Vertreter der deutschen Wirtschaft in Moskau sollen sich die Haare gerauft haben, als nach dem Aufkochen der lange „eingefrorenen“ kaukasischen Konflikte auf dem Krisengipfel der EU Anfang September das Wort „Sanktionen“ im Raum stand. Der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Jürgen Thuman erklärte: „Überlegungen, Russland mit Sanktionen unter Druck zu setzen oder Verhandlungen oder Verhandlungen zum WTO-Beitritt und zum Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU zu stoppen, führen in die falsche Richtung.“
Nichts scheint zusammen zu passen: Während in den Führungsetagen der USA und des „atlantischen Bündnisses“ nach dem russischen Eingreifen in Georgien laut über den Ausschluss Russlands aus dem Kreis der G8, der WTO und sogar der Vereinten Nationen nachgedacht, in der NATO gar demonstrative „Strafmaßnahmen“ praktiziert wurden, setzte der österreichische Öl- und Gasverbund OMV seine Verhandlungen mit Gazprom über die Beteiligung Österreichs an der „South Stream“-Pipeline fort, durch die Russland und die EU im Energieverbund näher aneinander heranrücken, Der Baubeginn von „North Stream“, besser bekannt als Ostsee-Gas-Pipeline steht ohnehin vor der Tür.
Forderungen nach wirtschaftlicher Kooperation mit Russland, nach eurasischer Energiesicherheit, nach einer „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“ stehen einer Medienkampagne gegenüber, die Russland nur noch mit Panzern, Imperialismus oder gar Faschismus assoziiert.
Russlands Präsident Medwjedew erklärt indes, sein Land sei selbstverständlich nicht an einem Bruch mit der EU gelegen, habe auch kein Interesse an einer Besetzung des Kaukasus, sondern wünsche sich eine internationale Kontrolle des Gebietes unter Führung der KSZE oder der UNO. Wenn nötig, sei man allerdings bereit und auch in der Lage sich anders zu orientieren.
Im Ergebnis beließ die EU es seit ihrem Krisengipfel dabei die „territoriale Integrität“ Georgiens zu betonen. Die USA begrüßten die Beschlüsse des Gipfels, die NATO verspricht Hilfe zum Wiederaufbau Georgiens, Zusicherung für dessen zukünftige Mitgliedschaft im Bündnis jedoch gibt sie nicht.
Verständlich werden all diese widersprüchlichen Signale nur, wenn man sich die langen Linien vor Augen führt, die sich seit dem Ende der Sowjetunion durch das Dickicht der globalen Neuordnung ziehen. Da sind zunächst die USA: Ihre Strategen glaubten als „einzige Weltmacht“, und nicht nur das, sondern auch als einzige zukunftsfähige Alternative aus dem „Kalten Krieg“ hervorgegangen zu sein. Man lese dazu das nach wie vor höchst aktuelle Buch Sbigniew Brzezinskis.
Zur Wahrnemung ihrer historischen Aufgabe, so Brzezinski, müssten die USA die Wiederentstehung anderer führender Kräfte, vor allem auf dem eurasischen Kontinent als dem territorialen Zentrum der Welt, im Keim unterbinden. Systematische politische Interventionen der USA auf dem Eurasischen Kontinent waren und sind politischer Ausdruck dieser Strategie. Sie stützt sich auf die EU und auf Japan als „Brückenköpfe“ im Westen und im Osten des eurasischen Raumes sowie auf die „Stabilisierung“ des „eurasischen Balkans“ vom Süden her. Darunter versteht Brzezinski Zentralasien und den Kaukasus.
Nach 15 Jahren und drei Präsidenten – Bush I, Clinton, Bush II – müssen die führenden Strategen der USA jedoch feststellen, dass die USA sich übernommen haben. Auch hierzu wieder Brzezinski, der in einem neuen Buch Bilanz aus 15 Jahren US-Politik zieht: Anders als erhofft haben sich die US-Kräfte im südlichen Interventionsabschnitt Eurasiens festgefahren. Was den USA Einfallstore durch den Sperrgürtel öffnen sollte, den China, Afghanistan, Iran und Irak für ein Eindringen in den Süden Eurasiens bilden, verkehrte sich nach schnellen Anfangserfolgen über die Taliban und über Saddam Hussein zu lang andauernden Kriegen, in denen die USA militärisch und moralisch versanken, während China, EU und auch Russland im Schatten dieser Situation an Kraft gewannen und sich auch außerhalb Eurasiens neue Kräfte bündeln.
Zentraler Konfliktraum, in dem die neuen globalen Interessenlinien sich jetzt kreuzen, ist die von den Geo- und Energiepolitikern so getaufte „strategische Ellipse“. Sie umfasst den „eurasischen Balkan“, konkret, die Räume nördlich und südlich des Kaukasus, in deren Mitte die Bergketten des Kaukasus eine Schwelle bilden, welche die afrikanische von der eurasischen Landmasse trennt – bzw. sie miteinander verbindet. Für die USA ist der Kaukasus jedenfalls zur Zeit der einzige verbliebene südliche Zugang nach Eurasien.
