Rußlands Reform ist in die Kritik gekommen. Die Privatisierung hat zu einer kriminellen Aneignung früheren Gemeinschaftsvermögens durch eine kleine Minderheit geführt. An der Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist die Privatisierung abgeprallt oder von ihr nur formal vollzogen worden. Inzwischen breitet sich die Erkenntnis aus, daß Reformen an den vorhandenen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen ansetzen müssen, statt sie nur zu zerstören. Was könnte mit diesen Strukturen gemeint sein? Unser Autor Kai Ehlers geht dieser Frage an einem Beispiel im Lande selbst nach.
O-Ton 1: Stabsquartier der Lebedbewegung 0,26
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Erzähler:
„Da, malinka nje tak, Lachen..
Im Stabsquartier der Lebedbewegung in Nowosibirsk. Hier wird
Bilanz gezogen wie zur Zeit überall im Lande. Aber das Lachen hat man noch nicht verlernt. Mit Banken habe er zu tun, hat dieser Mann soeben erklärt; aber nicht als Bankier, sondern als Konkursverwalter. 80% der Betriebe seien bankrott, fährt er fort, nachdem das Lachen abgeklungen ist. Wenn sie dennoch gehalten würden, komme der Impuls dazu in der Regel von unten, aus den Belegschaften, aus den örtlichen Strukturen. Als Musterbeispiel dafür nennt er die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk.
Wenig später sitze ich dem Direktor der Eisenbetonfabrik Nr. 4 in seinem Büro gegenüber.
O-Ton 2: Direktor Matschalin 0,17
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Erzähler:
Handy piepst. „Matschalin…
Nikolai Matschalin ist Abgeordneter der Partei Alexander Lebeds im Parlament der Stadt Nowosibirsk. Knorrig ist er, wie sein politisches Vorbild selbst, aber gesprächsbereit. Weiß er, daß sein Werk als Musterbetrieb gilt?
O-Ton 3: Direktor Matschalin, Forts. 1,15
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Übersetzer:
„Nu, jesli po tschesnomy…
„Ehrlich gesagt, ja. In den letzten Jahren, insbesondere in den letzten vier Jahren, haben wir den Umfang unserer Produktion erweitert. Jetzt arbeiten bei uns ungefähr 500 Leute. Es gibt zwei Etappen, die wir vergleichen können; das ist die Etappe vor Perestroika und die danach: Wir sind wieder auf das Niveau angestiegen, das wir vor dem Niedergang hatten, also auf das Niveau vor Perestroika. Es gibt keine andere Fabrik hier in der Gegend, die in diesem Maße tätig ist wie wir, mehr noch, viele Fabriken, die vom Umfang ihrer Produktion her früher Giganten waren, liegen weit unter der Produktivität der Eisenbetonfabrik Nr. 4. Unsere Fabrik stand ja 1997 und 1996 nach allen Parametern an erster Stelle in Sibirien. Von der Hauptadministration des Gebietes haben wir einen Preis erhalten – für „Erfolgreiche Entwicklung von Geschäftstätigkeit in Sibirien“.
