Ulaanbaator,
Samstag, 24. August 2002
Von Ulaanbator ist es nur noch eine Tagestour, 600 km, mit der Bahn nach China. Ein Visum ist leicht besorgt: Zwei Stunden Schlange-Stehen vor der chinesischen Botschaft, dreißig Dollar – das ist alles, was an Hürden zu überwinden ist. So leicht ist das also?
Nein, so leicht ist es nicht. Nach dem leichten Auftakt folgt eine Hürde der nächsten: Es beginnt mit den Fahrkarten. Platzkarten für ein Coupé sind nicht zu bekommen. Es gibt nur noch Karten für die „offenen Waggons“. Selbst die erweisen sich als hoffnungslos überfüllt; die Fenster sind trotz glühender Hitze nicht zu öffnen. Auf sechs Plätze kommen acht Menschen. Schon vor der Abfahrt ist die wenige Kleidung, die man trotz der Hitze anstandshalber noch tragen muß, bereits durchgeschwitzt. Männer sitzen mit nacktem Oberkörper, Frauen fächeln sich Luft unter die Blusen.
Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt, wird an der weiter steigenden Hitze und den Staubwolken, die den Zug begleiten, klar: Der Weg führt von Ulaanbaator geradewegs durch die GOBI. Selbst nachts ist vor Hitze an Schlaf nicht zu denken.
Morgens früh um sechs erreicht der Zug den mongolischen Grenzort Saming Ud, was soviel heißt wie Grenztor oder Zolltor. Der Ort liegt mitten in der Wüste Gobi und ist das Tor der Mongolei nach China.
Saming Ud – das ist das Bahnhofsgebäude, darum herum ein paar eingezäunte Höfe mit Jurten. In Saming Ud endet die Fahrt des mongolischen Zuges. Jenseits der Grenze, schon auf chinesischem Staatsgebiet, liegt Ereen. Zwischen Saming Ud und Ereen müssen alle Passagiere umsteigen, um per Bahn, Bus oder in Jeeps die Grenze zu überqueren. Hektik entsteht. Jeder will der Erste sein. Auf der chinesischen Seite der Grenze staut sich die Kolonne mongolischer Jeeps, Busse; dann kommt auch noch der Zug. Alle stehen in glühender Hitze auf freier Steppe.
Mittags machen die chinesischen Grenzer zwei Stunden Pause. Nur chinesische Wagen werden durchgewunken. Antichinesische Ressentiments werden laut. Man schimpft über die schikanösen Kontrollen, über den Hochmut, über die Menschenfeindlichkeit der Chinesen, bei der der einzelne Mensch nicht zähle, über den „Gestank“, der aus der GOBI in die Mongolei hineinwehe. Überhaupt sei der „chinesische Geruch“ für Mongolen nicht aushaltbar. Man schwärmt von der schönen, freien Mongolei. Mentalitäten treffen hier aufeinander. Es ist offensichtlich, daß die Reisenden nur widerwillig die Grenze passieren. Warum tun sie es also? Warum nehmen so viele Menschen diese Fahrt durch die Gobi, die Hektik dieser Kontrollen auf sich? Und das, wie ich höre, jeden Tag?
Es geht um den Grenzhandel, erklären meine Begleiter. In Ereen kann man billig einkaufen. Die Hektik erkläre sich aus der Tatsache, daß diejenigen die besten Chancen hätten, die zuerst in Ereen ankämen.
Am späten Nachmittag, als wir selbst endlich Ereen erreichen, wird die ganze Szene mit einem Schlage klar: Die Stadt ist ein einziger Marktplatz. Anfang der 90er Jahre lebten in Ereen 6 – 7000 Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen; heute leben dort über 80.000, Tendenz steigend. Buchstäblich an jeder Ecke wird gebaut. Ereen lebt und wächst vom Grenzhandel mit der Mongolei.
