O-Ton 1: Demonstration, Lied                    1, 44
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, nach ca. 10 sec. bei „Woina naraodnaja“ frei stehen lassen, allmählich abblenden, unterlegen, nach Erzähler bei Beginn der Sprache hochziehen, bei 1,25 (Stichwort „pabjedim“) frei stehen lassen, danach allmählich aus¬blenden.
Achtung: Extra Bobby

Erzähler:
Moskau, Vorwahlkampf. Ein neues Parlament, die Staaatsduma, soll am 19. Dezember 1999 gewählt werden, zugleich auch Bürgermeister und Stadträte. Wahlen für einen  neuen Präsi¬denten sind für den Sommer 2000 angesetzt. 29 Parteien werben um Stimmen für ihre Politik. Der jährliche Feiertag zum Gedenken der Revolution von 1917 wurde unter diesen Umständen mehr als ein Traditonstreffen. Er wurde zur Wahlkampfveranstaltung der Kommunistischen Partei Rußlands. Rund 50.000 Menschen brachte sie auf die Beine. Das waren mehr als im letzten Jahr. Unter der Parole „Für das Vaterland! Für den Sieg! Erhebe Dich, du großes Land!“ ruft die Partei zum politischen Wachwechsel auf. Aus dem Zug im Zentrum Moskaus schallt die Parole vielfach zurück. Eine Gruppe besingt den Sieg im Volkskrieg:
<Regie: Zwischendurch hochziehen>

<Erzähler>
„Es ist ein antifaschistisches Kampflied aus der Zeit des Partisanenwiderstandes gegen die Na¬zis“, erklärt der Mann. Es geht darin um den Sieg über den Faschismus. „Auch diesesmal wer¬den wir die die bourgeoise Agression zurückweisen. Wir werden siegen!“ versichert er.
… pabedim…“

O-Ton 2: Demonstration, Platz, Rede Sjuganow                    1,39
Regie: Verblenden mit O-Ton 1 (Beifall, Ankündigung), sodaß er nach dem Erzähler bei 0,30 (Beginn der Rede) frei steht: Kurz frei stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwi¬schendurch (bei Beifallsbekundungen)  leicht aufblenden.

Erzähler:
Auf dem Podium präsentiert sich das gesamte, von den Gegnern der Kommunistischen Partei so genannte, „rot-braune Spektrum“. Nur kleinere neostalinistische Gruppen marschieren heute und kandidieren auch in eigenen Blöcken. Die Hauptrede hält, wie immer, Gennadij Sjuganoff, der erste Sekretär der KPRF, der kommunistischen Partei der russischen Föderation:

Regie: Mit Beifall ganz aufblenden, Beginn der Rede kurz stehen lassen, abblenden un¬terlegen.

Erzähler:
„Uwaschai-imi Tawarischtschi…
„Sieg ist die Losung unseres heutigen Feststages,“ erklärt er. „Die Oktoberrevolution – das ist der Sieg der Gerechtigkeit, der Sieg des starken sowjetischen Staates, des Volkes, des gesun¬den Menschenverstandes, das ist der Aufbau eines gewaltigen Industriepotentials, das uns den Sieg über den Faschismus ermöglicht hat, das ist der Aufbruch in den Kosmos, das ist die Ver¬einigung der Völker gegen den kolonialen Imperialismus.“
„Heute sind nicht einmal mehr unsere Häuser sicher“, schließt Sjuganoff, „nachdem Gor¬batschow und Jelzin die Sowjetische Macht verraten haben. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, diesen Kurs zu korrigieren, friedlich und mit demokratischen Mitteln. Wenn das Programm, das die Partei dafür ausgearbeitet hat, verwirklicht wird, dann können wir schon Anfang des nächsten Jahres jedem russischen Menschen ein Minimalgehalt von 5000 Rubel, den Staatsbe¬amten wenigstens 3000 garantieren. Unsere Sache ist gerecht! Für den Sieg! Für das Volk! Für das Vaterland! Der Sieg wird unser sein!“
„…Urra!