…bisnes we sibirje“
Erzähler:
In einer Mischung aus Sarkasmus und Stolz zeigt der Direktor bei diesen Worten auf eine Vitrine, in der einige handtellergroße Medaillons hinter Glas ausgestellt sind. Das seien allerdings nur die äußeren Daten, schränkt er gleich darauf ein. Von innen sehe alles natürlich noch etwas anders aus:
O-Ton 4: Direktor, Forts. 0,51
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„U nas wsjo teleschelo…
„Bei uns in Rußland ist alles sehr schwierig und alles nicht so ganz richtig. Alles ist irgendwie durcheinander. Bei uns wird jedes Unternehmen in die Enge getrieben, vor dem Staat, vor den Budgetfonds, in gegenseitige Verrechnungen und Verschuldungen. Lebendiges Geld gibt es nur sehr wenig. Das lebendige Geld reicht gerade eben für den Fond zur Bezahlung der Arbeit. Alles andere chinchen wir irgendwie aus, mit dem Staat, mit der Stadt, mit dem Verwaltungsgebiet, mit unseren Kunden, tauschen irgendwie…“
…schila na mila, tak.“
Erzähler:
Was der Direktor beschreibt, ist eine Wirtschaft im Zustand des Naturaltausches. Nicht freier Geldverkehr auf offenem Markt, sondern der direkte Tausch von Produkten, Dienstleistungen und Arbeitskraft hält die russische Gesellschaft heute am Leben. Partner des Austausches sind nicht nur Fabriken, landwirtschaftliche oder gewerbliche Betriebe untereinander, sondern auch Betriebe auf der einen und Behörden, im großen Maßstabe der Staat auf der anderen Seite. Man ist in einem stillschweigenden Konsens miteinander verbunden, den der Volksmund zehn Jahre nach Beginn der Reformen auf die Formel gebracht hat: Ihr zahlt keinen Lohn und wir keine Steuern. Ein Geldkreislauf ist praktisch nicht existent. Auf die Frage, wie es möglich ist, unter solchen Umständen erfolgreich einen Betrieb zu führen, antwortet der Direktor:
O-Ton 5: Direktor, Forts. 1,00
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Übersetzer:
„Uspexi schto li…
„Die Erfolge kommen nur aus sehr großer Anstrengung. Seinerzeit wurde die Aufgabe gestellt: Rettung des Unternehmens, Rettung der Arbeitsplätze, nicht zulassen, daß die Leute arbeitslos werden – Wir haben nicht nur den Produktionsumfang erhöht, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze. Dabei resultiert die Steigerung des Produktionsumfangs aber nicht nur aus einer Erhöhung der Zahl der Arbeitsplätze, sondern auch aus einer Produktivitätssteigerung. Das bedeutet: Die Arbeit wurde intensiver; die Arbeiter müssen sich mehr rühren, mehr arbeiten. Ich fordere von ihnen den vollen Einsatz.“
…trebuju polnu otdatschu.“
Erzähler:
Im Sommer, wenn die Bautätigkeit boomt, wird 10 oder 12 Stunden gearbeitet, ebenso am Samstag und am Sonntag. In gesonderten Produktionen zieht sich die Arbeit manchmal sogar über mehrere Monate ohne einen einzigen Tag Pause hin.
O-Ton 6: 1,39 Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen
Erzähler:
„Nu snatschala ja im jesdestwenna…
Dafür, fährt der Direktor fort, gebe er seiner Belegschaft aber praktisch auch alles, was sie brauche, um zu leben: kostenlose Wohnungen, kostenlose Ernährung, kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Kindergartenplätze, kostenlose Kuraufenthalte, Ausbildung im Betrieb, allgemeine Weiterbildung. Alle diese sozialen Vergünstigungen gebe es umsonst. Mehr noch, die Fabrik gewähre eine Betriebspension für rund hundert Leute, die früher dort gearbeitet hätten. Jeden Monat erhielten sie eine ganze Palette von Produkten, von denen sie lebten. Und das sei nicht wenig. Es klingt ehrlich besorgt, wenn der Direktor diese Aufzählung mit den Worten beschließt:
Übersetzer:
„Diese Menschen gaben der Fabrik ihre ganze Jugend. Einige haben hier vierzig oder mehr Jahre gearbeitet. Nach der Privatisierung blieben sie auf der Abfallseite des Lebens. Außer uns hilft ihnen niemand. So mache ich, was ich kann, versuche es.“
..nikto nje pamoschit, putajus.“
Erzähler:
Der Rubel sei wichtig, findet der Direktor, der materielle Anreiz, die materielle Hilfe. Auch wichtig, vielleicht sogar wichtiger findet er den moralischen Stimulus: „Daß die Menschen“, so formuliert er es, „an einer gemeinschaftlichen Sache beteiligt sind.“ Soeben hat er deswegen ein schwarzes Brett eingerichtet, das Auskunft über Einkünfte und Ausgaben des Betriebes gibt.
O-Ton 7: 0,59
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Übersetzer:
„Ponimaetje, snatschit tje ludi…
„Verstehen sie, die Menschen sind sehr verschieden. Viele von ihnen sind noch Zeitgenossen des Sozialismus, als alles unser war – nicht meins, sondern alles unseres. Sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen, ist sehr schwierig. Ich sage meinen Leuten immer wieder, daß wir jetzt alle Eigentümer sind, daß wir für uns selbst arbeiten. Das verstehen sie. Aber nicht jeder will Eigentümer sein. Manche wollen nur einfach ihren Lohn; das ist normal. In moralischer Hinsicht aber fühlen die meisten ihre Mitbeteiligung. Ich sage ihnen: `Dank eures Einsatzes geschieht das hier alles.´ Auch Feste führen wir durch, bei allen Anlässen, alten wie neuen.“
…starije, nowije, lächeln
Erzähler:
Sich selbst versteht der Direktor als Teil dieser Gemeinschaft. Auch von sich verlangt er den härtesten Einsatz:
O-Ton 8: Matschalin, Forts. 2,25
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Übersetzer:
„Nu, odno djela…
„Die eine Sache ist, auf den Staat oder auf Gott zu hoffen, nun , das kommt auf das Gleiche raus: Weder von dem einen noch von dem anderen kannst du etwas erwarten. Hier auf dem Direktorensessel hilft dir keiner. Da kannst du nicht klagen, da mußt du Entscheidungen treffen. Die Aufgabe hieß, ein Kommando zur Lösung der Probleme zu bilden – das Kommando gibt es; wir ziehen Aufträge an uns, wir tauschen unsere Produkte über lange, lange Ketten. Irgendwie kommen wir mit den Steuern zurecht, mit den Nahrungsmitteln, mit Bargeld für die Löhne usw. usw.
Ich will sagen: Hier sitzen und auf irgendwelche Aufträge vom Staat zu warten, das ist nicht seriös. Die Direktoren, die vor drei, vier Jahren saßen und auf Aufträge aus der Budgetfinanzierung gewartet haben, die haben verloren. Sie haben sich verspätet. Der Zug ist abgefahren: Rekonstruktion, Modernisierung, Reorganisation der Produktion kostet jetzt ein irrsinniges Geld. Darüber hinaus ist der Markt besetzt und da Eingang zu finden, ist sehr schwierig. Worum geht es also? Um die Qualität der Produkte bei gleichzeitigen Niedrigpreisen. Der Gewinn, den wir dabei herausholen, ist minimal. Wir bekommen ihn nur durch den Umfang der Produktion herein. Da kann man nicht mehr lange reden. Die Dinge ändern sich schnell, da muß schnell gehandelt werden. Der Direktor muß sein Wort halten. Das Wort des Direktors garantiert die Zukunft der Fabrik. Wenn heute ein Direktor ein einziges Mal jemanden auflaufen läßt, dann kommt der nicht wieder. Darüber hinaus erzählt dieser Klient das allen anderen und aus ist es. Das heißt, für denjenigen ist es mit dem Markt zuende. Heute gilt: Wort halten und seine Pflichten erfüllen! Alles übrige – daß die Fabrik nur unter schweren Bedingungen arbeiten kann: Ja, wir haben es schwer! Ja, wir haben hier diese formlose Wirtschaft! Aber was weiter? Wir leben doch hier in Rußland und werden nirgendwohin auswandern.“
…nje sabirajem nikuda uischats.“
Erzähler:
Marktwirtschaft, aber unter russischen Vorzeichen, das ist Nikolai Matschalins Credo; Rußland muß stark sein:
O-Ton 9: 1,09
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Übersetzer:
„Rossija dolschna bit silnaja…
„Man darf nicht zulassen, daß wir auf Kosten anderer existieren müssen. Es geht nicht an, daß wir nach Aufträgen des Internationalen Währungsfonds leben. Heute schwatzen unsere Leute beim Gouverneur davon, Mähdrescher aus Deutschland zu kaufen. Ich meine, daß man Mähdrescher hier bauen muß. Auch wenn sie schlechter sind, wird Iwan Iwanowitsch durch sie doch seine Arbeit haben, durch sie wird die Schlage auf dem Arbeitsmarkt kleiner. Es ist vielleicht ein bißchen grob, aber ich denke so: Wenn wir heute russische Schuhe machen können, die vielleicht etwas fest sind, sollen wir sie machen und darin gehen, aber so können dann alle unsere Leute, die Arbeit suchen, arbeiten, unsere Pensionäre erhalten Pension, unsere Lehrer ihren Lohn, Steuern werden gezahlt usw. usw.“
… tagdali, tagdali
Erzähler:
Für eine Verwirklichung seiner Vorstellungen im großen Rahmen setzt Direktor Matschalin auf einen russischen Pinochèt. Nur ein Diktator könne die nötige Kontinuität aufbringen, meint er, nur ein Diktator, dem ohnehin alles zur Verfügung stehe, sei nicht darauf angewiesen, sich bestechen zu lassen:
O-Ton 10: 1,05
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Übersetzer:
„Kak prawadil parjadok…
„Wie hat Pinochèt die Ordnung hergestellt? Man schrieb früher bei uns, daß es da den Guitarrenspieler Viktor Jara gab, dem sie die Hände zerschlagen haben usw. Ja, er zerschlug möglicherweise die Hände von Viktor Jara, aber dafür ist Chile heute ein blühendes Land und es war General Pinochèt, der das Land zur Blüte brachte. Er ist dann ja von selbst gegangen: Schluß, ich habe meine Sache gemacht. Und wer machte es in Deutschland? Eisenhower! Und de Gaulle in Frankreich! Das waren Generäle, starke Generäle, welche die Autorität des Volkes benutzten.“
Erzähler: Leider, setzt der Direktor bedauernd hinzu, sei Alexander Lebed nicht bereit, eine solche Rolle für Rußland zu übernehmen.
