Die Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja vor wenigen Wochen am helllichten Tages vor ihrer Moskauer Wohnungstür niedergestreckt wurde, erschütterten die internationale Öffentlichkeit. Der Mord provoziert alle, denen die Freiheit des Wortes über Profit- und Machtkungeleien geht.
Anna Politkowskaja war eine von denen, die sich nicht vor den Mächtigen beugte, die sich auch nicht auf Kommentare beschränkte, sondern die sich darum mühte, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen. Sie war die schärfste öffentliche Kritikerin Putins. Sie war ihm, davon darf man ausgehen, ein Dorn im Auge. Aber folgt daraus, dass er ihr Mörder ist, wie in unseren Medien frei spekuliert wird? Eine „Ikone des moralischen Russland“ wurde Anna Politkowskaja nach ihrem Tod genannt, eine „Instanz in einem Land, in dem sonst alles käuflich ist.“ Richtig. Aber ist mit ihrem Tod „das moralische Russland endgültig gestorben“, wie man auch lesen konnte? Und ist in Russland wirklich alles käuflich? Ein bisschen differenzierter hätte man es schon gern, nicht zuletzt gerade dann, wenn es um die Freiheit des Wortes geht.
Glaubt man der westlichen Presse und den von ihr zitierten russischen Gewährsleuten wie etwa der Moskauer Journalistin Elena Tregubowa, die nach dem Mord in mehreren westlichen Medien mit langen Interviews zu Wort kam, dann gibt es keine Zweifel, dass Wladimir Putin selbst, zumindest aber seine Helfer wie der Leiter der Präsidialverwaltung, Igor Setschin, oder der von Putin eingesetzte Ministerpräsident Tschetscheniens Ramsan Kadyrow die Urheber des Auftragsmordes waren, der an der unliebsamen Kritikerin verübt wurde. Einem Putin, so Frau Tregurow bei einem Spiegel-Gespräch, der den Krieg in Tschetschenien nicht beende, der Ukraine den Gashahn abgedreht habe, der eine rassistische Hetzjagd gegen Georgier im Lande durchführen lasse, sei so etwas ohne Weiteres zuzutrauen. Auf die Erfolge Putins zur Stabilisierung Russlands angesprochen, antwortet sie, Hitler habe auch mit den Autobahnen begonnen. Man wisse ja, was daraus geworden sei.
Vergeblich wiesen besonnenere Geister daraufhin, dass Anna Politkowskaja eine Vielzahl von Feinden hatte, angefangen bei tschetschenischen Banden, offiziellen wie inoffiziellen, über Korruptionäre auf hohen Ebenen der Gesellschaft bis hin zum Inlandgeheimdienst FSB oder selbst der Mafia oder im Ausland lebender Exilrussen, die aus den unterschiedlichsten Motiven heraus ein Interesse an ihrem Tod haben könnten.
Vergeblich erklärte Michail Gorbatschow auf einer Pressekonferenz westlicher Journalisten anlässlich des „Petersburger Dialogs“, dass Putin kein Interesse an einem solchen Mord haben könne, da dieses Verbrechen der Diskriminierung Russlands diene. Es nützte auch nichts, dass er sich ausdrücklich gegen Belehrungen und falsche Verdächtigungen von westlicher Seite verwahrte. Man bedenke, der dies vorbrachte, Gorbatschow, ist immerhin der Deutschen liebstes russisches Kind; als Privatmann ist er aktuell keinem Verdacht der politischen Parteinahme für Putins Regierung ausgesetzt; darüber hinaus hat er als Mitaktionär der Zeitung „Nowaja Gasjeta“ Anna Politkowskajas Engagement aktiv unterstützt; nach dem Mord hat er mit den anderen Aktionären der „Nowaja Gasjeta“ 25 Millionen Rubel (740.000 €) zur Aufklärung des Mordes ausgesetzt. Dies alles wird jedoch in der anschließenden Berichterstattung mit der Bemerkung beiseite gewischt, dass er als Koordinator des Petersburger Dialogs „von Putin eingesetzt“ worden sei.
Was übrig bleibt und der deutschen Leserschaft mitgeteilt wird, ist Gorbatschows Klage, dass mit dem Mord Russlands Demokratie geschädigt werde. Wer es genauer wissen möchte, muss Detailstudien an den unmittelbaren Quellen betreiben. Am Ende dieser Leiter empfangen Demonstranten den russischen Präsidenten bei seinem Besuch zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit „Mörder-Mörder“-Rufen. Die „Frankfurter Rundschau“ erscheint mit einem Bild als Titelaufmacher, das Putin in höchst unvorteilhafter Momentaufnahme mit vorgeschobenem Kinn in der Pose einer Bulldogge zeigt, während Frau Merkel lieblich lächelt. Schaut her, so die Botschaft dieses Bildes, was für ein Aggressor!