Erzähler:
Daß damit keineswegs nur der Wahlsieg gemeint ist, macht Alexander Prachanoff klar, Reprä¬sentant der, wie sie sich selbst nennen, „patriotischen Kräfte“ des Landes. Er beschreibt, wie die gemeinsame Wahlliste mit den Kommunisten Sjuganoffs zustandekam:

O-Ton 3: Alexander Prochanow                        1,00
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Tetschenije ljeta my…
„Im Laufe des Jahres haben wir ein Programm des Sieges entwickelt. Das war eine ziemliche Plackerei, aber jetzt steht es. Es ist eine Philosophie, ja, eine Religion, die den Sieg als Qualität der russischen Geschichte versteht, wie Rußland in jedem Jahrhundert mit ungeheuren Opfern seine Souveränität wiederherstellt und einen strategischen Sieg erringt, vornehmlich über den Westen, aber nicht nur. Im 20. Jahrhundert siegten wir über den Faschismus – es wurde das Jahrhundert des russischen Sieges, des russischen Kommunismus, der sich über die ganze Welt ausbreitete. Wir siegten auch im 19. Jahrhundert – Napolen, Wien, russischer Imperator, russi¬sche Truppen in Paris – Tolstoi, Dostojewski, russische Musik. In das 21. Jahrhundert gehen wir erniedrigt und müssen nun alle Kräfte mobilisieren, um diese historische Ungerechtigkeit zu korrigieren. Diese Sicht ist jetzt Doktrin der KPRF; sie wird zur nationalen Idee werden – eine Synthese aus allen politischen Kräften des Landes. So umgewandelt, wird die kommunisti¬sche Partei zur Partei des Sieges.“
… parti sa pobjeda.“
Erzähler:
Noch deutlicher wird Alexander Dugin. – Von einer Außenseiterposition, die er bei Beginn der Perstroika einnahm, ist Alexander Dugin heute zum Berater im Stab des Dumavorsitzenden Gennadij Selesnjow aufgerückt, der auch jetzt wieder an vorderster Stelle für die Kommunisti¬sche Partei kandidiert. Nicht er habe sich verändert, kommentiert Dugin diese Entwicklung, sondern die Gesellschaft. In der Tat: Die Stimmung im Lande ist heute anders als zu Zeiten der Perestroika: Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich vor allem endlich einmal einen Sieg. Der Wunsch nach Revanche für die Niederlagen und Misserfolge der letzten Jahre ist unüber¬hörbar: für Afghanistan, für den verlorenen Kalten Krieg, für die Verwandlung der, wie sie sich nannte, sozialistischen in eine zu großen Teilen kriminelle Gesellschaft, für das Desaster des er¬sten Krieges in Tschetschenien, für die NATO-Osterweiterung ohne Rücksicht auf russische Vorbehalte, für den als Demütigung empfundene Vorgegen der NATO im Kosovokrieg – und für die als Anmaßung kritisierte Haltung des Westens, der Rußland verwehren wolle, in Tschetschenien das zu tun, was er selbst soeben in Serbien demonstriert habe. Vor diesem Hintergrund wird der Wahlkampf zum „Wettkampf der Patrioten“. Der Patriot des Tages heißt für viele Wladimir Putin, der auf seine Weise in den Wahlkampf eingreift. Der Krieg, den er führen läßt, stellt die patriotischen Beteuerungen aller anderen Politiker in den Schat¬ten.Tagtäglich wird auf allen Kanälen direkt von der Front berichtet.
Widerwillig zollen selbst die schärfsten Kritiker dem Neuen ihr Lob wie etwa Ludmilla Alek¬sejewa. Sie ist die Präsidentin der russischen Helsinki-Gruppen, die sich um die Rechte der tschetschenischen Flüchtlinge kümmern:

O-Ton 4: Ludmilla Aleksejewa                        0,52
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Putin otschen umni…
„Putin ist ein sehr kluger Mann, ein vorzüglicher Organisator, ein gebildeter Mensch, ein Mensch der neuen Generation. Aber er ist natürlich Akteur des Staates; er hat sich eine be¬grenzte Aufgabe gestellt: das Rating der Macht zu heben. Wenn man wissen will, worin er sich von den Bürokraten unterscheidet, die wir kennen, dann muß man nur darauf schauen, wie sei¬nerzeit der erste tschtschenische Krieg organisiert war und wie es jetzt ist. Ich bin natürlich ge¬gen diesen Krieg, aber wenn Putin unser ziviles Leben mit dem selben Talent organisiert wie jetzt den Krieg, dann wäre er mein Mann. – Aber vielleicht täusche ich mich ja auch und er ist auch bloß so ein Revanchist.“
…ponimaetje.“