… etu tjemu gawaroril.“
Erzähler:
Die Belegschaft der Fabrik teilt die politischen Ansichten ihres Direktors nicht:
O-Ton 11: Betriebskollektiv, divers 0,49
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Übersetzer:
„Ponimaetje, my nawerna…
„Wir sind alle müde von der Politik“, sagt dieser Mann. Er ist der jüngste aus einer Runde von vier Männern unterschiedlichen Alters und einer älteren Frau, die ich gleich im Anschluß an das Gespräch mit dem Direktor über ihre Meinung zu den Ansichten ihres Chefs befragen kann. Wenn der Direktor Lebed unterstütze, meint der junge Mann, sei das seine persönliche Angelegenheit. Andere im Betrieb seien für die Kommunisten, wieder andere für den Liberalen Jawlinski, selbst für Lyschkow, den Moskauer Bürgermeister. Verschieden eben, stimmt die Runde zu. „Bloß nicht für Jelzin“, ergänzt die Frau. Und wieder nicken alle.
…sa Jelzina, Stimmen“
Erzähler:
Im übrigen aber bestätigt die Runde stolz das Bild, das der Direktor von der Lage des Betriebes hat entstehen lassen. Vor allem in der Frage der Gemeinschaft stimmt man voll mit ihm überein:
O-Ton 12 0,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen
Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“
Erzähler:
Die ältere Kollegin erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:
O-Ton 13 1,39
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen
Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur versprechen und dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deswegen ist die Stimmung bei uns häufig sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über 12 Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“ …i mi djelajem“
O-Ton 15: 1,38
Regie: O-Ton direkt anschließen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen
Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.
Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns. Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist: Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Woanders kann man vielleicht mehr bekommen, aber man bekommt es nicht rechtzeitig. Und dann muß man ins Krankenhaus, das Essen bezahlen usw. Bei uns gibt es Milch kostenlos, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus bei uns gab, und die gab es, die haben wir jetzt um so besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“
… prinisli sewodnischi.“
Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. An der Spitze wurde alles von einer Troika aus Partei, Betriebsführung und Gewerkschaft zusammengehalten. In diesen Verhältnissen lebte die alte russische Bauerngemeinschaft in ihrer industriellen Form fort. Mit Einsetzen von Perestroika zerfiel diese Pyramide in ihre Bestandteile. Ist in der Eisenbetonfabrik Nr. 4 also alles nur einfach beim Alten geblieben? Nein, keineswegs, antwortet die Kollegin für alle:
O-Ton 16: 1,38
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen.
