Die Wahl zum deutschen Bundestag 2005 hat eine historische Zäsur sichtbar werden lassen, die sich lange vorbereitet hatte. Dem entfesselten Kapitalismus, der sich seit der Auflösung der Sowjetunion im Namen der Globalisierung natürliche und menschliche Ressourcen in brutalster Weise unterwirft, ist in Deutschland ein Stoppschild entgegengestellt worden, das seine Vertreter nicht ohne Folgen überfahren können. Das gilt für die Vertreter des Kapitals selbst, für unser Land, für die EU und über sie hinaus.

Die Entstehung einer linken Opposition jenseits der SPD ist nicht der erste und nicht der einzige Versuch, der Brutalität des von den Fesseln seines sowjetischen Gegners befreiten Kapitalismus entgegenzuwirken, aber der für uns sichtbarste. Vorher gab es stille Widerstände in den Ländern der Sowjetunion selbst, deren Bevölkerung sich zu großen Teilen der einfachen Übernahme des westlichen Systems verweigerte und dies auch weiterhin tut; es gab den Widerstand der islamischen Welt, die sich gegen die westliche Technokratie wehrt bis hin zu deren terroristischen Ausläufern, die zum Kreuzzug gegen den Westen aufrufen, es gab die französische Abstimmung gegen die EU-Verfassung, der sich gegen eine imperiale Ausrichtung der EU richtete; in Deutschland gab es Bewegungen gegen den Rückwärtsgang in der AKW-Frage, gegen Privatisierungen von Kommunal-Eigentum, gegen Sozialabbau, aber es blieben isolierte Bewegungen, die immer noch als ständische Interessengruppen (Gewerkschaften, Greenpeace, Attac, Verbraucherproteste etc.), als Randgruppen mit Partikularinteressen oder wie die PDS als Stimme frustrierter Verlierer abgetan werden konnten. Jetzt sind die Rinnsale dieser Kritik, die bisher einzeln flossen, erstmals seit dem Ende der Sowjetunion zu einem oppositionellen Fluss zusammengekommen, der nicht mehr übersehen werden kann.

Das bürgerliche Lager ist nicht willens, die neue Opposition zu akzeptieren, sondern grenzt sie aus, während man selber nach neuen Koalitionen sucht, mit denen die linke Opposition aus dem politischen Spiel gehalten werden kann. Unterm Strich bedeutet das, dass die Rechtsentwicklung, die unter der Decke sozialdemokratischer Politik in den letzten Jahren stattfand, ebenso wie die dagegen gewachsene Opposition nunmehr offen zutage tritt. Was ist der Kern der Entwicklung?

1. Der nach-kommunistische, nach-sowjetische Konsens des vereinigten Deutschland ist geplatzt, die verdrängte soziale Frage, einschließlich ihrer definierten sozialistischen Perspektive kehrt auf neuem Niveau in die Gesellschaft und in die Politik zurück.
2. Die Nicht-Beachtung der sozialen Frage wie auch genereller sozialistischer Perspektiven verwandelt sich in dem Moment in Ausgrenzung, in dem die linke Opposition auf Augenhöhe auftaucht und Gleichbehandlung verlangt, das heißt, sie führt über die Aufkündigung des anti-sozialistischen Tabus hinaus zu einem Bruch des demokratischen Konsenses der BRD.
3. Die Ausgrenzung bedient sich des einfachen Tricks, die neue Opposition als Ewiggestrige zu diffamieren, die zum „Sozialismus“, gemeint, dem autoritären Sozialstaat sowjetischer Prägung zurückkehren wollen. Sie bedient sich dabei der Tatsache, dass große Teile der linken Opposition, besonders ihre gewerkschaftlichen Kräfte, nicht nur zur Verteidigung des Sozialstaates klassischer Prägung, also des paternalistischen Fürsorgestaates aufrufen, sondern mit ihrem Einsatz für staatliche Grundversorgung, Bürgergeld usw. dessen weiteren Ausbau fordern, bevor sie das klassische sozialdemokratische Verständnis vom Sozialstaat einer erkennbaren Kritik unterzogen zu haben.
4. In dem Bemühen um Ausgrenzung der neu entstandenen linken Opposition sind sich alle bürgerlichen Kräfte – von der CSU über die CDU, die SPD, bis zur FDP und den GRÜNEN – ohne Abstriche einig und es spielt nur eine untergeordnete Rolle, in welcher Koalition sie sich zusammenfinden werden – sie wird sich immer gegen die linke Opposition richten.
5. Eine schnelle Integration der neuen linken Opposition in die SPD oder in irgendeine wie auch immer geartete Koalition ist nicht zu erwarten; ihre Entstehung ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines Gärungsprozesses, der schon vor dem Ende der Sowjetunion einsetze, mit deren Ende beschleunigt wurde und seitdem mit zunehmender Dringlichkeit seinen Ausdruck suchte.

