Staunend schaut die Welt auf eine Annäherung zwischen NATO und Russland, die sich gegenwärtig anzubahnen scheint. Von strategischem „Reset“ ist die Rede, das mit Obama in die Politik gekommen sei, Medwedews Vorschlag für eine „Neue europäische Sicherheitsarchitektur“ erscheint NATO- und EU-Vertretern neuerdings „erwägenswert“, nachdem das Papier bei seiner Vorlage Anfang 2008 von ihnen kaum beachtet wurde. Die NATO arbeitet an einem neuen Konzept, das „neue Bedrohungen“, „breiter angelegte Partnerschaften“ und unter dem Stichwort „comprehensive aproach“ eine enge Zusammenarbeit mit „zivilen Akteuren“ vorsieht. Es soll im November verabschiedet werden. Russland soll über ein gemeinsames Raketenabwehrsystem einbezogen werden, mit dem „unsere Truppen“ und „unsere Bevölkerung“ vor dem geschützt werden soll, was die deutsche Kanzlerin kürzlich „die wirklichen Bedrohungen von heute“ nannte. Medwedew hat die Einladung zur Kooperation angenommen; er wird beim NATO-Treffen im November dabei sein.
Was spielt sich ab? Was sind die „neuen Bedrohungen“ und „wirklichen Gefahren“? Wie sehen die neuen Partnerschaften aus? Was ist unter „unsere Bevölkerung“ zu verstehen? Wer soll geschützt werden? Wie hat man sich die Zusammenarbeit mit „zivilen Akteuren“ vorzustellen? Was schließlich könnten die Interessen Russlands an einer Kooperation mit der NATO und umgekehrt der NATO mit Russland sein? Fragen über Fragen, die sich unter einem nur schwer zu durchdringenden Schleier diplomatischer Floskeln verbergen.
Man muss nicht lange drum herum reden: Die offensichtlichste Neuerung, die nach dem Georgischen Krieg vom August 2008 ins Licht der Öffentlichkeit getreten ist, sodass man Beschreibungen dazu inzwischen sogar googeln kann, ist das „Northern Distribution Network“ (NDN), ein Zubringernetz für die Versorgung der in Afghanistan und Pakistan, unter US-Befehl eingesetzten NATO-Truppen.
Gemeint sind damit zwei Versorgungsrouten durchs nördliche Eurasien. Seit 2006 waren sie in der Planung, seit dem georgischen Krieg werden sie in großem Stil realisiert. Eine der Routen führt von Riga über die baltischen Staaten durch das nördliche Russland bis Usbekistan, wahlweise auch bis Kirgisistan oder Tadschikistan und von dort ins nördliche Afghanistan Die andere führt durch Georgien, Aserbeidschan, über das kaspische Meer entlang des in den Jahren seit Auflösung der Sowjetunion von den Westmächten geschaffenen „südlichen Korridors“, auch „Neuen Seidenstraße“ genannt. Die Route endet ebenfalls im Norden Afghanistans. Wegen der zweimaligen Umsetzung der Ladungen von Überlandlastern auf Schiffe, von diesen auf tadschikischer Seite wieder auf Trucks ist diese Route die weniger attraktive. Sie wird aber gehalten, um nicht allein auf die russische Route angewiesen zu sein. Zudem hofft man so einen gewissen Druck auf Russland ausüben zu können.
Die neuen Versorgungswege ersetzen die frühere südliche Route durch Pakistan, die nicht mehr genutzt werden kann, seit sich das nördliche Pakistan – nicht zuletzt entlang der Versorgungsrouten – zum Teil des afghanischen Kriegsgebietes entwickelt hat. Bezeichnenderweise sprechen die NATO-Militärs inzwischen von Afghanistan und Pakistan als „AfPak“. In letzter Zeit werden auch schon im Süden Pakistans Versorgungskonvois angegriffen, wie die sich häufenden Meldungen von brennenden Tanklastzügen deutlich machen. Die gesamte „zivile“ Versorgung, in zunehmendem Maße aber auch der militärische Nachschub für die in „Afpak“ eingesetzten heute ca. 100.000, geplanten 130.000, bzw. 150.000 Mann plus Troß wird über diesen Weg abgewickelt. Es liegt auf der Hand, dass die diese Routen, auf denen Millionenwerte für die Versorgung der Mannschaften bewegt werden, zudem Ausrüstungen, ohne welche die NATO-Truppen nicht einsatzfähig wären, von Militär, Polizei oder im Zuge des „comprehensive approach“ auch von „privaten Akteuren“ gesichert werden müssen.