Erzähler:
Putins Licht, gegbenenfalls auch sein Schatten fällt auf eine weitere Figur, die der Kreml kurz vor der Wahl auf die politische Bühne geschickt hat. Sergej Schoigu, bisher unauffälliger Mini¬ster für das Katastrophenwesen ist, offenbar auf Weisung des Kreml, mit einem Wahlblock „Überregionale Bewegung für die Einheit“ angetreten. Sie wird von einigen Gouverneuren unterstützt, die auf Jelzins Wohlwollen angewiesen sind. Im übrigen hat sie ihre Basis in der Präsidialbürokratie.
Wie Wladimir Putin ist Schoigu ein Mann der jüngeren Generation, wie dieser kommt er aus militärischen Kreisen. Seit 1991 führt er das Ministerium für Katastrophenschutz. Sein Pro¬gramm, Anfang November in der „Iswestija“ eilig auf einer halben Seite veröffentlicht, ist so einfach wie durchsichtig: Wenn Wladimir Putin der Macher ist, so wird mit Schoigu der „gute Mensch“ angeboten, dem man vertrauen kann – der professionelle Retter, der den Katastro¬phenschutz zum politischen Programm erhebt.
Viktor Belzoff, der Assistent des Ministers ist darüber gar nicht besonders erfreut. Journali¬sten, die neuerdings das Ministerium für Katastrophenschutz im Zentrum Moskaus aufsuchen, wehrt er ab. Mit Politik will er nichts zu tun haben. Schließlich läßt er sich aber doch ein paar Worte zu der neuen Arbeit seines Ministers entlocken:

O-Ton 5: Viktor Belzoff, Assistent des Ministers Schoigu                0,40
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer
Lachen, „Nu…
„Nun, für das Volk ist das natürlich irgendwie ein Schutz, das kann man schon so sagen. Die Leute sehen in dem Ministerium so eine Art Symbol der Hoffnung. In den neun Jahren seines Bestehens ist es zu einer echten Autorität geworden. Gegenüber dem Minister gibt es keine Vorwürfe. Er hat sich bisher aus der Politik herausgehalten. Für ihn ist das wichtigste die Ar¬beit. Für ihn gibt es keine Parteien, keine religiösen, keine ethnischen Unterschiede. Vor der Hilfe sind alle gleich. Für uns ist der Mensch zuallererst Mensch.“.“
…tschelowjek

Erzähler:
Siegen, helfen und retten wollen natürlich nicht nur die Kommunistische Partei, nicht nur das Gespann Putin und Schoigu, sondern auch der stärkste Konkurrent der Kommunisten – das Wahlbündnis „Vaterland – das ganze Rußland“. Das ist das Bündnis, welches der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkoff mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakoff und einigen Gouverneuren geschlossen hat. Primakoff steht nach Putin und Sjuganoff zur Zeit ganz oben in der wöchentlichen Beliebtheitsskala . „Vaterland – das ganze Rußland“, versichern die Kandidaten im ersten Satz ihres Manifestes, „das ist die Union der patriotischen und demokra¬tischen Kräfte dieses Landes.“ Erklärtes Ziel des Bündnisses ist es, die Entwicklung der „Boomtowm Moskau“ ungeachtet der zentralen Sonderstellung der Stadt als Modell auf ganz Rußland zu überragen. Wirtschaftliche Versprechungen stehen bei der öffentlichen Vorstellung des „Manifestes“ folgerichtig an erster Stelle:

O-Ton 6: Pressekonferenz „Vaterland – das ganze Rußland“            0,40
Rgie: O-Ton kurz steteh lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Beifall. „Uwaschajemi…
Drei Initiativen, stellt ein Vertreter des Bündnisses vom Podium her vor:
Erstens eine Senkung der Steuern.
Zweitens einen allgemeinen Mietstop.
Drittens eine Senkung der Benzin- und Heizölpreise.
Alle Intitiaven sollen sofort nach der Wahl ins Werk gesetz werden.
…spassiba“

Erzähler:
Aber selbst diese vollkommen auf pragmatische Fragen ausgerichtete Pressekonferenz kommt nicht ohne Verbeugung vor der vaterländischen Stimmung im Lande aus. Zu den Ereignissen in Tschetschenien befragt, antwortert Spitzenkandidat Jefgeni Primakoff:

