Modell Kasan –
Russlands aufgeklärter Islam als Modell einer Koexistenz
Oder: Welche Chance bietet uns die aktuelle Begegnung mit dem Islam?
Überarbeitete Fassung eines Vortrags, Hamburg am 26.2.2010
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Verehrte Versammelte,
Liebe Freunde, liebe Freundinnen
Kasan – Modell eines aufgeklärten Islam. Was für ein fernliegendes Thema, mögen einige Menschen denken: Islam in Russland und dann noch in einer einzigen Stadt; gibt es nicht Themen, die uns näher liegen? Solche Fragen sind natürlich berechtigt; Russland ist weit, Kasan ist hierzulande nur wenigen ein Begriff. Aber ich denke, schon unser eigener Alltag lässt schnell erkennen, worum es geht: rund 100.000 muslimische Einwanderer leben allein in Hamburg, gut 1,5 Millionen in Deutschland, dazu mindestens 2,5 Millionen Muslime als vorübergehende Gäste, dazu Kopftuchstreit, Moscheenstreit in Köln, der Minarettstreit in der Schweiz, Ehrenmorde. Und dann der Dauerkonflikt in Palästina, Vorgänge wie die Fatwa gegen Salmon Rushdie, der sich seit dem 14.2.1989 verstecken muss, weil die geistliche Führung des Iran ein öffentliches Todesurteil gegen den „Ketzer“ aussprach, das jedermann überall jederzeit vollziehen kann, schließlich der Schock und die Folgen des 11. September 2001 – Bin Laden und das Feindbild der Al Kaida, Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran.
Kurz: der sog. Kampf der Kulturen begegnet uns jeden Tag. Jeden Tag stellt sich die Frage neu, was diese Konstellation von uns fordert, in welche Zukunft sie weist und ob in dieser Situation nicht auch Chancen liegen könnten – und wenn, dann welche.
Und wenn wir so über unsere Grenzen hinausblicken, dann wird schnell klar – für die Bearbeitung dieser Frage ist der Blick nach Russland besonders interessant: Russland war schon immer – neben Spanien – eine der Pufferzonen zwischen Islam und christlich abendländischer Welt. Rund zwanzig Millionen Menschen Russlands – von ca. 145 Millionen seiner Bevölkerung sind auch heute Muslime. Dazu kommen die unmittelbaren Nachbarn Russlands im Süden: Türkei, Aserbeidschan, Irak, Iran, Pakistan, Afghanistan, die zentralasiatischen Staaten bis zu den muslimischen Uiguren in China.
Auch heute ist Russland Puffer zwischen Islam und christlich geprägter Welt – und in Russland selbst gilt das in besonderem Maß für Kasan.
Warum Kasan? Die Antwort auf diese Frage ist schnell gegeben: In Kasan gibt es heute einen Islam, der sich als aufgeklärtes, als säkularisiertes Modell eines Islam versteht,
welches zeigt, wie der Islam fruchtbar mit der heutigen globalisierten Welt leben kann.
Kasan, gelegen an der mittleren Wolga, ist die Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan. Die Republik hat ihren Namen von der Tatsache, dass tatarisch-stämmige und slavisch-stämmige Bevölkerung Russlands dort heute in einem Verhältnis von ungefähr 60:40 zusammenleben. (Die genauen Zahlen der letzten Volkszählung 2002 bei etwa 4 Mio Einwohnern der Republik waren: Tataren 52%, slawische Russen 39%, 3,3 % Tschuwaschen, 0,6 Utmurten, 0,6 Ukrainer, 0,6 Mordwinen, 0,5 Mari, 0,4 Baschkiren. Um 1990 hatte der Anteil der Tataren an der Bevölkerung Tatarstans noch bei 46-49 % betragen, er steigt wegen der höheren Geburtenrate der ethnisch nicht russischen Bevölkerungsanteile allmählich an.)
Die Tataren sind Nachkommen jener turkmongolischen Eroberer, die Mitte des 13. Jahrhunderts aus Asien nach West- und Südeuropa vordrangen. Ein Teil von ihnen gründete das Chanat Kasan an der Wolga. Nach der Eroberung Kasans durch Iwan IV. 1651 wurden die Tataren Teil des russischen Reiches und Kasan Ausgangspunkt der russischen Ostkolonisation. Heute leben die Menschen Kasans – und darüber hinaus Tatarstans – in einer offenen Mischkultur von Islam, Christentum und anderen Religionen sowie religiös nicht gebundener Menschen. In dieser Mischung hat der Islam besondere säkulare Formen angenommen. Das Selbstverständnis Kasans als offene, auf Toleranz zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen, insbesondere zwischen Christen und Muslimen orientierte Stadt dokumentiert sich in dem Doppelbild von Dom und Moschee, die sich im Zentrum des Kasaner Kremls einträchtig gegenüberstehen – wie Zwillingstürme, die an jene des World Trade Centers denken lassen, nur mit gänzlich anderer Botschaft. Dieses Doppelbild von Dom und Moschee wird auf allen Postkarten der Stadt Kasan gezeigt.
Forscht man nach dem Wesen dieser Koexistenz, wie ich es in den Jahren der Perestroika und dann wieder gezielt in den Jahren 2001 und 2002 in mehreren Reisen nach Kasan tat , dann trifft man auf den in West-Europa bisher weithin unbekannten Begriff des „Jadidismus“ für die Art des Islam in dieser Gegend. Der Begriff leitet sich aus dem tatarischen Wort „jadid“ her, was so viel heißt wie neu; den Gegensatz dazu bildet „kad“, althergebracht. Strömungen, die einem traditionellen Islam das Wort reden, werden in Tatarstan dementsprechend unter dem Begriff „Kadismus“ zusammengefasst. Bei Kasans regierenden Tataren, allen voran dem Präsidenten Schamijew, ebenso wie bei seinem engsten politischen Berater Dr. Raphael Chakimow genießt der Jadidismus den Rang einer Staatsideologie.
