Es wird gezündelt: Westliche „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ haben einen offenen Brief an Wladimir Putin verfasst, in dem sie ihm vorhalten, den demokratischen Weg verlassen zu haben. Während der Westen, allen voran die USA, sich rund um den Globus um die die Einführung der Demokratie bemühten, sei er dabei, in Russland wieder eine Diktatur einzuführen. Die Initiative zu diesem Brief ist von „amerikanischen Kreisen“ ausgegangen, unterschrieben haben auch einige Europäer, unter anderem der Fraktionsvorsitzender der Grünen, Bütikofer, zusammen mit notorischen Russlandhassern wie dem französischen Andre Glucksmann und anderen.
Wladimir Putin wird vorgehalten, er benutze die Ereignisse von Beslan, um die Demokratie in Russland zu untergraben. Bereits seit seinem Amtsantritt habe er sie geschwächt, indem er die Freiheit der Presse systematisch beschnitten, das föderale Systems zerstört, tatsächliche und vermeintliche politische Rivalen ins Gefängnis gebracht, legale Kadidaten von den Wahllisten entfernt, Leiter von NGOs bedrängt und inhaftiert sowie die russischen Parteien geschwächt habe. Nun wolle er offenbar endgültig ein autoritäres Regime installieren. Auch verschlechterten sich die Außenbeziehungen Russlands: Präsident Putin nehme „zunehmend eine drohende Attitüde“ gegenüber Russlands Nachbarn und gegenüber Europas Energiesicherheit ein. Beunruhigend sei auch die „Rückkehr einer militaristischen und imperialen Rhetorik“ und die „Weigerung Russlands, seine internationalen Handelverpflichtungen einzuhalten.“ In all dem zeige sich eine wachsende Dominanz der Geheimdienste. „Wir glauben“, heißt es dann wörtlich, „ dass dieses Verhalten nicht als Grundlage für eine wirklichen Partnerschaft zwischen Russland und den Demokratien der NATO und der Europäischen Union akzeptiert werden kann.“ Diese Entwicklung, schließt der Brief, sei „nur der neueste Beweis, dass die gegenwärtige Russische Führung von den Grundwerten der Euro-Atlantischen Gemeinschaft wegbreche.“ Das Land bewege sich in die falsche Richtung. Putins Strategie gegen den Terrorismus führe zu weniger und weniger Freiheit. Man sei aber überzeugt, „dass eine Diktatur nicht die richtige Antwort auf Russlands Probleme sein dürfe und könne.“ Die Führer des Westens müssten erkennen, dass ihre Strategie gegenüber Russland gescheitert sei. Es sei Zeit umzudenken.
Wörtlich: „In diesen kritischen Zeiten der Geschichte, da der Westen rund sich rund um die Welt für demokratische Veränderungen einsetzt, einschließlich des im weiteren Sinne mittleren Ostens, ist es ein Imperativ, dass wir Russlands Verhalten nicht mit anderen Maßstäben messen oder einen Doppelstandard für Demokratien aufstellen, die im Osten Europas liegen.“ Das sei man den Opfern von Beslan schuldig und den tausenden russischer Demokraten, die immer noch darum kämpfen, Demokratie und menschlichen Freiheit in ihrem Lande zu erhalten.
Es kommen einem die Tränen bei so viel Engagement für Freiheit und Demokratie! Da wünscht man sich, den Initiatoren zu danken. Aber wer sind sie? Da erhebt sich bereits die erste Frage, die nur mit Vermutungen beantwortet werden kann und auf die sich einzulassen natürlich sinnlos ist. Es bleibt einem nichts anderes als sich an einige benennbare die Tatsachen zu halten, die geeignet sind, den Hintergrund und die Motive dieser Initiative zu beleuchten.
1. Wladimir Putins Linie ist in der Tat als autoritäre Modernisierung zu kennzeichnen und von Demokratie im westlichen Sinne kann im heutigen Russland nicht die Rede sein. Daran gibt es nichts zu deuteln. Schon vor den Ereignissen von Beslan war in Russlands Führungsetagen die Frage erörtert worden, wie das politische System noch weiter „stabilisiert“ werden könne. In der Diskussion waren eine Reorganisation des Parteien- und Wahlsystems nach dem Muster des Zweiparteiensystems westlicher Länder; ebenso der Selbstverwaltung und des Föderalen Systems, alles von oben, versteht sich, im Interesse einer weiteren Stärkung der Zentralmacht, faktisch des Präsidialbüros und des FSB. Die Katastrophe von Beslan hat diesen Prozess beschleunigt – kurz all das, was jetzt zur Stärkung der Zentralmacht vorgelegt wird und demnächst als neues russisches Sicherheitsgesetz verabschiedet werden soll, war bereits seit längerem in der Diskussion und wird nun realisiert.
