Annmerkungen zu Karl Heinz Roth:
Stichworte „neue Proletarität“ und „Toyotisierung“
Lieber Karl-Heinz Roth,
mit größtem Interesse habe ich die Kurzfassung Deines Referates vom „konkret“-Kongress im „ak“ gelesen. Die Stichworte „neue Proletarität“ und „Toyotisierung“ treffen sich mit Aspekten, auf die ich bei meinen Untersuchungen in der ehemaligen UdSSR gestoßen bin.
Verstehen wir die ehemalige Sowjetunion als das größte Taylorisierungs-Experiment der Weltgeschichte mit der am extremsten vorangetriebenen Zerstückelung der Produktion und Isolierung ihrer Teilarbeiter, bzw. Teilarbeiterinnen auf Grundlage des in den Formen des Moskau-Zentralismus am totalsten entwickelten Etatismus – so ist der Zusammenbruch dieses Systems natürlich mehr als nur ein Zufall und mehr als nur ein Ereignis unter vielen anderen: Er ist Ausdruck der Überlebtheit des Taylorismus als Entwicklungsprinzip.
Du hast in Deinem Referat den Toyotismus ins Bewußtsein gerückt, der den Taylorismus weltweit als neues Organisations- und Entwicklungsprinzip des Kapitals abzulösen und neue Formen der Proletarisierung zu entwickeln beginne. Dem ist in der Kürze von meiner Seite nichts hinzuzufügen! Nachhaltiger als Du es angedeutet hast, muß aber wohl herausgestellt werden, daß der offene und rasante Zusammenbruch der Sowjetunion dem Toyotismus als neuem Entwicklungsprinzip nunmehr endgültig freies Feld überläßt. Allzu offensichtlich wurde und wird immer noch vor aller Augen demonstriert, zu welchen katastrophalen Folgen der zum Staats- und Lebensprinzip erhobene Taylorismus geführt hat – zu einem mono-industrialisierten, zentralisierten Arbeitsregime, dessen Überzentralisierung die Entpersönlichung des Einzelnen (Schräubchen-Mentalität) und die Unterentwicklung, bzw. einseitige Entwicklung der Landesteile, kleineren Städte und nicht zuletzt der Dörfer nicht nur zur Voraussetzung hatte, sondern die Arbeitsteilung derart ins Extrem trieb, daß der Mechanismus schließlich in der unvermeidlichen – und was schlimmer ist – in vielen Fällen irreversiblen Katastrophe endete, bzw. noch zu enden droht.
Dabei entsteht in der Post-Sowjetunion (und ihren ehemaligen Bündniszonen) die Frage, ob aus den zusammenbrechenden etatistischen Strukturen selbst so etwas wie eine Alternative zum Taylorismus hervorgehen kann. Die neo-liberalen Privatisierungstrategien der IWF/Weltbank und Treuhand sind zum Scheitern verurteilt, bzw. schon jetzt offfensichtlich gescheitert – gemessen an dem vorgeblichen Ziel der „Entwicklungshilfe“. Kann unter diesen Umständen eine alternative Privatisierungsstrategie entstehen, die den Elementen eines Neo-Liberalismus, Neo-Taylorismus oder wie immer wir es bezeichnen wollen eine „ganzheitliche“, eine „kollektive“, eine „team-orientierte“, also in den Begriffen Deines Referates eine „toyotisierte“ Arbeitsproduktion entgegenstellt?
Die linke Debatte in der Post-Sowjetunion hat diesen Ansatz. Er ist allerdings noch sehr marginal. Er zerfällt zudem schon in den ersten Annäherungen in den Aspekt der Wiederbelebung staatkollektivistischer, korporativistischer Lenkungsstrukturen – tendenziell sogar faschistischer Staatsvorstellungen – zum einen und der Entwicklung neuer selbstbestimmer kooperativ organisierter Kollektive zum anderen.
Dieser Widerspruch ist ja auch am Ende Deiner Ausführungen angelegt: Du befürwortest die Bildung neuer proletarischer Zirkel – aber selbstverständlich nicht im Rahmen der bekannten staatssozialistischen Organisationsvorstellungen. Einverstanden! Notwendig wäre also die Entwicklung selbstbestimmer Kollektive von unten! Unter dieser Begrifflichkeit habe ich in meinen letzten Arbeiten für denselben Gedanken plädiert. Anders gesagt, der Zusammenbruch des verstaatlichten Kollektivismus führt uns historisch vor die Chance und die Notwendigkeit, das Kollektiv als Arbeits- und Lebenseinheit von unten wieder zu erobern, so wie uns der Zusammenbruch des verstaatlichten Sozialismus genereller vor die Aufgabe führt, den eigenen Standort im Klassengeschehen neu zu finden und soziales Handeln daraus selbst neu zu bestimmen. Ich bin weitgehend einverstanden mit Deiner Beschreibung der „neuen Proletarität“. Die sozialen Differenzierung in der Sowjetunion und den ehemals sozialistischen Ländern sprechen ja eine mehr als deutliche Sprache – allerdings ihrerseits noch einmal zu differenzieren nach historischen, nationalen und kulturellen Aspekten. Linke Analytiker wie Boris Kagarlitzky und andere von der „Partei der Arbeit“, aber auch Liberale wie Andranik Migranjan und andere sehen die Entwicklung. Aus ihren Beschreibungen der Prozesse läßt sich vermutlich über Einsichten in die konkreten Probleme der Post-Sowjetunion hinaus einiges für die Erkenntnis der Gesamtentwicklung unserer heutigen Welt gewinnen.
