Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

 

Moskau soll wieder das 3. Rom werden, das wünschen die einen, St. Peterburg wieder das Fenster zum Westen, so hoffen es die anderen. Der Einzug des gebürtigen St. Petersburgers Wladimir Putin in den Kreml verschärfte diese Konstellation zur Konkurrenz zwischen einer offiziellen und einer inoffiziellen Hauptstadt.
In Tatarstan, der automen Republik an der Wolga mit der stärksten ethnischen Minderheit, zudem islamisch, tritt noch ein drittes Element hinzu: Kasan, die Hauptstadt der Republik, sähen viele Tataren, selbst viele Russen Tatarstans gerne als dritte Hauptstadt des Landes. Sie soll den Osten mit dem Westen verbinden, die Tradition der „Goldenen Horde“, aus der das ehemalige Chanat Kasan hervorging, mit dem russischen und europäischen Westen. Kasan, kurz gesagt, versteht sich als das eigentliche euroasiatische Zentrum.
Der Präsident Tatarstans, Mentimer Schamijew orientiert seine Politik mehr als andere Republikpräsidenten an westlichen Reformvorgaben – und ließ den Aufbau von über 1000 Moscheen in den letzten zehn Jahren mit türkischer und arabischer Hilfe finanzieren. Der von der Staatsduma soeben freigegebene Handel mit landwirtschaftlich genutztem Boden zum Beispiel, wurde in Tatarstan bereits vor mehreren Jahren als eigenes Modell beschlossen – konnte allerdings wegen mangelnder Ausführungsbestimmungen nicht durchgeführt werden.
Tatarstan konnte sich unter Jelzin zum Vorreiter innerrussischer Souveränitätsbewegungen entwickeln. Wirtschaftlich, politisch und kulturell erkämpfte es sich Rechte, die ihm weitgehende Unabhängigkeit von Moskau gaben. Raschid Jakimow, politischer Berater des tatarischen Präsidenten, wurde Initiator einer Bewegung für den föderalen Aufbau. Unter seiner Initiative wurde Kasan als Sitz des Föderationssowjets vorgeschlagen.
Beim Vorschlag blieb es allerdings: Wladimir Putin hat es geschafft, Tatarstans neuen Sonderstatus weitgehend wieder einzuschränken. Heute muss Tatarstan seine wirtschaftlichen Überschüsse, besonders die aus seiner reichen Ölförderung, wieder an Moskau abführen; Präsident Schamijew musste sich öffentlich dem Moskauer Inlandgeheimdienst (FSB) und den von Putin eingesetzten, die Republiken übergreifenden Administratoren unterordnen.
„Eine unsinnige Maßnahme“, nennt Raschid Jakimow diese Entwicklung, „die neue Verwaltung hat keine Ahnung von den konkreten Problemen des Landes. Wenn es um ernste Fragen geht, muss der Kreml so oder so mit uns, der Landesregierung verhandeln. Ergebnis ist nur eine weitere Aufblähung der Bürokratie, welche die Entwicklung bremst.“ „Putinitza“, nennt Jakimow das neue Regime Putins mit einem Wortspiel, die reine Verwirrung.
Der letzte Akt dieses Stückes, gerade vor einem Monat gegeben, ist der Beschluss der Moskauer Staatsduma, dass hinfort in Russland nur noch eine Schrift erlaubt sei – kyrillisch, weil andernfalls, so die Begründung, die Sicherheit Russlands gefährdet sei. Raschid Jakimow gibt sich sarkastisch, als er von dieser neuesten Wendung berichtet. Aber faktisch ist damit der Plan Tatarstans, zur lateinischen Schrift überzugehen und sich somit für den außerrussischen islamisch-türkischen Raum zu öffnen,, gestoppt. Wladimir Putin hat vorerst sein Ziel erreicht, keinen Islamischen Stoßkeil im Herzen Russlands zu dulden, der den tschetschenischen Impuls weiter nach Russland hineintragen könnte.
Aller Tage Abend ist damit jedoch für die Freunde des Föderalismus noch nicht: Von einer dritten Hauptstadt Kasan, in der sich der Föderationssowjet niederlassen könnte, ist zur Zeit zwar nicht mehr die Rede. Dafür, so Raschid Jakimow, breite sich nun aber in der russischen Föderation das – ebenfalls aus der Denkschule Kasans stammende – Stichwort der Subsidiarität aus, das den föderalistischen Gedanken nur in anderer Form weiter transportiere.
Nicht so verhalten klingt das Echo auf Putins Rezentralisierung aus den Kreisen der „nationalen Bewegung Tatarstans“. Schon fast vergessene Träume einer Union der nicht-russischen Völker des Wolga-Uralraumes werden wieder wach. Von der Bildung eines Euroasiatischen Völkerbundes ist die Rede. Stark setzt man sich allerdings gegen Alexander Dugin ab, der Euroasien von China bis Europa, Schweden bis Indien unter der Führung Moskaus gegen Amerika vereinigen will. Man träumt vielmehr von drei Völkerbünden, einem kaukasischen, einem sibirischen und dem Wolga-Ural-Bund, die miteinander die Grundlage für eine föderative Ordnung Euroasiens bilden sollen, zu der auch das europäische Russland und die Länder der GUS gehören. Die Vereinigung der Völker des Wolga-Ural-Raumes würde nach diesen Vorstellungen die Tataren, die Tschuwaschen, die Baschkiren, die Utmurten, Moldawier und die Mari umfassen, eben jene Völker, die mit den Hunnen, später mit den Mongolen nach Westen gezogen und dort an der Wolga heimisch geworden sind. Von hier aus, heißt es, seien immer die entscheidenden Impulse zu Veränderungen in Russland ausgegangen. Als vereinigendes Band gilt die Zugehörigkeit der meisten dieser Völker zum Islam und – soweit das wie bei den Tschuwaschen nicht zutrifft – zum turk-tatarischen Sprachraum. Darüber hinaus handelt es sich bei der Mehrheit der Völker, einschließlich der sibirischen und kaukasischen um Angehörige ehemaliger, in einigen Fällen auch noch heute lebendiger nomadischer Kulturen.
Auch wenn klar ist, dass keines dieser größeren oder kleineren Völker heute außerhalb des russischen Zusammenhanges existieren könnte, auch nicht unter Führung eines unabhängigen Tatarstan, Wolga-stan oder wie immer, so ist doch klar, dass die Entwicklung der neuen russischen Staatlichkeit nicht an diesen Völkern vorbeigehen kann. Das gibt der offiziellen tatarischen Politik den Druck von unten, den sie braucht, um Moskau gegenüber zu bestehen und macht Tatarstan zum natürlichen Führer im Kampf um die Föderalisierung Russlands.

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