O-Ton 7: Jewgeni Primakoff                        0,40
Regie: O-Ton kurz kommen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen
Übersetzer:
„Ja chatil by skasatj…
„Ich möchte sagen, daß die Position unserer Bewegung in der tschetschenischen Frage von Anfang an ausgewogen, zugleich aber radikal gegen die Terroristen gerichtet war. Wir sind für aktive Maßnahmen, unter anderem für die Einrichtung einer Sicherheitszone, und zwar an allen Punkten, die durch Terroristen gefährdet sind. Wir unterstützen die Regierung, die in diesem Sinn handelt. Gleichzeitig fordern wir sie aber auf, die Opfer gering zu halten.“
…situaziju w Tschetschnju.“
Erzähler:
Verhandlungen, so Primakow mit Blick auf anwesende westliche Pressevertreter,  könne es erst geben, wenn Partner dafür vorhanden seien. Im Moment gebe es aber niemanden. So sei nun einmal die Situation in Tschetschenien. – Die Kommunistische Partei, das Tandem Putin/Schoigu sowie „Vaterland“ fallen imWahlkampf am meisten auf. Von weiteren Gruppen hört die Bevölkerung allenfalls im Fernsehen, das sich seinerseits weniger auf Inhalte als auf „Unregelmäßigkeiten“ bei der Zulassung, das heißt, bei der Vergabe von Wahlkampfgeldern, auf Enthüllungen über Kandidaten und ähnliches kon¬zentriert. In aller Kürze werden Zensuren verteilt:

O-Ton 8: Fernrsehreportage                        2,00
O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zwischendurch gelegentlich aufblen¬den, am Schluß hochziehen

Erzähler:
Musik, Kommentator
Die Liberalen um den ehemaligen „Schock“-Reformer Jegor Gaidar, so der Kommentator, sind zwar registriert. Aber obwohl sie sich als Partei der Jugend zu stilisieren versuchten, hätten sie wohl kaum Chancen, die 5%-Hürde zu nehmen. Spott muß sich die Partei „Jabloko“ um Gri¬gorij Jawlinski gefallen lassen. Ausgerechnet die Partei der Intellektuellen, witzelt der Kom¬mentator, habe einen Werbespot mit traditionellen russischen Liedern und einem LKW-Fahrer gemacht, der seinen Wunsch nach richtiger Arbeit erkläre. Mehr als 7 – 10% dürfe `Jabloko´ aber wohl nicht erwarten. Wladimir Schirinoffski  provoziert mit einem Block von Bettlern, nachdem seine Partei wegen mangelnder Offenlegung von Vermögensverhältnissen ihrer Kan¬didaten nicht zugelassen wurde. Zugelassen wurde dagegen die offen faschistisch auftretende Gruppe „Spas“ des Alexandr Barkaschoff, die er anstelle seiner verbotenen „Partei der russi¬schen Nationalen Einheit“ (RNE) zur Wahl angemeldet hatte. Nach Protesten wurde die Zulas¬sung durch Gerichtsbeschluß aufgehoben. „Spas“ kann nicht teilnehmen. Ex-General Lebed zieht sich aus der Dumawahl zurück. Er spart sich für Besseres auf, stichelt der Kommentator. Gemeint ist das Amt des Präsidenten. „Unser Haus Rußland“, 1996  d i e  Partei der Macht, wird nur eben noch erwähnt. Breiten Raum widmet der Bericht dagegen der Schmutzkampa¬gne, mit der sich die Kandidaten überziehen, wenn sie sich gegenseitig der Korruption bezich¬tigen, wenn die einen Baris Jelzins, die anderen Jefgeni Primakoffs Alter zum Anlaß nehmen, um deren Politik als unzumutbar zu diffamieren. Kritisch merkt der Kommentator schließlich an, daß Minister Schoigu mit seinem Amt, unter anderem mit seinem Einsatz für die Flücht¬linge in Tschetschenien, Politik und Wahlkampf zu machen versuche.
…tak pakasalis.“
Erzähler:
Die Bevölkerung ist irritiert. – Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen nicht die Pro¬gramme. Wenn überhaupt über die Wahlen gesprochen wird, dann darüber, ob es ehrliche Wahlen geben wird. Dazu sagt der Direktor eines kleinen Meinungsforschungsinstituts, Kyrill Kurlanski, der als Experte zu einer öffentlichen Anhörung über dieses Problem geladen worden ist:

O-Ton 9: Direkter einer Meinungsforschungsgruppe                0,40
Regie: O–Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„W otlitsche…
„Im Unterschied zu westlichen Korrespondenten und einem Teil der fortgeschrittenen Bevölke¬rung Moskaus berührt die Frage der Wahlen die russische Bevölkerung sehr wenig. Das Leben stellt andere Probleme. Für viele steht das Problem des Überlebens an erster Stelle. Bisher nicht Hunger oder Kälte, einfach nur die Frage, wie es weitergeht. Ich bin sicher, daß neunzig Prozent unserer Bevölkerung sich in den neuen Regeln von heute nicht orientieren können. Gut, die Wahl ist vielleicht ein kleiner Schritt, viel wird sich nicht ändern – vielleicht wird´s ein bißchen besser.“
…wobsche kak tendenz.“

