1) Der Zerfall des Staatssozialismus ist gleichbedeutend mit der Krise des bisherigen kollektiven Selbstverständnisses der Menschheit. Er führt zu einer Brutalisierung der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen bis in den letzten Winkel der Welt und konfrontiert die Menschen derart mit der Notwendigkeit, soziales Verhalten individuell neu zu bestimmen.
2) Der Staatssozialismus war eine Enteignung des natürlichen Kollektivismus im Namen des Menschheitsfortschritts, der sozialen Gerechtigkeit und höheren Moral. Der „homo sowjeticus“ sollte den „homo faber“ moralisch, ethisch und sozial überflügeln. Faktisch hat der Staatssozialismus zur Entwürdigung und Entrechtung des Menschen geführt.
3) Als Alternative wird vom Westen eine Neuauflage des Liberalismus angeboten, obwohl er hier schon lange durch umfassende Steuerungssysteme eingegrenzt ist. Was prinzipiell schon von Anfang an klar war, zeigt sich inzwischen in den konkreten Ergebnissen der Reformen realsozialistischer Systeme überall auf der Welt, allen voran in ihrem Kern, der früheren Sowjetunion: Die weltweite Entwicklung der Industrie- und Massengesellschaft, ihrer Normen und der aus ihr für den Bestand des Globus resultierenden Gefahren lässt Liberalismus auch als Krisenlösung für den sich wandelnden Realsozialismus nicht mehr zu.
4) Die Alternative kann nur ein privatisierter Kollektivismus sein, der der Gleichmacherei von oben, die föderative Gemeinschaft selbstbestimmter Kollektive von unten entgegensetzt – und so einen Schritt über das bisherige Entweder-Oder von Kollektivismus oder Liberalismus hinaussetzt. Im Konkreten bedeutet das: es müssen alternative Formen der Privatisierung gefunden werden, die das Privateigentum innerhalb der kollektiven Strukturen entwickeln, statt die kollektiven Strukturen alternativlos zu liquidieren. Umgekehrt gilt, dass auf der Basis der privateigentümlich organisierten Gesellschaft westlicher Prägung kollektive Formen des Privateigentums entwickelt werden müssen.
5) Eine solche Umwandlung geschieht aber nicht automatisch. Wenn dem Zerfall des Staatskollektivismus nicht mit bewusst vorgebrachten Alternativen begegnen wird, birgt er die Gefahr der Rückkehr zu Ersatzkollektiven rassistischer, nationalistischer und fundamentalistischer Prägung, die sich nach Außen abschließen und nach innen ihre Minderheiten unterdrücken.
6) Dies alles bedeutet, dass die herrschenden Wertevorstellungen unserer heutigen industriellen Welt von Grund auf in Frage gestellt sind. Das gilt für ihre staatskollektivistische wie auch für ihre privatwirtschaftliche Variante. In Frage gestellt sind auch fundamentalistische Alternativen zur Massengesellschaft, also solche rassistischer, nationalistischer oder religiöser Art. Indem sie der verabsolutierten Gleichheitsideologie die verabsolutierte Ungleichheit entgegensetzen, führen sie nur zu einer Vervielfältigung und Verschärfung der Konflikte auf breiterer und unkontrollierbarer Basis, statt Antworten auf die Frage zu geben, wie das Leben auf dem Globus angesichts der zunehmenden Enge in Zukunft zu organisieren sei.
7) Die Antwort kann aber auch nicht darin liegen, ein bestimmtes Modell der gesellschaftlichen Organisation für allgemein verbindlich zu erklären, vielleicht gar mit Gedealt durchzusetzen. Verbindlich können nur die Modelle der zwischenstaatlichen Konfliktregulierung sein. Im Übrigen müssen die einzelnen Staaten in ihrer inneren Organisation den Besonderheiten ihrer Geschichte und konkreten Gegebenheiten Rechnung tragen. Allgemeine Verbindlichkeit kann nur aus der Schaffung einer neuen Moral, einer neuen Ethik – eben der Ethik des selbstbestimmten Kollektivs entstehen, das sich als Teil des ökologischen Ganzen begreift. Diese Ethik herauszuarbeiten, hervorzubringen und die Entwicklung vor dem Abgleiten in organisatorische und fundamentalistische Scheinlösungen zu bewahren ist unsere heutige Aufgabe.
8) Wenn wir sie nicht lösen, wird die Welt die Krise nicht überstehen, weil sowohl der Rückfall in staatskollektivistische oder in liberalistische wie auch in fundamentalistische Strukturen die sozialen und ökologischen Probleme des Globus nur verschärfen wird.
9) Ein wesentlicher Bestandteil des Kampfes für die Entwicklung der neuen Ethik wird in dem Bemühen bestehen, in den Umbrüchen, Konflikten und selbst den Kriegen die Keime der Selbstbestimmung wie auch die Möglichkeiten ihrer Fehlentwicklung herauszuarbeiten, um der Gefahr entgegenzutreten, dass sich die Krise aus bloßer Angst vor der Krise zur Katastrophe eskaliert.
10) Im Besonderen bedeutet das, dass den Menschen der heutigen industriellen Zentren der Welt deutlich gemacht werden muss, dass ein Abrücken von der eurozentristischen, generell von der monozentristischen Weltordnung auch in ihrem und ihrer Kinder Lebensinteresse liegt, weil nur die Entfaltung der Vielfalt unterschiedlicher selbstbestimmter Kräfte das Überleben des Globus ermöglicht. Die Menschen der bisher als Peripherien oder Kolonien definierten Teile der Welt dagegen gilt es mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu ermutigen, sich von kolonialer, imperialer Vorherrschaft zu befreien und ihre Interessen in einem föderativen Verbund freier Staaten selbst zu or