Land reklamierten, auch tatsächlich ausfüllen könne.

Eine deutliche Antwort darauf gab der russische Außenminister Lawrow, als er am 23. Januar 2008 im Pressezentrum des russischen Außenministeriums der internationalen Öffentlichkeit die neue außenpolitische Strategie Russlands vorstellte, die den „Forderungen der gegenwärtigen Etappe der Weltentwicklung“ entspreche. Das „Wesen dieser Etappe“, so Lawrow, sei „die sich objektiv entwickelnde Multipolarität“ und die „objektiv steigende Rolle der multilateralen Diplomatie.“ Davon, setzte er ausdrücklich hinzu, müsse er wohl niemanden erst überzeugen. Auf dieser Grundlage verfolge Russland eine Politik „des Pragmatismus, der Multivektoralität, der Bereitschaft mit allen zusammenzuarbeiten, die es wollen, und unsere nationalen Interessen fest, aber ohne Konfrontation zu verfolgen“. Russland trete für die „Festigung der kollektiven Rechtsgrundlagen in internationalen Angelegenheiten“ ein. Das entspreche auch den Anforderungen der Globalisierung.

Leider gebe es auch Rückgriffe auf Blockpolitik, auf ideologisiertes Herangehen, gebe es Versuche einer Region Konfrontationen aufzuzwingen und die Weltpolitik zu remilitarisieren – das alles gebe es. Er, Lawrow, sei jedoch tief überzeugt davon, dass dies der Grundentwicklung der internationalen Beziehungen zuwiderlaufe. Das Streben nach kollektivem Vorgehen, nach der Stütze auf das Völkerrecht liege den gegenwärtigen Aufgaben und Interessen der ganzen Menschheit näher. Russland, erklärte er, habe keinerlei feindliche Absichten gegenüber irgendeinem Land. „Wenn aber die Partner ein gemeinsames Vorgehen ablehnen, „so Lawrow, „dann werden wir natürlich eigene Entscheidungen treffen müssen, und dabei werden wir vor allen Dingen von unseren nationalen Interessen ausgehen und auch“, fügte er noch einmal sehr deutlich hinzu, „vom Völkerrecht.“

Dies alles mochte noch nach Wiederholung bekannter Absichten klingen, zumal mögliche Lehren aus dem tschetschenischen Krieg nicht erwähnt wurden. Ein neuer Ton war dennoch zu hören, als Lawrow seiner Erklärung hinzufügte, nach der Stabilisierung des Landes in den letzten acht Jahren unter Wladimir Putin, „haben wir jetzt erstmals in der Geschichte die Möglichkeit und die finanziellen Ressourcen, all diese Aufgaben parallel zu lösen und uns dabei auf den neuen Stand Russlands zu stützen, das die steigende Verantwortung in internationalen Angelegenheiten tragen kann.“

 

Mit dieser Erklärung war Russlands Anspruch angemeldet, die Wahrnehmung eigener Interessen mit seiner neuen Rolle als Impulsgeber einer multipolaren Ordnung effektiv anzutreten. Russlands Pluralität, seine Orientierung auf die innere Modernisierung, sein Wiedereintritt in seine Rolle als Großmacht Eurasiens, die nicht mehr integriert wird, sondern selbst integriert, bilden die Basis dieser Politik. Das gilt ebenso für Russlands Außenpolitik, die den Impuls internationaler Pluralität stärkt und auf geltendes Völkerrecht orientiert.

 

Einen Markstein in dieser Entwicklung setzte der Krieg im Kaukasus im August 2008. Rußlands Einmarsch in Georgien war Signal für den Eintritt in eine neue Phase der internationalen Beziehungen. So nicht weiter, Herr Bush! konnte man die Botschaft des Einmarsches übersetzen; so nicht weiter mit den NATO-Erweiterungen, so nicht weiter mit den Erweiterungen der Europäischen Union! Hier beginnt Russland! Hier beginnt die Notwendigkeit von Absprachen, statt der weiteren Militarisierung internationaler Beziehungen. Vor Veteranen erklärte der russische Präsident Medwjedew damals, jeder weitere „Versuch einer Brandstiftung“ werde von Russland in gleicher Weise beantwortet werden. Von da an, hieß das, mußten die USA, mußte auch die EU mit Russland als offensivem Vertreter einer anderen als der amerikanischen, eben einer „multivektoralen“ Weltordnung rechnen.

 

Die Ausrufung zur Entwicklung der „Eurasien Union“ 2008 war nur ein konsequenter Ausdruck dieser Situation – keine prinzipielle Neuorientierung einer russischen Politik. Russland hat sich auf seine traditionelle Rolle als „Integrationsknoten Eurasiens“ besonnen. Daran hat auch die Finanzkrise von 2008/2009 nichts geändert; im Gegenteil, sie hat für Russland nur noch deutlicher werden lassen, daß es zur Überwindung globaler Verwerfungen auf seine eigenen Kräfte bauen muß. Diese Einsicht hat sich ein paar Jahre später in den Aufsätzen niedergeschlagen, die Putin 2011/2012 in der Vorwahlzeit vor den Präsidentenwahlen veröffentlichte. In ihnen hob er Rußlands Verantwortung für eine Stabilisierung der globalen Krisenbewegungen als Aufgabe hervor.