Dass dies zu einer Ausweitung der Kampfhandlungen nach Norden in den zentralasiatischen, ggflls. sogar russischen Raum hinein, zu einer allgemeinen Militarisierung des zentralasiatischen Raums unter dem Kommando der US-geführten NATO führen muss, so wie sich der afghanische Krieg zuvor nach Pakistan hineingefressen hat, liegt auf der Hand – es ist, wenn man sich die US-Global-Strategie noch einmal vergegenwärtigt, die nach wie vor auf eine Beherrschung Eurasiens durch gezielte Interventionen hinausläuft, vermutlich sogar gewollt.
Es sei hier nur in aller Kürze an Brzezinskis epochales Buch „Die einzige Weltmacht“ erinnert, in der diese Strategie zur Sicherung der globalen US-Hegemonie ausdrücklich vorgeführt wird. (Fischer tb 14358) Brzezinki war es auch, der Obama nach dem Irak-Desaster G.W. Bush´s und nach dem harten NJET der Russen gegen eine NATO-Erweiterung im Kaukasus im Konflikt um Georgien die Richtlinie gab, US-Politik zukünftig auf Afghanistan, Pakistan und Zentralasien zu konzentrieren, dabei breitere Bündnisse anzustreben – alles aber, bitte, ohne dabei Russland als Hauptgegner aus den Augen zu verlieren.
In einer Verlautbarung des „Center for strategic International studies“ (CSIS), einer der einflussreichsten konservativen „Denkfabriken“ der USA wird auch aktuell Klartext zum „Projekt“ der NDN gesprochen: „Während der Impetus hinter der Schaffung der neuen Versorgungslinien in den unmittelbaren militärischen Anforderungen liegt, bietet ihr Aufbau desungeachtet eine einzigartige Möglichkeit für Washington, langfristige Ziele zu verfolgen. Sich in Afghanistan durchzusetzen muss ökonomische und politische Entwicklung einschließen, die der Zukunft der Region verpflichtet ist. Die Obama Administration ist sich dieser Erfordernisse bewusst und hat sie als Herzstücke in die neue Afghanistan und Pakistan-Strategie einbezogen. Das zweite Ziel besteht darin, sicher zu gehen, dass die Expansion von Versorgungsrouten und das damit verbundene Anwachsen amerikanischer Präsenz Pläne für langfristige (im engl. Text: sustainable = nachhaltige!) ökonomische Aktikvitäten durch Afghanistan und Zentralasien einschließen, und das dies zusammengeht mit einem erneuerten, langfristigen US-Engagement.“ Nachzulesen in Netz-Veröffentlichungen des CSIS als „Part of the ‚Transnational Threat Project’“ (htt://csis.org)
In der Sprache des neuen US-Oberkommandierenden der afghanischen NATO-Truppen, General David Petraus, wird aus dem militärischen Versorgungsnetz die Vision von einem „Angelpunkt für einen trans-eurasischen Handel …, der Wohlstand und Stabilität nach Zentralasien bringt.“ WOW! Das ist american way of life in reinster Form: Entwicklungshilfe mit dem Colt, diesmal eurasisch, diesmal global!
Klar ist natürlich, dass solche weitreichenden Netzwerke der NATO- und US-Präsenz im Herzen Eurasiens und des Kaukasus nicht ohne Zustimmung, zumindest nicht ohne Duldung Russlands entstehen konnten. Klar ist auch, dass die amerikanische Seite hofft, Russland auf diese Weise binden, sein Territorium „nachhaltig“ durchdringen und durch einen Kordon US-abhängiger Staaten im Kaukasus und Zentralasien eingrenzen zu können. Brzezinsksi träumte in der New York Times vom 19.8. 2009 bereits von einer NATO, die zwar „noch nicht Weltregierung“ sein könne, aber doch als „hub“, als Angelpunkt eines weltweiten Netzes von regionalen Sicherheitsnetzen fungiere.