Wenn die linke Opposition sich jetzt allerdings in ihrer Argumentation auf die Verteidigung und den weiteren Ausbau des Sozialstaates beschränkt, ohne sich von dem Modell des autoritären Sozialstaats Bismarckscher Prägung abgesetzt und ein neues Verständnis eines sozial agierenden Staates öffentlich entwickelt zu haben, sich wenigstens erkennbar um dessen Entwicklung zu bemühen, kann die Ausgrenzung der linken Kritiker als Ewiggestrige bei der Mehrheit der Bevölkerung verfangen. Bei den einen wird die Forderung nach der Verteidigung des Sozialstaates alte Erwartungshaltungen der staatlichen Fürsorgementalität bedienen, denen der nationale Staat aber angesichts seiner neuen Rolle in einem globalisierenden Kapital nicht mehr nachkommen kann, auf der anderen Seite wird er den bürgerlichen Gegnern eben dadurch doppelte Munition der Art liefern, dass die „Ewiggestrigen“ mit ihrer „Rückorientierung auf Rezepte von Gestern“ und „nicht einhaltbaren Versprechungen“ den Fortschritt aufhielten. Die Linke, besser gesagt, die Kritiker und Kritikerinnen der neo-liberalen Expansions- und Wachstumspolitik und der daraus folgenden sozialen Missstände, haben dann eine Zukunft, wenn sie den Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit auffangen und in der Kritik am autoritären Modell des Sozialstaates stattdessen ein neues Staatsverständnis entwickeln, das den Übergang aus der Lohnarbeitsgesellschaft in neue soziale Strukturen und damit die Entwicklung von Lebensperspektiven zulässt, die über die kriselnde Industriegesellschaft hinausführen.

Im Zentrum dieser Orientierung steht eine neue Rolle von Staat und Familie für die Organisation der Versorgung und des Zusammenlebens der Menschen. Statt individuell dem Diktat der Lohnarbeit ausgesetzt zu sein, sei es auf der Seite des Überausgebeuteten, sei es auf der Seite dessen, der keine Lohnarbeit findet, wird es in Zukunft den kollektiven Lohnarbeiter geben, der innerhalb seiner sozialen Struktur Lohnarbeit und neue Formen der Selbstversorgung auszugleichen imstande ist. Der kollektive Lohnarbeiter führt notwendigerweise zu einer neuen Form der Familie, in der sowohl die traditionelle Großfamilie als auch die heute übliche Kleinfamilie wie ebenso die Single-Bewegung in einer neuen selbstgewählten Gemeinschaftsform aufgehoben werden, deren Zusammenhalt nicht mehr allein von Blutsbanden hergeleitet ist wie die traditionelle Familie, die aber auch nicht von partiellen ökonomischen Interessen bestimmt ist wie eine GmbH oder sonstige heute übliche ökonomische Organisationsformen, sondern die sich um die existenzielle Grundversorgung des selbstgewählten Kollektivs herum bildet, das auf diese Weise geburtsbestimmte und selbstgewählte Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbindet.

