Sieben Zugnächte von Moskau entfernt endet im Osten an der Küste des Atlantic die Fahrt der transsibirischen Eisenbahn in Wladiwostok, dem äußersten Ausleger Russlands im Osten. Umgeben vom Bogen der japanischen Inseln im Westen, der Halbinsel Koreas und dem großen chinesischen Hinterland im Süd-Westen liegt die Stadt als Wachtposten Russlands auf den Hügeln vor dem japanischen Meer. Der Festungscharakter der Stadt ist auch heute nicht übersehbar: Kriegsschiffe, wenn auch manche nicht in bestem Zustande, bestimmen das Bild des Hafens.
Aber nicht russische Kolonisten gründeten die Stadt, sondern französische Händler. Ein Stadtbild europäischen Zuschnitts: Nicht russische Architektur – Holzhäuser, Kuppeln uä., sondern mitteleuropäische prägt das Zentrum; der Hafen erinnert eher an Madrid, Bordeaux oder Hamburg Von Wladiwostok aus ist St. Francisco schneller zu erreichen als Paris, Berlin oder Madrid. Der Westen liegt im Osten, der Osten im Westen. Erst im weiteren Umkreis zieht sich die typische Plattenbebauung der neueren sowjetischen Zeit die umgebenden Hügel hinauf.
Hier in Wladiwostok fühlt man sich ganz europäisch. „Wladi Wostok“, wörtlich „Beherrsche den Osten“ – das war das Programm der Gründer dieser Stadt. Als „Vorposten Europas in Asien“ fühlten sich Wladiwostoks Einwohner/innen zur Sowjetzeit und, das versichern sie schmunzelnd, so verstehen sie sich auch heute. Vorposten war Wladiwostok im doppelten Sinne: Vorposten der europäischen Kolonisation in Asien Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, später Vorposten Russlands, danach der UdSSR und als bedeutendster sowjetischer Kriegshafen bis 1992 geschlossenes Gebiet. Hier erinnert man sich an drei japanisch-russische Kriege, hier ist die Konfrontation des Kalten Krieges noch frisch im Gedächtnis. Erst Perestroika öffnete die Stadt wieder für den Westen. Dem einheimischen Maler Igor Rubaschuk war diese Tatsache wichtig genug, um sie in einem Bild: „Besuch des französischen Kriegsschiffes Jean D`Ark im Hafen von Wladiwostok,“ festzuhalten, das heute in Galerien und Broschüren der Stadt gezeigt wird.
In seiner Doppelrolle als Vorposten Russlands und des Nicht-russischen Westens zugleich hat Wladiwostok immer eine Sonderrolle gespielt. Nicht von ungefähr wurde mit dem Bau der transsibirischen Eisenbahn von hier aus begonnen. Obwohl geschlossene Stadt, beanspruchte Wladiwostok als einziger ozeanischer Hafen der UdSSR auch zur Sowjetzeit eine besondere Rolle. Auch Perestroika nahm in Wladiwostok ihren besonderen Verlauf. Unter seinem Gebiets-Gouverneur Nostratenko galt Wladiwostok als besonders eigenwillig; zur Zeit Boris Jelzins kursierten Gerüchte über Abtrennungstendenzen des „Primorsker Gebietes“.
Von Wladiwostok aus wurde auch die „chinesische Frage“ am schärfsten gestellt. Gouverneur Nostratenko gefiel sich in scharfen chauvinistischen Warnungen vor der „gelben Gefahr“, vor der „chinesischen Expansion“ und „millionenfachen Invasion“, nicht zuletzt, um so von Moskau besondere Zuwendungen und Vollmachten zu ertrotzen. Bis heute geistern die Zahlen aus dieser Zeit durch die westlichen, einschließlich Moskauer wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Medien. Sie differieren von 1,5 bis 6 Millionen Chinesen, die bereits in Russland lebten.
Von Wladiwostok aus wird die „chinesische Frage“ nach ihren chauvinistischen Überreizungen durch Nostratenko jetzt allerdings auch am ernsthaftesten analysiert; der „Hysterismus“ der zurückliegenden Jahre wird relativiert und aktiv bekämpft: Die chinesische Migration, so kann man jetzt von führenden Spezialisten des Ortes, zum Beispiel dem Direktor des „Instituts für Geschichte , Archeologie und Ethnologie der Völker des fernen Ostens“, Prof. Larin, hören, sei keine Frage der Quantität, sondern der Qualität. Erstens sei die Zahl der chinesischen Migranten in der jüngsten Vergangenheit heillos übetrieben worden; tatsächlich hielten sich im gesamten fernen Osten und in Sibirien, einschließlich illegaler Einwanderer zur Zeit zwischen 200.000 und 300.000 Chinesen auf, keines Falles aber mehr als 500.000. Die Zahl der effektiv in Russland siedelnden Chinesen wird von Prof. Larin und Kollegen in anderen russisch-chinesischen Grenzstädten im Bereich von ein, zweitausend angesiedelt.
Entscheidend, so Professor Larin, sei ohnehin nicht die Frage der Zahl der chinesischen Immigranten, sondern die Frage, wie mit ihnen, wie generell mit der Tatsache der Immigration von Seiten der russischen Behörden umgegangen werde. Im Grunde biete das aktuelle Wachstum der chinesischen Wirtschaft und die chinesische Migration nach Russland die Chance einer gemeinsamen wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des fernöstlich-sibirischen und zentralasiatischen Raumes – wenn sie von den russischen Behörden für wirtschaftlichen Austausch genutzt und nicht zu nationalistischen Zwecken mißbraucht werde.
Mit dieser Sicht der Entwicklung löst sich Wladiwostok vom „Alarmismus“ der Nostratenko-Zeit. Heute ist die Stadt bestrebt, sich zur vierten Hauptstadt Russlands – neben Moskau, St. Petersburg und Kasan – zu mausern; sie wirbt mit ihrer Weltoffenheit. Sie ist auf dem besten Wege, von einem militärischen Vorposten der Sowjetunion zum Sprungbrett des neuen Russlands nach Asien zu werden – vor allen nach China, aber auch Korea und Japan. Zugleich öffnet sie ein zweites Tor nach Westen. In der Verbindung von beidem liegt Wladiwostoks besondere Chance. Ob es eine Chance für Europa, für Russland oder für eines der asiatischen Länder ist, ist dabei schon nicht mehr wichtig, denn in Wladiwostok verlieren die Ost-West-Koordinaten ihre Bedeutung.

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