Erzähler:
Was hat die Wahl unter solchen Umständen für einen Sinn? Unterschiedliche Einschätzungen machen unter Moskaus Analytikern die Runde: Als „Umfrage“ bezeichnet Baris Kagarlitzki, westlich orientierter Reformlinker, die Wahl, nur wichtig in bezug auf das, was danach komme. Vor Fälschungen hat man Angst im ZIOM, dem zentralen Institut für Meinungsforschung. Die eigentlichen Entscheidungen würden durch den Kauf von Abgeordneten nach der Wahl herge¬stellt, meint Dima Pinsker, politischer Kolummnist der Zeitschrift „Itogi“, dem russischen Part¬nerblatt der amerikanischen „Newsweek“. Wichtig seien allein soziale Fragen, meint Baris Sla¬win, Mitarbeiter an der Gorbatschow-Stiftung. Jossif Diskin, Chef der Korporation „Wostok“ und Soziologe sieht die entscheidenden Auseinandersetzung nicht in der Wahl, sondern im Kampf  der sogenannten „Wirtschafts-Oligarchen“ um einen ihnen genehmen Präsidenten. An¬dere fürchten sogar, daß es gar keine Wahl geben werde. Der Wahrheit am nächsten kommt vermutlich Pjotr Fedossow, der als politischer Berater des Vorsitzenden im Föderationsrat tä¬tig ist:

O-Ton 10: Pjotr Fedossow                        1,00
Regie: O-Ton im Original ganz stehen lassen

„Nun, das ist eine sehr wichtige Wahl, erstens, weil wir mit dieser Wahl zum ersten Mal die normale turnusmäßige Abwechslung des Parlaments und des Präsidenten haben wollen nach einer vollwertigen vierjährigen Legislatur. Die vorherige Wahl war nach einer zweijährigen Le¬gislatur. Das war im Grunde das Ende der Übergangszeit im Sinn der Verfassung  ´93. Diesmal soll die erste normale, verfassungsmäßige Ablösung sein. Deshalb kommt es erstens darauf an, daß beide Wahlen zur verfassungsmäßigen Zeit stattfinden. Man kann heute, meines Erachtens mit ziemlicher Sicherheit davon sprechen, daß das der Fall sein wird. Es kommt zweitens dar¬auf an, daß gleichzeitig eine doppelte und in sich widersprüchliche Aufgabe geleistet wird, daß a) die Kontinuität der Macht gewähleistet wird, aber b) eine radikale Erneuerung dieser Macht.“

Erzähler:
Dafür, so Fedossow weiter, müsse in die neue Duma eine, wie er betont, „stabile patriotische Mehrheit“ einziehen, die in der Lage sei, eine Änderung der Verfassung zu beschließen, welche der Regierung im Gegensatz zur jetztigen, die alle Macht beim Präsidenten konzentriere, mehr Kompetenzen einräume. In diesem Ziel, meint Fedossow, seien sich heute übrigens alle oppo¬sitionellen Gruppierungen heute einig:

O-Ton 11: Weiter Fjodossow                        0,37
Regie: O-Ton im Original ganz stehen lassen

„Der zweite nicht minder wichtige Punkt, wäre, neue Menschen an die Macht kommen zu las¬sen, die sich real auf nationale Interessen orientieren könnten, die nicht persönlich abhängig wären von der ein oder anderen Stiftung oder Institution, wie einflußreich und respektvoll die auch sein mögen.“

Erzähler:
Was aber geschieht, wenn keine „vernünftige politische Mehrheit“, wie Pjotr Fedossow es nennt, zustandekommt? Was geschieht, wenn der Krieg eskaliert? Darüber will zur Zeit nie¬mand nachdenken – die einen nicht, weil sie den Zerfall Rußlands, die anderen nicht, weil sie seine autoritäre Rezentralisierung fürchten. Alle aber erwarten vom Ausgang  der Duma-Wahl am 19. Dezember Signale, was auf die in Rußland inzwischen so genannte „Präsidialmonarchie“ Jelzins folgen wird. Das gibt der Wahl, allen Unkenrufen zum Trotz, dennoch eine große Bedeutung.

-//-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert