Wer mit dieser Frage im Sommer 2009 durch Russland reist, erlebt seine Überraschungen; etwas weniger neutral formuliert: wird hin und her gerissen zwischen widersprüchlichen Eindrücken. Nun sind Reisen nach Russland noch nie gut gewesen für Menschen, die Eindeutigkeiten suchen. Russland ist nun einmal das vielgestaltige territoriale Monster zwischen Asien und Europa. Auch nach dem Zerfall des zur Sowjetunion überdehnten russischen Imperiums ist das neue Russland immer noch Heimat für mehr als hundert Völker und Kulturen, die irgendwie miteinander auskommen müssen. Im Straßenbild Moskaus oder St. Petersburgs, besonders in der quirlenden Metro dieser Städte spiegelt sich diese Wirklichkeit; noch handfester wird sie, sobald man die Metropolen nach Norden, Süden oder Osten verlässt. Dann trifft man nicht nur auf andere Sprachen als das Russische, auf andere Kulturen als westlich gefärbte der Metropolen, auf andere Religionen als das orthodoxe Christentum, das sich gegenwärtig anschickt wieder zur Staatsreligion zu werden. Dann trifft man auf das andere Russland, auf das ländliche Russland, auf die Rückseite der Modernisierung. Dann ziehen am Fenster des PKWs, des Busses oder der Bahn, je nachdem, wie man unterwegs ist, endlose Flächen unbebauter Äcker vorbei, Brachflächen, auf denen schon die Bebuschung eingesetzt hat. Geht man ins Gespräch mit den Reisegefährten, dann provoziert man resigniertes, manchmal auch zorniges Seufzen: „Ja, es geht alles dahin! Die Dörfer zerfallen, die Städte quellen über. Wohin soll das führen?“
Macht man Halt in den Dörfern, dann wird es zur handfesten Gewissheit: Hier stimmt etwas nicht. Hier findet eine Entwicklung statt, die das Land ins katastrophale Ungleichgewicht bringt. Dörfer, denen man noch ihre frühere Schönheit ansieht, und wenn nicht Schönheit, so doch wenigstens ihre Fähigkeit, die örtliche und regionale Bevölkerung mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen, werden von den jungen Leuten verlassen. Sie suchen Arbeit in den nächst gelegenen Städten; da sie auch dort meistens nichts finden, ziehen sie gleich weiter in die Metropolen. Dort verdingen sie sich als Hilfsarbeiter für all die Arbeiten, zu denen die Städter sich inzwischen zu schade sind.
Schlepper schaffen die jungen Männer nach Moskau oder nach St. Petersburg, Anfangs nur aus den früheren Sowjetrepubliken des Kaukasus und Zentralasiens, inzwischen auch aus ethnischen Republiken an der mittleren Wolga oder dem asiatischen Teil Russlands. Wie viele es sind, weiß niemand genau. Zwischen zwei und vier Millionen solcher „Gastarbeiter“ sollen sich inzwischen in Moskau aufhalten, nicht wenige von ihnen illegal. Die Dörfer veröden, das Land bleibt unbestellt.
Die Zurückbleibenden, zumeist Frauen und Kinder leben, wenn sie die Kraft haben, von der häuslichen Zusatzwirtschaft ihrer Datschen, ihres Hofgartens oder Stückchen Landes. Wenn sie Glück haben, können sie an den Pensionen der Alten partizipieren. Manche wurden von ihren Männern unterstützt, solange die Arbeit in der Stadt hatten. Jetzt ist die Krise dazu gekommen. „Überflüssige“ Arbeitskräfte werden entlassen. Die Metropole ist nicht mehr der unersättliche Arbeitsmarkt, dem nach dem Motto „irgendwas wird sich schon finden“ immer neue Nahrung zugeführt werden kann. Russlands Wirtschaft trennt sich von Arbeitskräften, die in dem seit 2000 anhaltenden Boom in den Betrieben gehalten, harte Zungen sagen „mitgeschleppt“ wurden und sprechen von notwendigen „Säuberungen“ in der Wirtschaft.
Was für Moskau und St. Pertersburg gilt, gilt in Abstufungen für das ganze Land: Unprofitable Betriebe werden geschlossen oder sich selbst überlassen, profitable werden rationalisiert. Für die abhängig arbeitende Bevölkerung bedeutet das: Wegfall bisheriger „schwarzer“ Lohnanteile, Reduzierung des offiziellen Lohns, Kurzarbeit, Kündigungen, Entlassungen und sogar, wie kürzlich im Fall der Kleinstadt Pikaljéwo, 300 Kilometer nördlich von St. Petersburg, Zurückhaltung der Lohnzahlungen..
Im Fällen wie in Pikaljéwo, in dem ganze Kleinstädte von einem Großbetrieb abhängen, führt diese Entwicklung direkt in die soziale Katastrophe, die nur durch familiäre Zusatzwirtschaft noch abgepuffert werden kann, wo es sie noch gibt – wenn nicht irgendetwas geschieht. Und siehe da! Es geschah etwas: Ministerpräsident Putin flog persönlich ein und verdonnerte den Eigentümer der Zementwerke von Pikaljéwo – wie der Zufall will z. Zt. der reichste Oligarch Russlands – die Löhne sofort nachzuzahlen und ab sofort die Produktion wieder aufzunehmen. Ein mediales Signal, versteht sich! In Russland heißt es dazu: „Kommt der Barin aus Moskau, dann laufen die Dinge“. Manch westlicher Politiker wünscht sich wohl heimlich, dass so etwas auch bei uns möglich wäre. Solche Vorgänge dürften allerdings eine russische Besonderheit bleiben.
Darüber hinaus ist anzumerken, dass der Auftritt zwar Gehorsams-Energien mobilisiert und insofern auch Beispielfunktion haben könnte, dass er ökonomisch allerdings gar nichts löst. Er verschärft vielmehr die Krise, wenn Putin nicht auch gleich dafür sorgt, dass die wieder in Gang gesetzte Produktion auch ihren „Markt“ findet.
Hier wird das Wesen der gegenwärtigen Krise sichtbar: Produktion nicht um des Bedarfes willen, sondern für den Profit und Vermarktung dieses vom Bedarf losgelösten Profites als Spekulationsware führte zu der unvermeidlichen Konsequenz einer künstlichen Ankurbelung des Konsums durch inflationäre Kredite. Der Zusammenbruch dieses künstlichen Wachstumsgebäudes hinterlässt den Verbraucher als Opfer.
Mit diesem Gesicht der Krise unterscheidet sich Russland heute nicht vom Westen. Aber ein entscheidender Unterschied kommt dem Besucher schon in Moskau entgegen, wenn der erste Taxifahrer, den er nach seiner Sicht auf die Krise befragt, lapidar antwortet: “Was heiß hier Krise? Kennen wir doch; Kartoffeln haben wir immer.“
Aus dieser Antwort spricht selbstverständlich eine sehr konservative Haltung, die aus der Erfahrung des Mangels erwächst; in ihr liegt aber auch die Kraft, die Russland immer wieder befähigt hat, die tiefsten Krisen zu überstehen: Es ist die Kraft der gemeinschaftlichen Selbstversorgung und die Fähigkeit, den Konsum fremder, sprich industrieller Waren auf das Nötigste zu reduzieren. Wenn sich diese Kraft mit dem Impuls der Modernisierung verbindet, Eigenversorgung und Fremdversorgung also eine Symbiose auf dem Niveau heutiger Zivilisation eingingen, wäre dies ein Umgang mit der Krise, der als Botschaft von Russland ausgehen könnte.
Veröffentlicht in: Sympathie-Magazin