2. Tatsache ist allerdings, dass diese Entwicklung kaum Ausdruck der Stärke, sondern eher der Schwäche der Zentralmacht ist. Dafür gibt mehrere Gründe: Die triumphale Wiederwahl Putins ließ eine geteilte Gesellschaft im Lande entstehen. Die Macht etablierte sich durch die Wahl, das Land jedoch – eben jene von Putin immer wieder zitierte geographische, ökonomische und ethnische Vielfalt – wandte sich von der Politik ab und ihren eigenen lokalen und regionalen Sorgen und Interessen zu. Selbst die Inhaftierung Chodorkowskis und die Disziplinierung von YUKOS führte nur zu einem Wegducken der übrigen größeren und kleineren Oligarchen und Korporationen, nicht etwa zu einer einheitlichen Wirtschaftspolitik unter staatlicher Führung. Tatsächlich gilt nach wie vor der Satz: Moskau ist weit. Es gibt keine effektive, von unten gewachsene Rückkoppelung zwischen der herrschenden „Elite“ und den sehr unterschiedlichen Interessen der besitzenden und weniger besitzenden Bevölkerung durch eine aktive Opposition.
3. Von einer Zerstörung der Demokratie kann in Russland nicht die Rede sein: Was nach der Auflösung der Sowjetunion unter Boris Jelzin entstanden war, war keine Demokratie, sondern ein autoritärer Liberalismus, einfacher gesprochen, eine in Clans zerfallende Gesellschaft mit einem formaldemokratischen Aushängeschild. Das gilt sowohl für die staatspolitischen Organe der Gewaltenteilung, also Duma, Justiz, Exekutive und Presse, wie auch für die regionalen und lokalen Machtebenen. Unter Putin sind die Vorzeichen der Entwicklung umgekehrt worden; aus autoritärem Liberalismus wurde liberaler Autoritarismus; die formaldemokratischen Fassaden aber blieben weitgehend erhalten. Putins Bemühen ging seit seinem Machtantritt im Jahr 2000 und geht jetzt nach der Wahl in verstärktem Maße dahin, formaldemokratische Fassaden durch regierungsloyale Konsensgremien zu ersetzen. Aktuelles Beispiel dafür ist die von ihm vorgeschlagene zentrale Menschenrechts-Kommission, die in Zukunft die mit mehr Befugnissen ausgestatteten Geheimdienste kontrollieren soll. Das ist zweifellos keine Demokratie im staatsrechtlichen Geiste des Westens, sondern besten Falles eine patriarchal orientierte Mitbestimmung auf Basis traditioneller Gemeinschaftsstrukturen – es ist aber auch keine Diktatur. Eine andere Frage ist, ob dieser Weg geeignet ist die Kräfte zu mobilisieren, die Wladimir Putin für die Modernisierung Russlands mobilisieren möchte. Es besteht die reale Gefahr, dass die von ihm eingeleitete Zentralisierung die Innovationskräfte an der Basis der Bevölkerung abwürgt und das Land so auf einen Weg der Eskalation der Schwäche, statt der Stärke gerät.
4. Zur inneren Problematik kommt die äußere, die mit der inneren Verfasstheit dieses pluralen Gebildes Russland aufs Engste untrennbar verknüpft ist: der Tschetschenische Konflikt. Er ist kein innenpolitischer Konflikt allein, auch nicht nur ein tschetschenisch-russischer Krieg; er ist Ausdruck eines strategischen Konfliktes zwischen den Großmächten im Kaukasus, die dort um die Vorherrschaft auf dem Eurasischen Kontinent, insbesondere um den Zugriff auf die kaspischen Ölfelder miteinander streiten. Russland verteidigt seine historischen Ansprüche gegen die USA, Europa, die Türkei, den Iran, Indien und China. Hauptkonkurrent jedoch sind zur Zeit die USA, deren strategische Köpfe sich folgerichtig im „Amerikanischen Komitee für Frieden in Tschetschenien“ für eine Lostrennung Tschetscheniens von Russland engagieren. Chef dieses Komitees ist Brzezinski, der sich rühmt, Russland, damals die Sowjetunion – schon einmal fundamental destabilisiert zu haben, indem er 1979 für einen Beschluss der US-Regierung sorgte, die talibanischen Mujahedin gegen die auf Moskau orientierte Afghanische Zentrale aufzurüsten. „Wir haben die Russen nicht gezwungen zu intervenieren“, erklärte er 1998 in einem Interview des Nouvel Observateur, ein Jahr bevor er Chef des Kaukasischen Friedenskomitees wurde, , „aber wir haben wissentlich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie es tun.“ Er bedaure dies keinesfalls, betonte er ausdrücklich: „Am Tag als die Sowjets offiziell die Grenze überquerten, schrieb ich an Präsident Carter: Wir haben jetzt die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu bereiten. Und in der Tat, für fast 10 Jahre, musste Moskau einen für die Regierung nicht tragbaren Krieg führen, einen Konflikt, der sie demoralisierte und der schließlich zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums führte.“ Heute verfolgt Brezinzki nach eigenem Bekunden die gleiche Strategie im Kaukasus, um Russland zu hindern erneut zum Konkurrenten der USA aufzusteigen. .
Nur vor diesem Hintergrund sind Putins Worte nach Beslan richtig zu verstehen, nämlich, die kaukasischen Terroristen würden von ausländischen Mächten benutzt, die sich die „besten Filetstücke Stücke aus uns herausschneiden, weil Russland als eine größere Nuklearmacht immer noch eine Bedrohung für sie darstellt. Daher soll diese Gefahr ausgeräumt werden. Terrorismus ist nur ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.“ Und nur vor diesem Hintergrund wird der Zick-Zack-Lauf der russischen Außenpolitik verständlich, die sich zwischen kraftmeierischer Imitation des US-amerikanischen Anti-Terror-Krieges und versteckten Warnungen an die Adresse der NATO, die Russlands Gegner im Kaukasus stützt, hin und her bewegt. Wenn man sich anschaut, wer am lautesten die Lösung der Tschetschenischen Frage fordert, und zwar nicht innerhalb Russlands, sondern in der Form der Lostrennung von Russland, dann sind es die USA, insbesondere die neo-konservativen Kreise um Bush. Aber es sind nicht nur die Konservativen, wie der offene Brief jetzt zeigt, sondern auch Leute wie Richard C. Holbrooke, Ex-Botschafter bei der UN, designierter Außenminister des US-Präsidentschaftskandidaten Kerry. Die Interessen der USA an einer Zurückdrängung Russlands aus dem Kaukasus sind nicht von einer Wahl abhängig; sie sind strategischer Natur. Über die Konkurrenzen zwischen den USA und der Europäischen Union wäre noch besonders zu reden.
Dies alles, innen- wie außenpolitisch, unter den Vorwurf zu subsumieren, Putin zerstöre systematisch die Demokratie und Freiheit in Russland und dies könne kein Weg sein, den Terrorismus zu bekämpfen, während der Westen sich weltweit für deren Entwicklung einsetze, verrät wenig Bereitschaft, sich mit den tatsächlichen Problemen Russlands auseinander zu setzen. Der Brief spricht vielmehr die Sprache der Provokation und der Aggression und, wenn man die innere und äußere Aufrüstung der der USA und anderer westlicher Staaten im Präventionskrieg und ihre Einsätze in den von Ihnen definierten Krisengebieten, insonderheit im Kaukasus betrachtet. Das sollten sich besonders die Europäer klar machen, die jetzt den von US-Interessen diktierten offenen Brief unterschrieben haben. Offensichtlich haben sie sich von Formulierungen einfangen lassen wie denen, dass Russland die Gewährleistung der Energiesicherheit Europas und seiner Handelsverpflichtungen in Frage stelle. Da kann man nur konstatieren, dass bei dem Entwerfen dieses offenen Briefes sichtlich Demagogen am Werk waren, die die europäischen Nöte gut kennen, und sich wundern, wieso Menschen mit politischem Verstand auf dieses provokative Zündeln hereinfallen.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

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