Gewaltig widerhallte das Echo der vier Schüsse, mit denen die russische Journalistin Anna Politkowskaja, eine der schärfsten Kritikerinnen des russischen Präsidenten Wladimir Putin, vor einer Woche in Moskau im Treppenhaus gleich neben ihrer Wohnung niedergestreckt wurde. Putin erklärte, wenn auch erst zwei Tage später und in einer Weise, in welche er die Bedeutung der Ermordeten herunter zu spielen versuchte, er werde alle Hebel in Bewegung setzen, um diese „Gräueltat“ aufklären zu lassen, denn der Mord schade Russland mehr als die Kritik, welche die Ermordete zuvor an der Regierung des Landes geübt habe. Ihre Veröffentlichungen seien ja nur in einem kleinen Kreis der Menschenrechtler bekannt geworden. Ungeachtet dieser Erklärung wurde Putin bei seiner Ankunft zum „Petersburger Dialog“ in Dresden mit wütendem „Mörder-Mörder“-Rufen empfangen und in deutschen Medien las man Sätze wie: mit Politkowskaja sei auch „das moralische Russland endgültig gestorben“, Angst vor Russland breite sich aus usw.

Was entlädt sich hier? Wofür steht der brutale Mord, wofür die wütende Kritik? Eine Antwort darauf zu finden ist schwer.
Frau Politowskaja hatte so viele Feinde, dass sie nicht an einer Hand abzuzählen sind: Die russische Soldateska in Tschetschenien, die pro-russischen Banden des tschetschenischen Warlords Ramsan Kadyrow, von Moskau eingesetzter Ministerpräsident Tschetscheniens, die Entführer und Menschenhändler des illegalen Untergrundes in Tschetschenien, der russische Geheimdienst FSB, die kriminellen und menschenverachtenden Zustände in der Armee, die großen und die kleine Korruptionäre auf allen Ebenen der Politik, die russischen Nazis, die Angehörigen der sog. Sicherheitsdienste, die für die Massaker von Beslan 2004 und zwei Jahre zuvor im Theater Dubrowka verantwortlich waren. Russische Kommentatoren halten es sogar für möglich, dass politische Gegner Putins hinter dem Mord stehen könnten, die Putin selbst und seine Politik angesichts der näher rückenden Präsidentschaftswahlen in Misskredit bringen wollten.

Absurd, möchte man meinen, aber vollkommen abwegig sind selbst solche Spekulationen nicht: Das politische Klima in Russland ist aufgeheizt. Sechs Jahre autoritärer Modernisierung unter Putins Führung haben erkennbare Spuren hinterlassen: Einen übermächtigen Präsidenten, um ihn herum Korruption und konkurrierende Seilschaften, in der Bevölkerung extreme soziale Differenzierung, aufkeimenden Nationalismus und Rassismus und über all dem den verlogenen Frieden in Tschetschenien, der nach wie vor ein Krieg ist und das gesellschaftliche Klima Russlands vergiftet. Die Schüsse können daher mit gleicher Wahrscheinlichkeit aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen. Das ist fürwahr kein gutes Zeugnis für die Politik Wladimir Putins und die Geister, die er rief. Insoweit gibt es Grund genug für harte Kritik.

Was aber veranlasst deutsche Demonstranten zu „Mörder-Mörder“-Rufen gegenüber einem russischen Staatschef, bevor auch nur ansatzweise klar ist, aus welcher Richtung die Schüsse kamen und was treibt Kommentatoren deutscher Medien dazu, jetzt das Ende des „moralischen Russland“ zu beschwören? Ist es pure Empörung, die sich einfach Luft machen muss, zumal Putin erst zwei Tage nach dem Mord reagierte? Dann sollte man ähnliche Auftritte auch angesichts der Ermordung zweier deutscher Journalisten in Afghanistan erwarten, die fast zur gleichen Zeit um ihr Leben kamen. Die Beteuerung der afghanischen Regierung, die Tat habe keine politischen Hintergründe, ist nicht glaubhafter oder weniger glaubhaft als die Erklärung Putins, dass er den Mord an Frau Politkowskaja verurteile. Oder ist es Sorge um die Freiheit der Presse, die die Kritiker antreibt? Die ist zweifellos berechtigt, denn Frau Politkowskaja war nicht die erste Journalistin, die in Russland umgebracht wurde. In diesem Zusammenhang wäre allerdings mit dem Finger nicht nur auf Russland zu weisen. Vielleicht resultiert die Kritik aber auch aus enttäuschter Liebe, die nach dem Aufbruch unter Gorbatschow anderes von Russland erwartet hat und sich nun überflutet sieht vom Zynismus der neuen russischen Macht? Das wäre verständlich, aber dem wäre entgegen zu halten, dass mindestens 5000 Moskauer und Moskauerinnen am Begräbnis der Ermordeten teilnahmen. Das Ende der Moral scheint zumindest in Moskau also doch noch nicht erreicht zu sein. Darüber hinaus ist Moskau nicht Russland, die putinsche Alleinherrschaft ist keine Diktatur und die Herrschenden sind nicht das Volk.

Und was den Zynismus der neuen Macht angeht, so ist es zwar richtig und notwendig, den Finger auf diese Wunde zu legen, allerdings wäre da genauer hinzuschauen und wahrheitsgemäßer zu berichten, worum es eigentlich geht. Dies wäre die beste Ehre, die man der ermordeten Kritikerin erweisen könnte. Täte man dies, dann würde sehr schnell erkennbar, von welcher „Angst“ tatsächlich geredet werden muss, nämlich der Angst der deutschen Wirtschaft vor einem „Energie-Diktat“ eines starken Russland. Diese Angst bemühte sich Wladimir Putin in Dresden mit dem Angebot zu beruhigen, Deutschland könne zum „Verteilerzentrum für russisches Gas in Europa“ werden, wenn die geplante Gaspipeline durch die Ostsee zügig gebaut werde. Frau Merkel zeigte sich beruhigt und pflichtete ihm bei. Damit war man nach den unvermeidlichen Anmerkungen zur „Menschenrechtsfrage“ auf die Tagesordnung zurückgekommen. Eher hier endet die Moral als in Russland, scheint mir, und das keineswegs nur auf der russischen Seite, sondern ebenso auf der deutschen.

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