Aber wie lassen sich die Motive Russlands verstehen, das sich seit der Auflösung der Sowjetunion 1991 gegen die Einkreisung durch NATO und EU zur Wehr setzen muss, dessen Präsident Putin die bei der „Münchner Sicherheitskonferenz“ 1987 versammelten westlichen Strategen nach jahrelangen vergeblichen Protesten gegen NATO-Erweiterung und zunehmende US-Präsenz in Osteuropa mit einem in der russ. Presse so getauften „Weckruf“ konfrontierte, der den globalen Herrschaftsanspruch der USA, gegen die von der NATO betrieben Einkreisung Russlands, gegen die Erweiterung des US-Raketenschildes nach Osteuropa zurückwies? Anfang 2008 legte Medwedew mit einem Vorschlag für eine neue Eurasische Sicherheitsstruktur nach, deren Kern der Ausbau und die Reform der KSZE- und UN-Strukturen zu einer multinationalen Alternative gegenüber der NATO war – und immer noch ist.
Ein halbes Jahr später demonstrierte Russland im georgischen Konflikt, dass es nicht mehr bereit war, weitere Einkreisungen durch die NATO hinzunehmen. Vom „atlantischen Bündnis“ wurde das russische NJET gegenüber weiteren Ausbaurunden von NATO und EU nach vorübergehendem diplomatischem Geplänkel verstanden – und akzeptiert. Es wird vorerst keine direkten Erweiterungsrunden von NATO und EU im Kaukasus und Osteuropa geben. Nun stattdessen aber das? Ein Russland durchziehendes, Eurasien überspannendes Versorgungsnetz der NATO! Und das mit russischem Einverständnis?
Im Sommer 2009 unterzeichneten Medwedew und Obama auf dem ersten russisch–amerikanischen Gipfel, von der Öffentlichkeit unter all dem lauten Abrüstungsgeklingel kaum wahrgenommen, einen wichtigen militärischen Transitvertrag, der nicht nur die Routen über Land, sondern zugleich auch Überflug-Genehmigungen enthielt. Der Vertrag erlaubt den Transport von Soldaten und wie auch militärischen Versorgungsgütern zu Lande. Auch Flüge russischer Militärmaschinen mit nicht todbringenden Versorgungsgütern, die auch während des Georgienkriegs stattfanden, sollen fortgesetzt werden.
Was, fragt man sich, verspricht Russland sich von diesem Vertrag? Wirtschaftliche Aufbauhilfe durch verbesserte Infrastruktur? Häfen, Handelsknoten, Straßen, Steuereinnahmen aus dem Transportwesen? Praktische Modernisierungshilfe? Das vermuten die amerikanischen Gegner dieses Vertrages und befürchten, dass Russland sich aus dem Vertrag lösen könne, wenn es seinen Vorteil aus der Anlage der Infrastruktur gezogen habe. Sicher spielen solche Motive eine Rolle. Aber tiefer geht wohl der Hinweis, mit dem CSIS Kamer Zabulow, 2008 russischer Botschafter in Afghanistan und Veteran des sowjetischen Krieges in Afghanistan, zitiert: „Es liegt nicht im russischen Interesse, dass die NATO geschlagen wird und all diese Probleme hinterlässt“, erklärte er, „wir zögen es vor, dass die NATO ihre Aufgabe erledigte und dann diese unnatürliche Geographie verließe.“
Möglich ist beides. Wer den letzten Satz hört, wird sich nicht nur an die afghanische Katastrophe der Sowjetunion erinnern, sondern auch Medwedews mehrfache Auftritte in letzter Zeit vor Augen haben, in denen er den Extremismus im Süden Russlands zum größten innenpolitischen Problem des Landes erklärte. Daran gemessen mag der russischen Führung in der Gewissheit, dass sich noch kein westlicher Eroberer in den russischen Weiten festsetzen konnte, die mögliche Bedrohung durch eine globale Erweiterung der NATO als das geringere Übel erscheinen. Ob diese Rechnung aufgeht, darf bezweifelt werden, zumindest ist zu fragen, auf wessen Kosten sie geht, wenn sie aufgeht, anders gefragt: Wer würde von einer solchen eurasischen NATO geschützt? Das ist eine äußerst beunruhigende Frage.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de