In Kasan – Jadidismus
Dr. Chakimow, mit dem ich mehrere ausführliche Gespräche führen konnte, spricht von einem aufgeklärten, einem reformierten, einem europäisch orientierten Islam. Die persönliche Beziehung zu Allah stehe vor den kollektiven Ritualen: „Im 18. Jahrhundert“, erklärt Dr. Chakimow, „gab es hier eine Reformation des Islam.“. Dr. Chakimow meint damit die Reformen seitens Katharia II., die deswegen in der tatarischen Bevölkerung bis heute zärtlich Baba, Großmütterchen, genannt werde. Man könne den „Jadidismus“ natürlich nicht direkt mit denen des Lutheranismus vergleichen, schränkt Dr. Chakimow ein, aber eine Reformation verkörpere sich in ihm zweifellos.
„Unsere Wissenschaftler“, erklärte Dr. Chakimow mir, „stellten damals die Frage, warum der Osten gegenüber dem Westen zurückgeblieben sei. Die Antwort war, dass er gewissen Traditionen der Autorität gefolgt sei, auf arabisch ´taklid`; das eben hat den Islam geschwächt. Der ursprüngliche Islam ist dagegen auf kritisches Denken gerichtet. Jeder sollte nachdenken, jeder sollte selbst abwägen. Aber dann kam die Tradition auf, Autoritäten zu folgen, und der Islam wurde zu einer unumstößlichen Vorschrift.
Unsere Reformatoren sagten dann, man müsse sich an das kritische Denken wenden. Um den Koran zu lesen, muss der Mensch gebildet sein. Von daher folgt als Erstes, dass jeder Muslim eine gute Bildung haben muss. Also muss man neue Schulen bauen, nach europäischem Standart. Das war die erste Etappe. Das Zweite war, dass im tatarischen Islam, im Jadidismus, die Religion eine persönliche Angelegenheit ist. Da ist Allah – und da bist du; zwischen euch ist kein Advokat. Da ist kein Mullah und kein Imam: Du alleine sprichst mit Allah. Du sagst guten Tag, er antwortet. Hier hat die Obschtschina, die Gemeinde, nichts zu sagen. Also, der tatarische Islam ist eine persönliche Angelegenheit. Die Moschee ist natürlich ein Ort, wo man beten kann, aber vor allem ist sie ein Zentrum der Bildung. Ansonsten gehst du in die Moschee wann und wo du willst. Niemand kann mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe – fünf mal zu Boden oder nicht fünf mal? Soll ich meinen Kopf beugen oder nicht? Das ist meine Sache. Das unterscheidet den Tataren stark von anderen moslemischen Völkern. Das war schon vor der sowjetischen Zeit. „Al Jadid“ ist die Bezeichnung für diese Reform: Andere Beziehung zu Frauen; Frauen sind den Männern in allem gleich; tolerante Beziehung zu anderen Religionen. Hauptsache du bist gläubig und tust gute Dinge. Allah ist für alle gut. In einem allerdings unterscheidet sich der Jadidismus vom Protestantismus: Durch den Protestantismus hat sich auch im Glauben selbst viel geändert, der Jadidismus kehrt nur einfach zum Koran zurück. Er wendet sich von der Prophetenvermittlung ab, der Autoritätsgläubigkeit. Für den Jadidismus ist die einzige Autorität der Koran selbst.“
Besonders zu beachten an dieser Aussage Dr. Chakimows – neben allem anderen höchst Interessanten – ist natürlich der letzte Satz, dass der Jadidismus, wie er sagt, „nur einfach zum Koran zurück“ kehre. – Örtliche muslimische Geistlichkeit, sowie örtliche muslimische Gelehrte, mit denen ich ebenfalls sprechen konnte, stimmten dieser Darstellung des „Jadidismus“ durchaus zu. Sie betonten allerdings, dass der „Jadidismus“
wohl „mehr der politische Ausdruck des Islam als die Religion selber“ sei.
Und da sind wir auch schon mitten im zentralen Problem, denn hier wird deutlich, dass sich Politik und Religion im Islam nur schwer voneinander trennen lassen, so dass dieselben islamischen Autoritäten, die sich im Gespräch mit mir mehr „Islam“ und weniger „Politik“ wünschen, sich gezwungen sehen, sich zugleich gegen fundamentalistische Bewegungen abgrenzen, in denen zur „Reinheit“ des Islam und zur Bildung eines islamischen Gottesstaates aufgerufen wird, wie sie im Kaukasus, also in Tschetschenien, in Dagestan oder auch in Zentralasien zu beobachten sind; versprengt auch in Tatarstan selbst.
Also auch hier also trotz aller Offenheit – Auseinandersetzung, Bewegung, keine endgültigen Lösungen.
Im Konkreten – Fragen über Fragen
Mit dieser Skizze wäre das Wichtigste über den „Jadidismus“ schon gesagt. Man könnte glauben, es reiche, nunmehr zu überprüfen, wie weit die Aussagen von Dr. Chakimow der Wirklichkeit entsprechen. Aber hier tritt Bedeutung des Themas erst richtig hervor, denn in dem Maße, in dem man ins Konkrete einsteigt, werden die Fragen immer komplexer.
Da entsteht als allererste die Frage: Was ist Islam? In Russland wurde mir bestätigt: Ja, der: Der Islam ist nicht nur eine „Religion“; er besteht aus drei Teilen; das ist:
– der Koran – als Gottes unmittelbares Wort, als letzte unumstößliche Verkündigung,
– der Hadith – Berichte über das Leben Mohammeds, das Vorbildcharakter hat,
– und aus beidem folgend die Scharia, das gottgewollte Rechtssystem.
Diese drei Elemente sind nicht voneinander zu trennen.
Aber in Russland wurde mir auch noch ein viertes Element genannt, das üblicherweise vergessen werde, obwohl es eine riesige Bedeutung in der konkreten Ausbreitung des Islam habe: „urf adak“ – eine Einrichtung über „abweichende Rechte“, die sich aus der besonderen ethnischen und kulturellen Lage der jeweiligen Völker ergebe. Hieraus habe sich – bei Anerkennung des Koran, des Hadith und der Scharia – die Vielfalt des Islam entwickelt, wie sie heute in der Welt zu beobachten sei. Ein Blick in den Religionsatlas bestätigt das: Der Islam ist weitaus vielfältiger differenziert als das seinerseits schon differenzierte Christentum.