 

Nicht untersucht werden kann hier, ob Russland zur Zeit noch auf die Ressourcen zurückgreifen kann, von denen Lawrow vor der globalen Finanzkrise im Frühjahr 2008 sprach. Das könnte ohnehin nur im internationalen Vergleich einen Sinn machen; da müßte dieselbe Frage dann auch an die anderen globalen „Player“ gestellt werden. Einige andere Anmerkungen scheinen jedoch noch am Platze, um deutlich zu machen, daß es sich bei der Selbstdefinition Rußlands als „Integrationsknoten Eurasiens“ nicht um einen von vorübergehender politischer Konkunktur bestimmten Einfall eines russischen Politikers handelt – und sei es auch Putin, sondern um eine historische Realität, die Russland nicht als Teil Europas entstehen ließ, auch nicht als Teil Asiens, sondern als den Raum, als die Kultur, als den Staat zwischen Asien und Europa, der von seinem Wesen her bestimmt ist, eine eigenständige Rolle als Teil der heute heranwachsenden multipolaren Ordnung zu einzunehmen. Das ist von prinzipieller Bedeutung, die über die kurzen Wellen ökonomischer oder politischer Aktualitäten hinausgeht.

 

Russland ist, um das glasklar zu formulieren und für manchen mag das provokativ klingen, von seinem ganzen Wesen her Zwischenraum, geographisch, ökonomisch, kulturell und politisch. Manchen wir einen kurzen Exkurs: Die Kiewer Rus entstand am Transportweg zwischen Skadinavien und Byzanz. Die Wiedergeburt der Kiewer Rus als Moskowien nach dem Mongolensturm entstand im Raum zwischen den mongolischen Weltreichen und dem von den Mongolen nicht besetzten Europa. Das zaristische Staatswesen entwickelte sich zwischen asiatischer Despotie und europäischer Aufklärung. Die Autonomie von Dörfern, Regionen oder ganzen Republiken Rußlands bei gleichzeitig bestehender zentralisierter Selbstherrschaft, fortgesetzt in der Parteienherrschaft der sowjetischen  Zeit ist Ausdruck davon. Der russische Kolonialismus entwickelte sich nicht als aufgesetzte Fremdherrschaft, wie der überseeische Kolonialismus der europäischen Staaten, für die die Kolonien außerhalb ihres eigenen Kerngebietes blieben, sondern als integrierender, assimilierender Prozess innerhalb einer sich beständig ausweitenden territorialen Einheit, in der ganze Völker in den Bestand des russischen Reiches einverleibt wurden. (Womit nicht etwa gesagt werden soll, daß dieser Prozess nur friedlich vonstatten gegangen sei.)  Russland ist schließlich auch noch der Raum zwischen Europa und Amerika. Wer einmal in Wladiwostok am Hafen stand, hat es gefühlt.

 

Und weiter: Auch die russische, selbst noch die sowjetische Ökonomie war und ist Ausdruck dieser Geschichte Zwischen den Entwicklungsräumen. Sie ist eine Kombination von gemeinschaftlicher Selbstversorgung in Dörfern und Regionen und zentralisiertem schatzbildendem Dirigismus – eine Wirtschaftsform, die Marx und Engels seinerzeit in Ermangelung einer anderen Definition als „asiatische Produktionsweise“ beschrieben. In ihr wurde nicht Privatwirtschaft, sondern Staats- und Gemeinschaftswirtschaft zum prägenden Faktor der Gesellschaft. Das kulturelle Leben Rußlands ist zwar orthodox christlich geprägt, zu großen Teilen aber auch vom Islam, vom Buddhismus und naturreligiösen Kulturen. Fragt man Menschen Russlands, ob sie sich als Europäer oder als Asiaten fühlen, so bekommt man in der Regel eine abwägende, oft auch mehrdeutige Antwort der Art – in dieser Hinsicht so, in jener Frage anders. Oder man stößt auf aggressive Bekenntnisse zum einen oder zum anderen. Solche Polarisierungen verweisen aber ebenso, nur von der Seite der Abgrenzung her, auf die Doppelwertigkeit russischen Selbstverständnisses.

 

Wie man es auch dreht und wendet: Russland zeigt sich nie von einer, sondern immer von mehreren Seiten zugleich. Es ist kein Land des Entweder – Oder, sondern des Sowohl-als-Auch, eben der beständigen Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung von Ost und West, manchmal auch des zeitlich verschobenen Schwankens zwischen Asien und Europa. Auch die großen historischen Schübe sind hier noch zu erwähnen, die der Entwicklung Moskowiens zwischen Mongolen und dem Westen folgten: die Ostkolonisation Iwans des IV., die darauf folgenden westorientierten Modernisierungsschübe unter Peter I., unter Katharina II., später die West- und Weltöffnung unter Lenin, danach der Rückzug zum Kommunismus in einem Land unter Stalin.

