Russland im Sommer 2002
Stationen einer Reise

Wo endet Europa? Wo beginnt Asien? Wohin wendet sich Russland nach zwei Jahren autoritärer Modernisierung unter Boris Jelzins Nachfolger Wladimir Putin? Wie orientiert sich Russland heute zwischen Asien und Europa? Welche Bedeutung kommt der Gründung einer euroasiatischen Partei zu, die im Mai den Besuch George W. Bushs in Moskau flankierte? Diesen Fragen gehe ich gegenwärtig in Russland nach. Die Reise führt von Moskau über Tscheboksary an der Wolga, Kasan, Nowosibirsk bis Ulaanbaator und an die russisch-chinesische Grenze.
Moskau, wo ich erste Zwischenstation mache, gibt auf diese Frage nur eine Antwort – die Antwort der Megametropole. Moskau ist nicht Russland. In Moskau stellt sich die Frage „Asien oder Europa“ zwar auch, aber hier klärt sie sich nicht: Moskau ist Zentrum, in Moskau halten sich die unterschiedlichen Einflüsse die Waage, Moskau ist eine Welt für sich, ein einziger Marktplatz heute, der eigenen Gesetzen gehorcht.
Dann aber am nächsten Tag Tscheboksary, die Hauptstadt der autonomen Republik Tschuwaschien an der mittleren Wolga: Auch hier ist die Modernisierung unübersehbar. Aus dem hässlichen Entlein einer mittleren sowjetischen Industriestadt, die noch vor wenigen Jahren an den Folgen der Krise zu ersticken drohte, ist ein geputzter Ort geworden, der sich anschickt, westliche Abenteuer-Touristen auf den Wolgasee zu locken, welcher aus der Aufstauung der Wolga hier in den letzten zehn Jahren entstanden ist. In den Straßen Tscheboksarys westliche Automarken, in den Geschäften westliche Preise, in den Büros Computer. Kurz, man darf sich auch in Tscheboksary an der Wolga als Westler wie zuhause fühlen. Es geht, wie es scheint, alles seinen kapitalistischen Gang. Putins autoritäre Modernisierung trägt ihre Früchte.
Aber dann ist da die Sache mit dem Bier: Bier ist Tschuwaschiens Nationalgetränk; Hopfen und Malz sind sein nationaler Reichtum. Über das ganze Land ziehen sich die großen Hopfenstaffagen. Nicht verwunderlich also, daß Bier überall angeboten wird. Doch das Ausmaß! Rundum Menschen mit der Flasche in der Hand, junge vor allem, viele Betrunkene.
Wer nach den Gründen dafür fragt, erfährt, dass die tschuwaschische Republik gewissermaßen im Biernotstand lebt. Die republikanische Verwaltung hat Bier zum nationalen Exportschlager in andere russische Republiken und ins Ausland machen wollen. Aber der Absatz stockt. Das Bier muss im Lande verbraucht werden. Der tschuwaschische Präsident selbst wirbt im Fernsehen für den nationalen Bierkonsum. Die Folgen sind unübersehbar. Die tschuwaschische, vor allem männliche Jugend säuft sich um ihre Gesundheit.
Wer ins „Tschuwaschische Kulturzentrum“ geht, wird mit weiteren nationalen Notständen konfrontiert, die sich nicht auf den nationalen Bierkonsum beschränken: Michael Juchma, vielfach prämiierter tschuwaschischer Volksschriftsteller, Leiter des Zentrums ist verzweifelt: Die „Bewegung der nationalen Wiedergeburt“, die unter Michael Gorbatschow mit großen Hoffnungen auf eine eigenständige Entwicklung des tschuwaschischen Volkes entstand, noch durch Jelzins Aufforderung an die Völker der Sowjetunion, sich so viel Souveränität zu nehmen, wie sie brauchen, verstärkt wurde, siecht unter dem Druck der von Wladimir Putin neuerlich ausgehenden Zentralisierung und damit verbundenen Russifizierung des Landes dahin. Das tschuwaschische Zentrum, seinerzeit von Perestroika-Demokraten gegründet, bettelt heute umsonst um Unterstützung. Die tschuwaschische Regierung gibt keinen Rubel; sie hat sich voll und ganz Wladimir Putins Kurs unterworfen.
Selbst die Türkei, die den turksprachigen Schriftsteller Michail Juchma als wichtigern Partner umwarb, lässt ihn heute gnadenlos abblitzen. Die Zeiten, in denen es opportun war, innerrussische Souveränitätsbewegungen von außen zu unterstützen, weil man sich davon Einfluss auf ein zerfallendes Russland versprechen konnte, scheinen für´s Erste vorbei. Heute finden sich Russland ebenso wie die Türkei im Bündnis gegen den internationalen Terrorismus. Das verpflichtet zur Zurückhaltung gegenüber innerrussischen, wie es dort heißt, „nationalen“ Souveränitätsbestrebungen.
Eher schon ist die Befürchtung von Michael Juchma und den Seinen berechtigt, dass sie demnächst Objekte des soeben von der russischen Staatsduma beschlossenen Gesetzes gegen Extremismus werden könnten, ohne dass sich von außen Proteste dagegen erheben. Formal mit dem notwendigen Vorgehen gegen rassistische Umtriebe von Nazi-Skinheads und offenen faschistischen Gruppen wie die der „Russischen Nationalen Einheit“ (RNE) begründet, lässt die Praxis der russischen Ordnungskräfte befürchten, dass die eigentlichen Adressaten die ethnischen Minderheiten selbst sein könnten, die angeblich durch das Gesetz geschützt werden sollen. Diese Sorgen haben nicht nur Vertreter der in die Isolation geratenen ethnischen Gruppen, die schon mehr als einmal in letzter Zeit vor den Inlandgeheimdienst FSB (den erneuerten KGB) vorgeladen wurden. Auch die sozial-liberale Partei „Jabloko“, die einzige oppositionelle Kraft in der Moskauer Staatsduma, lehnte eine Zustimmung zu dem neuen Gesetz mit Hinweis auf diese Vorgänge ab. Die einzige Hoffnung der ethnischen Minderheiten liegt darin, paradox wie immer wieder in Russland, dass auch dieses Gesetz nicht das Papier wert ist, auf dem es gedruckt ist, weil es vor Ort schlichtweg nicht befolgt werden könnte.

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