Doch auch „urf adak“ ist so mit den drei anderen Elementen verbunden, das Welt und Gott für einen gläubigen Muslim eine untrennbare Einheit miteinander bilden.
Hieran schließt sich natürlich sofort die weitere Frage an, wie es unter solchen Bedingungen, wenn der Koran „Gotteswort“ ist und wenn Mohammeds Leben als beispielhafter Lebens- und Glaubensweg darin untrennbar verwoben ist, überhaupt je einen „reformierten Islam“ geben kann? Was am Islam ist modernisierbar was nicht?
Und schon folgt die nächste Frage: Koexistenz? Was heißt das? Wer mit Wem? Stellt sich die Frage der Koexistenz nur an den Islam? Muss nur der Islam „reformiert“ werden? Nicht auch die christlich-abendländische Welt? Die Jüdische? Was ist mit Buddhismus, Hinduismus und anderen Religionen. Was ist mit der globalen Ideologie des Konsums und des Technikfetischismus – als moderner Ersatzreligion?
Fragen über Fragen, die Antworten, zumindest erst einmal Aufmerksamkeit fordern. Erlauben Sie mir, die Fragen der Reihe nach vorzunehmen, so wie sie sich im Laufe der Vorbereitung für diesen Vortrag ergeben haben.
Frage eins: Was ist der Islam?
Weit entfernt selbstverständlich davon, diese Frage hier auch nur annähernd erschöpfend behandeln zu können, werde ich über das hinaus, was ich zu Koran, Hadtih, Scharia und urf-adak bereits gesagt habe, mich auf ein paar Aspekte beschränken, die mir unerlässlich für ein Grundverständnis erscheinen:
„Islam“ – das Wort meint Hingabe, Unterwerfung unter die Gesetze Gottes.
Dabei gilt die Grundformel, die ich hier in der eingängigen Form zitieren möchte, welche Friedrich Rückert ihr seinerzeit gegeben hat:
„Bekenntnis der Einheit“, 112. Sure:
Sprich: Gott ist Einer,
Ein ewig reiner,
Hat nicht gezeugt, und ihn gezeugt hat keiner,
Und nicht im gleich ist einer.“
In der einfachsten Form des Glaubensbekenntnisses lautet das:
„Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Gesandter.“
Wer diesen Satz dreimal hintereinander mit Überzeugung ausspricht, gilt bereits als Muslim.
Weiter: Der Koran gilt den Muslimen als offenbartes Wort Gottes, als durch den Erzengel Gabriel unmittelbar „diktiert“ obwohl Mohammed nicht lesen und nicht schreiben konnte, so dass er für eine Niederschrift der Offenbarung auf seine erste Frau und einen befreundeten jüdischen Gelehrten angewiesen war und obwohl die Verschriftung des Koran sich über mehr als dreißig Jahre hinzog – ganz zu schweigen von Hadith und Scharia, die Jahrhunderte nach Mohammeds Tod erst ihre schriftliche Fassung fanden.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die zweite Sure; sie bildet nach dem erweiterten Glaubensbekenntnis in Sure 1 den eigentlichen Auftakt in den Koran. (es heißt, vielen Muslimen sei überhaupt nur die 1. und 2. Sure bekannt, so wie manche Christen etwa nur die Bergpredigt kennen) Die 2. Sure steht unter der Überschrift „Die „Kuh“, gemeint ist das „goldene Kalb“ der Tora, des alten Testamentes. Mohammed mahnt, er beschwört die Vertreter der alten „Buchreligionen“, also Judentum und Christentum – darin ganz und gar alttestamentarisch – zum Bund mit Gott, den sie vergessen und verraten hätten, zurückzukehren, wenn sie nicht der Strafe des jüngsten Gerichtes ausgesetzt werden wollten. Diese Mahnung der Rückkehr zum Bund mit dem einen Gott wird praktisch in jeder Sure wiederholt, wobei Mohammed immer wieder die Geschichte dieses Bundes, die Prophetengeschichte des alten Testamentes, aber auch das neue Testament in Erinnerung ruft. Tenor des Koran gegenüber Juden und Christen ist die besorgte Mahnung. Die sog. „Götzenanbeter“, Vertreter nicht-monotheistischer Kulte, dagegen werden schlicht aufgefordert von ihren „Götzen“ zu lassen, wenn sie nicht in der Hölle schmoren wollen. Hier gleicht der Koran eher dem aggressiven Ton des alten Testamentes, der Tora.
Anzumerken ist jedoch: Der Mensch im muslimischen Menschenbild ist nicht grundsätzlich böse, er braucht nur Führung, weil er leicht vergisst. Er braucht Belohnung und Strafe. Wer sich dem einen Gott unterwirft, wird erhöht, wer sich weigert, wird bestraft.
Für die „Unterwerfung“ reicht die Anerkennung des Glaubensbekenntnisses und die – formale – Einhaltung der fünf Grundregeln. Diese „fünf Säulen des Islam“ sind:
– Das Glaubensbekenntnis – wie gesagt: „Gott ist einer, Mohammed ist sein Prophet.“
– Das Gebet – fünf Mal am Tag Verbeugung in Richtung Mekka.
– Die Abgabe der Almosensteuer – 10% und Zinsverbot.
– Fasten – einmal im Jahr zu Ramadan.
– Die Pilgerreise nach Mekka – mindestens einmal im Leben.
Bis auf die erste „Säule“ kennen alle diese Regeln, so streng sie erscheinen, jedoch Ausnahmen für Armut, Krankheit, Reise oder sonstige Unpässlichkeiten, welche die Vorschriften relativierbar machen ähnlich wie die „lässlichen Sünden“ im Katholizismus. Ähnliches gilt letztlich auch für Koran, Hadith und Scharia, auch wenn sie nicht voneinander zu trennen sind, so wenig wie Gott und die Welt. Die Scharia geht aus Koran und Hadith als „göttliches Recht“ hervor, aber sie ist nicht kanonisiert, sondern unterliegt der lebendigen Auslegung und Interpretation, sowie der Anwendung von Ausnahmeregelungen. Zusammen mit den Regeln des „urf adak“, die Veränderungen nach ethnischen Besonderheiten, Kulturen und Sitten erlauben, gab es hier in der Geschichte des Islam, aller Buchgläubigkeit zum Trotz, große Differenzierungen – und kann es sie auch heute geben.