 

Wohin wir auch schauen, immer befindet sich Russland in einer Europa und Asien verbindenden, die Vielfalt des Raumes überspannenden Situation wie – wenn ich dieses Bild gebrauchen darf, die Nabe an einem Speichenrad: Die Nabe ist nichts ohne die Speichen, aber ohne die Nabe hängen die Speichen lose im Radkranz. Das heißt nicht, um im Bild zu bleiben, daß Rad, Speiche und Nabe aus Stahl gefügt sein müssen. Es kann auch biegsameres Material sein. Auch dies muß deutlich ausgesprochen werden. Putin, um es für die zu sagen, die sich etwas genauer mit der innenpolitischen Situation Rußlands befassen möchten, ist nicht Dugin und es wäre fatal, wenn sich seine Positionen in Dugins Richtung entwickelten.

 

Alexander Dugin propagiert zwar schon seit Perestroikatagen eine Eurasische Union, gründete dafür 2002 sogar eine „Eurasische Bewegung“ – versteht diese aber als Motor für die Wiedergeburt eines hegemonialen klerikal-nationalen, russisch-othodoxen Imperiums. Eine kritische Differenzierung zwischen den Definitionen der Dugin’schen eurasischen Bewegung und Putins Eintreten für eine Eurasische Idee ist meines Erachtens dringend geboten.

 

Wenden wir uns weiter dem Zwischenraum zu: Heute steht Russland über all das schon Gesagte hinaus im Raum zwischen Kapitalisierung nach westlichen Vorgaben und Erhaltung, bzw. Umwandlung seiner historisch gewachsenen gemeinwirtschaftlichen Strukturen, die ihrerseits bereits eine Mischung aus Industrialisierung und traditioneller „asiatischen Produktionsweise“ sind. Russland steht auch damit wieder im Zwischenraum – nämlich in dem Raum, in dem das Zusammentreffen von privatwirtschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Strukturen auf eine neue Art der Symbiose hinauslaufen.

 

Hier wäre noch viel Raum nötig, um die Probleme des Aufeinandertreffens von Privat- und Gemeinschaftsstrukturen und die Zwischenformen zu  beschreiben, die in diesem Prozeß heute entstehen. Ich beschränke mich darauf, nur noch die Frage zu stellen, was geschehen wird, nachdem Russland nach 18 Jahren schwierigster Vorverhandlung nun doch der WTO beigetreten ist. Schon am Tage der Unterzeichnung durch Wladimir Putin wurde deutlich, daß die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit weder bereit noch in der Lage ist, sich ab sofort nun ganz nach den Bedingungen der WTO zu bewegen. In der Duma wurde zeitgleich ein Gesetz über Abwrackprämien beschlossen, das die WTO-Bedingungen der PKW-Einfuhr unterläuft. Gazprom ließ ebenso umwendend erklären, man denke nicht daran, sich an die Auflagen der WTO zu halten, im Ausland kein Verteilernetzt aufzubauen u.a.m. Von Teilen der heimischen russischen Industrie ist klar, daß sie unter den Bedingungen eines offenen Marktes kläglich eingehen müßten. Usw. usf. Es stellt sich, aus meiner Sicht, insgesamt vielmehr die Frage, wer wen transformieren wird, die WTO Russland oder Russland die WTO? Das ist, wie schon die Frage nach der Differenzierung zwischen dem Euroasiatismus Putins und dem eines Dugin, eine Frage, die einer genauen Beobachtung und Analyse bedarf. Auch eine solche Analyse könnte gut Gegenstand einer weiteren Arbeitskonferenz sein.

 

Aber kommen wir auf die anfängliche Fragestellung zurück: die Eurasische Union zwischen EU und SOZ. Nach all dem Ausgeführten läßt sich sagen: Russland ist Mitglied der NATO – aber kein fester Bestandteil des atlantischen Bündnisses. Russland ist aktives Mitglied in der SOZ, aber nicht willens, diese Organisation zu einem Gegenstück der NATO zu entwickeln. Im Gegenteil, da die SOZ zunehmend von China dominiert wird, sieht Russland sich gezwungen, seine Eigenständigkeit auch dort zu behaupten. Diese Tatsache schlägt sich zum Beispiel in solchen Äußerlichkeiten nieder wie denen, daß Russland darauf dringt, Tagungen der SOZ nicht nur in Peking stattfinden zu lassen. Die Bildung der Eurasischen Union ist der authentische Ausdruck dieser historisch gewachsenen Situation Rußlands – einen anderen Weg gibt es für Russland und auch für seine Anrainer nicht. Davon bin ich fest überzeugt – und darin sehe ich Rußlands Kraft und Bedeutung, wenn es ihm gelingt – das möchte ich hier zum Schluß noch einmal deutlich betonen – gleichberechtigter Partner in diesem Prozess der Herausbildung einer Eurasischen Union zu sein.

 

 

 

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Überarbeiteter Beitrag zur Konferenz

des Baltischen Zentrums für Information und Analyse,

Filiale des Russischen Instituts für strategische Studien

 

Leitthema der Konferenz:

„Rußland und Deutschland : Partnerschaft in einer sich verändernden Welt“

Darin: „Die Integrationsprozesse im ‚Großen Europa’: die Eurasische Union und die EU.“