Sind aber die Menschen, die jetzt aus der Phase des staats- also fremdbestimmten Kollektivismus, des etatistischen Super-Zentralismus heraustreten, praktisch oder gar in großer Zahl in der Lage und bereit, diesen notwendigen Schritt in einen von unten neu entwickelten und selbstbestimmten Kollektivismus zu tun? Das ist eine andere Frage. Es besteht ja durchaus die Gefahr, daß sie angesichts des Zerbrechens der alten Strukturen, an deren Stelle neue nicht erkennbar sind, in ihrer Hilflosigkeit trotz aller negativen Erfahrungen auf die gewohnten staatskollektivistischen Formen zurückgreifen, daß also nicht kooperativer, sondern korporativistischer Kollektivmus (wieder)belebt wird.
Hier ist die Brücke zum „Toyotismus“. Nicht von ungefähr erfreut sich das „japanische Modell“ in der Post-Union zunehmender Beliebtheit.
Für mich ist klar, daß wir mit der post-sowjetischen (Neu)Linken in den Dialog eintreten müssen, wenn wir neue Perspektiven entwickeln wollen.
Im Mittelpunkt sehe ich zwei Komplexe:
– die Analyse und Debatte der „großen Privatisierung“, ihrer Voraussetzungen und ihrer Ergebnisse – Differenzierung und allgemeine Proletarisierung der nach-tayloristischen Industriegesellschaft.
– die Analyse und Debatte der alternativen Formen der Privatisierung, in denen der historisch gewachsene russische Kollektivismus sich mit der Privatisierung zu einem neuen, eigenen Weg verbinden könnte.
Generell scheint mir der Übergang aus der Phase der Taylorisierung zu Methoden produktorientierter, an der Gesamtheit des Produktionsprozesses ausgerichteter und den arbeitenden Menschen allseitig im Rahmen eines Kollektivs einbeziehender Arbeitsorganisationen der unvermeidlich anstehende historische Schritt zu sein. Darin liegt aber Chance und Bedrohung zugleich: Die Frage ist, ob diese Entwicklung von oben oder von unten bestimmt wird. Von oben bestimmt, kann sie zu ungeahnten Formen totaler Gesellschaften führen. Von unten bestimmt, kann sie neue emanzipatorische Kräfte freisetzen – allerdings nur, wenn die Gefahren des Rückfalls in staatskollektivistische und staatssozialistische Denk- und Seinsstrukturen erkannt werden. Beide Varianten liegen nah beieinander: In der Zielsetzung, den unvermeidlichen Übergang von der tayloristisch-etatistischen Arbeits-, Lebens- und schließlich Gesellschaftsorganisation zu neuen kollektiven Formen von unten zu bestimmen, bzw. auch der politischen Vermittlung dieser Zielsetzung, die die radikale Kritik des staatssozialistischen Versuchs dieses Weges mit einschließt, scheint mir der Inhalt der „neuen Proletarität“ zu liegen. Für die post-sowjetischen Verhältnisse formuliert: Welche Rolle spielt die Tradition der „obschtschina“, der alten russischen Dorfgemeinschaft, also des traditionellen russischen Kollektivivismus, für den Transformationsprozess des Staatssozialismus zu neuen Formen der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens? Läuft sie in einseitigem Rückgriff auf die in ihr enthaltenen korporativistischen Elemente quer zur allgemeinen Proletarisierung, insbesondere aber deren bewußter Wahrnehmung oder kann sie sich mit Rückgriffen auf die darin enthaltenen kooperativen, emanzipatorischen, zum Teil auch anarchischen Elemente zu einer Kraft der Erneuerung von unten verbinden?
Ich wünsche mir sehr, daß wir diese Fragen an Hand von konkretem Material tiefer diskutieren und so der linken Verzweiflung ein wenig beikommen können. Die Gefahren, daß „Toyotismus“ von oben und nicht selbstbestimmter Kooperativismus von unten den Gang der weiteren Entwicklung bestimmt, sind nach der historischen Diskreditierung staatskollektivistischer Gesellschaften, insbesondere des Staatssozialismus groß. Es bleibt aber keine Wahl, als durch die radikale Kritik des Staatssozialismus und der Analyse seiner Zerfallsformen mindestens den Versuch zu machen, das, was entstehen könnte, herauszuarbeiten.
In der Hoffnung auf eine nicht allzulange ausbleibende Antwort,
Mit freundlichen Grüßen
(Kai Ehlers)