Zur Entstehungsgeschichte des Islam
Generell ist zur Entstehungsgeschichte des Islam noch zu sagen: Der Islam entsteht in einer historischen Übergangssituation – Ende des römischen Reiches, Zerfall der alten Welt, Anarchie, Entstehung neuer Reiche, Juden in der Diaspora, Christentum gespalten – er entsteht als Versuch, die bereits verkündete göttliche Ordnung des Monotheismus wiederherzustellen.
Dabei ist insbesondere zu beachten: Indem der Islam den Monotheismus im Rückgriff auf die Propheten zu erneuern bestrebt ist – einschließlich des strafenden jüdischen Gottes, erweitert er zugleich das nur auf das Volk Israels fokussierte Prinzip der Auserwähltheit auf alle Menschen, wenn sie nur an den “Einen“ glauben. Damit bringt der Islam eindeutig einen fortschrittlichen Impuls der Öffnung in die Welt. Andererseits fällt er hinter die christliche Botschaft zurück, wenn Mohammed dem Christentum vorhält, mit seiner Trilogie von Vater, Sohn und heiligem Geist den Bund mit dem einen Gott verraten zu haben.
In seiner Kritik an Judentum und Christentum tritt der Islam mit einem absoluten Wahrheitsanspruch auf den Plan: Nach ihm wird es keine weiteren Erneuerungen von Gottes Wort geben; Mohammed ist nach Jesus der letzte Prophet in der Reihe der Propheten – das „Siegel der Propheten“ – nach ihm wird es keinen Propheten mehr geben, der bereit ist, den Bund zu erneuern. Wer jetzt nicht hört, geht dem Verderben entgegen. Mohammeds Blick auf die damalige Welt trägt die Züge eines starken Endzeitbewusstseins. Darin ist der Islam, man könnte sagen, die konsequente Fortsetzung, gewissermaßen Vollendung seiner monotheistischen Vorgänger. Im Selbstverständnis des Islam heißt das: Er ist die letzte Mahnung, eine weitere wird es nicht geben.
Bei all dem gesteht der Koran seinen monotheistischen Vorgängern durchaus Toleranz zu, die in verschiedenen Suren auch immer wieder deutlich gemacht wird. Wegen der Strittigkeit und der Bedeutung dieser Frage für jedes Gespräch, sei das hier einmal exemplarisch zitiert:
In Sure 5, Vers 49, in welcher erklärt wird, der Koran sei als „Wahrheit hinab gesandt“ worden, um „zur Erfüllung dessen zu mahnen, was schon im Buche war und als Wächter darüber“ heißt es dann weiter: „Und hätte Allah gewollt, ER hätte euch alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht, doch Er wünscht euch auf die Probe zu stellen durch das, was Er euch gegeben. Wetteifert darum miteinander in guten Werken. Zu Allah ist euer aller Heimkehr, dann wird Er euch aufklären über das, worüber ihr uneinig wart.“
Halten wir trotz allem zunächst fest: Unter den bisher genannten Voraussetzungen sind Interpretationen der muslimischen Lehre möglich, jeder Versuch, den „Islam“ reformieren oder modernisieren zu wollen ist gleichwohl unvermeidlich mit einer Infragestellung seiner Grundbotschaft verbunden, die letzte Korrektur des göttlichen Wortes zu sein.
Frage zwei: Was könnte also eine Reform des Islam sein?
Wenn in der globalisierten Welt von heute von Reform des Islam gesprochen wird, so ist damit in der Regel seine Säkularisierung, also Trennung von Staat und Kirche gemeint
wie sie aus der Botschaft Jesu hervorgegangen ist: „Gebt Gott, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Denn darin unterscheidet sich der Islam kategorisch vom Christentum:
Er stellt den Zusammenhang von Gott und Welt, den das Christentum in seiner Kritik am strafenden, eifersüchtigen und kriegführenden Gott Judas aufgelöst hatte, als untrennbar wieder her, erweitert ihn sogar – für Mohammed ist Gottes Gesetz gleichbedeutend mit Weltgesetz.
Ein Unterschied besteht allerdings zwischen Tora und Koran, der nicht oft genug betont werden kann und in dem der Koran auf das Christentum, aber nicht auf die Tora zurück greift: Im Islam gilt Gottes Wort und Gesetz nicht nur für ein auserwähltes Volk, sondern für alle Menschen, klar herausgestellt: Nicht ein Volk, der einzelne Mensch ist im Islam auserwählt – w e n n er sich nur dem Einen unterwirft.
Vergleichbar, fast identisch zwischen Judentum und Islam, sind dagegen die, sagen wir, gesellschaftlichen Bedingungen, die man mit der Stiftung der Religion zu ordnen versuchte –
– Stammesfehden, Vielgötterei, ethnische, religiöse und soziale Zersplitterung – nur zu Mohammeds Zeiten anders als zur Entstehungszeit des Monotheismus nunmehr auf die ganze ihm bekannte Welt bezogen, die nach der Auflösung des römischen Reiches im Chaos lag.
Eine Reform des Islam kann also, wie man es auch dreht und wendet, nur in der Auslegung seiner Schriften liegen, soweit sie die sozialen Rahmenbedingungen, die religiöse Praxis oder – unter Einbeziehung des „urf adak“ – die ethnische Vielfalt, Sitten, Kulturen betreffen, wenn sie nicht, wie gesagt, seinem Grundanspruch aufheben will, Gottes letzte Korrektur für die ganze Menschheit zu sein. – In der Auslegung kann sie aber auch liegen!
Hier muss auch noch die Eigenart der arabischen Sprache bedacht werden, die ohne Vokale auskommt, für die sich die konkrete Bedeutung einzelner Worte oft aus dem Gesamtzusammenhang erschließt, was natürlich Raum für Variationen lässt. Zu beachten ist auch, dass der Koran die Offenbarungen Mohammeds in poetischer Form, in Gedichten präsentiert, was wortwörtliche Erfassung in einer anderen als der arabischen Sprache, in der er verfasst worden ist, zu einem sprachlichen, einem poetischen Abenteuer macht.