Übersetzerin:
„Stimmen, my prosta tech ludej…
„Heute halten wir die Leute, die nicht arbeiten wollen, nicht mehr. Wenn es früher während des Sozialismus so viele freie Arbeitsplätze gab, daß ein Mensch von einer Fabrik zur anderen gehen konnte, in drei, vier Fabriken eine Arbeit finden konnte, so ist es heute sehr schwierig, eine Arbeit zu finden, wissen Sie. Und so hält man sich an die Arbeit und gibt sich Mühe. Mußte man früher erst lange besprechen, ob am Samstag gearbeitet werden soll, dann ist jetzt einfach klar: Nur wenn ich arbeite, kriege ich Geld, wenn man überhaupt etwas kriegt. Bei uns kriegt man etwas.“
Erzähler:
Entlassungen also als neue Errungenschaft? Wer nicht funktioniert, kann gehen? „Nein, nein“, schränkt einer der älteren Männer ein, „wir werfen hier niemanden einfach hinaus“:
Übersetzer:
„Wir sagen ihm nur: `Gut, wenn Du nicht so arbeiten willst – ruh dich aus. Aber die Arbeit an deinem Platz muß von jemanden gemacht werden. Also müssen wir einen anderen finden. Pardon, mein lieber, geh Dich erholen, wir suchen einen anderen Arbeiter für den Platz.“
…Drugim rabotschim
Erzähler:
Eine Gewerkschaft, die gegen Entlassungen protestieren könnte, gibt es nicht. Sie sei auch nicht nötig, meinen die Kollegen. Heute entscheide das alles der Betriebsrat selbst, meint der junge Kollege, schneller, schlanker, besser:
O-Ton 17: Kollegen, Forts. 0,56
Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer kurz hochziehen, abblenden
Übersetzer:
„Sdjes, widitje kak…
„Wie ist es bei uns? Früher entschied die Gewerkschaft. Früher gab es auch einen Plan. Entschieden wurde in Nowosibirsk, in Moskau. Jedenfalls alles von oben. Wenn heute in der Eisenbetonfabrik Nr. 4 den Selbstschutz organisiert wird, dann wissen wir doch wofür.“
Erzähler:
Wenn es also keine Gewerkschaft im Betrieb gibt und keine Zentralplanung, wenn man sich politisch vom Direktort absetzt aber doch mit ihm zusammen die Geschicke des Betriebes bestimmt und gemeinsam mit ihm über Einstellungen und Entlassungen entscheidet, wer ist dann das „Wir“, in dessen Namen die vier Kollegen und die Kollegin sprechen?
O-Ton 18: Kollegenrunde, Forts. , Frau 2,11
Regie: Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, bei 0,20 kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegen, nach kurz Erzähler hochziehen, danach abblenden
Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.
Regie: beim Stichwort „jest sabrannije“ vorübergehend hochziehen
Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten, sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten also jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet der Aktionäre: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht zur Zeit individuell davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
… kollektivni sobstwebbost.“
O-Ton 19: 0,26
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, beim Stichwort „kollektiv“ hochziehen, abblenden
Erzähler:
„Da, sowerschenna vera…
„Ja, genau so!“ antworten die Kollegen. „Das haben Sie richtig verstanden. Ein Komitee von Eigentümern, die miteinander ihr Überleben sichern.“
Hier habe nicht ein Einzelner ein Riesenpaket Aktien, bekräftigt der junge Mann noch einmal; hier werde gemeinsam entschieden.
… vladejet Kollektiv…
Erzähler:
Auch in der Eisenbetonfabrik Nr. 4, heißt das, wurde privatisiert. Aber die Privatisierung brachte nicht hervor, was die Reformer beabsichtigt hatten. Ihnen galt die kollektive Betriebsorganisation als das Haupthindernis der Modernisierung und einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes. Daher wollten sie die Betriebskollektive entmachten. Das Privatisierungsproramm von 1991 sah vor, daß Direktoren und Belegschaften gemeinsam bei der Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiongesellschaften auf keinen Fall in den Besitz von Aktienmehrheiten kommen sollten, die ihnen eine Kontrolle über die Betriebe erlauben würden. In der Eisenbetonfabrik lief es genau umgekehrt: Die Privatisierung schweißte das Betriebskollektiv zu einer Überlebensgemeinschaft zusammen, die sämtliche Aktien in ihrer Hand hält. Das hebt den Betrien aus der Masse anderer hervor. Aber eine Insel im allgemeinen Chaos wollen die Kollegen nicht sein. Sie verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Belegschaften empfehlen:
O-Ton 20: Kollegenrunde 0,47
Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen, ausblenden
Übersetzerin:
„My, otschen plocha atnochimssja…
„Eine Insel zu sein, das finden wir ganz schlecht. Wir sind ja eine Fabrik für Eisenbetonbau. Wir können nicht gut leben, wenn es dem Baugewerbe um uns herum nicht gut geht. Wenn keine Häuser gebaut werden, ist unsere Produktion auch nicht gefragt. Das heißt, wir wünschen uns und tun alles dafür, daß um uns herum die Industrie arbeitet. Und nicht nur die Fabriken. Wir sind ja auch Menschen: Wenn wir sehen, daß neben uns eine Familie im Elend lebt, die kein Brot hat, wie kann ich da ruhig leben.