Angesichts einer solchen Berichterstattung ist die Frage nach der Moral, aller spontanen Empörung eingedenk, wohl von mehreren Seiten zu betrachten.
Beginnen wir, um keinen falschen Verdacht einer Parteinahme für Missstände in Russland aufkommen zu lassen, mit der russischen Seite. Diese Liste ist lang, zweifellos: Seit 1993 sind laut Statistik, die das von Oleg Panfilow geleitete Moskauer „Zentrum für Journalisten in extremen Situationen“ jährlich herausgibt, 219 Journalisten in Russland zu Tode gekommen, 16 davon nachweislich in Ausübung ihres Berufes. Für weitere 20 konnte der direkte Zusammenhang nicht eindeutig nachgewiesen werden, gilt aber als sicher. Ein solcher Fall ist z.B. die Ermordung des in Moskau tätigen US-amerikanischen russisch-stämmigen Chefredakteurs der russischen Ausgabe des „Forbes-Magazins“, Paul Chlebnikow im Jahre 2004, der detailliert über den kriminellen Aufstieg der neuen Reichen in Russland informierte. Die weiter aufgeführten 183 Fälle sind solche, in denen Journalisten unter Umständen zu Tode kamen, die nicht direkt mit ihrer Arbeit zu tun hatten, in denen eine Verbindung zu dem Beruf der Betreffenden aber möglich ist.
Zu den Todesfällen kommen noch 16 Entführungen von Journalisten allein zwischen 2000 und 2006, 46 Durchsuchungen von Redaktionen, 158 Festnahmen; in 379 tätliche Angriffe. Auch wenn man dem Zentrum eine berufsbedingte Ultra-Akribie in der Zusammenstellung seiner Statistiken unterstellen darf, sprechen diese Listen eine klare Sprache. So verwundert es nicht, dass Russland auf der Weltrangliste, welche die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ zur Lage der Presse führt, bei insgesamt 167 Plätzen auf Rang 140 steht und mit Recht trug der im Juni 2006 in Moskau tagende „59. Weltkongress der Zeitungen“ dem Gastgeber Wladimir Putin – in aller diplomatischen Höflichkeit, versteht sich – eine klare Kritik an der Situation der Medien in Russland vor. Besonderer Gegenstand der Kritik war die „Athmosphäre der Vorsicht und Selbstzensur“, die in Russland in der Ära Putin entstanden sei. Eine besondere Frage des Kongresses richtete sich darauf, „warum immer mehr Zeitungen von staatlich kontrollierten Unternehmen aufgekauft würden.“ Hintergrund dieser Frage ist die Tatsache, dass der Kreml während Putins Amtszeit über die Gazprom-Tochter Gazprom-Media seine Kontrolle über die Fernsehmadien stark ausgebaut hat. Der Konzern ist heute Mehrheits-Eigner bei NTW, NTW-Plus, TNT, inzwischen auch bei dem bekannten Radiosender Echo Moskau, sowie zahlreichen Zeitungen, unter anderem auch der bekannten „Iswestija“. Das neueste Beispiel ist die Übernahme der Zeitung „Komersant“ durch den Kreml-nahen Unternehmer Alsher Usmanow und den darauf folgenden Rücktritt des bisherigen Chefredakteurs Borodulin. Russische Medienexperten befürchten, dass der Kreml im Vorfeld der Präsidentenwahlen von 2008 weitere Übernahmen dieser Art planen könnte.
Kritisch zu vermerken ist auch, dass die Arbeit für ausländische Journalisten erschwert wird, indem Arbeitserlaubnisse hin und wieder nicht verlängert, Akkreditierungen nur noch für halbe Jahre ausgestellt werden; frei über Tschetschenien zu berichten, ist auch für Ausländer nicht möglich.
Präsident Putin zeigte sich von der Kritik wenig beeindruckt. Er bekräftigte sein bei Gelegenheit immer wieder von ihm geäußertes Interesse an der Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft mit einer dazu gehörigen freien Presse und erklärte, es gebe heute in Russland 53.000 Publikationen, die man von staatswegen, selbst wenn man es wollte, nicht kontrollieren könnte. Die staatliche Beteiligung an diesen Unternehmen gehe eher zurück. Das Internet und andere elektronische Medien würden im übrigen überhaupt nicht kontrolliert.