So ist es nicht verwunderlich, dass die islamische Welt, wo sie sich heute zu den aus der westlichen Kultur hervorgehenden Menschenrechten definiert, weil sie sich in der globalisierten Welt definieren muss, sehr unterschiedliche Positionen einnimmt:
– von den einen werden die Menschenrechte krass ablehnt,
– von einer weiteren Gruppe werden sie unter den Vorbehalt der Scharia gestellt,
– da, wo der Islam die Menschenrechte anerkennt, kommen seine Vertreter in Erklärungsnot gegenüber der Einheit von Koran, Hadith, Scharia als Gottes letztes Wort.
Aber auch in solchen Interpretationsnöten – das sei hier ich hier ausdrücklich noch einmal klargestellt – steht der Islam natürlich nicht allein. Die Kodifizierungsgeschichte von Tora und Bibel ist zeitlich nicht minder gestreckt als die des Koran und ebenfalls interpretationsbedürftig, bzw. -fähig und jedes Gespräch zwischen den drei Religionen muss in diesem Bewusstsein geführt werden, wenn es der Klärung und Verständigung zwischen Christen, Juden und Muslims dienen soll, ganz zu schweigen von der notwendigen Einbeziehung anderer Religionen und ethischer Strömungen.
Frage drei: Koexistenz?
Was hieß zu Zeiten Mohammeds Koexistenz, was könnte es heute heißen?
Historisch kam der Islam, wie schon mehrfach deutlich geworden, als Bruder des Judaismus und des Christentums auf die Welt; gleichzeitig als – gewissermaßen erneuerte – Kampfansage gegenüber den „Götzenanbetern“, also den nicht-jüdischen und vor-christlichen Kulten, sowie den Christen und Juden, die, nach dem Eindrücken Mohammeds, den einen Gott in Mischkulturen mit den alten Kulten vergessen oder verwischt hatten.
Innerhalb der monotheistischen Familie ging es zunächst gar nicht um eine Frage der Koexistenz; man war in der Wurzel, im Stammbaum, im Herkommen identisch –
eben im monotheistischen Ansatz. So sah Mohammed sich zunächst nur als Vollender der jüdisch-christlichen Offenbarungsgeschichte und setzte auf ein Zusammengehen mit Juden und Christen.
Zur Erinnerung und zu Konkretisierung noch einmal:
– Identisch war der Islam im Rückgriff auf den „strafenden Gott“ Judas, er klagt die Mahnungen der Propheten der Tora praktisch in jeder Sure ein.
– Identisch ist er auch in den patriarchalen Strukturen, die die Frau als minderwertig betrachteten. Wer das nicht glaubt, möge in der Tora, dem alten Testament nachlesen, aber ebenso in den Paulusbriefen, nach denen das Weib in der Gemeinde zu schweigen habe. Die Missachtung der Frau war zu Mohammeds Zeiten allgemeiner Standard. Gemessen daran waren die Rechte, die der Koran den Frauen gibt, seinerzeit sogar ein Fortschritt.
Heute gehören die Bestimmungen des Koran, die die Frauen betreffen, allerdings eindeutig zu d e n anpassungsbedürftigsten Regeln des Islam, der in diesen Fragen auf dem Stand von vor 1400 Jahren stehen geblieben ist. Den Gründen für diesen Stillstand ist nachzuforschen – darauf komme ich später noch genauer. Hier möchte ich erst einmal festhalten, dass diese Regeln zweifellos an die heutige Realität angepasst werden müssen und, wie ich meine, auch ohne jeden Verlust religiösen Inhaltes angepasst werden können – ganz zu schweigen von dem ethischen Gewinn, der mit einer Emanzipation der Frauen im Zuge der Entwicklung einer Gleichberechtigung aller Menschen verbunden ist, versteht sich.
Differenzen unter Brüdern beginnen aber schon da, wie gesagt, wo der Islam das Prinzip der Auserwähltheit e i n e s Volkes auf alle Menschen ausweitet und zugleich in eine aktive Beziehung verwandelt – die die Anerkennung des Einen fordert. Damit setzt sich der Islam – in dieser Frage einig mit der Botschaft Jesu – entschieden vom Judentum ab.
Die Differenzen unter Brüdern verschärfen sich mit der – schon erwähnten –
Kritik Mohammeds an der Trinität der christlichen Lehre, Vater, Sohn, heiliger Geist, die Mohammed als Rückfall in Vielgötterei missversteht. Realistischerweise muss man sagen, dass die Trinität im Christentum selbst verschiedenste Aufspaltungen erfuhr, sodass sich manche christliche Linie faktisch kaum noch vom Verständnis des „Einen“ Gottes unterschied. Hier gibt es Anknüpfungspunkte für interreligiöse Dispute.
Zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam es dagegen von Anfang an in der Auseinandersetzung mit dem „Götzentum“ in Mohammeds unmittelbarer Umgebung, nachzulesen in den Hadiths, den Berichten über Mohammeds Leben und Wirken, die die Ausbreitung des Islam im Verlauf dieser Kriege en Detail schildern.
Allerdings – und dies scheint mir wesentlich für den heutige notwendigen Dialog – war Mohammeds Ansatz anders der jüdische nicht angelegt auf Eroberung eines „gelobten Landes“ wie die mosaische Geschichte der Landnahme durch das Volk Israel, sondern darauf gerichtet, einzelne Menschen von der Richtigkeit und Dringlichkeit der Offenbarung zu überzeugen, die Mohammed als letzte glaubte erhalten zu haben. Wie gesagt, hoffte Mohammed Juden und Christen für seine Reform zu gewinnen. Auch in seiner unmittelbaren Umgebung wirkte er zunächst friedlich – ging erst auf Druck in kriegerische Auseinandersetzungen über.
Generell war Mohammeds Ansatz von vornherein offen für eine ethnische und kulturelle Vielfalt, wenn Menschen, auch vorherige Gegner sich der Einheitsformel „Gott ist einer und Mohammed ist sein Gesandter“ unterwarfen. Die übrigen vier der „Fünf Säulen des Islam – Gebet, Zakat, Fasten, Pilgerfahrt – waren dafür noch nicht einmal essentiell, ihre Befolgung oder nicht Befolgung definierte nur einen guten oder schlechten Muslim.