Altes China – Fahrradrikschas und jämmerliche Armut barfüßiger und halbnackt herumlaufender Menschen, die in elenden, nicht kanalisierten stinkenden Hütten hausen – und modernste Architektur nach westlichem Muster prallen hier brutal aufeinander. Das Alte wird gnadenlos abgerissen, die Entstehung des Neuen kann man von Tag zu Tag beobachten. Meine mongolischen Begleiter sind fasziniert und abgestoßen zugleich von der Geschwindigkeit dieses Wachstums. „Sie verstehen zu bauen, die Chinesen“, sagen sie, „aber wenn wir sie ins Land holen, werden sie uns verschlucken.“
In Ereen, das begreift man innerhalb von wenigen Minuten, hört die westliche Welt auf. Keine russische, keine mongolische Verlängerung dieser Welt reicht bis in diesen Ort. Hier gelten nur noch zwei Werte: Der eine ist der gnadenlose Handel mit Billigware jeglicher Art, die hier aus allen Teilen Chinas angeliefert und von mongolischen Kleinhändlern im täglichen Grenzverkehr in die Mongolei und von dort nach Russland geschafft wird. Als Zwischenhändler und Vermittler nomadisieren die mongolischen Händler zwischen einem von Waren strotzenden China auf der einen und einem darbenden Russland auf der anderen Seite ihrer Staatsgrenze.
Das zweite, was in Ereen zählt, ist China: In Ereen wird nicht mehr Russisch gesprochen, auch nicht englisch, französich oder sonst eine westliche Sprache. Internationale Begriffe sind hier nicht bekannt. In Ereen wird Chinesisch gesprochen. Zahlen werden nicht an den Fingern abgezählt, sondern in Gesten dargestellt. Selbst Mongolisch ist kaum noch zu hören, obwohl Ereen auf den Handel mit den Mongolen angewiesen ist und zudem zur „Autonomen Republik der Inneren Mongolei“ gehört, die verfassungsgemäß über eine eigene Sprachhoheit verfügt.
In Ereen wird zudem weder russisch, noch mongolisch oder sonst irgendwie westlich gekocht und gegessen, in Ereen gibt es ausschließlich chinesische Küche. Unübersehbar ist in diesem Zusammenhang auch der Ursprung mongolischer Ressentiments: Wer jemals chinesischen Reisschnaps getrunken hat, gewinnt vielleicht eine Vorstellung von den Gerüchen, die von dieser Stadt ausgehen.
In Ereen kann es einem passieren, daß jemand lächelnd auf einen zukommt, prüfend den nackten Arm oder das Gesicht betastet, um sich ein Bild von der Andersartigkeit dieses wunderlichen Ausländers zu machen.
Kurz gesagt: In Ereen endet nicht nur sprachlich die westliche, die russische und schließlich die russisch-mongolische Welt, hier endet auch der Geltungsbereich westlicher Mentalität und Psychologie. Gleichzeitig entsteht hier eine Art von aggressivem industriellem Modernismus, die über den im Westen bekannte weit hinausgeht. In Ereen, so scheint es, entsteht die Welt neu.
Was in der Grenzstadt Ereen als Ausnahme erscheint, zeigt sich in der Provinzhauptstadt der Inneren Mongolei, ChuChot als Regel: Auch diese Stadt boomt; gnadenlos wird die Altstadt niedergerissen und durch moderne Wohnblocks ersetzt, um Raum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen, deren Zahl die 2,5 Millionen bald überschreitet.
Aber es ist nicht die mongolische Bevölkerung, die wächst, es sind vor allem aus dem Inneren Chinas hinzuziehende Chinesen. Nur noch 20% der Bevölkerung der ehemals mongolischen Stadt ChuChot sind Mongolen der Inneren Mongolei. Auch für ChuChot gilt: Chinas moderne Welt ist nicht westlich, auch nicht multikulturell, sie ist chinesisch. Wie lange die in China lebenden Minoritäten sich diesem Prozess beugen, ist eine offene Frage. Sie wird zur Zeit aber nur hinter verschlossenen Türen diskutiert. Zu groß ist, bei aller wirtschaftlichen Freiheit, die man für sich in Anspruch nimmt, die Angst vor möglichen Repressionen.
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