Tatsache ist, dass nur 10% der russischen Zeitungen heute wirtschaftlich überlebensfähig sind, die restlichen sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Die überregionalen Fernsehstationen stehen faktisch unter zentraler staatlicher Kontrolle, die lokalen Sender haben eine gewisse Unabhängigkeit von Moskau, sind aber in der Regel von Zuwendungen der Provinzregierungen abhängig. Der Wahrheit näher als Putins Bild kommen daher vermutlich Aussagen wie die des Chefredakteurs der „russischen Newsweek“, der nach seinem Wechsel aus der Fernseh- in die Zeitungs-Arbeit in einem Interview mit der „WELT“ erklärte, er habe deswegen gewechselt, weil er wenigstens in den Printmedien schreiben könne, was er wolle. Untersuchungen russischer Medien-Kritiker relativieren auch dies noch, wenn sie erklären, dass Pressefreiheit in Russland nicht als Grundrecht wahrgenommen werde.
Aus Broschüren des „Zentrums für Journalisten in extremen Situationen“, die russischen Journalisten als Ratgeber an die Hand gegeben werden, geht hervor, dass der Berufsstand des Journalisten in Russland sich erst entwickeln müsse, dass kaum ernsthaft recherchiert, dafür oft wild drauflos kommentiert werde. In dieser Bewertung stimmen die „Ratgeber“ des Zentrums mit der ermordeten Anna Politkowskaja überein, die ihre Kritik an der politischen Lethargie ihrer eigenen Zunft wie auch der Gesellschaft insgesamt wiederholt in ihren Artikeln ausgegossen hatte. Nicht Mangel an Pressefreiheit, soweit es die Printmedien betrifft, ist also bei genauer Betrachtung das Problem Russlands, sondern zum einen eine mangelnde Qualifikation der Journalisten und zum anderen die fehlende Transparenz und der mangelnde Mitgestaltungswille der Gesellschaft.
Laut einer Umfrage von „Newsweek Russia“ halten nur 9% der Bevölkerung die Massenmedien insgesamt für glaubwürdig und 70% hätten nichts dagegen, wenn die Pressefreiheit eingeschränkt würde – soweit die Medien, speziell auch die lokale und regionale Presse nicht Übermittler konkreter sachlich notwendiger Informationen sind. Diesen Stand gesellschaftlichen Bewusstseins wie die schwache Rolle der Medien selbst darf man zu recht beklagen und sich bemühen – wie die getötete Anna Politkowskaja – dies zu ändern. Russland in Bausch und Bogen als käuflich zu verurteilen, das „System Putin“ in die Ecke totalitärer Diktaturen zu rücken oder gar mit Hitler zu vergleichen ist dagegen wenig hilfreich.
Zu beklagen ist in diesem Zusammenhang denn auch eine West-Presse, die genau dieses tut. Welcher Vorgabe folgt die wütende Kritik an Putin, die ebenso wenig recherchiert, wie es der russischen Presse nachgesagt wird? Warum wird verschwiegen, dass Anna Politkowskaja nicht nur Putin, Kadyrow, die Korruption in Russland usw. kritisierte, sondern mit gleicher Schärfe die fehlende Moral des Westens anklagte? „Der Westen hat uns für dieses Gas verkauft“, schrieb sie etwa mit Blick auf die geplante Ostseepipeline: „Unsere Probleme wie in Tschetschenien interessieren niemanden. Alle wollen mit Putin gut Freund sein, wegen Gas und Erdöl.“ Wenn der Tod Anna Politkowskajas Anlass ist, über Moral der Medien nachzudenken, dann sollte das vielleicht doch in ihrem Sinne geschehen?
Zu fragen wäre dann, was schlimmer ist: russische Selbstzensur oder deutsche Konformität? Vielleicht auch andersherum: Russische Konformität oder deutsche Selbstzensur? Anna Politkowskajas Antwort darauf wäre vermutlich, dass die Wahrheit des Elends, die Würde und die Wünsche der einfachen Menschen nicht den angeblich großen Interessen geopfert werden dürfen. Von dieser Art des Journalismus ist die russische Medienwelt nicht weiter entfernt als die deutsche.
Kai Ehlers
www.kai-ehlers.de
Von Kai Ehlers erschien soeben:
Grundeinkommen für alle – Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft, Verlag Pforte/Entwürfe
Zukunft der Jurte –Kulturkampf auch in der Mongolei?, Mankau-Verlag
Aktuelle Bücher zu Russland finden Sie unter: www.kai-ehlers.de