Auch dies steht übrigens ganz im Gegensatz zu der alttestamentarischen Geschichte der Landnahme, in der die biblischen Eroberer die ansässige Bevölkerung ohne Ausnahme – Männer, Frauen, Kinder und sämtlicher Tiere – auf Geheiß ihres Gottes ausrotteten.
Die Einheitsformel des Islam – Gott ist das Gesetz der Welt – wie auch seine Bereitschaft schon bei bloßer Anerkennung dieser Formel ethnische und kulturelle Vielfalt – wie in Kasan zu hören: „urf adak“ – zuzulassen waren dagegen zugleich Anknüpfungspunkte für weit unterschiedlichste Form der Koexistenz und förderten eine rasante Ausbreitung des Islam.
Der Islam, um es anders und deutlich sagen, gab einer zerfallenden Welt Halt!
Mehr noch, und dies war von großem Gewicht für die Entwicklung unserer globalen Kultur, wie sie heute ist: Das islamische Verständnis von Gott als Gesetz der Welt führte zu einer starken Orientierung der Muslime auf wissenschaftliche Beschäftigung mit den Gesetzen der Welt als Gottesdienst. In der Folge erwuchs aus der muslimischen Welt ein wissenschaftlicher und kultureller Impuls, ein anhaltender kultureller Boom, der sich als „Arabische Kulturepoche“ vom 6. bis ins 14. Jahrhundert, also über gut 700 Jahre erstreckte und den Raum von Persien bis Spanien umfasste.
Zur gleichen Zeit versank die christliche Welt in dogmatischer Jenseitigkeit.
Ich kann diese Entwicklung hier nur andeuten, obwohl im Dialog mit dem Islam gerade hierüber viel mehr gesprochen werden müsste. Hier deshalb nur die wichtigsten Stichworte, denen in Weiteren unbedingt nachzugehen sein wird:
Da ist die Akademie von Gondaschipur, über die persisches und griechisch-römisches Kulturgut durch Vermittlung arabischer und jüdischer Gelehrter in unsere Zeit gelangte.
Da ist der Kalif Harun al Raschid, fürstlicher Förderer eines Kulturraumes, der sich von Persien bis Spanien spannte – der ganzen Welt zumindest bekannt aus „Tausend und eine Nacht“ – während Karl der Große zu gleicher Zeit nicht einmal lesen und schreiben konnte.
Da ist der Ost-westliche Divan, den Johan Wolfgang von Goethe als Alterswerk zurückließ. Er selbst schrieb in einer Anzeige für dieses Buch 1819: „Der Dichter … lehnt den Verdacht nicht ab, dass er selbst ein Muselmann sei“. Posthum, 2001 wurde Goethe von dem in Weimar lebenden Scheich Àbdalqadir Al-Murabit beim Wort genommen. Der Scheich fertigte eine Fatwa an, die mit den Worten endete: „Im Lichte seiner überwältigenden Bestätigung des Propheten – möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben! – soll er bei den Muslimen von nun an bekannt sein als Muhammad Johann Wolfgang von Goethe“.
Eine besondere Form der Koexistenz – auch dies wichtig genug, um es hier wenigstens kurz zu erwähnen – entwickelte sich während dieser Zeit zwischen Muslimen und Juden, so dass diese Jahrhunderte der „Muslimischen Diaspora“ als „goldene Zeit“ ins Buch der jüdischen Geschichte eingingen. Auch dies ein klarer Ausdruck der Toleranz des Islam.
Kreuzzüge und Zurückbleiben des islamischen Welt
Einen ganz anderen Weg nahm die Entwicklung im selben Zeitraum hingegen zwischen Christentum und Islam, die sich schließlich in den Kreuzzügen zuspitzte. Das waren vom ersten Aufruf durch Papst Urban 1095 bis zum siebten und letzten Kreuzzug 1293 immerhin fast 200 Jahre der härtesten Konfrontationen.
Aber: Ausgerechnet die Kreuzzüge waren es auch, die Christentum und Islam in eine Koexistenz ganz besonderer Art, der paradoxen Art brachten, einen Austausch, der in der Geschichte seinesgleichen sucht:
Austausch gab es über die Kreuzritter im Osten. Sie brachten Wissen und Kultur, die sie unterwegs kennengelernt hatten, mit nach Hause – nicht zuletzt die Frauen, mit denen sie sich während ihrer Kriegszüge verbunden hatten.
Austausch gab es über den von Spanien aus der dortigen muslimisch, jüdischen Hochkultur von Toledo nach Europa vordringenden Kulturimpuls.
Aus dem Zusammentreffen dieser Strömungen, die eine über den Osten von Jerusalem ausgehend, die andere aus über den Westen über Spanien, die in Europa mit dem christlichen Mönchtum zusammentrafen, entwickelte sich in turbulenten Auseinandersetzungen über die Frage: Welt oder Gott, Wissenschaft oder Glaube in Scholastik, Renaissance, Aufklärung das Europa, das wir heute kennen: Industrialisierung, Imperialismus, Kolonialismus usw. bis zur Globalisierung. Ohne Islam hätte Europa diesen Sprung in seiner Entwicklung nicht gemacht. Das ist eisern.
Zug gleicher Zeit sank die muslimische Welt zurück!
Für dieses Zurückbleiben der muslimischen Welt gibt es meines Wissens bis heute keine zureichende Erklärung. Einen interessanten Erklärungsansatz fand ich bei R. Steiner, der darauf hin wies, dass die muslimische Welt mit Eindringen der turk-mongolischen Eroberer ab dem 13. und 14. Jahrhundert eine gewisse Verrohung und Verfestigung erfahren haben könne. Diese Vermutung trifft sich mit dem von Dr. Chakimow benannten Einfluss des „taklid“, des autoritären Einflusses auf den Islam. Interessant! Dr. Chakimow muss es ja wissen, schließlich spricht er von eben dieser tatarischen Variante des Islam…!