80% der heute verfügbaren fossilen Ressourcen lagern im Bereich der „strategischen Ellipse“. Gut die Hälfte davon liegt im südlichen Einzugsbereich – Arabien, Irak, Iran. Im Norden umfasst sie die Ölfelder Azerbeidschans, Russlands, Kasachstans und Turkmenistans, öffnet sich für die Zugänge zu sibirischem Gas und Öl. Nach dem Ende der Sowjetunion galt den Westmächten dieser Raum als „Machtvacuum“. Eine Neuaufteilung der Einflusssphären schien möglich, wenn es gelänge, das bis dahin bestehende Förder- und Transportmonopol Moskaus für Öl und Gas zu brechen.
Seit 1990 forcierten die USA daher die Erschließung des Raumes entlang eines „Transportkorridores“, der Öl und Gas in neuen Pipelines unter Umgehung Russlands, sozusagen an seinem Bauch entlang über die kaspische Schwelle nach Westen transportieren könnte. In einem Zug sollten so auch zugleich Iran und China außen vor gehalten und das Monopol der arabischen Staaten gebrochen werden. Demokratisierung der fossilen Weltressourcen, etwas sachlicher ausgedrückt, Diversifikation lautete das politische Zauberwort, mit dem diese Strategie verkauft werden sollte.
Herausragendes Ergebnis war der Bau der Pipeline vom azerbeidschanischen Baku über das georgische Tiblissi nach Ceyhan an der türkischen Küste des Mittelmeeres, nach den Städtenamen kurz BTC-Linie getauft. Sie ist seit 2005 in Betrieb. Die Europäische Union folgte mit dem Plan der sog. Nabuco-Pipeline, die zentralasiatisches und kaukasisches Gas, ebenfalls unter Umgehung Russlands durch die Türkei über Bulgarien, Ungarn mit Endpunkt in Österreich direkt nach Europa schaffen soll. Ihre – von den US-Think-Tanks wie der Heridage Foundation und anderen – immer wieder formulierte Aufgabe ist, die EU von Russland unabhängig zu machen. Dahinter steht das Ziel, die EU als „Brückenkopf“ zu erhalten.
Seit Wladimir Putin 2004 mit der Zerschlagung von Yukos die Übernahme des russischen Ölmarktes durch US-Konzerne stoppte, hat sich der Wind gedreht. Mit „North Stream“ entstand 2005 ein deutsch-russisches Projekt, das die Verbindung zwischen Russland als Gaslieferanten und Deutschland und von Deutschland aus mit der EU langfristig vertiefen wird. Mit „South Stream“ kommt seit Mitte 2007 das südliche Pendant dazu, mit dem Gasprom den Nabuco-Plänen unmittelbare Konkurrenz macht. Die Mitglieder der EU Bulgarien, Ungarn, Österreich schlossen seit 2007 nacheinander Einzelverträge mit Gazprom als Betreiber der „South Stream“ ab, statt in „atlantischer Solidarität“ auf die Fertigstellung des Nabuco-Linie zu orientieren, die ebenfalls über ihre Territorien führen soll.
Während mit den Bauabschnitten zur „South Stream“ schon begonnen wurde, liegt das Nabuco-Projekt noch in der Planung. Im Mai 2007 zwischen Gazprom und Turkmenistan abgeschlossene Verträge, turkmenisches Gas in Zukunft über bereits bestehende russische Leitungen an Gasprom zu verkaufen, statt auf die Inbetriebnahme einer im Zusammenhang mit Nabuco projektierten Unterwasser Pipeline durch das Kaspische Meeer zu warten, bilden den aktuellen Abschluss dieser Entwicklung.
Ohne turkmenisches Gas ist Nabuco jedoch nicht mehr gewinnbringend zu betreiben. Damit ist der Versuch der USA, die EU von russischer Energieversorgung unabhängig zu machen, um sie als westlichen „Brückenkopf“ für die Beherrschung Eurasiens zu erhalten, vorerst gescheitert. Es entsteht ein eurasischer Energieverbund mit einem wieder erstarkten Russland als Zentrum für die Gas- und Ölversorgung, in dem umgekehrt die EU, speziell Deutschland der wichtigste Handelspartner Russlands ist. Das ist eine Tatsache, der sich europäische, wie auch US-amerikanische Politik zu stellen hat. Forderungen nach „Sanktionen“ gegen Russland sind vor diesem Hintergrund bestenfalls Gesten, die den Zweck haben, den „atlantischen Partner“ zu beruhigen, um ihn nicht ganz zu vergraulen, wenn sie nicht schlicht Ressentiments aus unbewältigter Geschichte sind. Dem gleichen Muster folgt die Propaganda, die Russland ökonomisch umwirbt, aber politisch und moralisch klein halten will. Die Frage ist allein, ob die USA sich mit solchen Gesten abspeisen lassen. Zur Zeit hält man sich in diplomatischen Floskeln. Nach der Wahl wird man es sehen.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Sbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer 1997
Sbigniew Brzezinski, The second chance (englisch), basisic books, New York, 2007