Historische Ansätze zu solchen sozialen Strukturen, praktisch wie denkerisch, hat es immer wieder gegeben: das sind zum einen die klassischen Formen der russischen Bauerngemeinschaft, der Òbschtschina, in der Sowjetzeit übergegangen in Sowchose und Kolchose, in denen sich durch die Jahrhunderte eine andere Gemeinschaftsform entwickelt hat als im Westen. Das sind nomadische Weidegemeinschaften, die seit Jahrtausenden als Wahlkollektive auf verwandtschaftlicher Basis gebildet wurden und immer noch werden, das sind aktuelle diverse Lebens-Gemeinschaften, die sich unter dem Druck der Verhältnisse in Deutschland, in Europa, ja weltweit in den letzten Jahren gebildet haben und sich weiter bilden. In ihnen hat sich die neue Zeit bereits real angekündigt.

Nicht zurück zum Sozialismus also, sondern vorwärts zu einer Überwindung des entfesselten Kapitalismus, den man angesichts seiner krisenhaften Entwicklung, der erkennbaren Lohnarbeits- und Versorgungskrise vielleicht sogar besser einen gefesselten Kapitalismus nennen sollte, lautet der Ruf, unter den die Entwicklung von Alternativen heute gestellt werden muss, vorwärts zu neuen Formen des menschlichen Zusammenlebens und der Beziehung der Menschen zur Natur. Dazu gehört auch, den Ruf „Zurück zur Natur“ durch die Aufforderung zu ersetzen, auf heutigem technischen, wissenschaftlichem und ethischem Niveau aufs Neue voran zur Natur zu gehen.

Die Zukunft liegt in einer Überwindung des autoritären Fürsorgestaates Bismarckscher- wie auch sowjetischer Prägung, in der Entwicklung von individueller Eigenverantwortung in der selbstgewählten Gemeinschaft; eine Entstaatlichung ist also zu fordern – aber dies nicht in dem Sinne, dass der Staat, wie er jetzt ist, sich aus der sozialen Verantwortung zieht, sondern indem der Staat zur gezielten Förderung von kollektiven Versorgungsstrukturen veranlasst wird, in deren Rahmen die Menschen Lohnarbeit und Selbstversorgung, die durch die Folgen der Lohnarbeitskrise heute wieder neu gemischt werden, miteinander ausgleichen können.

Wenn der Staat diese Aufgabe übernimmt, wächst er in die Funktion hinein, die er in Zukunft haben sollte, nämlich den Rechts-Verkehr zwischen den Versorgungsgemeinschaften zu regeln, während Wirtschaft und geistiges Leben davon unabhängige Organisationsformen finden, so dass dieser den Verkehr regelnde Staat, eine unabhängige Wirtschaft und ein ebenso unabhängiges geistiges Leben sich gegenseitig kontrollieren; die soziale Grundeinheit, auf deren Basis das geschieht, wird die genannte Versorgungsgemeinschaft sein. Ansätze für eine solche Entwicklung sind heute erkennbar, nicht zuletzt in den Ländern, die nach dem Ende des Sowjet-Sozialismus nicht einfach zum Kapitalismus übergehen konnten wie Russland. Aber auch Deutschland trägt das sozialistische Erbe, insonderheit nach der deutsch-deutschen Vereinigung, in einer Weise in sich, die ihm die Chancen gibt, Avantgarde eines Impulses für eine neue soziale Ordnung zu werden. Der Weg dahin muss Schritt für Schritt gefunden werden. Gewaltenteilung, das sei klar gesagt, muss es auch bei dieser Reise geben, aber sie muss nicht innerhalb des Staates verbleiben, sondern die staatliche Organisation muss selbst ein Teil davon sein, so wie Körper, Geist und Seele sich gegenseitig ergänzen und kontrollieren. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der französischen Revolution folgt dem gleichen Gedanken. Es ist Zeit ihn zu verwirklichen.

 

 

Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de

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