Der Hinweis auf den tatarischen Einfluss ist eine sehr interessante Spur, der unbedingt in der weiteren Forschung nachgegangen werden muss, wenn man sich vor Augen führt, dass der gleiche Schub der tatarischen Invasion, der den mesopotamisch-mittelmeerischen Raum erreichte, vor West Europa trotz einer vernichtenden Niederlage der westlichen Ritterheere bei Liegnitz 1241 stockte. Für den Rückzug der Eroberer gab es innere Gründe der Erbfolge, die ich hier unausgeführt lasse; entscheidend ist, dass West-Europa von weiteren Einfällen verschont blieb. Der muslimische Kulturraum wurde so durch die mongolisch-tatarische Expansion zurückgeworfen, während West-Europa durch das Ausbleiben dieser Invasion ein gleiches Schicksal erspart blieb. So konnte die Stafette der kulturellen Entwicklung vom islamischen Mittelmeerraum nach Mitteleuropa hinüberwechseln. Russland blieb als das Bollwerk zurück, das weitere Vorstöße der Tataren von Europa fernhielt und in dem in den folgenden Jahrhunderten tatarischer Islam und christliches Abendland im Dauerkonflikt und in beginnender Kooperation aufeinander trafen. Die Kenntnis über diese Verschiebung dürfte für den heute zu führenden Dialog der Kulturen von entscheidender Bedeutung sein.
Heute wieder: Kritik an einer „gottlosen Welt“?
Heute erleben wir, wie es scheint, eine Wiederholung der Konstellation, die bestand, als der Islam in der Welt erschien. Zugespitzt kann man sagen: der islamische Impuls, der einst von Medina, dann Mekka ausging, sich über die arabische Kultur nach Europa fortsetzte, Europa groß machte, während die islamische Welt zurücksank, kommt in Gestalt der Globalisierung jetzt auf die muslimischen Länder zurück, die damit nur schwer umgehen können. Im Zeichen der globalen Krise, einer Übergangssituation ähnlich der nach-römischen Zeit, die den Islam von 1400 Jahren hervorgebracht hat, kommen aus dem muslimischen Lager heute wieder Stimmen, die der westlich-abendländischen, christlich-jüdischen Zivilisation – als der global dominanten – den Vorwurf machen, um das „goldene Kalb“ zu tanzen.
Die Kritik, ob übertrieben oder nicht, trifft den wunden Punkt der westlich dominierten Zivilisation. Worum geht es? Auch dazu in aller Kürze ein paar Stichworte:
Es geht um die Trennung von Gott und Welt, genauer, in der einseitigen Folge dieser Trennung um die Reduzierung der Welt auf ihre äußere materielle Gestalt, auf Ökonomie, Profit und Konsum, eine Reduzierung, die ja im Zuge der Entwicklung der dominanten westlichen Kultur extreme Formen angenommen hat. Die wichtigsten Stationen dieser widersprüchlichen Geschichte will ich knapp in Erinnerung rufen:
Zunächst Verstaatlichung des Christentums nach Christi Tod und ganz gegen die von ihm ausgehende Botschaft „Gebt des Kaisers, was des Kaisers und Gott was Gottes ist“:
Im Westen Verwandlung des Christentums in eine Staatsreligion, Papsttum als weltliche Macht, schwere Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat bis zur Reformation, die Religion – endlich wieder, könnte man sagen – zur Privatsache macht. Die französische Revolution besiegelt diese Entwicklung.
Im Osten das byzantinische Gottkaisertum, fortgesetzt in der zaristischen Selbstherrschaft, die Kirche und Staat im „III. Rom“ vereint. Erst von der bolschewistischen Revolution 1917 wird diese gottesstaatsähnliche Einheit gesprengt. Nach der Auflösung der Sowjetunion nimmt Religion wieder einen wichtigen Platz in Russland ein; die allgemeine Trennung von Staat und Kirche, die Säkularisierung und Privatisierung von Religion hat durch die Oktober-Revolution von 1917 jedoch ihren letzten entscheidenden Schub bekommen.
Heute herrscht allgemeine Ratlosigkeit angesichts einer globalisierten Welt, die keine ihrem Wissen und ihren technischen Möglichkeiten entsprechende Ethik kennt, in der Profit und Konsum zur Ersatzreligion zu werden droht, für viele schon geworden ist.
Und das ist – in muslimischer Formulierung – eben der Tanz um das Goldene Kalb“ in einer „gottlosen Welt des Bösen“, gegen die ein Kreuzzug für den wahren Glauben, die Rettung Gottes, geführt werden müsse.
Aber nicht „der“ Islam argumentiert so, das muss betont werden, vielmehr ist die Mehrheit der muslimischen Länder durchaus bestrebt, die Impulse der „westlichen“ Zivilisation zum eigenen Nutzen und für die eigene Entwicklung aufzugreifen und sogar zu beschleunigen. Dabei sind so unterschiedliche Länder wie der Iran mit seiner Atomindustrie, Dubai mit seinen Supertowern, zentralasiatische, afrikanische oder andere muslimische Staaten gleichermaßen zu nennen. Die fundamentalistischen Reflexe entstehen, ungeachtet der Orientierung auch der muslimischen Welt an der technischen Moderne, aus einer Mischung zwischen unerlöstem Kolonialismus und Kritik an den offensichtlichen Schwächen und Fehlern (bis hin zu den offenen Aggressionen) des globalisierenden Zivilisationsmodells. Die fundamentalen Reflexe orientieren auf eine „Reinigung“ des Islam – wie der Welt.
Dem steht eine bis zu militärischer Aggression pervertierte Menschenrechtspropaganda, ausgehend von den imperialen Interessen der USA, als vergleichbare fundamentalistische Strömungen des Westens gegenüber. Beides kann, wenn nicht in seiner Eskalation gebremst, zu einem Weltbrand heranwachsen, der die Kreuzzüge weit in den Schatten stellen könnte.
Hinzu kommt als gesondertes, schweres Problem, das aus dem Erbe des letzten Jahrhunderts hervorgeht: die Konzentration großer Teile des Judentums auf die zionistische Staatsgründung in Israel als Reaktion auf den Holocaust – was nichts anderes bedeutet, als die Rückkehr zur Praxis des auserwählten Volkes in Form konkreter Landnahme, wie sie in der Tora nachzulesen ist, statt die Vorstellung der Auserwähltheit eines Volkes, bzw. einer Nation in Richtung einer Auserwähltheit jedes einzelnen Menschen zu denken und zu entwickeln, wie es im Islam und auch im Christentum durchaus angelegt ist, und den Impuls des Judentums so für die gesamte Menschheit fruchtbar zu machen. Das Judentum könnte so, um ein Bild zu benutzen, als Hefe im Teig der aufgehenden Menschheit wirken.