… prawilna, sie, ich…
Erzähler:
Aktiv versucht man daher andere Betriebe einzubinden:
O-Ton 21: Kollegenrunde, Frau 0,36
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Ende hochziehen und allmählich abblenden
Übersetzerin:
„I jeschtscho, schto my djelalem…
„Was machen wir? Unsere Werber gehen nach Norden zum Beispiel. Da holen sie Aufträge; aber sie holen die Aufträge nicht nur für uns, sondern gleich für andere Fabriken mit. Es gibt einen Rat, in dem einer von uns aktiv ist. Es ist der frühere Leiter des Betriebes. Er leitet heute einen Rat der Fabrikdirektoren. Sie überlegen, wie man die Betriebe entwickeln kann. Ohne so etwas geht es ja nicht.“
… bes etwawa nelsja
Erzähler:
Das Beispiel der Eisenbetonfabrik Nr. 4 setzt Maßstäbe. Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten, aber starken Direktor als Grundelemente einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft scheinen für Rußland ein Weg zu sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum ODER Privatisierung hinausführt.
Andrej Betz ist einer von denen, die dem von der Eisenbetonfabrik Nr. 4 initierten Rat der Direktoren angehören. Er leitet einen Betrieb gleicher Größenordnung, „Stankosib“, eine Fabrik für Maschinenbau, ebenfalls in Nowosibirsk. Notwendig zu sagen, daß Alexander Lebed für Betz nur insoweit interessant ist, als er in der Lage ist, zwischen Boris Jelzin und den Kommunisten eine dritte Kraft aufzubauen. Von den Vorlieben seines Kollegen Matschalin für Pinochèt distanziert Andrej Betz sich entschieden, an den Erfolgen Matschalins aber mißt et sich:
O-Ton 22: Direktor Betz, STANKOSIB, 0,56
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden , unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„U nas taksche…
„Bei uns ist es genauso. Wir haben ca. 500 Aktionäre, die Aktien des Betriebes besitzen. Das heißt, es ist eine ganz normale Aktiengesellschaft, in der es kein staatliches Kapital gibt, 100% privates Kapital, darunter eine Gruppe von 16 Menschen, die ein Kontrollpaket von 51% halten. Es gibt einen Sowjet, es wird ein ausführender Direktor gewählt, der arbeitet.
Allerdings ist es bei uns nicht ganz so gut wie bei der Eisenbetonfabrik Nr. 4. Wir haben Lohnrückstände von zwei Monaten, der Lohn ist nicht sehr hoch, doch ausreichend denke ich. Die Fabrik arbeitet aber, und arbeitet stabil. Das heißt zur Zeit habe ich Hoffnung, daß wir die geforderten Produkte produzieren und auch verkaufen können.“
…neobchadimi produkti i prodawat.“
Erzähler:
Auch außerhalb von Nowosibirsk erregt das Beispiel der Eisenbetonfabrik Nr. 4 Aufmerksamkeit. Die Mehrheit der in Aktiengesellschaften umgewandelten Kolchosen und Sowchosen ist ohnehin nach wie vor kollektiv organisiert. Viele ehemalige Staatsbetriebe hat die Privatisierung handlungsunfähig gemacht. Sie suchen nach Alternativen. Wie schmal der Grat dennoch ist, auf dem die Alternative sich konkret entwickeln kann, macht ein Besuch bei „Kras-Les-Masch“, der größten Waldmaschinenfabrik Sibiriens in Krasnojarsk deutlich. Auch dieser Betrieb hat eine ca. fünfhundertköpfige Belegschaft. Auch für Viktor Schmidt, den Direktor dieses Betriebes, ist die Eisenbetonfabrik Nr. 4 eine Orientierung. Ihr Erfolg sei kein Zufall, betont er, sondern ein Musterbeispiel für rechtzeitige Orientierung am Markt:
O-Ton 23: Direktor Schmidt, Krasnojarsk 0,32
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, auslaufen lassen bis zum Schluß (ist ausgeblendet)
Erzähler:
„Njet, on videmo charascho rabotajet…
„Nein, sie arbeitet offensichtlich gut., und zwar einfach, weil sie sich rechtzeitig orientiert hat. Sie hat ihre Belegschaft auf ein Minimum reduziert. Wenn sie für die Industrie bauen würde, wäre Schluß, da steht die Bautätigkeit; dasselbe für die Eisenbahn. Sie haben sich jedoch auf den privaten Bereich konzentriert – und da boomt es zur Zeit.“
Erzähler:
Dennoch hält er es nicht für möglich, dem Beispiel einfach zu folgen:
O-Ton 24: Direktor Schmidt, Fortsetzung 0,60
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Pritschina otschen prastaja..