Eine solche Entwicklung läge nicht nur im allgemeinen Interesse, darin läge auch der Anknüpfungspunkt für den Dialog zwischen Muslimen, Christen und Juden sowie allen anderen religiösen und ethischen Strömungen. Die fruchtbare Symbiose zwischen Islam und Judentum während der „muslimischen Diaspora“ kann uns daran erinnern, was möglich ist, wenn es gewollt wird.
Den Fingerzeig nutzen
Betrachten wir dies alles, dann kann „Reform“ oder „Koexistenz“ des Islam nur heißen, im Dialog der Kulturen und Religionen die Elemente aufzuspüren und herauszuarbeiten, die über einseitige Verhärtungen aller monotheistischen Dogmen hinausweisen.
Das hieße aus meiner Sicht, in aller Vorsicht gesagt:
– die „Radikalisierung“ des Islam als Fingerzeig zu begreifen, der dazu mahnt, daran zu arbeiten, die aus dem Ruder gelaufene Trennung von Gott und Welt, Wissenschaft und Glaube, Materie und Geist, Konsumismus und Ethik auf dem Stand heutiger Entwicklung neu zu denken und zu einer neuen ethischen Kraft zusammenzuführen.
– auf der moralischen Ebene hieße das einfach: herauszufinden, was es heute heißt – ungeachtet religiösen oder ethischen Herkommens – gut zu sein, gut zu handeln.
– weiterhin hieße es, jegliche Ideologie der „Auserwähltheit“ in ein Bildungs-Programm für jeden Menschen dieser unserer heutigen Welt zu verwandeln.
– und dabei kein geistiges Element auszuschließen, sondern die Einheit in der Vielfalt unter Einbeziehung aller geistigen Ströme und Kräfte zu suchen.
Das alles heißt, eine Menschenkunde und gesellschaftliche Perspektiven zu entwickeln, die Glaube und Wissen, Geist und Materie, Einheit und Vielfalt einander nicht weiterhin fruchtlos gegenüberstellt, sondern als Elemente begreift, die sich im Unendlichen treffen.
Noch einmal Kasan
Vor diesem Hintergrund können wir jetzt noch einmal kurz an die Frage herangehen, was es mit dem „Modell Kasan“ tatsächlich auf sich hat. Die Antwort lautet:
Das „Modell Kasan“ ist tatsächlich ein Modell, weil alle Fragen, die wir jetzt erörtert haben, sich in diesem kleinen Rahmen beispielhaft stellen, nämlich:
Kasan steht, wie ganz Russland am Ende der sozialistischen Utopie, am Ende des verordneten Atheismus, andererseits unter dem neuen
Einfluss der massiv einströmenden westlichen Konsumideologie. Das ist eine Situation, welche die Menschen nach neuer Moral, Kultur, Spiritualität suchen lässt.
Kasan ist nicht irgendein Ort in Russland; es ist der historische Knotenpunkt zwischen Asien und Europa, der sich zwischen asiatischer Invasion und europäischen Völkern, zwischen Christentum und Islam, Russen und Mongolen herausgebildet hat. In diesem Selbstverständnis nennt die Stadt sich heute „3. Hauptstadt Russlands.“
In Kasan hat der Islam eine lange Geschichte der Anpassung und Individualisierung hinter sich, der ihn prädestiniert für eine Koexistenz mit anderen Religionen, insonderheit mit dem orthodoxen Christentum. Iwan IV wollte den Islam auslöschen, nachdem er Kasan hatte erobern lassen. Katharina II legalisierte den Islam, nachdem sie durch den Pugatschowschen Aufstand begriffen hatte, dass er sonst eine Unruhequelle im Herzen Russlands bliebe – aber sie suchte ihm die Zähne zu ziehen, indem sie ihn als Bildungselement in den Staat eingliederte. Danach gab es wieder Versuche der Unterdrückung bis zur Revolution von 1917.
Diese wechselnden Bedingungen erzwangen eine individuelle Religionsausübung und ließen damit die Voraussetzungen für die Säkularisierung entstehen, wie Dr. Chakimow sie beschreibt. Das allgemeine Religionsverbot während der Sowjetzeit ließ zudem eine Solidarität der Gläubigen entstehen – gleich welcher Religionsgehörigkeit.
Noch einmal zusammengefasst:
Exemplarisch ist diese Entwicklung Kasans
– durch seine lange Erfahrung der Koexistenz,
– durch die aktuelle Erneuerung der Koexistenz nach Perestroika,
– durch die Auseinandersetzung mit anderen, fundamentalistischen Formen des Islam in Russland – in Tatarstan selbst, in Tschetschenien, im Kaukasus, außerdem in Zentralasien. Aktiv unterscheidet Kasans politische und geistliche Führung, mit welchen ausländischen Strömungen des Islam sie Kontakt hält, sich etwa bei Bau von Moscheen unterstützen lässt – mit Ägypten ja, mit Arabien, dem Heimatland des radikalen Wahabismus dagegen nicht.
– Schließlich durch seine wissenschaftliche Arbeit am Jadidismus, welche die säkularen Formen des Islam in bewusster Auseinandersetzung mit der Krise des Sozialismus wie auch des nach Russland einströmenden Kapitalismus, also der Dominanz der Ökonomie über die Kultur bewusst herausarbeitet. Damit sind wir auch bei der Frage nach neuen gesellschaftlichen Perspektiven; Kasans Jadidisten verstehen sich als Zentrum eines neuen Föderalismus, suchen auch, dem Islam folgend, nach einer gerechteren sozialen Ordnung als der des zinsgeleiteten Kapitalismus. Eine Garantie für einen neuen Geist ist Kasan selbstverständlich trotz all dessen aber nicht. Es ist aber ein Beispiel, an dem man lernen kann, wie die Debatte um Alternativen zur Konfrontation bewusst geführt werden kann.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de