„Wir machen es nicht so, weil das allgemeine Niveau unseres Alltags das nicht zuläßt. Nun gut, man könnte es tun, dann gäbe es da eine Fabrik, die gut lebt. Es ist offensichtlich, daß das nur ginge, wenn es allgemeine Linie wäre. Es muß ein staatliches Programm geben. Wir Direktoren sind ja keine dummen Leute, wir wissen, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie man profitabel arbeitet. Aber wohin mit den anderen? Sie werden vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben. Sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
… videmo gossudarstwa.“
Erzähler:
Die Alternative, die sich heute in Rußland andeutet, ist die einer Wiederherstellung der engen Verbindung zwischen Betriebsgemeinschaften nach Art der Eisenbetonfabrik Nr. 4 und staatlicher Lenkung, ausgehend von Maßnahmen auf lokaler und regionaler Basis. Theoretisch skizzierte ein Analytiker wie Boris Kagarlitzki, Aktivist der frühen Perestroika und heute freischwebender Reformsozialist, die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklung bereits 1996, als nach den letzten Präsidentenwahlen die Schwäche des russischen Staates gegenüber der kriminellen Privatisierung und dem wild wuchernden neurussischen Spekulationskapital unübersehbar wurde:
O-Ton 25: Boris Kagarlitzki 2.08
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen, gelegentlich vorübergehend hochziehen, weiter unterlegen, hochziehen
Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geht ungefähr vor? Alles wurde privatisiert, nicht? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe vor Ort zu `nationalisieren´, das heißt neu als Gemeinschaftsbesitz zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Obschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in neuer Form, in spontaner Weise – für die Betriebe besteht nur einfach diese desolate Situation; also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie in dieser Weise zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer, und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen ganzen kleinen neuen Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt vom Herankommen und von der politischen Entwicklung ab.“
… otchoda polititschiskowo raswitje.“
Erzähler:
Praktisch beginnt die Alternative sich inzwischen in den Programmen zu konkretisieren, mit denen die Kandidaten für die Wahl eines neuen russischen Präsidenten im Jahre 2000 gegenwärtig antreten: Sowohl der nach der Sommerkrise amtierende neue Ministerpräsident Jefgeni Primakow, als auch potentielle Präsidentschaftskanidaten wie der Moskau Bürgermeister Juri Lyschkow wie ebenso der zur Zeit als Gouverneur von Krasnojarsk amtierende Alexander Lebed versprechen eine Wirtschaftspolitik, welche die gewachsenen sozialen Strukturen des Landes nicht weiter nur ausbeute oder zerschlage, sondern auf ihnen aufbauen oder gar deren Entwicklung befördern soll. Diese gewachsenen Strukturen sind eben jene gemeinschaftlichen, korporativ-paternalistischen Strukturen, deren Regeneration in der Eisenfabrik Nr. 4. zu beobachten ist. Die Frage ist inzwischen nicht mehr, ob das geschehen wird, sondern wie, das heißt, ob es als Zusammenschluß auf freiwilliger Basis heranwächst oder ob es mit Gewalt erzwungen wird. Von der Entscheidung dieser Frage hängt Rußlands weiteres Schicksal ab.